Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien: Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung [1. Aufl.] 9783839413180

Die Sozialforschung ist seit ihren Anfängen von technischen Medien geprägt - doch erst seit Kurzem wird die Aufmerksamke

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Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien: Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung [1. Aufl.]
 9783839413180

Table of contents :
INHALT
Vorwort
I. Einleitung
1 Forschungsfrage
1.1 Die Medien der Sozialforschung?
1.2 Sozialforschung als Kommunikation?
1.3 Abhängigkeit von den Medien?
2 Medien und Kommunikation in der Reflexion der Sozialwissenschaften
2.1 Wissenschaftsforschung
2.2 Methodendiskussion
2.3 Historiographien der Sozialwissenschaften
3 Theoretische Voraussetzungen
3.1 Die Gesellschaft als informationsverarbeitendes System
3.2 Medien und Kommunikation
3.3 Selbstreflexivität der Forschung
4 Daten und Methoden
5 Aufbau und Entstehung der Arbeit
II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen
1 Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik
1.1 Induktionsproblem, Falsifikationismus und Widerspruchsfreiheit
1.2 Theoretischer Pluralismus und methodischer Anarchismus
1.3 Abduktion als tertium datur sozialwissenschaftlicher Logik
1.4 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel logischer Schlussverfahren
2 Abschiede vom Subjekt: Empirismus der Differenz
2.1 Empirismus in (Post-)Strukturalismus und Dekonstruktion
2.2 Systemtheoretischer Konstruktivismus
3 Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit
3.1 Die Mannigfaltigkeit der Sinne
3.2 Pragmatistischer Interaktionismus
3.3 Erfahrung durch Kommunikation
4 Fazit
4.1 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel von Logik, Differenz und Sinnlichkeit
4.2 Der Status der Wissenschaftstheorie
III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung
1 Das Versprechen der Komplexität
2 Die Komplexität der Sozialforschung
2.1 Annäherungen
2.2 Die Dimensionen der Komplexität der Sozialforschung
3 Strategien der Bewältigung
3.1 Reduktion von Komplexität
3.2 Erhalt von Komplexität
3.3 Induktion von Komplexität
4 Fazit
IV. Schlüsselkonzepte der empirischen Sozialforschung (Fallstudien)
1 Fallstudie I: Validität und Validierung
1.1 Validität in der Sozialforschung
1.2 Basisdefinitionen
1.3 Der Positivismusstreit und die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung
1.4 Validierungsstrategien
1.5 Glaubwürdigkeit
1.6 Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem
1.7 Fazit und Ausblick
2 Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten
2.1 Daten als blinder Fleck der Wissenschaftstheorie
2.2 Die Funktionen von Daten
2.3 Typen sozialwissenschaftlicher Daten
2.4 Technische Konstituierung von Daten
2.5 Die zeitliche Struktur von Daten
2.6 Selbst- und Fremdreferenz sozialwissenschaftlicher Daten
2.7 Daten als Produkte kommunikativer Netzwerke
2.8 Fazit
3 Fallstudie III: Zählen und Erzählen
3.1 Messen und Kodieren
3.2 Repräsentieren
3.3 Simulieren
3.4 Fazit
V. Sozialforschung als Kommunikation
1 Sozialforschung als Informationsverarbeitung
1.1 Individuelle Informationsverarbeitung
1.2 Soziale Informationsverarbeitung
1.3 Technische Informationsverarbeitung
1.4 Zwischenfazit: Sozialforschung als Zusammenspiel individueller, sozialer und technischer Informationsverarbeitung
2 Sozialforschung als Vernetzung
2.1 Struktur der Vernetzung
2.2 Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren
2.3 Medien der Vernetzung
2.4 Zwischenfazit: Flexible Vernetzung als Prinzip der Sozialforschung
3 Sozialforschung als Spiegelung
3.1 Objekte von Spiegelungen
3.2 Funktionen von Spiegelungen
3.3 Medien der Spiegelung
3.4 Zwischenfazit: Die Unausweichlichkeit von Spiegelungen
4 Fazit
VI. Fazit und Ausblick
1 Die Medien der Sozialforschung: Von der Abhängigkeit zur Autonomie
2 Der Weg zur Kommunikativen Sozialforschung
2.1 Wissenschaftsforschung über die Sozialforschung
2.2 Sozialwissenschaftliche Wissenschaftstheorie und Epistemologie als Reflexion ihrer medialen und kommunikativen Bedingungen
2.3 Sozialwissenschaftliche Methodologie als Gestaltung von Kommunikationsprozessen
2.4 Wissenschaftswandel durch das Zusammenwirken von Wissenschaftsforschung, -theorie und Methodologie
3 Für eine zeitgemäße Selbstbeschreibung der Sozialforschung
Literaturverzeichnis
Danksagung

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Sebastian Ziegaus Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien

2009-11-03 12-19-56 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed225148025110|(S.

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Sebastian Ziegaus (Dr. phil.) arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind die kommunikative Sozialforschung, die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften und der Medieneinsatz in der Sozialforschung.

2009-11-03 12-19-56 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed225148025110|(S.

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Sebastian Ziegaus

Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung

2009-11-03 12-19-56 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ed225148025110|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Erfurt, Univ., Philosoph. Fak., Diss., 2008 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Sebastian Ziegaus Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1318-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Vorwort I. 1

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4 5 II. 1

Einleitung Forschungsfrage 1.1 Die Medien der Sozialforschung? 1.2 Sozialforschung als Kommunikation? 1.3 Abhängigkeit von den Medien? Medien und Kommunikation in der Reflexion der Sozialwissenschaften 2.1 Wissenschaftsforschung 2.2 Methodendiskussion 2.3 Historiographien der Sozialwissenschaften Theoretische Voraussetzungen 3.1 Die Gesellschaft als informationsverarbeitendes System 3.2 Medien und Kommunikation 3.3 Selbstreflexivität der Forschung Daten und Methoden Aufbau und Entstehung der Arbeit Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik 1.1 Induktionsproblem, Falsifikationismus und Widerspruchsfreiheit 1.2 Theoretischer Pluralismus und methodischer Anarchismus 1.3 Abduktion als tertium datur sozialwissenschaftlicher Logik

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1.4 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel logischer Schlussverfahren Abschiede vom Subjekt: Empirismus der Differenz 2.1 Empirismus in (Post-)Strukturalismus und Dekonstruktion 2.2 Systemtheoretischer Konstruktivismus Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit 3.1 Die Mannigfaltigkeit der Sinne 3.2 Pragmatistischer Interaktionismus 3.3 Erfahrung durch Kommunikation Fazit 4.1 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel von Logik, Differenz und Sinnlichkeit 4.2 Der Status der Wissenschaftstheorie

III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung 1 Das Versprechen der Komplexität 2 Die Komplexität der Sozialforschung 2.1 Annäherungen 2.2 Die Dimensionen der Komplexität der Sozialforschung 3 Strategien der Bewältigung 3.1 Reduktion von Komplexität 3.2 Erhalt von Komplexität 3.3 Induktion von Komplexität 4 Fazit IV. Schlüsselkonzepte der empirischen Sozialforschung (Fallstudien) 1 Fallstudie I: Validität und Validierung 1.1 Validität in der Sozialforschung 1.2 Basisdefinitionen 1.3 Der Positivismusstreit und die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung 1.4 Validierungsstrategien 1.5 Glaubwürdigkeit 1.6 Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem 1.7 Fazit und Ausblick 2 Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten 2.1 Daten als blinder Fleck der Wissenschaftstheorie 2.2 Die Funktionen von Daten

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Typen sozialwissenschaftlicher Daten Technische Konstituierung von Daten Die zeitliche Struktur von Daten Selbst- und Fremdreferenz sozialwissenschaftlicher Daten 2.7 Daten als Produkte kommunikativer Netzwerke 2.8 Fazit Fallstudie III: Zählen und Erzählen 3.1 Messen und Kodieren 3.2 Repräsentieren 3.3 Simulieren 3.4 Fazit

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Sozialforschung als Kommunikation Sozialforschung als Informationsverarbeitung 1.1 Individuelle Informationsverarbeitung 1.2 Soziale Informationsverarbeitung 1.3 Technische Informationsverarbeitung 1.4 Zwischenfazit: Sozialforschung als Zusammenspiel individueller, sozialer und technischer Informationsverarbeitung Sozialforschung als Vernetzung 2.1 Struktur der Vernetzung 2.2 Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren 2.3 Medien der Vernetzung 2.4 Zwischenfazit: Flexible Vernetzung als Prinzip der Sozialforschung Sozialforschung als Spiegelung 3.1 Objekte von Spiegelungen 3.2 Funktionen von Spiegelungen 3.3 Medien der Spiegelung 3.4 Zwischenfazit: Die Unausweichlichkeit von Spiegelungen Fazit

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VI. Fazit und Ausblick 1 Die Medien der Sozialforschung: Von der Abhängigkeit zur Autonomie 2 Der Weg zur Kommunikativen Sozialforschung 2.1 Wissenschaftsforschung über die Sozialforschung

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2.2 Sozialwissenschaftliche Wissenschaftstheorie und Epistemologie als Reflexion ihrer medialen und kommunikativen Bedingungen 2.3 Sozialwissenschaftliche Methodologie als Gestaltung von Kommunikationsprozessen 2.4 Wissenschaftswandel durch das Zusammenwirken von Wissenschaftsforschung, -theorie und Methodologie Für eine zeitgemäße Selbstbeschreibung der Sozialforschung

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Literaturverzeichnis

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Danksagung

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V O RW O R T

Obwohl kaum bestritten wird, dass Daten in den Sozialwissenschaften zu großen Teilen kommunikativ erzeugt, ausgewertet und die Forschungsergebnisse den Kommunikationsmedien und Adressaten angepasst werden, bleibt diese kommunikative Konstituierung der Wissenschaftspraxis merkwürdig latent. Weder bei der Bestimmung ihrer Objektbereiche noch in der Methodendiskussion und erstaunlicherweise auch nicht in der Wissenschaftstheorie findet eine nachhaltige Reflexion der Auswirkungen von Medien und kommunikativen Konstellationen statt. Wenn in dieser Hinsicht Anstrengungen unternommen werden, dann typischerweise, um Kommunikation auszuschließen, etwa um die Beeinflussung von Forschern durch die untersuchten Personen zu verhindern – und umgekehrt. Andererseits kann Sebastian Ziegaus an eine Methodendiskussion anknüpfen, die in den 1970er und 1980 Jahren in Deutschland durch Publikationen der ›Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen‹ angestoßen wurde. Sie versandete allerdings recht bald, unter anderem weil sich die Methodendiskussion auf die Profilierung von Unterschieden zwischen den sogenannten quantitativen und den qualitativen Ansätzen konzentrierte. Man kann S. Ziegaus nur zustimmen, wenn er diese Unterscheidung für eine ›Simplifizierung‹ hält, die der Methodenentwicklung eher hinderlich ist. Noch immer kann von einem professionellen, intersubjektiv transparentem Umgang mit kommunikativen Strategien und Settings in der Forschungspraxis kaum die Rede sein. Ein angeleitetes Lernen etwa der Auswirkungen kommunikativer Selbst- und Fremdtypisierungen auf die emergierenden Daten findet in der Ausbildung der Sozial- und Kommunikationswissenschaftler nur selten statt, eben weil die ›Abhängigkeiten der Sozialwissenschaften von ihren Me-

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

dien‹ nicht geklärt sind. Völlig zu Recht konstatiert der Autor deshalb: »Die hier dargelegte Fragestellung ist bisher nicht untersucht worden«. Gründe für das Überdauern dieser terra incognita lassen sich zahlreiche finden. Die Kulturgeschichte der Neuzeit hat es mit sich gebracht, dass Forschung als Spezialfall sozialer Arbeit, eben als Produktion von Wissen angesehen und auch so gestaltet wurde. Das mag denn auch als Entschuldigung für frühere Generationen ausreichen. Mit den radikalen Umbrüchen in den kommunikativen Verhältnissen und den technologischen Innovationen im Bereich der Informationsverarbeitung verliert sie an Kraft. Kaum bemerkt beginnt sich die Modellierung der wissenschaftlichen Praxis in der Öffentlichkeit allerdings zu wandeln. Sie erscheint immer häufiger nicht in erster Linie als Arbeit sondern als interaktive Vernetzung: Die modernen Informationsgesellschaften sehen die Breitbandverkabelung als eine obligatorische Existenzbedingung an. Ohne Vernetzungstechnologie geht nichts mehr in diesem gesellschaftlichen Felde. Über den Umweg dieses technischen Vernetzungsmediums, das so ausgiebig in der EU gefördert und in den Foren international beständig thematisiert wurde und wird, gewinnen auch andere Vernetzungsformen mehr Aufmerksamkeit. Beispielsweise erscheint das Interview nicht mehr nur als informative Ausbeutung der natürlichen Ressource eines Informanten sondern als wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen gleichkompetenten Kommunikatoren. Die gängigen psychologischen und soziologischen Kommunikationsmodelle erleichtern es allerdings nicht gerade, eine alternative Sicht auf die wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen. Zu sehr bleiben sie dem handlungstheoretischen Paradigma verhaftet und konzentrieren sich auf die Akteure anstatt auf die sozialen Systeme.

Forschungssysteme als Kommunikationssysteme Ziel der vorliegenden Monographie ist es, die Abhängigkeit wissenschaftstheoretischer Grundannahmen und methodischer Programme in den Sozialwissenschaften von zu Grunde liegenden Kommunikationsmodellen aufzuzeigen. Dies gelingt mit großer Klarheit und führt häufig zu eleganten Neuformulierungen der einschlägigen Diskurse der letzten Jahrzehnte. Basis der Analysen ist ein komplexes, triadisches Kommunikationsmodell. Diese wird, selbstreferenziell, auch auf die Beziehung der Forscher untereinander und auf deren Beziehung zu den untersuchten Feldern angewendet. »Forschungssysteme erscheinen dann sowohl als informationsverarbeitende Systeme und als auch als kommunikative Netzwerke unterschiedlicher Kommunikatoren mit unterschiedlichen 10

VORWORT

Medien, deren Informationsverarbeitungsprozesse, Vernetzungsstrukturen und Emergenzniveaus von Medien und Informationen untersucht werden können. Die Unterschiede der jeweiligen Methodologien und Methoden können dann als Prämierungen der verschiedenen Dimensionen beschrieben werden.« Der dreidimensionale Kommunikationsbegriff ermöglicht es nicht nur, die Anhängigkeit der Sozialwissenschaft von ihren Medien, sondern auch von den Kommunikatoren als informationsverarbeitenden Systemen, von deren Vernetzung und von den vielfältigen Spiegelungsprozessen, die sich zwischen den Medien abspielen und die die Ergebnisse der Sozialforschung prägen, präzise aufzuzeigen. Denn mit der Umorientierung auf Kommunikatoren und deren Vernetzungsprogramme und -medien ist es gegenwärtig nicht getan. Dies ist eine wichtige Dimension jeder Kommunikation, aber wenn sie allein die Aufmerksamkeit auf sich zieht, bleiben wichtige Parameter unbeachtet. Ausführlich beschäftigt sich die vorliegende Monographie deshalb auch mit neuen Anforderungen an das Wahrnehmen, Denken und die Struktur der Modelle. Gefordert wird ein qualitativer Sprung in der Komplexität. Während die meisten Wissenschaftler wortlos davon zu überzeugen sind, dass sich mit Quadprozessoren besser rechnen lässt als mit den älteren einkernigen, herrscht in den Projektberichten immer noch das Ideal monokausalen, linearen Denkens vor. Die Kritik an diesem nun schon zweieinhalbtausendjährigen Ideal, welches offenbar resistent gegen alle zivilisatorischen Umbrüche ist, nimmt breiten Raum in der Argumentation von S. Ziegaus ein. Ebenso gründlich werden alternative Konzepte eingeführt und auf ihre Vor- und Nachteile hin abgeklopft. So verfolgt das zweite Kapitel das Ziel, die Empirismuskonzepte des kritischen Rationalismus und deren Kritiker, der ›postmodernen Positionen der vornehmlich französisch geprägten Philosophie‹ und des systemtheoretische Konstruktivismus nach den impliziten Kommunikationsmodellen und Beobachtungsperspektiven zu befragen. Ergänzend zu den eher im Mainstream liegenden wissenschaftstheoretischen Grundpositionen nutzt S. Ziegaus auch die explizit kommunikativ orientierten Arbeiten von Jakob Levy Moreno, Kurt Lewin, Georges Devereux, Gregory Bateson sowie derjenigen Schulen, die mit kreativen Medien und multisensuellen Konzepten arbeiten. Deren Grundpositionen werden durchweg bemerkenswert konzise dargestellt und im Hinblick auf das Forschungsdesign ausgewertet. Sehr treffend, wie uns beispielsweise vorgeführt wird, wie bei der Arbeit mit kreativen Medien »nicht mehr zwischen Datenerhebung und Intervention unterschieden werden kann« und »Selbstbeobachtung, Umweltbeobachtung und die Beobachtung der Relation zwischen beiden gleichermaßen 11

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

zum Tragen« kommen. Beispielhaft auch, wie S. Ziegaus verdeutlicht, wie der Pragmatismus und der Symbolische Interaktionismus zwar erkenntnistheoretische Schulen ergänzen, die entweder ihren Gegenstand nur als Wahrnehmung oder nur als logische Schlussverfahren behandeln, indem sie ›Erkenntnis immer mit praktischen Handeln in Beziehung‹ setzen (S. 131). Zugleich betont er, dass das pragmatische Konzept in ähnlicher Weise einseitig bleibt, weil es letztlich die Handlung gegen die Wahrnehmung ausspielt. Wissensschöpfung ist nur als mehrphasiger und zirkulärer Prozess fassbar, der Wahrnehmung, Denken und Handeln miteinander verknüpft.

Die Grenze der Komplexitätsreduktion Durchgängig beantwortet die Arbeit die Frage, wie es den Wissenschaftler gelingen kann, in ihrem Wahrnehmen, Denken und in den Darstellungen mehr Komplexität zuzulassen, als dies in den nomothetischen, auf opake Einfachheit ausgerichteten Paradigma angezielt wird. Im Kapitel III werden in dieser Absicht die Methoden der Sozialforschung aus einer ›komplexitätstheoretischen Perspektive‹ betrachtet. Dabei geht S. Ziegaus davon aus, dass es grundsätzlich drei Strategien zum Umgang mit Komplexität gibt: Reduktion, Erhalt und Induktion. Schon allein diese erkenntnistheoretische Differenzierung macht das Buch zu einem maßgeblichen Beitrag in der aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion. Unter dieser Perspektive unterscheiden sich die verschiedenen Ansätze der Sozialforschung nach dem Grad des Erhalts der Komplexität. Seiner Grundannahme, dass die Sozialwissenschaften der »Frage nach der Komplexität ihrer praktischen Seite, also der Sozialforschung selbst und nach den methodologischen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen« bisher »weniger Aufmerksamkeit zuteil« werden ließen, kann man nur zustimmen. Typisch für das hochreflexive Vorgehen von S. Ziegaus, der alle Begriffe einer fundamentalen Kritik unterzieht, ist die folgende Feststellung: »Die Komplexität der Komplexität lässt sich nicht auf zweiwertige Logiken reduzieren. « Hieraus entwickelt er dann ein komplexitätstheoretisches Modell – ein Modell des Modells also –, das ihn genügenden Abstand zu den Kompliziertheitsansätzen gewinnen lässt, die ihm bei der Sichtung seiner Quellen begegnen. Die Komplexität der Sozialforschung wird in einem Raum modelliert, der sich in der dynamischen Dimension durch Nichtlinearität, in der strukturellen durch mehrseitige Vernetzungen und in einer ontologischen Dimension durch Selbstähnlichkeit und Emergenz auszeichnet. Immer haben wir es in der wissenschaftlichen Arbeit mit der Komplexität der Gegenstände, unserer eigenen Komplexität als Erkenntnissubjekte und Kommunikatoren so12

VORWORT

wie der Komplexität unserer Beziehungen zu den weiteren Elementen des Forschungssystems zu tun. Die Exkurse zur Nichtlinearität und zur Rekursivität bzw. Rückkopplung sind Glanzlichter der Monographie und zeugen von großer Belesenheit auf diesen schwierigen und aus den Sozialwissenschaften hinausführenden Gebieten. Wie überhaupt zu konstatieren ist, dass viele grundlagentheoretische Annahmen und methodische Tools aus Bereichen jenseits der Soziologie und einer sich als Sozialwissenschaft verstehenden Kommunikationswissenschaft stammen. Dies setzt ein erweitertes Blickfeld voraus, wenn man auf methodischem und erkenntnistheoretischem Felde weiterkommen will. Im weiteren Teil dieses Kapitels werden die verschiedenen Strategien gezeigt, Komplexität zu reduzieren, zu erhalten und zu induzieren. In Anbetracht der Tatsache, dass es üblich ist, die Reduktion von Komplexität als Aufgabe der Sozialwissenschaften in den Vordergrund zu stellen, kommt diese Auffächerung einer längst überfälligen Fundamentalkritik an der Systemtheorie Luhmanns gleich. Sowohl die Reduktion der Wissensschöpfung auf Wahrnehmen (›Beobachten‹ bzw. ›Beobachten des Beobachtens‹), als auch der Wahrnehmung auf die Komplexitätsreduktion haben sich als epistemische Barrieren herausgestellt, die es niederzureißen gilt. Das ›Programm der Aufklärung‹, an dem Niklas Luhmann zeitlebens festgehalten hat, gründet im Weltbild des homo faber und seiner Industriekultur. Es bedarf genau der Relativierung, die S. Ziegaus vornimmt. Er liefert genügend Gründe, warum sich die sozialwissenschaftliche Sozialforschung als kommunikative Sozialforschung – und nicht bloß als beobachtende – beschreiben kann und sollte, mehr noch, er macht plausibel, dass eine solche Beschreibung immer wieder im Forschungsprozess mitlaufen sollte. Es geht nicht nur um die Selbstreflexion der Wahrnehmung und des Handelns sondern um die Reflexion der Forschungssystems als Kommunikationssystem. Und dieses reduziert sich nicht auf das Forscherteam, und schon gar nicht auf den einzelnen Wissenschaftler.

Reformulierung methodologischer Grundkategorien Das vierte Kapitel wendet die gewonnenen Einsichten in drei theoretischen Fallstudien auf Grundbegriffe der Sozialforschung: Validität, Daten und die Strategien von Zählen und Erzählen an. Hier findet eine Form der Operationalisierung der modelltheoretischen Überlegungen statt, die auch Forschern, die sich bislang eher im quantitativen Paradigma und dessen Lesekontext aufgehalten haben, die Rezeption erlauben. Man vergleiche nur die Fallstudien zum Messen und Erzählen mit der luziden Unterscheidung zwischen statistischen (numerischen) Mes13

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

sen/Zählen und dem semantischen Messen/Erzählen. Alle drei Konzepte »fungieren dabei als Scharnier zwischen der theoretischen Reflexion und der Praxis der Sozialforschung und eignen sich daher in besonderer Weise, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu untersuchen«. Überzeugend zeigt S. Ziegaus im Detail, wie Validität, nach welchem Konzept auch immer, kommunikativ erzeugt wird. Die Lektüre des Buches bewegt: Sie bringt uns auf dem Wege zu einer wirklich kommunikativen Sozialforschung um Meilen weiter. Und sie tut dies, ohne aus dem Auge zu verlieren, dass sich die soziale Welt und die Methoden ihrer Erforschung auch anders beschreiben lassen. Die kommunikative Perspektive erweist sich als eine zeitgemäße Ergänzung hergebrachter Weltbilder und Methodologien. Gerade wenn man von einem selbstreferenziellen Kommunikationskonzept ausgeht, welches den Kommunikatoren die Entscheidung darüber überlässt, ob sie sich in Kommunikation befinden und wenn ja in welcher, dann wird man über Forschungssysteme nicht überrascht sein, die sich nicht als Kommunikationssysteme definieren. Es ist nicht alles Kommunikation – zumindest ist es nicht sinnvoll, alles als Kommunikation zu behandeln, vor allem nicht jenes, was die Beobachteten ausdrücklich nicht als Kommunikation verstehen wollen. Auch eine kommunikative Sozialforschung besitzt Grenzen. Mehr als das Angebot, sich – parallel zu anderen Identitätskonzepten – als Kommunikationssystem zu begreifen, kann auch die kommunikative Sozialforschung nicht machen. Für den Leser, der Anspruch an Exaktheit erhebt, ist angenehm, dass S. Ziegaus der Mode widersteht, eigene Positionen lyrisch zu verrätseln und weiche Begriffsbestimmungen als Markenzeichen qualitativer Forschung zu gebrauchen. Dass dies nicht auf Kosten einer bildhaften, ausdrucksstarken Sprache zu gehen braucht, beweisen viele Passagen. Treffend charakterisieren den Denkstil von S. Ziegaus seine viel verwendeten Lieblingsworte ›erstaunlich‹ und ›überraschend‹. Trotz aller Lektüre und theoretischen Abgeklärtheit hat sich der Autor die Fähigkeit erhalten, neue Entdeckungen zu machen und zu staunen. Er klassifiziert seine Umwelt nicht so weit, dass Überraschungen ausbleiben. Er ist kein hermetischer Kodierer. Beides zusammen lässt das Lesen zu einem Vergnügen werden.

Michael Giesecke Erfurt, im August 2009

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Will man eine Wissenschaft verstehen, so sollte man nicht in erster Linie ihre Theorien oder Entdeckungen ansehen und keinesfalls das, was ihre Apologeten über sie zu sagen haben, sondern das, was ihre Praktiker tun. Clifford Geertz 1 Nicht die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen dem Arbeitsgebiet der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue Wissenschaft. Max Weber 2

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Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 7-43, hier S. 9f. [Ausführliche bibliographische Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Zitate werden in der vorgefundenen Form wiedergegeben.] Weber, Max, Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 146-214, hier S. 166 (kursiv im Original). 15

I.

EINLEITUNG

1 Forschungsfrage Betrachtet man die aktuellen Diskussionen und Beiträge zur Weiterentwicklung des methodischen Instrumentariums der Sozialforschung, fällt ein gesteigertes Interesse an technischen Medien auf. Dieses Interesse betrifft vor allem Softwarelösungen für die Bereiche Datendokumentation und -auswertung oder das viel diskutierte E-Publishing. Weiterhin ist zu beobachten, dass Methoden, die den kommunikativen Charakter von Sozialforschung betonen, eine gewisse Konjunktur haben, gar von einem »performative turn« in der Sozialforschung ist die Rede. Die erhöhte Nachfrage nach Beratung im Sinne einer kommunikativen und partizipativen Form von Sozialforschung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen führt dazu, dass die Grenzen zwischen klassischer Sozialforschung und Beratung immer mehr verschwimmen. Diese Tendenzen führen einerseits zu einem Bedarf an Grundlagenforschung im Bereich der Methodenentwicklung. Andererseits ist es angesichts der Fülle von Neuerungen in der gegenwärtigen Situation notwendig, einen Schritt zurückzugehen und die Sozialforschung selbst zum Gegenstand wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Reflexionen zu machen, um die grundlegende Bedeutung von Medien und Kommunikation für die Sozialwissenschaften zu bestimmen und daraus ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Sozialwissenschaften abzuleiten. Das Ziel der Arbeit ist es, die medialen und kommunikativen Bedingungen zu ergründen, unter denen die Sozialforschung operiert.

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

1.1 Die Medien der Sozialforschung? Die Sozialforschung bedarf und bedient sich seit ihren Anfängen verschiedenster Medien. Je nachdem, welche historischen Vorläufer der modernen Sozialforschung man betrachtet und welchen zeitlichen Horizont man anlegt, lassen sich unterschiedliche Medien und Verfahren identifizieren. Nimmt man die weit zurückreichende Tradition der soziographischen Sozialforschung sowie ihren Ursprung als politische Verwaltungstechnologie, rücken die Statistik und die dazugehörigen Verfahren der Datenerhebung und -verarbeitung in den Vordergrund. Fokussiert man dagegen die ethnographische Tradition, stößt man auf Prinzipien und Verfahren wie Feldforschung und teilnehmende Beobachtung. In der therapeutischen Tradition schließlich findet man die psychoanalytischen Verfahren zur Nutzung von Übertragungen. Diese kurze Aufzählung reicht aus, um auf die verallgemeinernde Frage zu stoßen, welche Medien in den verschiedenen Traditionen der Sozialforschung bevorzugt eingesetzt werden und wo ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen. Dies betrifft verschiedene Dimensionen: welche Medien werden als Informations- und Kommunikationsmedien genutzt, welche Medien dienen zur Verarbeitung von Informationen, welche Medien zur Darstellung und Präsentation? Im Falle der Statistik kämen beispielsweise die distanzierte Beobachtung, Fragebogen, mathematische Verfahren und Tabellen oder Grafiken als mögliche Antworten in Betracht. Damit ist bereits angedeutet, dass im Zentrum dieser Untersuchung nicht ausschließlich technische Medien stehen, obwohl diese eine zentrale Rolle in der Sozialforschung spielen. Technische Medien werden in allen Phasen von Forschungsprozessen eingesetzt. Ohne sie ist Sozialforschung heute nicht mehr denkbar. Die Einführung neuer Medien wird in der Sozialforschung nachvollzogen und verändert diese qualitativ und quantitativ. Die Veränderung der Statistik hin zu immer komplizierteren Verfahren und zur Bearbeitung immer größerer Datenmengen ist ohne die entsprechende Rechentechnik nicht denkbar, und Dank der Miniaturisierung ist diese Technik fast überall verfügbar. Die Einführung audiovisueller Speichertechniken wie Fotografie oder Tonband und Video haben gar zu ganz neuen Verfahren geführt. Beispiel dafür sind Mikroanalysen, die ohne die entsprechenden Technologien nicht denkbar sind. Und seitdem neue Vernetzungstechnologien wie bspw. das Internet und Datenbanken zur Verfügung stehen, ergeben sich neue Möglichkeiten der Interaktion innerhalb von Forschungssystemen, der Vernetzung des Wissenschaftssystems und von Daten sowie der Präsentation von Ergebnissen.

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EINLEITUNG

Die ständige Gegenwart von technischen Medien hat jedoch nicht dazu geführt, dass die Sozialwissenschaften diesem Tatbestand besondere Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Zwar werden in Lehrbüchern und Darstellungen der verschiedenen Methodologien rezeptartige Anleitungen zum Umgang mit Medien verbreitet; explizite methodologische und vor allem erkenntnistheoretische Reflexionen dieser Medien, ihrer Rolle in Forschungssystemen und dem Umgang mit ihnen fehlen jedoch weitgehend. Je nachdem, welche Medien genutzt werden und als zulässig erachtet werden, verschieben sich die Koordinaten des Verhältnisses zwischen den Forschern und ihrer Umwelt, da unterschiedliche Medien unterschiedliche Formen von Daten konstituieren. Dies beginnt schon bei lange eingeführten Verfahren wie der teilnehmenden Beobachtung, bei der immer auch die Rolle des Forschers als Informations-, Speicher- und Verarbeitungsmedium mitreflektiert werden muss, und verstärkt sich in dem Maße, in dem diese Funktionen technisiert werden. Dieser Medienvergessenheit, dem blinden Fleck der Sozialwissenschaften, widmet sich die vorliegende Untersuchung. Sie geht der Frage nach, welche Rollen Medien im weitesten Sinne in der Sozialforschung spielen. Es geht darum, eine integrative Sichtweise auf die Sozialforschung zu entwickeln, die ihre technischen wie nichttechnischen Medien in Beziehung zueinander setzt. Dabei interessiert in erster Linie die Frage nach den Kommunikationsmedien der Sozialforschung, mit denen die Kommunikationsbeziehungen in Forschungssystemen gestaltet werden.

1.2 Sozialforschung als Kommunikation? Sozialforschung bedeutet ungeachtet der zugrundeliegenden Traditionen und Paradigmen fast immer die Herstellung kommunikativer Beziehungen zwischen Auftraggebern, Forschern und Beforschten. Es bestehen jedoch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Frage, wie mit dieser Tatsache zu verfahren ist: wie viel und welche Kommunikation ist erwünscht? Unterschiedliche Grundannahmen im Sinne von Werten und Programmen resultieren in der Prämierung unterschiedlicher Kommunikationsformen und Medien und dem Ausschluss bzw. der Vernachlässigung anderer. Aus dieser Perspektive lassen sich die immer noch anhaltenden Diskussionen über das Verhältnis quantitativer und qualitativer Sozialforschung und ihren jeweiligen Eigenheiten dahingehend reformulieren, dass in den verschiedenen Ansätzen unterschiedliche Kommunikationsmodelle zugrunde gelegt werden. Die jeweiligen Verfahren bewegen sich dabei zwischen den Idealen interaktionsarmer und interaktionsintensiver Kommunikation, entsprechend den gesellschaftlichen Prinzi-

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

pien interaktionsarmer Massenkommunikation und interaktionsreicher dialogischer Kommunikation. Während der kommunikative Grundcharakter von Sozialforschung mehr oder weniger in allen Methodologien der Sozialforschung anerkannt wird, ist der Umgang mit dieser Tatsache höchst unterschiedlich. Er reicht von ihrer versuchten Unterdrückung bis hin zur expliziten Betonung und Nutzung. Dafür stehen beispielhaft auf der einen Seite die Rede von »reaktiven Verfahren«, die die Kommunikationsgebundenheit von Sozialforschung problematisiert, und auf der anderen Seite die Kommunikative Sozialforschung, die den Anspruch auf die kommunikative Gestaltung von Forschungsprozessen bereits in ihrem Namen zum Ausdruck bringt. Die Sozialwissenschaften stehen in ihren Forschungsprozessen immer schon einer Komplexität gegenüber, die nicht mit der Komplexität etwa der Naturwissenschaften vergleichbar ist. Dies ergibt sich schon aus der Art und Zusammensetzung von Forschungssystemen und den gewählten Verfahren. Der Umgang mit dieser Komplexität ist jedoch höchst unterschiedlich und drückt sich in unterschiedlichen Strategien aus. Prominente Schlagworte sind in dieser Hinsicht die Prinzipien Offenheit und Standardisierung der Sozialforschung. Jedoch fehlen komplexitätstheoretische Reflexionen der Sozialforschung als Kommunikation und ihrer Medien. Dies ist insofern erstaunlich, als dass mit den Systemtheorien solche Betrachtungsweisen in den Gegenstandstheorien der Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten üblich sind, diese jedoch weitgehend nicht auf ihre eigenen Verfahren angewendet wurden. Der Umgang mit der Komplexität der Sozialforschung lässt sich jedoch an der Art und Weise ablesen, wie Kommunikationsprozesse in der Forschung gestaltet werden. Im Umkehrschluss gilt, dass sich die spezifische Komplexität der Sozialforschung aus der Tatsache ergibt, dass sie kommunikative Beziehungen herstellt. Die Untersuchung der Strategien im Umgang mit Komplexität lässt Rückschlüsse auf das kommunikative Selbstverständnis der Sozialwissenschaften zu. Gegenstand dieser Untersuchung sind folglich die Kommunikationsmodelle, die den verschiedenen Ansätzen der Sozialforschung zugrundeliegen. Es wird untersucht, welchen Grundannahmen die verschiedenen Methodologien und Methoden in dieser Hinsicht folgen. Auch wenn die meisten Ansätze darüber keine expliziten Aussagen machen, lassen sich aus den Selbstbeschreibungen implizite Modelle ableiten. Die Frage lautet dann, welche Aspekte von Kommunikation sie betonen bzw. vernachlässigen. Daraus können sich neue Einsichten in die Bedingungen, Möglichkeiten und Probleme der Sozialforschung ergeben.

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EINLEITUNG

Auch wenn hier Medien und Kommunikation der Sozialforschung getrennt angesprochen wurden, so wird aus den einleitenden Bemerkungen bereits deutlich, dass Medien und Kommunikation aus der hier vertretenen Perspektive nicht zu trennen sind: Ohne Medien keine Kommunikation, keine Medien ohne Kommunikation. Dieser Zusammenhang und der Hinweis auf die Komplexität von Sozialforschung erfordern, dass die hier vertretenen Begriffe von Medien und Kommunikation ihrerseits dem Anspruch der Erfassung dieser Komplexität bereits in sich gerecht werden. 3

1.3 Abhängigkeit von den Medien? Auf der Grundlage des bisher Gesagten mag der Titel dieser Arbeit, der eine Abhängigkeit der Sozialforschung von ihren Medien feststellt, als Binsenweisheit erscheinen – keine Sozialforschung ohne Medien. Mit der negativ konnotierten Begriffswahl soll jedoch nicht nur ein defizitärer Zustand konstatiert werden. Vielmehr wird der Begriff der Abhängigkeit im Sinne des sozialpsychologischen Phasenmodells von Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie verwendet. 4 Die Sozialforschung kann nicht unabhängig von den sie umgebenden kulturellen Prozessen betrachtet werden, im Gegenteil. Dieser Kontext bildet die Möglichkeits- und Rahmenbedingungen, unter denen die Sozialforschung stattfindet und sich wandelt. Die Betonung der Phase der Abhängigkeit bedeutet nicht, dass die Sozialforschung als Ganzes sich am Anfang eines Lösungsprozesses befände. Vielmehr ist es so, dass verschiedene Ansätze der Sozialforschung bereits für die verschiedenen Phasen stehen. Insofern kann für die gegenwärtige Vielfalt der Sozialforschung von Ungleichzeitigkeiten gesprochen werden.5 Eine allgemeine Abhän3 4

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Siehe dazu den Abschnitt Medien und Kommunikation in diesem Kapitel. Diesem Modell zufolge ist die Sozialisation von Kindern zunächst durch Abhängigkeit im Sinne der vollständigen Übernahme elterlicher Prinzipien geprägt. Im Zuge des Ablösungsprozesses tritt dann Gegenabhängigkeit in Form einer konsequenten Protesthaltung auf, die eben diese Prinzipien negiert. Autonomie besteht dann, wenn eigene und übernommene Prinzipien integriert werden können. Michael Giesecke zeigt, dass dieses Phasenmodell auch auf Prozesse des Medienwandels angewendet werden können. Vgl. Giesecke, Michael, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 270-280. Die Diagnose einer Ungleichzeitigkeit von Methodologie und praktischer Forschung wird bereits in den 1950er Jahren gestellt. »[...] unsere Andeutungen [hinsichtlich der Verwendungsmöglichkeiten der theoretischen Statistik in der empirischen Sozialforschung] kennzeichnen nur den Stand der methodologischen Diskussion; die Praxis bleibt hinter dieser Entwicklung 21

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gigkeit kann jedoch in der Hinsicht konstatiert werden, dass es weiten Teilen der Sozialwissenschaften der notwendigen Reflexion ihrer medialen und kommunikativen Bedingungen mangelt. Indem ich von Abhängigkeit spreche, vertrete ich die Meinung, dass die Sozialwissenschaften durch das bisherige Versäumnis, ihre medialen und kommunikativen Bedingungen zu reflektieren, die Chancen, die sich durch die Einführung neuer Medien und durch die damit verbundene Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse ergeben, noch nicht in vollem Umfang nutzen. Vielmehr besteht sogar die Gefahr, dass die Orientierung an nicht mehr zeitgemäßen Kommunikationsmustern bzw. deren Übertragung auf neue Medien dazu führen kann, dass die Sozialforschung mit nicht angemessenen Verfahren und Instrumenten an Aussagekraft und gesellschaftlicher Relevanz verliert. Die Untersuchung der Grundlagen einer konsequent kommunikativ orientierten Sozialforschung soll daher einen Beitrag zu ihrer zukünftigen Gestaltung liefern. Das Fernziel muss daher lauten, dass die Sozialforschung in die Lage versetzt wird, im Sinne von Autonomie zwischen übernommenen und selbst geschaffenen Prinzipien hinsichtlich der kommunikativen Gestaltung von Prozessen der Sozialforschung zu oszillieren. Mit dem Verweis auf die Mediengeschichte der Sozialforschung und das Phasenmodell eröffnet sich dieser Arbeit notwendigerweise auch eine historische Dimension. Sozialforschung wird hier aus der Perspektive ihrer sich verändernden medialen Bedingungen betrachtet. Dies betrifft sowohl ihre technologischen Voraussetzungen als auch die daraus resultierenden Kommunikationsweisen. Dabei versteht sich diese Arbeit jedoch nicht als Geschichte oder Mediengeschichte der Sozialforschung. Vielmehr geht es um eine Bestandsaufnahme der verschiedenen medialen und kommunikativen Settings, die in der Sozialforschung Verwendung finden und somit um eine Reflexion ihrer aktuellen Möglichkeitsbedingungen. Der historische Horizont dieser Arbeit ist folglich ein zeitgeschichtlicher. Reflexion ihrer Möglichkeitsbedingungen heißt konkret, Überprüfung und Remodellierung der Methodologien und erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Sozialwissenschaften aus einer medien- und kommunikationstheoretischen Perspektive.

oft zurück.« Siehe Scheuch, Erwin Kurt/Rüschemeyer, Dietrich, Soziologie und Statistik. Über den Einfluß der modernen Wissenschaftslehre auf ihr gegenseitiges Verhältnis, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 8, Nr. 2 (1956), S. 272-291, hier S. 287, zitiert nach Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude, Passeron/Jean-Claude, Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1991, S. 11, Fußnote 14. 22

EINLEITUNG

2 Medien und Kommunikation in der Reflexion d e r S o z i a l w i s s e n s c h a ft e n Die hier dargelegte Fragestellung ist bisher nicht untersucht worden. Trotz den vor allem in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger anzutreffenden Einzelbetrachtungen von Medien in Forschungsprozessen fehlen dezidiert medien- und kommunikationstheoretisch argumentierende Grundlagenuntersuchungen zu den Methodologien und zur Praxis der Sozialforschung. Dennoch existieren Studien, die als Referenzen für diese Arbeit dienen können. Im Kontext dieser Arbeit ist es schwierig, zwischen Arbeiten zu unterscheiden, die den Stand der Forschung repräsentieren, und Arbeiten, die als Datenmaterial genutzt werden können. Daher wird im folgenden anstelle einer ausführlichen, aber wenig ergiebigen Darstellung vieler heterogener Vorarbeiten anhand ausgewählter Beispiele dargestellt, wie und unter welchen Vorzeichen Fragen nach den Medien der Sozialforschung und deren kommunikative Gestaltung thematisiert werden. Das Interesse gilt der Frage, in welchen Kontexten und mit welchen Konsequenzen diese Fragen gestellt werden. Die Reflexion der Medien der Sozialforschung findet auf drei unterschiedlichen Ebenen statt. In der Wissenschaftsforschung werden Forschungsprozesse und ihre Bedingungen selbst Gegenstand der Forschung. Ihr Anliegen ist Grundlagenforschung zu den sozialen und materiellen Bedingungen der Generierung von wissenschaftlichem Wissen. Hier sind insbesondere die Arbeiten hervorzuheben, die im Kontext des Sozialkonstruktivismus entstanden sind. Darüber hinaus werden aber auch die Rolle und Funktion von einzelnen Medien in Forschungsprozessen untersucht. In den Methodendiskussionen wird das Thema aus einer forschungspraktischen Perspektive virulent. Das Ziel ist hier die Untersuchung der Möglichkeiten und Beschränkungen, die unterschiedliche Verfahren und Techniken in der Sozialforschung bieten bzw. auferlegen. Das Spektrum der Arbeiten reicht hier von der Thematisierung einzelner technischer Medien bis hin zur Kommunikativen Sozialforschung als Ausarbeitung einer Methodologie, die kommunikative Prinzipien ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. In den Bereich der Wissenschaftstheorie reicht dagegen die Debatte über die »Krise der Repräsentation« in der Ethnographie. Die Geschichtsschreibung schließlich ist ein zwar wenig bearbeitetes, dafür aber wichtiges Feld der Selbstbeschreibung der Sozialwissenschaften. Hier zeigt sich, dass viele Historiographien ohne jede Reflexion der medialen und kommunikativen Bedingungen der Sozialforschung auskommen.

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2.1 Wissenschaftsforschung 2.1.1 Sozialkonstruktivismus: Forschung als sozialer Prozess Die sozialkonstruktivistische Wissenschaftsforschung untersucht empirisch die Praktiken wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens und in Maßen auch ihre materiellen Bedingungen. Dabei fällt auf, dass sie sich in ihrem Objektbereich auf naturwissenschaftliche Forschung beschränkt. Eine selbstreflexive Wendung des Forschungsprogramms auf ihre Ursprungsdisziplinen in den Sozialwissenschaften findet dagegen nicht statt. 6 Einflussreich und wegbereitend in diesem Bereich waren die Arbeiten von Karin Knorr-Cetina, Steven Woolgar und Bruno Latour. Der klassische Sozialkonstruktivismus widmet sich der sozialen Dimension der Generierung naturwissenschaftlichen Wissens und beschreibt Wissenschaftler als Mitspieler in einem sozialen Netzwerk, das seine Tätigkeiten und Resultate sozial konstruiert.7 Im Anschluss an den von Peter L. Berger und Thomas Luckmann eingeführten Sozialkonstruktivismus 8 etablierte sich in den 1970er Jahren die Praxis der Laborstudien zur Erforschung der kollektiven Produktion wissenschaftlichen Wissens. In den klassischen Studien untersuchen Knorr-Cetina sowie Woolgar und Latour den Alltag in naturwissenschaftlichen Laboren mit Hilfe anthropologischer Methoden. Knorr-Cetina vertritt in »Die Fabrikation von Erkenntnis« 9 die These, dass entgegen der landläufigen Meinung auch naturwissenschaftliche Fakten kommunikativ ausgehandelt und somit sozial konstruiert werden. Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion dieser Konstruktionsprozesse thematisiert sie als Medien Metaphern sowie wissenschaftliche Texte. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Funktion von Metaphern in der Mobilisierung bislang unbedachter

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Eine der wenigen Ausnahmen stellt Robert Merton dar, der seine Indizes des Reifegrades der Naturwissenschaften auf seine eigene Disziplin der Wissenssoziologie angewendet hat. Vgl. Merton, Robert King, The Sociology of Science: An Episodic Memoir, in: ders./Gaston, Jerry (Hrsg.), The Sociology of Science in Europe, Carbondale: Southern Illinois University Press 1977, S. 3-14, hier S. 10. Für eine Einführung in die Positionen des klassischen Sozialkonstruktivismus, die hier nicht geleistet werden kann, siehe Barnes, Barry/Bloor, David/Henry, John, Scientific Knowledge. A Sociological Analysis, London: Athlone 1996. Vgl. Berger, Peter Ludwig/Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1999. Knorr-Cetina, Karin, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

EINLEITUNG

Ressourcen und Kapazitäten liegt. 10 Wissenschaftliche Texte wie Ergebnisberichte zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass sie den konstruktiven Charakter der Forschung ausblenden. Im Ergebnis kommt Knorr-Cetina zu dem Schluss, dass die Praxis der naturwissenschaftlichen Forschung nicht dem ihr unterstellten Ideal der distanzierten Beobachtung einer außerhalb stehenden Objektwelt entspricht. Vielmehr wird diese erst in der Praxis der Forschung durch soziale Interaktionen konstruiert und konstituiert. Daher zweifelt sie die gängige Unterscheidung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften dahingehend an, dass sich die Naturwissenschaften in ihren Verfahren und Methoden den Sozialwissenschaften ähnelten.11 Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Woolgar und Latour in »Laboratory Life« 12 mit dem Unterschied, dass sie die technischen Bedingungen naturwissenschaftlicher Forschung mit einbeziehen. Mit Rückgriff auf Jacques Derrida beschreiben sie die verschiedenen Instrumente und Messgeräte als »inscription devices«, mit deren Hilfe die Untersuchungsgegenstände in geschriebene Dokumente transformiert werden. 13 Sobald eine Einschreibung (inscription), bspw. ein Diagramm, verfügbar ist, wird der Weg dorthin, der Forschungsprozess, vergessen und die Einschreibung wird als direkter Indikator der untersuchten Substanz behandelt. Ihre These besagt, dass es sich im wissenschaftlichen Diskurs nur dann um harte Fakten handelt, wenn der Weg dorthin nicht mehr erkennbar ist, sie also als gesetzt angesehen werden können. 14 Fakten werden durch die Stabilisierung von Aussagen konstituiert. Dadurch werden Objekte real und somit der Grund für die ursprüngliche Aussage. Es findet eine Inversion statt. 15 Aus diesem Prozess schließen sie, dass ein »Draußen« (out-there-ness) nicht die Ursache wissenschaftlicher Betätigung ist, sondern ihre Konsequenz. Das heißt allerdings nicht, dass es dieses »Draußen« nicht gäbe – die Aussage und die externe Entität, auf die sie sich bezieht, sind vielmehr ein und dieselbe Sache. Zusammen-

10 Vgl. ebd., S. 92-125. Damit unterläuft sie implizit auch die Vorstellung einer naturwissenschaftlich orientierten Sozialforschung. 11 Vgl. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 245-249. 12 Woolgar, Steve/Latour, Bruno, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton: Princeton University Press 1986. 13 Die verwendeten Geräte beschreiben sie unter Berufung auf Gaston Bachelard als »verdinglichte Theorien«. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Vorarbeiten konstruiert, werden sie selbst wieder Grundlage für neue Forschungen. Als black boxes werden sie nicht mehr hinterfragt, sondern als gegeben angesehen (ebd., S. 66). Ihr Status ist sehr stabil, da die für eine Überprüfung anfallenden Kosten sehr hoch sind. 14 Vgl. Woolgar/Latour, Laboratory Life, S. 76. 15 Vgl. ebd., S. 177. 25

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fassend beschreiben sie Forschung nicht als Transformation von Informationen, sondern als materielle Operation zur Schaffung von Ordnung. 16 Die Betonung der materiellen Bedingungen von Forschung in Latours Arbeiten mündet schließlich in der gemeinsam mit Michel Callon entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie. Materiellen Dingen kommt darin der Status von handelnden Akteuren zu. 17 Die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur bzw. zwischen Gesellschaft und Technik wird aufgehoben, so dass natürliche, soziale und technische Faktoren gleichberechtigt sind. Wissenschaft ist aus dieser Perspektive die Verknüpfung heterogener Komponenten zu Netzwerken. Erfolgreiche Netzwerke (z.B. eine anerkannte Theorie oder Technik) funktionieren als black boxes, deren Verhalten unabhängig vom Kontext bekannt und vorhersehbar ist. 18 Das Verdienst der sozialkonstruktivistischen Laborstudien liegt darin, dass sie die Rolle sozialer Konstruktionsprozesse bei der Konstituierung naturwissenschaftlichen Wissens herausstellen und damit den Mythos wissenschaftlichen Entdeckens entlarven. Woolgar/Latour betonen dabei stärker die Rolle der materiellen Operationen, die diesen Konstruktionsprozessen zugrundeliegen. Gemeinsam ist ihnen die Feststellung, dass Forschung immer im Hinblick auf die Produktion von Texten geschieht. Die Aufschreibetechniken in den Laboren können insofern einerseits als Medien der Stabilisierung und andererseits als Medien des 16 Vgl. ebd., S. 245. Die Grundlage dieser Operationen konkretisiert Latour später mit seinem Konzept der »immutable mobiles«, deren Einführung er als wesentliches Moment in der Geschichte der modernen Wissenschaft betrachtet. Diese visuellen Repräsentationen zeichnen sich durch Dekontextualisierung bei gleichzeitigem Strukturerhalt aus. Die Konstruktionsprozesse, die zu ihrer Stabilisierung führen, sind in diesen Objekten jedoch nicht mehr enthalten. Erst dadurch können die Objekte in unterschiedlichen Kontexten vermitteln. Vgl. Latour, Bruno, Drawing things together, in: Lynch, Michael (Hrsg.), Representation in Scientific Practise, Cambridge, Mass.: MIT 1990, S. 19-68. 17 Auch Knorr-Cetina wendet sich später der Frage nach der Stellung materieller Objekte in der Gesellschaft zu. Dies geschieht jedoch nicht mehr spezifisch in Hinblick auf Wissenschaft, sondern auf gesellschaftliche Verhältnisse im Allgemeinen. Ihr Ansatz ist jedoch nicht so radikal wie der Latours, sondern setzt weiterhin auf das Primat des Sozialen. Vgl. KnorrCetina, Karin, Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in posttraditionalen Wissensgesellschaften, in: Rammert, Werner (Hrsg.), Technik und Sozialtheorie, Frankfurt am Main: Campus 1998, S. 83-120. 18 Vgl. Schulz-Schaeffer, Ingo, Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Weyer, Johannes, Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München: R. Oldenbourg 2000, S. 187-210, hier S. 188. 26

EINLEITUNG

Vergessens bezeichnet werden. Sie dienen der Arretierung bzw. der Entdynamisierung von Forschungsprozessen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie schließlich versucht, die Rolle der materiellen Bedingungen stärker zu betonen. Allerdings ist dieser Ansatz in seiner allgemeinen Bezogenheit auf Materielles zu unspezifisch, da nicht geklärt wird, in welchem Verhältnis materielle und nichtmaterielle Akteure zueinander stehen. Dies ist insbesondere für unsere Fragestellung von Bedeutung, da die hier untersuchten Kommunikationsmedien nicht nur materieller Natur sind. Problematisch an den sozialkonstruktivistischen Ansätzen ist aus der hier vertretenen Sicht, dass sie sich zwar auf die kommunikativen Aushandlungsprozesse innerhalb der Forschung beziehen, dabei jedoch nicht kommunikationstheoretisch, sondern vielmehr interaktionistisch bzw. handlungstheoretisch argumentieren. Dies betrifft in der AkteurNetzwerk-Theorie vor allem die dort aufgestellte Behauptung von der »Handlungsfähigkeit der Dinge« 19 . Dieser relativistische Ansatz negiert alle Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft wie zwischen Gesellschaft und Technik. Damit gelingt es nicht, eine konzeptionelle Verbindung zwischen den kommunikativen Prozessen und den Medien der Forschung herzustellen. Unklar sind auch die erkenntnistheoretischen Konsequenzen. Zwar relativiert Knorr-Cetina das Primat der distanzierten Betrachtung als primäres Medium des Erkenntnisgewinns in den Naturwissenschaften, geht jedoch nicht so weit, die Feststellung der sozialen Konstruiertheit auch naturwissenschaftlichen Wissens dahingehend umzuformulieren, dass damit auch die klassischen solitären Subjekte der distanzierten Beobachtung obsolet geworden sind und konsequenterweise durch Erkenntniskollektive zu ersetzen sind.20 Hier besteht Klärungsbedarf hin19 Diese Feststellung negiert nicht Latours metaphorischen Gebrauch von ›Handlungsfähigkeit‹ und die damit angedeuteten möglichen und tatsächlichen historischen Bedeutungsverschiebungen des Begriffs. Siehe dazu Greif, Hajo, Versuche, die Welt zurückzugewinnen. Die Kontroverse über die »Handlungsfähigkeit der Dinge« in den Science and Technology Studies, in: Zittel, Claus (Hrsg.), Wissen und soziale Konstruktion, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 27-45, hier S. 41-43. 20 Fragen dieser Art haben für die Praxis der Naturwissenschaften offensichtlich keine Bedeutung, jedoch haben die Ergebnisse der Wissenschaftsforschung erbitterten Widerstand provoziert. Bekanntester Fall sind die sogenannten science wars der 1990er Jahre. Der Physiker Alan Sokal veröffentliche 1996 einen ernst erscheinenden, aber parodistisch gemeinten Aufsatz, der in der Forderung nach einer »befreiten postmodernen« Naturwissenschaft gipfelte, die Quantenphysik, New-Age-Philosophie, französische Dekonstruktion und Chaostheorie vereinigen sollten (vgl. Sokal, Alan David, Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity, in: Social Text, Jg. 14, Nr. 46/47 27

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sichtlich der Art der konstruierenden Beobachter. Der Verdacht liegt nahe, dass das Ziel des beschriebenen kollektiven Problemlösens die Herstellung einheitlicher Beobachterstandpunkte im Sinne intersubjektiver Überprüfbarkeit ist. Festzuhalten bleibt aber die Tatsache, dass Erkenntnis in den sozialkonstruktivistischen Ansätzen im Gegensatz zum zeitlosen Erkenntnisakt klassischer Theorien als Prozess vorgestellt wird. 21 An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Sozialforschung. Während die Interaktionen zwischen Forschern ebenfalls ein wesentlicher – wenn auch nicht methodologisch reflektierter – Bestandteil der Sozialforschung sind, ergibt sich eine Beschränkung der Übertragbarkeit daraus, dass sich sozialwissenschaftliche Kommunikationsprozesse nicht nur innerhalb von Forscherteams abspielen, sondern auch und vor allem zwischen Forschern und Beforschten. Diese folgen jedoch anderen Programmen als die professionellen Interaktionen in Laboren und sind abhängig von den verwendeten Medien und Methoden. Dieser Unterschied wird deutlicher, wenn man versucht, Knorr-Cetinas Metaphorik auf die Sozialforschung zu übertragen. 22 Das Bildfeld »Fabrik« evoziert Assoziationen von Maschinen und Arbeitern, die jeweils nach festen Programmen arbeiten. Die Maschinen der Sozialforschung sind aber nicht so eindeutig wie die in einem biologischen Labor. Forscher, Fragebogen, Interview, Experiment, Tonbandgerät, statistische Datenauswertung – die Identifizierung der Maschinen der Sozialforschung ist abhängig vom Standpunkt wie die Maschinen auch immer Kombinationen unterschiedlicher Elemente sind. Darüber hinaus werden sie nicht in jedem Fall als black boxes verwendet. Das betrifft beispielsweise das Agieren der Forscher in Forschungssetting, die dem Prinzip der Offenheit und damit gerade nicht festgelegten Programmen folgen, sondern diese situativ anpassen. Forschung als Kommunikation erscheint aus der Perspektive der sozialkonstruktivistischen Wissenschaftsforschung als Umwelt der Sozialforschung. Die Feststellung, dass die Naturwissenschaften den Sozialwissenschaften ähnlich sind, bei gleichzeitiger Auslassung einer entspre(1996), S. 217-252). In der Folge entbrannten heftige Diskussionen über den Vorfall selbst, aber auch über die Seriosität der postmodernen Philosophie im Allgemeinen. Sokal konkretisierte später seine Kritik an Beispielen aus der französischen Philosophie (vgl. Sokal, Alan David/Bricmont, Jean, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen, München: Beck 1999. 21 Zur Prozesshaftigkeit von Erkenntnis siehe auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 22 Zum Umgang mit Metaphern siehe den Abschnitt Daten und Methoden in diesem Kapitel. 28

EINLEITUNG

chenden Beforschung der Sozialwissenschaften, unterschlägt die Tatsache, dass die Gegenstände der jeweiligen Wissenschaften unterschiedlicher Natur sind. Die Spezifizität der Sozialwissenschaften ergibt sich nicht aus den Kommunikationsprozessen zwischen Forschern, sondern aus der grundsätzlichen Ähnlichkeit der Forscher und ihren Gegenständen und den damit verbundenen besonderen Zugangs- und Interaktionsweisen.

2.1.2 Medien als Gegenstand der Wissenschaftsforschung Neben der Beschäftigung mit den sozialen Prozessen sind auch konkrete Medien Gegenstand der Wissenschaftsforschung. Dieses Feld ist jedoch hinsichtlich der Gegenstände und des Erkenntnisinteresses, den disziplinären Hintergründen und Methoden äußerst heterogen. Bisweilen wird unter dem Verhältnis von Wissenschaft und Medien jenes zu den Massenmedien verstanden,23 das für diese Arbeit jedoch nur am Rande von Interesse ist. Des Weiteren werden Metaphern als sprachliche Medien thematisiert. Hier kann unterschieden werden zwischen Untersuchungen, die Metaphern als Selbstbeschreibungen der Wissenschaft analysieren 24 , und Untersuchungen, die die kommunikativen Potenziale von Metaphern hervorheben 25 . Während metaphernanalytische Untersu23 Vgl. beispielsweise Weingart, Peter, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 232-283. Weingart untersucht hier aus systemtheoretischer Perspektive das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Massenmedien sowie die Rückkopplungen zwischen beiden Systemen. 24 Olaf Jäkel bspw. analysiert wissenschaftstheoretische Standardwerke auf charakteristische Leitmetaphoriken, die zur Beschreibung von Wissenschaft herangezogen werden. Bei Aristoteles etwa stünden Metaphern der Beobachtung im Vordergrund, was auf ein passives Wissenschaftsverständnis hindeute, bei Kant eine Gebäude-Metaphorik, die auf ein Verständnis von Wissenschaft als konstruktive Tätigkeit hindeutet, und bei Kuhn die Vorstellung von Wissenschaft als einem Glaubenskrieg. Vgl. Jäkel, Olaf, Wie Metaphern Wissen schaffen. Die kognitive Metapherntheorie und ihre Anwendung in Modell-Analysen der Diskursbereiche Geistestätigkeit, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion, Hamburg: Verlag Dr. Kovaþ 2003, S. 229-259. 25 Christina Brandt zeichnet nach, wie sich in der Geschichte der Biochemie Metaphern aus dem Bildfeld Schrift auf die theoretischen Modelle und Experimentalanordnungen ausgewirkt haben. Zunächst zu Zwecken der Veranschaulichung eingeführt, wurde diese Metaphorik später in die Theorien und experimentellen Praktiken rückübersetzt. Diesen Prozess beschreibt sie als gegenseitige Katalyse. Vgl. Brandt, Christina, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttingen: Wallstein 2004. 29

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chungen zu den Sozialwissenschaften fehlen, werden hier technische Medien thematisiert. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach dem Einfluss neuer elektronischer Medien auf die Forschung. Uwe Rutenfranz unternimmt den Versuch, die »Bedeutung« von Computern für die Wissenschaft empirisch zu untersuchen.26 Seine quantitativ angelegte Studie kommt allerdings nicht über die Bestätigung von Allgemeinplätzen hinaus. Indem auch hier das Medium Computer als äußere Umwelt der Forschung betrachtet wird, gelingt es nicht, qualitative Veränderungen der Forschungspraxis zu erfassen. Stattdessen demonstriert die Arbeit die epistemologischen Brüche, die sich auftun, wenn alte Forschungsprogramme auf Phänomene angewendet werden, die sich damit nicht mehr adäquat beschreiben lassen. Während in diesem Fall das Thema einen dezidiert kommunikationswissenschaftlichen Gegenstand und eine entsprechende Herangehensweise nahe legen ließe, ist es im Allgemeinen so, dass die Kommunikationswissenschaft selbst bislang kein Interesse an Wissenschaftsforschung entwickelt hat. Dadurch besteht ein doppeltes Defizit: Der Wissenschaftsforschung fehlt eine dezidiert kommunikationswissenschaftliche Perspektive wie auch der Kommunikationswissenschaft eine kommunikationstheoretische Reflexion ihrer eigenen Grundannahmen und Programme abgeht. Anders sieht die Situation in der Medienwissenschaft aus. Hier besteht ein ausgeprägtes Interesse an wissenschaftshistorischen Fragestellungen. Für unseren Zusammenhang ist hier eine Arbeit von Interesse, die sich nicht vorbehaltlos der Wissenschaftsforschung zurechnen lässt, da sie sich als medienhistorische Studie mit dem Ziel der Arbeit an der Medientheorie versteht. Stefan Rieger schreibt eine Mediengeschichte »der Wissenschaften vom Menschen«, in der er die Verfahren und Techniken von Anthropologie, Medizin, Experimentalpsychologie, Psychiatrie, Arbeitswissenschaften und Psychophysik in der klassischen Moderne untersucht. 27 Mit einer beeindruckenden Materialfülle demonstriert Rieger den frühen Einsatz von Bild- und Tonaufzeichnungsverfahren und anderen technischen Medien sowie die Beschreibung des Menschen anhand deren Prinzipien und deutet damit eine Koevolution von Medien und Sozialwissenschaften an. Anhand der Praktiken der Wissenschaften vom Menschen diskutiert Rieger die These von der Steigerung der Individualität. Diese Steigerung sieht er in Herstellung und Verwertung eines quantifizierbaren Wissens über den Menschen, der durch die Apparatu26 Rutenfranz, Uwe, Wissenschaft im Informationszeitalter. Zur Bedeutung des Mediums Computer für das Kommunikationssystem Wissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. 27 Rieger, Stefan, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 30

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ren der Wissenschaften zuerst zerlegt und dann in Form neuer MenschMaschine-Kopplungen im Sinne industrieller Verwertungsweisen rekonstruiert wird. In Abgrenzung von der in den 1990er Jahren weit verbreiteten technikfixierten Medientheorie mit ihrem »Standardgestus«, dass technische Medien den Menschen zum Verschwinden brächten, unternimmt Rieger den Versuch, auch Kulturtechniken unter seinen Medienbegriff verstehen, um dann das »Gemeinsame unterschiedlicher Medien strukturell zu fassen«. 28 In Anlehnung und gleichzeitiger Abgrenzung von der Systemtheorie führt er komplexitätstheoretische Überlegungen in die Medientheorie ein: »Komplexität [...] ist mit ihren beiden Basisoperationen Formalisierung und Quantifizierung jene Systemstelle, die Menschen und Medien unhintergehbar aneinander koppelt.« 29 Die Quantifizierung des Wissens vom Menschen ist dabei ein Reflex auf die Bewegung, die das Unbewusste und die damit verbundene Komplexitätssteigerung zum Gegenstand der Wissenschaft macht, aber eben an diesem Unbewussten vorbei erhoben werden soll. 30 Im Zuge der Umstellung auf quantifizierbares Wissen, das den Menschen und die Wissenschaften von ihm auf das Prinzip der Datenverarbeitung gründet, werden inhaltliche Aspekte und »der Narration verpflichtete Aufzeichnungsverfahren« vernachlässigt. 31 Dies führt Rieger schließlich zu der Feststellung, dass eine prinzipielle Differenz zwischen Mensch und Medium nicht aufrecht zu erhalten ist. Die Auflösung ihrer Unterscheidbarkeit bezieht sich auf die Technizität von Medien und auf eine technische Mediengeschichte, an die die Individualität des Individuums gekoppelt wird. Rieger erschließt mit seiner Studie den Sozialwissenschaften ein Feld für ihre disziplinäre Selbstreflexion. Dies betrifft die Historizität der Konstruktion ihrer Gegenstände im Zusammenhang mit den medialen Bedingungen dieser Leistung in Form ihrer Apparate und Verfahren. Die Frage ist, inwiefern Riegers Beschreibung der individuellen Wissenschaften vom Menschen auf die zeitgenössischen Sozialwissenschaften übertragbar ist. Allein der Verweis auf die Problematik der Operationalisierung von Variablen oder die der richtigen Interviewtechniken in der 28 Ebd., S. 16. 29 Ebd., S. 13 (kursiv im Original). Damit vertritt Rieger einen spezifisch quantitativen Komplexitätsbegriff, siehe dazu auch den Abschnitt Die Labels der Sozialwissenschaften in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 30 Vgl. Rieger, Die Individualität der Medien, S. 465f. Die Quantifizierung des Wissens vom Menschen stellt Rieger damit der Psychoanalyse gegenüber, die zwar einen Zugang zum Unbewussten darstellt, jedoch für Massenerhebungen ungeeignet ist. 31 Ebd., S. 282f. 31

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quantitativen Sozialforschung – einer Soziographie, die nicht mehr vor den äußeren Merkmalen halt macht – genügt jedoch, um klar zu machen, dass es oftmals genau um das Problem der Kopplung des Individuums mit dem Ganzen geht, das eben durch Individuen, aber eben nur an ihnen vorbei, beobachtbar sein soll. Schließlich ist aber noch zu bedenken, inwieweit der Versuch, den Menschen als Medium zu denken, selbst an den Gedanken von der Technizität der Medien gebunden ist und das in seiner Genese beschriebene Verständnis des Menschen als Datenverarbeiter fortsetzt, als dass Rieger seinen Anspruch eben jener Loslösung des Medienbegriffes schließlich auch einlösen könnte. Die Untersuchungen zu den Medien der Forschung zeigen wie die sozialkonstruktivistischen Studien, dass die Sozialforschung als Gegenstand der Sozialforschung nicht existiert. Forschung als Kommunikation und ihre Medien werden als Gegenstände der Sozialforschung lediglich außerhalb der Sozialwissenschaften untersucht. Dem widerspricht auch die Tatsache nicht, dass mit Riegers Studie ein Beitrag zu Mediengeschichte der Sozialwissenschaften vorliegt. Für seine Arbeit sind die Sozialwissenschaften selbst Umwelt. Folglich kann festgestellt werden, dass für die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung die Sozialforschung selbst ein blinder Fleck ist.

2.2 Methodendiskussion Anders verhält es sich im Bereich der Methodendiskussion der Sozialwissenschaften. Hier werden Fragen nach den kommunikativen und medialen Bedingungen auf zwei Ebenen virulent. Auf der allgemeinen methodologischen Ebene wird die Frage erörtert, an welchen Prinzipien sich die Sozialforschung orientieren soll. Auf der forschungspraktischen Seite wird der Einsatz konkreter Medien diskutiert. Dabei sind zwei grundlegende Haltungen zu beobachten. Entweder wird die Gebundenheit der Sozialforschung an ihre Medien als Gestaltungsauftrag verstanden oder aber als Krise erlebt.

2.2.1 Methodologie: Kommunikation als Forschungsprinzip Ein frühes Beispiel, in dem auf den kommunikativen Charakter der Sozialforschung hingewiesen und gleichzeitig auch der mediale Referenzhorizont dieser Aussage expliziert wird, findet sich bereits im klassischen, von René König herausgegebenen Lehrbuch zur empirischen Sozialforschung. Dort ist in einer Abhandlung zum Interview die Rede von der »unnatürlichen« Art der Kommunikation, die das Interview darstellt: »Zugleich weist das Interview in der Sozialforschung gewisse Überein32

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stimmungen zu Formen der Massenkommunikation auf.« 32 Diese Irritation führt zunächst nicht zu methodologischen Konsequenzen. Dies geschieht erst in den 1970er Jahren mit der Formulierung der Prinzipien der Kommunikativen Sozialforschung, die den zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt dieser Arbeit darstellt. Unter diesem Begriff stellt die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 33 eine Reihe von theoretischen Ansätzen und Methoden vor, die bis zu diesem Zeitpunkt in der deutschsprachigen Sozialforschung kaum rezipiert wurden. Sie übersetzen und veröffentlichen klassische Texte von George Herbert Mead und Herbert Blumer zum symbolischen Interaktionismus, von Alfred Schütz zur Wissenssoziologie sowie von Aaron Cicourel, Harold Garfinkel und Dell Hathaway Hymes zur Ethnomethodologie. 34 Aus diesen Ansätzen übernehmen die Bielefelder Soziologen auch das methodische Instrumentarium: teilnehmende Beobachtung, Krisenexperiment 35 , die dokumentarische Methode der Interpretation – ein Vorläufer des narrativen Interviews – und die Analyse natürlicher Kommunikationssituationen. Eigene Methoden entwickeln sie jedoch nicht. Die Kommunikative Sozialforschung macht nicht nur Kommunikation zum Gegenstand der Forschung, sondern fordert eine kommunikative Gestaltung des For32 Scheuch, Erwin Kurt, Das Interview in der Sozialforschung, in: König, René (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung (2 Bde.), Stuttgart: Ferdinand Enke 1962, S. 136-195, hier S. 136f. Scheuch behandelt darin auch kurz die Geschichte des Forschungsinterviews und des Fragebogens und datiert erste Vorläufer auf das 19. Jahrhundert, siehe ebd., S. 138. Darüber hinaus liefert Scheuch ein interessantes Detail zur Geschichte der methodologischen Reflexion. Hinsichtlich des Interviews datiert er die frühesten Arbeiten dieser Art auf die späten 1920er und frühen 1930er Jahre und stellt fest, dass diese vor allem von »Sozialfürsorgern« verfasst wurden. Dies weist zumindest für diese Methoden von Anfang an auf einen starken Praxisbezug der Forschung hin, die man als intervenierend beschreiben kann, vgl. ebd., S. 140 und zugehörige Fußnote 13. 33 Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Joachim Matthes, Werner Meinefeld, Fritz Schütze, Werner Springer, Ansgar Weymann und Ralf Bohnsack. Zur Kommunikativen Sozialforschung siehe ausführlicher den Abschnitt Erfahrung durch Kommunikation in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 34 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Realität (2 Bde.), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973. Der Begriff Kommunikative Sozialforschung wird erstmals für den Folgeband verwendet, in dem Beispiele ihrer Anwendung vorgestellt werden. Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Kommunikative Sozialforschung. Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung, München: Fink 1976. 35 Zum Krisenexperiment siehe auch den Abschnitt Induktion von Komplexität in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 33

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schungsprozesses. Die Teilnahme an Kommunikationsprozessen, ihre Beobachtung und Analyse werden als gemeinsames Strukturelement ihrer Methoden verstanden. 36 Dieses Prinzip soll durch die Gestaltung des Forschungsprozesses als Gespräch mit Rückkopplungsmöglichkeiten und selbstreflexiven Phasen umgesetzt werden. Damit rückt die Kommunikative Sozialforschung vom Ideal der distanzierten Beobachtung als privilegiertem Medium des Erkenntnisgewinns ab. Die Arbeiten der Bielefelder Soziologen können als Verallgemeinerung der Prinzipien der von ihnen übernommenen Ansätze verstanden werden. Eine allgemeine Anerkennung bzw. Durchsetzung dieser Methodologie fand jedoch nicht statt. 37 Dennoch finden sich einzelne Vorschläge für Methoden, die implizit ihre Grundgedanken beinhalten. 38 Erst in den 1990er Jahren tritt anknüpfend an die Vorarbeiten der Bielefelder Soziologen die Kommunikative Sozialforschung als eigenständige Methodologie wieder in den Vordergrund. Michael Giesecke und Kornelia Rappe-Giesecke schlagen in »Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung« 39 eine Brücke zwischen den Methoden der Sozialforschung und deren Anwendung in Beratungskontexten. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht das »Gespräch als unausgeschöpfte Ressource

36 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Kommunikative Sozialforschung, S. 16. 37 Ein möglicher Grund dafür ist eine Verschiebung innerhalb der Methodendiskussion vom Thema Kommunikation hin zur Frage nach der theoretischen Offenheit von Sozialforschung. Besonders einflussreich (subjektiv gemessen an der Häufigkeit seiner Zitation) und möglicherweise als Scheidepunkt in dieser Diskussion zu bezeichnen ist ein Beitrag von Christa Hoffmann-Riem, in dem sie den Vorschlag macht, die Prinzipien der Kommunikativen Sozialforschung mit der Forderung nach theoretischer Offenheit im Sinne der Grounded Theory zu verknüpfen. Vgl. Hoffmann-Riem, Christa, Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie – Der Datengewinn, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 32, Heft 2 (1980), S. 339-372. 38 Dazu gehören die kommunikative Validierung, das problemzentrierte Interview oder die rekonstruktive Sozialforschung. Vor allem in der jüngeren Vergangenheit ist eine Zunahme an Beiträgen zur kommunikativen Sozialforschung zu beobachten. Zur Rezeptionsgeschichte der Kommunikativen Sozialforschung siehe detailliert Ziegaus, Sebastian, Die Kommunikative Sozialforschung in der Forschungsliteratur seit 1973. Zu Entwicklung, Reflexion und Bedeutung eines tragenden Prinzips der Sozialforschung, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 7, Nr. 2 (2006), S. 293-312. 39 Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Zur Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. 34

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in der Berufswelt« und in der Wissenschaft. 40 In Rückgriff auf die psychoanalytischen Arbeiten von Georges Devereux charakterisieren sie die Kommunikative Sozialforschung als Integration von traditioneller distanzierter Beobachtung und Selbsterfahrung bzw. als Verknüpfung individueller psychischer Erkenntnistätigkeit mit sozialen (Selbst-) Beobachtungen. Sozialforschung ist ein selbstreferenzieller Prozess, der dementsprechend explizite Phasen der Selbstreflexion der Forscher beinhalten soll. Giesecke/Rappe-Giesecke begründen ihr Konzept dabei konsequent kommunikations- und informationstheoretisch. Soziale Systeme werden grundsätzlich als informationsverarbeitende Systeme verstanden. Forschungssysteme sollen dementsprechend als Kommunikationssysteme gestaltet werden, was sie für alle Phasen von Forschungsprozessen demonstrieren – von der Konstitution von Forschungssystemen über Datenerhebung, -dokumentation und -auswertung bis zur Rückkopplung und Präsentation der Ergebnisse. Insgesamt handelt es sich um die bislang konsequenteste Umsetzung kommunikativer Prinzipien in der Sozialforschung, die darüber hinaus auch die Medien der Sozialforschung reflektiert. Der Tradition der Sozialforschung, die Kommunikation als tragendes Prinzip der Sozialforschung auffasst und zu gestalten versucht, stehen Positionen gegenüber, die die Gebundenheit an Kommunikation problematisieren. Am deutlichsten wird dies in jenen Ansätzen, die danach streben, Kommunikation zu unterdrücken. Tatsächlich existiert ein ganzer Forschungszweig, der sich der Untersuchung von Kommunikationsvermeidungsstrategien widmet, die Reaktivitätsforschung. 41 Weniger radikal, sondern vielmehr als Suchbewegung nach einem produktiven Umgang mit diesen Fragen stellt sich die Diskussion über die »Krise der Repräsentation« in der Ethnographie dar. 42 In der ethnographischen Diskussion erlangen ab Mitte der 1980er Jahre grundlegende Fragen Aufmerksamkeit, die die Darstellung von Ergebnissen und Erkenntnissen sowie die Wirklichkeitskonstruktionen der am Forschungsprozess Beteiligten als substantiellen Teil des Forschungsprozesses problematisieren. In den Blick geraten hier vor allem die Transformationsprozesse und -ergebnisse der Ethnographie, und 40 Giesecke/Rappe-Giesecke, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung, S. 17 und 34. 41 In ihrem Sinne vermeide ich hier deren Thematisierung und verweise dazu auf den Abschnitt Reduktion von Komplexität in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 42 In der Geschichtsschreibung der Sozialforschung hat die »Krise der Repräsentation« gar den Status einer Epochenbezeichnung erlangt, vgl. Denzin, Norman Kent/Lincoln, Yvonna S. (Hrsg.), Handbook of Qualitative Research, Thousand Oaks: Sage 1994, S. 7-11. 35

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zwar ihre Texte und das Schreiben dieser Texte. In der »Writing CultureDebatte« 43 werden die kulturelle Kodierung des Schreibens und die Textzentriertheit kultureller Repräsentationen hervorgehoben. Die Kritik, die zunächst entlang traditioneller Gütekriterien von Wissenschaft wie Validität, Reliabilität und Objektivität erfolgt, mündet schließlich in eine ansatzweise Kritik des Mediums Schrift an sich. 44 Die Diskussion speist sich aus der Reflexion der Forschung als sozialer Praxis, der dialogischen Konstitution ethnographischen Wissens und der Rhetorizität der textuellen Konstruktion dieses Wissens im Sinne der Strukturierung von Erkenntnis. 45 Daraus leitet sich die Forderung ab, statt eines autoritativen, objektivistischen Schreibstils nun eine diskursive, kommunikative Repräsentation analog der ethnographischen Forschungssituation oder gar eine polyphone Ethnographie zu praktizieren. Dies gipfelt gar in dem Anspruch, den gesamten Forschungsprozess zu dialogisieren und damit die Grenzen zwischen Interaktion und Repräsentation aufzubrechen. 46 Hinter der Idee einer polyphonen Ethnographie steht der Gedanke der Dezentrierung des Ethnographen. Der Text als Produkt der Ethnographie soll idealerweise Zugänge zur »Evokation der Anderen« ermöglichen und deshalb das Dokument eines Dialogs zwischen Forschern und Beforschten sein, in dem die Stimme des Ethnographen nicht

43 Der Name stammt von einem gleichnamigen Sammelband. Vgl. Clifford, James/Marcus, George E. (Hrsg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. A School of American Research Advanced Seminar, Berkeley: University of California Press 1986. 44 Vgl. Klöpping, Susanne, Repräsentationen des kulturell »Fremden« zwischen Schrift und Film. Ethnographie, Visualität und die frühen Filme Trinh T. Minh-has als ästhetische Verfremdung des Wissenschaftsdiskurses, Dissertation, Universität Konstanz 2006, S. 52-63, verfügbar unter: urn:nbn:de:bsz:352-opus-18912. [Für Internetquellen gilt, sofern nicht anders angegeben, als letztes Datum der Überprüfung der 25.08.2009. URNs (Uniform Resource Name) sind eindeutige Bezeichner von OnlineRessourcen zur dauerhaften Identifizierung und zuverlässigen Zitierfähigkeit. Sie können über den URN-Resolver der Deutschen Nationalbibliothek unter http://nbn-resolving.de aufgelöst werden.] 45 Zum letzten Punkt siehe Clifford, James, Über ethnographische Autorität, in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 109-157. 46 Vgl. Tedlock, Dennis, Fragen zur dialogischen Anthropologie, in: Berg/Fuchs (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text, S. 269-287. Die Vorstellung von der dialogischen Forschungskonstitution als Grundlage der Repräsentation wird in weniger radikaler Weise von zahlreichen anderen Autoren übernommen, vgl. bspw. Clifford, James, Über ethnographische Autorität, hier S. 135ff. 36

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mehr die Stimme des Anderen unterdrückt. 47 Hier deutet sich eine praktische Alternative zum Dilemma der Nichtdurchhaltbarkeit der distanzierten Beobachtung an, dem die Ethnographie immer schon unterliegt, und zwar in Richtung einer polyperspektivischen Sozialforschung, deren Prozesse und Ergebnisse nicht mehr der alleinigen Kontrolle der Forscher unterliegen. Die Bedeutung der Debatte um die Krise der ethnographischen Repräsentation liegt darin, dass sie einige Bruchstellen offenlegt, an denen die Sozialwissenschaften im Allgemeinen operieren. Dies betrifft in erster Linie das paradoxe Verhältnis zwischen den kommunikativen Prinzipien der Forschung und dem Prozess ihrer Entdynamisierung im Zuge der Herstellung von Repräsentationen, die eben nicht diesen Prinzipien folgen. Bei der Suche nach alternativen Repräsentationsstrategien wurde jedoch die Frage nach alternativen Medien lange Zeit nicht gestellt. 48 Mittlerweile findet aber auch hier ein Umdenken statt 49 , so dass sich ein Ausweg aus der »Krise« anzudeuten scheint. Die aufgedeckten Probleme müssen aber noch weiter gefasst werden. Sie betreffen nicht nur das Verfassen von Ergebnisberichten. Vielmehr sind in der Sozialforschung an verschiedenen Stellen des Forschungsprozesses ähnliche Transformationen zu beobachten. Damit sind nicht nur die Forschungstagebücher und Feldnotizen der Ethnographen gemeint, sondern bspw. auch die Operationalisierung von Variablen in der quantitativen Sozialforschung oder die Dokumentation von Daten durch Transkriptionen. Diese Überlegungen führen dann am Ende zu der kategorischen Frage, was Sozialforscher denn eigentlich als ihre Umwelt betrachten.

47 Vgl. Strecker, Ivo, Ton, Film und polyphone Ethnographie, in: Ballhaus, Edmund/Engelbrecht, Beate (Hrsg.), Der ethnographische Film. Eine Einführung in Methoden und Praxis, Berlin: Reimer 1995, S. 81-103, hier S. 81f. Mit der »Evokation der Anderen« bezieht sich Strecker auf Tyler, Stephen A., Das Unaussprechliche. Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt, München: Trickster 1991. 48 Vgl. Klöpping, Repräsentationen des kulturell »Fremden« zwischen Schrift und Film, S. 63. 49 Unter den Stichwörtern »performative social science« und »performative turn« wird diskutiert, wie der Forschungsprozess und der Prozess seiner Vermittlung durch die Übertragung performativer Prinzipien verschränkt werden können. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass die Methoden der Sozialforschung selbst performativ sind und ihre Gegenstände nicht beschreiben, sondern selbst performativ hervorbringen. Dies führt zu Überlegungen über den Einsatz alternativer Medien in der Vermittlung von Forschungsergebnissen. Siehe dazu auch den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 37

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2.2.2 Technische Medien für die Sozialforschung Auch die Auseinandersetzung über konkrete Medien, die in der Sozialforschung zum Einsatz kommen, findet wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen zwischen den Polen euphorische Begrüßung und krisenhafte Umwälzung statt. Beispielhaft dafür stehen die Reaktionen auf den verstärkten Einsatz von Rechentechnik in der Sozialforschung während der 1960er und 1970er Jahre: »Gerade die Weiterentwicklung der Elektronik befreit den Sozialforscher weitgehend von den Zwängen der Technik und läßt ihn so frei werden von den Technikern, die sich als Mittler zwischen den Forscher und dessen Datenmaterial schoben; in der Analyse vermag man sich zunehmend auf die Logik der Operationen und die Beurteilung ihrer Aussagekraft zu konzentrieren.« 50

Erwin Scheuch feiert kurioserweise jene Technik als Befreiung, die auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe noch eine Last gewesen zu sein scheint. Die »Logik der Operationen« tritt genau dann in den Vordergrund, wenn deren technische Seite, die ja nichts anderes ist als eine Materialisierung dieser Logik der Operationen, nicht mehr die Arbeitszeit des Forschers in Beschlag nimmt. Die neu gewonnene Freiheit zur reinen Logik der Operationen wird aber auch kritisiert: »Manchmal läuft ein Forscher ›Amok‹ mit einer IBM-Maschine und bezieht jede Variable auf jede andere Variable.« 51

Hier wird die Maschine der Berechenbarkeit zur Waffe in der Hand von nun unberechenbaren Forschern. 52 Die Betrachtung bewegt sich zwi-

50 Scheuch, Erwin Kurt, Entwicklungsrichtungen bei der Analyse sozialwissenschaftlicher Daten, in: König, René (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1, Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart: Enke 1973, S. 161-237, hier S. 200. 51 Selltiz, Claire/Jahoda, Marie/Deutsch, Morton/Cook, Stuart W., Untersuchungsmethoden der Sozialforschung. Teil I und II, Neuwied: Luchterhand 1972, S. 227. 52 In eine ähnliche Richtung zielt Joseph Weizenbaum: »[...] der Computer, der als »Zahlenfresser« eingesetzt wird (d. h. lediglich als ein schneller numerischer Rechner, und als solcher wird er vor allem in den Verhaltenswissenschaften verwendet), hat oft [...] analytische Techniken mit Muskeln versehen, die mächtiger sind als die Gedanken, die man aufgrund dieser Techniken weiterverfolgen kann. »Die strengen Methodologen«, schreibt Stanislaw Andreski, »sind wie Köche, die ihre blanken Herde vorführen, ihre Mixer, Fruchtpressen und was nicht alles, ohne jemals etwas zuzubereiten, das man essen könnte«.« Siehe Weizenbaum, Joseph, Die 38

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schen den Extrempositionen der elektronischen Datenverarbeitung als Medium des Tötens und des Bezwingens und als Medium der Befreiung. Die Befreiung ist allerdings weniger eine von den Zwängen der Technik als die Befreiung von den Technikern und damit von der sozialen Komponente ihrer Bedienung. Statistik ist ohne Rechentechnik nicht mehr möglich, aber ohne Techniker, d.h. Programmierer. Dies wurde erst möglich mit der Entwicklung höherer Programmiersprachen und schließlich mit der Miniaturisierung und der Einführung graphischer Benutzeroberflächen. 53 Erst damit konnten Computer in den 1980er Jahren die Rechenzentren ver- und sich in den Büros der Sozialforscher niederlassen. Die Diskussion über die Verwendung von technischen Medien bewegt sich im Spannungsfeld zweier Verwendungsweisen. Entweder werden Medien als Instrumente der Datenerhebung, -auswertung und Ergebnispräsentation thematisiert oder als Gegenstände der Forschung. Dass sich diese Ebenen nicht immer scharf voneinander trennen lassen, zeigt ein immer noch aktueller Dialog zwischen Margaret Mead und Gregory Bateson. 54 Mead und Bateson reflektieren ihren eigenen Einsatz von Film- und Photokameras in der Feldforschung und vertreten dabei gegensätzliche Standpunkte. »Mead: I think it’s very important, if you’re going to be scientific about behaviour, to give other people access to the material, as comparable as possible to the access you had.« 55

Mead hebt den dokumentarischen Charakter der Fotografie hervor und möchte sie im Dienst intersubjektiver Überprüfbarkeit sehen. »[...] Bateson: [...] I think the photographic record should be an art form. [...] I’m talking about having control of a camera. You’re talking about putting a dead camera on top of a bloody tripod. It sees nothing.« 56 Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 213f. Auffällig ist hier die Metaphorik des Essens; offensichtlich leiden die verunglimpften Verhaltenswissenschaften keinen Mangel an professioneller Küchenausstattung, sondern an verwertbaren Rohstoffen und raffinierten Rezepten. 53 Zur Datenanalyse in dieser Zeit siehe Holm, Kurt (Hrsg.), Die Befragung (6 Bde.), München: Francke 1975-79. Darin finden sich Beschreibungen von und Anleitungen zum Umgang mit Programmen, die in FORTRAN und ALGOL geschrieben waren. 54 Mead, Margaret/Bateson, Gregory, On the Use of the Camera in Anthropology, in: Askew, Kelly/Wilk, Richard R. (Hrsg.), The Anthropology of Media. A Reader, Malden, Mass.: Blackwell 2002, S. 41-46. 55 Ebd., S. 41. 39

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Bateson betont das explorative Potenzial der Kamera, das sie allerdings nur um den Preis ihrer subjektiven Führung entfaltet. Der Gebrauch der Kamera vor dem Hintergrund der Gegensätze Dokumentation und Exploration, Intersubjektivität und Subjektivität markiert für Mead die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Diese Grenze sieht Bateson gerade in der Gestalt der Kamera verschwinden, indem sie die Gegenstände nur dann zum Leben erweckt, wenn mit ihr gesehen und nicht nur beobachtet wird. Dieses kleine Beispiel zeigt die Ambivalenz der Medien: Sie können Grenzen markieren oder auflösen; dies aber nicht durch sich selbst, sondern erst durch ihre Verwendungsweisen. Darüber hinaus verweist das Beispiel auch auf die Frage, was die Wissenschaft überhaupt als ihre Medien, in diesem Fall Informationsmedien, betrachtet. Für Mead ist es die teilnahmslose Registrierung, für Bateson der subjektive Blick, der die Kamera auszeichnet. 57 Auf der Ebene aktueller Reflexionen des Einsatzes neuer Medien erreicht die Diskussion selten die Tiefe wie bei Mead und Bateson. Technische Medien werden hier in erster Linie als Hilfsmittel betrachtet, die die bewährten Methoden vereinfachen. Vielfach handelt es sich um erste Erfahrungsberichte, die meistens nicht bis an die hier interessierenden grundlegenden Fragen heranreichen. Als Medien der Erhebung werden in den letzten Jahren bspw. Computer als Hilfsmittel für Telefonumfragen (Computer Assisted Telephone Interview) oder das Internet als Befragungsmedium (z.B. Onlinebefragungen oder Email-Interviews) thematisiert. 58 Hier deutet sich bereits an, dass die genannten Technologien 56 Ebd., S. 41-43. 57 Die Spannung zwischen positivistisch-dokumentarischem und explorativkünstlerischen Mediengebrauch in der Anthropologie setzt sich auch in der daran angelehnten »visuellen Soziologie« fort, die sich mittlerweile als eigene Subdisziplin der Soziologie etabliert hat. Vgl. Harper, Douglas, Fotografien als sozialwissenschaftliche Daten, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 402-418 sowie ders., The Visual Ethnographic Narrative, in: Visual Anthropology, Jg. 1, Nr. 1 (1987), S. 1-19. Eine interessante Weiterentwicklung stellen Versuche dar, Fotographie nicht nur als Medium der Datenerhebung, sondern auch der Analyse und Darstellung zu etablieren. Vgl. bspw. Tinapp, Sybilla, Visuelle Soziologie – Eine fotografische Ethnografie zu Veränderungen im kubanischen Alltagsleben, Dissertation, Universität Konstanz 2006, verfügbar unter: urn:nbn:de:bsz:352-opus-19477. Die Dissertation besteht aus zwei Teilen, einem Bildband und einem Kommentarband, der neben theoretischen Referenzen auch Kontextinformationen zu den Bildern liefert. 58 Vgl. bspw. Wolling, Jens/Kuhlmann, Christoph, Das Internet als Gegenstand und Instrument der Kommunikationsforschung, in: Löffelholz, Martin/ Quandt, Thorsten (Hrsg.), Die neue Kommunikationswissenschaft. Theorien, Themen und Berufsfelder im Internet-Zeitalter. Eine Einführung, 40

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weniger prinzipielle als graduelle Unterschiede in der Forschungspraxis bewirken. Sie werden zumeist im Rahmen zeit- und kostenökonomischer Erwägungen betrachtet. 59 Mehr Aufmerksamkeit werden Technologien zuteil, die den Dokumentations- und Auswertungsprozess unterstützen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der qualitativen Datenanalyse, zu dem mittlerweile eine ganze Reihe von Software-Tools und begleitender Literatur vorliegen. Auch für die Transkription sowohl von Audio- als auch Videodaten existieren unterstützende Softwaresysteme. 60 Es zeigt sich, dass die Entwicklung dieser Technologien und ihre Implementierung im Wesentlichen entlang der bekannten und erprobten Methoden der Sozialforschung verlaufen. Erkenntnistheoretische Reflexionen dieser neuen technologischen Grundlagen, die in den Dienst der bisherigen Verfahren gestellt werden, sowie eine Exploration neuer Einsatzmöglichkeiten dieser Technologien finden kaum statt. Eine Ausnahme bildet die Integration technischer Medien in die auch aus therapeutischen Verfahren bekannte Arbeit mit kreativen Medien, bei der Untersuchungsteilnehmer zur eigenen Produktion von Medieninhalten angeregt werden. 61 Diese Verfahren dienen im Allgemeinen dazu, Zugang zu Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 131-162. Hier werden alte Fragen an neue Medien gestellt, etwa wie Repräsentativität in Internetumfragen gewährleistet werden kann. 59 Vgl. bspw. Knobloch, Silvia/Knobloch, Martin, Computerunterstützte Befragung. Der Computer in der Funktion von Interviewer und Fragebogen, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 47, Nr. 1 (1999), S. 61-77. 60 Für einen Überblick an Softwarelösungen für die qualitative Sozialforschung siehe den Themenband Technikeinsatz im qualitativen Forschungsprozess, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 3, Nr. 2 (2002), verfügbar unter: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/view/22. Dort finden sich auch kritische Stimmen zum Einsatz computergestützter Datenanalyse, vgl. bspw. Roberts, Kathryn A./Wilson, Richard W., ICT and the Research Process. Issues Around the Compatibility of Technology with Qualitative Data Analysis [52 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 3, Nr. 2, Art. 23 (2002), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0202234. Zur Einführung in die computerunterstützte Datenanalyse siehe Kuckartz, Udo, Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. 61 Beispiele aus der Jugendforschung finden sich im Sammelband Niesyto, Horst (Hrsg.), Selbstausdruck mit Medien. Eigenproduktionen mit Medien als Gegenstand der Kindheits- und Jugendforschung, München: KoPädVerlag 2001. In den Beiträgen werden technische Medien als Erhebungsinstrumente und die damit gewonnen Daten als Untersuchungsgegenstände vorgestellt. Siehe dazu auch den Abschnitt Mediale Eigenproduktionen in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 41

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nichtsprachlichem oder nicht rational zugänglichem Wissen zu erlangen. 62 Zwischen Chance und Krise bewegt sich schließlich auch die Diskussion über digitale Publikationskanäle. Themen sind neue Geschäftsmodelle, die Klärung von Urheberrechten, Veränderungen in Begutachtungsverfahren oder die Frage nach der Zugänglichkeit wissenschaftlicher Publikationen. 63 Allerdings erreichen sowohl die innerwissenschaftliche Diskussion in den Sozialwissenschaften als auch die Umsetzung in die Praxis bislang nicht das Niveau der Naturwissenschaften. Von besonderem Interesse ist hier die Open Access Initiative. Der von ihr geforderte freie Zugang lässt sich nicht nur auf wissenschaftliche Publikationen als Endprodukte von Forschung, sondern ebenso auf die Forschungsdaten beziehen. 64 Freier Zugang zu den Daten soll der Verifizierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse dienen. Übertragen auf die Sozialforschung müsste diese Forderung um die Veröffentlichung von Dokumentationen der Forschungsprozesse ergänzt werden. Medien und Kommunikation werden in der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion auf unterschiedlichen Ebenen und Niveaus thematisiert. Folglich ist das Bild uneinheitlich und reicht von Problembewusstsein und Gestaltungswillen bis hin zu Ignoranz und unreflektierter Integration neuer Medien in traditionelle Forschungssettings.

2.3 Historiographien der Sozialwissenschaften Ein ähnliches Bild liefert die Geschichtsschreibung der Sozialwissenschaften. Von Vertretern dieser Disziplinen verfasst können sie als Selbstbeschreibungen der Sozialwissenschaften betrachtet werden. In der Geschichtsschreibung der Soziologie, Psychologie oder Pädagogik erkennt man verschiedene Muster. Es handelt sich in erster Linie um Ge-

62 Dieser Punkt verweist auch auf andere kreative Medien, etwa solche, die performative Dynamiken ins Spiel bringen wie das Psychodrama. Siehe dazu den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen sowie den Abschnitt Induktion von Komplexität in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 63 Einen guten Überblick über die Bandbreite an Themen bietet Mruck, Katja/Gersmann, Gudrun (Hrsg.), Neue Medien in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Elektronisches Publizieren und Open Access: Stand und Perspektiven, Sonderheft der Zeitschrift Historische Sozialforschung, Jg. 29, Nr. 107 (2004). 64 Vgl. Klump, Jens, u. a., Data Publication in the Open Access Initiative, in: Data Science Journal, Jg. 5, Nr. 5 (2006), S. 79-83. 42

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schichten ihrer Theorien, Protagonisten oder Institutionen. 65 In Ausnahmefällen wird die Geschichte der Sozialwissenschaften vor einem soziopolitischen Hintergrund reflektiert. 66 Die Geschichte ihrer Methoden und Verfahren rückt nur selten in den Vordergrund. Selbst da, wo explizit mögliche historiographische Zugänge reflektiert werden, wird die Empirie als Fluchtpunkt historischer Darstellungen außer Acht gelassen. 67 Neben Überlegungen zur inhaltlichen Ausrichtung der Geschichtsschreibung finden sich auch solche zu ihrer theoretischen Perspektivierung. In der Soziologie können Ansätze zur Rekonstruktion der kognitiven, sozialen und historischen Identität, zur Untersuchung von Sozialgestalt, Ideengestalt und Milieu, zu ihren kognitiven, sozialen und diskursgeschichtlichen Dimensionen sowie der wissenssoziologischen Konzeptualisierung der Geschichte unterschieden werden. 68 Schließlich

65 Exemplarisch seien hier genannt: für Geschichten der Protagonisten vgl. König, René, Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München: Hanser 1987, Schoeck, Helmut, Geschichte der Soziologie. Ursprung und Aufstieg der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, Freiburg im Breisgau: Herder 1974 oder für die Pädagogik Knoop, Karl/Schwab, Martin, Einführung in die Geschichte der Pädagogik. Pädagogen-Porträts aus vier Jahrhunderten, Wiebelsheim: Quelle & Meyer 1999; für eine Geschichte der Theorien bspw. Wiese, Leopold von, Geschichte der Soziologie, Berlin: de Gruyter 1971, einen integrierten Ansatz für die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte bietet Weischer, Christoph, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München: R. Oldenbourg 2004. 66 Vgl. bspw. Wagner, Peter, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870 - 1980, Frankfurt am Main: Campus 1990. 67 So nennt bspw. Helmut Lück als Modelle für die Psychologiegeschichtsschreibung die Geschichten »großer Männer«, von Ideen und Problemen oder die Sozialgeschichte. Vgl. Lück, Helmut E., Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart: Kohlhammer 2002. 68 Vgl. Lepenies, Wolf, Einleitung. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität der Soziologie, in: ders., (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin (4 Bde.), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 1-14, Kaesler, Dirk, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre EntstehungsMilieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, hier S. 10-30, Peter, Lothar, Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte?, in: Klingemann, Carsten, u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/1998, Opladen: Leske + Budrich, S. 9-64 und Endreß, Martin, Zur Historizität soziologischer Gegenstände und ihren Implikationen für eine wissenssoziologische Konzeptualisierung von Soziologiegeschichte, in: Klingemann u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/1998, S. 65-90 sowie im Überblick Moebius, Stephan, Praxis der Soziologiegeschichte. Methodologien, Konzeptionalisie43

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wird auch die historiographische Praxis der Sozialwissenschaften problematisiert und vor dem Hintergrund der Debatten über das Verhältnis von Realität und Fiktivität in der Geschichtsschreibung deren Professionalisierung gefordert. 69 Trotzdem finden sich einige Arbeiten zur Geschichte der empirischen Forschung. Eine der frühesten und zugleich originellsten Darstellungen der Methodengeschichte ist Hans Zeisels Anhang zur MarienthalStudie »Zur Geschichte der Soziographie«. 70 Darin spannt Zeisel einen historischen Bogen von William Pettys »The Political Anatomy of Ireland« 71 aus dem 17. Jahrhundert bis eben zur eigenen Marienthal-Studie, der Zeisel dadurch historische Bedeutung beimisst. Diese soll in der Ergänzung der quantifizierenden Verfahren der Statistik um die Beschreibung komplexer Verhaltensweisen bestehen. Historische Bedeutsamkeit hat die Marienthal-Studie tatsächlich erreicht, wenn man die Häufigkeit der Bezugnahme auf sie in Lehrbüchern und Selbstdarstellungen der Sozialwissenschaften als Maßstab nimmt. Jedoch finden sich auch gegenteilige historische Standortbestimmungen, die gerade die Unvereinbarkeit der verschiedenen Forschungstraditionen der Sozialwissenschaften herausstellen. So hebt Otto Kern bspw. Adam Smiths Kritik am erwähnten William Petty und dessen politischer Arithmetik hervor und kenn-

rung und Beispiele soziologiegeschichtlicher Forschung, Hamburg: Dr. Kovaþ 2004, S. 25-47. 69 So geschehen in der Erziehungswissenschaft in Folge des Historikerstreits der 1980er Jahre und vor dem Hintergrund der französisch geprägten strukturalistischen Geschichtsschreibung, vgl. Lenzen, Dieter (Hrsg.), Pädagogik und Geschichte. Pädagogische Historiographie zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Konstruktion, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1993. 70 Zeisel, Hans, Zur Geschichte der Soziographie, in: Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul Felix/Zeisel, Hans, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 113-142. Die Entstehung dieses historischen Überblicks ist sowohl dem Zufall als auch ganz klarer Berechnung geschuldet, wie Zeisel berichtet: »Der Paul [Lazarsfeld] hat, wie das Manuskript schon fertig war, gesagt: Das ist so dünn, das ist weder Fisch noch Fleisch, und schlug vor, dass es doch methodisch recht interessant wäre aufzuschreiben, wo Marienthal hinpasst: in die Geschichte der Soziographie. So entstand das.« Siehe Volk, Andreas, Die Beschreibung ist ein unheimliches Abenteuer. Interview mit Hans Zeisel, in: Soziographie. Blätter des Forschungskomitees »Soziographie« der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 4, Nr. 1 (1991), S. 71-83, verfügbar unter: http:// www.sozpsy.uni-hannover.de/DfA/_dokumente/zeisel.pdf. 71 Petty, William, The Political Anatomy of Ireland, London: Brown and Rogers 1691. 44

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zeichnet diese als Ursprung einer altbekannten Debatte: »Seither haben wir in den Gesellschaftswissenschaften jene Kontroverse zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Methodologie, die uns bis auf den heutigen Tag in Atem hält.« 72 Geschichtsschreibung ist auch in den Sozialwissenschaften Projektionsfläche politischer Programme. Gewisse Auseinandersetzungen lassen sich besser führen, wenn man den Atem der Geschichte im Nacken spürt. Von Kern stammt auch die nächste größere Gesamtdarstellung der Geschichte der empirischen Sozialforschung. 73 Ebenso wie Zeisel beginnt er mit der Statistik des 17. und 18. Jahrhunderts und schließt den Bogen mit der fortgeschrittenen universitären Institutionalisierung der Sozialwissenschaften nach 1945. Dabei unternimmt er den Versuch, konkrete Forschungspraktiken etwa an erkenntnistheoretische Diskurse und gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen zurückzubinden. Dies gelingt bedingt, wenn etwa die Befürwortung psychoanalytischer Methoden in der Frankfurter Schule und deren Ablehnung in der Kölner Sozialwissenschaft dargelegt oder der Stellenwert der zu diesem Zeitpunkt noch relativ jungen Aktionsforschung vor dem gesellschaftlich-politischen Hintergrund der 1970er Jahre diskutiert werden. 74 Jedoch handelt es sich auch bei Kerns Arbeit nicht um eine Methodengeschichte im engeren Sinne. Kurt Danziger schlägt als Alternative zu einer »internalistischen« Geschichtsschreibung der Psychologie, die er mit ihrer Konzentration auf Forscherpersönlichkeiten als Geschichtsschreibung von Amateurhistorikern und als »Art Literaturbericht im Großen« kennzeichnet, einen »kontextualistischen« Ansatz vor, in dem konkrete Forschungspraktiken berücksichtigt werden. 75 Diesen Ansatz beschreibt er als Verschränkung der Rekonstruktion der sozialen Prozesse der Forschung mit ihren instrumentellen und materiellen Bedingungen und deren Rückkopplungseffekte auf die Objekte und Ergebnisse der Forschung. Dieser Vorschlag kann als implizite Forderung nach einer Kommunikations- und Medien72 Kern, Horst, Schlözers Bedeutung für die Methodologie der empirischen Sozialforschung, in: Herrlitz, Hans-Georg/Kern, Horst (Hrsg.), Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft. Methoden, Inhalte und soziale Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 55-71, hier S. 59. 73 Kern, Horst, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München: C.H. Beck 1982. 74 Vgl. ebd., S. 217-277. 75 Vgl. Danziger, Kurt, Die Rolle der psychologischen Forschungspraxis in der Geschichte: Eine kontextualistische Perspektive, in: Schorr, Angela/Wehner, Ernst G. (Hrsg.), Psychologiegeschichte heute, Göttingen: Verlag für Psychologie 1990, S. 12-25, hier S. 12. 45

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geschichte der psychologischen Forschungspraxis gelesen werden, die sich auch bereits in seiner Terminologie andeutet. 76 Eine explizite Kommunikationsgeschichte liegt von Edwin Keiner für die Erziehungswissenschaft vor. 77 Diese bezieht sich jedoch nicht auf ihre Forschungspraxis, sondern vielmehr auf die publizistische Tätigkeit der Fachvertreter in Fachzeitschriften. Aufgrund von Inhaltsanalysen untersucht er »Kommunikationskulturen« der Erziehungswissenschaft, zu denen er bspw. Zitationsverhalten und zeitschriftenspezifische Autorenbindungen zählt, die Differenzierung akademischer Rollen sowie die Konjunkturen von Themen und Methoden. Wenngleich die Ergebnispräsentation oder die Zirkulation wissenschaftlichen Wissens auch für diese Arbeit von Bedeutung sind, bietet sich Keiners Studie weniger als Referenz an. Sie untersucht die kommunikativen Prozesse der intrawissenschaftlichen Kommunikation in einem quantitativen Längsschnitt. Damit liefert er weniger einen kommunikationstheoretischen Beitrag zur Geschichte der Erziehungswissenschaft als eine institutionengeschichtliche Analyse der erziehungswissenschaftlichen Publikationstätigkeit. Schließlich sei noch auf die Arbeiten Michel Foucaults verwiesen, die allerdings als »Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte« 78 verstanden werden können, sowohl hinsichtlich der Gegenstände als auch in Bezug auf die Methoden. Ihm geht es weniger um die Genese von Wissenschaft als um die kulturellen Effekte wissenschaftlichen Denkens, die mit Hilfe einer Archäologie aufzudecken sind. Interessant an Foucaults Ansatz ist, nicht kausale Zusammenhänge herstellen zu wollen, sondern nach Beziehungen und Verknüpfungen zu suchen.79 Das Objekt dieser Wissensgeschichte verlagert sich auf die »diskursiven Praktiken« der Wissenschaft. Diese sind verknüpft mit ihrer je eigenen 76 »Historische Veränderungen in der Art der Informationen, die als wertvoll und nützlich betrachtet werden, führen zu Veränderungen in der Struktur der Untersuchungspraxis und so zur Schaffung unterschiedlicher empirischer Produkte.« Siehe ebd., S. 22f. 77 Keiner, Edwin, Erziehungswissenschaft 1947-1990. Eine empirische und vergleichende Untersuchung zur kommunikativen Praxis einer Disziplin, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1999. 78 Vgl. Schneider, Ulrich Johannes, Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte, in: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 220-229. 79 Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 13f. Zur Übernahme dieser methodischen Prinzipien als Diskursanalyse in der Sozialforschung siehe den Abschnitt Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 46

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Materialität, die auch fester Bestandteil von Foucaults Archivbegriff ist 80 . Die Bedeutung von Foucaults Ansatz wird in dem Maße deutlich, in dem sie der traditionellen Geschichtsschreibung der Sozialwissenschaft widersprechen. Während dort die Anfänge der Sozialforschung in der Statistik des 17. Jahrhunderts gesehen werden, identifiziert Foucault ihren Anfang und den der empirischen Wissenschaften im Allgemeinen früher und in einem anderen Zusammenhang, nämlich in den Gerichtsverfahren der Inquisition. 81 Diese allgemeine, aber nicht näher ausgeführte These bestätigt und konkretisiert Bernhard Siegert medientheoretisch anhand der Fragebogentechnik, die im Zuge der spanischen Kolonialverwaltung im 16. Jahrhundert Verwendung fand.82 Da Foucault jedoch nicht nur kein Sozialwissenschaftler, sondern auch kein Medienhistoriker ist, ist sein Beitrag eher in jenem Zusammendenken von Praktiken, Institutionen und Materialitäten zu suchen. Dies kann als Anregung übernommen werden, die Verfahren, Methoden, Techniken und Technologien der Sozialwissenschaften an ihre Axiome und Ergebnisse zurückzubinden, und dabei, wie das Beispiel der Inquisition mahnt, über den engen Rand der explizit als Wissenschaft gekennzeichneten Felder hinaus zu sehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Historiographie der Sozialwissenschaften in Ansätzen ein Problembewusstsein von der Bedeutung einer historischen Erschließung empirischer Verfahren sowie ihrer materiellen Bedingungen vorhanden ist, das allerdings bislang nicht in befriedigendem Maße bearbeitet wurde. Auch für die Mediengeschichtsschreibung muss trotz einiger ermutigender Beispiele ein Defizit hinsichtlich der Erforschung der Sozialwissenschaften festgestellt werden. Die Geschichtsschreibung der Sozialwissenschaften ähnelt der professionellen Geschichtsschreibung, indem sie deren tradierte Muster übernimmt und die Geschichten ihrer Disziplinen als Ereignis-, Ideenund Institutionengeschichten erzählt. Insofern entspricht der Befund dem

80 Vgl. zum Archivbegriff Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 183-190. 81 Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 289f. 82 Vgl. Siegert, Bernhard, Inquisition und Feldforschung. Zur These Michel Foucaults über die Genese der empirischen Wissenschaften im 16. Jahrhundert, in: Modern Language Notes. German Issue, Jg. 118, Nr. 3 (2003), S. 538-556. Die These von der empirischen Sozialforschung als »natürliche Tochter der Heiligen Inquisition« findet sich auch bei Hahn, Alois, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34, Heft 3 (1982), S. 407-434, hier S. 407. 47

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der Wissenschaftsforschung: Ihre eigenen Praktiken sind den Sozialwissenschaften auch in den historischen Selbstbeschreibungen weitestgehend ein blinder Fleck. Nur langsam setzt sich die Auffassung durch, dass die Geschichte empirischer Wissenschaften immer auch – wenn nicht vorrangig – die Geschichte ihrer empirischen Zugangs- und Arbeitsweisen sein muss. Insgesamt ergibt der Stand der Forschung ein uneinheitliches Bild. Je nachdem, welche Diskursstränge man betrachtet, reicht die Spannweite der Thematisierung der Medien der Sozialforschung von der beinahe vollständigen Ignorierung bzw. Unterdrückung des Themas über ihre Problematisierung bis hin zu Vorschlägen zur produktiven Gestaltung einer Sozialforschung, deren empirischer Kern kommunikativ gedacht wird. Dieser Befund verdeutlicht die Notwendigkeit, die kommunikativen Prinzipien der Sozialforschung und ihre Medien systematisch zu untersuchen.

3 T h e o r e t i s c h e Vo r a u s s e t z u n g e n Die Vielfalt der Medien- und Kommunikationsbegriffe, wie sie in den verschiedenen Positionen der Wissenschaftsforschung und Methodendiskussion Verwendung finden, macht es notwendig, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der dem Gegenstandsbereich in seiner Breite und der scheinbaren Inkompatibilität seiner verschiedenen Aspekte gerecht wird. Bereits jetzt ist klar, dass nur ein mehrdimensionaler theoretischer Rahmen geeignet sein kann, diesen Anspruch zu erfüllen. Eine solche mehrdimensionale Fassung von Medien und Kommunikation liegt von Michael Giesecke vor und dient als wesentlicher theoretischer Bezugsrahmen dieser Arbeit. Zuvor bedarf es jedoch der Explikation des übergeordneten Referenzhorizonts, auf den sich die theoretischen Modelle beziehen.

3.1 Die Gesellschaft als informationsverarbeitendes System Diese Arbeit versteht sich als medien- und kommunikationswissenschaftlicher Beitrag zu den methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften, argumentiert also primär aus einer medien- und kommunikationstheoretischen Sicht. Dennoch sind die Sozialwissenschaften der Adressat dieser Arbeit, so dass es notwendig ist, die hier vertretene Position zunächst in Bezug auf den Sozialwissenschaften vertraute Konzepte zu referenzieren. Dies ist auf 48

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der übergeordneten Ebene logischerweise ›Gesellschaft‹. Es ist in den vergangenen Jahren üblich geworden, die vor allem mit der Durchsetzung digitaler Medien verbundenen Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen, die sich in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft vollziehen, unter dem Oberbegriff der Informationsgesellschaft zusammenzufassen. Dabei steht dieser Begriff in Konkurrenz zu anderen Beschreibungen wie Medien- oder Informationszeitalter, Kommunikationsgesellschaft, Mediengesellschaft, Wissensgesellschaft oder Netzwerkgesellschaft, die jeweils spezielle inhaltliche Aspekte oder theoretische Perspektiven betonen. Die Rede von »Zeitaltern« etwa betont die historische Dimension der Veränderungen derart, dass mit den beschriebenen Phänomenen ein Wandel epochalen Ausmaßes verbunden wird. 83 Bei Beschreibungen wie Kommunikations-, Medien-, Wissensoder Netzwerkgesellschaft bleibt zunächst unklar, inwiefern sie auf gesellschaftliche Praktiken oder die Objekte, auf die diese Bezug nehmen, abzielen. Dies zeigen schon die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffes Informationsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Lange Zeit wurde er in Bezug zur Beschreibung der Gesellschaft als Industriegesellschaft gesetzt und dabei unterschiedlich interpretiert. ›Informationsgesellschaft‹ beschreibt dann entweder eine »information economy«, eine »nachindustrielle Gesellschaft« oder eine »informatisierte Industriegesellschaft«. 84 In allen drei Fällen wird hier der Begriff in Abhängigkeit von technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Produktions- und Wertschöpfungsprozessen definiert. Eine alternative Sichtweise des Begriffs entwickelt Michael Giesecke, der ›Informationsgesellschaft‹ nicht mehr ausschließlich in ein ökonomisches Organisationsmodell von Gesellschaft einordnet und eine informationstheoretische Perspektive auf die Gesellschaft stark macht. Die Gesellschaft kann dann als informationsverarbeitendes System beschrie83 Damit verbunden ist auch die Annahme, dass aus historiographischer Perspektive überhaupt noch von Epochen gesprochen werden kann und dies nun auch in Bezug auf die Gegenwart möglich ist. 84 Vgl. Löffelholz, Martin/Altmeppen, Klaus Dieter, Kommunikation in der Informationsgesellschaft, in: Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried Josef/Weischenberg, Siegfried (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 570-591, hier S. 571-576. Dabei ist die Gebundenheit dieser Beschreibungen an westliche kulturelle Muster zu beachten. In Japan bspw. wurde die Entwicklung der Informationsgesellschaft in eine lineare kulturelle Entwicklungsgeschichte bzw. gesellschaftliche Modernisierungsgeschichte eingebettet, die bereits während der 250-jährigen Isolation Japans einsetzt. Vgl. Kleinsteuber, Hans J., Neuere Entwicklungen in der Medienlandschaft Japans – Über technologische Innovation und kulturelle Beharrlichkeit, in: Publizistik, Jg. 41, Heft 1 (1996), S. 51-75, hier S. 53f. 49

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ben werden. 85 So interpretiert er die Durchsetzung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit als Etablierung eines neuen gesellschaftlichen Informations- und Kommunikationssystems, des typographischen Kommunikationssystems, welches das skriptographische ablöst. Auf der Grundlage der Schlüsseltechnologie Buchdruck und im Zusammenspiel mit dem Vernetzungsmedium Buchmarkt entwickelt sich dann u.a. die neuzeitliche Wissenschaft als Kommunikationssystem, das durch interaktionsfreie und hierarchische soziale Informationsverarbeitung gekennzeichnet ist. Damit einher geht die Begünstigung monomedialer Darstellungsformen zu Lasten multimedialer. Kurz: in dieser Phase werden die Grundlagen für die Produktion, Darstellung und Zirkulation wissenschaftlichen Wissens geschaffen, die in weiten Teilen noch bis heute Gültigkeit besitzen: Autoren als Produzenten wissenschaftlichen Wissens, Bücher als primäre Wissensspeicher sowie die hierarchische Vermittlung von Wissen. Dieses Beispiel zeigt den Vorteil einer informationstheoretischen Sichtweise insofern, als sie das Zusammenspiel technologischer Innovationen, gesellschaftlicher Kommunikationsstrukturen und wissenschaftlicher Wissensproduktion und -vermittlung aufzeigt. Darüber hinaus liegt der Vorteil der informationstheoretischen Sichtweise Giesecke zufolge u.a. darin, dass die Informationstheorie – solange sie allgemein gehalten wird – eine Metatheorie darstellt, die eine interdisziplinäre wie -professionelle Zusammenarbeit zulässt, etwa zwischen Natur- und Sozialwissenschaften.86 Eine informationstheoretische Sichtweise stellt aber nur dann einen Gewinn dar, wenn sie keine Alternative im Sinne einer ausschließlichen Neuorientierung sein möchte. Giesecke fordert deshalb ein »Konzeptnetzwerk«, das mehrere Perspektiven zugleich, d.h. ein »Sowohl-als-auch-Denken« zulässt. Dafür bietet sich die informationstheoretische Perspektive an, da je nach Erkenntnisinteresse be-

85 Giesecke hat diese Perspektive über einen längeren Zeitraum entwickelt. Ausgangspunkt ist die Studie zur Durchsetzung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit, vgl. Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Die Ausformulierung seiner Medien- und Kommunikationstheorie erfolgt später in Giesecke, Michael, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, und wird fortgesetzt in Giesecke, Michael, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 86 Vgl. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 13f. 50

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reits unterschiedliche Informationsbegriffe zur Verfügung stehen. 87 Das hat den Vorteil, dass sich Informationsverarbeitung als Oberbegriff gleichermaßen auf die Beschreibung psychischer, sozialer und technischer Systeme anwenden lässt. Hier deutet sich bereits an, dass diese Perspektive angesichts der Vielfalt der Vorstellungen von Medien und Kommunikation in der Sozialforschung die Möglichkeit bietet, ein diese Vorstellungen integrierendes Modell von Sozialforschung zu entwickeln. Der interdisziplinäre Ansatz hinter der informationstheoretischen Perspektive ist auch im Zusammenhang mit Gieseckes Anspruch zu sehen, die Beschränkungen des typographischen Kommunikationssystems zu überwinden. Indem eine informationstheoretische Perspektive eingenommen wird, relativieren sich auch die Prinzipien eben jenes Kommunikationssystems zugunsten anderer Medien: synästhetische Ausdrucksformen statt ausschließlich visueller, assoziative Informationsverarbeitung statt ausschließlich rationaler sowie kollektive Zusammenarbeit statt ausschließlich individueller Erkenntnisgewinnung. 88 Angesichts dieser Alternativen wird deutlich, dass eine informationstheoretische Betrachtung der Sozialforschung nicht die einzig mögliche ist, dass sie einige Aspekte hervorhebt, während sie andere vernachlässigt, und dass andere Sichtweisen andere Erkenntnisse hervorbringen würden. Aber da gerade die Sozialforschung durch eine ganze Reihe unterschiedlicher Standpunkte gekennzeichnet ist, die in ihren Verfahren und Methoden zum Tragen kommen, ist es notwendig, zumindest zeitweise einen solchen metatheoretischen Standpunkt einzunehmen, um eine Basis zu gewinnen, von der aus die sozialwissenschaftlichen Verfahren vergleichbar werden. Wenn hier von einem »Standpunkt« die Rede ist, so ist damit ein relativer und oszillierender Standpunkt gemeint. 89 Wer festen Boden unter den Füßen sucht, lese besser ein Lehrbuch zu den Methoden der empirischen Sozialforschung. Damit wird auch klar, dass die Orientierung auf einen so weit gefassten Referenzhorizont wie ›Gesellschaft‹ für diese Arbeit Sinn macht. Dieser bezieht sich nicht nur auf den Objektbereich vieler Sozialwissenschaften, sondern eben auch auf die Verschränkung zwischen gesamtgesellschaftlichen und rein wissenschaftlichen Kommunikationsstrukturen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Die in der Öffentlichkeit seit einigen Jahren zu beobachtenden Diskussionen über die Möglichkeiten, Grenzen, Chancen und Gefahren neuer Medien dür-

87 Vgl. ebd., S. 20. 88 Vgl. ebd., S. 16f. 89 Siehe dazu den folgenden Abschnitt Medien und Kommunikation. 51

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fen nicht nur Beobachtungsgegenstand der Sozialwissenschaften sein, sondern ebenso Teil ihrer eigenen Reflexionsarbeit. Die Beschreibung der Sozialforschung als Teil der Informationsgesellschaft ist neu. Zwar hat diese, insbesondere die empirische Kommunikationswissenschaft, Informationsgesellschaft schon lange als Untersuchungsobjekt und vor allem als lohnendes Verkaufsargument entdeckt. Jedoch hat sie es versäumt, für sich selbst daraus die logischen Konsequenzen zu ziehen. Die Selbstbeschreibung der Sozialforschung als Teil der Informationsgesellschaft fehlt, da es in der Tat kein Problembewusstsein gibt, das sich damit beschreiben ließe. Darin besteht nun auch der Widerspruch bzw. der Bruch: auch wenn Phänomene der Informationsgesellschaft, wie immer man sie definiert, als Objekte Gegenstand der Sozialforschung werden, werden sie noch immer aus der Perspektive bzw. mit den Methoden eben jener typographischen Wissenschaftskonzeption untersucht, nämlich mittels der distanzierten Beobachtung. Dies entspricht einer Wissenschaft, die sich immer noch vielfach als Problemlöser der Gesellschaft versteht. Jedoch sind bereits Tendenzen erkennbar, die als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen dienen können. Die Frage ist, wie eine angemessene Reaktion der Wissenschaft im Allgemeinen und der Sozialwissenschaft im Speziellen auf diesen Wandel aussehen könnte. Die Debatte über Open Access kann bspw. als Suche nach Antworten verstanden werden, bezieht sie sich doch auf die Schnittstellen bzw. die Vernetzung innerhalb der Wissenschaft und mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Auch wenn in der Debatte noch die wirtschaftliche Dimension wissenschaftlicher Informations- bzw. Wissenszirkulation im Vordergrund steht, ist gleichzeitig ein Problembewusstsein im Entstehen, das sich auch auf andere Aspekte der Forschung ausdehnen könnte. Diese Arbeit möchte einen Beitrag zu diesem Prozess leisten. Denn erst wenn ein solches Problembewusstsein besteht, kann ein Erfolg versprechender Beratungsprozess beginnen. 90

3.2 Medien und Kommunikation Wie bereits anhand des Forschungsstands festgestellt wurde, existieren in Theorie und Praxis unterschiedliche Medien- und Kommunikationsbegriffe. Diese ausufernde und kontingente Verwendung von ›Medium‹ führt Rieger zu der polemischen Feststellung »Nichts ist kein Medium.« 91 90 Vgl. zur Rolle von Selbstbeschreibungen in Beratungsprozessen Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 28. 91 Rieger, Die Individualität der Medien, S. 7. 52

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Die Unzufriedenheit mit diesem Zustand der Koexistenz vieler einzelner Begriffe für Kommunikations-, Verbreitungs- oder Speichermedien zieht Versuche der neuerlichen Engführung 92 oder der Systematisierung nach sich. So entwickelt bspw. Mike Sandbothe einen mehrdimensionalen Medienbegriff, in dem er zwischen sinnlichen Wahrnehmungsmedien (Raum und Zeit), semiotischen Kommunikationsmedien (Bild, Sprache, Schrift, Musik) und technischen Verarbeitungs-, Verbreitungs- und Speichermedien (Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet) unterscheidet. 93 Obwohl hier der Versuch unternommen wird, Komplexität in einem mehrdimensionalen Modell zu erhalten, gelingt es nicht, weiter zwischen »technischen Verarbeitungs-, Verbreitungs- und Speichermedien« zu differenzieren. Diese Dimensionierung erlaubt es darüber hinaus auch nicht, daraus ein Kommunikationsmodell abzuleiten, das alle drei Dimensionen berücksichtigt, da es sich hier eher um ein ontologisches Modell handelt, in dem die Ebene der Kommunikationsoder Informationsverarbeitungsprozesse untergeordnet wird. Bemühungen dieser Art ordnen sich jedoch in eine generell zu beobachtende Unzufriedenheit mit eindimensionalen Theorien und binären Schematisierungen ein. Es handelt sich um eine Tendenz, die binäre Ordnung der abendländischen Erkenntnis und der aristotelischen Logik des ›tertium non datur‹ aufzubrechen und zu erweitern. Weitere Beispiele dafür sind die Entwicklung mehrwertiger Logiken, etwa die von Gotthard Günther, die Verfahren der Dekonstruktion oder Michel Serres’ »Parasit«, der auch als Medientheorie gelesen werden kann. 94 Allerdings verbergen 92 Für die Abkehr von der Vielfalt der Medienbegriffe stehen Bestrebungen, exklusive Reservate für Medienbegriffe einzurichten. So schlägt bspw. Lambert Wiesing einen phänomenologischen Medienbegriff vor, der Medien als Werkzeuge definiert, die die »Trennung von Genesis und Geltung ermöglichen« (Wiesing, Lambert, Was sind Medien?, in: ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 149-162, hier S. 154). Solche Beschränkungen – noch dazu wenn sie so bestechend formuliert werden – dienen dazu, den Objektbereich einer Wissenschaft, in diesem Fall der Medienwissenschaft, zu bestimmen. Indem aber auf einen Wesensgehalt von Objekten abgehoben wird, werden Medien von ihren kommunikativen Kontexten isoliert und somit auch Ambivalenzen unterdrückt. 93 Vgl. Sandbothe, Mike, Medien – Kommunikation – Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft, in: Karmasin, Matthias/Winter, Carsten (Hrsg.), Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme und Perspektiven, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 257-271, hier S. 258f. 94 Vgl. Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 und dazu Siegert, Bernhard, Das Verhältnis zwischen Kulturtechnik und Parasitentum, in: Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (Hrsg.), Mediale Historiographien (Archiv für Mediengeschichte), Weimar: Universitätsverlag 2001, 53

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sich hinter vielen dieser Ansätze eher Suchbewegungen als konkrete Theorieangebote. Hinter dieser Suche verbirgt sich jedoch die Überzeugung, dass gerade vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Medienwandels dazu grundlegend auch ein alternatives Denken notwendig ist: »In der medienkulturellen Matrix geht es nicht länger um Dualisierungen von Darstellung und Dargestelltem, von Sender und Empfänger, von Botschaften und Speichern. Der Anspruch setzt tiefer an, bei einem neuen Denken, das hybride Formen verträgt, und bei Netzen, die irgendwann nicht einmal mehr Vermittler oder Verteiler kennen.« 95

Michael Giesecke hat einen konkreten Vorschlag für ein solches Denken unterbreitet. Unter »triadischem Denken« versteht er ein Denken, das »Phänomene jeweils als das emergente Produkt des Zusammenwirkens genau dreier Faktoren oder Prozesse behandelt«. 96 Eine solche Herangehensweise unterläuft von vornherein binäre Schematisierungen und monokausale Erklärungen. Stattdessen zwingt es dazu, »sich vorab auf jeweils drei Faktoren und zwei Emergenzebenen für jeden Analyseschritt zu einigen.« 97 Niederschlag findet dieses Denken in Gieseckes mehrdimensionalen, triadischen Kommunikationsmodell, das Hierarchisierungen vermeidet und das auf dem Grundbegriff Information aufbaut.98 Dieses Modell, oder nun »Konzeptnetzwerk«, speist sich aus ganz unter-

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S. 87-100. Einen weniger weitreichenden Vorschlag formuliert Jörg Strübing. Er empfiehlt, unfruchtbare Dualismen im Sinne des Interaktionismus in ein Konzept »differenzhaltiger Kontinuität« zu überführen, in dem das eine nicht ohne das andere ist. Vgl. Strübing, Jörg, Prozess und Perspektive. Von der pragmatischen Sozialphilosophie zur soziologischen Analyse von Wissenschaft und Technik, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 5, Nr. 2 (2004), S. 213-238, hier S. 228. Hartmann, Frank, Der Rosarote Panther lebt, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hrsg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2003, S. 135-149, hier S. 141. Giesecke, Michael, Triadisches Denken und posttypographische Erkenntnistheorie, in: Meyer, Torsten/Scheibl, Michael/Münte-Goussar, Stephan/Meseil, Timo/Schawe, Julia (Hrsg.), Bildung im Neuen Medium. Wissensformation und digitale Infrastruktur – Education Within a New Medium, Münster: Waxmann 2008, S. 62-77, hier S. 66. Ebd. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 21-24. In diesem Buch führt Giesecke die triadischen Modelle ein. Mittlerweile hat er diese dahingehend erweitert, dass die einzelnen Elemente ihrerseits als Triaden modelliert werden können (»Triadentrias«). Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 276.

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schiedlichen theoretischen und praktischen Traditionen. Neben den Informationstheorien wären hier Systemtheorie, Kybernetik, Semiotik, Synergetik, Strukturalismus oder auch Psychoanalyse sowie Erfahrungen aus therapeutischen und Beratungskontexten zu nennen. Ihre Integration in ein mehrdimensionales Modell soll die Vorteile der einzelnen theoretischen Perspektivierungen nutzen, aber nicht gegeneinander ausspielen. Das Ziel ist nicht wie in den Einzeltheorien die Reduktion von Komplexität, sondern deren Erhaltung, ohne dabei eine Supertheorie zu schaffen, unter die sich alle Elemente subsumieren lassen. Ausgangspunkt des Modells ist die Feststellung, dass Informationen nicht ohne Kommunikations- oder Informationsmedien denkbar sind. Die Spezifik der Kommunikationswissenschaft liegt darin, dass sie Informationen in Beziehung zu Kommunikatoren oder Prozessoren setzt. Dabei gilt, dass Medien Informationen konstant halten und Prozessoren diese verändern. Untersucht werden sollen stets die Verknüpfungen der artverschiedenen Elemente Medium/Information und Informationssystem/Kommunikator. Zur Beschreibung und Analyse der »kommunikativen Welt« schlägt Giesecke drei unterschiedliche theoretische »Parameter« vor: den epistemologisch-informationstheoretischen, den topologisch-strukturellen sowie den ontologisch-spiegelungstheoretischen Parameter (siehe Abb. 1).

Abbildung 1: Die Parameter der kommunikativen Welt. Quelle: Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 23. 55

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Mit dem epistemologisch-informationstheoretischen Parameter werden Typen von Informationssystemen und -verarbeitung beschriebenen. Informationsverarbeitung meint allgemein die Transformationen von Informationen durch einen Prozessor in ein anders Medium. Zum Beispiel umfasst die psychische Informationsverarbeitung u.a. Wahrnehmungs-, Speicherungs-, Reflexions- und Darstellungsprozesse psychischer Systeme. Informationen sind folglich Gegenstand und Produkte dieser Prozesse. Psychische Systeme – Menschen – verfügen dabei über unterschiedlichen Sensoren, mit denen sie Informationen aus ihrer Umwelt aufnehmen können (Sinne), über verschiedene Prozessoren (z.B. Denken als rationale Verarbeitung oder Fühlen als emotionale Verarbeitung) und unterschiedliche Darstellungsmedien (z.B. Sprache, Gestik, Mimik), so dass man immer von »multisensoriellen« und »multiprozessoralen« 99 Informationssystemen ausgehen muss. Mit dem topologisch-strukturellen Parameter können (auf der Grundlage von Netzwerktheorien) unterschiedliche Kommunikatoren und ihre Vernetzungen beschrieben werden. Informationsverarbeitung meint hier Relationierung bzw. Strukturbildung und -auflösung. Information ist dann das Produkt dieser Relationen und Strukturen. Die Formen der Vernetzung können dabei nach ihrer raum-zeitlichen Struktur (diachron/synchron, Präsenz/Distanz), nach ihren strukturellen Merkmalen (dyadisch, hierarchisch, de-/zentral, etc.) oder nach Anzahl und Typik der beteiligten Kommunikatoren beschrieben werden. Mit dem ontologisch-spiegelungstheoretischen Parameter können die unterschiedlichen Emergenzniveaus von Informationsmedien und Informationen beschrieben werden, wie z.B. physikalische, psychische oder soziale. Informationen sind aus dieser Sicht unterschiedliche Eigenschaften von Medien bzw. Materie, Informationsverarbeitung sind Veränderungen dieser Eigenschaften. Dabei gilt, dass die drei Parameter nicht unabhängig voneinander gedacht werden können und die Untersuchungsobjekte immer alle drei Dimensionen aufweisen. 100 Ein zentraler Begriff in Gieseckes Ansatz ist deshalb Emergenz. Erst das Zusammenwirken der drei Dimensionen bewirkt das Emergieren der untersuchten Phänomene. Auf welchem Niveau sie dabei emergieren, soll für die Kommunikationswissenschaft ir-

Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 224 sowie ders., Ökologische Medienphilosophie der Sinne. Eine kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive, in: Nagl, Ludwig/Sandbothe, Mike (Hrsg.), Systematische Medienphilosophie, Berlin: Akademie-Verlag 2005, S. 41-43. 100 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 220. 99

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relevant sein, da Hierarchisierungen bzw. die Beziehungen zwischen den verschiedenen Niveaus nicht in ihrem Interesse liegen. 101 Neben den Strukturen können auch kommunikative Prozesse mit dem triadischen Ansatz beschrieben werden. Giesecke unterscheidet als grundlegende Prozesstypen lineare, parallele und rekursive bzw. rückgekoppelte Prozesse. In Anlehnung an kybernetische Steuerungsmodelle lassen sich Prozesse der Informationsverarbeitung und Kommunikation dann als Ergebnis des Zusammenwirkens der verschiedenen Prozesstypen verstehen. Psychische und soziale Informationsverarbeitung sind sowohl kreisförmig geschlossen (die Verarbeitungsleistungen wirken auf die sensorischen Aktivitäten zurück) als auch massiv parallel (bspw. wirken beim Schreiben haptischer, taktiler, visueller und u.U. auch akustischer Sinn zusammen), lassen sich jedoch auch als lineare Prozesse beschreiben (bei sprachlicher Beschreibung unumgänglich). 102 Auf dieser Grundlage kann Kommunikation also als Informationsverarbeitung, Vernetzung von Kommunikatoren und Spiegelung zwischen Medien beschrieben werden. Als Spezialfall sozialer Informationsverarbeitung erfolgt sie parallel durch mindestens zwei »unabhängige Informationssysteme (Menschen, psychische Instanzen, soziale und technische Systeme, Tiere usf.), [die] aus einer gemeinsamen Umwelt ähnliche Informationen gewinnen, sie parallel verarbeiten und sie so darstellen, daß sie wiederum wechselseitig wahrgenommen werden können« 103 . Soziale Informationsverarbeitung wird durch systemspezifische Programme gesteuert. Dies können bspw. das erwähnte gesellschaftliche Kommunikationssystem der Buchkultur oder das Gespräch unter Freunden sein, in denen alle Beteiligten spezifische Rollen einnehmen und entsprechenden (Kommunikations-)Programmen folgen. Übertragen auf die Sozialforschung können Methodologien und Verfahren als explizite Programme zur Gestaltung von Kommunikationsprozessen gelesen werden. Aus der topologischen Perspektive erscheint Kommunikation als Vernetzung von Kommunikatoren. Informationen sind hier der Zustand der Netzwerke und ihre Strukturen. Schließlich kann Kommunikation als Spiegelung zwischen Medien beschrieben werden. Gemeint ist das Auftreten von Resonanz zwischen artgleichen oder artverschiedenen Medien in dem Sinne, dass sich informative Strukturen wiederholen. 101 Vgl. ebd., S. 221f. 102 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 226-233. 103 Giesecke, Michael, Geschichte, Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung, in: Faßler, Manfred (Hrsg.), Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München: Wilhelm Fink 1999, S. 185-205, hier S. 186. 57

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Diese Dimension unterstreicht die Bedeutung nonverbaler Informationsund Kommunikationsmedien und intuitiver Verarbeitungsformen.104 Diese Betrachtungsweise ist geeignet, etwa redundante Muster in sozialen Gruppen zu beschreiben. In der Psychoanalyse sind solche Spiegelungsphänomene als Übertragung bzw. Gegenübertragung bekannt und werden in therapeutischen Kontexten produktiv genutzt. Auch Metaphern können als Spiegelungsphänomene verstanden werden. Eine solche mehrdimensionale Kommunikationstheorie unterscheidet sich grundlegend von soziologischen Theorien, die Kommunikation als soziale Handlung verstehen, und psychologischen Theorien, die Kommunikation als Ausdruck psychischer Intentionen begreifen.105 Da die drei Dimensionen nicht getrennt werden können, müssen auch alle Objekte der Kommunikationswissenschaft diese aufweisen. Wird bspw. der Mensch als Objekt definiert, ist er sowohl informationsverarbeitendes System, als auch Kommunikator, d.h. als Element eines Netzwerks, und Medium in einem kommunikativen Netz. 106 Gleiches gilt, wenn die Sozialforschung hier als Objekt einer kommunikationswissenschaftlichen Analyse definiert wird. Forschungssysteme erscheinen dann sowohl als informationsverarbeitende Systeme als auch als kommunikative Netzwerke unterschiedlicher Kommunikatoren mit unterschiedlichen Medien, deren Informationsverarbeitungsprozesse, Vernetzungsstrukturen und Emergenzniveaus von Medien und Informationen untersucht werden können. Die Unterschiede der jeweiligen Methodologien und Methoden können dann als Prämierungen der verschiedenen Dimensionen beschrieben werden. Entsprechend können nun mit ›Medien‹ verschiedene Dinge gemeint sein: Medien der Informationsverarbeitung, der Vernetzung und der Spiegelung. Bspw. können technische Medien wie Computer, Menschen oder Methoden wie etwa das Interview als informationsverarbeitende Systeme beschrieben werden. Andererseits können Computernetzwerke, menschliche Sinne, Fragebögen oder Gruppendiskussionen als Vernetzungsmedien, Metaphern, Psychotherapeuten oder das Psychodrama als Spiegelungsmedien verstanden werden. An diesen Beispielen wird schon deutlich, dass sie sich nicht ausschließlich einer Dimension zuordnen lassen. Die Gruppendiskussion ist ebenso eine Form sozialer Informationsverarbeitung wie das Psychodrama eine spezielle Form der Vernetzung darstellt. Dies verdeutlicht die bereits angesprochene Ambivalenz der Medien. Für die Sozialforschung ist von Bedeutung, was sie als Me104 Vgl. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 181-183. 105 Vgl. ebd., S. 45f. 106 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 220. 58

EINLEITUNG

dien begreift, zulässt und in welcher Weise nutzt. Hier ist entscheidend, welche Medien, Informationen und Sinne die Sozialforschung bevorzugt, d.h. welche Hierarchisierungen sie zwischen ihnen vornimmt. Dies betrifft in der Sozialforschung – wie im Prinzip auch in allen anderen Disziplinen – vorrangig die Frage nach der Art der Informationen, für deren Verarbeitung sie sich zuständig fühlt. Angesicht der unterschiedlichen Forschungskulturen muss die Antwort darauf folglich differenziert ausfallen. Immer jedoch muss sie entscheiden, welche Informationen erhoben und nach welchen Programmen sie verarbeitet werden.107 Die empirischen Wissenschaften nennen ihre Informationen Daten. Giesecke führt einen Informationsbegriff ein, der zwischen verschiedenen – inhomogenen – Informationstypen unterscheidet, nämlich zwischen Daten, Programmen und Werten. Daten sind jene Informationen, die von Systemen wahrgenommen und verarbeitet werden, Programme die Selektionsprinzipien, nach denen sie weiterverarbeitet werden und Werte die Steuerungsmechanismen zur Auswahl der Programme. 108 Dem triadischen Modell zufolge sind Daten immer das emergente Produkt der verschiedenen Informationstypen, so dass sich der unschuldige Datenbegriff der Sozialforschung schon auf den ersten Blick von diesem hier unterscheidet. 109 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was mit dem Sowohl-alsauch-Denken gemeint ist. Die Zirkularität des triadischen Konzepts drückt sich darin aus, dass das Sowohl-als-auch-Denken sowohl Voraussetzung als auch Produkt dieses Konzepts ist. Das dreidimensionale Theoriekonzept schließt von vornherein binäre Sichtweisen bzw. Entweder-oder-Denken aus. Das bedeutet, dass Ambivalenzen, Paradoxien und Widersprüche vorprogrammiert sind. Diese gilt es jedoch auszuhalten; sie sind die Voraussetzung für Kommunikation.110 Giesecke entwickelt seine Kommunikationstheorie vor dem Hintergrund der Durchsetzung der elektronischen Medien. Die Buchdruckstudie, die selbst ohne sie nicht denkbar ist, dient dabei als Referenzhorizont. Die Aufgabe der Wissenschaft ist dabei nicht allein die Feststellung eines Status Quo, sondern ebenso, daraus im Sinne einer Beratung Vorschläge für die Gestaltung von Kommunikationsprozessen in ver-

107 108 109 110

Vgl. ebd., S. 311f. Vgl. ebd., S. 279. Siehe dazu die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. Vgl. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 198f. und 296. Bei einem inhomogenen Objektbereich wie Kommunikation ist das Axiom der Widerspruchsfreiheit nicht durchzuhalten. Vgl. Giesecke, Ökologische Medienphilosophie der Sinne, S. 37-64, hier S. 40, Fußnote 4. 59

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schiedenen Kontexten abzuleiten. Dahinter steht die Überzeugung, dass mit den elektronischen Medien jene mit der Buchkultur eingeführten Prinzipien gegenwärtig ins Wanken geraten. Den Gemeinplatz, dass neue Medien neue Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen evozieren, konkretisiert er dahingehend, dass durch die gegenwärtigen Veränderungen das Primat der Visualität, des rationalen Denkens, individueller Erfahrung, monomedialer Darstellungsformen und hierarchischer Vernetzungsformen relativiert werden kann.111 Wie solche Prozesse des Wandels jedoch in der Realität aussehen sollen, bleibt die Aufgabe eingehender Analysen der medialen und kommunikativen Verfassung ins Auge gefasster Anwendungsfelder und daraus abgeleiteter konkreter Vorschläge zu ihrer Gestaltung. Grundüberzeugung bleibt dabei, dass alle Aspekte des triadischen Modells, d.h. Weisen der Informationsverarbeitung, Medien, etc., zu allen Zeiten und in allen Kulturen wirksam bleiben, nur dass einige jeweils anderen vorgezogen (»prämiert«) und somit hierarchisiert werden. 112 Der Wandel solcher kultureller Präferenzen lässt sich wiederum triadisch beschreiben. Als grundlegende Operationen kulturellen Wandels identifiziert Giesecke Revolutionieren, Reproduzieren und Reformieren von Kulturen. Auch diese Prozesse sind kulturgeschichtlich nur parallel zu denken. 113 Mit der Rekapitulation einiger Eckpunkte von Gieseckes Ansatz wird auch deutlich, dass mit einem derartigen multidimensionalen, rekursiven Theoriekonstrukt oder »Konzeptnetzwerk« die lineare Darstellungsform eines Buches an seine Grenzen stößt. Es ist in sich derart interdependent vernetzt, dass es sich nicht in eine Logik von »Anfang und

111 Vgl. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 257-269. Die neue Qualität sinnlicher Wahrnehmungsweisen beschreibt Giesecke folgendermaßen: »Die wirklich neuen elektronischen Medien umgehen das Bewußtsein. Sie wirken direkt auf das Unbewußte oder andere kognitive Instanzen unserer Informationsverarbeitung. Sie wirken taktil, durch Geräusche und durch Schwingungen. Sie sind ganzheitlich und nichtsequentiell organisiert, sie evozieren Gestalten und keine geometrischen Formen, sie sind grenzenlos und unvollkommen.« (Giesecke, Geschichte, Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung, S. 200). Diese zugegebenermaßen etwas euphorisch vorgetragene These erinnert inhaltlich wie formal an den Zerstreuungsbegriff Walter Benjamins. Vgl. Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VII/1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 350-384. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die messianische Grundhaltung Benjamins weder die Ausarbeitung einer Theorie noch Vorschläge zur Gestaltung des Neuen verlangten. 112 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 319-323. 113 Vgl. ebd., S. 286-289. 60

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Ende« oder »oben und unten« reorganisieren lässt. Deshalb bevorzugt Giesecke selbst als alternatives Präsentations- und Distributionsmedium netzbasierte relationale Datenbanken. 114 Für jede Arbeit, die auf diesem Konzept aufbauen möchte, bedeutet das entsprechend eine Reduplikation dieser Problematik. Im Fall der vorliegenden Arbeit gesellen sich darüber hinaus auch die formalen Anforderungen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit dazu, so dass versucht werden muss, einen Ausgleich der inhaltlichen und formalen Anforderungen zu finden.115 Mit einem Blick auf den Stand der Forschung lassen sich leicht die Vorteile von Gieseckes Konzeptnetzwerk erkennen. Dies beginnt bei der integrativen Betrachtung von Medien und Kommunikation. Die Realität in der akademischen Landschaft sieht so aus, dass sie Gegenstand eigener Disziplinen sind, die sich in der Praxis – vorsichtig ausgedrückt – skeptisch gegenüberstehen. Dies hängt auch mit den unterschiedlichen disziplinären Traditionen der literatur- und kulturwissenschaftlich geprägten Medienwissenschaft und der soziologisch inspirierten Kommunikationswissenschaft zusammen. Obgleich der Objektbereich transdisziplinäre Forschung nahelegt, wird die Trennung der Zuständigkeiten weiterhin in der akademischen Ausbildung reproduziert. Die bisweilen willkürliche Trennung der Objektbereiche führt dazu, dass die Kommunikationswissenschaft keine oder nur eine unterentwickelte Medientheorie aufweist, wie die Medienwissenschaft keine oder nur eine unterentwickelte Kommunikationstheorie. Die analytische Trennung der Disziplinen spiegelt sich auch in weiten Teilen der Wissenschaftsforschung und der Methodendiskussion wieder. Dies gilt auch für die eng geführten Begriffe. Kommunikation wird als abstraktes Prinzip hochgehalten oder als lästiger Nebeneffekt unterdrückt. In beiden Fällen wird allerdings gar nicht klar, was darunter verstanden werden soll. Ebenso stellt sich die Situation bei der Bezugnahme auf Medien dar, die meist nur als technische Medien auftauchen, für die sich weitere Explikationen von Medienbegriffen offenbar erübrigen. Vor diesem Hintergrund stellt Gieseckes Konzept einen Erfolg versprechenden Ansatz dar, nicht nur diese begrifflichen Unklarheiten aufzuklären bzw. zu systematisieren, sondern darüber hinaus erstmals ein Modell von Sozialforschung zu entwickeln, dass diese konsequent als Kommunikationssystem begreift und dabei auch ihre Medien inkludiert, 114 Vgl. das Portal zu Gieseckes verschiedenen Forschungsprojekten und Datenbanken www.kommunikative-welt.de. Die Prämierung der Datenbank als Präsentationsmedium schließt allerdings nicht aus, gleichzeitig bei einem Hüter traditioneller Typographie (Suhrkamp) zu publizieren. 115 Vgl. dazu den Abschnitt Aufbau und Entstehung der Arbeit in diesem Kapitel. 61

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ohne dabei die Unterschiede zwischen technischen, sprachlichen, leiblichen oder sonstigen Medien als unüberwindliches Hindernis zu erfahren.

3.3 Selbstreflexivität der Forschung Aufgrund der schon bemängelten fehlenden Selbstreflexivität der Sozialwissenschaften wurde als Aufgabe dieser Arbeit die selbstreflexive Wendung kommunikations- und medientheoretischer Modelle auf die Sozialforschung selbst formuliert. Dieser Anspruch bedarf der näheren Erläuterung dessen, was unter Selbstreflexivität verstanden wird. Selbstreflexivität ist seit langem ein Thema der Sozialwissenschaften, das in regelmäßigen Abständen in unterschiedlichen Diskussionssträngen aktualisiert wird. Reflexivität ist dabei keine unumstrittene Tugend der Sozialforschung. Wie Michael Lynch herausgearbeitet hat, existieren eine ganze Reihe unterschiedlicher Auffassungen und Konzepte von Reflexivität. 116 Er differenziert zwischen mechanischer, gegenstandsbezogener und methodologischer Reflexivität, metatheoretischer Selbstreflexivität, interpretativer und als Sonderfall der ethnomethodologischen Reflexivität. Unter mechanischer Reflexivität versteht er bspw. rekursive Prozesse im Sinne der Kybernetik, wie sie auch in Kommunikationsmodellen (etwa von Gregory Bateson) anzutreffen sind. Gegenstandsbezogene Reflexivität meint die Vorstellung von Reflexivität als reales Phänomen in der sozialen Welt, das sowohl auf der Ebene umfassender sozialer Systeme (Reflexivität als Sinnbild der späten Moderne wie etwa bei Anthony Giddens oder Ulrich Beck) als auch auf der Ebene interpersonaler Interaktion (Reflexivität als fundamentale Eigenschaft kommunikativen Handelns wie bei Alfred Schütz oder George Herbert Mead) Anwendung findet. Methodische Reflexivität reicht von philosophischer Selbstreflexion (Aufklärungsideal der Selbsterkenntnis, philosophische Introspektion, z.B. bei Descartes) bis zu methodologischem Selbstbewusstsein (etwa als Merkmal der teilnehmenden Beobachtung, wenn Klarheit über eigene Annahmen und Vorurteile angestrebt wird), Selbstkritik (etwa in standardisierten Wissenschaftsauffassungen wie bei Karl Popper) und Selbstgratulation (etwa bei Merton 117 ). Metatheoretische Reflexivität meint eine allgemeine Orientierung, eine Haltung des Rückzugs oder der ironischen Distanzierung wie sie sinnbildlich für die soziologische Einstellung sei. Interpretative Re116 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Lynch, Michael, Gegen Reflexivität als akademischer Tugend und Quelle privilegierten Wissens, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 5, Nr. 2 (2004), S. 273-309. 117 Vgl. Fußnote 6. 62

EINLEITUNG

flexivität setzt am hermeneutischen Zirkel an und thematisiert die inneren Wechselwirkung zwischen textuellen Zeichen und interpretativen Bedeutungen oder definiert in ihrer radikalen Ausprägung Interpretationen als Ursache der Existenz der sozialen Welt (wie in den Science and Technology Studies). Während diese Vorstellungen von Reflexivität jeweils Mischformen theoretischer, substanzieller und methodologischer Erwägungen darstellen, hebt Lynch die zugleich methodologische und gegenstandsbezogene ethnomethodologische Reflexivität (im Sinne Harold Garfinkels) hervor. »Die Reflexivität der Realitätsdarstellungen impliziert Interpretation, [...] aber mehr noch weist sie auf verkörperte Handlungen hin, durch die Personen [...] darstellbare Zustände produzieren.« 118 Diese essentielle Reflexivität der Realitätsdarstellungen läuft immer mit und impliziert daher keine erkenntnistheoretischen Komponenten, keine kognitiven Fähigkeiten oder ein emanzipatorisches Interesse. Vor dem Hintergrund dieser zahlreichen Reflexivitätsversionen wundert es nicht, dass Reflexivität als Prinzip nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt. Pierre Bourdieu äußert den Verdacht, dass es sich bei der Reflexivitätsdiskussion um eine narzisstische Geste der Wissenschaft handelt. 119 Auch Lynch bleibt mit Verweis auf Garfinkels Konzept einer immer mitlaufenden Reflexivität skeptisch: »In einer Welt ohne Götter oder Absolutheiten wird auch die Bemühung, reflexiv zu sein, einen reflektiert Suchenden nicht näher an die zentrale Lichtquelle der Erleuchtung bringen als die Bemühung, objektiv zu sein.« 120

Damit wird deutlich, dass der Fluchtpunkt der Diskussion in erster Linie ein Äquivalent zum Gütekriterium der Objektivität ist. Dementsprechend ist auch die Metaphorik gut gewählt. »Objektivität« stellt den Beobachter ins Zentrum der Erkenntnis und das »Licht der Erkenntnis« liegt gleichermaßen als Bedingung der Erkenntnis außerhalb des Beobachters. Hier stellt sich die Frage, was dieses Licht überhaupt sein soll: Handlungsanleitende oder weltbeschreibende Theorien? Die Akzeptanz der Erkenntnis durch Dritte? Oder doch etwas Göttliches? Dies funktioniert nur so lange der Beobachter als Ort der Erkenntnis singulär gedacht

118 Lynch, Gegen Reflexivität als akademischer Tugend und Quelle privilegierten Wissens, S. 283. 119 Vgl. Bourdieu, Pierre, Narzißtische Selbstreflexivität und wissenschaftliche Selbstreflexivität, in: Berg/Fuchs (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text, S. 365-374. 120 Lynch, Gegen Reflexivität als akademischer Tugend und Quelle privilegierten Wissens, S. 301. 63

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und der Akt der Erkenntnis abhängig ist von Anschauung im Sinne einer Prämierung des Visuellen. Sobald, mit Gieseckes Begriffen ausgedrückt, andere Sensoren, d.h. andere Sinne, andere Informationsverarbeitungsinstanzen und mehrere Informationssysteme, etwa mehrere Forscher, beteiligt sind und damit womöglich subjektive Standpunkte eine Aufwertung erfahren, gerät dieses erkenntnistheoretische Standardkonstrukt ins Wanken. So kann methodologische Reflexivität durchaus sinnvoll sein, wenn unterschiedliche subjektive (Forscher-)Perspektiven integriert werden sollen. 121 Damit ist nicht nur der Abgleich im Sinne einer Ratifizierung von Beobachtungen und Schlussfolgerungen gemeint. Vielmehr können ja gerade die Differenzen in den Wahrnehmungen wiederum als auswertungswürdige Daten betrachtet werden. Werden Affekte, also Produkte nicht-rationaler Informationsverarbeitung, als Daten betrachtet, 122 handelt es sich bei deren Auswertung – zu der es auch geeigneter Dokumentationstechniken bedarf – um Selbstreflexion. Der Rückzug auf eine Position, die Reflexivität als anthropologische Konstante betrachtet und deswegen keiner gesonderten Aufmerksamkeit bedarf, wird also schon durch gängige Forschungspraktiken unmöglich.123 Allerdings hat Lynch Recht, wenn er implizit die Frage stellte, wo der richtige Ort für welche Art der Reflexivität ist. Die Stichhaltigkeit einer Studie hängt nicht von ihrem allgemein wissenschaftlichen Reflexionsniveau ab, sondern von ihrem konkreten Beitrag zu ihrer Thematik. 124 Diese Arbeit bietet einen solchen Ort, so dass ihr Fokus weniger auf Mikroreflexionen als auf der Reflexion der gesamten Sozialfor121 Vgl. Russell, Glenda M./Kelly, Nancy H., Research as Interacting Dialogic Processes. Implications for Reflexivity [47 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 3, Nr. 3, Art. 18 (2002), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0203181. 122 Diese Art der Datensammlung geht auf die Psychoanalyse zurück und wurde insbesondere von Georges Devereux als Methode ausgearbeitet. Vgl. Devereux, Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 335. Zur Weiterentwicklung als Methode der Sozialforschung siehe Giesecke/RappeGiesecke, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung, S. 117f. 123 Trotz der von Lynch beobachteten Fülle von Reflexivitätskonzepten erstaunt ihre Abwesenheit in Bereichen, in denen man sich gerne mehr davon wünschen würde. Ein Beispiel ist die Frage, was nach der Diskursanalyse kommen könnte oder was das Ergebnis einer Diskursanalyse der Diskursanalyse wohl wäre. Diese Frage stellt bereits Ashmore, Malcolm, The Reflexive Thesis. Writing Sociology of Scientific Knowledge, Chicago: University of Chicago Press 1989, S. 139-168. 124 Lynch, Gegen Reflexivität als akademischer Tugend und Quelle privilegierten Wissens, S. 295. 64

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schung liegt. Folglich handelt es sich zunächst nach Lynchs Systematik um methodologische Reflexivität als philosophische Selbstkritik. Diese soll jedoch nicht im luftleeren Raum operieren, sondern ihre Reflexivität dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie ganz konkrete Ergebnisse der Sozialwissenschaften, in diesem Fall der Kommunikationswissenschaft, auf sich selbst anwendet und ihre eigenen Grundannahmen, Werte und Programme anhand des vorgeschlagenen Kommunikationsmodells überprüft. Aus diesem Modell folgt allerdings, dass es nicht bei einer theoretischen Auseinandersetzung im Sinne individueller Reflexion bleiben kann, sondern diese selbst auch kommunikativ als soziale Selbstreflexion erfolgen müsste. Soziale Selbstreflexion meint die Klärung manifester und latenter Programme in sozialen Systemen mit dem Ziel adäquater Selbstbeschreibungen zur Klärung der eigenen Identität.125 Insofern kann diese Arbeit diesen Prozess nicht ersetzen, sondern lediglich eine Anregung dazu anbieten, etwa die bestehenden Selbstbeschreibungen der Sozialforschung kritisch zu hinterfragen. Indem in diesem Sinne nach der Selbstreflexivität einer ganzen Disziplinenfamilie, nämlich der empirischen Sozialwissenschaften, gefragt wird, bedeutet dies auch eine Absage an die übliche Praxis, solche Fragen allein der Erkenntnistheorie zu überlassen. Stattdessen ist es notwendig, ihre Beantwortung ganz konkret an ihre Techniken, Methoden und Verfahren zurückzubinden und sie im Prinzip auf der gleichen Ebene wie die praktische Forschung selbst zu betreiben. Dies ist auch deshalb notwendig, da es der klassischen Erkenntnistheorie bereits jetzt nicht mehr gelingt, die Widersprüche zwischen ihren Postulaten und der Praxis der Forschung zu überbrücken. Damit ist das Anliegen dieser Arbeit keine wissenschaftliche Revolution oder ein Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas Kuhn. 126 Das liegt daran, dass viele Aspekte einer kommunikativen Orientierung bereits in der Sozialforschung verwirklicht sind, diese aber einer systematischen Reformulierung und Durchdeklinierung dieser Prinzipien noch harren. Das bedeutet allerdings, dass auf der Grundlage einer solchen Reformulierung der Selbstbeschreibungen einige Themen, Gegenstände und Verfahren an Attraktivität verlieren und andere gewinnen könnten. Insbesondere ist zu erwarten, dass sich auch forschungspolitisch lieb 125 Vgl. Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision – Veränderung durch soziale Selbstreflexion, in: Fatzer, Gerhard (Hrsg.), Qualität und Leistung von Beratung. Supervision, Coaching, Organisationsentwicklung, Bergisch Gladbach: Edition Humanistische Psychologie 2002, S. 27-104, hier S. 30. 126 Vgl. Kuhn, Thomas Samuel, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 65

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gewordene Differenzierungen, etwa zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung, auf der Grundlage dieser Überlegungen relativieren könnten. Die Forderung nach mehr Selbstreflexivität kann natürlich nicht nur von außen herangetragen werden, sondern muss konsequenterweise auch für den Autor dieser Arbeit gelten. Ihr soll in den folgenden Ausführungen nachgekommen werden.

4 Daten und Methoden Diese Arbeit muss sich schon bei der Wahl der Daten und Methoden mit gewissen Ambivalenzen und Paradoxien auseinandersetzen, von denen einige vermeidbar gewesen wären, andere aber auch als produktiv begrüßt werden können. Um dem Anspruch auf Angemessenheit der Methode an den zu untersuchenden Gegenstand gerecht zu werden, könnte man nun erwarten, dass eine Untersuchung der empirischen Sozialforschung auch in ihrem Sinne empirisch erfolgt bzw. dass die Grundlagen kommunikativer Sozialforschung auch kommunikativ erforscht werden, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sich in einem performativen Selbstwiderspruch zu verfangen. Dem ist prinzipiell zuzustimmen und war auch so angedacht. Forschungspraktisch war es in diesem Fall aber nicht zu verwirklichen. Alternativ hätten auch ausführliche Forschungsdokumentationen als Datenmaterial dienen können, was aufgrund der mangelhaften Dokumentationspraxis in der Sozialforschung allerdings auch nicht möglich war. 127 Das Zusammenfallen von Gegenstand und Methode (empirische Sozialforschung) hätte die Probleme und Möglichkeiten der Sozialforschung sowie die Notwendigkeit zur Selbstreflexion verdeutlicht. Die Folge wäre keine infinite zirkuläre Schleife gewesen, da in einer als zirkulären Prozess gedachten Sozialforschung ständig Entscheidungen über den Eintritt oder Austritt aus solchen Schleifen ge127 Nach längerer Suche konnte schließlich dank der Unterstützung eines renommierten außeruniversitären Forschungsinstituts auf die Dokumentation eines kleineren Forschungsprojektes zugegriffen werden. Leider stellte sich bei der Auswertung heraus, dass die Dokumentation nicht den Anforderungen entsprach. Die mangelhafte Dokumentationspraxis spiegelt sich auch in den Richtlinien zur »Guten wissenschaftlichen Praxis« der Deutschen Forschungsgemeinschaft wider. Dort wird lediglich unverbindlich empfohlen, »Resultate zu dokumentieren« sowie Primärdaten für zehn Jahre aufzubewahren. Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Empfehlungen der Kommission »Selbstkontrolle in der Wissenschaft«, Weinheim: Wiley-VCH 1998, S. 7 und 12f. 66

EINLEITUNG

troffen werden müssen und bestenfalls auch begründet werden. Um jedoch die Grundlagen der kommunikativen und medialen Verfassung der Sozialforschung zu untersuchen, macht es auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung und der Methodendiskussion durchaus Sinn, einen Schritt zurückzugehen, und sich zunächst auf die von der Sozialforschung selbst begründeten Fundamente zu konzentrieren. Dieses Vorgehen kann dann den Boden für weitere, dann im klassischen Sinne empirische Untersuchungen bereiten. Es kann nun eingewendet werden, dass sich dahinter ein Rückzug auf eine Position verbirgt, die die distanzierte Beobachtung als Medium des Erkenntnisgewinns präferiert. Dieser Einwand ist einerseits berechtigt in dem Sinne, dass ein learning by doing im Rahmen teilnehmender Beobachtungen o.ä. wahrscheinlich zu ganz anderen Ergebnissen geführt hätte. Andererseits kann, wie anhand der Methodendiskussion demonstriert, bereits auf zahlreiche konkrete Erfahrungen aus der Sozialforschung zurückgegriffen werden, die als Datenmaterial für diese Arbeit dienen können. Damit ist auch schon das grundsätzliche methodologische Spannungsfeld aufgezeigt, in dem sich die Arbeit bewegt und dessen Widersprüche sie aushalten muss. Da solche Widersprüche und Paradoxien aber ein grundsätzliches Problem der Sozialforschung darstellen, liegt in ihrer Explikation bereits ein methodischer Vorteil. Dies führt zur Frage meines eigenen Standpunktes. Auch dieser ist nicht frei von Widersprüchen. Die theoretische Referenz wurde bereits dargelegt; sie versucht von vornherein nicht, Ambivalenzen und Widersprüche auszuschließen. Dies kommt auch meinem biographischen Standpunkt entgegen. Als ausgebildeter Kommunikations- und Medienwissenschaftler musste ich von Anfang an die Spannungen zwischen den Disziplinen aushalten.128 Das Unbehagen an eingeengten Objektbereichen, simplifizierenden oder zu wenig greifbaren Modellen, sich widersprechenden Methoden und politischen Verflechtungen führte jedoch nicht zur Parteinahme für eine der beiden Seiten, sondern vielmehr zu einer allgemeinen Skepsis. Diese Arbeit bietet nun die Möglichkeit, diese Erfahrungen produktiv zu nutzen. Als Medien- und Kommunikationswissenschaftler ist mein Standpunkt dabei immer zugleich der eines Insiders und Outsiders, je nachdem, welchen Standpunkt der Beobachter bzw. Leser dieser Arbeit einnimmt. Dieser doppelte Standpunkt wieder128 Den größten Teil meiner akademischen Bildung in diesem Bereich absolvierte ich an einem Fachbereich, der Mitte der 1990er Jahre mit dem Ziel einer Synthese der unterschiedlichen Traditionen eingerichtet wurde. Zehn Jahre später wurde mit seiner Aufteilung in unterschiedliche Studiengänge das Scheitern dieses Projektes jedoch auch institutionell nachvollzogen. 67

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holt sich auch in Bezug auf den Gegenstand der Untersuchung. Trotz Ausbildung in verschiedenen Methoden der empirischen Sozialforschung liegen wenige praktische Erfahrungen damit vor. Dies dürfte allerdings auch auf Leser zutreffen, die sich selbst als empirische Sozialforscher beschreiben würden. Anhänger statistischer Verfahren nutzen wahrscheinlich selten das Psychodrama als Methode und umgekehrt. Was sind nun die Daten, die dieser Untersuchung zugrunde gelegt werden? Diese Arbeit versteht sich insofern als empirisch, als dass sie klar benennt, was ihre Daten und Methoden sind. Als Daten dienen die erkenntnistheoretischen und methodologischen Abhandlungen, Lehrbücher, Projektbeschreibungen und Erfahrungsberichte der Sozialwissenschaften. Das bedeutet, dass es sich in erster Linie um Selbstbeschreibungen handelt, die die Sozialwissenschaften von sich selbst anfertigen. 129 Indem Theorien zu Daten erklärt werden, wird ihre ambivalente Funktion herausgestellt. Theorien werden gewöhnlich in erster Linie als Ergebnisse von Forschung betrachtet. Es spricht allerdings nichts dagegen, sie auch als Daten zu verwenden.130 Prominentester Ort der Selbstdarstellung und -beschreibung der Sozialwissenschaften sind ihre Lehrbücher und methodologischen Abhandlungen, die der Sozialisation und Reproduktion des wissenschaftlichen Nachwuchses dienen. Zwar werden hier viele Aspekte der Natur dieser Werke gemäß stark verkürzt dargestellt und nicht in allen Einzelheiten problematisiert. Dafür werden hier implizite Vorstellungen auch so stark kondensiert und vor allem idealisiert präsentiert wie sonst an keiner anderen Stelle. Projektbeschreibungen sind deshalb interessant, da sie der Ort sind, an dem die Reduktion der Sozialforschung auf ihre Ergebnisse vollzogen wird. In der Regel kann man aus den kurzen Darstellungen zum methodischen Vorgehen in einer Studie nicht deren Verlauf oder den Weg zu den Ergebnissen nachvollziehen. Als solch ein Ort des Vergessens können sie deshalb Aufschluss über das Selbstverständnis der praktischen Sozialforschung geben, das sich nicht mit den idealisierten Selbstbeschreibungen der Lehrbücher decken muss. 131 Erfahrungsberichte geben schließlich als 129 Zu den Selbstbeschreibungen der Sozialwissenschaften siehe auch den Abschnitt Die Labels der Sozialwissenschaften in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialwissenschaften und Strategien ihrer Bewältigung. 130 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 220. Giesecke bezieht sich hier darauf, Alltagstheorien als Daten zu betrachten. Es spricht aber nichts dagegen, auch alle anderen Theorien als Daten zu verwenden. Zur Frage, was Daten im Allgemeinen und sozialwissenschaftliche Daten im Besonderen sein können siehe die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 131 Oder eben durch diesen Akt des Vergessens mit den Idealisierungen zur Deckung gebracht wird. 68

EINLEITUNG

Reflexionsleistung des Prozesses der Sozialforschung Auskunft über die Diskrepanzen zwischen theoretischer Idealisierung und praktischer Anwendung. Hier ist von besonderem Interesse, an welchen Bruchlinien diese Differenzen zu Tage treten und wie sie methodologisch und erkenntnistheoretisch eingeordnet werden. Bisher war immer pauschal die Rede von »den Sozialwissenschaften« oder »der Sozialforschung«, so dass geklärt werden muss, was damit gemeint ist. In der Tat werden diese Begriffe sehr weit gefasst. Gemeint sind alle Wissenschaften, die soziale Tatbestände bzw. Interaktionen als ihre Objektbereiche betrachten und/oder mit Verfahren der Sozialforschung erforschen. Dies reicht von Anthropologie und Ethnographie über Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft und Politikwissenschaft bis hin zur Kommunikationswissenschaft. Aber auch Randoder Brückenwissenschaften wie Sozialgeographie, Wirtschaftswissenschaften oder Geschichtswissenschaft können bei entsprechender methodischer Ausrichtung damit gemeint sein (zum Beispiel die Praxis der »oral history« in der Geschichtswissenschaft) 132 . Offenkundig existieren methodologische Unterschiede zwischen den genannten Disziplinen. In der Ethnographie spielen statistische Verfahren nur eine marginale Rolle, während die Psychologie über eine ganze Reihe eigener Methoden verfügt, die meistens nicht der Erforschung sozialer, sondern psychischer Tatbestände dienen. Jedoch finden sich zahlreiche Überschneidungen zwischen den methodologischen Ansätzen in den verschiedenen Sozialwissenschaften, was sich auch in der Literatur zu ihren Methoden widerspiegelt. Ein Großteil der Handbücher richtet sich an Angehörige verschiedener Disziplinen. Damit ist zugleich der Kreis der Adressaten dieser Arbeit benannt. Insbesondere soll aber die Kommunikationswissenschaft angesprochen werden, die sich in ihrer starken Ausrichtung auf Soziologie und Psychologie der Massenkommunikation bislang eher als deren Subdisziplin darstellt und folgerichtig keine eigenen Methoden entwickelt hat. Womöglich kann die in dieser Arbeit implizierte Fokusverlagerung auf ihr eigentliches Kerngeschäft Kommunikation dazu beitragen, den Objektbereich der Kommunikationswissenschaft zu schärfen und dazu anregen, entsprechende eigene Methoden zu entwickeln. Das Problem der Auswahl der konkreten Untersuchungseinheiten verdeutlicht folgendes Zitat: »Konnten anfangs Lehr- und Handbücher der Sozialforschung [...] den Umfang der Forschungsmethoden verhältnismäßig geschlossen vortragen, so ist 132 Vgl. Niethammer, Lutz (Hrsg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«, Frankfurt am Main: Syndikat 1980. 69

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inzwischen die Literatur in einem solchen Maßen angewachsen, daß sie selbst bibliographisch kaum mehr bewältigt werden kann. Es ist dadurch der Eindruck entstanden, als erschöpfe sich die moderne Sozialforschung in ihrer Methodologie.« 133

War diese Diagnose 1962 schon richtig, müsste man sie ein halbes Jahrhundert und zahlreiche neue Methodenentwicklungen, Debatten und Lehrbücher später eigentlich noch zu steigern suchen. Es ist richtig, dass die Masse an Buchtiteln und Zeitschriftenaufsätzen allein für den deutschsprachigen Raum kaum zu überblicken ist, vor allem nicht über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Deshalb werden die Beispiele zunächst nach ihrem Erfolg bzw. Verbreitung ausgewählt (Standardwerke). Indikator dafür sind die Zahl ihrer Auflagen und die (gefühlte) Häufigkeit ihrer Zitation. Darüber hinaus sind jene Beiträge von Interesse, die den hier behandelten Themenkomplex mehr oder weniger direkt ansprechen. Wenn Theorien Gegenstand der Betrachtung sind (wie in Kapitel II), werden nach Möglichkeit die klassischen Texte, in denen sie begründet und ausgearbeitet wurden, gewählt. Die Auswahl von Projektbeschreibungen und Erfahrungsberichten erfolgt weniger systematisch – um nicht zu sagen willkürlich –, da zumindest Projektbeschreibungen theoretisch Bestandteil jeder empirischen Studie sind. Hier sind allerdings jene Beispiele von besonderem Interesse, die in Bezug auf das Thema Extrempositionen darstellen. Die Methoden, nach denen das Material ausgewertet wird, sind abhängig vom Material selbst. Nachdem Theorien bisher als Ergebnisse und Daten betrachtet wurden, können sie von einem anderen Standpunkt auch als Werkzeuge aufgefasst werden. Ein entsprechendes Konzept entwickelt Sandbothe, der seine pragmatische Medienphilosophie als ein solches Werkzeug versteht. 134 Dies ist bereits im Pragmatismus selbst angelegt, der sich nicht von politischen Strategien trennen lässt und somit über sein theoretisches Moment hinausreichen will. 135 Der von Sandbothe praktizierte Pragmatismus bezieht sich in einer reflexiven Wendung auf sich selbst, indem er sich um eine Neugestaltung der eige-

133 Maus, Heinz, Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung, in: König, (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung, 1962, S. 18-37, hier S. 30. 134 Vgl. Sandbothe, Mike, Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. 135 Vgl. Janzen, Jan, Mike Sandbothe – Theorien zu Werkzeugen, in: Lagaay, Alice/Lauer, David (Hrsg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt am Main: Campus. 2004, S. 273-295, hier S. 274f. 70

EINLEITUNG

nen Erkenntnispraxen und Formen des Wissens bemüht. 136 In diesem Sinne kann auch Gieseckes Konzeptnetzwerk verstanden werden, das sich als Bemühung um die Reformulierung sozialwissenschaftlicher und anderer wissenschaftlicher Erkenntnispraktiken lesen lässt. In diesem Sinne soll Gieseckes Ansatz als Analysewerkzeug bzw. -raster und Orientierungsrahmen genutzt und eingesetzt werden. Insofern ist diese Arbeit hauptsächlich eine theoretische Auseinandersetzung. Auch wenn die Erhebung des Forschungsstandes und der Methodendiskussion den Eindruck erwecken mag, dass Reflexionen zum Gegenstandsbereich dieser Arbeit häufig anzutreffen seien, ist dies nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich hauptsächlich um implizite Vorstellungen und Modelle, die in dieser Arbeit mit entsprechenden Methoden expliziert werden sollen. Michael Polanyis Begriff vom impliziten Wissen meint ein nicht formalisiertes Wissen, das nicht explizit formuliert ist und möglicherweise gar nicht formuliert werden kann.137 Der von ihm auch gebrauchte Ausdruck »Tacit Knowing«, verdeutlicht, dass das eigentliche Interesse weniger dem Wissen als kognitive Strukturen, sondern vielmehr den davon abhängigen Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen gilt. Die Bedeutung dieser Wissensstrukturen und ihrer performative Handlungsregulierung wird heute nicht mehr in Abrede gestellt. Bisweilen werden auch die Vorteile von intuitiven »Bauchentscheidungen« und ihre Überlegenheit gegenüber systematischen Erwägungen herausgestellt. 138 Es ist anzunehmen, dass sie auch in der Sozialforschung eine Rolle spielen, auch wenn sie in ihren Erkenntnistheorien und Methodologien, die auf rationale Informationsverarbeitung abheben, vernachlässigt werden. Es geht nun also darum, dieses implizite Wissen, d.h. die Kommunikationsmodelle und Medienbegriffe, aus den Selbstdarstellungen der Sozialwissenschaften herauszudestillieren. Dazu stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Es ist festzustellen, dass Verfahren zur Explikation impliziten Wissens momentan insbesondere in der Wirtschaft im Rahmen des Wissensmanagements Konjunktur haben, in dessen Rahmen implizites Wissen produktiv – und damit gewinnbringend – genutzt werden soll. 139 Überhaupt gilt, dass sich die anwen-

136 Vgl. ebd., S. 279. 137 Vgl. Polanyi, Michael, Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 138 Vgl. Gigerenzer, Gerd, Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München: Bertelsmann 2007. 139 Relativ einflussreich in diesem Zusammenhang Nonaka, Ikujiro/Takeuchi, Hirotaka, Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, Frankfurt am Main: Campus 1997. Nonaka/Takeuchi stellen darin u. a. das Wech71

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

dungsbezogene Forschung in therapeutischen und Beratungskontexten, etwa in der Wirtschaft, oftmals viel offener gegenüber alternativen Verfahren der Erkenntnisgewinnung zeigt als die traditionelle akademische Sozialforschung. Ein Verfahren ist die Metaphernanalyse. Dabei sind verschiedene Ansätze zu unterscheiden, deren gemeinsames Ziel die Explikation unbewusster, impliziter Strukturen der Wirklichkeitskonstruktion bzw. individueller und kollektiver Denkmodelle ist. Unterschiede bestehen jedoch in den Herangehensweisen, die ich als konstruktive und rekonstruktive Metaphernanalyse bezeichne. Bei der weiter verbreiteten rekonstruktiven Metaphernanalyse werden in einem ausgewählten Textkorpus alle Metaphern gesammelt. 140 Dabei gilt das Interesse nicht allein den explizit gebildeten Sprachbildern, sondern auch den sogenannten lexikalisierten Metaphern. Daraus werden metaphorische Konzepte abgeleitet und wenn möglich Schlüsselmetaphern identifiziert bzw. konstruiert, an denen sich der ganze Text aufhängen lässt. Die (hermeneutische) Auswertung gilt den implizierten Wertungen, den Ressourcen, d.h. den differenzierenden und ausdruckserweiternden Funktionen und Beschränkungen der identifizierten Metaphern. In Forschungszusammenhängen, die eine Praxisveränderung zum Ziel haben, kann dann geprüft werden, wie durch alternative Metaphernangebote neue Handlungsbzw. Erkenntnismöglichkeiten erzielt werden können. Die konstruktive Metaphernanalyse nach Gareth Morgan – der selbst von »Imaginieren« spricht – dient als Diagnoseinstrument in Organisationsentwicklungsprozessen. 141 Hier ist es Aufgabe der Forscher, Metaphern zur Beschreiselspiel zwischen impliziten und expliziten Wissen als essentiell für die Wissensbeschaffung in Unternehmen heraus. 140 Zur rekonstruktiven Metaphernanalyse siehe Niedermair, Klaus, Metaphernanalyse, in: Hug, Theo (Hrsg.), Wie kommt Wissenschaft zum Wissen? Bd. 2, Einführung in die Forschungsmethodik und Forschungspraxis, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2001, S. 144-165 und Schmitt, Rudolf, Methode und Subjektivität in der Systematischen Metaphernanalyse [54 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 4, Nr. 2, Art. 41 (2003), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0302415 sowie Moser, Karin S., Explikation von impliziten Wissen mittels Metaphernanalyse am Beispiel von Wissensmanagementprojekten, in: Straka, Gerald A./Stöckl, Markus (Hrsg.), Wie kann »tacit knowledge« explizit gemacht werden? Konzepte, Verfahren, empirische Befunde zum Management von Wissen, Bremen: Universität 2001, S. 40-53. 141 Vgl. eher praktisch orientiert Morgan, Gareth, Bilder der Organisation, Stuttgart: Klett-Cotta 1997 sowie eher theoretisch ders., Löwe, Qualle, Pinguin – Imaginieren als Kunst der Veränderung, Stuttgart: Klett-Cotta 1998. Zur Imagination als Erkenntnisinstrument und zur Metaphernanalyse siehe auch den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel 72

EINLEITUNG

bung von Organisationen zu finden. Durch die Ausformulierung ganzer Bildfelder lassen sich dann Probleme und Chancen der untersuchten Organisationen erkennen und zugleich beheben. Morgans Ansatz ist unter der Bezeichnung »poetisches Verfahren der Wissenskonstruktion« auch in die Sozialwissenschaften übernommen worden. 142 Metaphern werden darin als eine mögliche Form von »Sinnformeln«, d.h. Orientierungsrahmen (wie z.B. Leitbilder) für sinnvolles Handeln begriffen. Die impliziten Kommunikationsmodelle der Sozialforschung können nun als solche Sinnformeln (bzw. Leitbilder oder -vorstellungen) betrachtet werden, die mit Hilfe dieser Methoden herausgearbeitet werden können. Im Prinzip auch an der Explikation impliziten Wissens interessiert ist die Diskursanalyse bzw. Foucaults Archäologie. Sie zielt dabei jedoch nicht auf ein individuelles Wissen, sondern auf ein Wissen struktureller Art. Sie ist deshalb für diese Arbeit von Interesse, da sie nach Bruchrändern und Diskontinuitäten, d.h. Widersprüchen sucht, an denen sie generell das einzige Potenzial für Erkenntnis vermutet. Jedoch ist eine Diskursanalyse in der Tradition von Foucault auch nicht unproblematisch. Foucault macht in seinen Arbeiten klar, dass seine Methode der Archäologie nur eine historische sein kann. »Die Diskurse müssen aufgehört haben die unseren zu sein.« 143 Der Untersuchungsgegenstand »Archiv« kann nur mit zeitlichem Abstand untersucht werden. Die Gegenwart kann jedoch nicht untersucht werden, da die Regeln, die mit der Archäologie untersucht werden sollten, ja auch die Bedingungen sind, unter denen sie untersucht werden müssten. Damit wird Foucault für eine Analyse der gegenwärtigen Umstände, also für zeitgeschichtliche Analysen unbrauchbar. In dieser Arbeit geht es allerdings gar nicht um Geschichtsschreibung, etwa eine Mediengeschichte der Sozialforschung. Hier geht es auch um Anreize zu Veränderungen in der Sozialforschung. Für an Veränderungen interessierte Fragestellungen erweist sich Foucault aber als defizitär. 144

II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen sowie den Abschnitt Sprachliche Medien in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 142 Vgl. Liebert, Wolf-Andreas, Wissenskonstruktion als poetisches Verfahren. Wie Organisationen mit Metaphern Produkte und Identitäten erfinden, in: Geideck, Susan/Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.), Sinnformeln. Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003, S. 83-101. 143 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 189. 144 Vgl. Walzer, Michael, Die einsame Politik des Michel Foucault, in: ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 261-286, insbesondere S. 280-286. 73

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Trotz dieser Einwände erfreut sich eine von Foucault inspirierte Diskursanalyse in der Sozialforschung wachsender Beliebtheit. Ihr Gegenstand sind allerdings nicht wie bei Foucault die nicht beobachtbaren fundamentalen Grundlagen des Denkens und Handels in einer bestimmten Kultur. Ihr Ziel ist vielmehr eine »Beschreibung situationsübergreifender Formationen soziosymbolischer Praxis« 145 , um Zusammenhänge zwischen »sozialen Praktiken und der (Re-)Produktion von Sinnsystemen/Wissensordnungen«146 bzw. den zugrundeliegenden Regeln aufzudecken. In dieser Allgemeinheit deckt sich dieses Ansinnen – abgesehen von der gewählten Sprache – mit dem Anliegen dieser Arbeit. Die zu untersuchenden Regeln wären dann die Kommunikationsmodelle der Sozialforschung. Allerdings ist auch bei der Diskursanalyse zunächst völlig unklar, welche eigenen Konzepte von Medien und Kommunikation dieser Methode zugrundeliegen. Angesichts der Heterogenität der Ansätze ist auch hier mit verschiedenen Konzepten zu rechnen. 147 Eine weitere Frage ist, ob für eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse eine eigene, aktive Datenerhebung zulässig ist, da in ihr ja die zu untersuchenden Diskurse mitproduziert werden, oder ob nur bereits existierende ›Texte‹ zu ihrem Datenmaterial gemacht werden können. Diese Perspektive scheint in der Diskursanalyse vorzuherrschen. Allerdings würde nichts dagegen sprechen, zur Untersuchung der Konstitution von Diskursen selbst Diskurse zu produzieren (soweit das möglich ist). Immerhin kann die Sozialforschung ja selbst als Reproduktion gesellschaftlicher Diskurse (etwa in der Formulierung von Fragebögen) verstanden werden. Hier wäre eine diskursanalytische Betrachtung der Sozialforschung selbst wünschenswert. Die vorgebrachten Einwände bedeuten nicht, dass die folgenden Analysen nicht auch bisweilen diskursanalytisch inspiriert wären. Es geht in dieser Arbeit allerdings weniger um Dekonstruktion als um die Rekonstruktion bestehender, aber unreflektierter Grundannahmen, nicht ausbuchstabierter Konzepte und Begriffe, die einer Analyse in der Gegenwart durchaus zugänglich sind. Darin soll nichts gefunden werden,

145 Angermüller, Johannes, Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Deutschland: zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion, in: Keller, Reiner (Hrsg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz: UVK VerlagsGesellschaft 2005, S. 23-48, hier S. 23. 146 Keller, Reiner, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 7. 147 Siehe dazu auch den Abschnitt Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 74

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das der Gegenwart unbekannt wäre; vielmehr soll die Zusammengehörigkeit bestimmter Praktiken und Konzepte verdeutlicht werden. Methodisch soll also in dieser Arbeit entsprechend dem zugrunde gelegten theoretischen Konzept so verfahren werden, dass kein eindeutiger Standpunkt festgelegt wird, sondern je nach den situativen Anforderungen eingenommen wird. Zwischen den Standpunkten kann oszilliert werden, sie müssen dann aber auch benannt werden. Dies bedeutet auch, dass die beschriebenen Methoden hier nicht lehrbuchmäßig durchgeführt werden. Es wird also ein Oszillieren zwischen hermeneutischen, diskursund metaphernanalytischen Verfahren angewendet. Anhänger der Diskursanalyse wird dies vielleicht ärgern, da diese ja als Gegenpol zur Hermeneutik positioniert wird. Damit wird jedoch der Maßgabe gefolgt, dass Widersprüche auch produktiv sein können und gegebenenfalls auszuhalten sind. In diesem Sinne plädiere ich auch methodisch für eine »Politik der Unreinheit«. 148 Aber ebenso wie es sich dabei wiederum um ein theoretisches Konzept handelt, täuscht all das nicht darüber hinweg, dass diese Arbeit vorrangig eine theoretische ist. Wissenschaftliches Schreiben ist in erster Linie Abschreiben, aber auch ein Neukompilieren.

5 A u f b a u u n d E n ts t e h u n g d e r A r b e i t Der mehrdimensionale Charakter des Gegenstandes und des theoretischen Bezugsrahmens soll auch im Aufbau der Arbeit zum Tragen kommen. Deshalb werden Herangehensweisen gewählt, die sich hinsichtlich der untersuchten Gegenstände, der theoretischen Rahmungen und der methodischen Zugänge unterscheiden. Der erste Zugang erfolgt über die Wissenschaftstheorie. In Kapitel II werden die in der Sozialforschung vorherrschenden Empirismuskonzeptionen zum Gegenstand der Analyse gemacht. »Empirisch« ist die grundlegende Selbstbeschreibung der Sozialforschung und meint jene besondere Zugangsweise zu ihren Gegenständen, die sie von anderen Formen der Wissenschaft unterscheidet. Allerdings gibt es keine eindeutige Auffassung über den Empirismus der empirischen Sozialforschung, sondern konkurrierende Konzepte, die hier in Beziehung zueinander ge148 Den Ausdruck übernehme ich von Paul Mecheril, der damit eine alternative Identitätspolitik für Menschen mit Migrationshintergrund vorschlägt. Statt der Positionierung zwischen nationalen Identitäten sollen diese sich eigene, dritte Identitäten aufbauen, die sich gerade nicht durch die Bezugnahme auf bestehende Konstrukte auszeichnen. Vgl. Mecheril, Paul, Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität, Wien: Passagen 2003. 75

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

setzt werden. Untersucht werden jene Theorien, auf die explizit in den Methodologien Bezug genommen wird, andererseits aber auch ohne diesen Bezug in den verschiedenen Verfahren und Methoden wirksam sind. Dies umfasst die klassischen Positionen des kritischen Rationalismus sowie ihrer Kritiker, die neueren postmodernen Positionen der vornehmlich französisch geprägten Philosophie und den in den Sozialwissenschaften verbreiteten systemtheoretischen Konstruktivismus, und schließlich Empirismuskonzeptionen, die ein besonderes Augenmerk auf die Sinnlichkeit legen. Sie werden vor dem Hintergrund des triadischen Kommunikationsmodells untersucht, um herauszufinden, welcher Art die darin zugrunde gelegten Kommunikationsmodelle sind, welche Beobachtungsperspektiven und -relationen darin propagiert werden und welcher Art die Subjekte der Erkenntnis und die Erkenntnisprozesse sind. Dies wird ihre Möglichkeiten und Grenzen verdeutlichen. In Kapitel III werden die Methoden der Sozialforschung aus einer komplexitätstheoretischen Perspektive betrachtet. Dies ist zum einen deshalb notwendig, da sich die Sozialwissenschaften zwar seit geraumer Zeit mit Komplexität auseinandersetzen, dies aber fast ausschließlich auf der Ebene ihrer Gegenstandsmodelle tun. Zum anderen bietet sich diese Perspektive an, die unterschiedlichen Kommunikationsmodelle zu vergleichen. Dazu wird ein Modell entwickelt, das zwischen der dynamischen, der strukturellen und der ontologischen Dimension der Komplexität der Sozialforschung unterscheidet. Darauf aufbauend werden die Methoden hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Strategien im Umgang mit dieser Komplexität – Reduktion, Erhaltung, Induktion – untersucht. Diese Herangehensweise ist geeignet, die unterschiedlichsten Methoden der Sozialforschung unter Einbezug ihrer medialen Settings vergleichbar zu machen und gewohnte Differenzkriterien zwischen den Paradigmen zu relativieren. Anschließend werden in Kapitel IV zentrale Konzepte der Sozialforschung in drei Fallstudien einer eingehenden Prüfung unterzogen. Dabei wird gezeigt, dass auch ein scheinbar so feststehendes Gütekriterium wie Validität abhängig von den zugrunde gelegten Verfahren und Perspektiven ganz unterschiedliche Dinge meint. Gleiches gilt für sozialwissenschaftliche Daten. Bislang hat die Sozialforschung noch kein eigenständiges Konzept entwickelt, was darunter verstanden werden soll. Auch hier wird sich zeigen, dass Daten in höchstem Maße von den Medien ihrer Erhebung, Dokumentation und Auswertung abhängig sind. Schließlich werden die Grundstrategien der Sozialforschung, Zählen und Erzählen, auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich ihrer epistemologischen Standpunkte und Perspektiven hin untersucht. In diesem

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Zusammenhang wird auch gefragt, in welchem Verhältnis sie zum neuen Erkenntnismodus der Simulation stehen. Auf den Ergebnissen aufbauend soll schließlich in Kapitel V eine Synthese versucht werden, indem ein dreidimensionales Modell der Sozialforschung entwickelt wird. In diesem werden die verschiedenen Dimensionen von Sozialforschung als Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung herausgearbeitet. Daraus wird die anfangs postulierte Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien erkennbar werden. Auf dieser Grundlage wird dann in Kapitel VI für eine zeitgemäße Selbstbeschreibung der Sozialforschung plädiert. Dies impliziert den Vorschlag, die Epistemologie der Sozialforschung als Reflexion ihrer medialen und kommunikativen Bedingungen zu begreifen. Damit wird eine Grundlage für eine zukünftig selbstbewusste Gestaltung der Sozialforschung geschaffen. Dieser scheinbar strikt lineare Aufbau der Arbeit stellt die bestmögliche Anpassung an die formalen Anforderungen einer Dissertation dar. Der inhaltliche Aufbau ist allerdings modular gehalten, sodass die Kapitel auch einzeln oder in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können. Der innere Zusammenhang wird durch Querverweise zu anderen Kapiteln in den Fußnoten sichtbar gemacht. Diese Verweise sind nicht Ausdruck mangelnder analytischer Trennung, sondern logische Konsequenz des multiperspektivischen Ansatzes dieser Arbeit. Sie deuten darauf hin, dass die untersuchten Gegenstände aus verschiedenen Perspektiven untersucht werden können. Der Schreibstil ist sachlich gehalten und ist das Resultat jahrelanger Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Schreibkulturen. Daraus resultiert ein Unbehagen an manchen philosophischen Texten, die oft nur die Spitze eines Eisberges darstellen, und manchen sozialwissenschaftlichen Texten, die alles beinhalten, was ihr Verfasser weiß. Auch wenn es stimmt, dass das Ästhetische der Philosophie nicht akzidentiell ist, besteht keine Veranlassung, für diese Arbeit eine literarisierende Form zu wählen. 149 Das bedeutet nicht, dass jeder Gedanke bis in die

149 Die postmodernen Diskursanalytiker pflegen ihren Schreibstil natürlich nicht als Selbstzweck, sondern als Ausdruck eines epistemologischen Programms, demzufolge Wahrheit und Realität Produkt und nicht Voraussetzung von Diskursen sind. Dies verlangt eine entsprechende Form der Theoriebildung: »The only viable option for theory, or what is now better written in ›theory‹ is to recognise itself as a form of literature and practice poetics or polemics.« Siehe Ward, Steven C., Reconfiguring Truth. Postmodernism, Science Studies, and the Search for a New Model of Knowledge, Lanham, Md.: Rowman & Littlefield 1996, S. 32. Damit wird zumindest in der Präsentation eine Form der Informationsverarbei77

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

letzte Konsequenz verfolgt werden muss; dies kann gelegentlich dem Leser überlassen werden. Andererseits sollten bestimmte Überlegungen auch klar und unmissverständlich ausgeführt werden. Die Rechtschreibung folgt den z. Zt. geltenden Regeln. Zitate werden dem nicht angepasst, sondern in ihrer vorgefundenen Form übernommen. Den Standards akademischer Qualifikationsarbeiten entsprechend wurde diese Arbeit allein angefertigt, obwohl angesichts des Themas eine kollektive Arbeitsform durchaus angemessen und wünschenswert gewesen wäre. Hier steht die akademische Ausbildung im Widerspruch zur Praxis der akademischen Forschung, in der Forschung oftmals ein kollektiver Prozess ist und in Teams oder Gruppen durchführt wird. Nachdem »Kollektivdissertationen« bereits in der DDR möglich waren, wird die Möglichkeit von Gruppendissertationen nur allmählich in deutschen Promotionsordnungen verankert. Sie sind jedoch noch selten und in der Regel nur in Ausnahmefällen zulässig. Die Arbeit ist das Resultat eines längeren Prozesses, der sich in der Arbeit selbst im Gegensatz zu den formalen Ansprüchen bedauerlicherweise nicht widerspiegelt. Dieser Prozess hat schon lange vor dieser Arbeit begonnen. Die elementaren wissenschaftlichen Techniken und wesentliche Positionen habe ich im Studium er- und kennengelernt. Die Rede vom ›standing on a giants shoulder‹ trifft diesen Sachverhalt nicht ganz, da es natürlich viele Riesen ganz unterschiedlicher Art sind, auf denen man im Lauf der Zeit so selbstverständlich wie unbewusst zu balancieren lernt. 150 Der Prozess der Entstehung dieser Arbeit ist jedoch nicht ganz verloren. Auch wenn nicht alle Schritte gewissenhaft im Sinne einer eigenen Datenerhebung dokumentiert worden sind, wurde doch darauf geachtet, diesen Prozess nicht durch Wegwerfen oder Löschen zu vergessen. Alle handschriftlichen Aufzeichnungen, Gesprächsprotokolle, digitalen Daten (Literatur, Korrespondenzen, Webseiten, täglich separat abgespeicherte Versionen aller angefertigten Texte, etc.) und auch in unregelmäßigen Abständen angefertigte Selbstreflexionen sind erhalten und können auf Wunsch zugänglich gemacht werden. Die konkrete Fragestellung entwickelte sich während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Datenbankprojekt an der Universität Erfurt. Finanziell wurde sie von der Universität Erfurt durch die Gewährung des Christoph-Martin-Wieland-Stipendiums ermöglicht, idetung nahegelegt, die über die betonte Rationalität konventioneller wissenschaftlicher Sprache hinausgeht. 150 Ganz abgesehen von der Problematik, dass es sich bei dieser Metapher wiederum um ein entwicklungsgeschichtliches Modell handelt, das unterschlägt, dass Personen, Disziplinen und Kulturen nicht immer in den Himmel wachsen. 78

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ell durch die assoziierte Mitgliedschaft im Graduiertenkolleg Mediale Historiographien unterstützt, dem ich viele Anregungen zu verdanken habe. Die kritische Auseinandersetzung damit war hilfreich, meine eigenen Standpunkte zu schärfen. So einfach die Rahmenbedingungen darzustellen sind, so schwierig ist es aber, den Prozess zu rekapitulieren. Der ursprüngliche Plan, eine klassische empirische Studie durchzuführen, wurde aufgrund mangelhafter Daten und neuer Einsichten auf der theoretischen Ebene schließlich aufgegeben. Dieser sachlichen Krise folgte auch eine persönliche, die beinahe zum Abbruch des Projektes geführt hätte. Eine körperliche brachte schließlich den engen Zeitplan in Gefahr. Obwohl wahrscheinlich viele Doktoranden ähnliche und andere Krisen erleben, kommen sie in ihren Dissertationen nicht vor. Diese sind immer Erfolgsgeschichten und nur sehr selten wird gewagt, das Scheitern eines Projektes einzugestehen. 151 Scheitern im kleineren Maßstab ist auch Bestandteil dieses Projektes. Zu oft wurde zu viel Zeit vergeudet. Entweder bestand generelle Unklarheit über das weitere Vorgehen oder es wurde unnützes Material gewälzt, ohne das rechtzeitig zu merken. Scheitern dieser Art wird gerne als produktiv betrachtet, jedoch nicht in der Wissenschaft. Ihre großen Monographien sind fast immer das statische Ergebnis linearer Entwicklungsgeschichten. Auch wenn diese Arbeit ebenfalls diesen Eindruck erweckt, so sei dem hinzugefügt, dass sie nur einen Ausschnitt aus einem zirkulären Prozess darstellt, der mit jedem Tag und mit jedem Satz weiter läuft. Dies gilt auch für den Leser. Diese Studie beginnt nicht erst auf der folgenden Seite; wir sind schon mittendrin.

151 Eine positive Ausnahme macht Armin Scholl, der am Ende seiner Dissertation feststellt, dass der von ihm betriebene Aufwand in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen steht, und sein Projekt zumindest teilweise gescheitert ist. Vgl. Scholl, Armin, Die Befragung als Kommunikationssituation. Zur Reaktivität im Forschungsinterview, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 298. Seiner wissenschaftlichen Karriere hat dieses Eingeständnis aber erfreulicherweise nicht geschadet. 79

II. D E R E M P I R I S M U S D E R E M P I R I S C H E N SOZIALFORSCHUNG. TRADITIONEN UND TENDENZEN

In den Lehrbüchern der empirischen Sozialforschung wird ihren wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen in der Regel wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies betrifft insbesondere die Frage nach dem spezifischen Empirismus, der bereits im Namen als Kernelement der Sozialforschung benannt wird. Der Begriff der empirischen Sozialforschung deutet auf eine angenommene Homogenität des Empirismusbegriffs hin. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der jeweils zugrunde gelegte Empirismus kein feststehendes Konzept ist, sondern sich dahinter verschiedene Auslegungen und Konzeptionen verbergen, die sich in unterschiedlichen Methodologien und Methoden niederschlagen. Systematische Reflexionen dieser Fundamente sind jedoch Mangelware. Angesichts der unterschiedlichen Konzeptionen könnte man geneigt sein, von Empirismen im Plural zu sprechen. Im Wesentlichen können drei verschiedene Strömungen identifiziert werden, die in der gegenwärtigen Sozialforschung zum Tragen kommen, sei es in der expliziten wissenschaftstheoretischen Bezugnahme oder in der Methodenpraxis: der Empirismus der Logik, der Empirismus der Differenz und der Empirismus der Sinnlichkeit. Als Empirismus der Logik wird hier jene Strömung bezeichnet, die sich aus der analytischen Philosophie des Wiener Kreises entwickelt hat. Ausgangspunkt ist der von Karl Popper begründete kritische Rationalismus, der bis heute in zahlreichen Darstellungen der empirischen Sozi-

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

alforschung als wissenschaftstheoretischer Bezugspunkt dient. 1 Weiterhin werden zu diesem Empirismus die kritischen Absetzbewegungen von Popper gezählt. Dazu gehören die Arbeiten von Imre Lakatos und Paul Feyerabend, aber auch aktuelle Bestrebungen, alternative Schlussverfahren wie die Abduktion in die wissenschaftliche Logik zu integrieren. Als Empirismus der Differenz werden jene Strömungen bezeichnet, die in den vergangenen Jahrzehnten das autonome Subjekt als letzte Erkenntnisinstanz in Frage gestellt haben. Dies umfasst zum einen die Positionen des französischen Poststrukturalismus, die gegenwärtig in Form der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse methodologisch in die Sozialforschung eingeführt werden. Zum anderen umfasst der Empirismus der Differenz den systemtheoretischen Konstruktivismus, der insbesondere in den deutschen Sozialwissenschaften rezipiert worden ist. Unter Empirismus der Sinnlichkeit werden schließlich jene Positionen zusammengefasst, die sich allmählich von der Problematik des Beobachters und damit vom Primat des Visuellen lösen und einen Empirismus entwickeln, der mehr als nur einen Sinn zur Grundlage wissenschaftlicher Erfahrung erklärt. Die Sinnlichkeit bezieht sich hierbei sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf die Formen der Informationsverarbeitung. Ausgangspunkt der folgenden Analysen ist Michael Gieseckes Unterscheidung der epistemologischen Prämissen von Forschung.2 Er differenziert sie grundsätzlich nach ihren Wahrnehmungsperspektiven, eingenommenen Standpunkten und den untersuchten Objekten. Die Methoden der Sozialforschung können auf diesem Koordinatensystem verortet werden. So nehmen die traditionellen kodierenden Verfahren einen distanzierten Beobachterstandpunkt ein und konzentrieren sich auf die Umweltbeobachtung. Das Erkenntnissubjekt ist der Wissenschaftler: »Es entsubjektiviert sich durch die Übernahme von ausbuchstabierten methodischen Regeln«. 3 Die hermeneutischen Verfahren der qualitativen Sozialforschung streben in ihrem Ziel, die Untersuchungsobjekte zu »verstehen«, die Übernahme deren Standpunkte an und können diese dann aus der Perspektive der Selbstbeobachtung untersuchen. Aus dieser 1

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Vgl. bspw. das sehr erfolgreiche Lehrbuch Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke, Methoden der empirischen Sozialforschung, München/Wien: R. Oldenbourg 2005. Obwohl der Titel einen umfassenden Überblick über die empirische Sozialforschung ankündigt, werden darin in erster Linie quantitative Verfahren vorgestellt. Dem entspricht auch die Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds, in der Beiträge zur deduktiven Forschungslogik hervorgehoben werden. Vgl. Giesecke, Michael, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 297-304. Ebd., S. 302.

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Beschreibung wird bereits ersichtlich, dass nicht nur die expliziten wissenschaftstheoretischen Prämissen die Methoden bestimmen, sondern ebenso Methoden implizite Prämissen enthalten. Vor dem Hintergrund dieser Matrix in Verbindung mit Gieseckes Kommunikationsmodell – Kommunikation als Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung – werden die verschiedenen Formen des Empirismus der gegenwärtigen Sozialforschung anhand des Wechselspiels zwischen wissenschaftstheoretischen Positionen und Methodenpraxis analysiert. Darüber interessiert vor allem die Frage, in welchem Zusammenhang die wissenschaftstheoretischen Prämissen mit den Kommunikationsformen und Medien der Sozialforschung stehen. Welche Art der Kommunikation ermöglichen sie und auf welche Prämissen deuten die tatsächlich genutzten Kommunikationsformen hin? Dabei wird sich zeigen, dass die Konzepte trotz aller Unterschiede zueinander in Beziehung stehen. Sie heben jeweils bestimmte Aspekte hervor, während sie andere vernachlässigen. Allerdings gehen diese Unterschiede nicht soweit, dass unter dem Etikett Empirismus vollkommen unterschiedliche Dinge verstanden werden. Insofern besteht gegenwärtig keine Notwendigkeit, den homogenen Begriff des Empirismus (im Singular) aufzugeben. Vielmehr ist es angesichts der Vielfalt der Angebote notwendig, ihren gemeinsamen Kern herauszuarbeiten und somit das zentrale Leitmotiv der empirischen Sozialforschung auf eine wissenschaftstheoretische Grundlage zu stellen, auf der intra- und interdisziplinäre Diskurse über ihre methodologischen Grundannahmen auch in Zukunft anschlussfähig sind. Die Analyse und der Versuch einer Synthese der strukturellen Gemeinsamkeiten der zeitgenössischen Empirismuskonzeptionen bilden den Abschluss dieses Kapitels.

1 Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik 1.1 Induktionsproblem, Falsifikationismus und Widerspruchsfreiheit Als besonders einflussreich auf die Methodenlehren und Erkenntnistheorien der Sozialwissenschaften hat sich in den vergangen Jahrzehnten der kritische Rationalismus erwiesen. Auf den ersten Blick verwundert seine ungebrochene Attraktivität für die Sozialwissenschaften, da insbesondere die intensiv rezipierten Arbeiten Karl Poppers zunächst an die Natur-

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

wissenschaften adressiert waren. 4 Es drängt sich die Frage auf, worin diese Attraktivität besteht und welche methodischen Konsequenzen im Hinblick auf die Kommunikationsprozesse der Forschung aus ihr folgen. Zur Beantwortung dieser Frage macht es Sinn, Poppers Positionen genauer zu untersuchen. Als besonders erfolgreich haben sich die von ihm formulierten Prinzipien deduktiv-nomologischer Logik erwiesen: die Ablehnung von induktiven Schlüssen, der Falsifikationismus und das Postulat der Widerspruchsfreiheit. Ausgangspunkt von Poppers Überlegungen und Bezugspunkt seiner Wissenschaftstheorie ist ›Wahrheit‹: »Die Wahrheit ist objektiv und absolut.« 5 Der zugrundeliegende Wahrheitsbegriff ist die formal-semantische Konzeption Alfred Tarskis. 6 Dieser bezieht sich nicht auf eine absolute Wahrheit, sondern lediglich auf Aussagen und die Frage, unter welchen Bedingungen eine Aussage in einer gegebenen Sprache wahr ist. Eine solchermaßen auf ihre Logizität reduzierte Wahrheit ist der Wissenschaft übergeordnet und somit auch unabhängig von ihr. Poppers Erkenntnistheorie setzt auf dieser formalen Ebene kein erkennendes Subjekt voraus. Erkenntnis im objektiven Sinn meint für ihn »Probleme, Theorien und Argumente als solche« 7 . Die Untersuchung subjektiver Erkenntnis ist für die Untersuchung wissenschaftlicher Erkenntnis irrelevant, sie trägt nicht zu wissenschaftlicher Erkenntnis bei. So verwundert es nicht, dass für Popper die Psychoanalyse nichts anderes als eine Pseudowissenschaft ist. 8 Die Bindung von Wahrheit an sprachliche und formal-logische Regeln bedeutet aber nicht, dass sie über den Dingen schwebt. Sie ist durchaus materialisierbar. In seinen Beispielen erwähnt 4

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Popper entwickelte seine Wissenschaftstheorie unter dem Eindruck der zeitgenössischen Physik und hier vor allem der Quantentheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die erste Auflage von Die Logik der Forschung aus dem Jahr 1934 trägt noch den Untertitel Zur Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft. Vgl. Popper, Karl Raymund, Logik der Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck 1994. Popper sieht allgemein in den Naturwissenschaften die Wurzeln philosophischer Probleme, vgl. Popper, Karl Raymund, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis (2 Bde.), Tübingen: Mohr 1994, S. 96-140. Popper, Karl Raymund, Vorwort zur vierten Auflage, in: ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg: Hoffmann und Campe 1984, S. VII-IX, hier S. VII. Vgl. Tarski, Alfred, Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, in: Skirbekk, Gunnar (Hrsg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 140-188. Popper, Karl Raymund, Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt, in: ders., Objektive Erkenntnis, S. 109-157, hier S. 112. Das gleiche gilt für den Marxismus. Vgl. Popper, Vermutungen und Widerlegungen, S. 53-55.

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Popper wiederholt Bücher und Bibliotheken als Speicher objektiver Erkenntnisse, sofern sie den gesetzten Regeln folgend formuliert sind. Im Schluss führt Poppers Haltung zur Ablehnung jedweder Aussagen, die auf eine Beobachter-Wahrnehmung Bezug nehmen.

1.1.1 Induktionsproblem Diese Ablehnung spiegelt sich insbesondere in Poppers Lösung des Induktionsproblems, die in der endgültigen Widerlegung der Möglichkeit wahrer, auf Induktion beruhender Schlüsse besteht und sich fast durch sein gesamtes Werk zieht. Die Antwort auf David Humes Frage, ob der Schluss von Einzelfällen auf ein allgemeingültiges Gesetz zulässig sei, fällt bei Popper kategorisch aus und bewegt sich zwischen logischformalen und philosophisch-grundsätzlichen Argumenten: »Aus Angst vor der Metaphysik [...] klammert sich der (induktivistisch orientierte) Empirist möglichst fest an die unmittelbaren Daten der Erfahrung«. 9 Die Idee, induktiv schließen zu wollen, resultiert aus der Tatsache der fehlenden Abgrenzung der Wissenschaft zur Metaphysik. Popper begründet seine Ablehnung des Induktionsprinzips logisch damit, dass eine empirische Begründung nicht möglich sei, da dazu ein Induktionsprinzip höherer Ordnung eingeführt werden muss und dies zu einem infiniten Regress führt. 10 Folglich lässt Popper nur das deduktive Schließen als legitime Vorgehensweise der Wissenschaft gelten. Wissenschaftliche Tätigkeit besteht ihm zufolge aus zwei Bestandteilen: der Findung und der Überprüfung von Hypothesen. Die Findung einer Hypothese, den »Einfall«, verweist Popper in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie und erklärt die Erkenntnistheorie lediglich für den Umgang mit ihr für zuständig. Wie eine Hypothese zustande kommt, ist einer logischen Rekonstruktion weder zugänglich noch ist diese Frage erkenntnistheoretisch relevant, da sie oft ein »irrationales Moment« enthalte oder das Produkt einer »schöpferischen Institution« sei. 11 Erkenntnistheoretisch von Bedeutung ist lediglich die Überprüfung dieser Hypothesen. Popper, Karl Raymund, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Tübingen: Mohr 1979 (aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930 – 1933), S. 288. 10 Popper, Logik der Forschung, S. 4f. 11 Ebd., S. 5. Die Unterscheidung zwischen Hypothesen und dem Prozess ihrer Generierung erinnert an Husserls Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung. Sie besagt, dass mit physikalischen Mitteln Dinge hergestellt werden können, die keine physikalischen Eigenschaften besitzen. Diese Unterscheidung dient mittlerweile als Ausgangspunkt für einen phänomenologischen Medienbegriff, demzufolge es Medien sind, die diese Unterscheidung ermöglichen. Vgl. Wiesing, Lambert, Artifizielle Präsenz. Stu9

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DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Die Überprüfung von Hypothesen erfolgt jedoch wiederum auf der Grundlage von Erfahrung. Während im Induktionismus Erfahrung der Ursprung von Erkenntnis ist, ist sie im Deduktionismus lediglich ihr Gradmesser. Dies bedeutet eine negative Bestimmung der empirischen Wissenschaften. Empirische Daten, gleich auf welchem Wege sie gewonnen wurden, können nicht der Bezugspunkt der empirischen Wissenschaften sein, sondern lediglich ihre Argumente. Da sie nur in Bezug auf die zu prüfenden Hypothesen von Belang sind, wird der Empirie jegliche heuristische Kraft abgesprochen. Der Ausschluss der Hypothesenbildung aus dem Bereich wissenschaftlicher Logik erlaubt es dann, den Prozess der Wissenschaft auf eine rein logische, rationale Informationsverarbeitung zu reduzieren. Der Forderung nach Objektivität meint Popper durch Entsubjektivierung gerecht werden zu können. Entsubjektivierung meint die Auslagerung der Wissenschaft bzw. der Erkenntnis aus den Subjekten, damit deren Subjektivität so nicht mit der Erkenntnis interferieren kann. Der Wissenschaftler ist aus dieser Perspektive keine Persönlichkeit, sondern eine Datenverarbeitungsmaschine, die einem Set formaler Regeln und Programme folgt. Allein aus den formalen Regeln des Schließens folgt die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft. Das durch Poppers Relativierung in den Hintergrund getretene Subjekt wird durch die Betonung des logischen Schließens am Ende aber wieder zurückgeholt. Indem logische Operationen als bestimmendes Charakteristikum der Wissenschaft beschrieben werden, wird das – wenn auch austauschbare – solitäre Forschersubjekt ins Zentrum der Wissenschaft gerückt. Die deduktive Logik bewirkt eine generelle Nachrangigkeit von Beobachtungen. Selbstbeobachtung ist demzufolge gar nicht, Umweltbeobachtung nur sekundär möglich und legitim. Indem die Bezugspunkte Wahrheit und objektive Erkenntnis sein sollen, findet mit der implizierten Formalisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Auslagerung auch des Beobachterstandpunktes statt. In der Tat wird wissenschaftliche Forschung von Popper so konzipiert, als handele es sich um eine Selbstbeobachtung der wissenschaftlichen Hypothesen, die sich selbst mit den empirischen Befunden der Umweltbeobachtung vergleichen. Dazu nutzen sie die formalen, deduktiven Programme der Informationsverarbeitung der Forscher. In ihrer Formalisierung wird die Vernunft externalisiert und ermöglicht so die geforderte subjektunabhängige Objektivität.

dien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 149-162. Siehe dazu auch Fußnote 92 in Kapitel I. Mein Dank für diesen Hinweis gilt Marcus Burkhardt, Gießen. 86

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Diese Bestimmung der Wissenschaft bedeutet nicht nur eine rigorose Engführung dessen, was als Wissenschaft betrachtet werden kann, sondern auch eine erhebliche Verkürzung der Reichweite der Wissenschaftstheorie. Es entfällt die gesamte praktische Seite der Forschung als Gegenstand wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Überlegungen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die so entworfene Wissenschaftlichkeit zeitlos ist. Die Entscheidung über den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist keine prozessuale Entscheidung oder das Ergebnis eines Prozesses: Logik kennt keine Zeit. Aus dieser Perspektive kann der Prozess der Forschung als sekundäres Merkmal der Wissenschaft betrachtet werden. Allein vor dem Hintergrund von Poppers Ansichten zum Induktionsproblem erscheint jeder Empirismus im Gegensatz zum kritischen Rationalismus zu stehen. Popper vertritt jedoch einen gemäßigten Positivismus. Auch wenn man meinen könnte, der Ausschluss der Hypothesenbildung aus der Erkenntnistheorie bedeute bei der Auswahl der Methodik zu ihrer Generierung völlige Freiheit, so müssen sich auch diese Methoden der deduktiven Logik unterordnen. Aus Theorien abgeleitete Annahmen oder »Prognosen« müssen sich der Prüfung durch »empirische Anwendung« stellen.12 Insofern ist die Benennung von Poppers Programm irreführend. 13 Die Irritation folgt aus dem Ungleichgewicht zwischen der Skepsis gegenüber der Empirie als induktivem Erkenntnisinstrument und der Empirie als argumentativer Basis der logischen Prüfung von Theorien und Hypothesen. 14 Dieses Ungleichgewicht resultiert selbst aus einer Wendung des Erfahrungsbegriffs. Während bei Hume Erfahrung noch auf unterschiedliche Sinneseindrücke zurückgeht, spielen sie für Popper eine untergeordnete Rolle. Erfahrung bindet er nicht mehr unmittelbar an Subjekte, sondern abstrahiert sie als Prinzip der Distanz. Empirische Überprüfung ist vergleichende distanzierte Beobachtung, die idealerweise ohne Beobachter auskommt. 12 Popper, Logik der Forschung, S. 7f. 13 »Der Sache nach erscheint der kritische Rationalismus allerdings eher als Konsequenz aus einem gescheiterten und daher modifizierten empiristischen Programms denn als Fortsetzung des klassischen Rationalismus [...].« Engfer, Hans-Jürgen, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn: Schöningh 1996, S. 18f. 14 Dieses Ungleichgewicht hat Popper wohl auch den Positivismusvorwurf im Positivismusstreit eingebracht. Zum Positivismusstreit siehe auch den Abschnitt Der Positivismusstreit und die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung in Fallstudie I: Validität und Validierung. 87

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1.1.2 Falsifikationismus Während die Ablehnung des Induktionsprinzips an sich schon das Resultat einer strengen Prüfung durch die kritische Vernunft ist, operationalisiert der Falsifikationismus 15 diese Prüfung auf der Ebene der Forschung. Dieser leitet sich aus der deduktiven Logik ab und besagt, dass Hypothesen oder Theorien nie bewiesen (verifiziert), sondern bestenfalls widerlegt (falsifiziert) werden können. Ihre Qualität, d.h. ihre Nähe zur Wahrheit, richtet sich nach ihrer Belastbarkeit bzw. ob sie sich bewähren in dem Sinne, dass sie (noch) nicht falsifiziert sind. Das Kriterium der Falsifizierbarkeit ist eine logische Eigenschaft einer Aussage, welches nicht impliziert, dass eine Falsifikation praktisch durchführbar sein muss. Jedoch muss eine Aussage so formuliert sein, dass auch ihr Gegenteil daraus ableitbar ist, sie muss sich – zumindest hypothetisch – widerlegen lassen. Falsifikation meint den Nachweis eines Widerspruches, durch den eine Hypothese widerlegt und somit falsch ist. Damit orientiert sich der Falsifikationismus prinzipiell wiederum an der Referenz Wahrheit. Hypothesen stehen dabei in einem abgeschwächten Verhältnis zur Wahrheit, da sie nie wahr sind. Darin liegt ihr wissenschaftlicher Wert. Diese Abschwächung trägt womöglich zur Attraktivität von Poppers Entwurf für die Sozialwissenschaften bei und macht ihn für sie anschlussfähig. Der darin enthaltene Dualismus ›wahr und unwahr bzw. falsch‹ legt es nahe, den wissenschaftlichen Prozess aus dieser Perspektive analog zu einem Gerichtsverfahren zu verstehen. Die zu prüfende Hypothese übernimmt darin die Funktion des Angeklagten. Die Empirie bzw. die empirischen Verfahren der Datenerhebung entsprechen der Indiziensammlung. Diese kann nur in Abhängigkeit von der Hypothese erfolgen. Der Forscher erfüllt nicht, wie man meinen könnte, die Funktion des Anklägers, dessen Ziel die Widerlegung der Hypothese ist. Da sich in der Praxis der Forschung die Wissenschaft im Gegenteil als Sammlung von Argumenten für eine Theorie/Hypothese darstellt, übernimmt er vielmehr die Funktion des advocatus diaboli. Die Prüfung einer Hypothese erfolgt nur scheinbar im Hinblick auf ihre Widerlegung. Richter in diesem Planspiel ist die Logik. Im Rahmen dieser Metaphorik bezieht sich der Dualismus ›wahr oder falsch‹ auf ›Schuld‹. Der Forscher als advocatus diaboli hat seine Schuldigkeit dann getan, wenn er sich auf diese Art und Weise an der Wahrheitssuche beteiligt hat. 16 Sympathisch 15 Popper selbst benutzt diesen Begriff nicht und spricht von Falsifizierbarkeit und Falsifikation. Vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 54. 16 So gesehen können aus Poppers Wissenschaftstheorie auch strenge ethische Maßstäbe abgeleitet werden. 88

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an diesem Bild ist gewiss die Tatsache, dass mit den Hypothesen zugleich die dahinter stehenden Theorien bzw. Gesetze (denn Gesetzmäßigkeit ist das Ziel von Theorien in Poppers Sinn) auf der Anklagebank sitzen und gegebenenfalls zu Irrtümern erklärt werden können. So lange dies aber nicht möglich ist, gilt auch hier in dubio pro reo. In Poppers Verständnis sind Vorläufigkeit und Zweifel wichtige Tugenden, um den Anforderungen der Wissenschaft gerecht zu werden. Die Erfahrung, die Empirie, kommt bei Popper also erst im Zuge dieses Verfahrens zum Tragen. Ihr kommt insofern eine tragende Bedeutung zu, als dass zwar nicht über Wahrheit, aber doch über ihr Gegenteil nur auf der Grundlage von Erfahrung entscheidbar ist. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Wesen der Erfahrung, die in einem solchen Empirismus wirksam werden kann und darf. Die Falsifikation ist dafür entscheidend, denn sie »eröffnet uns Aussichten in eine neue Welt von Erfahrungen« 17 . Diese neue Welt von Erfahrungen unterscheidet sich aber grundlegend vom Erfahrungsbegriff des herkömmlichen Empirismus. »Die »Erfahrung« erscheint in dieser Auffassung als eine bestimmte Methode der Auszeichnung eines theoretischen Systems; nicht allein durch ihre logische Form ist die empirische Wissenschaft gekennzeichnet, sondern darüber hinaus durch eine bestimmte Methode. [...] Die Erkenntnislogik, die diese Methode, das Verfahren der Auszeichnung der empirischen Wissenschaft zu untersuchen hat, kann als eine Theorie der empirischen Methode bezeichnet werden – als die Theorie dessen, was wir »Erfahrung« nennen.« 18

Nicht umsonst setzt Popper ›Erfahrung‹ in Anführungszeichen: Erfahrung selbst wird hier zum theoretischen Konstrukt. Nachdem Popper bereits die Erkenntnis aus dem Subjekt ausgelagert hat, lässt er ihr nun auch die Erfahrung folgen. Damit liegen beide wieder auf dem gleichen Niveau und können in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Der Standpunkt der Erfahrung und damit der Beobachtung ist ein außenstehender. Er ist distanziert, sowohl vom Gegenstand als auch vom Forscher. Und nur indem diese Distanz auch zum Forscher eingehalten wird, kann die Erfahrung, können die Wahrnehmungsmodalitäten auch selbst vernunftgesteuert sein und klaren formalen Regeln folgen. Dieser idealisierte Standpunkt hat methodologische Konsequenzen und lässt sich in zahlreichen Verfahren der praktischen Sozialforschung identifizieren: In der quantitativen Sozialforschung erheben Forscher selbst keine Daten, sondern lassen Daten erheben. Datenerhebung und Auswertung werden standardisiert und erfolgen somit von einheitlich 17 Popper, Logik der Forschung, S. 49. 18 Ebd., S. 14 (kursiv im Original). 89

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konstruierten Beobachterstandpunkten aus. Dieser Standpunkt ist in der Regel der Standpunkt der Statistik. Sie ist eindeutig und erfüllt durch ihre formalen Regeln Poppers Anspruch an die Wahrheitsbedingungen wissenschaftlicher Aussagen. Es verwundert nicht, wenn im Zuge der Gerichtsförmigkeit von Poppers Argumentation auch die konkreten Methoden der empirischen Sozialforschung bisweilen solche Züge annehmen. Zwar lässt sich kein kausaler Zusammenhang zwischen Poppers Theorie und einer möglichen Entstehung der empirischen Wissenschaften aus der Praxis der Inquisition oder der Beichte herstellen, 19 jedoch sind die Ähnlichkeiten frappierend. Der Falsifikationismus erscheint als Verwaltungstechnik der Wahrheit. Ohne Zweifel genießen Hypothesen testende Verfahren in der Sozialforschung einen hohen Stellenwert. Analog zu Poppers Position legen auch sie weniger Wert auf die Frage nach der Generierung dieser Hypothesen, als auf die korrekte Art ihrer Überprüfung. Allerdings besteht ein Unterschied zwischen Hypothesen in den Naturwissenschaften, auf die Popper sich bezieht, und in den Sozialwissenschaften. Während erstere tatsächlich in und an einer äußeren Umwelt überprüft werden können, ist dies aufgrund der höheren Selbstähnlichkeit zwischen Forschern und Beforschten in den Sozialwissenschaften nicht der Fall.20

1.1.3 Widerspruchsfreiheit Das dritte Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Aussage leitet sich wiederum aus dem zuvor Gesagten ab. Es besagt, dass Theorien in sich widerspruchsfrei oder, in Poppers Terminologie, widerspruchslos sein müssen, um nicht als falsch bzw. unwahr abgelehnt werden zu müssen. Popper bezeichnet es als »oberste axiomatische Grundforderung«, der jedes theoretische System genügen muss. 21 Die Begründung dafür liegt in der Tatsache, dass aus einem widerspruchsvollen System jede beliebige Folgerung abgeleitet werden könnte. Poppers Begriff bezieht sich zunächst auf die innere Konsistenz von Theorien und nicht auf ihre äußere, d.h. ihre Vereinbarkeit mit anderen Theorien. Formalwissen-

19 Zur These über den historischen Zusammenhang von Inquisition und modernen Sozialwissenschaften siehe auch den Abschnitt Historiographien der Sozialwissenschaften im einleitenden Kapitel sowie Fußnote 82. 20 Zur Selbstähnlichkeit in den Sozialwissenschaften siehe auch den Abschnitt Selbstähnlichkeit und Emergenz – die ontologische Dimension in Kapitel II. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 21 Popper, Logik der Forschung, S. 59. 90

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schaftliche Theorien sind also schon dann wahr, wenn sie formal oder logisch wahr sind. Für empirische Theorien ist das eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung (siehe Falsifikation). Dies ist aber ein nachgeordnetes Problem, da sie zunächst die formalen Bedingungen bezüglich der Wahrheit erfüllen müssen. Hier liegt der Kern von Poppers dualistischem Entweder-oder-Denken. Referenziert auf einen logischen Wahrheitsbegriff, der mit der Unterscheidung wahr-falsch operiert, können Theorien ebenfalls nur auf dieser Grundlage Anspruch auf Geltung erheben. Der Preis und die Voraussetzung dafür ist der Ausschluss von Theorien oder ganzen Disziplinen, die nicht auf der Grundlage der formalisierbaren Logik operieren. Gleich der Forderung nach der Einheit der Physik dürfen sich verschiedene Theorien nicht widersprechen. Darüber hinaus wird verlangt, dass Theorien immer axiomatisiert sein müssen. Nicht-axiomatische Theorien oder Disziplinen fallen aus dieser Perspektive nicht unter die Rubrik Wissenschaft. Folglich ist es auch nicht zulässig, Standpunkte außerhalb der axiomatisierten Theorien einzunehmen bzw. axiomatische und nicht-axiomatische Theorien miteinander zu kombinieren. Damit bezieht sich die Forderung nach Widerspruchsfreiheit auch auf die äußere Konsistenz von Theorien, und zwar derart, dass die Wissenschaft als Ganze eine innere Konsistenz ausweisen soll. Diese Hierarchisierung bzw. der Ausschluss von Theorien und Disziplinen aus dem Gebäude der Wissenschaft hängt mit Poppers grundlegendem Wissenschaftsverständnis zusammen. »Der Begriff ›empirische Wissenschaft‹ ist kein Begriff der empirischen Wissenschaft. [...] indem man fragt, ob es eine ›Wissenschaft‹ gibt, konstituiert man bereits ein System von Begriffen, die einem Gebiet angehören, das wir wohl mit der ›Philosophie‹ identifizieren müssen.« 22

Zu sagen, was wissenschaftlich ist, ist selbst nicht mehr wissenschaftlich, sondern immer schon philosophisch. Dies bedeutet, dass jede Rede von Wissenschaft nur unter dem Dach der Philosophie stattfinden kann; Wissenschaftstheorie ist notwendigerweise Philosophie und kommt vor der Wissenschaft. Diese Hierarchisierung ist eine Ordnung der Wissenschaften nach den in ihnen zulässigen Wahrnehmungsmodalitäten und Formen der Informationsverarbeitung. Wissenschaftlich ist nur, was den Regeln der Rationalität und der unidirektionalen Linearität genügt, die sich aus den formal-logischen Schlussverfahren ergibt.

22 Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 385. 91

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Folgt man dieser Argumentation, stellt sich Wissenschaft als eng umgrenztes und von der Philosophie abhängiges Feld dar. Um die somit verstoßenen Theorien wieder in den Rang der Wissenschaftlichkeit zu erheben, also alternative Entscheidungen darüber zu treffen, was Wissenschaft ist und was nicht, ist es notwendig, alternative Entscheidungskriterien zu entwickeln. Wie im Folgenden gezeigt wird, gelingt dies jedoch auch Poppers Kritikern nicht, die dem gleichen Wissenschaftsverständnis wie Popper verhaftet sind. 23

1.1.4 Die Folgen des kritischen Rationalismus für die Sozialforschung Zusammengefasst findet sich bei Popper eine klare Bevorzugung der distanzierten Beobachtung als primäres, wenn nicht gar einzig zulässiges Medium des Erkenntnisgewinns. Da sich diese Form der Beobachtung in erster Linie auf die formalen Schlussverfahren bezieht, ist es nicht zwingend, daraus entsprechende methodologische Konsequenzen abzuleiten. Dies ist in der am kritischen Rationalismus orientierten empirischen Sozialforschung aber der Fall. Indem die Formalisierung in Form der Statistik in den Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses gestellt wird, ist es unerlässlich, alle anderen Instrumente der Forschung daraufhin abzustimmen. Die Vorteile und die Attraktivität dieser wissenschaftstheoretischen Positionen für die Sozialwissenschaften liegen auf der Hand. Angesichts der Komplexität sozialer Gegenstände, die nicht annähernd so reduziert werden kann wie in den Naturwissenschaften, stellt die Arbeit mit Hypothesen, deren schwacher Status zwar in der Forschung reduziert, aber nicht überwunden werden kann, ein probates Mittel dar, diese Komplexität zu bewältigen. Das Prinzip der distanzierten Beobachtung, das in der Praxis durch den vermeintlich neutralen Blick der Statistik bedient wird, bietet zwei Vorteile: Zum einen suggeriert es die Möglichkeit, einen eindeutigen – widerspruchsfreien – Standpunkt konstruieren zu können. Zum anderen befreit es die Forscher von den Problemen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sie ihren Untersuchungsgegenständen immer ähnlich sind und deshalb eine vollkommene Distanzierung unmöglich ist. So verwundert es nicht, dass die am kritischen Rationalismus orientierte Sozialforschung das Prinzip der distanzierten Beobachtung anscheinend so interpretiert, dass kommunikative Interaktionen schon auf der Ebene der – in diesem Fall normativen – Wissen-

23 Siehe dazu den Abschnitt Theoretischer Pluralismus und methodischer Anarchismus in diesem Kapitel. 92

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schaftstheorie ausgeschlossen werden. Kommunikative Methoden, die eine direkte Teilnahme der Forscher voraussetzen, werden marginalisiert, da sie den genannten Prämissen widersprechen. Es ist anzunehmen, dass die Attraktivität von Poppers Ansatz für die Sozialforschung genau darin besteht: Sie verbietet Forschern, sich den Unwägbarkeiten und Widersprüchen kommunikativer Interaktionen mit den Beforschten zu stellen. Und die dauerhafte Vorläufigkeit von Hypothesen entbindet sie von der Verpflichtung, konkrete Standpunkte einzunehmen. Da sich die praktische Sozialforschung aber nicht wie die Philosophie Poppers vor ihren eigenen Niederungen verstecken kann, werden in der Praxis die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit offensichtlich; nämlich genau dann, wenn die distanzierte Betrachtung den Bedingungen interaktiver Kommunikation unterworfen wird und daraus die Subdisziplin Reaktivitätsforschung resultiert. 24 Der Begriff der distanzierten Beobachtung legt es metaphorisch verstanden nahe, als primären Sinn der Sozialforschung den visuellen Sinn anzunehmen. Diese Annahme wird allerdings weniger durch den Begriff der Beobachtung gestützt als durch den der Distanz. Die Sinne der Distanz sind das Sehen und das Hören. Ihr Gegenteil ist das Tasten, das Schmecken, das Riechen und das Fühlen. In der Tat hat sich das Tasten – zumindest im deutschen Sprachraum – viel stärker in die Erkenntnismetaphorik eingeschrieben als das Sehen. ›Begreifen‹ meint viel mehr das Verstehen von Zusammenhängen, Relationen und Sachverhalten als das bloße ›Beobachten‹. Die Beobachtungsmetaphorik impliziert jedoch – zumindest bei Popper – einen neutraleren Standpunkt als die des Tastens und Begreifens, die auf Subjektivität und Aktivität verweisen.

1.2 Theoretischer Pluralismus und methodischer Anarchismus 1.2.1 Kritik am apriorischen Wissenschaftsverständnis Die Kritik an Poppers Position entzündet sich vor allem an der Starrheit und Begrenztheit des von ihm vertretenen Wissenschaftsverständnisses. Der Mathematiker Imre Lakatos verfolgt stattdessen die Entwicklung anderer Rationalitätsmaßstäbe, die den tatsächlichen Forschungsprozessen Rechnung tragen. Lakatos bezeichnet Poppers Variante als »naiven methodologischen Falsifikationismus« und stellt diesem sein Konzept

24 Vgl. dazu den Abschnitt Störungen als unerwünschte Effekte in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung, 93

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eines »raffinierten methodologischen Falsifikationismus« gegenüber. 25 Diesem zufolge soll eine Theorie nicht schon dann abgelehnt werden, wenn sie einmalig falsifiziert worden ist, sondern erst dann, wenn eine bessere Theorie zur Verfügung steht. Lakatos entmystifiziert damit die Zeitlosigkeit der rationalen Sofortentscheidungen, wie sie auf der Basis von Poppers Logik möglich sein müssen, und lässt damit den Forschungsprozess in die Wissenschaftstheorie zurückkehren. Diese Argumentation hängt damit zusammen, was Lakatos »wissenschaftliche Forschungsprogramme« nennt. Darin wird die starke Stellung einzelner Theorien bei Popper zugunsten von Theoriereihen relativiert. »Die Grundeinheit der Bewertung ist nicht eine isolierte Theorie oder eine Konjunktion von Theorien, sondern vielmehr ein ›Forschungsprogramm‹ mit einem konventionell akzeptierten (und daher vorläufig ›unwiderlegbaren‹) ›harten Kern‹ und einer ›positiven Heuristik‹, die Probleme definiert, die Konstruktion eines Gürtels von Hilfshypothesen skizziert, Anomalien voraussieht und sie siegreich in Beispiele verwandelt – alles nach einem vorgefaßten Plan.« 26

Ein einfacher Widerspruch rechtfertigt noch nicht die Ablehnung eines ganzen Programms. Erst wenn sich die heuristische Wirkung eines Programms erschöpft hat, »wenn sein theoretisches Wachstum hinter seinem empirischen Wachstum zurückbleibt«27 , kann dieses verworfen werden. Lakatos formuliert das Konzept der Forschungsprogramme u.a. als Kategorie wissenschaftsgeschichtlicher Betrachtungen und argumentiert dabei auf einer Matrix wissenschaftlichen Fortschritts. 28 Auch wenn damit die tatsächlichen Abläufe von Forschungsprozessen in die wissenschaftstheoretische Beschreibung integriert werden sollen, bleibt Lakatos dennoch Poppers Rationalitätsdogma verhaftet. Aus einer wissenschaftshistoriographischen Perspektive kann sein Konzept auch als unterstützende Argumentation zu Popper gelesen werden, indem er näm-

25 Vgl. Lakatos, Imre, Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders./Musgrave, Alan (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig: Vieweg 1974, S. 89-190. 26 Lakatos, Imre, Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen, in: Diederich, Werner (Hrsg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 55-119, hier S. 69. Der Titel deutet bereits an, dass von einer Einheit der Wissenschaft ausgegangen und Wissenschaft nicht im Plural gedacht wird. 27 Ebd., S. 71f. 28 Hintergrund war Thomas Samuel Kuhns Kritik an Popper. 94

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lich die Prämierung rationalistischer Denkweisen in die Wissenschaftsgeschichte hineinkonstruiert. Dennoch ist Lakatos insofern ein starker Kritiker von Popper, indem er dessen starkes apriorisches Wissenschaftsverständnis ablehnt: »Nach Popper braucht man die konstitutionelle Autorität eines unveränderlichen Gesetzesrechts (niedergelegt in seinem Abgrenzungskriterium), um zwischen guter und schlechter Wissenschaft unterscheiden zu können. [...] Ist es nicht Hybris zu verlangen, den fortgeschrittensten Wissenschaften eine apriorische Wissenschaft aufzuzwingen?« 29

Die Frage ist, ob die Hybris in der Verordnung von Autoritäten besteht oder in der Verordnung einer einzigen und unumstößlichen Autorität. Lakatos gibt sich in der Hinsicht liberaler: »In der Tat enthält die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme ein pluralistisches System von Autoritäten, teils, weil die Weisheit der wissenschaftlichen Geschworenen und ihre Kasuistik vom Gesetzesrecht der Philosophen nicht voll artikuliert worden ist und nicht voll artikuliert werden kann, teils auch weil das Gesetzesrecht der Philosophen gelegentlich Recht behalten kann, wenn das Urteil der Wissenschaftler versagt.« 30

Der Unterschied zwischen Lakatos’ und Poppers Position ist gradueller, nicht prinzipieller Art. Auch wenn er einige von Poppers Grundsätzen relativiert, bleibt der rationalistische Kern in seinem Wissenschaftsverständnis erhalten. Fraglich bleibt allerdings, ob und wie dadurch auch Poppers Erfahrungsbegriff und das Verhältnis zur Theorie einer Revision unterzogen werden. So ist auch zweifelhaft, ob auf der Grundlage von Lakatos’ Methodologie heuristische Empfehlungen für die wissenschaftliche Praxis begründet werden können. 31 Lakatos’ vorsichtige Kritik und seine Idee eines Pluralismus in den Wissenschaften nimmt Paul Feyerabend dankbar auf, um sie anschließend zu radikalisieren.

29 Lakatos, Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen, S. 112f. 30 Ebd., S. 113. 31 Vgl. Raub, Werner/Koppelberg, Dirk, Bewertungen und Empfehlungen in der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Jg. 9, Nr. 1 (1978), S. 134148, hier S. 147. 95

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1.2.2 Die Relativierung des Geltungsanspruches Feyerabends Popperkritik entzündet sich zunächst an dessen übermächtigen Bezugspunkt: »Was ist denn so Großes an der Wahrheit?« 32 Sein Ziel ist letztendlich eine Loslösung von Poppers rationalistischem Programm. Originellerweise setzen seine Schlussfolgerungen und Empfehlungen, nämlich die Entwicklung eines theoretischen Pluralismus und eines methodischen Anarchismus, zunächst eine vollständige Abkehr von jedem Empirismus voraus bzw., »jeden Rest eines empirischen »Kerns« zu beseitigen, wie er in Poppers Sichtweise enthalten ist« 33 . Feyerabend entfaltet seine generelle Empirismuskritik anhand historischer und zeitgenössischer Empirismuskonzeptionen, die ihm durchaus widersprüchlich erscheinen. Er bestreitet prinzipiell die historisch behauptete mögliche Theorieunabhängigkeit von Beobachtungen und vertritt im Anschluss an Popper das, was er die »pragmatische Theorie der Beobachtung« nennt (im Gegensatz zu einer semantischen Theorie der Beobachtung). Dieser Theorie zufolge sind Beobachtungsaussagen semantisch nicht verschieden von anderen kontingenten Aussagen. 34 Ausgehend vom Postulat der Theoriegeladenheit der Beobachtung geht Feyerabend aber über Popper hinaus, indem er im radikalen Empirismus eine monistische Doktrin identifiziert: »Sie verlangt, daß zu jeder Zeit nur eine einzige Klasse von untereinander konsistenten Theorien benutzt wird. Der gleichzeitige Gebrauch von einander sich widersprechenden Theorien oder, wie wir auch sagen können, ein theoretischer Pluralismus ist verboten.« 35

Radikal ist ein Empirismus dann, wenn er verlangt, dass Theorien bis zu ihrer Widerlegung beibehalten werden, wenn also wissenschaftstheoretisch das Prinzip der Falsifikation als Regelungsmechanismus fungiert. Der Empirismus ist aber nur deswegen monistisch, da er sich immer noch auf die Annahme stützt, Beobachtungen enthielten einen theorieunabhängigen sachlichen Kern. Hier sieht Feyerabend einen zentralen 32 Feyerabend, Paul, Eine Lanze für Aristoteles. Bemerkungen zum Postulat der Gehaltvermehrung, in: Radnitzky, Gerard/Andersson, Gunnar (Hrsg.), Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, Tübingen: Mohr 1980, S. 157-198, hier S. 191. 33 Feyerabend, Paul, Probleme des Empirismus I, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002, S. 22. 34 Vgl. Feyerabend, Paul, Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie der Erklärung, der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte, Braunschweig: Vieweg 1981, S. 152f. 35 Feyerabend, Probleme des Empirismus I, S. 13 (kursiv im Original). 96

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Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des empiristischen Programms. Während bei Popper also der Beobachtung noch eine konkrete Funktion im wissenschaftlichen Prozess zukommt, verlässt Feyerabend diese Position, um die Wissenschaft ganz in den Bereich der Theorien zu verlagern. Wissenschaftlicher Fortschritt ist aber nur möglich unter der Bedingung unterschiedlicher theoretischer Standpunkte. 36 Darauf gründet er seine Forderung nach einem theoretischen Pluralismus. Dieser Pluralismus ist zugleich Erkenntnismodell und methodische Aufforderung. Theorien schließen sich demzufolge nicht gegenseitig aus, sondern stehen miteinander im Wettbewerb. Dieser Wettbewerb ist nicht befristet, sondern permanent: »Dieser Theorienpluralismus darf nicht als eine Vorstufe von Erkenntnis betrachtet werden, die irgendwann in der Zukunft durch die »eine wahre Theorie« ersetzt wird. Der theoretische Pluralismus ist, so wird unterstellt, ein wesentlicher Grundzug aller Erkenntnis, die beansprucht, objektiv zu sein.« 37

Es stellt sich die Frage, was Feyerabend mit ›Objektivität‹ meint. Es wird der Eindruck erweckt, dass Objektivität durch theoretische Polyperspektivität erreicht werden kann. Es bleibt jedoch unklar, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Perspektiven zueinander stehen sollen. Mit der Forderung nach theoretischem Pluralismus ist auch die Kritik an Poppers Postulat nach Widerspruchsfreiheit verbunden. Wenn Theorien nicht mit einer äußeren, beobachtbaren Welt in Widerspruch stehen können, können dies nur die Theorien untereinander. »Sie [die Bedingung der Widerspruchsfreiheit; S.Z.] eliminiert eine Theorie nicht deshalb, weil sie mit den Tatsachen nicht übereinstimmt, sondern weil sie mit einer anderen Theorie nicht übereinstimmt, mit einer Theorie, deren bestätigende Instanzen sie überdies teilt. Diese Bedingung macht damit den noch ungeprüften Teil dieser Theorie zu einem Maß der Gültigkeit.« 38

Widerspruchsfreiheit erscheint aus dieser Perspektive als Behinderung wissenschaftlichen Fortschritts, der als Matrix auch von Feyerabends Argumentation fungiert. Indem Feyerabend der empirischen Beobachtung und Wahrnehmung nun gar keine Bedeutung mehr zumisst, betreibt er eine Radikalisierung

36 So beschreibt Feyerabend etwa die Formulierung der Newton’schen Gesetze nicht als Resultat empirischer Beobachtungen, sondern als Resultat neuer theoretischer Standpunkte. 37 Feyerabend, Probleme des Empirismus I, S. 14 (kursiv im Original). 38 Ebd., S. 60 (kursiv im Original). 97

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von Poppers Position. Beobachtung fällt zugunsten einer reinen Theoriezentriertheit überhaupt aus dem Gegenstandsbereich der Wissenschaftstheorie heraus. Diese Radikalisierung dient aber auch dazu, mit Popper selbst zu brechen, und zwar in dem Sinne, dass mit rein rationalen Kriterien in der Wissenschaft nicht gearbeitet werden kann.39 Die Ablehnung eines solchen Fixpunktes wird mit der Begrenztheit und Historizität des Prinzips Rationalität im Sinne einer »Übereinstimmung mit gewissen allgemeinen Regeln und Maßstäben«40 begründet. Diese liegt darin, dass die Voraussetzungen des kritischen Rationalismus gemessen an seinen eigenen Maßstäben nicht haltbar sind, da diese Maßstäbe nicht falsifizierbar sind. Allerdings führt dies bei Feyerabend nicht unbedingt zu einer gänzlich anderen Wissenschaft. Zwar verweist er an verschiedenen Stellen auf die Möglichkeit alternativer Informationsverarbeitungsformen: »Die Popularität des Empirismus läßt erwarten, daß diese Lehre in einer fest umrissenen Form entwickelt worden ist und daß es Argumente gibt, die verständlich machen, weshalb Beobachtungen beispielsweise Voraussagen, die sich auf Träume stützen, vorgezogen werden sollten.« 41

Der Vorwurf mangelnder Begründung und die eigene Skepsis gegenüber »Träumen« drückt sich auch in der Antwort aus, die Feyerabend auf die Frage gibt, wie man die Voraussetzungen der eigenen Wahrnehmung ergründen könnte. »Die Antwort ist klar. Man kann das nicht von innen her auffinden. Man braucht einen äußeren Maßstab der Kritik, ein System alternativer Annahmen, oder, da diese Annahmen sehr allgemein sind und gewissermaßen eine ganze Gegenwelt konstituieren: man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften

39 Bisweilen wird eine generelle Logik der Steigerung in Feyerabends Kritik an Popper festgestellt. Helmut Spinner sieht im Theorienpluralismus eine Steigerung des kritischen Rationalismus und im methodologischen Anarchismus eine Steigerung des methodologischen Monismus. Vgl. Spinner, Helmut F., Gegen Ohne Für Vernunft, Wissenschaft, Demokratie, etc... Ein Versuch, Feyerabends Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst zu verstehen, in: Duerr, Hans Peter (Hrsg.), Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends (2 Bde.), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980/81, Bd. 1, S. 35-109, insbesondere S. 47-52. 40 Feyerabend, Paul, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 13. 41 Feyerabend, Probleme des Empirismus I, S. 7f (kursiv im Original). 98

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der wirklichen Welt zu erkennen, in der wir zu leben glauben (und die in Wirklichkeit vielleicht nur eine andere Traumwelt ist).« 42

Jene Traumwelt ist aber nicht die der Psychoanalyse, sondern vielmehr jene des theoretischen Pluralismus. Das Gegenteil oder eine Alternative mitzudenken, ist wesentlicher Bestandteil des Theorienpluralismus. Im Grunde genommen handelt es sich folglich nur um eine Spielart des Falsifikationismus. Das Gegenteil, der Widerspruch ist hier allerdings kein Ausschlusskriterium, sondern konstitutives Moment der Forschung, in der der Forscher weiter als advocatus diaboli fungiert. Die Skepsis gegenüber alternativen Beobachtungsformen kommt schließlich in Feyerabends Überlegungen zur Selbstbeobachtung zum Tragen. 43 Er warnt vor einer Gleichsetzung von der Erscheinungsweise (»stechender Schmerz«) eines Gegenstandes und seinem ontologischen Status. Daraus folgert er, dass die Beschreibung innerer Erlebnisse gehaltsarm bzw. gänzlich uninformativ ist. Damit wird deutlich, dass Feyerabend Selbstbeobachtungen in wissenschaftlichen Zusammenhängen keine große Bedeutung zumisst. Indem er sie selbst in dieser Form als Umwelt betrachtet, wird klar, welche Form der Beobachtung auch in seiner Erkenntnistheorie prämiert wird: eben jene Umweltbeobachtung. Auch wenn Feyerabend die Wissenschaft nur als eine Möglichkeit – etwa neben Kunst und Religion – betrachtet, Erkenntnis zu erlangen, so bleibt er doch bei einer Trennung dieser Bereiche. 44 Alternative Formen und Medien des Erkenntnisgewinns, die diese Trennung relativieren würden, sieht Feyerabend für die Wissenschaften nicht vor. Auch wenn es Feyerabend nicht gelingt, den Rationalismus zu überwinden, formuliert er alternative methodische Empfehlungen für die Forschung, auch um den Widerspruch zwischen dem Anspruch der Wissenschaftstheorie und der Praxis der Forschung zu relativieren. Seine Kritik bezieht sich dabei auf die von ihm sogenannte »Trennbarkeitsannahme«, der zufolge der Weg vom Ergebnis abgetrennt werden kann, ohne dabei das Resultat zu verlieren. 45 Darin verbirgt sich die Kritik an der Zeitlosigkeit der Erkenntnis, wie sie der kritische Rationalismus impliziert, und führt zur Vorstellung von Erkenntnis als Prozess. Erst die

42 Feyerabend, Paul, Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 37 (kursiv im Original). 43 Feyerabend, Probleme des Empirismus I, S. 92-102. 44 Vgl. Feyerabend, Paul, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 76-78. 45 Vgl. Feyerabend, Paul, Der Realismus und die Geschichtlichkeit der Erkenntnis, in: ders., Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht, Wien: Passagen 2005, S. 145-159, hier S. 146. 99

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Unterschlagung des Weges kann zur Annahme wissenschaftlicher Aprioris führen, nach denen sich die Wissenschaft richten soll. Feyerabends Lehre aus der Geschichte der Wissenschaften ist jenes berühmte »anything goes« 46 , das aber nur als Lehre aus der Geschichte und nicht als Empfehlung für die Praxis gelten soll. 47 Dennoch resultieren seine Überlegungen in der Forderung nach einem Methodenanarchismus. Diesen begründet er allerdings nicht inhaltlich, sondern formal und historisch. Grundsätzlich müssten alle Methoden zulässig sein, da keine Methode existiert, mit der die Angemessenheit einer Methode bewertet werden könnte. Außerdem zeige die Geschichte, dass wissenschaftlicher Fortschritt in der Regel dann erzielt wurde, wenn Forscher sich eben nicht an die formell geltenden Regeln gehalten, sondern diese übertreten haben. Einer der wenigen konkreten Vorschläge Feyerabends ist das kontrainduktive Vorgehen. Diese besteht darin, Hypothesen aufzustellen und zu prüfen, die gut bestätigten Theorien widersprechen.48 Dieses Beispiel zeigt allerdings erneut, dass sich Feyerabends Anarchismus wortgewaltiger gibt als er ist, insofern er sich damit immer noch im Rahmen der deduktiven Logik bewegt. Dennoch gelingt es ihm, die Wissenschaftstheorie aus der philosophischen Theoriebildung heraus in die wissenschaftliche Praxis zu verlagern: »[...] es gibt keine allgemeine Theorie der Wissenschaften, es gibt nur den Prozeß der Forschung und Faustregeln, die uns helfen, ihn weiterzuführen, die aber ständig auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft werden müssen.« 49

Lakatos und Feyerabend halten gleichermaßen am Empirismus der Logik fest, da sie ihre Kritik nur in Abhängigkeit von Popper bzw. durch negative Abgrenzung (»nicht deduktiv«) von ihm formulieren können. Dies liegt einerseits in Poppers Konzeption einer homogenen Einheitswissenschaft begründet, die selbst eine Logik des Ein- bzw. Ausschlusses impliziert. Andererseits folgen die Kritiker auch der philosophischlogischen Argumentationsstruktur Poppers und wählen keine alternative Weise der erkenntnistheoretischen Reflexion. Dies erklärt auch die wenig ausgeprägte Resonanz der Kritik innerhalb der Sozialwissenschaften; sie stellt keine substanzielle Alternative zu Poppers Position dar, sondern weicht nur graduell von ihr ab. So kann in weiten Teilen der Sozialforschung weiterhin eine starke Orientierung an der deduktiven For46 Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 32. 47 Vgl. ebd., S. 381f. sowie die Aussage »Ich habe nicht die Absicht, eine Menge von Regeln durch eine andere zu ersetzen [...]«, ebd., S. 37. 48 Vgl. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 33-38. 49 Ebd., S. 380. 100

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schungslogik beobachtet werden. Pluralismus ist der Forschung zwar nicht fremd. Im Vergleich der theoretischen Fassung dieses Pluralismus mit der Forschungspraxis können aber auch die Beschränkungen dieses Konzepts aufgezeigt werden. Bei Lakatos wird Pluralismus als belebende Konkurrenz in einer als Wettbewerb gedachten Wissenschaft verstanden. Bei Feyerabend wird dieses Prinzip über die Grenzen der Wissenschaft ausgedehnt und zu einem ihrer Grundpfeiler erklärt. Es bleibt allerdings völlig unklar, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zueinander gesetzt werden sollen. Dies spiegelt sich folglich auch in der Diskussion über die vermeintliche Komplementarität qualitativer und quantitativer Methoden wider. Zur Integration der unterschiedlichen Ansätze wird manchmal das zeitliche Aufeinanderfolgen etwa von Hypothesengenerierung mit qualitativen Methoden und deren Überprüfung mit quantitativen Methoden empfohlen. 50 Dies ist allerdings nur in streng linear gedachten Forschungsprozessen möglich. Ein Beispiel für die Kombination unterschiedlicher methodischer Verfahren ist die sogenannte Triangulation. Auch hier bleibt allerdings unklar, welchen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Regeln die Einnahme der unterschiedlichen methodischen Standpunkte und ihre Interpolation folgen sollen. 51 Der theoretische Pluralismus verdeckt schließlich die Tatsache, dass er selbst auf der Grundlage eines erkenntnistheoretischen Monismus operiert. Dies liegt zum einen in der erwähnten negativen Abgrenzung und zum anderen darin, dass die Begründung dafür selbst nur nichtpluralistisch erfolgen kann. Der erkenntnistheoretische Monismus dieses Pluralismus zeigt sich auch darin, dass der solitäre Forscher weiterhin als alleiniges Erkenntnissubjekt und damit als letzte Erkenntnisinstanz vorstellt wird. Korrespondierend dazu fungiert die distanzierte Umweltbeobachtung als primäres Medium des Erkenntnisgewinns. Auch wenn Feyerabends Argumentation nicht frei von Widersprüchen ist und sich in Poppers eng gestecktem Rahmen bewegt, kann er dennoch zeigen, dass Wissenschafts- und Erkenntnistheorie keine Reservate der Philosophie sein müssen. Insofern markieren Feyerabends Arbeiten selbst die Scheidelinie zwischen Wissenschaftstheorie und -praxis.

50 Dieser Vorschlag findet sich erstmals in Barton, Alan H./Lazarsfeld, Paul Felix, Some Functions of Qualitative Analysis in Social Research, in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet (Frankfurter Beiträge zur Soziologie 1), Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 321-36. 51 Zur Triangulation siehe auch den Abschnitt Triangulation in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 101

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1.3 Abduktion als tertium datur sozialwissenschaftlicher Logik Auch in der qualitativen Sozialforschung findet sich die Bezugnahme auf den kritischen Rationalismus und damit auf den Empirismus der Logik. Insofern argumentieren auch sie gegenabhängig. Beispielhaft dafür stehen Emanzipationsversuche, die Abduktion als primären Modus logischen Schließens hervorheben. Als dritte Möglichkeit der logischen Schlussfolgerung erfährt sie seit einiger Zeit in der qualitativ ausgerichteten Sozialforschung einige Popularität und hat mittlerweile Eingang in Lehrbücher gefunden.52 Die Diskussion zur Abduktion orientiert sich am Konzept von Charles Sanders Pierce. Demnach beziehen sich Deduktion und Induktion nur auf bereits vorhandenes Wissen. Deduktives Schließen dient der Formulierung von speziellen Voraussagen aufgrund vorhandenen Wissens, während induktives Schließen dieses in Form einer Verallgemeinerung entgrenzt. Für das abduktive Schließen wird in Anspruch genommen, als einzige Form logischen Schließens kreativ zu sein. Nur durch Abduktion kann wirklich Neues gefunden werden. 53 Diese Form des Schließens besteht in der Zusammenstellung neuer Merkmalskombinationen, für die noch keine Regeln bestehen, anhand derer man sie überprüfen könnte. Damit wohnt der Abduktion ein Moment der Überraschung inne, das zur Suche nach einer neuen Regel führt. An deren Ende steht die Formulierung einer Hypothese, die dann wiederum deduktiv überprüft werden kann. Jo Reichertz erläutert die Abduktion mit Rückgriff auf Peirce’ Wahrnehmungstheorie. In dieser wird Wahrnehmung als ein mehrstufiger Prozess dargestellt. 54 Ausgangspunkt sind Empfindungen (feelings) und Sinneseindrücke (sensations). Empfindungen sind völlig unstrukturiert. Der Sinneseindruck führt ein sinnliches Unterscheidungswissen ein, etwa über Farbe, Härte oder Größe. Darauf folgt die Bildung eines Wahrnehmungsinhalts (percept). Als Reaktion auf feelings und sensations strukturiert das percept die Wahrnehmung nach Figuren und Gestalten weiter. Der Wahrnehmungsinhalt ist Reichertz’ Darstellung zufolge also 52 Vgl. bspw. Reichertz, Jo, Abduktion, Deduktion und Induktion in der qualitativen Sozialforschung, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 276-286. 53 Vgl. Reichertz, Jo, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 43f. 54 Die folgende Darstellung orientiert sich an Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, S. 44-52. An dieser Stelle genügt eine stark verkürzte schematische Darstellung; eine ausführliche Diskussion ist nicht notwendig. 102

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zugleich Inhalt als auch Strukturgeber. Das in den percepts enthaltene Vorwissen ist dabei noch vorsprachlich. Erst im Wahrnehmungsurteil (perceptual judgement) erfolgt die Versprachlichung der Wahrnehmungsinhalte: »Urteile sind Texte, Inhalte dagegen Bilder.« 55 Abduktion bezeichnet nun den Weg vom Wahrnehmungsinhalt zum Wahrnehmungsurteil. Er führt über den Abgleich der Merkmale des percepts mit bereits bekannten und typisierten percepts, für die Peirce das Kunstwort percipuum bildet. Ist kein bekanntes vorhanden, mit dem sich der aktuelle Wahrnehmungsinhalt vergleichen lässt, wird ein neues percipuum als neue typische Merkmalskombinationen gebildet. Durch diesen abduktiven Schluss ist etwas Neues entstanden. Das Konzept der Abduktion beinhaltet wichtige Aspekte für unsere Fragestellung. Zunächst bezieht sich die Abduktion wie alle anderen logischen Operationen auf einzelne handelnde Subjekte, da Logik immer individuelle Informationsverarbeitung ist. Diese Form der Logik entspricht aber keiner streng formalen Logik, die deshalb stark erweitert werden muss. Abduktive Schlüsse können nicht mehr als Produkte der Vernunft im Sinne bewusster Handlungen betrachtet werden. Es handelt sich dabei um eine Anthropologisierung der Logik. Diese ist nicht formalisierbar, d.h. es können keine Regeln aufgestellt werden, auf deren Grundlage abduktive Schlüsse herbeigeführt werden. Mit dem Konzept der Abduktion gelingt es, den Bereich der Hypothesenbildung, der bei Popper noch vorwissenschaftlich ist, in den Bereich der wissenschaftlichen Logik zu integrieren. Bedingung dafür ist eine Hierarchisierung der menschlichen Informationsverarbeitung, wie sie im Prinzip jedem auf Logik gründenden Empirismus innewohnt. Dies lässt sich an Peirce’ Wahrnehmungstheorie ablesen. 56 Sinneseindrücke und Empfindungen sind hier elementarer Bestandteil der Wahrnehmung, bilden aber gemeinsam die unterste Ebene des gesamten Wahrnehmungsprozesses, an dessen Spitze das versprachlichte perceptual judgement steht. Informationsverarbeitung ist bei Peirce stets kognitive Informationsverarbeitung. 57 55 Ebd., S. 45. 56 Reichertz betont, dass Peirce’ Wahrnehmungstheorie nicht unproblematisch und keine notwendige Erklärung für die Begründung der Abduktion ist. Vgl. Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, S. 51. Für unseren Zweck ist sie jedoch hervorragend geeignet. 57 Die verwendeten Begriffe ›feelings‹ and ›sensations‹ beziehen sich auf Zustände, nicht etwa auf Emotionen: »[...] by a feeling I mean an instance of that sort of element of consciousness which is all that it is positively, in itself, regardless of anything else. [...] A feeling is a state, which is in its entirety in every moment of time as long as it endures.« »[...] meaning by sensation the initiation of a state of feeling.« Peirce, Charles Sanders, The 103

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Wie bereits angedeutet stellt die Abduktion kein alternatives Verfahren zu Induktion und Deduktion dar. Vielmehr ist sie bei Pierce eingebettet in einen Forschungsprozess, der sich als zeitliche Abfolge der verschiedenen logischen Schlussverfahren darstellt. Darin bildet die Abduktion die erste Stufe, die mit der Formulierung von Hypothesen endet. Aus diesen werden deduktiv Voraussagen abgeleitet, die dann mit Hilfe einer induktiven Suche nach Fakten verifiziert werden sollen. Gewissheit über die Gültigkeit abduktiv gewonnener Hypothesen ist dabei jedoch nicht zu erreichen. Reichertz ist nun der Meinung, dass der Unterschied zwischen Verifikations- und Falsifikationslogik im Gegensatz zwischen optimistischer und skeptischer Haltung liegt. Im Prinzip gehe es um eine von beiden Seiten nicht erreichbare Annäherung an die Wahrheit. Entweder soll die Sicherung der Erkenntnisse durch Akkumulation positiver Ergebnisse erreicht werden oder durch den Versuch, ihre Fehlerhaftigkeit aufzuzeigen.58 Als Beispiel für die Integration der verschiedenen Schlussverfahren wird in jüngerer Zeit die Grounded Theory angeführt. Ihre Grundidee ist die Generierung von Ideen aus vorgefundenen Daten. 59 Dass ihre Begründer Barney Glaser und Anselm Strauss ihr Verfahren in erster Linie als induktiv beschreiben, wird mittlerweile als »induktionistisches Missverständnis« bezeichnet. 60 Jörg Strübing zufolge handelt es sich bei der Grounded Theory im Wesentlichen um ein abduktives Verfahren. Insbesondere in den Arbeiten von Strauss identifiziert er einen starken Bezug zur pragmatistischen Forschungslogik. Dieser zufolge gestaltet sich Erkenntnis als ein »iterativ-zyklische[r] Prozess experimenteller Erprobung, in dem aus qualitativen Induktionen ebenso wie aus Abduktionen Ad-hoc-Hypothesen erarbeitet werden, die dann in einem nächsten ProCollected Papers Vol. I: Principles of Philosophy, Bristol: Thoemmes 1998 (zuerst 1931, geschrieben 1907 bzw. 1905), S. 152 bzw. S. 167. 58 Vgl. Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, S. 9698. 59 Der Datenbegriff der Grounded Theory ist sehr weit gefasst. Bspw. setzen sich Glaser und Strauss vehement dafür ein, Bibliotheken als Quellen sozialwissenschaftlicher Daten zu betrachten. Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm Leonard, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern: Huber 1998, S. 167-189. Zum Datenbegriff der Grounded Theory siehe auch den Abschnitt Semantisch-pragmatische Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 60 Vgl. Kelle, Udo, Empirisch begründete Theoriebildung. Zur Logik und Methodologie interpretativer Sozialforschung, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1994, S. 274 sowie Strübing, Jörg, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 49. 104

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zessschritt in einer deduktiven Bewegung wiederum auf Daten bezogen werden.« 61 Dieses Oszillieren zwischen den verschiedenen logischen Perspektiven bezeichnet Strübing insgesamt als abduktive Forschungspraxis. Sie impliziert immer alle drei Verfahren logischen Schließens. Reichertz dagegen schränkt die Bedeutung abduktiven Schließens ein, indem er sie als Ausnahme innerhalb der hermeneutischen Verfahren der qualitativen Sozialforschung darstellt. Er unterscheidet in der Praxis der Forschung zwischen »Normalmodell« und »Exklusivmodell«. Beim Normalmodell gleichen die vorliegenden Daten bereits bekannten Daten, so dass eine induktive Analyse angebracht ist. Im Ausnahmefall des Exklusivmodells passen die Daten nicht zu bekannten Modellen, so dass neue Regeln gebildet werden müssen. 62 Diese Einschränkung ist erstaunlich, insofern damit das logische Schließen lediglich auf die Datenauswertung bezogen wird und nicht, wie man denken könnte, Bestandteil des gesamten Forschungsprozesses ist. Zusammengefasst bedeutet die Berufung auf Abduktion, dass damit ein heuristisches Verfahren in das System wissenschaftlicher Logik integriert wird. Voraussetzung dafür ist, dass das Subjekt als Medium des eigentlichen Erkenntnisgewinns gegenüber dem kritischen Rationalismus rehabilitiert wird. Jedoch kann das nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich dabei um eine gegenabhängige Argumentation handelt. Der Kern der Wissenschaftlichkeit und des Empirismus der Sozialforschung bleiben auch aus dieser Perspektive logische Schlussverfahren. Dies impliziert immer, dass der Forscher als solitäres Erkenntnissubjekt modelliert wird. Gemeinsamkeit besteht weiterhin darin, dass Wissenschaft in allen Fällen als rationale Informationsverarbeitung verstanden wird. Allerdings muss der Begriff der Abduktion in dieser Hinsicht mit einem Fragezeichen versehen werden, da bisher nicht klar ist, welcher Natur das kreative Moment ist, das zu solch einer Form der Schlussfolgerung beiträgt. Hier zeigt sich die Gefährlichkeit der Einordnung dessen, was unter Abduktion aufgefasst wird, in das System der Logik. Dementsprechend vorsichtig sind die Angebote zur Erklärung des Ursprungs abduktiver Schlussfolgerungen. Strübing konstatiert zwar, dass eine nicht näher beschriebene Kreativität eine wesentliche Rolle spielt. Das Risiko dieser Feststellung sieht er aber dadurch relativiert, dass auch das so generierte Wissen einer systematischen Überprüfung unterzogen werden muss. 63 Reichertz bietet als Quellen der Abduktion neben Logik und Daten auch Intuition an. Allerdings erscheint auch ihm eine solche Erklä-

61 Strübing, Grounded Theory, S. 46. 62 Vgl. Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, S. 99. 63 Strübing, Grounded Theory, S. 55. 105

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rung zu riskant, so dass er als primäre Quelle der Abduktion Daten in Verbindung mit nicht näher erläuterten »subbewussten Körperprozessen« im Gehirn bevorzugt. 64 Das eigentliche Medium des abduktiven Erkenntnisgewinns bleibt bislang ein blinder Fleck der wissenschaftstheoretischen Reflexion.

1.4 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel logischer Schlussverfahren Unterschiede zwischen den Empirismen der Logik bestehen hinsichtlich der durch die verschiedenen Schlussverfahren umschriebenen Beobachtungsrelationen. Die deduktive Logik prämiert die Umweltbeobachtung, die induktive Logik prämiert Selbstbeobachtung und die abduktive Logik prämiert die Beobachtung der Beziehung zwischen Umwelt- und Selbstbeobachtung. Abduktion kommt erst dann ins Spiel, wenn ein Widerspruch zwischen den eigenen unbewussten Programmen und den vorgefundenen Daten besteht. Insofern kann die Grounded Theory ansatzweise als Wechsel zwischen den verschiedenen Beobachtungsperspektiven verstanden werden. Ansatzweise deshalb, weil es sich bei der Grounded Theory vor allem um eine Strategie der Datenauswertung handelt. Alle anderen Phasen des Forschungsprozesses werden damit nicht erfasst. Ansatzweise auch deshalb, da durch die in der Auswertung verwendeten kodierenden Strategien wiederum versucht wird, objektivierende Standpunkte einzunehmen.65 Dies deutet darauf hin, dass der von Strübing beschriebene iterative Prozess doch eine Richtung hat. Es handelt sich trotz der darin enthaltenen Rekursivität um eine Bewegung von der Selbstbeobachtung hin zur distanzierten Umweltbeobachtung, von induktiven und abduktiven Schlüssen zur deduktiven Überprüfung, von der Eingebundenheit in die Forschungssituation zur distanzierenden Kodierung des Materials. Noch deutlicher werden die Perspektivenwechsel in der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Sie impliziert immer die Einnahme verschiedener Standpunkte. Diese reichen von Be64 Vgl. Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, S. 7376. 65 Zwischen Glaser und Strauss bestehen wesentliche Differenzen hinsichtlich ihrer Ansätze zur Kodierung von Datenmaterial. Vgl. Kelle, Udo, »Emergence« vs. »Forcing« of Empirical Data? A Crucial Problem of »Grounded Theory« Reconsidered [52 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 6, Nr. 2, Art. 27 (2005), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0502275. Zu den kodierenden Strategien in den unterschiedlichen Traditionen der Sozialforschung siehe auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie II: Zählen und Erzählen. 106

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obachtung über teilnehmende Beobachtung und beobachtende Teilnahme bis hin zur Teilnahme. Letztlich können diese Standpunkte als Beobachtungsperspektiven, und zwar als Umwelt- und Selbstbeobachtung, beschrieben werden. Reflektieren Forscher ihre eigene Rolle im Feld, kommt die Beobachtung des Verhältnisses zwischen Selbst- und Umweltbeobachtung hinzu. Die Forscher sind also permanent darauf angewiesen, zwischen den Standpunkten zu oszillieren. Diese Situation ist als »schizophrenic activity« 66 beschrieben worden, da die Forscher im Prinzip nicht so sehr an ihrem Feld teilnehmen bzw. teilhaben sollen, dass eine objektivierende Beobachtung nicht mehr möglich ist. Die zu starke Identifikation mit einer übernommenen Rolle (»going native«) wird als Gefahr empfunden. Als schizophren kann diese Haltung aber nur dann beschrieben werden, wenn man annimmt, dass man sich für eine Perspektive entscheiden muss. Die Grundidee der teilnehmenden Beobachtung ist m.E. aber vielmehr das Oszillieren zwischen den verschiedenen Standpunkten. Letztlich deutet die Betonung von ›Beobachtung‹ in der teilnehmenden Beobachtung (und eben nicht ›beobachtende Teilnahme‹) darauf hin, dass die Grundoperation dieses Verfahrens auch hier eine Rationalisierung des Sehens ist. Es ist also anzunehmen, dass jegliche Form von Sozialforschung in verschiedenen Phasen auf unterschiedliche logische Schlussverfahren zurückgreift. Die Reduktion auf ein einziges Verfahren kann dieses zwar hervorheben, nicht aber die anderen gänzlich unterdrücken. Die Diskussion über Abduktion hat einen Beitrag dazu geleistet, die Frontstellung zwischen Deduktion und Induktion zu relativieren und auch auf der Ebene der Logik die Prozesshaftigkeit von Forschung einzuführen. Strenge Deduktionisten wird dies allerdings wenig beeindrucken. Aufgabe der Wissenschaftstheorie kann aber nicht die Hierarchisierung der verschiedenen Schlussverfahren sein. Sie muss ihre jeweiligen Leistungsbereiche klar machen, damit diese systematisch genutzt werden können. Die wissenschaftstheoretische Argumentation auf der Grundlage von Logik bedeutet jedoch unausweichlich die Beschränkung der Wissenschaftstheorie auf Fragen der individuellen Informationsverarbeitung und der Beobachterperspektive.

66 Merriam, Sharan B., Qualitative research and case study applications in education, San Francisco.: Jossey-Bass Publishers 1998, S. 103, zitiert nach Kawulich, Barbara B., Participant Observation as a Data Collection Method [81 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 6, Nr. 2, Art. 43 (2005), Absatz 23, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0502430. 107

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2 Abschiede vom Subjekt: Empirismus der Differenz Abseits der Subjektzentrierung moderner Wissenschafts- und Erkenntnistheorien haben in den vergangenen Jahrzehnten jene als »postmodern« bezeichneten theoretischen Positionen Popularität – und je nach Disziplin paradigmatische Wirkung – erlangt, in deren Zentrum die Infragestellung des autonomen Subjektes als letzte Erkenntnisinstanz steht. In der Absage oder Relativierung des Subjektes haben sonst so unterschiedliche theoretische Konzepte wie Dekonstruktion, Poststrukturalismus, Systemtheorie und radikaler Konstruktivismus ihren gemeinsamen Fluchtpunkt. Während im Empirismus der Logik Subjekte notwendigerweise als Beobachter fungieren, stellen die postmodernen Positionen die Konstruiertheit aller erkenntnistheoretischen Positionen fest und ziehen sich stattdessen auf die Beobachtung von Beobachtungen zurück. Das Subjekt selbst wird in seiner Konstruiertheit beschrieben und damit seiner vormals sicher geglaubten Position eines – wenn auch nicht objektiven – Beobachters enthoben. Dabei werden in den verschiedenen Theorien unterschiedliche Standpunkte bezogen, die unterschiedliche wissenschaftliche Fragestellungen, Gegenstände und Methoden nach sich ziehen. Dabei werden gar Zweifel laut, ob Wissenschaft überhaupt noch als empirisch verstanden werden kann oder ob sich Wissenschaft und ihre Theorie nicht bereits in einer »post-empiristischen« Situation befinden. 67 Abseits dieser rhetorischen Infragestellung kann festgestellt werden, dass die unterschiedlichen Ansätze über einen gemeinsamen empirischen Kern verfügen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich weniger für gegebene Objekte interessieren als für die Art und Weise ihrer Konstitution. Objekte wie Subjekte erweisen sich als Schnittstellen unterschiedlicher Netzwerke, von denen sie erst hervorgebracht werden. Analog folgt daraus ein methodisches Vorgehen, das Relationierungen und Unterscheidungen in den Vordergrund stellt. Indem die Subjekte selbst als Produkte von Relationen und Netzwerken beschrieben werden, die ihrerseits bei ihren Beobachtungen relationieren und differenzieren, die Unterscheidungen treffen und sich selbst in Beziehungen zueinander setzen, kann in unserem Zusammenhang von einem Empirismus der Differenz gesprochen werden. 67 Reckwitz, Andreas, Die Krise der Repräsentation und das reflexive Kontingenzbewusstsein. Zu den Konsequenzen der post-empiristischen Wissenschaftstheorien für die Identität der Sozialwissenschaften, in: Bonacker, Thorsten (Hrsg.), Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten, Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 85-103. 108

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Während die Systemtheorie in den Sozialwissenschaften seit langem als eines der zentralen theoretischen Modelle fungiert und der radikale Konstruktivismus insbesondere in der Kommunikationswissenschaft Aufmerksamkeit erfahren hat, haben diese theoretischen Perspektiven zunächst nur in sehr begrenztem Maße Einfluss auf die Methoden der Sozialforschung ausgeübt. Dies ändert sich allmählich, seitdem Überlegungen angestellt werden, wie die Forschung selbst konstruktivistisch gestaltet werden kann. 68 Darüber hinaus besteht in der Sozialforschung die Tendenz, nun auch im Rückgriff auf poststrukturalistische Theorien das methodische Instrumentarium weiter zu entwickeln. In diesem Fall fungieren die Methoden als Vehikel des Theorieimports. Gemeint sind konkret die an Foucault angelehnten Diskursanalysen. Im Folgenden werden die erkenntnistheoretischen Implikationen der erwähnten Theorieansätze für die sich daran orientierende empirische Sozialforschung diskutiert und mit den tatsächlichen Methoden abgeglichen. Dabei soll gezeigt werden, dass mit ›Diskursanalyse‹ in der Sozialforschung unterschiedliche Forschungspraktiken gemeint und darüber hinaus unterschiedliche erkenntnistheoretische Positionen verbunden sind.

2.1 Empirismus in (Post-)Strukturalismus und Dekonstruktion 2.1.1 Subjekte als Effekte In der französischen Philosophie finden sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Argumentationslinien, die zur Abkehr von der Annahme eines autonomen Subjekts führen. Während ihnen die Überzeugung, dass das Subjekt fremdbestimmt bzw. nur scheinbar eine Einheit ist, gemeinsam ist, unterscheiden sich die Begründungsweisen erheblich. Auf der einen Seite finden sich Beiträge, die aus einer sprachtheoretischen Perspektive argumentieren, dass die Gewährleistung von Subjektivität durch sprachlichen Sinn nicht aufrecht zu erhalten ist. Auf der anderen Seite wird die ideologische und strukturelle Determiniertheit der Individuen hervorgehoben, die die Vorstellung autonom handelnder Subjekte ausschließt. Für die erste Position steht Jacques Derrida, der die klassische Zuordnung von Signifikaten und Signifikanten in Frage stellt, demnach es sich dabei um feststehende Verhältnisse von Ausdrücken und ihrer Bedeutung handelt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die von ihm

68 Vgl. Moser, Sybille (Hrsg.), Konstruktivistisch Forschen. Methodologie, Methoden, Beispiele, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 109

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für falsch gehaltene These, der zufolge Schrift bzw. geschriebene Zeichen als bloße Verschriftlichung von Lautzeichen aufgefasst werden können. Dem stellt er die Vorstellung gegenüber, dass es einen feststehenden und identifizierbaren Sinn nicht geben kann, sondern das Verhältnis zwischen Signifikaten und Signifikanten vielmehr willkürlich ist. Die Bestimmung des Sinns ist vielmehr ein Effekt von Differenzen: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme [...] das Signifikat fungiert darin seit jeher als Signifikant.« 69 Sinn existiert dabei nie als feste Idee, sondern immer nur als Sinnverschiebung, für die Derrida den Neologismus ›différance‹ einführt. 70 »Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt.« 71

Dies führt schließlich zu einer Umkehrung des Verhältnisses von Signifikat und Signifikant. Nicht das Bezeichnete, sondern das Bezeichnende wird ursprünglich. Bedeutung konstituiert sich nur noch im gegenseitigen Referieren der Signifikanten. In der Beobachtung dieses Vorgangs vollzieht sich jedoch selbst wieder différance. Sie ist somit unhintergehbar. Wortbedeutungen sind damit ebenso wenig begrifflich fixierbar wie die Bedeutung ganzer Texte. Diese Stärkung des Signifikanten bedeutet eine Schwächung logisch-begrifflichen Denkens, dem damit seine feste begriffliche Grundlage entzogen wird. Für Derrida liegt in der Annahme der Sinnpräsenz die Voraussetzung der Subjektphilosophie. Mit der Kritik der Sinnpräsenz entzieht er der Subjektivität somit ihre Grundlage. Dem Subjekt entspricht keine Substanz mehr, sondern es wird selbst als Effekt jenes freien Spiels der Signifikanten, der différance, gedeutet: »Es kommt also dazu, daß die Gegenwart – und besonders das Bewußtsein, das Beisichsein des Bewußtseins – nicht mehr als die absolute Matrix69 Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 17. 70 Von frz. différer = verschieben. Phonetisch ist ›différance‹ identisch mit ›différence‹. Der Begriff stellt also in sich schon den Versuch dar, Sprache als System von Differenzen festzuhalten. Vgl. Münker, Stefan/Roesler, Alexander, Poststrukturalismus, Stuttgart: Metzler 2000, S. 46. Différance wird im Deutschen bisweilen mit ›Differänz‹ übersetzt, was die Idee dahinter jedoch nicht ganz trifft. 71 Derrida, Jacques, Die Différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 29-52, hier S. 37 (kursiv im Original). 110

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form des Seins, sondern als eine ›Bestimmung‹ und ein ›Effekt‹ gesetzt wird.« 72 Unter diesen Voraussetzungen sind Dichotomien wie die zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr aufrecht zu erhalten. Derridas theoretischer Position entspricht methodisch die Dekonstruktion, die er in der Auseinandersetzung mit philosophischen und literarischen Texten entwickelt hat. Da die Erforschung des Sinns nun nicht mehr Ziel der Lektüre sein kann, richtet sich diese vielmehr auf die rhetorischen Gesten, die Metaphoriken und letztendlich auf die Struktur. Texte sollen von innen, von ihren eigenen Voraussetzungen her nachvollzogen werden: »Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen [...].« 73 Bei Foucault stellt sich der Abschied vom Subjekt in der Hinsicht entgegengesetzt dar, dass Subjektivierung die Folge einer massiven Sinnpräsenz und nicht seines Verfalls ist. 74 Das Subjekt ist bei Foucault zuallererst das Produkt von Machtverhältnissen. Es ist nicht länger Souverän, sondern »unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter« 75 . Dadurch wird das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt umkehrbar. In seiner Geschichte der Klinik zeigt Foucault die Verschiebung, die Subjekte zu Objekten macht: »Im Spital ist der Kranke Subjekt seiner Krankheit, d. h. es handelt sich um einen Fall; in der Klinik geht es nur um ein Beispiel: hier ist der Kranke ein Akzidens seiner Krankheit, das vorübergehende Objekt, dessen sie sich bemächtigt hat.«76 Foucault verknüpft die modernen Subjektivierungsstrategien eng mit den modernen Sozialwissenschaften, deren Bedeutung er vor allem in der Bereitstellung von Normalisierungs- und Disziplinartechnologien77 sieht. Eine besondere Rolle im Prozess der Individualisierung spielt die Medizin, die sich als erste Wissenschaft vom Individuum präsentiert. 78 72 Derrida, Die Différance, S. 42. 73 Derrida, Grammatologie, S. 45. 74 Vgl. Zima, Peter Vaclaw, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Francke 2000, S. 193. 75 Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 377. 76 Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, S. 75 (kursiv im Original). 77 Die Analyse der Disziplinartechnologien liefert er insbesondere in Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 78 »Aus der Einfügung des Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden, die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert. Ganz allgemein ist vielleicht die Erfahrung der Individualität in der modernen Kultur an die Erfahrung des Todes gebunden.« Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 207f. 111

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Die Konstituierung des modernen Individuums ist aber nicht nur das Resultat bestimmter Machtkonstellationen bzw. diskursiver Formationen, sondern auch dessen, was Foucault Technologien des Selbst nennt. Damit sind Handlungsstrategien und Gestaltungsmöglichkeiten gemeint, mit denen Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern »sich selbst transformieren«79 können bzw. durch die sich das Subjekt selbst konstituiert. Darüber hinaus ist das Subjekt auch das Resultat eines bestimmten Erkenntnismodus/Empirismus. Gemeint sind Vernunft und rationale Erkenntnis in der Tradition Descartes’: »Descartes entwickelt nun jene Hypothese, die sämtliche sinnliche Grundlagen der Erkenntnis zugrunde richten und nur die intellektuellen Grundlagen der Gewißheit freilegen wird.«80 Die Vernunft ist total, jedoch zugleich willkürlich, da sie Physis und Psyche des Subjekts verneint. 81 Insofern ist nicht nur das moderne Individuum und Subjekt nur als verwaltetes denkbar, sondern ebenso seine Erfahrung und Erkenntnisweisen. Dies impliziert in einem zirkulären Schluss wiederum die Wissenschaften selbst. Einerseits sind sie Instrumente jener verwaltungstechnischen Produktion des Subjekts, andererseits aber auch wiederum Objekte ihrer eigenen Mechanismen. Foucaults Popularität insbesondere in den Medienwissenschaften erklärt sich auch dadurch, dass die Technologien der Subjektkonstituierung als mediale Praktiken verstanden werden können und sich Foucaults Methoden der Archäologie und der Diskursanalyse auf die Gegenstände der Medienwissenschaften übertragen lassen. Der Begriff Archäologie deutet einerseits bereits auf die Fokussierung auf die materialen Verankerungen dieser Praktiken hin. Andererseits impliziert er auch eine spezielle Perspektive, nämlich jene auf die Vernetzung disparater Gegenstände, die es archäologisch zu bergen gilt. Der Suche nach subjekt- und interpretationsunabhängigen Objekten, dem »harten Kern des

79 Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit 2), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 18. 80 Foucault, Michel, Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer, in: ders., Schriften, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 300331, hier S. 301, zitiert nach Zima, Theorie des Subjekts, S. 234. Zima entgeht hier allerdings, dass Foucault hier selbst zitiert, und zwar Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 82. In gewisser Weise kommen hier die Geisteswissenschaften zu sich selbst: Schreiben ist Abschreiben, produziert Differenzen und hebt sie manchmal auch auf. 81 Vgl. Zima, Theorie des Subjekts, S. 234f. 112

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Wissens« 82 entspricht dabei die Ablehnung eines subjektgebundenen Rationalismus zu Gunsten eines neuen Positivismus. Der Abschied des Subjekts stellt sich also bei Derrida und Foucault einerseits als Abschied von einer sprachlichen Illusion dar, andererseits als die Entdeckung seiner strengen Determiniertheit durch die herrschenden Diskurse. In beiden Fällen kann es nicht mehr Bezugspunkt einer wissenschaftlichen Konzeption von Empirismus dienen. Dadurch entsteht eine neue Orientierung, die in der Abkehr von überkommenen Hierarchisierungen besteht. Abgelehnt wird die deduktiv-logische Ordnung, die mit den logischen Schlussverfahren die informationsverarbeitende Dimension von Forschung und Wissenschaft prämiert. Indem das Subjekt dezentriert und das damit verbundene zentralistische Weltbild selbst dezentralisiert wird, tritt auf der Ebene der Gegenstände die Dimension der Vernetzung in den Vordergrund. Dies betrifft auch den Forscher selbst, der sich nicht mehr außerhalb jener Netzwerke oder, mit Foucaults Worten, »Archive« situieren kann. Und schließlich können bei Dekonstruktion und Archäologie Diagnose und Methode, Ergebnis und Prozess nicht mehr voneinander getrennt werden. Dies führt schließlich zur Frage nach den Wahrnehmungsrelationen und -modalitäten. Die Archäologie als Entbergung tiefer liegender Strukturen 83 folgt zwar einer induktiven Logik, die allerdings ohne das Subjekt auskommen soll. Hier stellt sich die Frage, wer dann der Beobachter der Postmoderne ist bzw. auf wessen Beobachtungen diese Theorien zurückgehen. Es handelt sich um eine Form der Beobachtung, die sich selbst in ihren Beobachtungen beobachtet. 84 Sie ist nur kollektiv, als wissenschaftliche Praxis und nur in deren Rahmen denkbar. An die Stelle individueller, subjektiver Selbstbeobachtung tritt eine außerhalb der Individuen, nur innerhalb der 82 Ebeling, Markus Knut, Die Mumie kehrt zurück II. Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien, in: ders./Altekamp, Stefan (Hrsg.), Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2004, S. 9-30, hier S. 19. 83 Hier zeigt sich die immer wieder auftauchende Schwierigkeit, Focault mit einem Label zu versehen: Strukturalist oder Poststrukturalist? Während im Strukturalismus noch zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur unterschieden wird, wird im Poststrukturalismus versucht, diese Trennung zu unterlaufen. Vgl. Pias, Claus, Poststrukturalistische Medientheorien, in: Weber, Stefan (Hrsg.), Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz: UVK Verlags-Gesellschaft 2003, S. 277-293, hier S. 278. 84 Vgl. Landgraf, Edgar, Beobachter der Postmoderne, in: parapluie. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen (Online-Journal), Nr. 6 (Sommer 1999), verfügbar unter: http://parapluie.de/archiv/generation/postmoderne. 113

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Theorien operierende gesellschaftliche Selbstbeobachtung. Theorien beziehen sich deshalb auch nicht mehr auf eine wie auch immer geartete Wahrheit, sondern werden als mögliche Weltsichten und -konstruktionen verstanden. Vor diesem theoretischen Hintergrund müssen die expliziten Methodenangebote der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse – verstanden als forschungspraktische Operationalisierung postmoderner Erkenntnistheorien – betrachtet werden. Der abstrakten Konzeption von Empirismus steht aber auch eine forschungspraktische Umsetzung zur Seite. Darin wird die Materialität der untersuchten Objekte nicht als ihnen äußerlich betrachtet, sondern sowohl konstitutiv für ihren Status als Objekte als auch für die Erfahrung der Forschersubjekte. Dies kommt in besonderer Weise zum Ausdruck in der Beschreibung des »Geschmacks des Archivs« 85 : »Der ausgesprochene Satz, das gefundene Objekt, die gefundene Spur – sie werden Momente der Wirklichkeit. Sie werden genauso ›wirklich‹, als wenn der Beweis dessen, was vergangen ist, immer noch da wäre, endgültig und zugleich nacherlebbar. So ist es also, wenn man sich in dieses Archiv versenkt: Man bekommt die Chance, hat das Privileg, die ›Wirklichkeit zu berühren‹. [...] Die Getreidesamen oder Spielkarten (die ich an anderer Stelle fand) – sie sind gleichzeitig und gleichermaßen alles und nichts. Alles, weil sie die Sinne einnehmen, übermächtigen und täuschen; nichts, weil sie nichts anderes als einfache Spuren sind, die nichts erkennen lassen aus sich selbst heraus, die nur auf sich selbst verweisen.« 86

Dieser Empirismus beschränkt sich nicht mehr auf die Visualität, er wird taktil und gustatorisch.87 Zwar mittendrin, bleibt der Forscher dennoch außen vor. Die Objekte setzen sich nicht selbst in Bezug zueinander, die Relationierung und Differenzierung bleibt Aufgabe des Forschers.

85 Farge, Arlette, Le goût de l’archive, Paris: Éditions du Seuil 1989. 86 Zitiert nach der auszugsweisen Übersetzung von Alf Lüdtke, siehe Lüdtke, Alf, Arlette Farge »Vom Geschmack des Archivs«, in: WerkstattGeschichte, Nr. 5 (1993), S. 13-15, hier S. 14f. 87 Im Gegensatz zu den Methoden der Wissenschaften ist diese Tatktilität den Erkenntnismetaphoriken noch tiefer eingeschrieben als die des Sehens. ›Begreifen‹ steht vielmehr für das Verstehen von Sachverhalten und Zusammenhängen als das bloße ›Beobachten‹. Insofern kann der Verweis auf die tatsächlichen taktilen Qualitäten des Forschungsmaterials selbst als (Re-)Materialisierung der eigenen Hintergrundmetaphorik verstanden werden. 114

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2.1.2 Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Vor diesem Hintergrund müssen nun die Vorschläge gesehen werden, eine insbesondere von Foucault inspirierte Diskursanalyse in der Sozialforschung als Methode zu etablieren. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein einheitliches Feld, sondern um ein Nebeneinander verschiedener Ansätze. Die Unterschiede bestehen in Bezug auf die theoretischen Voraussetzungen, die untersuchten Gegenstände und die eingesetzten Methoden. Vom Diskursanalytiker Johannes Angermüller liegt ein Ansatz zur Ordnung der verschiedenen Ansätze in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Diskursforschung vor. Er unterscheidet zwischen zwei vorherrschenden Tendenzen, die er als rekonstruktiven und dekonstruktiven Konstruktivismus bezeichnet. Diese Unterscheidung begründet er mit den Traditionen, vor deren Hintergrund die Bezugnahme auf Foucault erfolgt, und den daraus resultierenden Konsequenzen. Die rekonstruktive Tendenz, die er in Wissenssoziologie und qualitativer Sozialforschung erkennt, geht von einem intersubjektiv geteilten gesellschaftlichen Wissensvorrat aus. Dieses sprachlich und handelnd konstruierte Wissen wird als prinzipiell rekonstruierbar durch wissenschaftliche Beobachter und Alltagssubjekte verstanden. In der dekonstruktiven Tendenz dagegen werden sozialer Sinn und soziale Ordnung nicht auf intersubjektiv geteiltes Wissen zurückgeführt. Der konstruierende Beobachter gilt hier als ebenso konstruiert wie das Wissen und wird deshalb als »dezentriert« bzw. »entkernt« beschrieben. 88 Als Vertreter der wissenssoziologischen – und damit in Angermüllers Systematik rekonstruktiven – Diskursanalyse gilt Reiner Keller. Keller versteht die Diskurstheorie im Anschluss an Foucault und die qualitativen Methoden einer hermeneutischen Wissenssoziologie nicht als gegensätzlich, sondern als komplementär. Ziel ist die Überwindung des »mikro-soziologischen Bias« der qualitativen Wissenssoziologie zugunsten einer breiteren Analyseperspektive, die auch gesellschaftliche und historische Kontexte berücksichtigt. 89 Dies ist insofern erstaunlich, als dass damit die Subjektkritik Foucaults mit der subjektzentrierten Me-

88 Vgl. Angermüller, Johannes, Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Deutschland. Zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz: UVK Verlags-Gesellschaft 2005, S. 23-48, hier S. 29. 89 Keller, Reiner, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 58. 115

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thode rekonstruktiven Verstehens verbunden wird. Dies bedarf einer Auslegung Foucaults diskursiver Formationen als intersubjektiv geteiltes Wissen. Darüber hinaus nimmt er an, dass Diskursanalyse »immer und notwendig ein Prozess hermeneutischer Textauslegung« 90 ist. Damit argumentiert er aus einer methodenpraktischen Perspektive, die auch den inhaltlichen Widerspruch der verknüpften Konzepte aufheben soll. Die praktische Orientierung in Kellers Konzept zeigt sich auch darin, dass er der Praxis der qualitativen Sozialforschung entsprechend das ausführlichste Lehrbuch zur Diskursanalyse vorgelegt hat. Die Kopplung der Diskursanalyse an bestehende Verfahren der qualitativen Sozialforschung besteht vor allem in der Übernahme des Instrumentariums der Grounded Theory und deren kodierender Strategie. 91 Eine weitere Methodologie für eine ebenfalls als rekonstruktiv verstandene Diskursanalyse stammt von Rainer Diaz-Bone.92 Diaz-Bone betont dabei aber stärker die Analyse von Diskursstrukturen. Diese Analyse besteht in einer doppelten Konstruktion. Zum einen wird den untersuchten Diskursen unterstellt, dass es sich um systematische und konstruierende Praktiken handelt. Zum anderen sind die Diskursanalysen selbst ebenso systematische Rekonstruktionen der Regelhaftigkeit der untersuchten Diskurse. 93 Die eigene Regelhaftigkeit der Diskursanalyse formuliert Diaz-Bone in Form eines siebenstufigen Ablaufschemas, das aufgrund des »unsicheren Anfangspunktes« gegebenenfalls rekursiv zu gestalten ist. 94 Im Gegensatz zu diesen rekonstruktiven Auslegungen der Diskursanalyse beschreibt Angermüller ihre dekonstruktive Spielart als im strengeren Sinne auf Foucault bezogen, indem letztere diskursive Formationen als ihre Gegenstände betrachtet und nicht auf die Rekonstruk90 Ebd., S. 72. 91 Damit ist wiederum ein Perspektivenwechsel bzw. ein Oszillieren zwischen verschiedenen Perspektiven gemeint. Dies besteht im Anspruch der Verbindung eines subjektiven Verstehens mit der objektivierenden, distanzierten Betrachtung, der kodierende Strategien dienen. Vgl. dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie II: Zählen und Erzählen. 92 Diaz-Bone, Rainer, Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse [48 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 7, Nr. 1, Art. 6 (2005), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs060168. 93 Vgl. ebd., Absatz 18. 94 Das Schema umfasst (1) Theorieformung, (2) Sondierungsphase, (3) Provisorische Korpuserstellung, Formulierung heuristischer Fragen, (4) Oberflächenanalyse, (5) Beginn der Rekonstruktion der diskursiven Beziehungen (Interpretative Analytik, 1. Teil), (6) Fertigstellung der Rekonstruktion (Interpretative Analytik, 2. Teil), (7) Ergebnisaufbereitung und Rückbezug. Vgl. ebd., Absätze 19-26. 116

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tion zugrundeliegender Sinnstrukturen abzielt. Deren Dekonstruktion dient nicht der Rekonstruktion von Bestehendem (z.B. Sinn), sondern der Konstruktion von etwas Neuem. Dabei geht es nicht darum, ein gegebenes Material »richtig« zu verstehen, sondern zu fragen, aufgrund welcher Regeln es sich in einen wissenschaftlichen Diskurs übersetzen lässt. Diesen Prozess nennt Angermüller »reflexiv-transformative Modellierung« 95 . Unter Rückbezug auf Derrida geht es darum, »die lebendige Gegenwart gemeinten Sinns zu dekonstruieren, die sich im Text ausdrückt und auf ihren rekonstruktiven Nachvollzug wartet« 96 . In der Tradition Foucaults werden vorzugsweise die Brüche in Diskursen thematisiert: »Der Diskurs wird nicht von intersubjektivem Konsens, sondern von einem konstitutiven »Dissens« organisiert [...]«. 97 Dabei wird die Dezentrierung des Subjekts insofern ernst genommen, als sich die Diskursanalyse eben nicht auf hermeneutische Verfahren stützt. Allerdings wird Foucault nicht so weit gefolgt, dass Diskursanalysen der Gegenwart unzulässig sind, da ihm zufolge die Regeln, die dem eigenen Denken und Handeln zugrundeliegen, unhintergehbar sind. Aus den unterschiedlichen Ansätzen resultiert der Gebrauch unterschiedlicher technischer Medien: Angermüller bemerkt, dass rekonstruktive Diskursanalysen vor allem auf Analysesoftware zurückgreifen, die auf der Kodierphilosophie der Grounded Theory aufbaut, während die dekonstruktive Diskursanalyse korpuslinguistische und lexikometrische Software bevorzugt. 98 Dieser Hinweis ist nicht unwichtig. Er bestätigt zunächst Angermüllers Darstellung des Gegensatzes zwischen hermeneutisch-rekonstruktiver und Foucaulttreuer Diskursanalyse. Er zeigt aber auch die Gemeinsamkeit beider Ansätze auf. Das Ziel der Analysen ist immer ein äußerer Beobachterstandpunkt, eine Objektivierung der Perspektiven, bei der sich lediglich die Lösungswege unterscheiden. Dekonstruktive Diskursanalyse ist damit im Wesentlichen ein Instrument der Gesellschaftsanalyse und somit der Theoriebildung über Gesellschaft. Rekonstruktive Diskursanalyse versteht sich dagegen als Instrument der Verknüpfung von Mikroanalysen und Gesellschaftsanalysen. Erstere bevorzugt die soziologisierende, distanzierte Beobachtung, die zweite versucht dagegen eine ansatzweise Integration von distanzierter und Selbstbeobachtung. In ihr ist eine Tendenz zu sehen, in der Diskursanalyse die Betrachtung der Form der Diskurse und ihrer Inhalte zu 95 Angermüller, Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Deutschland, S. 42. 96 Ebd., S. 35f. 97 Ebd., S. 40. 98 Ebd., S. 43. Zur Kodierpraxis der Grounded Theory siehe auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie II: Zählen und Erzählen. 117

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verknüpfen. Die dabei auftretenden Widersprüche scheint sie aber auszuhalten. Auffällig in beiden Ansätzen ist, trotz stellenweiser Ausformulierung, die fehlende Rückbezüglichkeit von Theorie und Methode. Gegenstände sind in allen Fällen kollektive Wissensordnungen. Methodisch wird dies aber nicht so interpretiert, dass deren Erforschung selbst kollektiver Praktiken bedarf. Die Prämierung der distanzierten Beobachtung in manchen Formen der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse ist ein Beispiel dafür, dass die gewohnte Grenze zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung – verstanden als eben jene auf Entsubjektivierung abzielende distanzierte Beobachtungsform – nicht länger aufrecht erhalten werden kann. Die Grenze ist vielmehr ein Bruch, der sich durch die verschiedenen Methoden der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse selbst zieht.

2.2 Systemtheoretischer Konstruktivismus Die zweite bedeutende Abschiedsbewegung vom Subjekt vollzieht sich direkt in den Sozialwissenschaften. Zum einen auf der Ebene der soziologischen Modellbildung in der Systemtheorie, zum anderen im radikalen Konstruktivismus, der sich als naturwissenschaftlich inspirierte Erkenntnistheorie versteht und insbesondere in der Kommunikationswissenschaft rezipiert wird. 99 Während bei Foucault die Geschichte von Subjekten auf Diskurse umgestellt wird, stellt die Systemtheorie nach Niklas Luhmann die Konstitution von Gesellschaft von Handlung auf Kommunikation um. Der Konstruktivismus radikalisiert die auch in der Systemtheorie enthaltene Beschreibung von Wahrnehmung und Erkenntnis als Konstruktionen. Die erkenntnistheoretischen Positionen von Systemtheorie und Konstruktivismus sind folglich ähnlich, unterscheiden sich jedoch in ihren Akzentuierungen. Niklas Luhmanns Systemtheorie beginnt mit der Umstellung der klassischen Subjekt-Objekt-Relation auf die Unterscheidung SystemUmwelt: operationell geschlossene, selbstreferenzielle Systeme und die von ihnen abgegrenzten und konstituierten Umwelten. Das Subjekt verschwindet bei Luhmann aber nicht vollends, sondern nur als individuelles, transzendentales Subjekt. Dieses wird ersetzt durch abstrakte »Subjekt-Aktant[en]: [...] als »Differenzierung«, »System«, »Operation« oder »Kommunikation«.« 100 Der Abschied vom Subjekt ist bei Luhmann also lediglich ein Abschied auf der Ebene der Theorie. Es wird durch autoVgl. bspw. Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried Josef (Hrsg.), Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft (Delfin 1997), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 100 Zima, Theorie des Subjekts, S. 325. 99

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poietische Systeme ersetzt, die selbst nicht in der Lage sind, ihre Umwelt zu beobachten, sondern nur sich selbst bzw. Kommunikationen. Dabei löst sich die Beobachtung aber von individuellen oder kollektiven Beobachtern und wird somit reine Operation: »Sie tut, was sie tut: also unterscheiden-und-bezeichnen, und sonst nichts.« 101 Dementsprechend wird auch die Frage des Erkennens auf die Frage nach der jeweiligen Operation des Unterscheidens bzw. der Grenzziehung und Differenzierung verschoben. Es bedarf jedoch einer weiteren solchen Operation, damit die erste – und dann durch die zweite – überhaupt wahrgenommen werden kann. Beobachtung kann nur als Vernetzung von Beobachtungen gedacht werden. Ihre Ergebnisse sind jedoch von den verwendeten Unterscheidungen abhängig. Daraus folgt, dass nur Systeme beobachten können. Um diese Beobachtung jedoch beobachten zu können, ist die Einführung eines Beobachters zweiter Ordnung notwendig. Erst er kann den blinden Fleck der Beobachtung erster Ordnung, nämlich die von ihr getroffene Unterscheidung, beobachten. Diese Unhintergehbarkeit drückt sich bei Luhmann im Begriff ›Sinn‹ aus, der als strukturelles Analogon zu Derridas ›différance‹ aufgefasst werden kann. Sinn meint hier die Einheit der Differenz von Aktualität und Potenzialität. Das Treffen von Entscheidungen, etwa in Kommunikationen und Beobachtungen, ist immer eine Selektion aus einer gegebenen Potentialität. In der Aktualität der Entscheidung wird Komplexität reduziert, aber auch zugleich Sinn prozessiert, so dass wiederum Komplexität aufgebaut wird. Sinn besteht wie différance nur in seinem aktuellen Vollzug.102 Die Abkehr von autonomen Subjekten als Erkenntnisinstanzen erfolgt bei Luhmann also zunächst als Grenzverschiebung, die Menschen, Individuen oder Bewusstseine bzw. psychische Systeme als Träger von Subjektivität zunächst einmal ausgrenzen und als Umwelt der neuen Subjekte, eben der Systeme beschreiben. Indem Beobachtungen dann als Operationen dieser Systeme aufgefasst werden, können auch sie unabhängig von individuellen Ausführenden beschrieben werden. Beobachtungen und ihre Standpunkte werden damit formalisiert und externalisiert. In der Wissenschaft ist ihr Ort und ihr Instrument ebenfalls die Theorie.

101 Gripp-Hagelstange, Helga, Niklas Luhmann. Eine erkenntnistheoretische Einführung, München: Fink 1997, S. 44. 102 Zu ›Sinn‹ siehe Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 92-147 und ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 44-59. 119

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Da die Theorie als Ort der Produktion von Erkenntnis dem basalen Prinzip der Beobachtung folgt, ist folglich auch Erkenntnis Unterscheidung. Das Ergebnis sind dann theoretisch getroffene analytische Trennungen und Klassifikationen. Die Theorie der Beobachtung ist aber nicht nur Bestandteil der Systemtheorie, sie geht ihr voran. »Alles, was beobachtet wird, ist mithin abhängig von der Unterscheidung, die der Beobachter verwendet. [...] Dieser Unterscheidungsrelativismus gilt vor allem Systemrelativismus, der seinerseits davon abhängt, daß dem Beobachten die Differenz System/Umwelt zu Grunde gelegt wird.« 103

Folglich sind auch Erkenntnis und Erkenntnistheorie immer das Ergebnis solcher Beobachtungen. »Aber schon Unterscheidungen wie die von Erkenntnis und Gegenstand, von signifiant und signifié, von Erkennen und Handeln, sind ja Unterscheidungen, also Operationen eines Beobachters. Die Theorie des operativen Aufbaus von Formen muß also vor allen diesen Unterscheidungen ansetzen. Die erste Unterscheidung ist die Beobachtung selbst, unterschieden durch eine andere Beobachtung, die wiederum selbst, für eine andere Beobachtung, die erste Unterscheidung ist.« 104

Damit ist klar, dass Luhmanns Systemtheorie in sich einer deduktiven Logik folgt. Auch wenn Beobachtung streng als Operation beschrieben wird, kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass Luhmanns theoretische Position selbst strikt dem Paradigma der Beobachtung folgt. Dieses wird von einem visuellen Denken – sozusagen als seine grundlegende Entscheidung – bestimmt. Nur indem die Entscheidung für die Visualität quasi als Leitunterscheidung für die Formulierung seiner Theorie fungiert, kann sich die Systemtheorie als allgemeines Klassifikationsschema der Soziologisierung der Welt behaupten. Da die Systemtheorie sich nur auf die Sozialität bezieht und die Soziologisierung mit der Formulierung einer Supertheorie auf die Spitze treibt, bleibt allerdings unklar, inwiefern überhaupt von einem darin enthaltenem erkenntnistheoretischen Programm gesprochen werden kann. Alle mit ihr untersuchten Gegenstände können nur in ihrer sozialen bzw. soziologischen Dimension beschrieben werden. Schwierig ist deshalb auch die Identifizierung eines Kommunikationskonzepts innerhalb der Erkenntnistheorie. Kommuni103 Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 82. 104 Ebd., S. 73. 120

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kation wird in der Systemtheorie ebenfalls nur als Operation gedacht, und zwar als Operation der Systembildung. Während Luhmann seine Betrachtungen nur auf soziale Systeme bezieht, konzentriert sich der radikale Konstruktivismus auf die kognitive Dimension psychischer Systeme. Seine Grundaussage besteht in der Umkehrung des realistischen Weltbildes. Diesem zufolge sind Wahrnehmungen Ausdrücke einer unabhängig davon existierenden äußeren Welt. Stattdessen werden Wahrnehmungen als kognitive Konstruktionen betrachtet, die eine äußere Welt erst konstituieren. Die Umstellung vom Beobachter auf einen Konstrukteur wird biologistisch begründet. Wahrnehmung wird nicht mehr vom Standpunkt der Sinnesorgane betrachtet, sondern neurologisch. Wahrnehmung vollzieht sich dann nicht mehr in den Sinnesorganen, sondern als Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen.105 Diese neuronalen Prozesse und Zustände sind dabei durch das »Prinzip der undifferenzierten Codierung« charakterisiert; die Sprache der Sinneszellen heißt und besteht ausschließlich aus »Klick«.106 Wahrnehmung wird dadurch vollständig von etwaigen äußeren Referenzen getrennt und auf Selbstreferenz umgestellt: »Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung«.107 Wahrnehmungsprozesse sind folglich Konstruktionsprozesse. In diesem Wahrnehmungskonzept kommt implizit eine medientheoretische Umstellung in der Modellierung des Menschen zum Tragen. Während sich realistische Sichtweisen den menschlichen Wahrnehmungsapparat als analoges, d.h. abbildendes Wahrnehmungssystem modellieren, wird in der konstruktivistischen Sichtweise das Gehirn als digitales Informationsverarbeitungssystem vorgestellt. Auf der physiologischen Ebene kennt es nur die Unterscheidung Reiz oder kein Reiz, Klick oder kein Klick. Das erkenntnistheoretische Problem ergibt sich folglich aus der fehlenden Kenntnis der den Interpretationen und Konstruktionen zugrundeliegenden Logarithmen. Für eine sozialwissenschaftliche Erkenntnistheorie ergeben sich daraus verschiedene Probleme und Konsequenzen. Zunächst betrifft dies den Status des erkennenden Subjekts. Hier stellt sich die Frage, ob die105 Vgl. Schmidt, Siegfried Josef, Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs, in: ders. (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 11-88, hier S. 14. 106 Vgl. Foerster, Heinz von, Erkenntnistheorien und Selbstorganisation, in: Schmidt, (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, S. 133158, hier S. 137-139. 107 Roth, Gerhard, Die Selbstreferentialität des Gehirns und die Prinzipien der Gestaltwahrnehmung, in: Gestalt Theory, Jg. 7, Nr. 4 (1985), S. 228244, hier S. 236 (kursiv im Original). 121

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ses aus einer konstruktivistischen Perspektive nicht aufgegeben werden muss, da es sich auch bei ihm um eine kognitive Konstruktionsleistung handelt. Bei der Beantwortung dieser Frage tritt die von Foucault bekannte Austauschbarkeit von Subjekt und Objekt in anderer Form wieder auf. Das Subjekt ist nicht nur Produkt von Konstruktionsprozessen, sondern gleichzeitig auch das Objekt der kognitiven Wahrnehmungsprozesse. 108 Der Abschied vom Subjekt erfolgt im Konstruktivismus, indem es als Objekt von Konstruktionsprozessen ins Zentrum der Überlegungen gerückt wird. Des Weiteren können sämtliche Wahrnehmungen immer nur als Hypothesen über die Umwelt betrachtet werden.109 Dies bedeutet, dass ein wissenschaftstheoretisches Konzept wie der Falsifikationismus unter diesen Bedingungen nicht aufrechterhalten werden kann, da eine Falsifikation auf der Grundlage von Hypothesen nicht möglich ist. Eine Hypothese kann eine andere nicht widerlegen. An die Stelle des Falsifizierens tritt die Formulierung, dass empirische Daten eine Theorie allenfalls »irritieren« können.110 Diese Argumentation lehnt sich also an das Modell deduktiver Logik an, das damit nicht verworfen, sondern lediglich relativiert wird. Dies drückt sich auch in der Unterscheidung zwischen ontologischem und empirischem Wissen aus. 111 Ontologisches Wissen meint bereits organisierte Konzepte von Objekten oder Ereignissen. Empirisches Wissen ist dagegen die Erprobung dieser Konzepte im Prozess der Kognition und ist somit operationales und an Handlungen gebundenes Wissen, also Erfahrungswissen. 112 Indem der Konstruktivismus die Subjektivität von empirischer Erfahrung und Erkenntnis betont, muss auch das Konzept der Objektivität daran zurückgebunden werden. Objektivität muss von einem subjektunabhängigen Verständnis auf die Abhängigkeit von Subjekten umgepolt werden. In diesem Zusammenhang ist die Rede von Intersubjektivität zu verstehen. Erst durch das »Unterschieben« eigener Konzepte an Andere entstehen Objekte, die so interpretiert werden können, als ob sie wirklichkeitsadäquat wären.

108 Vgl. Roth, Gerhard, Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, S. 229-255, hier S. 249. 109 Vgl. Roth, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 73. 110 Vgl. Scholl, Armin, Einleitung, in: ders., (Hrsg.), Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft, Konstanz: UVK Verlags-Gesellschaft 2002, S. 7-18, hier S. 13. 111 Vgl. Rusch, Gebhard, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 242. 112 Vgl. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus, S. 36. 122

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Die Tatsache, dass dies gelingt, wird so verstanden, dass intersubjektiv ein hoher Grad an »kognitiver Parallelität« herrscht. 113 An diesem Punkt muss sich der Konstruktivismus jedoch entscheiden, was damit gemeint sein soll. Die eine Möglichkeit besteht darin, die Herstellung von Intersubjektivität selbst als Form paralleler Informationsverarbeitung zu verstehen. Dies verbietet sich aber aufgrund der Annahme, dass kognitive Prozesse innerhalb in sich geschlossener Systemen ablaufen. Deshalb wird der Konstruktivismus die zweite Möglichkeit bevorzugen, nach der kognitive Prozesse immer individuell sind, Intersubjektivität aber hergestellt werden kann durch die zeitlich versetzte Rekonstruktion dieser Prozesse. Dies führt dazu, dass in wissenschaftlichen Kontexten besonderes Augenmerk auf diese Rekonstruierbarkeit gelegt werden muss. Dies soll durch die exakte Angabe der methodischen Regeln sichergestellt werden. Siegfried Josef Schmidt fasst die erkenntnistheoretischen Konsequenzen für die sich als empirisch verstehende konstruktivistische Forschung folgendermaßen zusammen: »Konsequenterweise muß also ›empirisch‹ von der traditionellen Referenz auf ›Realität‹ und den Beobachter erster Ordnung umgepolt werden auf Kognition und methodisch kontrollierte Beobachtung zweiter Ordnung. Die aus empirischer Forschung resultierende Intersubjektivität trägt genau so lange, wie sich ihre Auswirkungen auf die wissenschaftliche Kommunikation stabil halten lassen; sie endet, wenn sie einer neuen Beobachtung zweiter Ordnung nicht (mehr) standhält.« 114

Dieser neue Relativismus ändert aber nichts an den etablierten Standards. Hier hält auch Schmidt an der »logischen Konsistenz der Forschung, der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit der Theorie bis hin zur »empirischen Überprüfung«« 115 fest. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn insgesamt das Paradigma der distanzierten Beobachtung aufrechterhalten wird. Es werden lediglich mit den Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung weitere Reflexionsebenen eingefügt, die sich aber ebenfalls diesem Paradigma unterordnen. Folgerichtig nennt Schmidt selbst

113 Ebd., S. 37. 114 Schmidt, Siegfried Josef, Konstruktivismus in der Medienforschung. Konzepte, Kritiken, Konsequenzen, in: Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried Josef/Weischenberg, Siegfried (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 592-623, hier S. 622. 115 Schmidt, Siegfried Josef, Die Zähmung des Blicks. Konstruktivismus, Empirie, Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 123. 123

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des Konstruktivismus eine »methodische Zähmung des Blicks« 116 . Diese Zähmung zeigt sich als Einführung pragmatischer Umgangsweisen mit den erkenntnistheoretischen und praktischen Problemen der Forschung. 117 Dies zeigt sich auf der Ebene der Entwicklung konkreter, auf Systemtheorie und Konstruktivismus gegründeter Methodologien und Methoden für die Sozialforschung. Die Leitfrage dabei lautet, ob nun »der gesamte Kanon der deduktiv-nomologischen (standardisierten empirischen) Sozialforschung obsolet wird, [...] oder ob die empirischen Ergebnisse, die durch die Anwendung deduktiv-nomologischer Methoden gewonnen werden, nur im Sinn bzw. in der Terminologie von Systemtheorie und Konstruktivismus uminterpretiert werden müssen« 118 . Die erste Position wird mit dem Gegensatz von Subjektdependenz im Konstruktivismus einerseits und Eliminierung des Subjekts in der standardisierten Sozialforschung andererseits begründet. Dem wird mit dem Verweis auf Gütekriterien empirischer Forschung wie Reliabilität und Validität begegnet. 119 Aus dieser Perspektive erscheint die Integration der erkenntnistheoretischen Annahmen des Konstruktivismus in den bestehenden Methodenkanon als Logik der Steigerung des Paradigmas der distanzierten Beobachtung. Es bleibt beim solitären Erkenntnisobjekt Beobachter, der nun seinerseits als Gegenstand der Beobachtung selbst objektiviert wird. Die Beobachtung des Beobachters ist keine Selbstbeobachtung, sondern erfolgt wiederum von einem äußeren Standpunkt. Allerdings werden auch alternative methodologische Zugänge zur empirischen Sozialforschung vorgeschlagen. Als mögliche Konsequenz wird eine stärkere Orientierung auf die Kommunikation in der Sozialfor-

116 Ebd., S. 124 (kursiv im Original). 117 Im Hintergrund dieser Überlegungen steht unausgesprochen Ernst von Glasersfelds Konzept der Viabilität, das auf die Methoden übertragen wird: »Er [der radikale Konstruktivismus; S.Z.] ersetzt den Begriff der Wahrheit (im Sinne der wahren Abbildung einer von uns unabhängigen Realität) durch den Begriff der Viabilität innerhalb der Erfahrungswelt der Subjekte.« Siehe Glasersfeld, Ernst von, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 55. »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken der Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.« Siehe ebd., S. 43. 118 Loosen, Wiebke/Scholl, Armin/Woelke, Jens, Systemtheoretische und konstruktivistische Methodologie, in: Scholl (Hrsg.), Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft, S. 37-65, hier S. 37. 119 Vgl. ebd., S. 52f. 124

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schung angedacht. 120 Daraus folgt auch eine zaghafte Thematisierung der Medien der Forschung: »So werden Unterscheidungen in der Forschungspraxis etwa durch konkrete Technologien prozessiert, die Beobachtung und Umwelt zueinander in Beziehung setzen, was die Frage nach der jeweiligen Medialisierung von Forschungserfahrung aufwirft.« 121 Ein positives Arrangement mit der Tatsache der Perspektivität von Sozialforschung schlägt auch Theo Hug vor. Als Alternative zum Streben nach Subjektunabhängigkeit fordert er die Betonung und Nutzung der Subjekt- und Kontextgebundenheit der Sozialforschung. Dies bezieht er auch auf die Methoden. Die Sozialforschung solle sich von der Idee verabschieden, dass identische Ergebnisse mit verschiedenen Methoden erzielt werden können.122 Hier deutet sich eine Umsetzung der aus den Annahmen des Konstruktivismus folgenden Polyperspektivität in konkrete Methodologien an, zeigt aber auch den Zwiespalt, in dem sich die Diskussion bewegt. »Diese Verzeitlichung der Beobachtung »de-zentriert« das epistemologische Erkenntnissubjekt und orientiert Subjektivität auf Relationalität um.« 123 Der Zwiespalt besteht in der Uneinigkeit über die Konsequenzen des konstruktivistischen Programms, die offensichtlich – gemäß dem Postulat der Widerspruchsfreiheit – in Form von Entweder-oder-Entscheidungen getroffen werden müssen: Beobachtung oder Selbstbeobachtung, Subjektivität oder Relationalität? Diese Ansätze können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass der Niederschlag der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung auf die Verfahren der Sozialforschung marginal ist und sich bislang auf allgemeine Überlegungen beschränkt.

120 So stellt Sibylle Moser in einem Kommentar zu Schmidt, Die Zähmung des Blicks, fest: »Wissenschaft beobachtet Differenzen und produziert dabei gleichzeitig Einheiten (Fakten). Dem müßte eine sozialwissenschaftliche Forschung im Übrigen auch in ihren Methoden Rechnung tragen (indem z.B. der konstitutive Aspekt der kommunikativen Forschungssituation selbst thematisiert wird und bei der Interpretation der Daten/Fakten berücksichtigt wird.«, in: Schmidt, Die Zähmung des Blicks, S. 124f. (kursiv im Original). 121 Moser, Sybille, Konstruktivistisch Forschen? Prämissen und Probleme einer konstruktivistischen Methodologie, in: dies. (Hrsg.), Konstruktivistisch Forschen. Methodologie, Methoden, Beispiele, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 9-42, hier S. 15 (kursiv im Original). 122 Vgl. Hug, Theo, Konstruktivistische Diskurse und qualitative Forschungsstrategien. Überlegungen am Beispiel des Projekts Global Media Generations, in: Moser (Hrsg.), Konstruktivistisch Forschen, S. 121144, hier S. 129f. 123 Moser, Konstruktivistisch Forschen?, S. 15. 125

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In Diskursforschung wie konstruktivistischer Forschung lassen sich folglich zwei Tendenzen ablesen. Die eine versucht, die erprobten Theorien und Methoden vor dem Hintergrund neuer epistemologischer Positionen zu reformulieren und reformieren, die andere zieht dagegen den Schluss, dass die epistemologischen Brüche sich auch in Theorien und Methoden spiegeln müssen. Dieser Unterschied zieht auch zwei unterschiedliche Konzeptionen von Sozialforschung nach sich. Die eine sieht ihren empirischen Gehalt weiterhin in der Interaktion mit den sozialen Feldern, die sie untersucht, die andere entwickelt sich zu einer Sozialforschung, die sich primär als empirische Sozialphilosophie versteht. Diese Basisentscheidung wird immer schon getroffen, wenn sich die Sozialforschung für eines dieser neuen Verfahren entscheidet. Insgesamt können die verschiedenen Ausprägungen des Empirismus der Differenz dahingehend zusammengefasst werden, dass sie sich nicht mehr für in irgendeiner Art und Weise gegebene Objekte interessieren, sondern vielmehr für die Arten und Weisen ihrer Konstitution. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Unhintergehbarkeit der sich selbst vollziehenden Differenzen. Auch wenn sich die Begrifflichkeiten unterscheiden (différance, Sinn, Systembildung, Diskurs, Praxis, etc.), sind Gegenstände und Bedingungen des Empirismus der Differenz Vernetzungen, deren Dynamik und emergenten Produkte. Unterschiede bestehen aber in den Schlussfolgerungen, wie mit der eigenen Verstrickung in diesen Netzwerken umgegangen werden soll. Die eine Möglichkeit besteht in der Konstruktion eines nun auf der Ebene der Theorie angesiedelten äußeren Beobachterstandpunktes, die andere in der Aufgabe dieses Standpunktes durch das direkte Eintauchen und bewusste Sich-vernetzen mit den untersuchten Netzwerken. Schließlich erzeugen diese Veränderungen der erkenntnistheoretischen Parameter der Sozialforschung auch neue Ähnlichkeiten im sonst so disparat erscheinenden Feld ihrer unterschiedlichen Traditionen. Entsubjektivierung ist nun kein Reservat mehr einer quantitativstandardisierten Sozialforschung. Stattdessen wird diese Strategie nun auch auf hermeneutische und textzentrierte Verfahren übertragen. Gewiss sind die zugrundeliegenden Annahmen und die Schlussfolgerungen höchst unterschiedlich. Diese Unterschiede können jedoch nicht ihren gemeinsamen Kern überdecken. Vor diesem Hintergrund an Gemeinsamkeiten erscheint die Skepsis etwa in der Kommunikationswissenschaft gegenüber der sogenannten Postmoderne nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer Vehemenz befremdlich. 124

124 Vgl. Saxer, Ulrich, Mythos Postmoderne: Kommunikationswissenschaftliche Bedenken, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 48, 126

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Graduelle Unterschiede bestehen zwischen der französischen und der deutschen Spielart des Empirismus der Differenz hinsichtlich ihrer bevorzugten Art der Wahrnehmung als Vernetzung mit den Erfahrung auslösenden Momenten. In der deutschen Variante herrscht die Prämierung der Visualität vor. Differenzen sind hier Objekt und Produkt von Beobachtungen. In der französischen Variante spielt bereits ein Moment der Sinnlichkeit, insbesondere der Taktilität hinein. Diese Taktilität kann als ein konstituierendes Moment der Erfahrung verstanden werden. Taktilität existiert auch in einem Konstruktivismus, in dem unterschiedliche Sinnesdaten als undifferenziertes bzw. gleichwertiges Ausgangsmaterial der kognitiven Konstruktionsleistung betrachtet werden. Nur werden sie hier stärker dem Primat der Visualität untergeordnet und auf diese reduziert. In diesem Punkt unterscheidet sich die deutsche Diskursanalyse nicht von der deutschen Systemtheorie. Auch wenn in ersterer der Ausgangspunkt ein sinnlicher Empirismus ist, wird das Ergebnis doch zumindest in seiner Darstellung wieder kontrataktil. Der Verdacht liegt aber nahe, dass diese Dimension im Ganzen dem Empirismuskonzept amputiert wird. Dieser Befund macht die Notwendigkeit einer zukünftig interkulturell vergleichenden Wissenschaftstheorie deutlich.

3 Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit Die bisherigen Ausführungen haben im weitesten Sinne die zentrale Rolle der Visualität und des visuellen Sinns hervorgehoben, die diesen in den verschiedenen Empirismuskonzepten beigemessen wird. Wissenschaft wird hier auf einen von fünf Sinnen reduziert bzw. hierarchisch organisiert. In der Tat bestehen aber auch davon abweichende Konzeptionen, die auch auf andere Sinne Bezug nehmen und/oder deren ZusamNr. 1 (2000), S. 85-92. Obgleich Saxer eine Nähe zum radikalen Konstruktivismus erkennt, bescheinigt er »der Postmoderne« »empiriefernes Denken« und hält sie folglich für eine »intellektuelle Mode«, die aufzugreifen sich die Kommunikationswissenschaft keinen Gefallen täte, siehe ebd., S. 85. Allerdings gesteht er die Vernachlässigung des »französischen Kulturkreises« in seiner Disziplin ein und fordert trotz des darin vorherrschenden »wilden Denkens« zur Beschäftigung mit dessen wissenschaftlichen Traditionen auf, allerdings als »Selbstbedienungsladen«, siehe ebd. S. 90. Dass diese Kritik mehr emotional denn wissenschaftlich ist, bescheinigen Saxer diverse Antworten, bspw. Schmidt, Siegfried Josef/Westerbarkey, Joachim, Mehr Querschläger als Blattschuss: Eine Replik auf Ulrich Saxers Philippika wider postmoderne Kommunikationstheoreme, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 48, Nr. 2 (2000), S. 247-251. 127

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menspiel in Betracht ziehen. Die Sinne bzw. Sensoren können dabei nicht unabhängig vom Informationssystem, in das sie eingebettet sind, betrachtet werden. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit den verwendeten/zulässigen Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl, Phantasie), Medien und Effektoren. Welche Sinne und Prozessoren zum Einsatz kommen bzw. deren Einsatz für zulässig erklärt wird, ist nicht willkürlich, sondern folgt den vorherrschenden kulturellen Prägungen. Kein Sozialforscher käme in unseren Breiten auf die Idee oder wäre dazu in der Lage, Forschung mit tänzerischen Mitteln zu betreiben, Daten auf diese Art und Weise zu speichern oder so Ergebnisse zu präsentieren. Mittlerweile besteht weitgehend Einigkeit, dass die einseitige Bevorzugung solcher monomedialer Wahrnehmungsmodi das Resultat kulturgeschichtlicher Prozesse ist. 125 Die Reduzierung wissenschaftlicher Erfahrung auf monomediale Informationsverarbeitung im Sinne monosensoraler Wahrnehmung, monoprozessoraler Informationsverarbeitung und monoeffektoraler Darstellung kann dabei nicht mit Verweis auf eine dieser Dimensionen erklärt werden. Sie wirken vielmehr zusammen. Sybille Krämer etwa beschreibt die Prämierung des Sehsinns in Form der wissenschaftlichen Beobachtung als Rationalisierung des Sehens. 126 Es handelt sich folglich um eine spezifische Konstellation von Sensor (Auge) und Prozessor (vernunftgesteuerte Informationsverarbeitung). Diese »Epistemologisierung des Sinnlichen« und die gleichzeitige Abwertung der Sinnlichkeit deutet sie als eine Folge der Umstellung auf das Buch als Leitmedium (Effektor) in der frühen Neuzeit. Die Folgen dieser kulturellen Dispositionen sind in Gestalt zahlreicher Methoden auch heute noch in der Sozialforschung wirksam. Dennoch bestehen auch in der modernen Sozialforschung Traditionen, die von diesem monokulturellen Ideal abweichen. Gegenwärtig ist ein gesteigertes Interesse an Verfahren zu verzeichnen, die eine Pluralisierung der Wahrnehmungsweisen thematisieren. Nicht zuletzt der Logik der wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet wird nun auch in diesem Feld eine Revolution, in diesem Fall die »sensual revolu125 Bei Giesecke ist dies allgemein eine Folge der Durchsetzung des Buchdrucks als Leitmedium. Wolf Lepenies identifiziert im 19. Jahrhundert den Triumph der »distanzierten« über die »enthusiastische« wissenschaftliche Einstellung und das Vordringen einer allgemein verinnerlichten Affektkontrolle. Vgl. Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München: Hanser 1976, S. 205. 126 Vgl. Krämer, Sybille, Sinnlichkeit, Denken, Medien: Von der ›Sinnlichkeit als Erkenntnisform‹ zur ›Sinnlichkeit als Performanz‹, in: Brandes, Uta (Hrsg.), Der Sinn der Sinne, Göttingen: Steidl 1998, S. 24-39, hier S. 26. 128

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tion« ausgerufen. 127 Diese Neuorientierung ist auf zwei Eben zu beobachten. Zum einen werden bspw. Sinne als Gegenstände der Soziologie entdeckt, zum anderen auch als Instrumente der Sozialwissenschaften. 128

3.1 Die Mannigfaltigkeit der Sinne Trotz der bestechenden Belege von der Zähmung der Sinnlichkeit unter dem Eindruck des Leitmediums Buch existieren historische Beispiele, die als Empirismus der Sinnlichkeit verstanden werden können, wie etwa Goethes Farbenlehre oder David Humes Empirismus. Auch gegenwärtig lässt sich ein solcher Empirismus in verschiedenen Formen der Sozialforschung identifizieren. Dazu gehört zunächst die lange Tradition der Psychoanalyse, die als alternative Beobachtungsform und Informationsverarbeitung verstanden werden kann. Des Weiteren wird in verschiedenen Ansätzen die Arbeit mit kreativen Medien thematisiert. Die Spannweite reicht hier vom Einsatz von Malerei oder Tanz in therapeutischen Kontexten bis hin zu Techniken des Imaginierens als Medium des Erkenntnisgewinns. Und schließlich begegnet man dem Empirismus der Sinnlichkeit in der Diskussion über die Performativität der Sozialforschung. Hier sind Bemühungen zu erkennen, die eingeübten Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst als unterschiedliche Erkenntnisweisen aufzulösen. Die Psychoanalyse als Theorie und Methode wird im Allgemeinen nicht als Bestandteil der empirischen Sozialforschung betrachtet. Jedoch existieren Ansätze, die einerseits psychoanalytische Methoden in die Sozialforschung integrieren,129 und andererseits die Sozialforschung selbst psychoanalytisch interpretieren. Gemeint ist hier im Speziellen die Tradition der Ethnopsychoanalyse, die vor allem mit dem Namen George Devereux verbunden ist. 130 Die Ethnopsychoanalyse versteht sich als 127 Bull, Michael u. a., Introducing Sensory Studies, in: Senses & Society, Jg. 1, Nr. 1 (2006), S. 5-7, hier S. 5. 128 Zur ersten Ebene vgl. bspw. Urry, John, Sociology beyond societies. Mobilities for the twenty-first century, London: Routledge 2000, S. 77-104. 129 Zur Integration psychoanalytischer Methoden in die Sozialforschung siehe bspw. Leithäuser, Thomas/Volmerg, Birgit, Psychoanalyse in der Sozialforschung. Eine Einführung am Beispiel einer Sozialpsychologie der Arbeit, Opladen: Westdeutscher Verlag 1988 und Leithäuser, Thomas (Hrsg.), Die Gesellschaft auf der Couch. Psychoanalyse als sozialwissenschaftliche Methode, Frankfurt am Main: Athenäum 1989. 130 Auf eine Darstellung ihrer historischen Vorläufer wie z.B. die amerikanische »Culture and Personality«-Forschung kann an dieser Stelle verzichtet werden. Der Versuch, psychoanalytische Erkenntnisse auf die Ethnologie anzuwenden, ist schon auf Sigmund Freud zurückzuführen. Vgl. Freud, Sigmund, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im 129

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Methode zur Erforschung des Unbewussten in einer Kultur. Dazu sollen die Subjektivität und das Unbewusste der Forscher als Erkenntnisinstrument genutzt werden. 131 In der Ethnopsychoanalyse begegnet man zwei Ansätzen, die schon aus den vorigen Ausführungen bekannt sind: Multiperspektivität und Beobachtung zweiter Ordnung. Die bei Feyerabend in ihrem Verhältnis noch unbestimmte Multiperspektivität erfährt bei Devereux am Beispiel von Soziologie und Psychologie die Bestimmung, dass sich beide Disziplinen komplementär zueinander verhalten. Devereux sieht in den Verhaltenswissenschaften die Notwendigkeit eines »doppelten Diskurses«: »Tatsächlich ist ein nur auf eine Weise geklärtes menschliches Phänomen gleichsam gar nicht erklärt [...].« 132 Die Komplementarität der Disziplinen besteht aber nicht darin, dass sich die eine auf die andere reduzieren ließe, sondern in ihrer Interdependenz und darin, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Ihre Ausschließlichkeit besteht in der logischen Unmöglichkeit, ein Phänomen gleichzeitig zu psychologisieren und zu soziologisieren.133 Die Komplementarität von Soziologie und Psychologie gründet sich also erstens in den theoretischen Bezugsrahmen, die mit einer gegenläufigen Logik operieren, aber dabei doch funktionierende geschlossene Erklärungssysteme bereitstellen. »Im individuell-psychologischen Diskursuniversum sind Gesellschaft und Kultur lediglich Mittel, Ausdruck und Befriedigung subjektiver Bedürfnisse und psychischer Mechanismen zu ermöglichen; umgekehrt sind im kollektivsoziologischen Diskursuniversum die individuellen Bedürfnisse, psychischen Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt am Main: Fischer 1993. 131 Vgl. Adler, Matthias, Ethnopsychoanalyse. Das Unbewußte in Wissenschaft und Kultur, Stuttgart: Schattauer 1993, S. 73f. 132 Devereux, Georges, Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 11. Devereux bezieht sich dabei auf Poincarés Diktum, demzufolge zwei Erklärungen, die ein Phänomen gleich gut erklären, äquivalent sind. Der Verweis auf Poincaré impliziert auch das von Devereux angeführte Drei-Körper-Problem und verweist damit auf komplexe Systeme. Siehe dazu auch den Abschnitt Das Versprechen der Komplexität in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 133 Vgl. Devereux, Georges, Zwei Typen modaler Persönlichkeitsmodelle, in: ders., Ethnopsychoanalyse, S. 109-130, hier S. 115. Devereux formuliert diese These als Verallgemeinerung der Heisenberg’schen Unschärferelation, derzufolge es nicht möglich ist, gleichzeitig Position und Geschwindigkeit eines Teilchens zu bestimmen, sondern immer nur eines von beiden. Vgl. Devereux, Ethnopsychoanalyse, S. 19. 130

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Strukturen und Prozesse nur Mittel, die kollektiven Bedürfnisse und Mechanismen des soziokulturellen Systems zu verwirklichen.« 134

Vor diesem Hintergrund lehnt Devereux es auch ab, die Ethnopsychoanalyse interdisziplinär zu nennen, und spricht daher von einer »nichtfusionierenden Pluridisziplinarität« 135 . Der zweite Aspekt der Komplementarität von Psychologie und Soziologie betrifft die Ebene der Daten. Ihre unterschiedlichen Datenarten ergeben sich aus den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der zu untersuchenden Gegenstände. Ausgehend von der Feststellung, dass die Basis jeder Wissenschaft die Sinnesdaten der Wissenschaftler sind, bestimmt Devereux für alle Humanwissenschaften das Individuum als das letztlich Beobachtete. Psychologie und Soziologie unterscheiden sich aber in den Beobachtungsperspektiven und dem Ort ihrer Gegenstände: »[...] wird ein Individuum beobachtet, so ist das, was für den Psychologen »innerhalb« des Individuums ist, für den Soziologen, der es als Mitglied einer Gesamtheit betrachtet, »außerhalb« desselben.« 136 Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Beobachtungsrelationen: »Bestimmung des Beobachters als eine Quelle von Zwang. a) In der Soziologie befindet sich der Beobachter per definitionem außerhalb seines Gegenstandes [...] b) In der Psychologie ist der Beobachter per definitionem im Gegenstand selbst situiert.« 137 Dies bedeutet, dass psychologische Erklärungen einen inneren Beobachter implizieren und soziologische einen äußeren. Diese Sichtweise kann nun auch auf Forschungssituationen in den Verhaltenswissenschaften übertragen werden. Der Forscher kann als äußerer Beobachter sein Objekt beobachten, etwa seinen Interviewpartner. Er kann aber auch sich selbst beobachten. Paradigmatisches Beispiel dafür ist bei Devereux die Situation der therapeutischen Psychoanalyse und die darin stattfindenden Übertragungen und Gegenübertragungen. Devereux’ erkenntnistheoretische Grundannahme besagt, dass der Mensch über Selbst-Modelle verfügt, die als Maßstab für die Deutung und den Umgang mit seiner Umwelt dienen. »Der Mensch konstruiert sich ein mehr oder weniger bewusstes und teilweise idealisiertes Selbst-Modell, das ihn dann als eine Art Prüfstein, Standard oder

134 135 136 137

Devereux, Zwei Typen modaler Persönlichkeitsmodelle, S. 117f. Devereux, Ethnopsychoanalyse, S. 12. Ebd., S. 15. Ebd. (kursiv im Original) 131

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Richtlinie für die Einschätzung anderer Lebewesen und sogar materieller Objekte dient.« 138

Aus informationstheoretischer Perspektive handelt es sich also um Programme, nach denen Umweltinformationen verarbeitet werden. Die Psychoanalyse kennt die Übertragung dieser Modelle sowohl von Analysand auf Therapeut (Übertragung) als auch umgekehrt (Gegenübertragung). Devereux überträgt dieses Konzept auf die Verhaltenswissenschaften und fragt danach, welche Rolle die Persönlichkeitsstruktur des Wissenschaftlers auf die Verzerrung bei der Beobachtung, Sammlung und Interpretation von Daten spielt. Es geht folglich um die wechselseitige Beeinflussung von Forschern und Beforschten. Devereux geht nun davon aus, dass Verzerrungen dort besonders ausgeprägt sind, wo das Material des Forschers Angst erregt, dass aber auch die Angst, unbewusst die Standpunkte von den Beforschten zu übernehmen, ein wesentlicher Antrieb der Forschung ist. Als wesentliche Strategie, solche Ängste abzubauen, identifiziert Devereux eben jene Methoden und Verfahren, die möglichst wenig Interaktion mit und Nähe zum Gegenstand beinhalten: »[...] so kommt es, daß ein Vorgehen, das die Angst am effektivsten und am dauerhaftesten reduziert, gute Methodologie ist.« 139 Entscheidend ist für Devereux nicht die Frage, ob die Methodologie auch als angstverminderndes Verfahren eingesetzt wird, sondern ob dies bewusst sublimatorisch oder unbewusst abwehrend geschieht. Denn: »Begriffene Angst ist eine Quelle der Gelassenheit und der Kreativität und damit auch guter Wissenschaft.« 140 Dies bedeutet nun zweierlei. Devereux räumt den Affekten eine eigenständige Bedeutung im Forschungsprozess ein. Er lehnt die Beschränkung der Forschung auf rationale Informationsverarbeitung ab und erschließt damit die alternative Form der affektiven bzw. emotionalen Informationsverarbeitung. Devereux geht so weit, die Affekte zum zentralen Datenmaterial des Forschers zu erklären. Idealerweise sucht er in Forschungssituationen gerade solche Affekte in ihm selbst durch den Beforschten auszulösen, um diese dann als wirklich relevante Daten verwerten zu können. 141 138 Devereux, Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 192. 139 Ebd., S. 124. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 335f. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Jacques Lacan. Er deutet Gegenübertragungen als »Begehren des Analytikers« und konstitutive Bedingung des psychoanalytischen Prozesses. Vgl. Lacan, Jacques, Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII, 1960-1961, Wien: Passagen 2008, S. 227-245. Siehe dazu auch Braun, Christoph, Die Stel132

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Dies impliziert die Forderung nach systematischer Selbstbeobachtung, um diese affektiven Daten zugänglich zu machen. Letztendlich geht es nun aber nicht um die Zentrierung des Forschers als Beobachter aus verschiedenen Perspektiven, sondern um ein symmetrisches Verständnis von Forschungssituationen: »Diese Erkenntnis zwingt uns [...] die Vorstellung aufzugeben, die Grundoperation der Verhaltenswissenschaft sei die Beobachtung eines Objektes durch einen Beobachter. An ihre Stelle muß die Vorstellung treten, daß es um die Analyse der Interaktion zwischen beiden geht, wie sie in einer Situation stattfindet, in der beide zugleich für sich Beobachter und für den anderen Objekt sind.« 142

Damit überträgt Devereux in gesteigerter Weise das Prinzip der Komplementarität auf die Forschungssituation selbst. Es handelt sich um zwei Perspektiven, zwei Bezugsrahmen, die nicht gleichzeitig eingenommen werden können. Die Steigerung des Prinzips besteht aber darin, dass diese Perspektiven auch nicht nacheinander eingenommen werden können. Die erwähnte Beobachtung zweiter Ordnung besteht nun in der Selbstbeobachtung der affektiven Beobachtung. Diese zugegebenermaßen problematische Formulierung gilt nur unter der Bedingung, dass Beobachtung als spezielle Form der Informationsverarbeitung aufgefasst wird. In diesem Sinne kann diese Form der Beobachtung als die Verknüpfung unterschiedlicher Formen der Informationsverarbeitung bzw. Prozessoren, nämlich von Ratio und Affekt, verstanden werden. Diese Verknüpfung ist kein zeitliches Nacheinander, sondern die Verknüpfung paralleler Prozesse. Daneben ist entscheidend, dass damit der Empirismus der Sozialwissenschaften ein Stück weit vom Paradigma der Beobachtung emanzipiert wird und auf Kommunikation und Selbstreferenz umgestellt wird. Affekte können nicht als Beobachtungsprodukte im Sinne rationalisierten Sehens beschrieben werden. Affekte sind auch eine körperliche Wahrnehmung, bei der der Körper als Resonanzkörper fungiert. Solche Übertragungen und Gegenübertragungen können als Spiegelungsphänomene verstanden werden. Ausgelöst durch eine Darstellung eines Gedankens oder einer Emotion, gleich ob verbal oder körperlich, emergiert dieser auf einem anderen Niveau. Und die Art und Weise seiner Emergenz ist abhängig vom Forscherindividuum, das sich dazu zur Verfügung stellt. Die Formulierung »Verzerrung als Weg zur lung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin: Parodos 2007, S. 230ff. 142 Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, S. 309. 133

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Objektivität« 143 mag diskussionswürdig sein. Sie verweist aber auf die Tatsache, dass der Begriff der Spiegelung in seiner realistischen Konnotation irreführend ist. Die Nutzung von affektiven Daten ist vielmehr die Nutzung von Zerrspiegeln. Art und Grad der von ihnen verursachten Verzerrung können jedoch nicht vermessen werden, sondern nur in einem Prozess der Selbstreflexion analysiert werden. Insofern macht das Zitat Sinn, so lange man die Betonung auf den Weg legt. Dieser Weg ist einer der Intervention, auf dem sich alle Beteiligten gegenseitig beeinflussen und verändern. Verhaltenswissenschaftliche Forschung ist bei Devereux qua definitionem intervenierend. Die Angst davor soll der Forscher nicht abwehren, sondern als auswertbares Spiegelungsphänomen produktiv nutzen. Zusammengefasst behandelt Devereux Subjektivität nicht als Fehlerquelle, sondern als wichtigste Informationsquelle. Ihn interessiert weniger das Verhalten der Objekte, sondern das Verhalten des Beobachters. Der Forscher ist zugleich Subjekt und Objekt der Erfahrung, die das Ergebnis der Interaktion mit dem Beforschten ist. Weiteres Beispiel für einen Empirismus der Sinnlichkeit ist die Arbeit mit kreativen Medien. Hier lassen sich der Einsatz von imaginativen Techniken und künstlerischen Mittel unterscheiden. Die Bedeutung imaginativer Techniken in der Geschichte von Philosophie und Wissenschaften ist an verschiedenen Stellen hervorgehoben worden.144 Auch in erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Kontexten sind sie schon seit längerem Gegenstand von Reflexion und Versuchen ihrer praktischen Implementierung. 145 In der Sozialforschung spielen sie dagegen nur eine marginalisierte Rolle. Dies gilt insbesondere für ihre Wissenschaftstheorie, die Imagination praktisch nicht thematisiert. Zwar existiert ein reicher Fundus an Arbeiten aus dem verwandten Feld der Metapherntheorie. Eine Instrumentalisierung dieser Konzepte bieten sie jedoch nicht an. Stattdessen existieren jedoch in der außerwissenschaftlichen Praxis entwickelte Verfahren, die Imagination als Erkenntnismedium einsetzen. Hier sind vor allem die Arbeiten des Unternehmensberaters Gareth Morgan hervorzuheben. Unter »Imaginieren« versteht er eine Form der konstruktiven Metaphernanalyse, die er für die Erforschung und Diagnose von Organisationen nutzt. 146 Durch die Beschreibung von 143 So der Titel des vierten Teils von Devereux’ Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, ab S. 287. 144 Vgl. bspw. Dewender, Thomas/Welt, Thomas (Hrsg.), Imagination – Fiktion – Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie, München: Saur 2003. 145 Vgl. bspw. Fauser, Peter/Madelung, Eva (Hrsg.), Vorstellungen bilden. Beiträge zum imaginativen Lernen, Seelze: Friedrich 1996. 146 Vgl. Morgan, Gareth, Löwe, Qualle, Pinguin – Imaginieren als Kunst der Veränderung, Stuttgart: Klett-Cotta 1998 und ders., Bilder der Organisa134

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Organisationen mit Metaphern sollen sich Probleme und Chancen der untersuchten Organisationen erkennen und zugleich beheben lassen. Imaginieren dient dabei als Verständnishilfe und Veränderungsansatz, mit dem sowohl individuelle als auch tiefer liegende Strukturen erkannt und verändert werden sollen. 147 In den Sozialwissenschaften ist Morgans Ansatz als »poetisches Verfahren der Wissenskonstruktion« bekannt. 148 Metaphern werden darin als eine mögliche Form von »Sinnformeln«, d.h. Orientierungsrahmen (wie z.B. Leitbilder) für sinnvolles Handeln begriffen. 149 Die impliziten Kommunikationsmodelle der Sozialforschung werden nun als solche Sinnformeln (bzw. Leitbilder oder – vorstellungen) vorgestellt, die mit Hilfe dieser Methoden herausgearbeitet werden können. In diesen Konzepten ist der Gegenstand der Beobachtung nicht gegeben, sondern wird durch das Verfahren erst konstruiert. Diese Konstruktionen sind jedoch nur bedingt rationalen Ursprungs. Indem die Leitbilder als Baupläne der Konstruktionen imaginiert werden, wird dabei auf eine Form nichtrationaler Informationsverarbeitung zurückgegriffen, die qua definitionem nicht sprachlicher Form ist, sich aber im Nachhinein versprachlichen lässt. 150 Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, Imagination lediglich als individuelles Phänomen zu verstehen. Ludger Schwarte weist darauf hin, dass jenseits ihrer kognitiven Dimension Imagination auch als soziales Handeln verstanden wer-

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tion, Stuttgart: Klett-Cotta 1997. Zur Metaphernanalyse siehe auch den Abschnitt Daten und Methoden im einleitenden Kapitel sowie den Abschnitt Sprachliche Medien in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. Vgl. Morgan, Löwe, Qualle, Pinguin, S. 307-309. Vgl. Liebert, Wolf-Andreas, Wissenskonstruktion als poetisches Verfahren. Wie Organisationen mit Metaphern Produkte und Identitäten erfinden, in: Geideck, Susan/Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.), Sinnformeln. Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003, S. 83-101. Das Konzept der Sinnformeln entspricht in etwa Hans Blumenbergs Konzept von Hintergrundmetaphoriken, vgl. Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 91-110. Hintergrundmetaphoriken beschreibt Blumenberg als Leitvorstellungen, die mit ihrem Bildervorrat bestimmen, was dem Menschen überhaupt erfahrbar ist. Weitere Imaginationstechniken sind aus der Psychotherapie bekannt, wie z.B. Phantasiereisen, die auch in der Sozialforschung eingesetzt werden können. Einen Überblick liefern Singer, Jerome L., u. a. (Hrsg.), Imaginative Verfahren in der Psychotherapie, Paderborn: Junfermann 1986. 135

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

den kann. Imagination dient dann dem Aufbau der Szenerien, in denen soziales Handeln erst stattfinden kann. 151 Als Steigerung dieser Verfahren können Materialisierungen von Imaginationen verstanden werden, die neben psychischer Informationsverarbeitung auch körperliche involvieren. Gemeint ist die Arbeit mit kreativen Medien wie das Malen von Bildern, die Anfertigung von Ton- und Videodokumenten, theatralische Mittel, usw. 152 In den verschiedenen Spielarten der Kunsttherapie kann bei diesen Verfahren nicht mehr zwischen Datenerhebung und Intervention unterschieden werden. Sie können aber aus der Perspektive der Sozialforschung eben als Verfahren der Datenerhebung verstanden werden. Dabei werden aus informationstheoretischer Perspektive unterschiedliche Beobachtungsperspektiven kombiniert. Hier kommen Selbstbeobachtung, Umweltbeobachtung und die Beobachtung der Relationen zwischen beiden zum Tragen. Die Folge ist, dass auch hier der klassische Subjekt-Objekt-Dualismus nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. 153 Selbstbeobachtung ist zwar das Ziel unterschiedlichster Verfahren der Sozialforschung. So fordert bspw. das standardisierte Interview oder der selbst auszufüllende Fragebogen auch nichts anderes als Selbstbeobachtungen. 154 Der Unterschied ist allerdings, dass die Selbstbeobachtung in kunsttherapeutischen Ansätzen nicht dem rationalen Paradigma folgt, sondern nicht versprachlichte Daten erhoben werden können. Es ist klar, dass hier einem Empirismus gefolgt wird, der nur auf der Grundlage des Einbezugs aller zur Verfügung stehenden sinnlichen Qualitäten denkbar ist. Dieser Empirismus ist dann keine alleinige Frage des Forschers und seines Standpunktes mehr, sondern nur noch kollektiv und kooperativ denkbar. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst geraten nicht nur in therapeutischen Kontexten, sondern auch in dem für die Anschlussfähigkeit der Wissenschaft zentralen Bereich der Präsentation und Darstellung von Ergebnissen ins Wanken. Indem nun alternative Strategien in

151 Vgl. Schwarte, Ludger, Intuition und Imagination – Wie wir sehen, was nicht existiert, in: Hüppauf, Bernd/Wulf, Christoph (Hrsg.), Bild und Einbildungskraft, Paderborn: Fink 2006, S. 92-103, hier S. 93. 152 Zum Einsatz kreativer Medien siehe auch den Abschnitt Mediale Eigenproduktionen in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 153 Vgl. Baukus, Peter, Neurobiologische Grundlagen der Kunsttherapie. Vorgestellt am Beispiel der Schizophrenie, in: ders./Thies, Jürgen (Hrsg.), Kunsttherapie, Stuttgart u.a.: Fischer 1997, S. 1-18, hier S. 1. 154 Vgl. Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/Passeron, JeanClaude, Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1991, S. 51. 136

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diesem Bereich ausprobiert werden und so der Zwang zur Verschriftlichung unterlaufen wird, kann dies Rückwirkungen auf die Forschung selbst haben. Dies betrifft nicht nur ihre Form. In der Sozialforschung spiegelt sich diese Tendenz in den Beiträgen zum kürzlich ausgerufenen »performative turn« 155 bzw. im neuen Label »performative social sciences« 156 . Darüber, was mit »performativ« gemeint sein und worauf er sich beziehen soll, besteht keineswegs Einigkeit. Auf die Produktion von wissenschaftlichen Texten bezogen, wird das Performative nicht verstanden »as a method of gathering information, but as a vehicle for producing performance texts and performance ethnographies about self and society [...] text and audience come together and inform one another«. 157 Performative Präsentationsformen werden aber gerade auch als Analogon zum Prozess der Forschung gesehen. Die Methoden der Sozialforschung sind selbst performativ und beschreiben nicht ihre Gegenstände, sondern bringen sie erst hervor- bzw. zur Aufführung: »[...] they have effects; they make differences; they enact realities; and they can help to bring into being what they also discover.« 158 Das Bedürfnis, den performativen Charakter der Forschung auch in ihrer Vermittlung zum Ausdruck zu bringen, lässt sich als Antwort auf die schon beschriebene Krise der Repräsentation 159 lesen. Es führt schließlich zu Überlegungen über den Einsatz alternativer Medien: in der Forschung werden andere Sinne als der visuelle entdeckt,160 in der 155 Vgl. Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: RowohltTaschenbuch-Verlag 2006, S. 104ff. 156 Der Begriff »performative social science« wird zuerst von Norman Denzin verwendet. Vgl. Denzin, Norman Kent, The Reflexive Interview and a Performative Social Science, in: Qualitative Research, Jg. 1, Nr. 1 (2001), S. 23-46. Zur gegenwärtigen Konjunktur des Ansatzes siehe den Themenband Performative Sozialwissenschaft des Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Research, Bd. 9, Nr. 2 (2008), verfügbar unter: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/ view/10. 157 Denzin, The Reflexive Interview and a Performative Social Science, S. 24-26. 158 Law, John/Urry, John, Enacting the Social, in: Economy and Society, Jg. 33, Nr. 3 (2004), S. 390-410, hier 392f. 159 Zur Krise der Repräsentation siehe den Abschnitt Methodendiskussion im einleitenden Kapitel. 160 Dies geschieht zunächst in Abgrenzung von den traditionellen Methoden der Sozialforschung: »[...] such methods have difficulty dealing with the sensory – that which is subject to vision, sound, taste, smell; with the emotional – time-space compressed outbursts of anger, pain, rage, pleasure, desire, or the spiritual; and the kinaesthetic – the pleasures and pains which follow the movement and displacement of people, objects, infor137

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Vermittlung andere Medien als der gedruckte Text. In diesem Zusammenhang werden die Möglichkeiten diskutiert, die Film, Video, Audio, Grafiken, neue Medien aber auch Performances und Poesie bieten. 161 Damit wird die Ausnutzung und Betonung der Sinnlichkeit von Wissenschaft und Forschung nicht mehr auf die Datenerhebung beschränkt, sondern auf die Ergebnispräsentation ausgedehnt. Die Nutzung künstlerisch-kreativer Mittel in der Wissenschaft verweist auf die Überwindung eines konventionalisierten und beschränkten Erfahrungsraums, die nach John Dewey durch Kunst im Allgemeinen ermöglicht wird. 162 Bei Dewey ist Kunst ein Mittel zur Intensivierung, Erneuerung und Ausweitung von Erfahrung. Sie gilt ihm als Beweis, dass eine ganzheitliche Erfahrung im Sinne des Zusammenwirkens von Sinneswahrnehmung, Bedürfnissen und Handeln wiederherstellbar ist.163 Sie steht damit im Gegensatz zu den konventionalisierten Erfahrungsräumen und dem Beharren auf den darin vorgegebenen Grenzen.164 Wenn nun künstlerische Mittel in der Wissenschaft eingesetzt werden, so dienen sie einerseits der Überwindung einer auf einseitige Umweltbeobachtung des Forschers und rationale Informationsverarbeitung beschränkten Erfahrungsraumes in der Wissensproduktion, wie er etwa auch im Pragmatismus kritisiert wird. 165 Andererseits impliziert ihr Einsatz in der Ergebnispräsentation die Kritik an den Einschränkungen des Erfahrungsraums, den das Buch und der mündliche Vortrag als primäre Darstellungsmedien von Forschungsergebnissen aufspannen. In der Zusammenschau dieser unterschiedlichen Verfahren kann man als gemeinsamen Kern des Empirismus der Sinnlichkeit die Tatsache identifizieren, dass es jeweils darum geht, die relevanten Informationen – gleich ob als auszuwertende Daten, Auswertungsprogramme oder zu präsentierende Ergebnisse – auf Ebenen emergieren zu lassen, die nicht

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mation and ideas«, Law/Urry, Enacting the Social, S. 403-404 (Unterstreichungen im Original). Vgl. Jones, Kip, A Biographic Researcher in Pursuit of an Aesthetic: The use of arts-based (re)presentations in »performative« dissemination of life stories, in: Qualitative Sociology Review, Jg. 2, Nr. 1 (2006), S. 66-85. Vgl. Dewey, John, Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. Vgl. ebd., S. 35. Dewey spricht in diesem Zusammenhang von einer »intellektuell und praktisch bestimmten Erfahrung«, die durch »strenge Abstinenz, erzwungene Unterwerfung und Härte« gekennzeichnet ist. Vgl. ebd., S. 53. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt Pragmatistischer Interaktionismus.

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rein sprachlicher und rationaler Natur sind. 166 Der Zugang zu diesen alternativen Emergenzniveaus erfolgt durch den Einbezug mehrerer Sinne, Programme der Informationsverarbeitung und Darstellungsmedien. Es handelt sich dabei um einen doppelten Empirismus, einen zweiseitigen Empirismus. Er bezieht Forscher und Beforschte gleichermaßen ein und verweist damit auf die kommunikative Dimension von Sozialforschung.

3.2 Pragmatistischer Interaktionismus Die Nutzung von Spiegelungsphänomenen bei Devereux und die Nutzung sinnlich-kreativer Medien in der Sozialforschung deuten auf die kommunikative Dimension von Erkenntnisprozessen hin. Einerseits implizieren sie stets die performative Dimension von Forschung, so dass Erkenntnis erstens nicht als zeitloser Akt gedeutet werden kann. Andererseits setzen sie stets die Interaktion mehrerer Beteiligter voraus, weshalb zweitens Erkenntnis nicht als Ergebnis eines individuellen Aktes verstanden werden kann. Dies führt zur Vorstellung von Erkenntnis als einem kommunikativen Prozess, bei dem die sinnliche Erfahrung ein konstituierendes Moment ist. Der erkenntnistheoretische Bezugspunkt vieler methodologischer Überlegungen, die Erkenntnis als kommunikativen Prozess zu nutzen suchen, bilden die klassischen Positionen des Pragmatismus und des symbolischen Interaktionismus. Ihr Niederschlag findet sich bspw. in der Grounded Theory. Die Grundannahme von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus ist der Gedanke, dass Erkenntnis immer mit praktischem Handeln in Beziehung steht. 167 Wahrheit ist ein relationales Konzept, das durch Handeln immer wieder aufs Neue realisiert werden muss. Daraus leitet sich ein Konzept vom Prozess wissenschaftlicher Erfahrung und Erkenntnis ab, in dem sich Forscher ihre Wirklichkeit stets handelnd erschließen. Im Pragmatismus wird von vornherein nicht von solitären Er-

166 Zum Thema Emergenz siehe genauer den Abschnitt Selbstähnlichkeit und Emergenz – die ontologische Dimension in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 167 In Anbetracht der Vielfältigkeit pragmatistischer und interaktionistischer Positionen orientiert sich die folgende Darstellung an den Arbeiten von Jörg Strübing, in denen er die pragmatistischen und interaktionistischen Wurzeln von Wissenschaftsforschung und Grounded Theory herausarbeitet. Vgl. Strübing, Jörg, Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung. Theorie und Methode, Frankfurt am Main: Campus 2005 sowie ders., Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 139

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kenntnissubjekten ausgegangen. 168 Schon die Erfahrung gestaltet sich etwa bei Dewey als kommunikativer Prozess. In Ablehnung des Konzepts einer Unmittelbarkeit der Sinnesdaten stellt er einen direkten Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit her: »Der Begriff »Sinn« (»sense«) erstreckt sich über eine breite Skala von Bedeutungsinhalten: Sensorium, Sensation (sensational: im Sinne von äußerer Sinneswahrnehmung; d. Ü.), Sensibilität, Sinnvolles (the sensible: hier drückt sich die im Angelsächsischen besonders deutliche Verbindung von äußerer, »objektiver« Sinneswahrnehmung und Vernunft aus; d. Ü.), Sentimentalität und, parallel dazu, Sinnlichkeit. [...] Sinn aber, der sich als Bedeutung so unmittelbar in der Erfahrung verkörpert, daß er durch diese seine eigene Bedeutung erhellt, ist die einzige Bezeichnung, die die Funktion der Sinnesorgane in ihrer vollen Verwirklichung zum Ausdruck bringt. [...] Erfahrung ist das Resultat, das Zeichen und der Lohn einer jeden Interaktion von Organismus und Umwelt, die, wenn sie voll zum Tragen kommt, die Interaktion in gegenseitiger Teilnahme und Kommunikation verwandelt.« 169

Dadurch erfährt die Sinnlichkeit bei Dewey eine Aufwertung, wird aber nicht zum »Spielfeld subjektiver Empfindungen«. 170 Sinnliche Wahrnehmung ist hier nicht das Objekt kognitiver Prozesse, sondern individueller Bestandteil von Aushandlungsprozessen, die dann auf der sozialen Ebene soziale Wirklichkeiten konstituieren. Ausgangspunkt ist aber immer die Körperlichkeit der Handelnden, wie Dewey bereits in seiner frühen Kritik am psychologischen Stimulus-Response-Modell ausgeführt hat. 171

168 Vgl. Strübing, Jörg, Prozess und Perspektive. Von der pragmatischen Sozialphilosophie zur soziologischen Analyse von Wissenschaft und Technik, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 5, Nr. 2 (2004), S. 213-238, hier S. 218. 169 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 31f. 170 Engler, Ulrich, Kritik der Erfahrung. Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Philosophie John Deweys, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 209f. 171 Vgl. Dewey, John, The Reflex Arc Concept in Psychology, in: Psychological Review, Jg. 3, Nr. 4 (1896), S. 357-370. Darin folgt auf seine Kritik am Dualismus Stimulus – Response der Entwurf einer ganzheitlichen Wahrnehmung (»concrete whole«). Der Stimulus steht nicht am Anfang einer Ereigniskette, sondern ist bereits abhängig von der sensomotorischen Disposition: »If one is reading a book, if one is hunting, if one is watching in a dark place on a lonely night, if one is performing a chemical experiment, in each case, the noise has a very different psychical value; it is a different experience. In any case, what proceeds the ›stimulus‹ is a whole act, a sensori-motor coordination.« Ebd., S. 361. 140

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Erkenntnisprozesse sieht Dewey als Prozesse der Problemlösung, unabhängig davon, ob das Problem im Alltag oder in wissenschaftlichen Kontexten auftaucht. Deweys Konzept von Forschung ist ein fünfstufiger, zirkulärer Prozess. Er beginnt mit der Feststellung einer »unbestimmten Situation«. Durch die Problematisierung dieser Situation wird sie Gegenstand der Forschung. Nach der Bestimmung der Lösung des Problems erfolgen Beweisführung und experimentelle Überprüfung des Ergebnisses. Das Ergebnis gilt so lange als wahr, wie es sich in der Praxis bewährt. Gleichzeitig kann das Ergebnis aber auch Ausgangspunkt eines weiteren Forschungszirkels sein, so dass der Prozess der Erkenntnis nie zu einem Abschluss kommt und so fortlaufend Wirklichkeit konstituiert. 172 Soziales Handeln ist permanenter Wechsel zwischen Zweifel und Gewissheit. 173 Daraus folgt, dass der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und alltäglicher Erkenntnis höchstens ein gradueller, aber kein prinzipieller ist. Das pragmatistische Erkenntniskonzept zielt vor allem auf die praktischen Konsequenzen des Erkenntnisvorgangs ab. In diesem Prozess kann die strenge Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt nicht aufrechterhalten werden, da sich beide gegenseitig konstituieren. Denken ist integraler Teil von Handlung, so dass Bewusstsein kein individueller Zustand, sondern »Teilhabe an einem umfassenderen, zugleich kognitiven und materiellen Zusammenhang« 174 ist. Dieser Zusammenhang kann informationstheoretisch dahingehend reformuliert werden, dass Informationsverarbeitung nicht mehr individuell verstanden wird, sondern als paralleler Prozess. Dies bedeutet, dass sich kein »erkenntnispraktischer Zugang zur Welt durch einen privilegierten methodischen Zugang zu dieser Welt legitimieren kann, sondern erst und allein in den aus ihnen resultierenden praktischen Konsequenzen«. 175 Folglich geht es nicht um die Eliminierung des subjektiven Einflusses des Beobachters, sondern um dessen systematische Einbindung. Diese erkenntnistheoretische Position mitsamt der Betonung von Materialität und Körperlichkeit fließt später in das Konzept des – von Strübing sogenannten – pragmatistischen Interaktionismus als Verbin172 Vgl. Dewey, John, Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 129-148. Es ist klar, dass es sich hierbei auch um ein System deduktiver Logik handelt, das allerdings nicht den strengen Wahrheitskriterien des kritischen Rationalismus folgt. 173 Strübing, Prozess und Perspektive, S. 220. 174 Ebd., S. 218. 175 Ebd., S. 219. In der neopragmatistischen Zuspitzung folgert Richard Rorty, dass damit Erkenntnistheorie als Disziplin wenn auch nicht widerlegt, so doch »verabschiedet« wird, Rorty, Richard, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 16. 141

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dung von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus ein. Dazu zählt er etwa die Grounded Theory 176 und Teile der neueren sozialwissenschaftlichen Technikforschung. Den verschiedenen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie dem Konzept von Menschen als allein handelnden Subjekten widersprechen. Damit treten auch die Materialitäten der Forschung in den Vordergrund, die allerdings unterschiedlich bestimmt werden. Prominentes Beispiel für das Zusammenspiel von Mensch und Technik ist das Konzept der sogenannten »boundary objects«. 177 Darunter können technische und andere Gegenstände, aber auch Ideen und Konzepte gefasst werden, die in einer gegebenen Arena für Beteiligte aus unterschiedlichen sozialen Kontexten eine zentrale Rolle spielen. Die Objekte übernehmen darin als Schnittstellen eine Übersetzungsfunktion und werden so den unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen der Beteiligten gerecht. Sie sind gekennzeichnet durch Multiperspektivität und Prozessualität. Multiperspektivität meint die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten, die in den Objekten nicht homogenisiert, sondern organisiert und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Prozessualität deutet auf ihre Wandelbarkeit hin. Sie sind keine statischen Objekte, sondern selbst Gegenstand der Praktiken und Prozesse, durch die sie hervorgebracht werden. 178 Indem das Konzept nicht nur auf materielle Objekte angewendet werden kann, wird die Unterscheidung zwischen Mensch und Technik relativiert. Sie werden darin als Elemente eines gemeinsamen Handlungs- bzw. Kommunikationskontextes aufgefasst. Die pragmatistisch-interaktionistische Perspektive fragt dann nach den gegenseitigen Zuschreibungen und Übersetzungen zwischen menschli-

176 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm Leonard, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern: Huber 1998. Die explizite Ausarbeitung des Konzeptes von Körperlichkeit und die Bezugnahme auf pragmatistische Positionen findet sich in Strauss, Anselm Leonard, Continual Permutations of Action, New York: Aldine de Gruyter 1993, S. 107-126. 177 Vgl. Star, Susan Leigh/Griesemer, James R., Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907 - 1939, in: Social Studies of Science, Jg. 19, Nr. 3 (1989), S. 387-420. 178 Strübing, Prozess und Perspektive, S. 224. In diesem Punkt unterscheidet sich das Konzept der »boundary objects« am deutlichsten von Bruno Latours »immutable mobiles«. Latour hebt vor allem auf die Strukturaspekte dieser Objekte ab und nicht auf ihre Prozesshaftigkeit. Als stillgestellte Objekte liegt ihr Vorteil gerade in ihrem Strukturerhalt. Vgl. Latour, Bruno, Drawing things together, in: Lynch, Michael (Hrsg.), Representation in scientific practise, Cambridge, Mass.: MIT 1990, S. 1968. Zu Latour und den »immutable mobiles« siehe auch die Fußnote 16. 142

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chen und nichtmenschlichen Entitäten, die ihrerseits in den Interaktionen zwischen den verschiedenen Elementen konstituiert werden. 179 Dieses Konzept hat für unsere Fragestellung folgende Konsequenzen. Zunächst einmal gründet sich der Empirismus nun auf handlungstheoretisch verstandene Kommunikationsprozesse. Es erweitert die auf soziale Elemente beschränkten Positionen des Sozialkonstruktivismus mit den einbezogenen Materialitäten der Forschung um eine sinnliche Komponente. In Verbindung mit dem Erfahrungskonzept des Pragmatismus handelt es sich dabei selbst um ein multiperspektivisches Verständnis von Sinnlichkeit, das nun nicht mehr individuell, sondern sozial gedacht wird. Gleichzeitig findet eine Materialisierung der Wissenschaftstheorie statt. Hier wie auch in anderen Beispielen der Wissenschaftsforschung kann nicht mehr zwischen empirischer Sozialforschung und Wissenschaftstheorie unterschieden werden. Wissenschaftstheorie wird selbst zu einer praktischen Disziplin, Empirismus als Konzept wird nun selbst eine Frage der Erfahrung.

3.3 Erfahrung durch Kommunikation Endgültig auf Kommunikation als tragendes Prinzip der Sozialforschung stellt ab den 1970er Jahren die Kommunikative Sozialforschung um. 180 Diese stellt sich zunächst als theoretischer Pluralismus dar, in dem verschiedene bis dato im deutschsprachigen Raum kaum rezipierte Ansätze wie der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie, die Ethnotheorie und die Ethnographie des Sprechens eingeführt und kombiniert werden. Die Kommunikative Sozialforschung macht nicht nur Kommunikation zum Gegenstand der Forschung, sondern fordert eine kommunikative Gestaltung des Forschungsprozesses. Die Teilnahme an Kommunikationsprozessen, ihre Beobachtung und Analyse werden als gemeinsames Strukturelement ihrer Methoden verstanden. Dieses Prinzip soll durch die Gestaltung des Forschungsprozesses als Gespräch mit Rückkopplungsmöglichkeiten und selbstreflexiven Phasen umgesetzt 179 Vgl. Strübing, Prozess und Perspektive, S. 229f. 180 Die Kommunikative Sozialforschung nimmt ihren Anfang mit den Sammelbänden der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen. Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Realität (2 Bde.), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973 und dies. (Hrsg.), Kommunikative Sozialforschung. Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung, München: Fink 1976. Dieser Abschnitt führt die Darstellung der Kommunikativen Sozialforschung aus dem Abschnitt Methodologie: Kommunikation als Forschungsprinzip im einleitenden Kapitel fort. 143

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werden. Die Bielefelder Soziologen entwickeln keine eigenen Methoden und reflektieren ihren Ansatz auch nicht erkenntnistheoretisch. Die Kommunikative Sozialforschung stellt sich bei ihnen noch als Kombination unterschiedlicher theoretischer Perspektiven und der Übernahme von Methoden dar, deren Gemeinsamkeit in der kommunikativen Gestaltung der Datenerhebung besteht. Dazu gehören z.B. die teilnehmende Beobachtung, das Krisenexperiment und die Methode der dokumentarischen Interpretation, ein Vorläufer des narrativen Interviews. Da als kommunikationstheoretisches Grundgerüst zu diesem Zeitpunkt der symbolische Interaktionismus dient, ist die Kommunikative Sozialforschung handlungstheoretisch ausgerichtet. Mit ihrer Weiterentwicklung während der 1980er und 1990er Jahre wird diese Begründung aber dezidiert kommunikations- und informationstheoretisch reformuliert. Michael Giesecke und Kornelia Rappe-Giesecke verfolgen das Ziel einer »Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung«.181 Diese Integration ist handlungstheoretisch nicht zu erreichen, sondern bedarf einer Auffassung von Forschungssystemen mit allen ihren Elementen als Kommunikationssysteme und Forschungsprozesse in allen Phasen als Kommunikationsprozesse. Kommunikationssysteme werden dabei nicht als Addition psychischer Informationssysteme verstanden. Vielmehr wird die Informationsverarbeitung selbst als sozial begriffen. Soziale Informationsverarbeitung heißt dann Kommunikation bzw. Kommunikation wird umgekehrt als Sonderfall von Informationsverarbeitung verstanden. 182 Kommunikation meint dann nicht nur die Kopplung unabhängiger Informationssysteme, sondern beinhaltet auch die Kopplung unterschiedlicher, bzw. in Gieseckes Terminologie artverschiedener, Systeme (Mensch-Tier, Mensch-Technik, usw.). Parallele Informationsverarbeitung bezieht sich dabei sowohl auf ihre soziale Dimension als auch auf den einzelnen Menschen als Informationssystem. Diesen stehen unterschiedliche Sensoren (Sinne), Prozessoren (Verarbeitungsprogramme) und Effektoren (Darstellungsmedien) zur Verfügung. Dieses Kommunikationsmodell ist skalierbar und kann sowohl auf gesellschaftliche als auch auf individuelle Kommunikation übertragen werden. Dies ermöglicht im Fall der Sozialforschung die Beschreibung aller beteiligten psychischen, sozialen (institutionell, gesellschaftlich, etc.) und technischen Elemente. Im Gegensatz zu interaktionistischen Ansätzen wird 181 Vgl. Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Zur Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung in der Beratung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. 182 Vgl. ebd., S. 417. Siehe zu Gieseckes Kommunikationsbegriff auch den Abschnitt Medien und Kommunikation im einleitenden Kapitel. 144

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Kommunikation jedoch nicht auf Handlung reduziert: »Kommunikationstheoretisch betrachtet, ist jedoch das gesamte leibliche Verhalten des Menschen sein unhintergehbares Informationsmedium sowie sein – beliebig reduzierbares – potentielles Kommunikationsmedium.«183 Unhintergehbar ist auch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Sinne: »Die äußere Umwelt kann weder monosensuell oder zentral – von einem neuronalen oder psychischen Zentrum – erkannt noch monomedial gespeichert und dargestellt werden.« 184 Wird Kommunikation im Sinne sozialer Informationsverarbeitung bzw. die Formel »Sozialforschung als ein kooperatives Gespräch« 185 zum leitenden Prinzip des Empirismus, hat dies Auswirkungen auf die Parameter des Erfahrungsmodells. Selbst- und Umweltbeobachtung erscheinen dann nicht mehr allein als individuelle, sondern ebenfalls als soziale Beobachtungsperspektiven. Giesecke unterscheidet dabei zwischen individueller und sozialer Selbstwahrnehmung und individueller und sozialer Selbstreflexion. Selbstwahrnehmung ist dabei ein parallel ablaufender Bestandteil der Umweltwahrnehmung, ihr Ergebnis sind latente Selbstbeschreibungen. Selbstreflexion ist dagegen eine Beobachtung zweiter Ordnung, bei der die Mechanismen der Selbstwahrnehmung beobachtet und rekonstruiert werden. Während dies normalerweise nur in Krisensituationen und bei Störungen geschieht, versucht die Kommunikative Sozialforschung, Selbstreflexion systematisch zu nutzen, bspw. durch die Erhebung affektiver Daten in einer Forschergruppe. Der entscheidende Punkt des Empirismuskonzepts der Kommunikativen Sozialforschung ist nun aber nicht, dass neben Umweltbeobachtungen auch Selbstbeobachtungen systematisch genutzt werden. Vielmehr wird die Selbstbeobachtung als integraler Bestandteil der Umweltbeobachtung verstanden: es geht um die »Entdeckung der Umwelterkundung durch soziale Selbstreflexion« 186 . Während nun Kommunikation im Allgemeinen als Kopplung unterschiedlicher Informationssysteme beschrieben wird, wird die Nutzung technischer Medien als grundlegende Voraussetzung der Kommunikativen Sozialforschung angesehen: »Sie ist in allen Phasen an elektronische Medien gebunden und diese Speichertechnik prägt ihre Methodik.« 187 Der Erfahrungsraum der kommu183 Giesecke, Michael, Ökologische Medienphilosophie der Sinne. Eine kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive, in: Nagl, Ludwig/Sandbothe, Mike (Hrsg.), Systematische Medienphilosophie, Berlin: Akademie-Verlag 2005, S. 37-64, hier S. 44f. 184 Ebd., S. 51. 185 Giesecke/Rappe-Giesecke, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung, S. 42. 186 Ebd., S. 43 (kursiv im Original). 187 Ebd., S. 44. 145

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nikativen Sozialforschung wird also durch das Zusammenwirken leiblicher, sozialer und technischer Medien aufgespannt. Dieses Axiom ist selbst keine der Sozialforschung vorausgehende Setzung, sondern selbst das Resultat der Arbeit mit Ton- und Videoaufzeichnungen. Folglich gilt auch in diesem Fall, dass Wissenschaftstheorie wiederum Resultat praktischer Forschung ist. Der Empirismus der Sinnlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass er Menschen in unterschiedlichem Ausmaß als komplexe Informationssysteme auffasst. Grundlage der Erfahrbarkeit der Welt ist einerseits das Vorhandensein unterschiedlicher Sinne und Programme der Informationsverarbeitung und andererseits die kommunikative Interaktion mit der Umwelt. In der Ethnopsychoanalyse stellt sich diese Interaktion in erster Linie als Auftreten von Spiegelungen dar, im pragmatischen Interaktionismus als Handlung und in der Kommunikativen Sozialforschung als parallele Informationsverarbeitung, auf deren Grundlage die Differenz von Umwelt- und Selbstbeobachtung als komplementäres Verhältnis neu bestimmt wird. Der Empirismus der Sinnlichkeit kommt nicht ohne Subjekt aus, das die Welt sinnlich erfährt. Dieser Empirismus ist aber immer ein sozialer Empirismus, der nicht ohne den Anderen auskommt. Das Subjekt dieses Empirismus ist zudem immer nur im Plural und damit multiperspektivisch zu denken. Dieses soziale Subjekt ist jedoch mehr als ein soziologisches Subjekt, dessen Pluralität sich in seiner Sozialität erschöpft. Vielmehr sind seine Begründungen auch psychologisch, anthropologisch und kulturell. Ich schlage deshalb vor, von einem sinnlich-sozialen Subjekt zu sprechen. Indem der Empirismus der Sinnlichkeit andere Sinne und Formen der Informationsverarbeitung einbezieht, wird das Primat von Visualität und Rationalität relativiert. Das bedeutet nicht, dass diese Prinzipien ausgeschlossen werden. Sie erscheinen aber nur noch als Aspekte unter anderen in einem nicht die Sinne hierarchisierenden Empirismus. Analog zur Feststellung über die unterschiedlichen logischen Schlussverfahren gilt auch hier, dass statt einer Hierarchisierung der Medialitäten der Sozialforschung es die Aufgabe der Wissenschaftstheorie ist, ihre unterschiedlichen Leistungspotenziale zu beschreiben, damit sie funktional einsetzbar werden.

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DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

4 Fazit 4.1 Empirische Sozialforschung als Zusammenspiel von Logik, Differenz und Sinnlichkeit Ausgehend von Gieseckes Kommunikationsmodell stellt sich der Empirismus der Sozialforschung folgendermaßen dar. Der Empirismus der Logik beschreibt Wissenschaft in erster Linie als rationale Informationsverarbeitung, bei der Daten aus der Umwelt von Forschern transformiert werden. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Frage, was als Umwelt aufgefasst wird, und der Hervorhebung der unterschiedlichen Dimensionen von Informationsverarbeitung sowie der Beobachtungsrelationen. Deduktive Logiken betonen Umweltbeobachtung, induktive Logiken betonen Selbstbeobachtung und abduktive Logiken betonen die Relation zwischen Umwelt- und Selbstbeobachtung. Folglich ist Deduktion primär informationstheoretisch orientiert, Induktion spiegelungstheoretisch und Abduktion netzwerktheoretisch. Informationen sind in allen Fällen die Ergebnisse dieser Informationsverarbeitungsprozesse. Der Empirismus der Differenz beschreibt Wissenschaft in erster Linie als Vernetzungsprozess. Dies leitet sich aus der relationalen Neubestimmung des Subjekts – Relationalität statt Subjektivität – ab. Insbesondere in der Diskursanalyse wird die Vernetzung anscheinend disparater Gegenstände betrieben. Der Informationsgehalt der Ergebnisse besteht in eben jenen aufgedeckten oder erzeugten Relationen. Die Entsubjektivierung des Forschers wird dabei einer Logik der Steigerung unterworfen. Der Empirismus der Sinnlichkeit hebt die Bedeutung unterschiedlicher Sinne hervor und beschreibt Wissenschaft in erster Linie als Kommunikation im Sinne paralleler Informationsverarbeitung. Wesentliches Element ist die Nutzung von Spiegelungsprozessen. Damit ist kein naiver Realismus gemeint, sondern die Spiegelung in artverschiedenen Medien. Informationen emergieren auf unterschiedlichen Niveaus. Der Empirismus der Sinnlichkeit beschreibt Wissenschaft aber auch als Vernetzung dieser Sinne. Von daher nutzt er die Komplexität sinnlicher Wahrnehmung und sozialer Informationsverarbeitung. Kommunikationstheoretisch kann Erfahrung als Produkt der spezifischen Vernetzung von Informationssystemen beschrieben werden. Im Empirismus der Logik handelt es sich um die Vernetzung von Forschersubjekt und Umwelt. Deduktion und Induktion beschreiben die Vernetzung als unidirektional. In der Abduktion wird zwischen den verschiedenen Richtungen der Vernetzung oszilliert. Im Empirismus der Differenz ist das Forschersubjekt bereits Element des Informationssystems 147

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Umwelt. Vernetzung meint hier die Herstellung alternativer Relationen und Differenzen. Im Empirismus der Sinnlichkeit schließlich konstituiert sich das Informationssystem durch die Aufhebung der Subjekt-UmweltDifferenz. Vernetzung meint hier die multimediale Koppelung der beteiligten Elemente. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Konzeptionen von Empirismus, auf die sich die empirische Sozialforschung bezieht und die in ihr wirksam werden, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung wird deutlich, dass der Empirismus der Logik je nach Ausprägung auch ein Konzept der Vernetzung beinhaltet und bestimmte sinnliche Qualitäten bevorzugt. Das gleiche gilt umgekehrt auch für den Empirismus der Differenz und den Empirismus der Sinnlichkeit in Bezug auf die zugrunde gelegten Modelle rationaler Informationsverarbeitung. Diese gegenseitige Abhängigkeit verdeutlicht die hier vertretene Meinung, dass es keinen Sinn macht, trotz der Unterschiede von Empirismen im Plural zu sprechen. Stattdessen schlage ich vor, den Empirismus der empirischen Sozialforschung schon auf der Ebene der Wissenschaftstheorie als Zusammenspiel der drei Dimensionen Informationsverarbeitung, Vernetzung und Sinnlichkeit aufzufassen. Daraus ergibt sich folgendes Konzept: Empirismus ist als wissenschaftstheoretisches Konstrukt das emergente Produkt einer bevorzugten Form von Informationsverarbeitung, einer bevorzugten Vorstellung der Vernetzung von Forschern und Forschungsgegenständen und einer bevorzugten Sinnlichkeit. Auf den ersten Blick wäre es denkbar, auch die jeweiligen Konzepte von Subjekt bzw. Subjektivität hier miteinzubeziehen. Empirismus und Erfahrung sind in der Tat nicht ohne ein wie auch immer verfasstes Subjekt denkbar. Es in den Vordergrund zu rücken, wie im Empirismus der Logik, lenkt jedoch von der Tatsache ab, dass die jeweiligen Subjekte sowohl Resultat als auch Voraussetzung der jeweiligen wissenschaftstheoretischen Empirismuskonzeptionen sind. Es handelt sich folglich immer schon um ein zirkuläres Konzeptnetzwerk. Die Entscheidung für eine bestimmte Ausprägung des Empirismus, sei es auf der Ebene der Wissenschaftstheorie oder der praktischen Forschung, beinhaltet also immer auch die Entscheidung darüber, von welcher Stelle dieses zirkulären Netzwerkes aus man argumentiert oder operiert. Vorstellungen von den Subjekten der empirischen Sozialforschung erscheinen dann als Grundannahmen, die den Prozess der Forschung steuern. Im Einzelnen werden folgende Subjekte angenommen: im Empirismus der Logik das klassische, solitäre Erkenntnissubjekt, im Empirismus der Differenz das dezentrierte, relationale Subjekt und im Empirismus der Sinnlichkeit das sinnlich-soziale Subjekt. 148

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

Die Form der Informationsverarbeitung entspricht der epistemologischen Dimension. Sie bestimmt die informationstheoretische Konstitution des Erfahrenen. Im Empirismus der Logik wird die rationale Informationsverarbeitung bevorzugt. Sie erfolgt primär linear und durch die solitären Forschersubjekte. Die erzeugten Informationen sind die Ergebnisse logischen Schlussfolgerns. Im Empirismus der Differenz erfolgt die Informationsverarbeitung durch Relationierung und Systembildung. Sie erfolgt primär rekursiv und ebenfalls durch die solitären Forschersubjekte. Die erzeugten Informationen sind die hergestellten Beziehungen. Im Empirismus der Sinnlichkeit wird Kommunikation als Modus der Informationsverarbeitung bevorzugt. Sie erfolgt parallel und durch die sinnlich-sozialen Forschersubjekte, die sich aus dem Zusammenwirken von Forschern und Beforschten ergeben. Die Wahrnehmung bzw. Art der Vernetzung mit der Umwelt entspricht der topologischen Dimension. Das Subjekt der Erfahrung muss mit den Gegenständen der Erfahrungen in ein Verhältnis treten. Der Empirismus der Logik bevorzugt visuelle Beobachtungsverhältnisse. Unabhängig von ihrer Richtung impliziert die Logik als Ort der Beobachtung stets einen außenstehenden Beobachterstandpunkt. Auch der Empirismus der Differenz bevorzugt visuelle Beobachtungsverhältnisse und eine darauf reduzierte Sinnlichkeit. Zwar zeichnet er sich durch eine verminderte Distanz zwischen der Forschung und ihren Gegenständen bzw. durch ihre Interdependenz aus, jedoch erlauben ihm seine Grundannahmen nur die Theorie als primären Ort der Beobachtung, in der sich die Beobachtung selbst vollzieht. Der Empirismus der Sinnlichkeit schließlich bevorzugt als Form der Vernetzung multisensorale und –prozessorale Kopplung. Erst die Kombination unterschiedlicher Sinne und Standpunkte ermöglicht die Sozialisierung des Forschersubjekts, das Erfahrung kommunikativ generieren und weiterverarbeiten kann. Der ontologischen Dimension des Empirismus entspricht die Vorstellung von der Spiegelung bzw. Übertragung von Forschungsgegenständen auf die jeweilige wissenschaftliche Matrix. Im Empirismus der Logik vollzieht sich diese Spiegelung auf der Ebene der logisch generierten Modelle. Sie geben die untersuchten Sachverhalte in logisch nachvollziehbarer Weise wieder. In der Logik der Differenz vollzieht sich diese Spiegelung durch die Konstruktion von Beziehungen sowie durch die Dekonstruktion sich selbst vollziehender Differenzen. Daraus ergeben sich Netzwerke in Form von Theorien. Der Empirismus der Sinnlichkeit erzeugt Redundanzen zunächst und vor allem durch die Spiegelung von Sachverhalten in den Forschungssystemen selbst. Die Abstraktion der so gewonnenen und ausgewerteten Daten zu Theorien und Modellen erfolgt erst am Ende bzw. gestaltet sich als rekursives 149

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Wechselspiel zwischen den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses. Diese Systematisierung ist eine analytische. In der Praxis der Forschung lassen sich die verschiedenen Empirismuskonzepte wohl selten in Reinform identifizieren. Daher handelt es sich folglich um kein geschichtliches Entwicklungsmodell der verschiedenen Ausprägungen von Empirismus. Das bedeutet, dass die bevorzugten Standpunkte nie durchgehend eingehalten werden. Auch die quantitative Sozialforschung ist darauf angewiesen, Hypothesen zu generieren, auch qualitative Sozialforscher zählen, relationieren, usw. Das Beispiel der teilnehmenden Beobachtung kann dies verdeutlichen. Hier werden wie bereits dargelegt unterschiedliche Beobachterperspektiven genutzt. Die Teilnahme in einem Feld kann aber auch als Differenzierungs- und Relationierungsprozess betrachtet werden. Die pure Anwesenheit der Forscher macht hier schon den Unterschied. Und schließlich ist diese Methode in höchstem Maße auch dem Empirismus der Sinnlichkeit verpflichtet. Forscher gehen mit ihrer ganzen Persönlichkeit ins Feld, mit allen Sinnen und nicht nur mit ihrem Kopf, sondern auch mit Bauch und Herz. 188 In Bezug auf die Prozesstypen heißt dies, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr handelt es sich auch hier um ein Oszillieren zwischen den Typen. Dies drückt sich auch in der Parallelität der Prozesse aus. Damit sind eben nicht nur homogene Prozesse, sondern auch heterogene Prozesse gemeint, die parallel ablaufen können. Aus einer anderen Perspektive können alle Empirismuskonzepte als Strategien im Umgang mit der Komplexität der Sozialforschung betrachtet werden. Sie unterscheiden sich nach dem Grad der Erhaltung der Komplexität. In den meisten Fällen handelt es sich um die Reduzierung von Komplexität. Diese kann in Bezug auf die Informationsverarbei188 Das kann auch schmerzhaft sein. Der Tierfreund Devereux kam einmal während seiner Feldforschungen bei den Sedang-Moi in Indochina in die Verlegenheit, aus rituellen Gründen ein Schwein mit einer Keule erschlagen zu müssen. Dies gelang ihm mit Hilfe seiner professionellen Einstellung: »Die Tatsache, daß ich mich dazu zwingen konnte, überhaupt so etwas durchzuführen, zeigt die Wirksamkeit der »Ich bin ein Wissenschaftler«-Definition.« Devereux, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, S. 128 (kursiv im Original). Hier kann endgültig nicht mehr zwischen den Standpunkten des wissenschaftlichen Beobachters und des Teilnehmers unterschieden werden. Devereux versuchte, einen Standpunkt einzunehmen, der beide Aspekte vereinigt: seiner Rolle gerecht zu werden und das eigene Unbehagen mit wissenschaftlichem Methoden minimieren. »Worauf es hierbei ankommt, ist, daß ich eine riesige Keule benutzte, und so das kleine Schwein mit einem einzigen Streich tötete, während ein Sedang-Ersatzmann es mit einem Stock langsam zu Tode geschlagen hätte.« Siehe ebd. (kursiv im Original). 150

DER EMPIRISMUS DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG

tung, die Wahrnehmungsmodalitäten, -perspektiven oder die Dynamik des Forschungsprozesses erfolgen. Empirismus meint nicht Empirie, sondern die Hierarchisierung von Medien und eine graduelle Entsozialisierung sozialer Prozesse. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich die einzelnen Methoden der Sozialforschung aus einer komplexitätstheoretischen Perspektive betrachtet. Dann wird die Komplexität der Sozialforschung zu einem praktischen Problem. Damit befasst sich das folgende Kapitel III »Die Komplexität der Sozialforschung«. Die Reduzierung des Empirismus der Sozialforschung schon auf der Ebene der Wissenschaftstheorie auf eine bevorzugte Perspektive nebst den darin zur Verfügung stehenden Medien bedeutet immer auch die Nicht-Verwertung anderer zur Verfügung stehender Informationen. In Abhängigkeit vom theoretischen und methodischen Entwicklungsstand der Sozialforschung und den technischen Voraussetzungen ist dies gegebenenfalls auch sinnvoll. Angesichts der mittlerweile zur Verfügung stehenden technischen Speicher-, Vernetzungs- und Verbreitungsmedien erscheint die Beschränkung auf einen Sinn jedoch nicht mehr nachvollziehbar. Es besteht keine Notwendigkeit, Sozialforschung als mediale Monokultur zu gestalten. Es kann festgehalten werden, dass die Orientierung an einem bestimmten Empirismus immer auch eine Vorauswahl der zur Verfügung stehenden Methoden und zulässigen Medien bedeutet. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Wahl einer bestimmten Methode die Entscheidung für eine bestimmte Weltsicht und für eine bestimmte Selbstsicht darstellt sowie darüber, wie sich die Beziehung zwischen beiden Perspektiven gestaltet.

4.2 Der Status der Wissenschaftstheorie Vor diesem Hintergrund können nun auch der Status von Wissenschaftsund Erkenntnistheorie und ihre Beziehung zur Forschung bestimmt werden. Hier sind drei verschiedene Modi denkbar. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass die Wissenschaftstheorie normativ als der Forschung vorrangig gedacht wird. Dem entspricht die Position des klassischen Rationalismus. Als Anleitung verstanden bedeutet dies, dass Forschung immer einer deduktiven Logik folgt. Man kann also nicht nicht-deduktiv forschen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Wissenschaftstheorie deskriptiv als Produkt praktischer Forschung gedacht wird, sie also aus einer Makroperspektive gesehen induktiv gewonnen wird. Dem entspricht die pragmatistisch-interaktionistische Technikforschung. Das Problem dabei ist allerdings die Tatsache, dass ihre Ergebnisse, sollen sie denn Gültigkeit besitzen, im nächsten Schritt wieder vor der Forschung kommen. Man gerät so in einen zirkulären induktiv-deduktiven 151

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Teufelskreis. Insofern verwundert es nicht, dass der Falsifikationismus und der Pragmatismus zum gleichen Ergebnis kommen: so lange wissenschaftliche Vorgehensweisen funktionieren, sind sie akzeptabel; folglich braucht man gar keine Wissenschaftstheorie. Die Entscheidung zwischen deskriptiver und normativer Wissenschaftstheorie führt also in ein Dilemma. 189 Ausgehend von der Annahme, dass mit Wissenschaft immer Prozesse gemeint sind, kann diese Alternative mit den Begriffen des allgemeinen Prozessmodells umformuliert werden. Dementsprechend stellt sich normative Wissenschaftstheorie als linearer unidirektionaler Prozess dar, der von der Wissenschaftstheorie zur Forschung führt. Deskriptive Wissenschaftstheorie entspricht dann einem zirkulären Prozess. Die Wissenschaftstheorie leitet sich aus der Forschung ab und fungiert dann wieder normativ für die nachfolgende Forschung. Ich schlage also vor, das Verhältnis zwischen Wissenschaftstheorie und Forschung als ein Verhältnis paralleler Prozesse aufzufassen. Dies ist auch deshalb sinnvoll, da jede Wissenschaftstheorie mittelbar auch eine Gegenstandstheorie ist und umgekehrt; und zwar eine Theorie der untersuchten Gegenstände wie auch der Wissenschaft als solcher und der psychischen und sozialen Systeme, die Wissenschaft konstituieren und betreiben. Beide sind nicht unabhängig voneinander denkbar. Aus dieser Perspektive kann der Ort der Produktion von Wissenschaftstheorie weiterhin die praktische Wissenschaftsforschung sein, und ihre Formulierung der Ort ihrer expliziten Selbstreflexion. Forschung beinhaltet dann immer auch ein Stück weit ihre eigene Wissenschaftstheorie. Im Ergebnis weist diese relative Freiheit auf nichts anderes hin als auf Feyerabends methodischen Anarchismus. Der Unterschied besteht aber darin, dass dieser sein Konzept nur in Gegenabhängigkeit zu Popper und damit im Rahmen des Empirismus der Logik zu formulieren vermochte. Diese Sichtweise einer prinzipiellen Verschränkung von praktischer Forschung und Wissenschaftstheorie beinhaltet keine normative und feststehende Beschreibung ihres Verhältnisses. Vielmehr soll sie gerade dies verhindern. Es kann durchaus sinnvoll sein, Abstand zu nehmen und Wissenschaftstheorie als genuin theoretische Reflexion wissenschaftlicher Praxis zu betreiben. In weiten Teilen folgt auch diese Arbeit diesem Prinzip. Jedoch geschieht dies in dem Bewusstsein, dass dies immer nur eine Möglichkeit darstellt und dass es sinnvoll ist, zwischen den verschiedenen Perspektiven und Prozesstypen zu oszillieren, da sie je ihre eigenen funktionalen Potenziale besitzen.

189 Diese Alternative wird zuletzt diskutiert in Gesang, Bernward (Hrsg.), Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie? Frankfurt am Main: Ontos 2005. 152

III. D I E K O M P L E X I T Ä T D E R S O Z I A L F O R S C H U N G U N D S T R AT E G I E N I H R E R B E W Ä LT I G U N G

The essence of science is not to be found in its outward appearance, in its physical manifestations; it is to be found in its inner spirit. Warren Weaver 1

Nachdem im vorangegangenen Kapitel die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen der empirischen Sozialforschung und ihr Verhältnis zu den Methoden betrachtet wurden, rücken nun die Verfahren und Methoden selbst in den Vordergrund. Im Zentrum des Interesses stehen die in Form von Methoden institutionalisierten Kommunikationsprozesse der Sozialforschung. Um die unterschiedlichen Ansätze und Verfahren vergleichbar zu machen, werden sie aus einer komplexitätstheoretischen Perspektive betrachtet. Dieser Ansatz ist innovativ, da komplexitätstheoretisches Denken sich in den Sozialwissenschaften fast ausschließlich auf ihre Gegenstände bezieht, aber nicht selbstreflexiv auf ihre eigene Praxis angewendet wird. Die Ausgangsthese lautet, dass die Komplexität der Sozialforschung darin besteht, dass sie komplexe Kommunikationssysteme konstituiert. In ihnen werden unterschiedliche psychische, soziale und technische Medien und Kommunikatoren in Beziehung zueinander gesetzt. Diese Kommunikationssysteme sind konstituierendes Merkmal der Sozialfor-

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Weaver, Warren, Science and Complexity, in: American Scientist, Jg. 36 (1948), S. 536-544, verfügbar unter: http://www.ceptualinstitute.com/genre/weaver/weaver-1947b.htm. 153

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

schung. Komplexitätstheoretische Betrachtungen sind in besonderem Maße zu ihrer Beschreibung geeignet, da sie es ermöglichen, das Zusammenspiel unterschiedlicher Elemente und Prozesse gleichzeitig zu erfassen. Sie versprechen folglich ein besseres Verständnis des in den Medien- und Kommunikationswissenschaften oftmals vernachlässigten Zusammenspiels von Medien und Kommunikation. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist die Entwicklung eines Modells, mit dem auch scheinbar völlig disparate Verfahren hinsichtlich ihrer Kommunikationsprozesse verglichen werden können. Dazu werden zunächst in einer kurzen Einführung die Möglichkeiten und Vorteile von komplexitätstheoretischen Überlegungen betrachtet. Im zweiten Schritt wird dann ein Modell erarbeitet, mit dem die Komplexität der Sozialforschung beschrieben werden kann. Dies erfolgt einerseits durch den Rückgriff auf konkrete Theorieangebote, andererseits aber auch schon im Hinblick auf empirische Befunde, die ebene jene Komplexität aufscheinen lassen. Komplettiert wird dieses Modell jedoch erst durch den dritten Schritt. Verschiedene Methoden werden hinsichtlich ihres Umgangs mit dieser Komplexität betrachtet. Hier sind prinzipiell drei Strategien möglich: die Reduktion, der Erhalt sowie die Induktion von Komplexität.

1 D a s Ve r s p r e c h e n d e r K o m p l e x i t ä t Im Jahr 1948 rief der Mathematiker Warren Weaver ein Forschungsprogramm aus, dessen Umsetzung er auf 50 Jahre taxierte. In seinem Aufsatz »Science and Complexity«2 forderte er Natur- und Sozialwissenschaften auf, sich fortan insbesondere den Problemen organisierter Komplexität zu widmen. Darunter verstand er Phänomene, die mit den klassischen Instrumenten der Wissenschaft, der kausalen Erklärung wie der statistischen Beschreibung, nicht adäquat zu erfassen sind. Kausale Erklärungen betrachtete er als Antworten auf simple Fragen, die ihre Gegenstände auf wenige heterogene Variablen reduzierten. Statistische Beschreibungen dagegen konstruieren ihre Gegenstände als Masse homogener Elemente. Unter den Problemen organisierter Komplexität verstand Weaver nun Probleme, die zwischen diesen extremen Polen liegen. Sie umfassten eine größere Zahl heterogener Variablen, wobei der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Beziehungen zwischen den einzelnen Variablen und auf ihrer Organisation liegen sollte. Damit verallgemeinerte Weaver ein Erkenntnisinteresse, das sich zuvor in verschie2

Ebd.

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DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

denen Feldern schon manifestiert hatte. Im 19. Jahrhundert geriet die auf der von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelten Infinitesimalrechnung beruhende und seither prämierte Vorstellung einer generellen Linearisierbarkeit ins Wanken. 3 Nach Newton waren alle physikalischen Wirkungen durch Kräfte als Ursachen bestimmt, wodurch sich alle physikalischen Ereignisse erklären und berechnen lassen sollten. Bei Pierre-Simon Laplace wurde daraus später der als Laplace’scher Dämon bekannte Glaube an die universale Berechenbarkeit der Natur, vorausgesetzt alle Naturgesetze und Anfangsbedingungen seien bekannt. 1837 führte Pierre-François Verhulst die logistische Gleichung als demografisches Modell ein, das zeigte, wie aus einfachen nichtlinearen Gleichungen komplexes und chaotisches Verhalten hervorgehen kann. 4 Henri Poincarè zeigte 1892, dass sich das Mehrkörperproblem nurmehr durch nichtlineare Gleichungen darstellen lässt und daher nicht eindeutig, sondern nur approximativ lösen lässt. Damit war ein wesentlicher Bestandteil heutiger Theorien komplexer Systeme benannt: die Nichtlinearität. Moderne Komplexitätstheorien gehen jedoch nicht ausschließlich auf die Mathematik zurück. Es lassen sich verschiedene Geschichten und Vorspiele erzählen. George Richardson etwa zeigt in seiner historischen Darstellung des Rückkopplungs-Konzepts Vorläufer in Ingenieur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie in der Logik bis zurück in die Antike 5 und Joseph Vogl betrachtet Regierungslehre als »historisches Vorspiel« 6 der Kybernetik. Weavers Programm ist also keinesfalls der Ausgangspunkt einer bis heute weitreichenden Theorielinie, fällt aber genau in jene Zeit, in der sich die Idee komplexer Systeme rasant verbreitete und dabei unter-

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Vgl. Jost, Jürgen, Das Paradigma des Nichtlinearen, Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur 2003, S. 14. Bei Verhulst taucht zum ersten Mal das Problem der Komplexität im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen auf. Zeitlich fällt dies jedoch zusammen mit der Arbeit von Adolphe Quételet, der in seinem Werk Soziale Physik gerade die statistische Berechenbarkeit vieler sozialer Tatbestände zeigt. Vgl. Quételet, Adolphe Lambert Jacques, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen, Jena: Gustav Fischer 1914. Richardson, George P., Feedback Thought in Social Science and Systems Theory, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1991, S. 17-91. Die bekannteste frühe theoretische Auseinandersetzung ist Maxwells Beschreibung des Fliehkraftreglers wie er etwa in Dampfmaschinen zum Einsatz kam. Vgl. Maxwell, James Clerk, On Governors, in: Proceedings of the Royal Society, Jg. 16, Nr. 100 (1868), S. 270-283. Vogl, Joseph, Regierung und Regelkreis. Historisches Vorspiel, in: Pias, Claus (Hrsg.), Cybernetics – Kybernetik II. The Macy-Conferences 19461953. Essays und Dokumente, Zürich/Berlin: diaphanes 2004, S. 67-79. 155

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schiedliche Formen annahm. Dazu gehören die allgemeine Systemtheorie, die Kybernetik und die Informationstheorie. Der Biologe Ludwig von Bertalanffy formuliert seine allgemeine Systemlehre als Antwort auf das Auftauchen »ganzheitlicher« Betrachtungsweisen in Physik, Biologie, Psychologie und Soziologie. 7 Ihr Ziel sind logisch-mathematische Beschreibungen der Prinzipien, die »für Systeme überhaupt« gelten. In Abkehr von den klassischen deduktiven Verfahren schlägt er statt der isolierten Betrachtung von Einzelphänomenen eine Beschreibung von Phänomenen in ihrer Vernetzung vor. Organisierte Komplexität meint hier folglich die reziproke Vernetzung der Systemelemente statt linearer Kopplung. Weiteres wesentliches Merkmal ist ihre Selbstorganisation, d.h., dass solche Systeme von Umweltveränderungen nicht kausal beeinflusst werden, sondern selbstständig ihre interne Organisation umstellen. Der zweite wichtige Beitrag zur Theorie komplexer Systeme ist die Kybernetik, als deren Gründungsveranstaltungen die zwischen 1946 bis 1953 stattfindenden Macy-Konferenzen gelten. Unter dem Titel »Circular Casual and Feedback Mechanism in Biological and Social Systems« widmen sie sich der Suche nach einer universellen Theorie der Steuerung und Kontrolle. Als Vertreter der Sozialwissenschaften nehmen u.a. Gregory Bateson, Margaret Mead, Paul Lazarsfeld und Kurt Lewin teil. 8 Die Kybernetik legt den Fokus auf die Beschreibung der Kommunikation und Steuerung von Rückkopplungsmechanismen in strukturell komplexen Systemen. Kommunikation meint dabei die Aufnahme, Verarbeitung, Übertragung und Rückkopplung von Informationen. Die Konzentration auf Information als zentrales Konzept ermöglicht die interdisziplinäre Anwendung der Kybernetik. Weaver verspricht sich von der Beschäftigung mit Problemen organisierter Komplexität die Beantwortung zahlreicher Fragen, die mit den Mitteln der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts nicht zu beantworten waren. In seiner optimistischen Vorausschau bezieht er sich gleichberechtigt auf Natur- und Sozialwissenschaften. Diesem Optimismus steht zunächst die skeptische Haltung Norbert Wieners gegenüber, der die 7

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Vgl. Bertalanffy, Ludwig von, Zu einer allgemeinen Systemlehre, in: Biologica Generalis. Archiv für die allgemeinen Fragen der Lebensforschung, Bd. 19, Nr. 1 (1949), S. 114-129, hier S. 114 (Bisweilen wird die erste Veröffentlichung des Textes angegeben mit Blätter für deutsche Philosophie, Bd. 18, Nr. ¾ (1945). Der Text war in der Tat für diese Zeitschrift vorgesehen, jedoch wurde ihr Erscheinen nach Band 18, Nr. 1/2 (1944) eingestellt. Bertalanffys fügt in der Version in Biologica Generalis ausdrücklich hinzu »nicht feststellbar, ob erschienen«, siehe ebd., S. 128). Zu den Macy-Konferenzen siehe Pias, Claus (Hrsg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953 (2 Bde.), Zürich/Berlin: diaphanes 2003/04.

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DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

Übertragbarkeit der Prinzipien seiner Kybernetik auf Sozial- und Kulturwissenschaften bezweifelt. Eines der Argumente war das Fehlen ausreichend langer statistischer Reihen, das keine legitime logische Induktion zuließ.9 Diese Skepsis verweist auf den besonderen Standpunkt der Kybernetik innerhalb der Theorien komplexer Systeme. In ihr geht es um die Steuerung und damit auch um die Prognose von komplexen Systemen. In ihrem Fokus stehen große Zahlen. Um große Zahlen dreht sich auch der dritte wichtige Beitrag in der Frühzeit der Komplexitätstheorien, die Kommunikationstheorie von Claude Elwood Shannon. 10 Diese Theorie stellt Kommunikation radikal vom hermeneutischen Verständnis als Vermittlung von Inhalten auf eine statistische Beschreibung um. Als Leitdifferenz in diesem Modell fungiert die Unterscheidung zwischen Signal und Rauschen. Eine Nachricht erweist sich aus dieser Perspektive als Selektion aus diesem Rauschen: »die tatsächliche Nachricht [ist] aus einem Vorrat an möglichen Nachrichten ausgewählt worden« 11 . Bei der Übertragung ist die Nachricht verschiedenen Störungen ausgesetzt, die sie verzerren. Analog dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Prinzip der Entropie, wird Information im Verhältnis zur Störung bestimmt. Je größer die Störung, je größer die Unordnung, desto größer der Informationsgehalt einer Nachricht. Das Rauschen, die Überkomplexität ist also nicht die Ausnahme oder der Unfall, sondern die Regel und vielmehr noch die Möglichkeitsbedingung von Kommunikation. Das Rauschen wird zum Weltengrund, auf dem sich entgegen der Wahrscheinlichkeit von Entropie Ordnung in Form von Information bildet. 12 Es handelt sich aber nicht um organisierte Komplexität in Weavers

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Siehe zu den Einwänden Wieners und deren Rekonstruktion durch Claude Lévi-Strauss Rieger, Stefan, Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 11-15. 10 Vgl. Shannon, Claude Elwood/Weaver, Warren, The Mathematical Theory of Communication, Urbana, Illinois: University of Illinois Press 1949. 11 Shannon, Claude Elwood/Weaver, Warren, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München: Oldenbourg 1976, zitiert nach Kümmel, Albert, Mathematische Medientheorie, in: Kloock, Daniela/Spahr, Angela, Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink 1997, S. 205236, hier S. 218 (kursiv im Original). 12 Dieses mathematische Modell ist Vorbild kultur- und sozialwissenschaftlicher Kommunikationsmodelle. So taucht das Rauschen bei Michel Serres als Parasit auf, der als Störer und Mitesser Bedingung von Kommunikation ist. Vgl. Serres, Michel, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Dirk Baecker versucht dagegen, auf der Grundlage der mathematischen eine soziologische Theorie der Kommunikation zu entwerfen, in die somit ebenfalls eine Figur des Dritten eingeführt wird: »Wenn wir wissen wollen, wie Kommu157

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Sinne, denn Information und Kommunikation sind aus der Perspektive dieser Theorie statistisch zu bewältigen. Auf der Grundlage dieser in großer zeitlicher Nähe entstandenen Konzepte sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe systemtheoretischer Ansätze entstanden. Im deutschsprachigen Raum ist die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann am prominentesten. Weitere Beiträge sind die Theorie autopoietischer Systeme, die Chaostheorie oder die Synergetik, die jeweils spezielle Aspekte komplexer Systeme akzentuieren. 13 Diesen Theorieansätzen ist eine ganze Reihe von Konzepten zu verdanken. Neben der Nichtlinearität zählen dazu etwa Selbstorganisation, Selbstähnlichkeit oder Emergenz. Zusammen genommen sind die konzeptuellen Arsenale komplexitäts- und systemtheoretischer Modelle reich bestückt und spiegeln so schon auf dieser Ebene die Komplexität ihrer Gegenstände. Die unterschiedlichen Akzentuierungen dagegen erweisen sich bereits wieder als Reduktion dieser Komplexität. Die Einführung komplexitätstheoretischer Betrachtungsweisen unterläuft bewährte Deutungsmuster in den Wissenschaften. Mit der Einführung der Konzepte Nichtlinearität und Rückkopplung ist zunächst das Versprechen verbunden, den Binarismus von Chaos und Ordnung aufzulösen. 14 Chaos oder Rauschen erscheint plötzlich nicht mehr als das UnGeordnete, als die Ausnahme vom Regelfall Ordnung. Vielmehr erscheint Chaos nun als die Regel und Ordnung als Spezialfall. Diese Sichtweise bewirkt, dass zuvor unterdrückte Tatbestände zugänglich werden. Das tertium non datur kausaler Erklärungsmodelle wird umgepolt: Ohne den zuvor ausgeschlossenen Dritten keine Komplexität. Das Versprechen der Komplexität ist aber immer schon ein Doppeltes. Es bezieht sich nicht nur auf die Gegenstände, auf die dieses Denken appliziert wird. Wie Weaver in seiner Formulierung vom »inner spirit« der Wissenschaft andeutet, fordert ein solches Denken immer auch zugleich die Selbstanwendung auf ihre Praxen. Von Komplexität zu sprechen, beinhaltet folglich immer schon den Aspekt der Selbstreferenz. nikation funktioniert, müssen wir lernen, nicht nur die Teilnehmer, sondern darüber hinaus ein Drittes, die Eröffnung und Einschränkung von Spielräumen, zu beobachten.« Siehe Baecker, Dirk, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 9. Kommunikation als komplexes Phänomen betrachtet führt Baecker zu der Überlegung, »dass es weiter führt, den Begriff der Kommunikation in eine gewisse Opposition zum Begriff der Kausalität zu bringen und ihn dementsprechend für die Beschreibung von Verhältnissen zu reservieren, in denen Überraschungen die Regel sind.« Siehe ebd., S. 8. 13 Auch philosophische Positionen können als Ausdruck der Beschäftigung mit Komplexität gelesen werden, etwa die Arbeiten Derridas. 14 Vgl. Rieger, Kybernetische Anthropologie, S. 265. 158

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

Für die Sozialwissenschaften gilt, dass systemtheoretisches Denken vor allem auf der Ebene ihrer Modelle eingeflossen ist. Der Frage nach der Komplexität ihrer praktischen Seite, also der Sozialforschung selbst und nach den methodologischen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen, wurde und wird dagegen weniger Aufmerksamkeit zuteil. 15 Die Beantwortung dieser Frage kann wiederum auf zwei Ebenen erfolgen. Auf der Ebene der Modelle gilt es herauszuarbeiten, worin die Komplexität der Sozialforschung besteht und welche Parameter zu ihrer Beschreibung herangezogen werden müssen. Auf einer phänomenologischen Ebene können die Strategien, Methoden und Medien der Sozialforschung daraufhin untersucht werden, welcher Umgang mit der Komplexität ihrer eigenen Praxis in ihren Techniken bereits enthalten ist. Oder anders ausgedrückt: wie löst die Sozialforschung das Versprechen der Komplexität ein und in welcher Form läuft diese Selbstreferenz mit? Die Beantwortung dieser Frage ist das Anliegen der folgenden Ausführungen. Dazu ist es nicht notwendig, weitschweifende historische Analysen des Verhältnisses von Sozialforschung und Komplexitätstheorien anzustellen. Vielmehr soll in einem ersten Schritt ein Konzept entwickelt werden, wie Sozialforschung selbst als System organisierter Komplexität beschrieben werden kann. Dazu müssen nicht sämtliche system- bzw. komplexitätstheoretischen Modelle und Konzepte anhand der Sozialforschung durchdekliniert werden. Das Ziel ist ein Modell, dem es gelingt, die Komplexität der Sozialforschung auf ein darstellbares Maß zu reduzieren, dabei möglichst viel Komplexität zu erhalten und schließlich durch eine solche Darstellung wiederum Komplexität in den methodologischen und erkenntnistheoretischen Diskurs der Sozialwissenschaften zu induzieren. Damit sind auch schon die denkbaren Strategien im Umgang mit Komplexität benannt (Reduktion, Erhalt, Induktion), auf die anschließend die Sozialforschung und ihre Medien hin untersucht werden. In diesem Sinne soll Weavers Aufforderung im Hinblick auf die Praxis der Sozialforschung nachgekommen werden.

15 Auch die Ausrufung des unausweichlichen »complexity turns« in den Sozialwissenschaften (vgl. Urry, John, The Complexity Turn, in: Theory, Culture & Society, Jg. 22, Nr. 5 (2005), S. 1-14) ändert nichts an der Tatsache, dass die selbstreflexive Anwendung komplexitätstheoretischer Modelle auf die praktische Sozialforschung bestenfalls in Ansätzen existiert. 159

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

2 Die Komplexität der Sozialforschung 2.1 Annäherungen Da der zu untersuchende Gegenstand »Komplexität der Sozialforschung« bislang nicht beschrieben worden ist, muss bei seiner Erarbeitung die Frage berücksichtigt werden, welches Vorgehen diesem Vorhaben angemessen ist. Der vorhergehende kurze Überblick über Komplexitäts- und Systemtheorien legt nahe, deren Modelle auf die Sozialforschung zu applizieren. Ein solches deduktives Verfahren wäre jedoch eindimensional und würde als alleinige Verfahrensweise dem Gegenstand nicht gerecht. Deswegen erscheint es sinnvoll, auch den umgekehrten Weg zu gehen und zu untersuchen, wo in der Sozialforschung ihre eigene Komplexität selbst virulent wird. Diese Vorgänge fasse ich unter dem Begriff »Störungen« zusammen. Dieser Begriff ist in doppelter Hinsicht sinnvoll. Zum einen verweist er in seiner umgangssprachlich negativen Konnotation auf Vorkommnisse in der Sozialforschung, die in der Regel unerwartet und unerwünscht sind. Zum anderen führt der Begriff auf das eingangs erwähnte Mehrkörperproblem in der Physik zurück. Unter Störungen werden in der Astronomie Bahnänderungen verstanden, die durch das Hinzutreten dritter Körper verursacht werden. Allerdings wird nur dann von Störungen gesprochen, wenn die ausgeübte Kraft im Vergleich zu den zwischen den beeinflussten Körpern wirkenden Kräften sehr klein ist. 16 Diese Einschränkung ist bedeutsam, da die in der Sozialforschung identifizierten Störungen in diesem Sinne interpretiert werden. Diese doppelte Annäherung soll die Grundlage für eine angemessene Beschreibung der Komplexität der Sozialforschung liefern. Komplettiert wird die Beschreibung aber erst durch die Einführung einer dritten Betrachtungsweise. Die in Abschnitt 3 folgende Analyse der Strategien im Umgang mit Komplexität ist nicht nur Ergebnis der entwickelten Matrix, sondern gleichzeitig Voraussetzung für das Verständnis der Komplexität der Sozialforschung.

2.1.1 Komplexitätstheoretische Modellbildung Die erwähnte Diskrepanz in den Sozialwissenschaften zwischen der Thematisierung von Komplexität auf der Ebene ihrer Modelle und der Reflexion auf der Ebene ihrer Methodologien und Methoden bedeutet 16 Vgl. das Stichwort »Störung« in: Zimmermann, Helmut/Weigert, Alfred, Lexikon der Astronomie, Heidelberg/Berlin: Spektrum/Akademischer Verlag 1999, S. 484. 160

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

nicht, dass Komplexität hier keine Rolle spielt. Im Gegenteil, wie in Abschnitt 3 zu zeigen sein wird, implizieren die verschiedenen Forschungsstrategien, Methodologien und Methoden jeweils spezifische Umgangsweisen mit der Komplexität der Sozialforschung. Bevor diese jedoch analysiert werden können, bedarf es einer Matrix, anhand derer diese Analysen erfolgen können. Die Probleme beginnen bereits mit den Schwierigkeiten der Komplexitätstheoretiker, Komplexität überhaupt zu definieren. 17 Komplexitätstheoretische Betrachtungen sind immer schon beides: Induktion von Komplexität – indem sie thematisiert wird – und Reduktion – indem sie definiert/begrenzt wird. Um einen analytischen Gewinn aus komplexitätstheoretischen Betrachtungen zu erzielen, muss das applizierte Modell die Bedingung erfüllen, hinreichende, aber nicht ausufernder Komplexität in sich zu erhalten, so dass eine Analyse überhaupt praktikabel ist. Die Formulierung dieser Anforderung macht damit auch den prinzipiellen Standpunkt dieser Untersuchung klar. Über Komplexität kann nur reden, wer sie in Maßen erhält und wer in Maßen Ordnung in das Denken von Komplexität bringt – sonst könnte man nicht über sie reden und die Folge wäre entweder Sprachlosigkeit oder babylonisches Sprachwirrwarr. Am Anfang der Modellbildung muss die Entscheidung stehen, wie viele und welche Dimensionen bzw. Parameter in das Modell einbezogen werden sollen. Schon aus der basalen Definition von Komplexität geht hervor, dass schon auf Ebene dieser prinzipiellen Unterscheidungen mehr als zwei Parameter berücksichtigt werden müssen. Die Komplexität der Komplexität lässt sich nicht auf zweiwertige Logiken reduzieren. Um also ein Minimum an Komplexität zu erhalten, müssen wenigstens drei Parameter gewählt werden, die derart in einem Zusammenhang stehen, dass die Veränderung eines Parameters auch Veränderungen auf den anderen Parametern zur Folge hat. Um solche Zusammenhänge zu induzieren, müssen die Parameter so gewählt werden, dass prinzipielle Unterschiede zwischen ihnen bestehen, sie also ihrer Art nach verschieden sind. Und schließlich müssen sie so gewählt sein, dass sich die unterschiedlichen Konzepte der Komplexitätstheorien wiederum entweder einem der Parameter zuordnen lassen oder sie mit Hilfe aller drei Parameter beschrieben werden können. Die Rede von Komplexität beinhaltet zunächst zwei grundlegende Aspekte: Systeme und Prozesse. Diese Begriffe können als Ausgangs17 Vgl. dazu eine Bemerkung Luhmanns in einer Fußnote: »Für das Vermeiden von Definitionen könnte es natürlich auch strengere Gründe geben: Die Komplexität ist für eine begriffliche Wiedergabe zu komplex.« Siehe Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 45, Fußnote 26. 161

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punkt für die Benennung der ersten zwei Parameter dienen, indem sie nämlich auf die strukturelle und die dynamische Dimension von Komplexität verweisen. Diese Dimensionen unterscheiden sich in komplexen Systemen wesentlich von ihren Entsprechungen in einfachen Systemen. Einfache Systeme können dadurch definiert werden, dass nur wenige Elemente/Faktoren zu ihrem Ent- bzw. Bestehen beitragen und dass ihr Zusammenspiel mit Hilfe weniger und eindeutiger Regeln beschrieben werden kann. In komplexen Systemen hat man es dagegen mit vielen heterogenen Elementen zu tun, deren Dynamik nicht durch einfache Regeln beschreib- und damit vorhersagbar ist. Vielmehr ist das Verhalten solcher Systeme durch eine Eigendynamik geprägt, die bewirkt, dass ein und derselbe Input bei unterschiedlichen Ausgangszuständen zu völlig unterschiedlichem Output führen kann. Als dritte Dimension bietet sich eine Sichtweise an, unter die in den Systemtheorien Konzepte wie Selbstähnlichkeit oder auch Emergenz fallen. Auch diese Konzepte hängen direkt mit der strukturellen und der dynamischen Dimensionen zusammen, verweisen dabei aber noch auf einen anderen Aspekt, der als ontologische Dimension bezeichnet werden kann. Selbstähnlichkeit meint die Eigenschaft, dass unabhängig vom Maßstab, also auf unterschiedlichen Systemebenen ähnliche Strukturen auftreten. Emergente Eigenschaften einer Systemebene sind solche, die sich aus Wechselwirkungen auf einer anderen Ebene ergeben. Diese Dimension ist in zweierlei Hinsicht für die Sozialwissenschaften von zentraler Bedeutung. Die Gegenstände der Sozialforschung gehen oftmals über die untersuchten Einheiten hinaus. Besonders deutlich wird dies in der Soziologie, deren übergeordneter Gegenstand die Gesellschaft ist. Auf der forschungspraktischen Seite hingegen wird die Ähnlichkeit der Forscher mit ihren Gegenständen und den Beforschten virulent. Für sie existiert kein Standpunkt, der vollkommen außerhalb der von ihr beobachteten Gegenstände liegt. Diese Verstrickung ist als unhintergehbare Gemeinsamkeit ein wesentlicher Faktor und konstitutives Moment der Sozialforschung. Nur dadurch ist es ihr möglich, die sie interessierenden Strukturen und Prozesse in ihren Forschungssystemen – also auf einer anderen Ebene – spiegeln zu können. Ich schlage also vor, die Komplexität der Sozialforschung vorläufig dadurch zu charakterisieren, dass sie sich in einem Raum bewegt, dessen Dimensionen dynamischer, struktureller und ontologischer Natur sind. Die dynamische Dimension ist durch Nichtlinearität gekennzeichnet, die strukturelle durch die Vernetzung unterschiedlicher Medien und Kommunikatoren und die ontologische durch das Auftreten von Spiegelungsphänomen. Diese allgemeinen Feststellungen gilt es nun zu konkretisieren. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Dimensionen keine trenn162

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scharfen Kategorien darstellen. Komplexität ergibt sich immer aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen.

2.1.2 Das Unerwartete: Störungen im Prozess der Wissenschaft Kleine Ursache, große Wirkung: dieser Zusammenhang ist eine wesentliche Eigenschaft von nichtlinearen Systemen, ebenso wie das Auftreten unerwarteter Ereignisse. In der Wissenschaft werden sie unterschiedlich bewertet: als Fehler, Störungen oder produktive Momente. Der Wissenschaftsforscher Peter Geimer liefert dazu in seinen medienhistorischen Überlegungen zur Geschichte bildgebender Verfahren eine Reihe von Beispielen. 18 Ausgangspunkt ist die Betrachtung der noch erhaltenen Daguerrotypien. Auf ihnen ist heute nichts mehr zu erkennen. Sie erscheinen als Fehler oder Bildstörung und dokumentieren nurmehr ihren eigenen Zerfall. 19 Darüber hinaus beschreibt er die Geschichte der frühen bildgebenden Verfahren selbst als eine Geschichte von Störungen, die ihre Anwender irritierten. Auf den Bildplatten und Negativen erschienen seltsame Artefakte, die erst im Nachhinein als Spuren anderer Strahlen als der des sichtbaren Lichts identifiziert werden konnten, wie etwa Röntgen- oder Wärmestrahlung. Störungen waren diese Effekte folglich nur solange, bis ihre Ursachen erkannt wurden. Als Störungen funktionieren diese Phänomene nur in der Praxis einer Bildgebung, die auf das Einfangen des sichtbaren Lichts fixiert ist. Aus einer komplexitätstheoretischen Perspektive hätte man womöglich vermuten können, dass die frühen Fotografietechniken komplexe Systeme darstellten, die immer wieder unerwartete Phänomene produzieren. Mit der Aufdeckung der Ursachen stellt man dann freilich fest, dass es sich nicht um komplexe Systeme handelt, sondern allenfalls um komplizierte, deren Funktionsweisen erst mit der Zeit verstanden wurden. So lässt sich nun die Geschichte bildgebender Verfahren in dieser Zeit als eine Geschichte der Linearisierung und Kanalisierung der neuen Bildmedien verstehen, in deren Zuge sich die Fotografie als eine domestizierte Variante dieser Verfahren herauskristallisierte. Die Störungen wurden ebenfalls domestiziert und zwar in Form von Röntgengerät und Wärmebildkamera. Die Störung hat aus dieser Sicht also zwei Seiten. Als negativ bewertete Erscheinung galt es, sie auszumerzen und die Fotografie als Aufnahme von sichtbarem Licht zu bändigen. Positiv betrachtet, können diese Störun18 Geimer, Peter, Was ist kein Bild? Zur »Störung der Verweisung«, in: ders. (Hrsg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 313-341. 19 Geimer nennt dies einen »Auto-Ikonoklasmus«, siehe ebd., S. 315. 163

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gen als Verweise auf andere mögliche Techniken bzw. als ihre Möglichkeitsbedingungen betrachtet werden. 20 Auch wenn dieses Beispiel nicht von komplexen Systemen handelt, demonstriert es die prinzipiellen Strategien im Umgang mit unerwarteten Ereignissen in der Wissenschaft. Sie können vermieden, gebändigt, ignoriert und herausgerechnet werden. Oder sie können Ausgangspunkt weiterer Forschung sein. Die Sozialforschung kennt beide Strategien. Entweder werden Störungen als Effekte bewertet, die es zu verhindern gilt. Oder aber sie werden als Medium des Erkenntnisgewinns genutzt.

2.1.2.1 Störungen als unerwünschte Effekte Die Methodenlehren der Sozialforschung kennen eine Reihe von unerwünschten Effekten, die den Untersuchungsverlauf beeinflussen und damit zu »falschen« Ergebnissen führen können. Diese Effekte werden vorzugsweise im Verlauf der Datenerhebung diagnostiziert. Ausgehend von der Feststellung, dass es sich bei Interviews um soziale Situationen handelt, finden sich in den gängigen Methodenlehrwerken standardmäßig Hinweise auf die Reaktivität in der Befragung, auf Intervieweffekte oder Versuchsleiterartefakte. Der Begriff Reaktivität deutet an, dass die darunter zusammengefassten Phänomene nicht wie hier vorgeschlagen komplexitätstheoretisch, sondern vielmehr mechanisch gedacht werden. Es wird zwischen Effekten seitens der Interviewten und seitens der Interviewer unterschieden. Interviewten wird etwa eine »looking-goodTendenz« unterstellt oder dass sie gemäß der sozialen Erwünschtheit zu antworten suchten. Um »richtig« antworten zu können, müssen sie jedoch die ihnen gestellten Fragen verstehen. Auch die Anordnung der Fragen kann sich auf die Antworten auswirken (Reihenfolge-Effekt). Manchmal können sie aber auch wissenschaftliche Artefakte in Form von »Pseudo-« oder »Non-Opinions« produzieren, also Meinungen über einen Sachverhalt äußern, über den sie gar keine haben. Interviewer können ihrerseits auf verschiedene Art und Weise das Interview beeinflussen. Intervenieren können bspw. ihre sichtbaren Merkmale wie »Alter, Geschlecht, Rasse, Kleidung« oder aber auch ihre unsichtbaren wie »Schichtzugehörigkeit, Bildung, Einstellung des Interviewers zum Thema selbst«, die von den Interviewten erschlossen werden können.21 Dar20 Freilich wurden diese Störungen damals nicht in ihrer Bedeutung erkannt. Geimer nennt das Beispiel des Physikers Arthur Goodspeed, der 1890 Spuren der Röntgenstrahlung aufzeichnete, diese als solche aber erst erkannte, nachdem Conrad Röntgen über seine Entdeckung »einer neuen Art von Strahlung« fünf Jahre später berichtet hatte. 21 Laatz, Wilfried, Empirische Methoden. Ein Lehrbuch für Sozialwissenschaftler, Thun/Frankfurt am Main: Harri Deutsch 1993, S. 159. 164

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über hinaus spielt die grundsätzliche Orientierung des Interviewers eine Rolle, ob er eher aufgaben- oder sozial orientiert ist, was schließlich gar bis zu gefälschten Interviews führen kann. 22 Des Weiteren sind Effekte bekannt wie der Sponsorship-Effekt (Interviewter antwortet hinsichtlich des bekannten oder vermuteten Auftraggebers der Studie) oder der Anwesenheitseffekt (Anwesenheit Dritter beim Interview, durch die es zu Rollenkonflikten beim Interviewten kommen kann). 23 Die experimentelle Psychologie kennt und erforscht sogenannte Versuchsleiterartefakte oder auch »Rosenthal-Effekte« 24 . Darunter wird der gegenseitige Einfluss von Erwartungen und der kommunikativen Gestaltung der Interaktion zwischen Versuchsleitern und Untersuchungsteilnehmern verstanden. Dies ist insofern problematisch, da Experimente qua definitionem unter idealen Bedingungen, also unter Kontrolle aller mögliche (Stör-)Variablen stattfinden sollen, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. 25 Diese Aufzählung in den Sozialwissenschaften bekannter Effekte ist keineswegs vollständig, zeigt aber das Spektrum der möglichen Störquellen von unerwünschten Effekten. Sie sind hinsichtlich ihrer Zuordnung zu den verschiedenen Dimensionen von Komplexität weiter zu untersuchen. Die zahlreichen Störungen, die in den unterschiedlichen Untersuchungssettings auftreten und somit die intendierten Ergebnisse der Untersuchung verfälschen oder gar vollkommen unbrauchbar machen können, sind Gegenstand der Reaktivitätsforschung, die ihrem besseren Verständnis und ihrer besseren Kontrolle im Forschungsprozess dienen soll. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die Erforschung dieser Effekte selbst problematisch ist, da ihr Gegenstand ja wiederum unüberwindbarer Bestandteil des eigenen methodischen Vorgehens ist und die Forschung dementsprechend nur der Anfang eines unendlichen Regresses ist. 26 So zeigen Untersuchungen, dass kein genereller Interviewereinfluss festgestellt werden kann. Deshalb geht man davon aus, dass der Einfluss vielmehr formspezifisch (z.B. geringerer Einfluss bei schriftli-

22 Ebd., S. 158. 23 Brosius, Hans-Bernd,/Koschel, Friederike, Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 126-130. 24 Benannt nach Robert Rosenthal. Vgl. Rosenthal, Robert, Experimenter Effects in Behavioral Research, New York: Appleton Century Crofts 1976. 25 Um das Verhalten von Versuchsleitern zu standardisieren wird empfohlen, Instruktionen per Tonband oder Video zu geben. Vgl. Bortz, Jürgen/Döring, Nicola, Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Heidelberg: Springer Medizin 2006, S. 83. 26 Ebd. 165

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chen Befragungen 27 gegenüber mündlichen), problemspezifisch (unangenehme Fragen sind problematischer als einfache) und konstellationsspezifisch (Konstellation zwischen Interviewer- und Befragtenmerkmalen) ist. 28 Auch Armin Scholls umfangreiche Studie zur Reaktivität im Forschungsinterview, die sich eine bessere Kontrolle von Reaktivität zum Ziel gesetzt hatte, kommt schließlich zu einem ernüchternden Ergebnis: »Im theoretischen Teil dieser Arbeit wird ein enormer Aufwand getrieben, um das Problem Reaktivität multiperspektivisch so zu erfassen, daß es empirisch besser und vollständiger umsetzbar ist. Der empirische Teil zeigt aber, daß Reaktivität eine so verborgene, weil im psychischen System des Befragten verortete, Dimension von Verhalten ist, daß die Umsetzung scheitern muss.« 29

Dieser Befund untermauert die hier gewählte Terminologie. ›Störung‹ ist deshalb der angemessene Begriff, da damit Phänomene beschrieben werden, die sich nicht intentional reproduzieren lassen. Die verschiedenen Effekte oder Störfaktoren können nun hinsichtlich ihrer Bedeutung für die grundsätzlich als Kommunikationsprozess verstandene Sozialforschung untersucht werden, aber auch umgekehrt dahingehend befragt werden, welches Verständnis bzw. welche Modelle von Kommunikation in den Beschreibungen dieser Effekte enthalten sind. Dies beginnt beim Begriff der Reaktivität. »Der Begriff der Reaktivität besagt, dass das Forschungsobjekt, bei der Befragung also der Befragte, aufgrund der tatsächlichen oder vorgestellten Anwesenheit des Forschers bzw. bei der Befragung des Interviewers anders reagiert, als er in solchen alltäglichen Situationen reagieren würde. Wir kennen das Phänomen aus dem Alltag, etwa wenn wir fotografiert werden: Wenn wir bemerken, dass wir fotografiert werden, beginnen wir zu lächeln, was wir in dem Moment nicht getan hätten, wenn die Kamera nicht auf uns gerichtet wäre.

27 Die Verwendung der Begriffe Interview und Befragung ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur uneinheitlich. In der Literatur zu quantitativen Methoden wird ›Befragung‹ bevorzugt, während in der Literatur zu qualitativen Methoden fast ausschließlich ›Interview‹ verwendet wird. Dies legen die Begriffe selbst nahe, jedoch werden Interviews bisweilen auch als Spezialfälle von Befragungen dargestellt. Vgl. Scholl, Armin, Die Befragung. Sozialwissenschaftliche Methode und kommunikationswissenschaftliche Anwendung, Konstanz: UVK Verlags-Gesellschaft 2003. 28 Vgl. Laatz, Empirische Methoden, S. 161. 29 Scholl, Armin, Die Befragung als Kommunikationssituation. Zur Reaktivität im Forschungsinterview, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 298. 166

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Reaktivität ist also kein spezifisches Phänomen der Befragung, sondern ein Alltagsphänomen.« 30

Diese bestechend einfache Definition aus einem Lehrbuch zeigt bereits das Dilemma der Sozialforschung auf: Einerseits lässt sie sich nicht von Handlungsroutinen und Interaktionsmustern des Alltags abstrahieren; Alltag und Alltagsverständnis laufen auch in Sozialforschungsprozessen immer mit. Andererseits nimmt Scholl hier eine Differenzierung vor, nach der Sozialforschung wiederum keine Alltagssituation darstellt. Darüber hinaus stellt diese Beschreibung dem Forscher als Analogon die Fotokamera an die Seite stellt. Der Forscher ist aus dieser Perspektive ein (Aufzeichnungs-)Medium, das Reaktivität als Medieneffekt produziert. Dies ist deshalb bemerkenswert, da diese Perspektive in den Sozialwissenschaften unüblich ist. Zwar wird mittlerweile anerkannt, dass Sozialforschungsprozesse immer Kommunikationsprozesse sind und Kommunikation ihre notwendige Bedingung,31 doch entbehren die Methodologien immer noch jeglicher medientheoretischer Überlegungen. Im Vordergrund der methodologischen Überlegungen stehen kognitive und soziale Prozesse, in die Interviewer- und anderer Effekte unterteilt werden. Mit dieser Unterscheidung in kommunikative und informationsverarbeitende Prozesse wird die Informationsverarbeitung jedoch konzeptuell von Kommunikation getrennt. Auffällig ist die Zuordnung der erwähnten Effekte. Kognitive, die Informationsverarbeitung betreffende Effekte werden in der Regel seitens der Untersuchungsteilnehmer lokalisiert. Dies betrifft etwa die Produktion von »Non-Opinions« oder die Reihenfolge-Effekte. Diese Effekte werden als Ergebnisse einseitiger Informationsverarbeitung verstanden. Dagegen werden Interviewereffekte als Produkte der kommunikativen Situation verstanden. Dies trifft auf das äußere Erscheinungsbild des Interviewers (verstanden als Elemente nonverbaler Kommunikation) oder die »looking-good-Tendenz« zu. Der Anwesenheits-Effekt ist ebenfalls dieser Kategorie zuzuordnen. Schwieriger ist die Einordnung des Sponsorship-Effekts. Scheinbar handelt es sich um einen kognitiven Effekt, jedoch verweist der Einbezug des – womöglich imaginären – Auftraggebers auf die Umwelt der aktuellen Kommunikationssituation. Dies allein zeigt, dass es Sinn macht, den Auftraggeber als elementaren Bestandteil des Kommunikationssystems Sozialforschung zu betrachten. Die Begrenzung des Konzepts der Informationsverarbeitung auf den Untersuchungsteilnehmer ohne den Einbezug der gesamten sozialen Situation verweist auf die Tatsache, 30 Scholl, Die Befragung, S. 197. 31 Vgl. Strack, Fritz, Zur Psychologie der standardisierten Befragung. Kognitive und kommunikative Prozesse, Berlin u.a.: Springer 1994, S. 127f. 167

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dass die Reaktivitätsforschung ihre Modelle für die quantitative Sozialforschung entwickelt. Vergleicht man diese Vorstellung von Informationsverarbeitung mit den Zielen dieser Art von Sozialforschung, lassen sich verschiedene Informationsbegriffe identifizieren. Die Befragung der quantitativen Sozialforschung ist idealerweise ein Abfragen von Sachverhalten, die unabhängig von der Befragung sind. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Meinungsforschung. Die Informationen, die gewonnen werden sollen, sind Zustände von Netzwerken bzw. Merkmale von Strukturen. Dies betrifft sowohl die Makroebene (z.B. die Gesellschaft) wie auch die Mikroebene (der einzelne Untersuchungsteilnehmer). Damit handelt es sich folglich um einen netzwerktheoretischen Informationsbegriff. Im Prozess der Datenerhebung, also der Befragung, ist Information jedoch das Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses, der Wahrnehmung (der Frage), Verarbeitung (Verstehen), Reflexion und Darstellung (Antworten) beinhaltet. Dem entspricht ein klassischer informationstheoretischer Informationsbegriff. Die quantitative Sozialforschung kennt darüber hinaus aber auch einen ontologischen Informationsbegriff. Dieser verbirgt sich im Paradigma des Messens sozialer Tatbestände. 32 Idealerweise sollten sich diese in den Messinstrumenten spiegeln. Tatsache aber ist, dass die entsprechenden Methoden dieses Versprechen nie eingelöst haben.

2.1.2.2 Störungen als Medium des Erkenntnisgewinns Während in quantitativ-standardisierten Verfahren Störungen als unerwünschte Effekte aufgefasst werden, die es zu kontrollieren, minimieren oder gar auszuschließen gilt, wird diesem Aspekt in der qualitativen Sozialforschung weniger Gewicht beigemessen. 33 Bisweilen wird in Hinblick auf die nicht oder wenig reaktiven Verfahren der quantitativen Sozialforschung (z.B. Inhaltsanalyse archivalischer Daten oder nichtreaktive Beobachtungen) sogar die Frage gestellt, ob und wie diese Verfahren in der qualitativen Sozialforschung überhaupt angewendet werden können. 34 Folglich werden Störungen in der Literatur zu qualitativen 32 Zum Messen siehe auch den Abschnitt Messen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 33 Vgl. Flick, Uwe, Design und Prozess qualitativer Forschung, in: ders./von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 252-264, hier S. 252. Das hängt auch damit zusammen, dass hier andere Kommunikationsmodelle zugrunde gelegt werden, etwa als parallele Informationsverarbeitung. 34 Vgl. Bungard, Walter/Lück, Helmut E., Nichtreaktive Verfahren, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Keupp, Heiner, von Rosenstiel, Lutz/Wolff, Stephan (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Kon168

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Methoden nur selten thematisiert. Werden sie aber angesprochen, wird der Fokus nicht nur auf die Beeinflussung des Beforschten durch den Forscher gelegt, sondern auch umgekehrt. Diese Perspektive drängt sich auf, sobald der Forscher nicht als Teil eines Messinstruments, sondern als Beobachter oder Person verstanden wird. Die Störung des Forschers (im Sinne eines gestörten Forschers) ist allerdings kein absolutes Moment in der Forschung, sondern ein relatives. So wird etwa von teilnehmenden Beobachtern erwartet, dass sie bis zu einem gewissen Grad die Ansichten und Standpunkte der Beforschten übernehmen. Übersteigt diese Übernahme das als zulässig erachtete Maß, wird es problematisch. Die Forscher erleiden das »going native« und verlassen ihre wissenschaftlichen Rollen. Der Unterschied zwischen der Störung als unerwünschtem Effekt und Medium des Erkenntnisgewinns ist folglich kein prinzipieller, sondern ein gradueller. Verwandt mit der »going native«Problematik sind alle Verfahren, die die affektive Beziehung der Forscher zu den Beforschten positiv in Rechnung stellen, wie etwa die Nutzung von Gegenübertragungen in der Ethnopsychoanalyse. 35 Voraussetzung dafür ist die Auffassung von Sozialforschung als soziale Informationsverarbeitung. Neben Störungen, die als Effekte im Forschungsprozess auftreten, kennt die Sozialforschung auch solche, die bewusst hervorgerufen werden. Ein berechtigter Einwand könnte lauten, dass Störungen nicht bewusst hervorgerufen werden können und qua definitionem nur dann als Störungen wahrgenommen werden können, wenn sie eben nichtintentional und unerwartet auftreten. Diese Eigenschaften können aber, wie an den Beispielen zu zeigen sein wird, auch als perspektivisch gebunden aufgefasst werden. In sozialen Systemen kann sich das Überraschungsmoment von Ereignissen ungleich auf die Elemente des Systems verteilen, so dass ein Ereignis aus der einen Perspektive als Störung und aus der anderen als erwartete Intervention auftritt. Dies betrifft die experimentellen Verfahren der Sozialforschung und insbesondere das Krisenexperiment. Im Anschluss kann die Frage gestellt werden, ob Sozialforschung nicht grundsätzlich eine Form der Störung darstellt. Dies kann verneint werden, da eine solche Entgrenzung des Störungsbegriffs ein einfaches

zepte, Methoden und Anwendungen, Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union 1995, S. 198-203. 35 Siehe dazu den Abschnitt Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 169

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Stimulus-Response-Modell voraussetzt. 36 In der Tat gestalten alle Formen der Sozialforschung ihre Prozesse kooperativ, egal ob es sich um statistische Reihenuntersuchungen oder Beratungsprozesse handelt. Unterschiede bestehen lediglich im Umgang mit auftretenden Störungen. Hier reichen die Strategien von Unterdrückung über Zulassung und Nutzung bis hin zur Verstärkung.

2.2 Die Dimensionen der Komplexität der Sozialforschung Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen können nun die verschiedenen Dimensionen von Komplexität näher beschrieben werden. Im Abgleich von komplexitätstheoretischen Konzepten und den in der Sozialforschung auftretenden Störungen treten die Dimensionen nichtlineare Dynamik, strukturelle Komplexität sowie Selbstähnlichkeit und Emergenz deutlich hervor.

2.2.1 Nichtlinearität und nichtlineare Dynamik Der gegenabhängige Begriff Nichtlinearität signalisiert bereits die Schwierigkeit, eine positive Definition des Gemeinten zu finden. 37 Insbesondere sozialwissenschaftliche Perspektiven auf nichtlineare dynamische Systeme und Prozesse verzichten gerne auf eine Darlegung des eigenen Verständnisses von Nichtlinearität. Vielmehr wird auf die einzelnen Spielarten von Theorien nichtlinearer Systeme bzw. moderner Systemtheorien und ihrer Dynamiken wie Synergetik (Emergenz von Ordnung aus Chaos), Theorien autopoietischer Systeme (Selbstherstellung von Systemen), Chaostheorie (Auflösung von Ordnung zu Chaos) und Theorien von Selbstorganisation im Allgemeinen und die damit verbundenen Grundbegriffe rekurriert. Als kleinster gemeinsamer Nenner mit den Perspektiven anderer Disziplinen wird festgestellt, dass in nichtlinearen Systemen keine einfachen, etwa mechanische UrsacheWirkungs-Zusammenhänge existieren, sondern aufgrund der Eigendynamik der untersuchten Systeme kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Der Output steht in keinem proportionalen Verhältnis zum

36 Das schließt nicht aus, dass bestimmte Bereiche der Sozialforschung in eine solche Richtung tendieren: »Das demoskopische Interview ist ein Reaktions-Experiment«. Siehe Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas, Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1998. 37 Zum Begriff der Gegenabhängigkeit siehe Fußnote 4 im einleitenden Kapitel. 170

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Input, sondern ist abhängig vom Ausgangszustand des Systems. 38 Dies führt dazu, dass in nichtlinearen Systemen Mehrfachlösungen existieren: »Unter exakt gleichen Randbedingungen existieren gleichzeitig zwei (oder mehr) stabile stationäre Zustände.« 39 . Naturwissenschaftlich ausgedrückt, beinhaltet dies die »Möglichkeit, [zur] spontane[n] und unerwartete[n] Struktur- und Musterbildung von Materie fernab dem thermodynamischen Gleichgewicht« 40 . Auf die Sozialforschung heruntergebrochen bedeutet dies bspw., dass auf eine einfache Frage viele Antworten möglich sind.

2.2.1.1 Rekursive und parallele Prozesse Es ist in Darstellungen von Komplexität üblich geworden, dieser Basisdefinition von Nichtlinearität das Prinzip der Rekursivität bzw. Rückkopplung an die Seite zu stellen. 41 In der Tat sind diese Eigenschaften nicht voneinander zu trennen. Dies beruht jedoch nicht auf einer Gleichberechtigung dieser Prinzipien in komplexen Systemen, sondern vielmehr auf ihrer direkten Verwandtschaft, die darin besteht, dass Rekursivität eine Form von Nichtlinearität ist. 42 Nichtlineare Prozesse können prinzipiell in zwei Prozesstypen unterschieden werden: rekursive bzw. zirkuläre sowie parallele Prozesse. Es macht folglich keinen Sinn, Nichtlinearität und Rekursivität als eigenständige Eigenschaften komplexer Systeme anzugeben. In der gegenwärtigen Diskussion zeigt sich eine bevorzugte Thematisierung rekursiver Prozesse. Dafür steht die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Geschichte der Kybernetik. Die Kybernetik richtet ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf Phänomene und Pro38 Vgl. Ulrich, Hans/Probst, Gilbert J.B., Anleitung zum ganzheitlichen Denken, Bern: Haupt 1990, S. 59ff., zitiert nach Beisel, Ruth, Synergetik und Organisationsentwicklung. Eine Synthese auf Basis einer Fallstudie aus der Automobilindustrie, München und Mering: Rainer Hamp 1996, S. 65. 39 Beisel, Synergetik und Organisationsentwicklung, S. 67. 40 Skirke, Ulf, Technologie und Selbstorganisation. Zum Problem eines zukunftsfähigen Fortschrittsbegriffs, Dissertation, Universität Hamburg 1997, S. 63, verfügbar unter: http://www.on-line.de/~u.skirke/tus_titel.html. 41 »Ob es sich um eine dynamische Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen oder die Zustandsveränderung eines chaotischen Pendels handelt: in beiden Fällen spielt die Verbindung von Rückkopplung und Nichtlinearität eine entscheidende Rolle.« Siehe Krapp, Holger/Wägenbaur, Thomas, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Komplexität und Selbstorganisation. »Chaos« in den Natur- und Kulturwissenschaften, München: Wilhelm Fink 1997, S. 7-17, hier S. 7 (kursiv im Original). Diese Nebeneinandersetzung übernimmt auch Stefan Rieger in: ders., Kybernetische Anthropologie, S. 265. 42 So bezeichnet etwa Ulf Skirke Rekursionen und komplexe Rückkopplungen als Eigenschaften nichtlinearer Systeme. Vgl., Skirke, Ulf, Technologie und Selbstorganisation, S. 63. 171

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zesse der Rückkopplung und damit auf sequenzielle Prozesse. 43 Unter den Methoden der Sozialforschung stellt das Leitfadeninterview ein einfaches Modell eines kybernetischen Regelkreises dar. Der Leitfaden dient als Steuerungsprogramm des Interviews. Abhängig von den Antworten wird dieses Programm angepasst, ohne dabei jedoch das primäre Ziel bzw. Erkenntnisinteresse aufzugeben. Aus dieser Perspektive erscheinen parallele Prozesse zunächst zweitrangig. Die Auffassung von Menschen als multimedialen Informationssystemen führt jedoch zu einem Modell menschlicher Informationsverarbeitung, die massiv parallel abläuft.44 Die unterschiedlichen Sinne, Verarbeitungsprogramme und Darstellungsweisen lassen sich aus dieser Perspektive nicht mehr isoliert voneinander betrachten. Entsprechend gilt dies auch für Kommunikationssysteme. Das einfache Beispiel von face-to-face-Kommunikation erscheint dann als parallele Informationsverarbeitung mehrerer menschlicher Informationssysteme. Auf dieser Grundlage wird jede Form von Sozialforschung betrieben. Das Beispiel des Leitfadeninterviews erscheint nun bereits als Kombination rekursiver und paralleler Prozesse. Es macht folglich keinen Sinn, zwischen den verschiedenen Prozesstypen eine Hierarchisierung vorzunehmen. Hierarchisierungen von Prozesstypen können nie ihren Ausschluss bedeuten, sondern allenfalls ihre Marginalisierung. Nach der Benennung von rekursiven und parallelen Prozessen bleiben als letzter denkbarer Prozesstyp lineare Prozesse. Qua definitionem können sie in komplexen Systemen nicht auftreten. Es ist kein nichtlineares System denkbar, in dem lineare Prozesse enthalten sind. Wenn in Darstellungen von Sozialforschung dieser Eindruck erweckt wird, handelt es sich nicht um die Darstellung tatsächlich stattfindender linearer Prozesse, sondern vielmehr um das Produkt von Strategien der Linearisierung. 45 Nichtlinearität ist folglich nicht das Gegenteil

43 »Das für die Kybernetik entscheidende Stichwort dieser Einsicht ist weder das der Kontingenz noch das der Komplexität oder der Unendlichkeit, sondern das der Sequenz. Eine Maschine, modelltheoretisch betrachtet, oder ein System, phänomenologisch betrachtet, reproduziert sich in dem Moment und so lange, wie es ihr beziehungsweise ihm gelingt, eine Sequenz von Ereignissen aufrecht zu erhalten, die von der Maschine oder dem System »gezählt«, das heißt unterschieden und aufeinander bezogen werden können.« Siehe Baecker, Dirk, Rechnen lernen. Soziologie und Kybernetik, in: Pias, Claus (Hrsg.), Cybernetics- Kybernetik, S. 277-298, hier S. 281. 44 Vgl. Giesecke, Michael, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 229-233. 45 Siehe dazu den Abschnitt Standardisierung in diesem Kapitel. 172

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von Linearität, sondern Linearität ein Spezialfall dynamischer Prozesse. Deshalb ist es notwendig, diese Verhältnisse zukünftig auch sprachlich angemessen zu beschreiben. Die gegenabhängige Beschreibung ›nichtlinear‹ vermittelt den gegenteiligen Eindruck. Man mag angesichts der linearisierenden Strategien dazu neigen, als Gegenbegriff den der Dynamik zu verwenden. Dies schafft jedoch auch keine Klarheit, da jede Methodologie mittlerweile zumindest zähneknirschend die dynamische Dimension ihrer Sozialforschungs-Praxis eingesteht. Solange dieses sprachliche Problem besteht, ist es notwendig, dass diejenigen Methodologien, die sich nicht dem Linearitätsdogma beugen, den Prozesscharakter und die Dynamik ihrer Verfahren betonen und deren Vorteile herausstellen. Denn auch wenn der Begriff Kommunikative Sozialforschung diesen Sachverhalt impliziert, löst er dennoch nicht das darunter liegende Problem seiner angemessenen begrifflichen Beschreibung und des darin liegenden emanzipatorischen Potenzials.

2.2.1.2 Störungen I: Produkte nichtlinearer Dynamik Die meisten der von der Reaktivitätsforschung als Störungen oder unerwünschte Effekte beschriebenen Phänomene haben gemeinsam, dass sie als Störungen in der dynamischen Dimension der Sozialforschung auftreten. Sie können überhaupt nur als Störungen wahrgenommen werden, wenn das dem Messparadigma zugrundeliegende Zeitverständnis als Maßstab genommen wird. In der idealisierten Messung steht die Zeit still. In den auftretenden Effekten – sei es in denen der Informationsverarbeitung oder denen der sich entspinnenden sozialen Beziehung – tritt die Zeit und damit die dynamische Dimension der Sozialforschung jedoch wieder hervor. Dynamik und damit die Anwesenheit von Zeit würde den Idealen der quantitativen Sozialforschung noch nicht einmal widersprechen. Das Problem ist vielmehr die nichtlineare Dynamik. Ein lineares System ließe sich kontrollieren, ein nichtlineares dagegen nicht, da die Störung und das Unerwartete zu seinen konstitutiven Momenten gehören. Die unerwünschten Effekte sind folglich Ausdruck der Anwesenheit von Zeit bzw. emergente Phänomene, die auf die nichtlineare Dynamik der Sozialforschung zurückgehen. Die unerwünschten Effekte können als nichtlineare Phänomene sowohl als Ergebnisse von rekursiven als auch von parallelen Prozessen beschrieben werden. Einfachstes Beispiel für eine rekursive Störung ist der Reihenfolgen-Effekt. Dieser kann zwischen unterschiedlichen Fragen auftauchen, aber auch in der kleinsten Einheit der Befragung, nämlich der Frage. Dort kann die Reihenfolge der Antwortvorgaben sich auf die gegebene Antwort auswirken. Einfaches Beispiel für parallele Prozesse ist die Problematisierung von äußerlichen Merkmalen von Inter173

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viewern. »Alter, Geschlecht, Rasse, Kleidung« können nur einen Effekt auf die Antworten haben, sofern man annimmt, dass es sich bei der Befragung um eine massive parallele Informationsverarbeitung zumindest seitens des Befragten handelt, bei der die ihm zur Verfügung stehenden Sinne und Modi der Informationsverarbeitung verknüpft werden. Das zeitkritische Moment beim Auftauchen von Störungen ist schließlich auch an technische Medien gebunden. Erst dynamische Speicher wie Audio- und Videoaufzeichnungen machen Störungen, die nicht die Wahrnehmungsschwelle übertreten – und insofern in der Interaktion nicht als Störungen auftreten – sichtbar. Bei der Transkription solcher Daten oder ihrer Analyse können bspw. Verständnisprobleme erkannt werden.

2.2.2 Strukturelle Komplexität Die strukturelle Komplexität der Sozialforschung ergibt sich aus der Tatsache, dass artverschiedene Elemente in Forschungssystemen miteinander vernetzt werden. Gemeint sein kann die Vernetzung von verschiedenen Systemen, Prozessen und Medien, aber auch von Daten. Die Komplexität resultiert dabei nicht nur aus einer ontologisch konstatierbaren Unterschiedlichkeit, sondern auch aus den Perspektivierungen, denen die Elemente unterworfen werden. Einige Elemente können sowohl als Medien, als auch als Kommunikatoren erscheinen. Die Heterogenität der Elemente ist also keine intrinsische Systemeigenschaft, sondern auch das Produkt ihrer jeweils aktualisierten Funktionen und Zuschreibungen.

2.2.2.1 Vernetzung von Kommunikatoren Grundvoraussetzung für Sozialforschung ist die Konstitution eines Forschungssystems aus den Elementen Auftraggeber, Forscher(-team) und untersuchtem System. Alleine dieser Prozess ist ungemein voraussetzungsvoll und unterliegt nur in beschränktem Maße der Möglichkeit steuernder Eingriffe seitens eines der Systemelemente. Beispielsweise können gleiche Zielsetzungen von Auftraggeber und Forscher(-team) die strukturelle Stabilität des Systems erhöhen, während unterschiedliche Zielsetzungen die Stabilität beeinträchtigen oder gar zum Auseinanderfallen des Systems führen können. 46 Fallen Forscher und Auftraggeber zusammen, bedeutet dies nicht gleichzeitig eine kontinuierliche Stabilität des Forschungssystems. Bei unerwarteten Problemen könnten die Zielsetzungen eines Forschungsprojektes (Seite des Auftraggebers) oder 46 Der Aspekt des Systemzerfalls wird bei Luhmann und anderen Systemtheoretikern nur unzureichend reflektiert. 174

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aber die Herangehensweisen (seitens der Forscher) modifiziert werden, wodurch sich entsprechend auch die innere Struktur und Dynamik des gesamten Forschungssystems verändern können. Grundlegend hängt die strukturelle Komplexität also von Art und Anzahl der in Forschungssystemen vernetzten sozialen und psychischen Systeme ab. Wird bspw. die Datenerhebung als Auftrag an ein unabhängiges Forschungsinstitut oder studentische Hilfskräfte vergeben, verändert sich die Struktur des Forscherteams und damit das kommunikative Netz zwischen Forscherteam und Beforschten.

2.2.2.2 Vernetzung von Medien Die Betrachtung der vernetzten Kommunikatoren setzt an der obersten Ebene von Forschungssystemen an, indem die grundlegende Vernetzung der sozialen Elemente betrachtet wird. Sozialforschung ist allerdings keineswegs die bloße Vernetzung von sozialen bzw. psychischen Systemen. Kommunikation ist jedoch in jedem Fall auf materielle Medien als Vermittlungsinstanzen angewiesen, so dass sich Kommunikationssysteme als technologische Systeme beschreiben lassen. 47 Die strukturelle Komplexität kann zunächst durch die Art und Anzahl der Medien und Kommunikatoren bestimmt werden, die in Sozialforschungsprozessen vernetzt werden. Des Weiteren kann nach der Art ihrer Vernetzung gefragt werden. Grundsätzlich gilt, dass menschliche Informationsverarbeitung immer multimedial i.S. von multisensuell und massiv parallel erfolgt. Es ist nicht möglich, Sozialforschung soweit in ihrer Komplexität zu reduzieren, dass sie als monomediale Informationsverarbeitung erfolgen könnte. Der Grad der Komplexität ist abhängig von Anzahl und Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren. Begreift man menschliche Informationsverarbeitung als multimedial, kann bereits jede Form von Interviews oder Befragungen als komplexe Informationsverarbeitung beschrieben werden, indem die verschiedenen menschlichen Sensoren, d.h. Sinne (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen), und verschiedene Programme der Informationsverarbeitung (kognitiv, emotional) miteinander vernetzt werden. Einfluss darauf hat wiederum die gewählte Art der Vernetzung und das gewählte Programm zur Steuerung der Informationsverarbeitung. Interviews können face-to-face oder technisch vermittelt (Telefon, Internet) durchgeführt werden. Durch die Art der technischen Vermittlung kann die Komplexität erhöht oder gesenkt werden. Telefon-Interviews etwa versuchen die Zahl der angesprochenen Sinne

47 Vgl. Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 56. 175

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zu reduzieren, indem sie primär den auditiven Sinn ansprechen, Fragebögen im Internet sprechen primär den visuellen Sinn an. Allerdings bedeutet dies keine Reduzierung auf monomediale Settings, da in diesen Beispielen immer auch der taktile Sinn (Telefonhörer, Maus, Tastatur, etc.) angesprochen wird. Der in der Sozialforschung zu beobachtende Trend der Steigerung des Einsatzes technischer Medien in allen Phasen des Forschungsprozesses unterstreicht diese Sichtweise. Der Einsatz technischer wie personaler Medien bedeutet immer eine Prämierung bestimmter Sinne, nie aber den Ausschluss der anderen. Diese Feststellung bestätigt sich, wenn die Programme, nach denen die soziale Informationsverarbeitung der sozialwissenschaftlichen Datenerhebung gesteuert werden soll, miteinbezogen werden. Diese Programme sind entweder direkt in den (technischen) Medien gespeichert oder nur im Zusammenhang mit diesen denkbar. Der Fragebogen etwa kann als Steuerungsprogramm einer einseitigen, sequentiellen Informationsverarbeitung begriffen werden. Im narrativen Interview fungiert der Interviewer als flexibles Steuerungsprogramm, das situationsbezogen Impulse zur Anregung von Erzählungen liefern soll. 48 Indem es sich hierbei um eine intendierte Form paralleler Informationsverarbeitung handelt, fungieren die angeregten Erzählungen des Interviewten ebenfalls als Steuerungsprogramme. Die Institutionalisierung dieser Form der Datenerhebung ist nur denkbar im Zusammenhang mit der Aufzeichnung dieser Gespräche, indem damit die Speicherfunktion des Interviewers entlastet wird.

2.2.2.3 Vernetzung von Daten Schließlich kann die strukturelle Komplexität der Sozialforschung danach bestimmt werden, welche Arten von Daten als zulässig anerkannt, erhoben und dokumentiert werden. Daten sind als Produkte der Datenerhebung immer schon das Ergebnis von Prozessen der Vernetzung und Informationsverarbeitung. Sie können auf verschiedenen Niveaus emergieren und gespeichert werden und sind damit wiederum abhängig von den zulässigen Medien. 49 Strukturierte Fragebögen bspw. speichern Daten immer auf der Grundlage einer standardisierten Zeichenpraxis in einer binären Form (Kreuz/kein Kreuz). Die damit gewonnenen Daten emergieren unabhängig vom Inhalt und ihrer Semantik auf stets dem

48 Siehe dazu auch den Abschnitt Erzählen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 49 Siehe dazu auch die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 176

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gleichen Niveau und können ohne Verlust oder strukturelle Veränderung einer maschinellen Informationsverarbeitung zugeführt werden.50 Offen geführte Interviews dagegen produzieren Daten, die auf verschiedenen Niveaus emergieren können. Tonbandaufzeichnungen speichern die den technischen Möglichkeiten (und Einstellungen, d.h. Position, Aufnahmepegel, mono oder stereo, Aufnahmeanfang und -ende, etc.) des Aufzeichnungsgerätes entsprechenden, registrierbaren AudioInformationen während der Datenerhebung (oder auch während der Datenauswertung, sofern diese wiederum als Datenerhebung begriffen wird). Transkriptionen dieser Aufzeichnungen sind dagegen wiederum Ergebnisse von Prozessierungen, wobei der Transkribend als Prozessor funktioniert. In dieser Prozessierung kommen die Entscheidung über das Notationsverfahren sowie individuelle Entscheidungen des Transkribenden beim Abhören und Verstehen der Aufzeichnungen zum Tragen und bestimmen so das Ergebnis. Weiterhin kann die Komplexität von Daten dahingehend unterschieden werden, in welches Verhältnis sie zur Forschungsfrage gestellt und auf welche Art und Weise sie untersucht werden. Einzelne Datensätze können gleichberechtigt behandelt werden (Statistik), können individuell hervorgehoben werden (Einzelfallstudie) oder verglichen und gewichtet werden. Daten können demnach in der Auswertung unterschiedlich vernetzt werden, um so einen differenzierten Umgang mit der Komplexität des Forschungsgegenstandes herzustellen. Dies kann die Vernetzung gleichartiger Daten betreffen, aber auch die Vernetzung von Daten, die mit unterschiedlichen Medien gewonnener wurden und so auf unterschiedlichen Niveaus emergieren. In diesem Zusammenhang ist die mittlerweile auch in der Sozialforschung verbreitete Diskursanalyse hervorzuheben. In ihrem Rahmen können theoretisch (materielle) Manifestationen jeglicher Art Gegenstand der Analyse sein und miteinander verknüpft werden. 51

2.2.2.4 Störungen II: Produkte der strukturellen Komplexität Die von der Reaktivitätsforschung beschriebenen Störungen können nun auch aus der Perspektive der strukturellen Komplexität analysiert wer-

50 Sie sind sogar frei von jeder Semantik, was die Voraussetzung für ihre maschinelle Verarbeitung ist. Siehe dazu den Abschnitt Numerische Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 51 Vgl. Keller, Reiner, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 8284. Siehe dazu auch den Abschnitt Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 177

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den. Ein Beispiel dafür ist der Anwesenheits-Effekt. Seine Thematisierung lenkt die Aufmerksamkeit auf die strukturelle Komplexität durch die Vernetzung mehrerer Kommunikatoren. Der Sponsoring-Effekt kann als Steigerung dieses Effektes verstanden werden. Während der Anwesenheitseffekt lediglich auf die physische Anwesenheit weiterer menschlicher Kommunikatoren verweist, geht der Sponsorship-Effekt darüber hinaus, indem er auch nicht anwesende oder auch nur imaginierte dritte Kommunikatoren mit einbezieht. Auch die Thematisierung von Einflussfaktoren wie dem Äußeren des Interviewers kann als der Hinweis auf die Vernetzung von Medien verstanden werden. Sie bezieht sich auf die multimediale/multisensorielle Informationsverarbeitung der beteiligten Personen. Es ist unmöglich, monosensuelle Untersuchungssettings zu gestalten. Bei der Vernetzung von Daten schließlich werden Störungen explizit genutzt, und zwar bei der Operationalisierung von Variablen. In der Regel werden einzelne Variablen mehrfach kodiert bzw. in mehrere Items zerlegt, um die Reliabilität von Messinstrumenten zu gewährleisten. Eine Störung liegt dann vor, wenn die verschiedenen Items unterschiedliche Ergebnisse liefern. Solche Störungen müssen eliminiert werden, um den Erfolg der Forschung zu gewährleisten.

2.2.3 Selbstähnlichkeit und Emergenz – die ontologische Dimension Die ontologische Dimension ist auf der praktischen Seite der Sozialforschung weniger offensichtlich als die dynamische und strukturelle Dimension. Dies kann jedoch nicht über ihre grundsätzliche Bedeutung hinwegtäuschen. Sie ist nicht nur konstituierendes Moment der Sozialforschung, sondern auch das bestimmende Strukturmerkmal, das ihre Besonderheit im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausmacht. In der ontologischen Dimension werden die komplexitätstheoretischen Konzepte Selbstähnlichkeit und Emergenz zusammengefasst. In komplexen Systemen gilt neben dem Determiniertheitsprinzip (einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) ebenfalls nicht das Superpositions- oder Überlagerungsprinzip, demzufolge sich in linearen Systemen Wirkungen additiv überlagern. Stattdessen gilt das Prinzip der Selbstähnlichkeit oder Skaleninvarianz, was das Fehlen eines natürlichen Maßstabes bedeutet. 52 Anders ausgedrückt kann einem Input kein ein-

52 Vgl. Großmann, Siegfried, Selbstähnlichkeit: Das Strukturgesetz im und vor dem Chaos, in: Gerok, Wolfgang (Hrsg.), Ordnung und Chaos in der 178

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deutiger Output zugewiesen werden. Dieser Zusammenhang findet sich auch bei emergenten Phänomenen. Emergenz meint das Auftauchen von Phänomenen, die durch das Zusammenwirken mehrerer Elemente auf untergeordneten Ebenen zustande kommen. Umgekehrt bedeutet es, dass das emergente Phänomen nicht auf die einzelnen Elemente reduzierbar ist. Die populäre Umschreibung dafür lautet »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«. Emergente Phänomene sind nicht kausallogisch oder als Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses zu erklären. Bei Foucault findet sich die Anwendung dieses Gedanken auf die Geschichte. Er unterscheidet zwischen Herkunft und Entstehung, zwischen Prozess und Ereignis. 53 »Entstehung meint eher Auftauchen [émergence], das Prinzip und das einzigartige Gesetz eines Aufblitzens. [...] die Entstehung vollzieht sich immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Entstehung ist also das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne. [...] Niemand ist verantwortlich für eine Entstehung, niemand kann sich ihrer rühmen; sie geschieht in einem leeren Zwischen.« 54

Emergenzphänomene können nicht durch die Reduktion auf die einzelnen zusammenwirkenden Elemente erklärt werden, sondern immer nur ganzheitlich. Bei den Eigenschaften der Systeme ist nun zu unterscheiden zwischen solchen, die auf allen Ebenen auftauchen, und solchen, die nur auf einer Ebene auftauchen. An dieser Stelle scheiden sich also die Konzepte Selbstähnlichkeit und Emergenz. ›Selbstähnlichkeit‹ bezieht sich auf Strukturähnlichkeit, während ›Emergenz‹ auf Struktureffekte abhebt. Diese Unterscheidung ist für die Analyse und Nutzung dieser unbelebten und belebten Natur (Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 115), Freiburg im Breisgau/Stuttgart: Wissenschaftliche Verlags-Gesellschaft 1989, S. 101-122, hier S. 101ff. Großmann nennt Selbstähnlichkeit eine Eigenschaft von Nichtlinearität und nimmt damit eine Hierarchisierung der Eigenschaften von komplexen Systemen vor, der hier nicht gefolgt wird. Die unterschiedliche Ordnung der Elemente und Eigenschaften verweist allerdings auf das generelle Problem, Ordnung in die Beschreibung von Komplexität zu bringen. Unterschiedliche Beschreibungsordnungen sind möglich, jedoch gilt, dass das Eine nicht ohne das Andere denkbar ist. 53 Vgl. Wägenbaur, Thomas, Emergenz. Der Sprung von der Evolutions- in die Kommunikationstheorie und Ästhetik, in: parapluie. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen (Online-Journal), Nr. 7 (Winter 1999/2000), verfügbar unter: http://parapluie.de/archiv/sprung/emergenz. 54 Foucault, Michel, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main: Fischer-TaschenbuchVerlag 1991, S. 75-77 (kursiv im Original). 179

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Phänomene von Bedeutung. Die Analyse von Strukturähnlichkeiten meint logischerweise die Suche nach ähnlichen Strukturen auf den verschiedenen Ebenen eines Systems. Die Erklärung von Emergenzphänomenen gestaltet sich dagegen schwieriger. Bei einer strengen Auslegung des Konzepts Emergenz sind die Gesetzmäßigkeiten, die zum Auftauchen von Phänomenen führen, nicht nachvollziehbar bzw. deduzierbar. Jedoch können bei hinreichender Kenntnis über das betreffende System die Faktoren angegeben werden, die zum Auftauchen eines Phänomens beigetragen haben. Die sprachliche Formel dafür lautet dann »A ist das emergente Produkt aus x, y und z.« Wissenschaftstheoretisch wird Selbstähnlichkeit zwar in der Regel auf einer abstrakten Ebene im Rahmen der Diskussion von Beobachterproblemen verhandelt. Methodologisch ahnt man aber bereits, dass Selbstähnlichkeit eine Grundvoraussetzung von Sozialforschung ist: »Selbstähnlichkeit bedeutet, dass der Gegenstand der Soziologie für sich wie für diese nur deswegen zugänglich ist, weil sich bestimmte Strukturen wiederholen, Strukturen nämlich, die für die Konstitution des Sozialen ebenso verantwortlich sind wie für die (ihrerseits »soziale«) Interaktion der Soziologie mit ihrem Gegenstand.« 55

Die Synergetik zum Beispiel fußt auf dem Grundgedanken der Selbstähnlichkeit in dem Sinne, dass sie den Anspruch hat, mathematische Beschreibungen der Selbstorganisation makroskopischer Systeme in verschiedenen natur- und sozialwissenschaftlichen Systemen bereitstellen zu können. 56 An einer Umsetzung dieser Ideen in die Forschungspraxis tun sich ihre Vertreter jedoch schwer. 57 Diese Schwierigkeiten verweisen auf das prominente Problem des Verhältnisses von Makro- und Mikrokosmos in den Sozialwissenschaften, das innerhalb des hier vorgeschlagenen ontologischen Parameters verhandelt werden kann. Es geht um die verschiedenen Emergenzniveaus sozialer Tatbestände, deren Untersuchung unterschiedliche Forschungs- und Beschreibungsstrategien zu 55 Baecker, Dirk, Die Natur der Gesellschaft, Vortrag auf dem 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Kassel, 10. Oktober 2006. 56 Vgl. Haken, Hermann, Synergetik, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, in: Mainzer, Klaus (Hrsg.), Komplexe Systeme und nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft. Komplexitätsforschung in Deutschland auf dem Weg ins nächste Jahrhundert, Berlin u.a.: Springer 1999, S. 30-46. 57 Vgl. dazu etwa die Debatte zum Verhältnis von Synergetik und Sozialwissenschaften in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, Themenheft Synergetik und Sozialwissenschaften, Jg. 7, Nr. 8 (1997); auch hier wird die Anwendbarkeit im Wesentlichen auf die Frage der Modelle der Sozialwissenschaften reduziert. 180

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erfordern scheint. Auf der Ebene etwa mikrosoziologischer Prozesse verlieren mathematisch-formalisierte Beschreibungsverfahren ihre prognostische Kraft. Hier gilt das Interesse nicht stochastisch zu erwartenden Verläufen von Prozessen, sondern konkreten Einzelfällen. Abgesehen von diesem theoretischen Interesse spielen Überlegungen zu Emergenz in den sozialwissenschaftlichen Methodologien eine untergeordnete Rolle. Allerdings können ihrer Verfahren und Methoden selbst als spezifische Umgangsweisen mit Emergenz in sozialen Systemen beschrieben werden. Grundsätzlich besteht die Bedeutung der ontologischen Dimension also darin, dass die Sozialforschung immer darauf angewiesen ist, die von ihr untersuchten Sachverhalte innerhalb ihrer Forschungssysteme zu repräsentieren. Dies betrifft sowohl die Frage nach den Untersuchungseinheiten als auch die Frage nach den Methoden. Sie werden nach ihrer scheinbaren Eignung gewählt, Informationen über das untersuchte Phänomen emergieren zu lassen, und unterscheiden sich dabei hinsichtlich des Grades an Selbstähnlichkeit, die sie zulassen bzw. erzeugen. Vertraut ist die erste Frage vor allem in Form der Diskussion über das Problem der Repräsentativität. Soziologen befragen nicht die Gesellschaft, sondern einzelne Personen oder Gruppen, um daraus Rückschlüsse über die Gesellschaft zu ziehen. Auf der Ebene der Methoden steht die Frage im Vordergrund, wie sie das Prinzip der Selbstähnlichkeit nutzen, um ihre Gegenstände im Forschungssystem zu spiegeln und Informationen über sie emergieren zu lassen.

2.2.3.1 Spiegelungsphänomene Neben der abstrakten Konstatierung von Selbstähnlichkeit als Voraussetzung für die Sozialforschung finden sich in den Methodologien Anwendungen für den bewussten Einsatz dieses Konzeptes. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Spiegelungsphänomenen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Untersuchung von solchen Spiegelungsphänomenen, die unabhängig von der Forschungstätigkeit vorhanden sind, und solchen, die erst in diesem Rahmen auftreten. In der psychoanalytischen Tradition ist das Vorhandensein von Spiegelungsphänomenen im Sinne von Übertragungen seit Freud Grundvoraussetzung für das Gelingen therapeutischer Prozesse. Unbewusste Wiederholung konflikthafter Beziehungsformen und deren Übertragung auf den Therapeuten gelten als wichtiger Bestandteil jeder Analyse und des Verhältnisses zwischen Analysand und Therapeut. Solche Aktualisierungen lebensgeschichtlich bedeutsamer Verhaltensweisen können als Methode zur Rekonstruktion subjektiver Sinngebung genutzt werden. Ethnopsychoanalytisch wurde dieses Konzept später dahingehend weiter181

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entwickelt, dass Übertragungen nicht nur als Ausdruck individueller, sondern auch »historisch erfahrener sozialer Machtverhältnisse und institutioneller Rollen« 58 und »kultureller Interaktionsmuster« 59 gedeutet werden können. Von innerpsychischen Vorgängen kann somit nicht nur auf subjektive Sinngebung, sondern auch auf latente Strukturen einer Kultur geschlossen werden. 60 Das Konzept der Selbstähnlichkeit funktioniert hier als Scharnier bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Mikro- und Makroebene. In forschungspraktischer Hinsicht bezeichnet ›Gegenübertragung‹ komplementär zu ›Übertragung‹ die durch die Übertragung des Analysanden hervorgerufenen unbewussten emotionalen Reaktionen des Therapeuten. Freud selbst war noch der Auffassung, dass der Therapeut solche Echos »in sich erkennen und bewältigen« 61 solle. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird der Gegenübertragung eine konstruktive Rolle in der therapeutischen Arbeit zugeschrieben.62 George Devereux hat dieses Konzept weiterentwickelt und die zentrale Rolle der Selbstbeobachtung des Beobachters für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen herausgestellt. 63 Die Anerkennung des Vorhandenseins solcher Spiegelungsphänomene bedeutet auch jenseits der Psychoanalyse immer die Betonung der Bedeutung der Subjektivität von Forschern und Beforschten in Sozial-

58 Nadig, Maya, Der ethnologische Weg zur Erkenntnis. Das weibliche Subjekt in der feministischen Wissenschaft, in: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hrsg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg im Breisgau: Kore-Verlag 1992, S. 151-200, hier S. 157. 59 Heizmann, Silvia, »Ihretwegen bin ich invalide!« – Einige methodologische Reflexionen über die Grenzen verbaler Datengewinnung und Datenauswertung und der Versuch, aus dem Erkenntnispotential ethnopsychoanalytischer Konzepte zu schöpfen [79 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 4, Nr. 2, Art. 31 (2003), Absatz 7, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114fqs0302315. 60 Vgl. Nadig, Maya, Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1997, S. 48. 61 Freud, Sigmund, Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie (Vortrag gehalten auf dem II. Privatkongress der Psychoanalytiker zu Nürnberg 1910), in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 8: Werke aus den Jahren 1909-1913, Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 104-115, hier S. 108. 62 Vgl. Heimann, Paula, On countertransference, in: International Journal of Psychoanalysis, Jg. 31 (1950), S. 81-84. 63 Siehe dazu auch den Abschnitt Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 182

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forschungsprozessen. Der Umgang mit Subjektivität ist jedoch immer noch ein Scheidepunkt der unterschiedlichen empiristischen Grundannahmen der Sozialwissenschaften. Idealvorstellungen von Objektivität lassen nur den Typus der Intersubjektivität zu und schließen damit Subjektivität aus Forschungsprozessen aus und verlagern sie damit in ihre nähere Umwelt. Dies funktioniert allerdings nur unter der Annahme einfacher Kommunikationsmodelle, nämlich möglichst interaktionsarmer Kommunikation. Das Herausstellen der Bedeutsamkeit von Spiegelungsphänomenen impliziert den Verweis auf einen bestimmten Typus von Kommunikation, der über einfache Kommunikationsmodelle hinausgeht. Spiegelungsphänomene sind nämlich nicht nur zwischen psychischen Systemen, also gleichartigen Medien zu beobachten, sondern auch zwischen artverschiedenen. Dies betrifft etwa den Zusammenhang zwischen psychischen und sozialen Systemen in der Ethnopsychoanalyse. Darüber hinaus können aber auch Metaphern als sprachliche Spiegel individueller und sozialer Dispositionen verstanden und entsprechend genutzt werden. 64 Im Prinzip baut jede Sozialforschung auf einem spezifischen Verständnis von Selbstähnlichkeit auf. Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich des Grades der Selbstähnlichkeit. Während die Ethnopsychoanalyse identifizierbare Strukturen in einzelnen Individuen annimmt, wird bei der Nutzung quantitativer Verfahren davon ausgegangen, dass nur einzelne Merkmale bei Individuen identifizierbar sind, das zu untersuchende Phänomen jedoch erst auf einer höheren Ebene emergiert. Die Erhebung dieser Merkmale erfolgt wiederum durch die Nutzung von Spiegelungsmedien; auch der Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten kann so beschrieben werden. Als Spiegel verstanden zeichnet er sich dadurch aus, dass er nur ein sehr begrenztes Spektrum reflektieren und wiedergeben kann, was schon vor der Datenerhebung den Forschern bekannt war. Weichen die Antwortmöglichkeiten zu sehr vom Erleben oder Beschreiben der Untersuchungsteilnehmer ab, kann der Rest des Spektrums nur noch von schwarzen Löchern mit der Bezeichnung »weiß nicht/keine Angabe« geschluckt werden.

2.2.3.2 Emergenzniveaus Jedes Verfahren der Sozialforschung stellt eine Entscheidung über die Zugänglichkeit des Untersuchungsgegenstandes dar. Diese Entscheidung

64 So untersucht etwa die rekonstruktive Metaphernanalyse subjektive Sinngebung anhand der verwendeten sprachlichen Bilder. Siehe dazu auch den Abschnitt Daten und Methoden im einleitenden Kapitel. 183

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ist eine doppelte. Zunächst betrifft dies den Untersuchungsgegenstand selbst. Da es sich bei sozialen Tatbeständen stets um komplexe Systeme handelt, kann – anstelle eines naiven ontologischen Realismus – jeder Gegenstand als emergentes Phänomen betrachtet werden. Dies gilt gleichermaßen für die Erhebung von gesellschaftlichen Meinungsbildern wie für die Untersuchung von Verkaufsgesprächen. Darüber hinaus handelt es sich um die Entscheidung, auf welchem Niveau die konkrete Untersuchung der Fragestellung erfolgen soll. Da bspw. die Gesellschaft nicht direkt befragt werden kann, muss stattdessen ein alternatives Niveau gewählt werden. Im Zentrum dieser Wahl steht die Frage, auf welchem Niveau die Daten emergieren sollen, die als Material der Forscher letztendlicher Analysegegenstand sind. Die Frage nach dem Verhältnis von Input und Output wird in der Sozialforschung unterschiedlich beantwortet. Daten emergieren je nach den verwendeten Medien ihrer Erhebung, Prozessierung und Darstellung auf unterschiedlichen Niveaus. Mit der Entscheidung für ein Verfahren ist deshalb immer auch die Entscheidung für ein oder mehrere bevorzugte Emergenzniveaus verbunden. Daten als wie auch immer geartete Repräsentationen von Untersuchungsgegenständen können diese Funktion immer nur in Bezug auf bestimmte Aspekte der Gegenstände erfüllen. 65 Bedeutsam für die komplexitätstheoretische Betrachtung der Sozialforschung wird die Frage nach den Emergenzniveaus in zweifacher Hinsicht. Zum einen geht es um die Prozesse selbst, die bspw. Daten auf dem einen oder anderen Niveau emergieren lassen. Als Beispiel sei der Unterschied zwischen Einzelbefragungen und Gruppendiskussionen genannt. In letzterer ist die Gruppendynamik selbst emergentes Produkt der Gruppe, das sich nicht auf die einzelnen Elemente bzw. Teilnehmer zurückführen lässt. Somit wird u.a. die Eigendynamik verschiedener Medien deutlich. Zum Verständnis dieser Prozesse sind dezidiert medientheoretisch angelegte Untersuchungen notwendig. Zum anderen geht es um die Analyse der Vernetzung der verschiedenen Medien und Prozesse, die schließlich zur Konstituierung feststehender Datenbestände als Analyseeinheiten führen. In der Regel können auf diesem Weg mehrfache Spiegelungsprozesse identifiziert werden. Beispielsweise kann die Aufzeichnung von Audiodaten zunächst als physikalischer Spiegelungsprozess beschrieben werden, bei der das Aufnahmegerät als Spiegelungsmedium dient. Bei der anschließenden Transkription fungiert dann der Transkribend als Spiegelungsmedium. Der Begriff der Spiegelung ist dabei insofern irreführend, als dass er einen verlustfreien

65 Siehe dazu auch den Abschnitt Die Funktionen von Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 184

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Vorgang suggeriert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich bei diesen Spiegelungen um selektive Vorgänge. Die Entscheidung für bestimmte Verfahren impliziert also immer schon mehr oder weniger zielgerichtete Selektionsleistungen hinsichtlich der erwünschten Daten oder Fragestellungen. Dies bezieht sich jedoch nicht nur auf die Phase der Datenerhebung, sondern ebenso auf die Konstitution von Forschungssystemen, die Datenauswertung 66 oder auch der Präsentation der Ergebnisse. Die grundsätzliche Frage an die Sozialforschung lautet, welche Emergenzniveaus zugelassen werden, welche Strategien notwendig sind, um diese Niveaus zu erreichen und wie Daten auf verschiedenen Niveaus kombiniert werden.

2.2.3.3 Störungen III: Irritierende Spiegelungen Während der ethnopsychoanalytische Ansatz Spiegelungsphänomene als produktiv betrachtet, werden sie in anderen Methodologien als irritierende Störungen gewichtet. Ein Beispiel dafür ist der erwähnte Rosenthal-Effekt oder Pygmalion-Effekt. Dieses nicht unumstrittene Konzept geht auf die Untersuchung von Lehrer-Schüler-Interaktionen durch Rosenthal zurück. Demzufolge wirken sich Erwartungen, Überzeugungen und Vorurteile von Lehrern und Versuchsleitern nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung auf die Schüler bzw. Versuchsteilnehmer aus. Einfach ausgedrückt wird sich ein Schüler, den der Lehrer für dumm hält, nicht zu einem Leistungsträger entwickeln, sondern vielmehr die Erwartungen seines Lehrers – schlechte Leistungen – erfüllen. 67 Auch emergente Phänomene können als Störungen erscheinen. Dies gilt etwa für den Anwesenheitseffekt. Die Anwesenheit Dritter lässt eine ungewollte Gruppendynamik entstehen, selbst wenn sich anwesende Dritte passiv verhalten. Dadurch wird allerdings auch klar, dass Störungen in jedem Fall perspektivisch gebundene Phänomene sind. In dieser

66 Siehe dazu auch den Abschnitt Ontologisch: GABEK in diesem Kapitel. 67 Rosenthal, Robert/Jacobson, Lenore, Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler, Weinheim: Beltz 1971. Diesen Effekt, den Rosenthal auch für die Umfrageforschung und die experimentelle Psychologie beschreibt, versuchte er in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Medien zu erklären. Dazu suchte Rosenthal nach Hinweisen auf Übertragungen auslösende Reize in Filmmaterial und reduzierte die Sinneseindrücke durch Wandschirme und durch den Einsatz von Tonbändern statt Versuchsleitern. Jedoch bewertete er selbst den Erfolg dieser Bemühungen skeptisch: »Wahrscheinlich »wissen« weder Versuchsperson noch Experimentator genau, wie dieses unbeabsichtigte kommunikative Verhalten aussieht, und ebenso wenig wissen wir es.« Siehe ebd., S. 45. 185

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Hinsicht lässt sich der Pygmalion-Effekt auch auf das Phänomen Störungen anwenden. In George Bernard Shaws literarischer Bearbeitung des Pygmalion-Mythos, dem das Phänomen seinen Namen verdankt, heißt es: »Wissen Sie, abgesehen davon, was jeder sich aneignen kann – Kleidung, einwandfreie Aussprache und so weiter – ist der Unterschied zwischen einer Dame und einem Blumenmädchen wirklich und wahrhaftig nicht, wie sie sich benimmt, sondern wie man sie behandelt.« 68

Ebenso verhält es sich mit dem Verhalten gegenüber der Störung. Sie kann irritierend sein und das Ergebnis verfälschen. Sie kann aber auch irritierend sein und gerade deshalb nützlich. Da Spiegelungsphänomene also ständig vorkommen, muss entschieden werden, welche relevant sind. Dies gilt sowohl im Hinblick auf ihre Einordnung als Störung wie auch als produktives Moment. Aus der Anwendung komplexitätstheoretischer Konzepte auf die Sozialforschung und den Befunden der Reaktivitätsforschung folgt, dass die Komplexität der Sozialforschung eine doppelte ist. Sie resultiert einerseits aus ihren Gegenständen, die in der Regel selbst komplexe Systeme sind. Andererseits können die beschriebenen Störungen nur als Effekte der eigenen Komplexität der Sozialforschung auftreten. Bei diesen Störungen handelt es sich um Produkte der stattfindenden Kommunikationsprozesse. Daraus folgt, dass alle Methoden und die durch sie geregelten Kommunikationsprozesse als spezifische Umgangsweisen mit ihrer eigenen Komplexität und der Komplexität ihrer Gegenstände verstanden werden können. Aus dieser Perspektive erscheinen Methoden dann als Strategien der Bewältigung von Komplexität.

3 St r a t e g i e n d e r B e w ä l t i g u n g Die allgemeinen Befunde über die Komplexität der Sozialforschung können nun weiter konkretisiert werden, indem die verschiedenen Strategien ihrer Bewältigung – Reduktion, Erhaltung und Induktion – näher beleuchtet werden. Während allen wissenschaftlichen Disziplinen vor allem die Reduktion von Komplexität vertraut ist, gibt es in der Sozialforschung eine Reihe von Ansätzen und Methoden, die nicht ausschließ68 Shaw, George Bernard, Pygmalion, in: ders., Stücke. Frau Warrens Beruf, Candida, Major Barbera, Pygmalion, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1974, S. 269-354, hier S. 343. 186

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lich auf diese den naturwissenschaftlichen Methodologien entlehnte Strategie vertrauen. An zahlreichen Beispielen kann gezeigt werden, dass sich die verschiedenen Strategien auf alle drei Dimensionen der Komplexität der Sozialforschung beziehen und dabei unterschiedliche Prioritäten setzen. Die Reduktion der Komplexität in der einen Dimension kann mit dem Erhalt oder Induktion der Komplexität in einer anderen Dimension einhergehen. Daher werden die Beispiele auch unter der Frage diskutiert, ob sie ihre eigenen impliziten Annahmen über den Umgang mit Komplexität erfüllen und deren Möglichkeiten ausschöpfen.

3.1 Reduktion von Komplexität Die Reduktion von Komplexität erfolgt in der Sozialforschung auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist die der Selbstbeschreibungen. Selbstbeschreibungen betreffen einmal die verschiedenen Disziplinen und Forschungsansätze der Sozialwissenschaften wie bspw. »quantitativ« und »qualitativ«. Aber auch Forschungsberichte beinhalten Selbstbeschreibungen. Während die Präsentation von Ergebnissen in erster Linie Selbstbeschreibungen hinsichtlich der theoretischen Einordnung liefern, interessieren hier vor allem die Darstellungen des Forschungsprozesses. Sie enthalten Hinweise auf das generelle Verständnis von Sozialforschung. Die zweite Ebene ist die der konkreten Verfahren. Hier sind es vor allem die Strategien der Standardisierung, die die Komplexität der Sozialforschung reduzieren.

3.1.1 Selbstbeschreibungen 3.1.1.1 Die Funktion von Selbstbeschreibungen Niklas Luhmann unterscheidet zwei verschiedene Begriffe von Komplexität. Zum einen beschreibt er sie als Selektionsnotwendigkeit, die aus der Differenz von Komplexitäten entsteht. Da die Elemente von Systemen nicht mehr als dekomponierbare Seinseinheiten aufgefasst werden können, sondern erst durch das System konstituiert werden, meint Reduktion von Komplexität nicht mehr die simplifizierende Relationierung von Elementen, sondern von Relationen selbst. Die Differenz von System- und Umweltkomplexität ist jenes Prinzip, das die selektive Reduktion erzwingt. Die »unfaßbare« Komplexität der Umwelt wird durch die Komplexität des Systems ersetzt: »Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren.« 69

69 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 49. 187

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Komplexität meint darüber hinaus Mangel an Information zur vollständigen Beschreibung der Umwelt oder des Systems selbst. Aus der Sicht einzelner Systemelemente wird Komplexität nur als Selektionshorizont relevant und kann auf diese Weise wieder in das System eingeführt werden – »als Begriff, als unbekannte und gerade dadurch wirksame Größe, als Angstfaktor, als Begriff für Unsicherheit oder Risiko, als Planungsund Entscheidungsproblem, als Ausrede«. 70 Zusammengenommen folgert Luhmann aus diesen Begriffen, dass Systeme ihre eigene Komplexität und die ihrer Umwelt nicht erfassen, aber doch problematisieren können: »Das System produziert ein und reagiert auf ein unscharfes Bild seiner selbst.« 71 Selbstbeschreibungen werden explizit dann notwendig, wenn die generalisierten Kommunikationsmedien nicht mehr ausreichen, die Einheit des Systems zu gewährleisten. Im Fall der Wissenschaft wäre dies das Medium Wahrheit, das diese Funktion offensichtlich nicht erfüllt. Die Einheit des Systems muss vielmehr in Form einer mitlaufenden Selbstreferenz wieder in das System eingeführt werden, und zwar mit Hilfe der Operation der selbstsimplifizierenden Selbstbeschreibung, die die Komplexität reduziert und sinnhaft re-generalisiert: »Die dafür angefertigte Semantik ist nicht das Ganze, aber sie referiert das Ganze als Einheit und stellt diese als einen immer mitzubenutzenden Verweisungsstrang allen Operationen zur Verfügung.« 72 Erst die komplexitätsreduzierenden Selbstbeschreibungen machen ein System funktionsfähig.

3.1.1.2 Die Labels der Sozialwissenschaften In den Selbstbeschreibungen der sozialwissenschaftlichen Forschungsparadigmen dominiert das Begriffspaar quantitativ – qualitativ seit Jahrzehnten die Methodendiskussionen. Diese Dichotomisierung ist dabei gar nicht so klar, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen möchte. Qualitativ meint ja nicht etwa das Gegenteil von quantitativ. Beide Begriffe verweisen auf Elemente und Merkmale in den von beiden Paradigmen angewendeten Verfahren und den von ihnen verfolgten Zielen. Beide Forschungsstrategien beziehen sich auf bestimmte Quantitäten und Qualitäten ihrer Gegenstände und Verfahren und keiner ihrer Vertreter käme in die Versuchung, einen der beiden Begriffe als exklusives Reservat innerhalb der Sozialwissenschaften zu beanspruchen. 73 Die Simp70 71 72 73

Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 624. Gleiches gilt auch für andere Selbstbeschreibungen wie etwa ›Kommunikative Sozialforschung‹. Zum Verhältnis der verschiedenen Forschungsansätze siehe auch die Fallstudie III: Zählen und Erzählen.

188

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

lifikationen haben keinen sich gegenseitig ausschließenden Charakter. In ihnen werden vielmehr die Identitäten der Forschungsparadigmen an bestimmte Merkmale gebunden und weiterhin an bestimmte präferierte Medien und Kommunikationsstile. Dabei implizieren solche Selbstbeschreibungen keinen Konsens und ihr Informationswert resultiert allein aus der Tatsache der Intransparenz des Systems für sich selbst. 74 Die Sozialforschung kennt deshalb auch weitere Selbstbeschreibungen wie etwa heuristische bzw. entdeckende Sozialforschung, Markt- und Meinungsforschung oder Aktionsforschung. Alle diese Begriffe verweisen auf verschiedene Aspekte: auf die Objekte, Strategien oder Verfahren. Und auch der Oberbegriff empirische Sozialforschung liefert nur anscheinend eine integrierende Beschreibung der zahlreichen Varianten der Sozialforschung, da ›Empirie‹ selbst auf verschiedene Weisen der Weltaneignung und -erkenntnis verweist. 75 Während sich aus den spezialisierteren Beschreibungen wenigstens Hinweise auf die darin enthaltenen Konzepte ableiten lassen, präsentieren sich gerade die prominenten Beschreibungen quantitativ und qualitativ als ausgesprochen unscharfe Bilder. Die mit diesen Selbstbeschreibungen verbundene Reduktion der Komplexität der dahinter stehenden Verfahren und Auffassungen geht so weit, dass Komplexität von vornherein auf beiden Seiten eliminiert wird. So ist ja auch das Verhältnis der Paradigmen ungeklärt. Sie werden als widersprüchlich betrachtet, oder als komplementär, dann wiederum wird diese Begrifflichkeit im Ganzen abgelehnt. Es ist mehr als fraglich, ob durch diese Operation der Reduktion von Komplexität diese in den gewählten Begriffen im Sinne Luhmanns sinnhaft re-generalisert 76 wird. Ungeachtet der Bestimmung des Verhältnisses der unterschiedlichen Stile zueinander erscheint es sinnvoll, die Selbstbeschreibungen im Hinblick auf darin enthaltene Vorstellungen von Komplexität zu untersuchen. Im Umgang mit Quantitäten zeigen sich die augenscheinlich größten Unterschiede der Forschungsstile. Während die quantitative Sozialforschung eine »Politik der großen Zahlen« 77 verfolgt, widmet sich die qualitative Sozialforschung kleinen Mengen und Einzelfällen, verfolgt also eine Politik der kleinen Zahl. Ihr Hauptaugenmerk, so die gängige Sichtweise, gilt den Qualitäten, den Besonderheiten dieser Einzelfälle. 74 Vgl. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 886f. 75 Siehe dazu das Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 76 Luhmann, Soziale Systeme, S. 624. 77 Vgl. Desrosières, Alain, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg: Springer 2005. 189

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Allerdings kann auch in der qualitativen Sozialforschung eine ausgeprägte Neigung zu kodierenden Strategien festgestellt werden. Im Gegenzug bedeutet dies auch nicht, dass die quantitative Sozialforschung nicht an den Qualitäten ihrer großen Mengen interessiert wäre, im Gegenteil. Die Frage ist jedoch, welcher Art die hier interessierenden Strukturen sind. Es hat sich herausgestellt, dass insbesondere die Statistik selbst Konjunkturen unterworfen ist. Alain Desrosières etwa hat darauf hingewiesen, dass in den 1970er Jahren oft die Korrespondenzanalyse gebraucht wurde, die nicht nur Kausalitätsbeziehungen zwischen Variablen herstellt, sondern das Ziel verfolgt, globale Konfigurationen und Konstellationen von Eigenschaften sozialer Gruppen zu charakterisieren. Seit den 1980er Jahren aber würden verstärkt logistische Regressionsmethoden angewendet, die darauf abzielen, Struktureffekte zu eliminieren, indem sie reine Effekte von Variablen zerlegen. 78 Der Begriff Quantität verweist so, indem der Begriff sich an der Zahl als Maßstab orientiert, weniger auf Komplexität als auf Kompliziertheit. Während ›Komplexität‹ eher auf die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten und die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe im Zeitverlauf rekurriert, fokussiert ›Kompliziertheit‹ eher eine Anzahl homogener Elemente und ihrer Beziehungen zueinander und damit eher die Statik der beschriebenen Systeme als ihre Dynamik. 79 Die heute so geläufigen Bezeichnungen qualitativ und quantitativ sind jedoch in der Geschichte der Sozialwissenschaften relativ jung und mussten sich erst einmal herauskristallisieren. Zuvor war die Rede von der empirischen Sozialforschung üblich. In der klassischen Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal«80 , die von Vertretern beider Lager gerne als historische Referenz für die Entwicklung der modernen Sozialforschung angegeben wird, findet man ein gleichberechtigtes Nebeneinander qualitativer und quantitativer Verfahren. Auch in der von René König in den Nachkriegsjahren entwickelten Konzeption empirischer Sozialforschung konnten Verfahren, die heute nach qualitativ und quantitativ unterschieden werden, durchaus noch friedlich unter einem gemeinsamen Dach koexistieren. Im deutschsprachigen Raum taucht der Begriff

78 Vgl. ebd., S. 382. 79 Ulrich/Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln, S. 61, zitiert nach Beisel, Synergetik und Organisationsentwicklung, S. 56. 80 Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul Felix/Zeisel, Hans (Hrsg.), Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 190

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qualitative Sozialforschung zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre auf. 81 Vorausgegangen war dem eine umfangreiche Erweiterung der Methoden und Verfahren in allen Bereichen der Sozialforschung, etwa auf der Grundlage der Arbeiten der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen oder Georges Devereux’. 82 Im englischen Sprachraum taucht der Begriff ›qualitative research‹ bereits 1967 im Untertitel von Glaser/Strauss’ »The Discovery of Grounded Theory« 83 auf. Die Unterscheidung qualitativ/quantitativ in der Sozialforschung geht jedoch noch weiter zurück und bezieht sich dabei nicht auf den Forschungsprozess, sondern noch auf die Art der Analyse. Anfang der 1950er Jahre veröffentlicht Bernard Berelson das erste Lehrbuch zur quantitativen Inhaltsanalyse84 , dem Siegfried Kracauer sein Konzept einer qualitativen Inhaltsanalyse 85 gegenüberstellt. 86 Auf der anderen Seite hatten statistische Verfahren mit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung einen Aufschwung erfahren. Volkszählungsdaten wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit Hollerithmaschinen ausgewertet, mit denen bereits etwa Faktorenanalysen durchgeführt werden konnten. 87 Jedoch erst die elektronisch-programmgesteuerten Maschinen der Nachkriegszeit ermöglichten komplizierte 81 Bspw. Hopf, Christel, Die Pseudo-Exploration – Überlegungen zur Technik qualitativer Interviews in der Sozialforschung, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 7, Nr. 2 (1978), S. 97-115. 82 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Realität (2 Bde.), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973 und Devereux, Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München: Hanser 1969. 83 Glaser, Barney G./Strauss, Anselm Leonard, The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago: Albine 1967. 84 Berelson, Bernard, Content Analysis in Communication Research, Glencoe: Free Press 1952. 85 Kracauer, Siegfried, The Challenge of Qualitative Content Analysis, in: Public Opinion Quarterly, Jg. 16, Nr. 4 (1952), S. 631-642. 86 Diese Auseinandersetzung schließt an eine noch ältere Debatte an, die Thomas und Znaniecki mit ihrer Analyse von Briefen polnischer Arbeiter 1918 ausgelöst hatten, nämlich um die Frage nach geeigneten Analyseeinheiten – Wörter oder Bedeutungen. Vgl. Thomas, William Isaac/ Znaniecki, Florian, The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an Immigrant Group, Boston: Badger 1918. 87 Vgl. Weischer, Christoph, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München: R. Oldenbourg 2004, S. 339. Zur Geschichte und Bedeutung der Hollerith-Maschinen siehe Dotzler, Bernhard J., Die Schaltbarkeit der Welt. Herman Hollerith und die Archäologie der Medien, in: Andriopoulos, Stefan/Dotzler, Bernhard J. (Hrsg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 288-315. 191

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Analyseverfahren wie Inhaltsanalyse, Programmierung approximativer Prozesse oder Simulationen und im Anschluss die Bezeichnung »Computerforschung«. 88 Die Entwicklung der Sozialforschung in den 1960er und 1970er Jahren zeichnet sich dadurch aus, dass eine Vielzahl neuer Methoden und technischer Medien eingeführt wird. Dies allein ist allerdings noch keine hinreichende Erklärung für das neue dichotomisierende Selbstbeschreibungssystem qualitativ/quantitativ. 89 Dennoch scheinen sich in dieser Phase zwei Grundbewegungen der modernen Sozialforschung voneinander zu trennen, die zur Zeit der »Arbeitslosen von Marienthal« noch keine Gegensätze darstellten: Zählen und Erzählen. 90 Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die Labels der Sozialforschung jeweils ihnen wichtige Aspekte akzentuieren. Dabei kann es sich um Strategien, Verfahren oder Ziele handeln. Die Labels haben dabei keine ausschließende Funktion; die unterschiedlich bezeichneten Sozialforschungen beinhalten immer auch Aspekte der jeweils anderen. Allerdings sind unterschiedlich hohe Reflexionsniveaus bei den einzelnen Selbstbeschreibungen festzustellen. Diese reichen von relativ einfach strukturierten Labels wie quantitativ – qualitativ, deren Aussagekraft gering ist, bis zu explizit selbstreflexiven Beschreibungen wie kommunikativ, in denen sowohl Gegenstand als auch Strategien und Verfahren enthalten sind. Der Nutzen dieser Beschreibungen für die Forschungspraxis ist insgesamt allerdings als gering einzuschätzen, da sie als Steuerungsprogramme in der Regel nur begrenzt von Bedeutung sind. Sie verweisen auch nur begrenzt auf die kommunikativen Grundannahmen und medialen Dispositive, die den Forschungsstilen zugrundeliegen. Daher liegt es nahe, hierin primär forschungspolitische In- und Exklusionsprogramme zu vermuten.

3.1.1.3 Forschungsberichte In Forschungsberichten geben Selbstbeschreibungen Auskunft über das geplante oder vollzogene methodische Vorgehen und den Ablauf der Un88 Vgl. Scheuch, Erwin Kurt, Entwicklungsrichtungen bei der Analyse sozialwissenschaftlicher Daten, in: König, René (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1, Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart: Enke 1973, S. 161-237, hier S. 195208. 89 Vermutlich müssen auch institutionelle Rahmenbedingungen und persönliche Motivationen mit einbezogen werden. Die Scheidung der qualitativen von den quantitativen Sozialforschern schafft auch den Bedarf entsprechende institutionelle Repräsentationen zu schaffen, d.h. es entsteht ein erhöhter Bedarf an Lehrstühlen und Mitarbeiterstellen. 90 Siehe dazu die Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 192

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tersuchung. Relativ häufig ist zu beobachten, dass Angaben über den Forschungsverlauf vollständig fehlen. Sind sie vorhanden, finden sich in ihnen meist Angaben zur Zahl der untersuchten Fälle/Einheiten (n=x) unter Berücksichtigung der Frage, ob die Untersuchung den Status der Repräsentativität für sich beanspruchen darf oder auch nicht. Dennoch lassen sich aus den Selbstbeschreibungen Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Forscher und ihr Verhältnis zu Komplexität ziehen. Dies lässt sich an Beispielen verdeutlichen. Beispiel 1: »In Bezug auf die weitere Entwicklung ist die Frage entscheidend, ob sich bei der Bevölkerung ein Bedarf für die mobile Nutzung von Fernsehinhalten entwickelt und in welchen Nutzungskontexten eine solche Nutzung interessant sein könnte. Für die Anbieter mobiler Fernsehinhalte ist zudem die Frage wichtig, welche Inhalte und Sendungsformen (Machart, Längen) für die mobile Nutzung in Frage kommen. Diesen Fragen ist eine Untersuchung der ARD/ZDF-Medienkommission, die im November 2006 durchgeführt wurde, nachgegangen. Die repräsentative Studie wurde als Nachbefragung wiederbefragungsbereiter Personen aus der ARD/ZDFOffline/Online-Studie 2006 realisiert. Die Erhebung wurde in Form telefonischer computergestützter Interviews (CATI) vom Institut ENIGMA GfK Medien- und Marketingforschung durchgeführt. Insgesamt wurden bundesweit 1001 Personen ab 14 Jahre befragt. Um Repräsentativität herzustellen, wurde die Stichprobe nach Alter, Geschlecht, Bildung und Bundesland nach Vorgaben der Media-Analyse 2006 gewichtet.« aus: ARD/ZDF-Projektgruppe Mobiles Fernsehen, Mobiles Fernsehen. Interessen, potenzielle Nutzungskontexte und Einstellungen der Bevölkerung, in: Media Perspektiven, 1/2007, S. 11-19, hier S. 11.

Dieses Beispiel zeigt eine gängige Darstellung des Vorgehens bei einer quantitativen Befragungsstudie im Sinne des Messparadigmas. Die knappe Ausführung verrät nichts über die Entwicklung der Fragen und ihre Operationalisierung, d.h. die Entwicklung des Fragebogens sowie evtl. durchgeführte Pretests. Dafür erfährt der Leser, dass die Datenerhebung von einer dritten Partei durchgeführt wurde und dabei das CATIVerfahren angewendet wurde, das dafür sorgt, dass die erhobenen Daten unmittelbar nach der Erhebung in elektronischer Form vorliegen.91 Wer die Daten allerdings ausgewertet hat, geht aus der Darstellung nicht her91 Dies ist auch ein Hinweis für die kurze Zeitspanne zwischen Datenerhebung (November 2006) und Publikation (Januar 2007). 193

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vor. Insgesamt erhält man den Eindruck einer formal einwandfrei durchgeführten repräsentativen Studie, bei der keinerlei Probleme aufgetreten sind. Dass es sich um einen Forschungsprozess gehandelt hat, wird nicht erwähnt, das Forschungsprojekt erscheint vielmehr als linearer Ablauf festgelegter Schritte, bei dem die Festlegung der Schritte als bekannt vorausgesetzt wird. In der Tat machen die Autoren, die »Arbeitsgruppe«, keine Angaben über die Datenerhebung. Das Vorfeld der Datenerhebung wird ausgeblendet. Mit der Verwendung des CATI-Verfahrens wird gleichzeitig festgelegt, welche Medien in diesem Forschungssetting als zulässig anerkannt werden. Das eigentliche Medium des Erkenntnisgewinns ist das Messinstrument Fragebogen (der dem Beitrag nicht hinzugefügt wurde und somit dem Leser unbekannt bleibt). Die Befragten dienen dabei als Informationsmedien (und nicht als Kommunikatoren), die über sich selbst Auskunft geben. Als Vernetzungsmedium fungiert das Telefon, das als monomedialer Kanal einige unerwünschte Effekte von vornherein ausschließt. Das Verständnis von Informationsverarbeitung kommt hier nur an zwei Punkten zum Vorschein. Einmal ist die Beantwortung von Fragen einseitige Informationsverarbeitung seitens der Befragten. Zum anderen erfolgt die Auswertung der Daten als rein maschinelle Informationsverarbeitung. Ob die Konstruktion des Fragebogens und die Interpretation der Ergebnisse womöglich Prozesse kooperativer Informationsverarbeitung innerhalb der Forschergruppe sein könnten, muss Spekulation bleiben. Indem die »Arbeitsgruppe« und ihre Struktur nicht näher beschrieben werden, tritt sie in der Selbstbeschreibung als solitäres Erkenntnissubjekt auf. Beispiel 2: »Methodisches Vorgehen Dieser Untersuchung liegt ein Vorgehen nach der Grounded Theory Methodologie zu Grunde (STRAUSS & CORBIN 1996; BREUER 1996). Mein Datenmaterial besteht vor allem aus narrativ ausgerichteten Interviews, die ich mit sechs sich um ihre Eltern kümmernden Kindern geführt habe.1) Zudem habe ich während des gesamten Forschungsprozesses in einem Forschungstagebuch thematisch-persönliche Anregungen, Ideen, Gedankensplitter und Reflektionen festgehalten, die in unterschiedlichen Kontexten angestoßen wurden, beispielsweise durch Gespräche jenseits der eigentlichen Forschungsinterviews, das Ansehen von Filmen und Dokumentationen, das Lesen von Romanen, Gedichten und Zeitungsartikeln. [6] Bei meinen Interviewpartnerinnen und -partnern handelt es sich um vier Töchter und zwei Söhne, die mir alle durch Bekannte und Familienmitglieder vermittelt wurden. Bezüglich der Fallauswahl bin ich also aus 194

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Gründen der Zugänglichkeit (vgl. MERKENS 2003) und des pragmatischen Kontextes meiner Arbeit nicht im Sinne des Theoretical Samplings (STRAUSS & CORBIN 1996) vorgegangen. Einige meiner Interviewpartnerinnen und -partner kannte ich schon vor unserem Interviewtermin, über die »Kümmergeschichte« wusste ich in der Regel kaum etwas. Notwendiges Kriterium für die Auswahl war, dass es sich um Töchter bzw. Söhne handelte, die sich um mindestens ein Elternteil entweder zum Zeitpunkt des Interviews oder zuvor (zum Beispiel bis zum Tod der Mutter) kümmerten. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner wurde in der Regel nicht durch bestimmte thematisch-inhaltliche Festlegungen und Einschränkungen getroffen. So ergaben sich die Besonderheiten der einzelnen Fälle, der einzelnen »Kümmerkonstellationen« und »Kümmergeschichten«, eher im Nachhinein durch kontrastive Vergleiche. Allerdings habe ich, nachdem ich bereits Gespräche mit vier Töchtern geführt hatte, explizit nach Söhnen für die weiteren Interviews gesucht. Die befragten Töchter und Söhne sind zwischen Mitte 50 und Mitte 60 Jahre alt, alle haben Geschwister, und in allen Gesprächen stand das Kümmern um die Mutter im Vordergrund. Der Vater war in allen Fällen vor der Mutter verstorben. Heterogener sind das konkrete »Kümmerarrangement«, Gesundheitscharakteristika der Mütter und die zeitliche Perspektive, aus der die Töchter und Söhne auf ihr Kümmern um die alten Eltern blicken. Unter Abschnitt 3 finden sich kurze Einzelbeschreibungen der Interviewpartnerinnen und -partner, die über die hier skizzierten Charakteristika hinaus einen konkreteren Eindruck des Samples geben sollen. [7] Alle Interviews wurden auf Tonband-Kassette aufgenommen und vollständig transkribiert. Die Transkripte habe ich offen, axial und selektiv kodiert (STRAUSS & CORBIN 1996), teilweise auch mit Unterstützung eines Diplomanden- und Doktorandenkolloquiums. Das in den Abschnitten 4 und 5 vorgestellte Modell – die Kernkategorie der »Neupositionierung« sowie die verschiedenen Subkategorien – beruht auf der Auswertung der Interviewtranskripte. Ein Auswertungsprozess im Sinne der Grounded Theory ist geprägt durch ein Hin- und Herwechseln zwischen Phänomen- bzw. konkreter Datenebene und Konstrukt- bzw. Modellebene, zwischen induktiven und deduktiven Denk-Versuchen, zwischen offenen, axialen und selektiven Kodierungen. Eine vollständige, textliche, nachvollziehbare Abbildung der Modellentstehung in ihrer Chronologie scheint mir weder möglich noch notwendig. Um dennoch eine Güteprüfung und bewertung, was Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Gegenstands-/Datenangemessenheit angeht zu ermöglichen, werde ich das entwickelte Modell auf zwei Arten vorstellen: Zunächst skizziere ich es auf einer von den Interviewdaten und -indikatoren abstrahierten Konzeptebene. Danach beschreibe ich beispielhaft zwei konkrete Fallgeschichten – die meiner Interviewpartnerinnen Frau Silberling und Frau Roth – aus »Sicht« des Modells, das heißt mit Hilfe des kategorialen Vokabulars. [8]«

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1) Nachdem ich kurz mein Forschungsanliegen und den Charakter des Gesprächs vorgestellt hatte, formulierte ich eine Erzählaufforderung wie: »Erzählen Sie doch mal, wie das bei Ihnen war, als Ihre Eltern älter wurden.« Als Anregung für eventuelle Nachfragen und Themen, die ich für relevant und unter Umständen besprechenswert hielt, nahm ich zudem einen Leitfaden mit in die Interviews, den ich von Interview zu Interview entsprechend meiner sich wandelnden Präkonzepte veränderte und anpasste. Die Gespräche dauerten alle etwa anderthalb Stunden. aus: Dieris, Barbara, »Och Mutter, was ist aus dir geworden?!« Eine Grounded-Theory-Studie über die Neupositionierung in der Beziehung zwischen alternden Eltern und ihren erwachsenen, sich kümmernden Kindern [52 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 7, Nr. 3, Art. 25 (2006), Absätze 6-8, verfügbar unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0603253.

Auch diese ausführliche Darstellung des Vorgehens erweckt den Eindruck eines linearen Verlaufs des Forschungsprozesses. Die Autorin verweist auf Verfahren (Studie gemäß des Ansatzes der Grounded Theory), die nicht weiter erläutert werden müssen, da sie als bekannt vorausgesetzt werden. Sie widmet sich jedoch eingehender der Frage, was sie überhaupt als Datenmaterial zugelassen hat. Zum einen stützt sie sich auf »vollständig transkribierte« Interviews, wobei offen bleibt, worin diese Vollständigkeit besteht und nach welcher Methode sie transkribiert wurden. Zum anderen gibt sie an, ein von ihr geführtes Forschungstagebuch als Datenmaterial zugelassen zu haben. Damit verweist sie zumindest prinzipiell auf den prozesshaften Charakter ihrer Studie, in deren Verlauf sie selbst als Forscherin auch anderen Eindrücken ausgesetzt war, die ihren Zugang zum Thema beeinflusst haben. Damit einher geht auch eine Offenheit gegenüber der Frage nach der Zulässigkeit von Medien. Auch wenn die in das Forschungstagebuch eingegangenen Erfahrungen mit weiteren Gesprächen jenseits der Interviews, Romanen, Gedichten und Filmen diese Medien nicht als direkt auszuwertendes Datenmaterial zugelassen werden, werden sie jedoch nicht ausgeschlossen. Vielmehr tritt hier die Forscherpersönlichkeit selbst als Medium auf, indem sie als Sensor, Prozessor und Effektor dieser anderen Medien beschrieben wird. Des Weiteren beschreibt sie die Auswertungsphase dezidiert als Prozess, der gerade nicht linear gedacht wird, sondern als Oszillieren zwischen verschiedenen Ebenen und Prozessen der Informationsverarbeitung. Dieses Oszillieren erscheint der Autorin selbst als derart komplex, dass sie eine chronologische Darstellung nicht für möglich (und geboten) hält.

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Vergleicht man die beiden willkürlich gewählten Beispiele, so fällt im Umgang mit der Komplexität der Sozialforschung auf, dass sie im ersten Beispiel nicht existiert und im zweiten Beispiel überhaupt erst zum Erkenntnisgewinn führt. Während im ersten Beispiel Komplexität durch die Anwendung eines extrem standardisierten Verfahrens von vornherein auszuschließen gesucht wird, erfolgt deren Reduktion im zweiten Beispiel erst im Nachhinein. Die Autorin stellt die Komplexität des Prozesses und ihre eigene Verwobenheit darin als nicht darstellbare black box dar. Über den tatsächlichen Prozess der Forschung erhält man in beiden Studien keine weiteren Informationen. Auf die Darstellungen der Forschungsabläufe folgen in beiden Fällen Ergebnispräsentationen. Der Unterschied in der Ausblendung des Prozesscharakters der Forschung, d.h. seiner Linearisierung, besteht nun darin, dass im ersten Beispiel die Linearisierung bereits im Vorfeld vorgenommen wird, im zweiten Beispiel dagegen erst am Ende des Forschungsprojektes, nämlich im Forschungsbericht selbst. Erst jetzt wird dem Prozess und der Komplexität der Forschung ein bestimmter Ort zugewiesen, nämlich die Selbstbeschreibung in Form der Angaben zum methodischen Vorgehen. So gesehen erfüllt die Selbstbeschreibung im letzteren Fall tatsächlich die Funktion der Reduktion der Komplexität. Allerdings wird dem Leser nicht die Möglichkeit eröffnet, diese Komplexität bei Bedarf wiederherzustellen, indem die Dokumentation des Forschungsprozesses, etwa in Form des erwähnten Forschungstagebuches, zur Verfügung gestellt wird. Im ersten Beispiel ist fraglich, ob mit dieser Form der Selbstdarstellung überhaupt Komplexität reduziert wird. Vielmehr wird hier implizit die Behauptung aufgestellt, dass gar keine Komplexität vorhanden ist. Anhand dieser Beispiele wird auch deutlich, dass die Differenz zwischen Zählen und Erzählen in ihrer behaupteten Strenge nicht aufrecht zu erhalten ist. Die Kodierung qualitativer Daten überführt diese auch immer in eine zählbare Form, auf deren Grundlage dann Gewichtungen vorgenommen werden. Andererseits werden auf der Grundlage des strengen Zählens statistischer Erhebungen wiederum narrative Strukturen erzeugt. 92

3.1.2 Standardisierung Die Standardisierung von Verfahren der empirischen Sozialforschung dient der Reduktion von Komplexität in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Linearisierung von Forschungsprozessen dient der Reduktion der Komplexität in ihrer dynamischen Dimension. Standardisierungs92 Siehe dazu auch die Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 197

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strategien, die auf die Kontrolle der erzielten Daten abzielen, beziehen sich auf die ontologische Dimension, indem sie bestimmte Emergenzniveaus von Daten prämieren. Tendenziell Monomedialität anstrebende Verfahren reduzieren die Komplexität der strukturellen Dimension von Sozialforschung, indem sie bestimmte Wahrnehmungsweisen prämieren und zu isolieren versuchen. Ebenfalls in der strukturellen Dimension werden Verfahren der Hierarchisierung von Forschungssystemen wirksam, indem sie klare Kontrollverhältnisse etablieren sollen.

3.1.2.1 Dynamisch: Linearisierung Die Linearisierung in und von Forschungsprozessen ist eine notwendige Maßnahme und in der Tat unvermeidlich, schon allein, um Forschungsprojekte abschließen zu können. Die Frage lautet jedoch, ob aus dieser Tatsache ein allgemeingültiges Primat der Linearisierung abgeleitet werden kann und soll. In der Tat existieren Verfahren, die einem solchen imaginären Primat folgen. Zunächst einmal werden Forschungsprozesse von vornherein als lineare Prozesse modelliert (vgl. Abb. 2). Auswahl des Forschungsproblems Theoriebildung Kontexspezifikation Operationalisierung

Bestimmung der Untersuchungsformen Auswahl der Untersuchungseinheiten Datenerhebung

Datenerfassung

Datenanalyse

Publikation

Abbildung 2: Idealtypischer Forschungsprozess als lineare Abfolge festgelegter Phasen. Quelle: Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke, Methoden der empirischen Sozialforschung, München/Wien: R. Oldenbourg 2005, S. 8.

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Rekursive Schleifen finden sich hier – wenn überhaupt – im Vorfeld der Datenerhebung sowie bei der Rückbindung der Ergebnisse an die Forschungsfrage. Die Datenerhebung selbst wird in hoch standardisierten Forschungsdesigns ausnahmslos als linearisierter Prozess gedacht und gestaltet. Als Orientierung dient ein einfaches Input-Output-Modell. Wesentliches Instrument der Linearisierung ist die im Vorfeld stattfindende Hypothesenbildung und deren anschließende Operationalisierung. Über die medientheoretische Bedeutung dieses Vorgangs sind sich Befürworter wie Kritiker einig: Operationalisierung meint die Verankerung von Variablen im Empirischen bzw. Beobachtbaren. 93 Operationalisierung meint hier also die Herstellung einer einseitigen Beobachterrelation, die implizit auf manifeste Inhalte abzielt. Die Kritik der qualitativen Sozialforschung setzt genau da an und wirft dieser Vorgehensweise vor, Erfahrung durch einen solchen »Wahrnehmungstrichter« 94 zu restringieren. Dieser Trichter ist aber nicht nur eine Verengung, die verschiedene Wahrnehmungsweisen insgesamt zu kanalisieren versucht, sondern idealerweise die Reduktion auf wenige oder gar eine einzelne, d.h. auf ein einziges Medium. »Die Auskünfte der Befragten sollen eben nur die letzte Frage beantworten und nicht – wie im Gespräch sonst üblich – in einen sinnvollen Gesamtkontext gestellt werden.«95 Die Befragung ist kein Gespräch, kein komplexes, nichtlineares Kommunikationssystem, sondern wird auf ein hierarchisch strukturiertes Schema von actio und reactio reduziert. Das Kommunikationsmodell, auf dem eine solche ideale Sichtweise aufbauen kann, ist kein informationstheoretisches, sondern ein mechanisches. Um den letzten Zweifel, ob es sich nicht doch um eine Kommunikationssituation handelt, auszuräumen, muss nach dem Befragten nur noch der Interviewer aus dem Modell entfernt werden: »Die Situation ist künstlich hergestellt und dient allein dem Zweck der Datenerhebung. Der Befragte ist sich dabei keineswegs darüber im klaren, dass nicht er als Person, sondern nur als Merkmalsträger interessant ist, und auch der Interviewer fungiert im Prinzip als verlängerter Arm des Messinstruments, des Fragebogens.« 96

93 Laucken, Uwe/Schick, August, Einführung in das Studium der Psychologie. Eine Orientierungshilfe für Schüler und Studenten, Stuttgart: KlettCotta 1985, S. 53. 94 Lamnek, Siegfried, Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch, Weinheim/ Basel: Beltz/Psychologie Verlags Union 2005, S. 21. 95 Brosius/Koschel, Methoden der empirischen Kommunikationsforschung, S. 98. 96 Ebd., S. 126. 199

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3.1.2.2 Strukturell: Hierarchisierung und Homogenisierung In der strukturellen Dimension bedeutet die Reduktion von Komplexität Reduzierung der beteiligten Kommunikatoren und Medien. Das letzte Zitat deutet bereits auf eine gängige Hierarchisierung in der Sozialforschung hin. Die Reduktion von Beforschten auf ihre Eigenschaft als Merkmalsträger ist Voraussetzung für die Durchführung von groß angelegten Reihenuntersuchungen. Diese Betrachtungsweise hat zunächst die Homogenisierung der Beforschten zur Folge. Sie fungieren nicht als individuelle, sondern als austauschbare Informationsmedien. Ihre Auswahl richtet sich nach den Anforderungen des Forschungsprojektes, in denen relevante Merkmale definiert werden. Als Kommunikatoren erfüllen sie lediglich die Funktion des Senders, der Forscher bzw. Interviewer die Funktion des Empfängers. Damit handelt es sich um ein binär schematisierendes Kommunikationsmodell, auf das der Prozess der Sozialforschung reduziert wird. Gleichzeitig impliziert diese Perspektive eine strikte Hierarchisierung innerhalb von Forschungssystemen. Sie sind zentral organisiert. Trotz der Größe dieser Systeme (mit Hunderten oder Tausenden Beforschten) lässt sich ihr Aufbau auf einfache dyadische Beziehungen zwischen Forschern und Beforschten reduzieren. Diese Beziehungen, deren prototypische Kommunikationssituation die Einzelbefragung ist, sind in sich wiederum hierarchisch organisiert. Indem Befragte als Merkmalsträger betrachtet werden, sind diese Merkmale im weitesten Sinne als Beobachtungsdaten zu gewinnen. Das Kommunikationsideal, das diesem Verständnis von Sozialforschung zugrunde liegt, ist das der interaktionsfreien Massenkommunikation. Dieses Ideal kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Forscher selbst nicht mit den Beforschten in Kontakt treten müssen – und angesichts der oftmals großen Anzahl von Beforschten auch gar nicht können –, sondern diese Aufgabe delegieren können. 3.1.2.3 Ontologisch: Datenkontrolle Mit der Entscheidung, welche Medien bei der Datenerhebung zulässig sind, ist auch die Entscheidung über die zulässigen Datentypen verbunden. Wie Uwe Flick festhält, zielen Kontrolle, Minimierung oder gar der Ausschluss von Störungen nicht nur auf den Forschungsprozess ab, sondern in erster Linie auf die dort produzierten Daten. 97 Der Grad der notwendigen Kontrolle über die Daten ist abhängig von den Programmen, nach denen sie ausgewertet werden. Handelt es sich um Daten aus verschiedenen Quellen, die in unterschiedlichen Medien gespeichert sind, 97 Flick, Design und Prozess qualitativer Forschung, S. 252. 200

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bedarf es flexibler Programme und Prozessoren, die mit diesen Daten arbeiten können. Sind dagegen die Programme von vornherein festgelegt wie im Fall der Statistik, können nur solche Daten zugelassen werden, die statistisch ausgewertet werden können. Standardisierung bedeutet aus dieser Perspektive Prämierung bzw. sogar die ausschließliche Zulässigkeit eines bestimmten Typs von Daten, die auf einem spezifischen Niveau emergieren müssen. Ein Oszillieren zwischen verschiedenen Emergenzniveaus ist nicht erwünscht und nicht möglich. Bei den komplexeren Methoden der Datenerhebung in der qualitativen Sozialforschung erfolgt eine Bändigung des Datenmaterials in der Regel im Zuge seiner Dokumentation. Die Transkription von Interviews bedeutet immer die Transformation eines Mediums in ein anderes. Dabei erfolgt je nach angewendeter Notation eine Glättung, die in unterschiedlichem Maße die Übernahme von Konventionen der Schriftsprache bedeutet. Am deutlichsten fällt dies bei der standardschriftsprachlichen Transkription aus. Diese Transformationen bedeuten jedoch nicht nur die Übertragung des ursprünglichen Datenmaterials auf ein anderes Niveau, sondern gleichzeitig ihre Prozessierung durch den Forscher bzw. Transkribenden auf Grundlage seiner spezifischen Programme. Die Auswertung dieser transformierten Daten ist folglich immer eine Auswertung der eigenen Produkte. Jeder Sozialforscher muss eine Entscheidung darüber treffen, was er als Datenmaterial anerkennt. Er entscheidet damit jedoch immer auch darüber, wo er die Differenz zwischen Forschungssystem und Umwelt ansetzt und wird deshalb unterschiedliche Ergebnisse produzieren. Eine verbreitete Verengung der Sozialwissenschaften ist die auf eine reine Textwissenschaft. »Ausgehend von der Zeichenhaftigkeit menschlicher Produkte und des natürlichen Umfeldes der diese Symbole deutenden Akteure, wird dem Text als Dokumentation dieses Symbolgehalts der sozialen Realität eine herausgehobene Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Analyse und Theoriebildung zugewiesen. [...] Sozialwissenschaft besteht in der Produktion von Texten über Texte [...].« 98

Diese in der Tradition des linguistic turns stehende Sichtweise bedeutet wie im Fall der Statistik die Prämierung eines spezifischen Emergenzni98 Lamnek, Qualitative Sozialforschung, S. 79f. Die verbreitete Fixierung auf Texte als primären Gegenstand der Sozialwissenschaften findet sich u.a. auch bei Bohnsack, Ralf, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung, Opladen: Leske + Budrich 1999 oder Kleining, Gerhard, Umriss zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 34, Heft 2 (1982), S. 224-253. 201

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veaus und damit den Verlust bzw. die Reduktion von Komplexität. Die jeweiligen Prämierungen der spezifischen Emergenzniveaus verkörpern nicht nur bestimmte Sichtweisen der Welt, sondern bringen sie umgekehrt auch erst hervor, sind also konstitutiv für ihre Gegenstände. Wird die Welt als Text in Texten, etwa in standardschriftsprachlichen Transkriptionen, konstituiert, so fällt der hermeneutischen Sozialwissenschaft die Aufgabe zu, auch die Regeln, die zur Konstitution ihrer Texte geführt haben, zu kennen und deutlich zu machen. Dies würde jedoch den Gewinn der Reduktion von Welt auf Text deutlich schmälern. Die Beispiele der Reduktion von Komplexität in ihren verschiedenen Dimensionen zeigen, dass Komplexität durch ihre Reduktion erst produziert wird. Störungen treten dann als Störungen auf, wenn vereinfachte Modelle des Systems und seiner Prozesse zugrunde gelegt werden. Standardisierungen, die dem entgegen wirken sollen, müssen die so produzierte Komplexität mitkalkulieren. Erst mit der Standardisierung werden zahlreiche Variablen überhaupt relevant. Dieser auf den ersten Blick paradoxe Befund geht aber einher mit der entsprechenden Beobachtung der Systemtheorie: »Die Komplexität der Welt, ihrer Arten und Gattungen, ihrer Systembildungen entsteht also erst durch Reduktion von Komplexität und durch selektive Konditionierung dieser Reduktion.«99 Verdeutlicht werden kann dies wiederum am Konzept des Messens. Messen bedeutet wie in den Naturwissenschaften die systematische Reduktion von Komplexität. In der dynamischen Dimension heißt Messen die Reduktion der Forschung auf unidirektionale, lineare Prozesse. Die Messung ist insofern unidirektional, als dass das Messinstrument ohne Einwirkung auf die Probe eine seiner Eigenschaften bestimmt. Linear ist sie, da intervenierende Faktoren möglichst ausgeschlossen werden. Die strukturelle Komplexität wird im Idealfall auf zwei Elemente reduziert. Zum einen das Messinstrument, das soweit abstrahiert wird, dass es nur noch als Sensor für eine Eigenschaft erscheint, und zum anderen der Gegenstand, der soweit abstrahiert wird, dass er nur noch als Träger eines Merkmals erscheint. In der ontologischen Dimension wird die Komplexität schließlich soweit reduziert, dass die durch Messungen produzierten Daten nur noch auf einem einzigen Niveau emergieren. 100 Prinzipiell gilt dies auch für die textzentrierte Sozialwissenschaft. Einerseits verfolgt sie auch kodierende Strategien, die die Daten auf ein bestimmtes Emergenzniveau herunterbrechen. Andererseits produziert sie in ihren Texten und Transkriptionen Daten, in denen sich die kom-

99 Luhmann, Soziale Systeme, S. 47. 100 Siehe dazu auch den Abschnitt Messen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 202

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plexen Prozesse der Datenerhebung und der Datendokumentation ineinander und nicht rekonstruierbar verschränken.

3.2 Erhalt von Komplexität Der Erhalt von Komplexität kann nur eine Strategie der Annäherung sein und sich auf einzelne Dimensionen erstrecken. In diese Richtung zielt auch das Gebot der Offenheit. Dieses Gebot kann als negative Stellungnahme zu komplexitätsreduzierenden Maßnahmen gelesen werden, nicht jedoch als Forderung nach Komplexitätsinduktion. Allerdings bleibt die Forderung sehr vage und entspricht daher eher einer forschungsethischen Norm als einem konkreten methodologischen Prinzip. Mit Offenheit wird grundlegend die »Offenheit des Forschers gegenüber den Untersuchungspersonen, den Untersuchungssituationen und den Untersuchungsmethoden« 101 gemeint. Konkret bedeutet dies, dass auf eine Hypothesenbildung ex ante verzichtet wird. 102 Diese Art der Sozialforschung versteht sich als explorativ, d.h. Hypothesen generierend, und nicht als Hypothesen prüfend. Ungeachtet der damit verbundenen Probleme 103 kann man feststellen, dass die Prämierung des Prinzips der Offenheit die Anerkennung der nichtlinearen Dynamik von Sozialforschungsprozessen bedeutet. In linear gedachten Prozessen würde Offenheit gar keinen Sinn machen, da keine unerwarteten Phänomene auftreten könnten. Auf der Grundlage dieser Prämissen, erscheint der kommunikative Grundcharakter von Sozialforschung nicht mehr als Problem, sondern kann im Gegenteil zu einem grundlegenden Prinzip erklärt werden. Abseits dieser abstrakten Grundannahmen existieren konkrete Verfahren, die die Erhaltung von Komplexität zum Ziel haben. In der strukturellen Dimension betrifft dies die teilnehmende Beobachtung, in der 101 Lamnek, Siegfried, Qualitative Sozialforschung, S. 26. 102 Hoffmann-Riem, Christa, Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie – Der Datengewinn, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 32, Heft 2 (1980), S. 339-372, hier S. 345. 103 Diskutiert wird bspw. die Frage, wie weit die Unvoreingenommenheit des Forschers gehen kann. Glaser/Strauss etwa schlagen den Verzicht auf jegliches Literaturstudium vor der Datenerhebung vor, während Kelle/Kluge vages Vorwissen als Grundvoraussetzung von Sozialforschung betrachten. Vgl. Glaser/Strauss, The Discovery of Grounded Theory, S. 37 und Kelle, Udo/Kluge, Susanne, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 26. Diese Problematik betrifft auch alle anderen Phasen von Forschungsprozessen, besonders deutlich etwa während der Auswertung mit den Verfahren der von Ulrich Oevermann begründeten »objektiven Hermeneutik«. 203

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dynamischen Dimension bestimmte Verfahren der Datendokumentation und in der ontologischen Dimension die Organisation von Daten.

3.2.1 Strukturell: Teilnehmende Beobachtung Die teilnehmende Beobachtung stellt für sich genommen schon eine Kombination verschiedener Verfahren dar: »Participant observation will be defined as a field strategy that simultaneously combines document analysis, interviewing of respondents and informants, direct participation and observation, and introspection.« 104 Auf der Grundlage dieser Definition ist eine klare Einordnung der teilnehmenden Beobachtung in die Kategorie komplexitätserhaltender Verfahren nicht ohne weiteres möglich. Die Betonung von ›Beobachtung‹ impliziert von vornherein eine Reduktion von Komplexität, da sie qua definitionem tendenziell die Beschränkung auf einen Sinn anstrebt. Im Gegensatz zu allen Interviewund Befragungsverfahren, in deren Zentrum die Selbstbeobachtung der Beforschten steht, sollen hier die zu untersuchenden Prozesse in ihrer natürlichen Umgebung beobachtet werden. Beobachtungsgegenstände sind hier Einzelereignisse und Ereignisketten.105 Darüber hinaus ist der Forscher selbst Gegenstand seiner Selbstbeobachtung. Klassisches Medium dieser Selbstbeobachtungen ist das Forschungstagebuch. Im Gegensatz zur nicht teilnehmenden, verdeckten Beobachtung, die aufgrund ihrer monomedialen Beschränkungen komplexitätsreduzierend wirkt, wird hier nicht unbedingt der Forschungsgegenstand in seiner Komplexität erhalten, sondern das Forschungssystem und der Forschungsprozess. Die teilnehmende Beobachtung folgt dabei keiner unilinearen Beobachtungslogik. Die Partizipation des Forschers im Feld macht ihn selbst zum Beobachtungsobjekt, das aufgrund seiner Interaktion mit dem Feld den Forschungsgegenstand mitgestaltet. In dieser Hinsicht beinhaltet teilnehmende Beobachtung immer auch Induktion von Komplexität. Die Kombination verschiedener Perspektiven, die Nutzung unterschiedlicher Daten und Verfahren ihrer Gewinnung sowie die aktive Gestaltung des Forschungssystems führen dazu, dass die teilnehmende Beobachtung in sich schon eines der komplexesten Verfahren der Sozialforschung darstellt. Indem sie die komplexitätstheoretisch möglichen Stra104 Denzin, Norman Kent, The Research Act. A Theoretical Introduction to Sociological Methods, Englewood Cliffs: Prentice Hall 1989, S. 157f., zitiert nach Flick, Uwe, Triangulation. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 51. 105 Vgl. Zelditch, Jr., Morris, Methodologische Probleme in der Feldforschung, in: Hopf, Christel/Weingarten, Elmar (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 119-137, hier S. 121. 204

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tegien im Umgang mit Komplexität (Reduktion, Erhaltung, Induktion) vereint, kann sie als ein zentrales Verfahren der Sozialforschung beschrieben werden. Angesichts der zeitgenössischen Atomisierung sozialwissenschaftlicher Methoden verwundert es nicht, dass es sich bei der teilnehmenden Beobachtung um eines der ältesten Verfahren der modernen Sozialforschung handelt, das bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt und eingesetzt wurde, etwa bei den »Arbeitslosen von Marienthal« oder in den klassischen Studien von Malinowski, der bereits Teilnahme und Interviews miteinander kombinierte. Die Einordnung als primär komplexitätserhaltendes Verfahren wird dadurch gerechtfertigt, dass Forschungssystem und -prozess in ihrer Komplexität nicht problematisiert werden, sondern als konstitutive Bestandteile gelingender Sozialforschung betrachtet werden. Die strukturelle Komplexität wird vor allem dadurch erhalten, dass die Kommunikatoren nicht auf bestimmte Eigenschaften reduziert werden, sondern in ihrem Kontext agieren. Die Beforschten dienen ebenso wenig nur als Sender wie die Forscher nur als Empfänger. Sie übernehmen verschiedene kommunikative Funktionen. Dies ist nur möglich, indem keine Medien, die das zu untersuchende Kommunikationssystem gewöhnlich nutzt, ausgeschlossen werden. Damit vereint die teilnehmende Beobachtung nicht nur die verschiedenen Strategien im Umgang mit Komplexität, sondern bezieht sich auch auf alle hier behandelten Dimensionen von Komplexität. Erhalt und Gestaltung des Prozesses verweisen auf die dynamische Dimension, Erhalt und Gestaltung des zu untersuchenden Systems sowie die Nutzung unterschiedlicher Daten verweist auf die strukturelle Dimension, und die Rolle des Forschers als Beobachter, Partizipant und Selbstbeobachter heben die Bedeutung des Aspekts der Selbstähnlichkeit für die Sozialforschung hervor.

3.2.2 Dynamisch: Gruppenverfahren und dynamische Speicher 3.2.2.1 Gruppendiskussion Bei der Gruppendiskussion handelt es sich um ein Verfahren, das – seine Vorläufer in den 1930er Jahren eingerechnet – auf eine verhältnismäßig lange Tradition zurückblicken kann.106 Die dem Verfahren zugeschrie106 Dieser Abschnitt bezieht sich explizit nicht auf Gruppeninterviews oder -befragungen. Dabei handelt es sich lediglich um zeitökonomische Varianten der Einzelbefragung, nicht jedoch um qualitativ erweiterte oder in unserem Sinne komplexitätserweiternde Formen der Interaktion zwischen Forschern und Beforschten. Auch die oftmals als Gruppendiskus205

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

bene Funktion hat sich dabei im Lauf der Jahrzehnte mehrfach gewandelt. Bei Lewin und in der Aktionsforschung, in der Gruppen als »dynamische[s] Ganze[s]« 107 verstanden werden, konzentriert sich das Interesse auf die Dynamik kollektiver Prozesse. 108 Später verlagert sich im Umfeld der Frankfurter Schule der Fokus des Verfahrens auf die Meinungsforschung – als Gegenentwurf zur etablierten Meinungsforschung. Zunächst geht es um die Erforschung individueller Meinungen, die, so die Grundannahme, nicht isoliert existieren, sondern in sozialen Kontexten situiert sind, innerhalb derer sie ausgebildet und artikuliert werden. Latent vorhandene Einstellungen würden »häufig erst während der Auseinandersetzung mit anderen Menschen deutlich. Sie mögen zwar latent vorhanden sein, gewinnen aber erst Konturen, wenn das Individuum – etwa in einem Gespräch – sich gezwungen fühlt, seinen Standpunkt zu bezeichnen und zu behaupten.« 109 Das Verfahren wird dann auf die Untersuchung von Gruppenmeinungen erweitert. 110 Heute ist die Gruppendiskussion ein bevorzugtes Verfahren innerhalb der Milieuforschung. Diskussionsgruppen werden hier als Ort betrachtet, an dem milieuspezi-

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sion bezeichneten Verfahren der Marktforschung fallen unter darunter. Vgl. Loos, Peter/Schäffer, Burkhard, Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 12. Einen kurzen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Gruppendiskussion ausgehend von Kurt Lewins psychologischen Kleingruppenexperimenten liefert Lamnek, Siegfried, Gruppendiskussion. Theorie und Praxis, Weinheim: Beltz 1998, S. 1721. Lewin formuliert seine Theorie explizit komplexitätstheoretisch und in Analogie zur Physik: »Im sozialen wie im physikalischen Feld sind die Struktureigenschaften eines dynamischen Ganzen von den Struktureigenschaften der Teilbereiche verschieden. Beide Eigenschaftsbereiche müssen untersucht werden. Wann das eine und wann das andere wichtig ist, hängt von der zu beantwortenden Frage ab. Aber einen Wirklichkeitsunterschied gibt es zwischen ihnen nicht. [...] Struktureigenschaften sind durch Beziehungen zwischen den Teilen und nicht durch die Teile oder die Elemente selbst charakterisiert.« Lewin, Kurt, Forschungsprobleme der Sozialpsychologie II: Soziales Gleichgewicht und sozialer Wandel im Gruppenleben, in: ders., Werkausgabe, Bd. 4, Feldtheorie, Bern: Huber 1982, S. 237-289, hier S. 241 (kursiv im Original). Vgl. Lewin, Kurt, Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim: Christian-Verlag 1953, insbesondere S. 112-151. Pollock, Friedrich, Gruppenexperiment. Ein Studienbericht (Frankfurter Beiträge zur Soziologie 2), Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 32. Mangold, Werner, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Aus der Arbeit des Instituts für Sozialforschung (Frankfurter Beiträge zur Soziologie 9), Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1960.

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fische Erfahrungen besonders artikuliert und exemplifiziert werden können. 111 Auffällig an diesem historischen Verlauf ist die Reduktion der Komplexität bzw. der Funktion der Untersuchung von Komplexität des Verfahrens. Während es zunächst bei Lewin das Ziel war, dynamische Prozesse durch dynamische Prozesse zu untersuchen, Gegenstand und Methode also zur Deckung kommen, reduziert sich am Vorabend des deutschen Positivismusstreits – schon in Abgrenzung und Konkurrenz zu eher quantitativ orientierten Verfahren – das Ziel auf die Untersuchung tendenziell statischer Einstellungen und Meinungen durch dynamische Prozesse. Das Verfahren der Gruppendiskussion impliziert also aus komplexitätstheoretischer Sicht verschiedene Strategien. Die strukturelle Erweiterung der Datenerhebung durch die erhöhte Anzahl der gleichzeitigen Teilnehmer bestimmt nicht nur die Rollen der Beteiligten neu, sondern erweitert auch die dynamische Komponente des Erhebungsprozesses. Strukturell bewirken solche Settings, dass die im Einzelinterview hervorgehobene Selbstbeobachtung und Selbstreflexion des Interviewpartners, d.h. die tendenziell individuelle Informationsverarbeitung, 112 abgelöst wird durch bewusst herbeigeführte soziale Selbstreflexion und Informationsverarbeitung. Dabei interessieren nicht nur die Ergebnisse des Aushandlungsprozesses und die unterschiedlichen Positionen, die sich darin herausbilden, sondern eben auch der Prozess selbst, der wiederum dem Forscher als Datum dienen kann. Ziel der Gruppendiskussion ist es, die Prozesshaftigkeit von Gegenstand und Forschung unter Beachtung des Prinzips der »Naturalistizität« in Einklang zu bringen.113 So gesehen handelt es sich genau genommen bei der Gruppendiskussion eigentlich um ein Verfahren, das die Komplexität sozialer Situationen durch die Annäherung an natürliche Gesprächssituationen erhalten soll. Indem das Verfahren gruppendynamische Prozesse nutzt, setzt es diese als emergente Produkte des Systems voraus. Ob es sich dabei um den Erhalt oder die Induktion von Komplexität handelt, ist lediglich eine Frage der Sichtweise.

3.2.2.2 Aufzeichnungsverfahren Der Erhalt von Komplexität in der dynamischen Dimension kann abseits der Datenerhebung auch auf der Ebene der technischen Aufzeichnungsverfahren erfolgen. Seit der Einführung audiovisueller Aufzeichnungs111 Vgl. Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, S. 123f. 112 Tendenziell deshalb, weil jede Form von Gespräch immer schon soziale Informationsverarbeitung ist, auch wenn das in standardisierten Befragungen wie gesehen zu minimieren gesucht wird. 113 Vgl. Loos/Schäffer, Das Gruppendiskussionsverfahren, S. 45f. und 49f. 207

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verfahren stehen der Sozialforschung dynamische Speicher zur Verfügung. Im geschichtlichen Rückblick sind dabei unterschiedliche Anwendungsweisen zu beobachten. Zunächst der experimentelle Einsatz in Psychologie und Psychotechnik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 114 und dann die Durchdringung der gesamten Sozialforschung mit diesen Aufzeichnungsverfahren im Zuge der niedrigeren Zugangsbarrieren seit den 1960er und 1970er Jahren. Video- und Tonaufzeichnungen stehen paradigmatisch für Speichertechnologien, die die Prozesse der Sozialforschung nachvollziehbar machen. Der Unterschied zu Gedächtnisprotokollen und linearisierten Gesprächsprotokollen besteht darin, dass sie gegebenenfalls Zugriff auf parallel ablaufende Prozesse ermöglichen. Transkriptionsverfahren wie die Partiturschreibweise, die diese Parallelität abzubilden versuchen, sind auf solche dynamischen Speicher angewiesen. Selbstverständlich bringen diese Aufzeichnungsmedien eine neue Perspektive ein, etwa durch ihre Positionierung im Raum. Dadurch induzieren sie Komplexität. Andererseits reduzieren sie auch Komplexität, indem sie nur bestimmte, in diesem Fall auditive oder visuelle Informationen registrieren können. Indem sie aber die Dynamik der Forschungssituation erhalten, haben sie Rückwirkungen auf die Sozialforschung selbst. Die Einführung neuer Medien in Forschungsprozesse bedeutet immer die Identifizierung neuer Forschungsobjekte sowie eine Veränderung des Verhältnisses der Sozialwissenschaften zu ihren Objekten im Sinne neuer epistemologischer Relationen zwischen Mensch und Medien. So ermöglichen erst die dynamischen Speicher die Durchführung von Mikroanalysen von sprachlichen Äußerungen und nonverbalem Verhalten. Auf der praktischen Seite steht den Möglichkeiten der Erhaltung von Komplexität durch dynamische Speicher immer die Frage gegenüber, wie mit diesen Daten, die auf einem neuen Niveau emergieren, umzugehen ist. Während dynamische Speicher die Komplexität des Datenerhebungsprozesses in seiner dynamischen Dimension erhalten, induzieren sie gleichzeitig Komplexität in die Datenauswertung. An dieser Stelle muss die grundsätzliche Entscheidung getroffen werden, was der Forscher als Daten bzw. als seine zu analysierende Umwelt betrachtet, hier etwa das Tondokument selbst oder seine Transkription. 115

114 Vgl. dazu Rieger, Stefan, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 115 Siehe dazu auch den Abschnitt Technische Konstituierung von Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 208

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3.2.3 Ontologisch: GABEK Das von Josef Zelger seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte System »Ganzheitliche Bewältigung von Komplexität«, kurz GABEK, stellt den Versuch dar, die Komplexität von untersuchten sozialen Systemen auf der Ebene der Daten, die mit konventionellen Methoden erhoben werden, zu erhalten. 116 Die Methode GABEK und die dazugehörende Software WinRelan (Windows Relation Analysis) bilden ein Verfahren zur Organisation und Darstellung von Wissen und Prozessen in komplexen Organisationen aus der Sicht der befragten Personen. Theoretischer Hintergrund der Methode ist die Gestaltpsychologie, deren Grundannahmen auf sprachliche Kontexte übertragen werden, um sogenannte sprachliche Gestalten bilden zu können. Das Material, das mit Hilfe von GABEK ausgewertet werden soll, sind in der Regel Transkriptionen von offen geführten Interviews. Im ersten Schritt erfolgt eine Kodierung, indem Schlüsselbegriffe von jeder Aussage markiert werden. Bis dahin ähnelt GABEK noch weitgehend den bekannten Verfahren der klassischen computerunterstützten qualitativen Datenanalyse. Diese Kodierung dient jedoch keiner weitgehenden Reduktion vom Komplexität, sondern der Erstellung eines ersten Indexierungssystems. Die Aussagen bzw. Sätze bleiben erhalten und können vernetzt werden, indem sie als Mengen von lexikalischen Ausdrücken behandelt und dargestellt werden (siehe Abb. 3). nicht teuer Dart Schach

gefällt Billard

Ic

Karten

spielen

sich treffen Ga

Musik Tischfußball

Leute nicht zu laut

fein

Abbildung 3 zeigt die Verknüpfung zweier Sätze zu einem formalen Ausdrucksnetz. Die Aussagen der Befragten »Ic« und »Ga« hängen über die grau unterlegten Begriffe »Billard«, »spielen« und »Musik« zusammen. Quelle: Zelger, Der Gestaltenbaum des Verfahrens GABEK: Theorie und Methode anhand von Beispielen, in: ders./Maier (Hrsg.), GABEK, S. 4187, hier S. 51.

116 Zur Einführung in das Verfahren und Anwendungsbeispielen siehe den Band Zelger, Josef/Maier, Martin (Hrsg.), GABEK. Verarbeitung und Darstellung von Wissen, Innsbruck/Wien: Studienverlag 1999. 209

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Die Bildung sprachlicher Gestalten erfolgt dann mit Hilfe von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Vernetzungsregeln.117 Inhaltlich ähnliche Aussagen werden zu Textgruppen, den »gestalthaften linguistischen Strukturen« 118 zusammengefasst. Die gebildeten Gestalten werden dann wiederum zu Gruppen, sogenannten Hypergestalten zusammengefasst, und zwar so lange, bis keine neuen, inhaltlich hinreichend unterscheidbaren, Textgruppen mehr gebildet werden können. Dieses Vorgehen soll die Vollständigkeit des so entstehenden Gestaltenbaums sichern. Der zirkuläre Ablauf wird durch folgende Grafik (Abb. 4) veranschaulicht.

Abbildung 4: Operationen der Wissensorganisation. Quelle: Zelger, Der Gestaltenbaum des Verfahrens GABEK, S. 61. Damit wird eine nichtlineare Logik in der Phase der Auswertung eingeführt. Sie ist insofern konstitutiv für das Verfahren, als dass ohne das zirkuläre Vorgehen kein hierarchisch strukturierter Gestaltenbaum, der dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen würde, erstellt werden kann. 117 Diese Regeln werden ausführlich dargestellt in Zelger, Josef, Der Gestaltenbaum des Verfahren GABEK, S. 54-58. 118 Ebd., S. 59. 210

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Zwar führt diese Methode am Ende zu einfachen Zusammenfassungen, jedoch bleibt die Komplexität des untersuchten Textkorpus zu jedem Zeitpunkt erhalten und kann immer wieder aufs Neue aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht werden. Der Gestaltenbaum ist dadurch gekennzeichnet, dass er eine selbstähnliche Gesamtstruktur aufweist, »welche Meinungen und Einstellungen der Befragten so abbildet, daß sie auf verschiedenen Komplexitätsebenen gelesen werden können. Auf jeder Ebene wird die Gesamtproblematik dargestellt. Die höheren Ebenen geben Übersichten über das Wesentliche wieder, die tieferen Ebenen präsentieren dazu erklärende Details.« 119

Damit impliziert GABEK einen Vorschlag zur Verknüpfung von Mikround Makroebene der untersuchten Phänomene. Hintergrund ist jedoch nicht der Versuch einer Lösung eines theoretischen Problems, sondern der praktische Anspruch, der mit GABEK verfolgt wird. Dessen Anwendung in Organisationen soll u.a. gemeinschaftsbildend wirken. Die darin ausgedrückte Nähe zu Beratungskontexten beinhaltet, dass es sich nicht ausschließlich um eine Diagnose- bzw. Analyseinstrument handelt, sondern gleichzeitig um ein Instrument der Intervention. Diese Eigenschaft soll GABEK aus der Tatsache ziehen, dass es auch als interaktives Präsentationsinstrument eingesetzt werden kann. »Jeder Beteiligte findet darin [im Gestaltenbaum; S.Z.] seine eigene Meinung wieder. Er findet sie aber eingebettet in einen weiteren Kontext von Erfahrungen, Meinungen und Einstellungen anderer Personen. So lernen die Mitglieder einer Organisation andere Leute, mit denen sie zu tun haben, besser zu verstehen. Die Bereitschaft zum Gespräch wird verstärkt, Beziehungen zwischen den betroffenen Personen und gemeinsam abgestimmtes Handeln können sich entfalten.« 120

Ob dieser Anspruch in der Praxis eingelöst werden kann, ist eine andere Frage. Offensichtlich soll GABEK für an Veränderungen interessierte Fragestellungen eingesetzt werden, deren Adressat die untersuchten Organisationen als Ganze sind. Wesentliches Element der diese Veränderungen in Gang setzenden Prozesse ist die Rückkopplung der Ergebnisse an die Mitglieder der untersuchten Organisationen, die sich darin wiederfinden sollen.

119 Ebd., S. 65. 120 Zelger, Josef/Maier, Martin, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), GABEK, S. 717, hier S. 8f. 211

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Wie der letzte Punkt verdeutlicht, kann GABEK nicht vorbehaltlos als ein Verfahren der Erhaltung von Komplexität klassifiziert werden, da mit der Rückkopplung der Ergebnisse auch ein komplexitätsinduzierendes Element enthalten ist. Die wesentliche innovative Leistung dieses Ansatzes ist jedoch darin zu sehen, dass notwendige Selektionen in sozialwissenschaftlichen Analyseprozessen nicht zur Nichtbeachtung bzw. zum Ausschluss von Datenmaterial führen. Die Selektion findet nicht auf der elementaren Ebene des Materials statt, sondern folgt den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen es untersucht werden soll. Dies führt dazu, dass auch große Textkorpora in vollem Umfang und damit in ihrer Komplexität erhalten werden können.

3.3 Induktion von Komplexität 3.3.1 Vom Alltag zur Wissenschaft Induktion von Komplexität ist immer Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens. Sie erfolgt bereits, indem Gegenstände des Alltags zu Objekten der Wissenschaft gemacht und damit aus einer anderen Perspektive als der des Alltags betrachtet werden. 121 Der Grad der induzierten Komplexität hängt jedoch davon ab, wie differenziert die Verwissenschaftlichung alltäglicher Objekte erfolgt, d.h. in welchem Maße die Objekte selbst als komplexe Systeme verstanden werden. Mit der Induktion von Komplexität in diesem Sinne, also der Verwissenschaftlichung von alltäglichen Objekten, geht immer auch schon die Reduktion von Komplexität einher, indem diese Objekte im gleichen Schritt isoliert werden. Besonders auffällig ist dies bei der Konstitution der Gegenstände der Medien- und Kommunikationswissenschaften, deren Namen sich aus ihren Objekten ableiten sollen. Die sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft definiert in der Regel (gesellschaftliche) Kommunikation als ihren Gegenstand, während die kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft eben Medien zu ihrem Gegenstand erklärt. Beide Disziplinen induzieren also Komplexität, indem sie die alltagsweltlich (zumindest begrifflich) präsenten Gegenstände Kommunikation und Medien zu ihren Gegenständen erklären. In dieser Entscheidung ist die Reduktion von Komplexität erhalten, indem beide Disziplinen eine Gewichtung der Gegenstände vornehmen und die Möglichkeit einer isolierten Betrachtungsweise der Gegenstände suggerieren. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in den unterentwickelten Medientheorien der Kommunikationswissenschaft und entsprechend unterentwickel121 Vgl. Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 218. 212

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

ten Kommunikationstheorien der Medienwissenschaft wider. Die Gegenstände der jeweils anderen Disziplin erscheinen jeweils nur als diffuse Umwelten. Wenn die Kommunikationswissenschaft nun Medienwirkungen untersucht, meint der dahinter stehende Medienbegriff meistens das weit verbreitete Verständnis von Medien als Massenmedien, bewegt sich also weiterhin im Rahmen des Alltagsverständnisses, ganz gleich ob auf Seiten der untersuchten Wirkungen komplizierte theoretische Modelle entworfen und überprüft werden. Umgekehrt sucht man in medienwissenschaftlichen Untersuchungen oftmals vergeblich Hinweise auf die zugrunde gelegten Kommunikationsbegriffe. Sie verbergen sich dann etwa in Konstruktionen wie »diskursiven Praktiken«. Es wäre wahrscheinlich kein Problem und sicherlich ein Gewinn, wenn die beliebten historischen Untersuchungen von Verwaltungspraktiken als Formen gesellschaftlicher Kommunikation reformuliert würden oder die wissenschaftsgeschichtlichen Analysen der Formierung von Wissen in bestimmten medialen Dispositiven als spezifische Formen von wissenschaftlicher Informationsverarbeitung betrachtet würden. Sicherlich handelt es sich bei dem angesprochenen Beispiel um ein extremes. Die erwähnten Disziplinen konkurrieren um Aufmerksamkeit in einem Feld, dessen Bedeutung gesellschaftlich anerkannt ist. 122 Diese Konkurrenz hat forschungspolitische Implikationen, wenn es um die Verteilung von Ressourcen geht. Die Disziplinen konkurrieren dabei vor dem Hintergrund unterschiedlicher wissenschaftlicher Traditionen, Konzepte und Methoden um Deutungshoheit und Forschungsgelder. Ob man diesen Sachverhalt soziologisch analysiert oder psychoanalytische Konzepte wie Diskurse des Begehrens (Lacan) unterstellt, die Ergebnisse wären wahrscheinlich ähnlich. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass die Entscheidung darüber, was zu einem Gegenstand von Forschung gemacht wird, immer schon die Induktion von Komplexität genauso wie ihre Reduktion bedeutet. Induktion von Komplexität ist Grundvoraussetzung von Wissenschaft. Sind die untersuchten Gegenständen jedoch selbst durch hohe Komplexität gekennzeichnet wie es bei Medien und Kommunikation der Fall ist, muss schon in diesem ersten Schritt gefragt werden, ob die mit der Abgrenzung des Forschungsgegenstandes verbundene Reduktion wünschenswert und zielführend ist. Die Dichotomisierung von Medien und Kommunikation, wie sie im Grenzfall der Sozialwissenschaften, der Kommunikationswissenschaft, zu beobachten ist, scheint auf beiden Seiten der gezogenen Grenze eher hinderlich als förderlich.

122 Etwa in Selbstbeschreibungen der Gesellschaft als Informationsgesellschaft. 213

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

3.3.2 Dynamisch: Intentionale Rückkopplungen In der dynamischen Dimension kann Komplexität induziert werden, indem der Forschungsablauf nichtlinear, d.h. in der Regel rekursiv, gestaltet wird. Bekannte Verfahren sind das Krisenexperiment und die kommunikative Validierung 123 bzw. Triangulation 124 .

3.3.2.1 Krisenexperiment Das von Harold Garfinkel im Rahmen der Ethnomethodologie eingeführte Krisenexperiment ist ein Verfahren, durch das implizite soziale Normen sichtbar gemacht werden sollen. 125 Untersuchungsteilnehmer werden dabei intentional in eine Krisensituation versetzt, indem soziale Normen oder Routinen übertrieben oder gebrochen werden. Die Unterbrechung bzw. Verunsicherung von Alltagsinteraktionen soll dazu dienen, deren Basisregeln zu eruieren. Bekannte Beispiele sind die ausführliche Beantwortung der Frage »Wie geht’s?« 126 oder das U-BahnExperiment von Stanley Milgram, bei dem in vollen Zügen sitzenden Fahrgästen Stehplätze angeboten wurden 127 . Krisenexperimente erfreuen sich auch abseits der universitären Forschung einiger Beliebtheit. Im popkulturellen Bereich sind sie oftmals Grundlage von Streichen mit der versteckten Kamera. Darüber hinaus finden Krisenexperimente Anwendung im Personalwesen, wo sie bei der Auswahl von Mitarbeitern eingesetzt werden. 128

123 Zur kommunikativen Validierung siehe auch den Abschnitt Validierungsstrategien in Fallstudie I: Validität und Validierung. 124 Triangulation im Sinne Gieseckes als Rückkopplung von Untersuchungsergebnissen an die Beforschten. Zur Triangulation im Sinne der Kombination verschiedener Methoden siehe den Abschnitt Triangulation in diesem Kapitel. 125 Vgl. Garfinkel, Harold, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, in: ders., Studies in Ethnomethodology, Cambridge: Polity Press 1992, S. 35-75. 126 Garfinkel, Harold, Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Realität, S. 189-261, hier S. 207. 127 Vgl, Luo, Michael, Excuse Me. May I Have Your Seat?, in: New York Times vom 14.09.2004, verfügbar unter: http://www.nytimes.com/2004/ 09/14/nyregion/14subway.html?ex=1172120400&en=94cb24fbccedb32a &ei=5070. 128 Sogenannte Stressinterviews können als Krisenexperiment verstanden werden. Sie werden eingesetzt, um den Umgang von Kandidaten mit Stress oder ihr Durchsetzungsvermögen zu testen. Vgl. Siewert, Horst Helmut, Spitzenkandidat im Assessment-Center. Die optimale Vorberei214

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

Das Krisenexperiment funktioniert auf der Grundlage von angenommenen »normalen« Interaktionserwartungen, die systematisch enttäuscht werden. Diese Interaktionserwartungen, oder auch Normalformen, stellen konventionalisierte kommunikative Interaktionsmuster dar, die aus komplexitätstheoretischer Perspektive als linearisierte Standardisierungen von Kommunikationssituationen beschrieben werden können. Die eingeübten linearen Verlaufsmuster dieser Interaktionen werden durch gezielte Provokationen unterbrochen und damit überhaupt erst sichtbar gemacht. Die Störungen oder Unterbrechungen wirken dabei als Medium des Erkenntnisgewinns. Unterbrochen wird hier allerdings nicht der Ablauf eines Forschungsprojektes, sondern vielmehr alltäglich wirksame Linearisierungen, die Kommunikation erst möglich machen.

3.3.2.2 Kommunikative Validierung und Triangulation Rekursive Elemente in Forschungsprozessen stellen die Verfahren der Rückkopplung von Forschungsergebnissen an die Beforschten dar. Dazu gehören die kommunikative Validierung sowie die Triangulation im Sinne Gieseckes. Die Ende der 1970er Jahre eingeführte kommunikative Validierung soll dazu dienen, die im Forschungsprozess erzeugten Daten gemeinsam mit den Beforschten zu validieren.129 Nach der Auswertung werden die Ergebnisse den Beforschten vorgelegt, um deren Gültigkeit gemeinsam zu überprüfen. Die Notwendigkeit für dieses Vorgehen soll dann vorliegen, wenn auf der Grundlage der Ergebnisse eine gemeinsame Praxis hergestellt werden soll. 130 Die Validität gilt dann als gesichert, wenn eine Einigung zwischen Forschern und Beforschten hergestellt ist, wobei der Forscher nicht an die Zustimmung der Beforschten gebunden sein soll, da die Gefahr einer Übernahme von deren Mythen und Ideologien gegeben sei. 131 Validierung meint in diesem Modell einen Prozess der tung auf Eignungstests, Stressinterviews und Personalauswahlverfahren, Frankfurt am Main: Redline Wirtschaft 2004, S. 168-177. 129 Vgl. Klüver, Jürgen, Kommunikative Validierung – einige vorbereitende Bemerkungen zum Projekt Lebensweltanalyse von Fernstudenten, in: Heinze, Thomas (Hrsg.), Theoretische und methodologische Überlegungen zum Typus hermeneutisch-lebensgeschichtlicher Forschung. Werkstattbericht, Hagen: Fernuni Hagen 1979, S. 69-84 sowie Heinze, Thomas/Thiemann, Friedrich, Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegründung. Bemerkungen zum Beitrag von E. Terhart, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 27, Nr. 4 (1982), S. 635-642. Siehe dazu auch den Abschnitt Validierungsstrategien in Fallstudie I: Validität und Validierung. 130 Vgl. Heinze/Thiemann, Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegründung, S. 636. 131 Ebd. 215

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Ratifizierung von Forschungsergebnissen unter Beteiligung der Beforschten. Triangulation im Sinne Gieseckes meint die Konfrontation der Beforschten mit den im Forschungsprozess erhobenen Daten sowie den daraus generierten Produkten der Forschungstätigkeit. Dabei kann es sich um Ursprungsdaten (Tonband-, Videoaufzeichnungen, Fotos, etc.), Transkriptionen oder daraus entwickelte Hypothesen handeln. Das Ziel dieser Konfrontation ist nicht die Herstellung von Einigkeit, sondern die kollektive Reflexion der Daten und Analyseergebnisse. Da diese Fremdbilder nicht der Selbstwahrnehmung der Beforschten entsprechen müssen, können die Reaktionen darauf wiederum als Datenmaterial genutzt werden (und somit der Vorgang beliebig oft wiederholt werden). Daraus wird ersichtlich, dass diese Form der Rückkopplung von einem interventionistischen Grundverständnis von Sozialforschung aus operiert. Bei der Triangulation geht es um Störungen des Gleichgewichts, die zur Reflexion der eigenen Programme der Beforschten anregen sollen. Die Nähe zu therapeutischen und Beratungskontexten ist offensichtlich. Delinearisierende Eingriffe und Wendungen können in Forschungsprozessen an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Das Krisenexperiment interveniert in die zu untersuchenden Prozesse, um die ihnen zugrundeliegenden Programme offen zu legen. Kommunikative Validierung und Triangulation dagegen implementieren eine Rückkopplungsschleife in den Forschungsprozess selbst und sprengen damit starre lineare Ablaufpläne. Insbesondere die Triangulation produziert damit eine Eigendynamik des Forschungssystems, die zur Voraussetzung für die Erhebung von Daten wird. Induktion von Komplexität kann neben rekursiven Elementen auch die Betonung von parallelen Prozessen meinen. In der Triangulation handelt es sich bereits um eine Form paralleler Informationsverarbeitung, bei der der Forscher keine Rolle als außenstehender Beobachter einnimmt, sondern direkt als Person involviert ist.

3.3.3 Strukturell: Von der monomedialen Messung zu multimedialen Settings Grundlegend kann die Komplexität in der strukturellen Dimension durch die Anzahl und Art der Kommunikatoren und Medien erhöht werden. Dies betrifft nicht die Anzahl der Fälle in repräsentativen quantitativen Studien. Gemeint ist vielmehr die Zahl der jeweils parallel beteiligten Kommunikatoren und Medien. Auf Forscherseite kann dies die Arbeit in Forscherteams bedeuten, auf Seiten der Beforschten etwa die Durchfüh216

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rung von Gruppeninterviews oder -diskussionen, methodisch die Kombination verschiedener Verfahren.

3.3.3.1 Forscherteams Die Arbeit in Forscherteams ist auch in der Sozialforschung üblich. Erstaunlicherweise hat diese Tatsache in ihren Methodologien und Erkenntnistheorien bisher kaum Niederschlag gefunden. Während die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung nach ihren Studien in naturwissenschaftlichen Laboren schon in den 1970er Jahren sozialkonstruktivistische Positionen formuliert hat, ist eine selbstreflexive Wendung dieser Erkenntnis ausgeblieben. Die Arbeit in Teams gleich welcher Art bedeutet immer eine Erhöhung der Komplexität gegenüber den klassischen erkenntnistheoretischen Annahmen von solitären Erkenntnissubjekten. Der Unterschied wirkt sich in allen Phasen des Forschungsprozesses aus: bei der Formulierung und Ratifizierung von Forschungsprogrammen, bei der Datenerhebung durch die Anwesenheit von mehreren Beobachtern oder Interviewern oder bei der Datenauswertung und Ergebnispräsentation. Eine Steigerung der Komplexität durch Forscherteams kommt allerdings nur unter der Annahme zustande, dass Forscher nicht nach idealen, in Wissenschaftstheorien und Methodologien gespeicherten Programmen arbeiten. Dann würden mehr Forscher höchsten kumulativ mehr Hardware- oder Rechenpower bedeuten. Mehr Komplexität meint also hier zunächst die Kombination verschiedener subjektiver Perspektiven und darauf aufbauend eine Forschungstätigkeit, die als parallele bzw. soziale Informationsverarbeitung beschrieben werden kann. Handelt es sich bei den Forschern um Angehörige verschiedener Disziplinen, ist zu erwarten, dass in ihrer Arbeit ihre je eigenen Programme und Grundannahmen wirksam werden. Gleiches gilt für Anhänger verschiedener Schulen innerhalb einer Disziplin. Eine spezielle Form der Steigerung der Komplexität von Forscherteams ist die Integration von In- und Outsider-Perspektiven. Während in klassischen Methodologien persönliche Verstrickungen mit dem Forschungsgegenstand problematisiert werden, werden Konstellationen, die unterschiedliche Perspektiven zusammenführen, mittlerweile auch positiv bewertet. 132 In der Beratungsforschung wird davon ausgegangen, dass Beratungsprozesse überhaupt nur durch die Kombination der verschiedenen Perspektiven möglich sind, wenn das Ziel die Erforschung 132 Vgl. bspw. Russel, Glenda M./Kelly, Nancy H., Research as Interacting Dialogic Processes. Implications for Reflexivity [47 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, Bd. 3, Nr. 3, Art. 18 (2002), Absätze 34-37, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114fqs0203181. 217

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latenter, nicht direkt beobachtbarer oder bewusster Programme ist. 133 Hier, ebenso wie in therapeutischen Kontexten, verschwinden die Grenzen zwischen Forschern und Beforschten. Eine Reihe von Ansätzen schlägt daher vor, Beforschte als genuine Insider generell als Mitforscher zu betrachten. Dies verweist auf die Frage nach der Organisation der Rollenverhältnisse in Forschungsprozessen.

3.3.3.2 Rollenverhältnisse In klassischen Methodologien sind die Rollen in Forschungssystemen klar verteilt. Der Forscher ist der außenstehende Beobachter, der Beforschte sein Informationsmedium. Die Zuweisung von Rollen impliziert immer auch die Zuweisung bestimmter damit verbundener Programme. Die Sozialforschung kennt eine Reihe unterschiedlicher Rollen, die den Beteiligten in Forschungsprozessen zugeschrieben werden können. Bereits erwähnt wurde die Reduzierung von Untersuchungsteilnehmern auf die Rolle als Merkmalsträger. Dies stellt die radikalste Zuweisung einer Rolle dar, indem damit sogar diese basale Unterscheidung sozialer Rollen unterlaufen wird: Merkmalsträger ist keine soziale Rolle. Der Begriff macht keinen Unterschied zwischen einem Stein als Untersuchungsgegenstand des Geologen und einer Person als Informationsmedium des Sozialforschers. Folglich ist Sozialwissenschaft aus dieser Perspektive Naturwissenschaft. Unterschiedliche Perspektiven können aber auch auf verschiedenen Ebenen als ein Kernelement von Sozialforschung beschrieben werden. Makroskopisch betrifft dies zunächst die in den Selbstbeschreibungen der Sozialforschung enthaltenen Bilder etwa des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft. Das früher gängige Bild der Sozialwissenschaft als Problemlöser der Gesellschaft impliziert oftmals ein Verhältnis wie das zwischen Arzt und Patient. 134 Damit wird eine spezifische ärztliche Vorgehensweise nahegelegt, nämlich der Dreischritt Anamnese – Diagnose – Therapie, der wiederum spezifische Interaktionsaktionsmuster zwischen den Beteiligten impliziert. Mikroskopisch können in konkreten Forschungskontexten Forscher und Beforschte immer zugleich als Laien und Experten aufgefasst wer133 Vgl. Rappe-Giesecke, Kornelia,/Schmidt, Evelyn/Klose, Reinhard, Unser Leitbild: Organisationsentwicklung durch insider-outsider-Teams – Bericht über einen Leitbildentwicklungsprozeß beim Kommunalen Sozialdienst der Stadt Hannover, in: Supervision. Mensch Arbeit Organisation, Heft 1/2001, S. 48-60 und Heft 2/2001, S. 43-46. 134 Dass diese Sichtweise außer Acht lässt, dass die Gesellschaft nie zum Arzt geht, ist eine andere Frage, die hier nicht erläutert werden kann. In der Regel werden Probleme ja nicht von der Gesellschaft erzeugt, sondern von der Wissenschaft oder im speziellen Fall der Sozialwissenschaften oftmals auch von Politik oder Wirtschaft. 218

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den, noch vor der Zuweisung entsprechender Rollen in der Forschungsinteraktion. Dies gilt auch, wenn sich das Expertentum der Beforschten auf ihr implizites Wissen bezieht. Wie die Rollen in Forschungsprozessen nun zugewiesen werden, ist die Folge von Entscheidungen. Die Unterscheidung Experte – Merkmalsträger ist solch eine Entscheidung, und zwar eine starre, nicht revidierbare. Umgekehrt können, etwa in den offenen Formen der Befragung wie in narrativen Interviews, die Befragten die Rolle von Experten einnehmen. Offensichtlich ist diese Unterscheidung keineswegs so klar wie im vorherigen Fall. Spätestens mit gezielten Nachfragen entlarvt sich auch der zuvor als Laie zuhörende Forscher als Experte. Hier deutet sich schon an, dass Rollenverhältnisse meist keine unumstößlichen Festschreibungen sind, sondern die Beteiligten im Verlauf von Forschungsprozessen zwischen verschiedenen Rollen oszillieren können. Besonders deutlich wird dies in Beratungsprozessen. Hier kann keine eindeutige Unterscheidung zwischen Laien und Experten getroffen werden. Grundvoraussetzung für das Gelingen von Beratungsprozessen ist gerade, dass die Kommunikationspartner wechselnde Rollen annehmen. Damit verbunden ist die Enthierarchisierung von Forschungssystemen, in dem die Beteiligten nun als gleichberechtigte Partner auftreten. Ein weiteres Beispiel für diesen Rollentausch ist die Aktionsforschung. Hier wird angestrebt, dass die Beforschten Selbstbeforschung betreiben. Diese Erkenntnisse manifestieren sich darüber hinaus in der Anwendung von Rollenspielen als eigenständige Methode. 135

3.3.3.3 Triangulation In der jüngeren Vergangenheit hat mit der Triangulation136 – auch im Zusammenhang mit der Diskussion um das Verhältnis zwischen qualitativen und quantitativen Methoden – ein Ansatz erhöhte Aufmerksamkeit erlangt, dessen Ziel die Erhöhung der Qualität und Validität von Sozialforschung durch die Kombination verschiedener Methoden ist. Sie sollen derart kombiniert werden, dass ein multiperspektivischer Blick auf den Forschungsgegenstand ermöglicht wird. Hintergrund ist eine konstruktivistische Sichtweise, die davon ausgeht, dass erst Methoden Forschungsgegenstände konstituieren. 137

135 Vgl. bspw. Sader, Manfred, Rollenspiel als Forschungsmethode, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. 136 Der Begriff stammt aus der Geodäsie und meint ursprünglich eine Methode zu Lokalisierung von Punkten auf der Erdoberfläche mit Hilfe mehrerer Messpunkte. 137 Vgl. Flick, Triangulation, S. 11. 219

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Das Konzept der Triangulation wurde explizit seit den 1970er Jahren entwickelt. 138 Im Ansatz von Norman Denzin wird zwischen der Triangulation von Daten, Forschern, Theorien und Methoden unterschieden. Triangulation von Daten meint die Bearbeitung von Daten aus verschiedenen Quellen mit den gleichen Methoden.139 Triangulation von Forschern meint die Zusammenarbeit mehrerer Forscher, um durch systematischen Vergleich den Einfluss der Forscherpersönlichkeiten auf den Forschungsgegenstand aufzudecken.140 Diese Maßnahme dient also offensichtlich nicht der Erhöhung der Komplexität durch den Vergleich unterschiedlicher persönlicher Perspektiven, sondern rekurriert auf die Annahme des Forschers als Störfaktor. Theorie-Triangulation wird empfohlen bei der Erforschung von Feldern, die durch geringe theoretische Kohärenz geprägt sind: »[...] approaching the data with multiple perspectives and hypotheses in mind. Data that would refute central hypotheses could be collected, and various theoretical points of view could be placed side by side to asses their utility and power.« 141

Dieser theoretische Pluralismus muss jedoch relativiert werden, da er nicht im Sinne Feyerabends für ein dauerhaftes Nebeneinander verschiedener theoretischer Ansätze plädiert, sondern gegebenenfalls zur Falsifikation rivalisierender Angebote führen soll. Die Triangulation von Methoden orientiert sich ebenfalls an der Diskussion über Reaktivität. Durch Kombination soll die Beschränktheit einzelner Methoden überwunden werden mit dem Ziel der Validierung von Feldforschung. »To summarize, methodological triangulation involves a complex process of playing each method against the other so as to maximize the validity of filed efforts. Assessment cannot solely be derived from principles given in research 138 Vgl. Denzin, Norman Kent, The Research Act. A Theoretical Introduction to Sociological Methods, Chicago: Aldine 1970. Die historische Darstellung von Flick, der die Anfänge der Triangulation in dieser Zeit sieht, lässt »Die Arbeitslosen von Marienthal«, mit ihrem – modern gesprochen – Methodenmix nun als Vorläufer einer Bewegung erscheinen, die Sozialforschung multiperspektivisch gestaltet. Dies ist jedoch eine unzulässige Verzerrung. Das Neue in der Zeit der Entstehung des Konzepts der Triangulation ist viel weniger das Konzept selbst, als jene Ausdifferenzierung der Sozialforschung in verschiedene methodologische Paradigmen, deren Gegenbewegung die Triangulation darstellt. Vgl. Flick, Triangulation, S. 7. 139 Vgl. Denzin, The Research Act, 1970, S. 301. 140 Ebd., S. 302. 141 Ebd., S. 303, zitiert nach Flick, Triangulation, S. 14. 220

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manuals – it is an emergent process, contingent on the investigator, his research setting, and his theoretical perspective.« 142

Diese frühe Konzeption von Triangulation orientiert sich noch stark an den wissenschaftstheoretischen Prinzipien des kritischen Rationalismus. Die Erhöhung der Komplexität durch die vorgeschlagenen Maßnahmen erweist sich schließlich als ihr Gegenteil. Die Validität der Ergebnisse soll vor allem durch die Minimierung von Störfaktoren gesichert werden. Diese werden mengentheoretisch ermittelt. Erst die Schnittmenge von Ergebnissen bezeugt aus dieser Perspektive Evidenz. Erst in Folge von Kritik an Denzins Konzept entwickelte sich die Triangulation zu einem Ansatz der Erhöhung von Komplexität. 143 Auf dem gegenwärtigen Stand der Diskussion werden in der qualitativen Sozialforschung vier Varianten der Triangulation unterschieden: methodeninterne Triangulation, Triangulation theoretischer Perspektiven, Triangulation von unterschiedlichen Datensorten und Triangulation verschiedener qualitativer Methoden. Die Triangulation von qualitativer und quantitativer Forschung wird gesondert betrachtet. 144 Auffällig ist das Fehlen einer Triangulation von Forscherperspektiven. Methodeninterne Triangulation meint die Kombination verschiedener theoretischer Perspektiven innerhalb einer Methode. 145 Als Beispiel nennt Flick das episodische Interview, mit dem sowohl semantisches als auch episodisches Wissen erforscht werden sollen. In direktem Zusammenhang damit stehen die daraus resultierenden unterschiedlichen Datensorten und deren Triangulation. Es handelt sich dabei lediglich um inhaltlich unterschiedliche, d.h. auf verschiedene theoretische Annahmen bezogene Daten innerhalb eines konkreten Datensatzes (im Beispiel also ein Interview bzw. dessen Transkription). Flick sieht das Ziel dieser Form der Triangulation dann erreicht, wenn dadurch einander ergänzende Ergebnisse erzielt werden.146 Flicks Konzept von Triangulation lässt sich folgendermaßen reformulieren: Es handelt sich primär um eine strukturelle Verschränkung von theoretischen Perspektiven, die dabei allerdings keine neue Einheit bilden, sondern einen parallelen bzw. alternierenden Prozess anleiten. Dies geht von der Klärung der theoretischen Grundannahmen über die Datenerhebung bis hin zur Datenauswertung. Theorienpluralismus funktioniert hier als Steuerungsprogramm des For142 Ebd., S. 310, zitiert nach Flick, Triangulation, S. 16. 143 Zur Kritik an seinem Ansatz und seiner Reaktion siehe Flick, Triangulation, S. 17-20. 144 Vgl. ebd., S. 27-49 und S. 67-85. 145 Vgl. ebd., S. 27-36. 146 Vgl. ebd., S. 49. 221

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schungsprozesses. Mit diesem Ansatz zeigt Flick nicht nur, wie in bestimmtem Maße Komplexität in den Forschungsprozess induziert werden kann, sondern deutet auch an, wie andere Verfahren einer rekonstruktiven Binnendifferenzierung unterzogen werden können. Triangulation wird schließlich auch als Angebot zur Überwindung der »paradigm wars« 147 in der Sozialforschung vorgeschlagen, also als Verknüpfungsmodus qualitativer und quantitativer Verfahren. Auch hier können wieder Triangulationen von Methoden, Daten und Ergebnissen unterschieden werden. Eine verbreitete Argumentationsfigur sieht die Komplementarität qualitativer und quantitativer Verfahren in der explorativen Funktion qualitativer Verfahren, deren Ergebnisse anschließend mit quantitativen Verfahren überprüft werden könnten. 148 Diese Kombination stellt jedoch keine symbiotische Leistung dar, sondern behält das grundlegende Forschungsdesign der quantitativen Sozialforschung, den Hypothesentest, bei und nutzt qualitative Verfahren lediglich bei ihrer Formulierung. Es handelt sich folglich um eine sequentielle Verknüpfung. 149 Eine prinzipielle Induktion von Komplexität kann daraus nicht abgeleitet werden. Die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Daten meint vornehmlich eine Überführung der einen Sorte in die andere. Die Möglichkeiten und der Sinn eines solchen Vorhabens sind jedoch begrenzt. Überführung qualitativer in quantitative Daten bedeutet immer ihre Dekontextualisierung und damit Aufgabe ihres konstitutiven Sinnzusammenhangs. Letztlich scheitert die Argumentation mit qualitativen Ergebnissen auf Grundlage einer quantitativen Forschungslogik immer schon an der meist geringen Fallzahl. Umgekehrt scheint eine Rekontextualisierung quantitativer Daten von vornherein vergeblich.150 Bei der Triangulation von Ergebnissen stellt Flick die Frage, welche Rückschlüsse aus konvergierenden, komplementären oder divergierenden Ergebnissen gezogen werden könnten. Das darin enthaltene Problem besteht in der ungeklärten Frage, wie die triangulierten Verfahren zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es bestehen keinerlei Verknüpfungsre147 Gage, Nathaniel Lees, The Paradigm Wars and Their Aftermath. A »Historical« Sketch of Research on Teaching since 1989, in: Educational Researcher, Jg. 18, Nr. 7 (1989), S. 4-10. 148 Vgl. Barton, Alan H./Lazarsfeld, Paul Felix, Some Functions of Qualitative Analysis in Social Research, in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet (Frankfurter Beiträge zur Soziologie 1), Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 321-36). 149 Die sequenzielle Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Verfahren ist genauso denkbar wie eine parallele oder alternierende Verwendung. Vgl. Miles, Matthew B./Huberman, Michael A., Qualitative Data Analysis. An Expanded Sourcebook, Thousand Oaks: Sage 1994, S. 41. 150 Flick, Triangulation, 2004, S. 76-78. 222

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geln. Diese sind aber notwendig, um komplementäre (im Sinne Devereux’) Verfahren sinnvoll miteinander kombinieren zu können. Komplementär, d.h. sich wechselseitig ausschließend sind die Verfahren in der Hinsicht, dass einerseits lineare, rekursive und parallele Prozesse kombiniert werden. Andererseits werden tendenziell monomediale Settings mit multimedialen verknüpft. Dies resultiert in Daten, die auf unterschiedlichen Niveaus emergieren. Flicks Frage drückt ein Bedürfnis nach eindeutigen Ergebnissen aus. Gibt man diesen Anspruch auf, kann die Triangulation als komplexes Verfahren zur Untersuchung komplexer Gegenstände aufgefasst werden. Die Unklarheiten lösen sich auf, sobald die Sozialforschung selbst und ihre Gegenstände als komplexe Systeme aufgefasst werden. Dann können sich widersprechende Befunde entproblematisiert und als emergente Phänomene, d.h. sowohl als emergente Produkte der Sozialforschung als auch der untersuchten Systeme und Prozesse aufgefasst werden. Widersprüche sind dann Hinweise auf bislang nicht in Rechnung gestellte Faktoren. Insofern kann die Triangulation eine Möglichkeit zur Untersuchung des Zusammenhangs von Mikro- und Makroebenen sozialer Prozesse darstellen. Diese Möglichkeit wird in der Diskussion zur Triangulation bislang aber nicht verfolgt. Aus dieser Perspektive kann nun festgehalten werden, dass die Triangulation die Komplexität sowohl in der strukturellen als auch in der ontologischen Dimension erhöht.

3.3.4 Ontologisch: Medien der Spiegelung Der Rückgriff auf Medien der Spiegelung ist zwar Bestandteil jeder Art von Sozialforschung, erfolgt aber immer dann bewusst, wenn implizites Wissen, (noch) nicht versprachlichtes Wissen oder unbewusste Bewusstseinsinhalte erforscht werden sollen. Diese Medien ermöglichen es, Daten und Informationen auf einem alternativen Niveau emergieren zu lassen. In der Praxis der Sozialforschung werden dazu unterschiedlichste Medien eingesetzt: sprachliche Medien, personale Medien und symbolische Medien.

3.3.4.1 Sprachliche Medien Keine Form der interaktiven Datenerhebung in der Sozialforschung kommt ohne Spiegelungsmedien aus. Dies gilt auch für standardisierte Befragungen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Weiterhin können schriftliche Texte als sprachliche Medien der Spiegelung genutzt werden, wenn diese nicht vorgegeben, sondern von den Teilnehmern selbst produziert werden. Hier können die verschiedenen Verfahren wiederum nach dem Grad ihrer Komplexität binnendifferenziert werden. 223

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Eine einfache Form stellen freie, d.h. nicht vorgegebene Antworten in Fragebögen dar. Darüber hinaus können Teilnehmer aber auch dazu angeregt werden, komplexere Texte zu produzieren. In offenen Interviewformen werden dagegen bekannte Interaktionsmuster als Spiegelungsmedien genutzt. Sollen Teilnehmer etwa zu einer Erzählung angeregt werden, dient dazu die alltägliche Kommunikationsform der Erzählung. Weiterhin können auch sprachliche Bilder als Spiegelungsmedien benutzt werden. Metaphern haben die Eigenschaft, zugleich Komplexität zu reduzieren und zu induzieren. Sie reduzieren komplexe Sachverhalte auf einen oder wenige Begriffe, leisten aber gleichzeitig zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Diese Eigenschaften können nicht nur rekonstruktiv wie in der sozialwissenschaftlichen Metaphernanalyse genutzt werden, sondern ebenso explorativ. Ein Beispiel dafür ist die konstruktive Metaphernanalyse nach Gareth Morgan, die zur Diagnose großer Organisationen entwickelt wurde. 151

3.3.4.2 Mediale Eigenproduktionen Während der Einsatz (technischer) Medien meist im Zusammenhang mit der Dokumentation von Sozialforschung aus der Sicht der Forscher diskutiert wird, existiert insbesondere in psychologisch-psychotherapeutischen Kontexten eine lange Tradition des Einsatzes kreativer Medien. 152 Daraus sind kunsttherapeutische Ansätze wie Gestalt-, Mal-, Musik- oder Tanztherapie hervorgegangen. Gemeinsam ist diesen Verfahren der Anspruch, damit eine kreative Auseinandersetzung der Teilnehmer mit den zu untersuchenden Sachverhalten anzuregen. Die Arbeit mit kreativen Medien hat insbesondere Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Teilnehmer, die damit erweitert wird. Symbolische Medien fungieren dabei als Spiegel, in denen sprachlich nicht direkt zugängliche Inhalte ausgedrückt werden sollen. Damit handelt es sich um Formen der Informationsverarbeitung, die nicht nur sprachlich-rationalen Prinzipien folgen, sondern darüber hinaus emotionale, haptische und andere Aspekte mit einschließen. Es handelt sich folglich um multimediale Formen der Informationsverarbeitung. Die daraus hervorgehenden Daten emergieren auf ihren je eigenen Niveaus (Bilder, Bewegung, Musik, etc.). In der therapeutischen Praxis folgt dann meist eine 151 Zur Metaphernanalyse siehe auch den Abschnitt Daten und Methoden im einleitenden Kapitel sowie den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 152 Zum Einsatz kreativer Medien siehe ebenfalls den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 224

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dann wieder sprachliche Reflexion dieser Produkte. Die Datenerhebung wird mit diesen Verfahren also einer rein sprachlichen Logik entbunden, die dann erst in der Phase der Datenerhebung wieder in den Vordergrund gerückt wird. Während der Ursprung dieser Verfahren eindeutig in therapeutischen Kontexten angesiedelt ist, existieren Bestrebungen, diese für die Sozialforschung fruchtbar zu machen. In diesem Kontext spricht man von medialen Eigenproduktionen von Untersuchungsteilnehmern. Hier kann zwischen verschiedenen Formen von Eigenproduktionen unterschieden werden. Zunächst können zweckgebundene von bereits vorhandenen Produktionen unterschieden werden. Beispiel für die bereits lange zurück reichende Analyse vorhandener Selbstzeugnisse ist die von Charlotte Bühler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Tagebuchforschung. 153 Tagebücher galten der psychologischen Forschung als Spiegel des Innenlebens. Die Analyse von Tagebüchern induziert Komplexität in die Sozialforschung nur soweit, als dass mit dieser Form von Quellen Datenmaterial auf einem spezifischen Emergenzniveau hinzugezogen wird. Dadurch erhöht sich die Komplexität der Datenauswertung. In den Prozess der Datenerhebung wird Komplexität erst dann induziert, wenn hier unterschiedliche Spiegelungsmedien bereitgestellt bzw. die Beforschten zur eigenen Produktion angeregt werden. In diesem Zusammenhang wird in der jüngeren Vergangenheit der Einsatz audiovisueller Medien als Ausdrucksmittel für Beforschte diskutiert.154 Ziel etwa der Arbeit mit Video in der Jugendforschung ist »die symbolische Verarbeitung von Erfahrungen und [der] Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen im Zusammenspiel von Bildern, Musik und Sprache. In selbsterstellten Videofilmen haben Jugendliche die Chance, eigene Bilder des Welterlebens über körper- und gegenstandsbezogene sowie über mehr abstrahierende Symbolisierungen auszudrücken.« 155

Es handelt sich bei diesem Beispiel nicht nur um ein einfaches Medium der Spiegelung, mit dem bestimmte Aspekte wiedergegeben werden 153 Vgl. Bühler, Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena: Gustav Fischer 1923. 154 Einen Überblick über den Einsatz audiovisueller Medien in der Jugendforschung gibt Niesyto, Horst (Hrsg.), Selbstausdruck mit Medien. Eigenproduktionen mit Medien als Gegenstand der Kindheits- und Jugendforschung, München: KoPäd-Verlag 2001. 155 Niesyto, Horst, Jugendforschung mit Medien. Formen, Projekte und Perspektiven eines Forschungsansatzes, in: ders. (Hrsg.), Selbstausdruck mit Medien, S. 89-102, hier S. 90. 225

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können. Im Fall der Videotechnik handelt es sich selbst um ein komplexes Medium, in dem sich verschiedene Ausdrucksebenen verbinden. Symbolisierungen entstehen durch die Kombination von Bild, Musik und Sprache in einem Prozess, in dem die Produzenten nicht nur auf der Grundlage rationaler Erkenntnisweisen, sondern auch von Emotionen und ihrer eigenen Körperlichkeit agieren. Betrachtet man ferner die vielfältigen dramaturgischen und ästhetischen Stilmittel, die in solche Produktionen einfließen können, kristallisiert sich ein erhebliches Anforderungsprofil an die Forscher für die Analyse solcher Selbstzeugnisse heraus. Das mit Hilfe verschiedener kreativer Medien entstandene Datenmaterial zeichnet sich also dadurch aus, dass die Daten auf ganz anderen als nur sprachlichen Niveaus emergieren.

3.3.4.3 Soziometrie und Psychodrama Während der Einsatz von Video in individuellen Forschungsprozessen denkbar ist, existieren auch Verfahren zur Nutzung von Spiegelungsmedien, die nur in Gruppen denkbar sind. Klassische Beispiele dafür sind die vom Psychiater Jakob Levy Moreno entwickelten Methoden Soziometrie und Psychodrama. Die Soziometrie dient der Beschreibung von Gruppenstrukturen durch Selbstbeforschung ihrer Mitglieder. Im klassischen soziometrischen Test werden die Mitglieder einer Gruppe aufgefordert, andere Mitglieder nach festgelegten Kriterien (etwa nach dem Muster Zuneigung – Ablehnung) zu wählen. Auf der Grundlage der Ergebnisse lässt sich dann in einem Soziogramm bzw. einer Soziomatrix die Organisation und Struktur der Gruppe darstellen (vgl. Abb. 5). 156 Während in dieser Form noch die Messung von Strukturen im Vordergrund steht, deren Abweichungen statistisch berechnet werden, können Soziogramme aber auch als Medium der Spiegelung eingesetzt werden, das die Beforschten selbst anwenden. In neueren Arbeiten zur Organisationsentwicklung finden sich Anwendungsbeispiele, in denen Beforschte aufgefordert werden, selbst ihre Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gruppe graphisch darzustellen.157 Das Soziogramm wird auf diese Weise ein Spiegel der Organisation der Gruppe, und reicht so über die Wahrnehmung der einzelnen Mitglieder hinaus. Bereits hier 156 Vgl. Moreno, Jacob Levy, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart: Thieme 1973, S. 20f. 157 Vgl. Bittermann, Brigitte/Nilgens-Masuch, Marion, Organisationsdiagnose im Wohlfahrtsverband F., Vorstandsbereich Soziales und Ökumene, unveröffentlichte Studienarbeit, EVFH Hannover 2002, Postgradualer Studiengang ›Supervision‹. Auch die Fotografie findet mittlerweile Verwendung als kreatives Medium der Soziometrie. Vgl. Schwandt, Bernd, Gruppenfotos. Die Subjektivität des Objektivs; Soziometrie mit der Kamera, in: Psychodrama und Soziometrie, Jg. 4, Nr. 1 (2005), S. 145-154. 226

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wird deutlich, dass es sich bei einem derartigen Einsatz nicht mehr nur um ein Diagnoseinstrument der Forscher handelt, sondern um eines der Intervention, die in dem Moment beginnt, in dem die Gruppe ihre eigenen Strukturen reflektiert. In diesem Sinne hat auch Moreno seinen Ansatz weiterentwickelt und mit dem Psychodrama eine darauf aufbauende Form der Gruppentherapie entworfen.

Abbildung 5: Beispiel für ein Soziogramm, das die Ergebnisse einer Zuneigungs-Wahl darstellt. Quelle: Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, S. 27. Das Psychodrama findet vor allem in Beratungs- und therapeutischen Kontexten Anwendung. 158 Es dient der Erforschung »zwischenmenschlicher Beziehungen und persönlicher Welten«159 mit Hilfe dramatischer Methoden. Innere und zwischenmenschliche Konflikte werden in Form 158 Beispielsweise in der Supervision, vgl. Buer, Ferdinand (Hrsg.), Praxis der Psychodramatischen Supervision. Ein Handbuch, Opladen: Leske + Budrich 2001. Das Psychodrama ist ein sehr mächtiges Werkzeug, das eine hohe Kompetenz der Anwender erfordert. In den vergangenen Jahren ist ein verwandtes Verfahren, das »Familienstellen« in der von Bert Hellinger praktizierten Form in die Kritik geraten, da dort elementare Bestandteile psychotherapeutischer Verfahren ignoriert werden. 159 Moreno, Jacob Levy, Psychodrama und Soziodrama, in: ders., Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften, Köln: Edition Humanistische Psychologie 1989, S. 45-52, hier S. 45. 227

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von Rollenspielen anschaulich gemacht, in denen vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Situationen inszeniert werden. Im Rollenspiel können diese Verhältnisse auf unterschiedliche Weise gespiegelt werden, sei es als Nachstellung oder – gewissermaßen als doppelte Spiegelung – durch Nachstellung mit vertauschten Rollen. Selbstbeforschung erfolgt nicht nur in sprachlich-rationaler Reflexion, sondern auch durch körperliche Aktion. Die Betonung der Bezeichnung »Drama« liegt zunächst auf der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Begriffs, der Handlung. Über Handlungen der Beteiligten soll Katharsis herbeigeführt werden. ›Drama‹ verweist darüber hinaus aber auch auf den Ort der Inszenierung: das therapeutische Theater, das als »Medium« im Sinne eines »therapeutischen Gerüsts« fungiert. 160 Dieser Ort ist kein abstrakter, sondern ein konkreter, dessen konstituierenden Merkmale Bühne und Publikum sind (siehe Abb. 6 und 7).

Abbildung 6 zeigt die Bühne bzw. den »Aktionsraum« Morenos psychodramatischen Theaters in Beacon, N.Y. Quelle: Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, Tafel II. Das Psychodrama ist also eine Methode, die ohne Literatur nicht denkbar ist. Moreno selbst nennt das Psychodrama eine »Illustration der Shakespeareschen Psychiatrie«, in Abgrenzung von der »Beicht160 Für Moreno war das Theater nur ein kreatives Medium der Gruppenpsychotherapie unter anderen. Er erwähnt darüber hinaus auch Puppentheater, Tanz, Musik und Film. Vgl. Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama, S. 61-63. 228

DIE KOMPLEXITÄT DER SOZIALFORSCHUNG

Psychiatrie« und der »Machiavellistischen Psychiatrie«. 161 In der Tat entwickelt Moreno sein Verfahren auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen mit dem Stegreiftheater. 162

Abbildung 7 zeigt den Zuschauer- bzw. »Diskussionsraum« des psychodramatischen Theaters. Gegenüber der Bühne befindet sich ein Balkon, von dem aus Farb- und Lichteffekte zur Verstärkung von Stimmungen auf die Bühne projiziert werden können. Quelle: Ebd., Tafel I. 161 Ebd., S. 80. Unter »Beicht-Psychiatrie« versteht Moreno die klassische Psychoanalyse, zur »Machiavellistischen Psychiatrie« zählt er Verfahren wie die elektrische Schocktherapie, Insulinschock-Therapie und Lobotomie. »Wir nennen sie nach Machiavelli, weil er die grausamsten Methoden in der Behandlung menschlicher Beziehungen befürwortet hat. Der Zweck heiligt die Mittel.«. Siehe ebd. 162 Im Zuge seiner Arbeit mit dem Stegreiftheater formulierte Moreno Vorschläge für eine Reform des Theaters: »Ich aber wünsche nicht das Theater des guten Gedächtnisses, der kreisförmigen Behaglichkeit, des Selbstvergessens. [...] An Stelle der alten Dreiteilung tritt unsere Einheit: Es gibt keine Dichter, Schauspieler, Zuschauer mehr. Jeder ist Dichter, Schauspieler und Zuschauer in einer Person. Fort mit den Augen der Gaffer und den Ohren der Horcher. Unser Theater ist die Vereinigung aller Widersprüche, des Rausches, der Unwiederholbarkeit.« Siehe Moreno, Jacob Levy, Der Königsroman, Potsdam: Kiepenheuer 1923, zitiert nach Petzold, Hilarion/Schmidt, Ina, Psychodrama und Theater, in: Petzold, Hilarion (Hrsg.), Angewandtes Psychodrama in Therapie, Pädagogik, Theater und Wirtschaft, Paderborn: Junfermannsche Verlags-Buchhandlung 1972, S. 13-44, hier S. 14f. Im Stegreiftheater spielt auch die Urszene des Psychodramas. Moreno forderte, den Dichter Georg Kulka und die Schauspielerin Anna Höllering, auf, ihre Eheprobleme darzustellen, was offensichtlich eine befreiende Wirkung auf beide ausübte. 229

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Das Psychodrama nutzt mit dem Theater einen Spiegel, der sich selbst durch ein hohes Maß an eigener Komplexität auszeichnet. Alle hier behandelten Dimensionen von Komplexität werden darin genutzt. Das Theater ist an sich schon eine dynamische Kunstform. Deren Linearität wird durch Improvisation der Teilnehmer jedoch durchbrochen. Die strukturelle Komplexität ergibt sich aus der Vernetzung mehrerer Teilnehmer mit unterschiedlichen Funktionen und wechselnden Rollen sowie dem multimedialen Setting des Theaters. Durch die gruppendynamischen Prozesse werden emergente Phänomene genutzt, die auf das spezielle Emergenzniveau Bühne projiziert werden. Das Ziel ist es, eine möglichst hohe Ähnlichkeit zwischen Untersuchungsgegenstand und Forschungssystem herzustellen. Selbstähnlichkeit wird hier sowohl durch die Struktur der Teilnehmer als auch durch die Nachstellung der relevanten Prozesse zugelassen. Die gesuchten Daten und Informationen emergieren durch das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente. Morenos Psychodrama stellt eine Methode dar, die versucht, die Komplexität der untersuchten Systeme auf das Forschungssystem zu übertragen. Sie nimmt die Komplexität in der Hinsicht ernst, dass sie nicht ohne Not reduziert wird. Vielmehr sind gerade der Erhalt und die Induktion von Komplexität Voraussetzung für das Funktionieren der Methode. Nur durch die Etablierung eines in sich schon komplexen Kommunikationssystems ist es möglich, die Komplexität des Forschungsgegenstandes auf der Ebene der Forschung zu erhalten und beforschen zu können. Dies gelingt nur, da die Medien Drama und Bühne als integrale Bestandteile der Methode begriffen werden. Die Bezugnahme auf das Theater findet sich auch im Zusammenhang mit anderen Methoden, wenn etwa das Interview als Drama interpretiert wird: »Jedes Interview ist – neben einer Gelegenheit zur Informationssammlung – ein interpersonelles Drama mit einer sich entwickelnden Handlung.« 163 Aus dieser Perspektive erscheint das Interview als Bühne, auf der die Beteiligten unterschiedliche Rollen übernehmen können, der Interviewer aber auch als Regisseur fungiert. Diese Sichtweise impliziert ein Verständnis des Interviews, das über allgemeine Aussagen zur Sozialität der Forschungssituation hinausgeht und sie selbst als emergentes Produkt verschiedener Faktoren beschreibt. Die sich dabei entwickelnden Handlungen in Interview oder Psychodramas sind, wie es für komplexe Systeme charakteristisch ist, nicht vorhersehbar. Und genau das ist auch das Ziel des Psychodramas. Seine 163 Sola Pool, Ithiel de, A Critique of the 20th Anniversary Issue, in: Public Opinion Quarterly, Jg. 21, Nr. 1 (1957), S. 190-198, hier S. 193, zitiert nach Hermanns, Harry, Interviewen als Tätigkeit, in: Flick/von Kardorff/Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, S. 360-368, hier S. 361f. 230

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Handlung entwickelt sich, die Alternativen sind nicht vorgegeben, sondern sie ergeben sich erst in seinem Verlauf. Erwartet wird hier nur das Unerwartete.

4 Fazit Zusammengefasst gilt, dass die Komplexität der Sozialforschung darauf beruht, dass sie komplexe Kommunikationssysteme konstituiert. Zwar wird mit dieser Tatsache unterschiedlich umgegangen. Jedoch gibt es keine Sozialforschung, der es gelingen würde, die Komplexität so weit zu reduzieren, dass einfache Systeme vorliegen oder Systeme, die keine Kommunikationssysteme mehr wären. Dies gilt auch für die standardisierten Verfahren der Sozialforschung, in denen nicht vollständig auf Kommunikation verzichtet werden kann. Sie folgen lediglich einer Logik der Unterdrückung von Kommunikation. Vor diesem Hintergrund erscheinen solche Verfahren als kontraproduktiv. Wer die Komplexität der Sozialforschung reduziert, reduziert zugleich auch die mögliche Komplexität ihrer Gegenstände und wird daher nur Aussagen begrenzter Reichweite über sie machen können. Die Sozialforschung operiert dabei auf der Grundlage der Differenz zweier Komplexitäten bzw. der Komplexität zweier Systeme. Die Komplexität der Gegenstände bzw. der Umwelt wird durch die Komplexität ihrer Erforschung ersetzt. Es ist generell das Ziel von Sozialforschung, die Komplexität ihrer Gegenstände zu reduzieren, um sie zugänglich zu machen und je nach Selbstverständnis zu erklären oder zu verstehen. Diese Reduktion erzeugt jedoch ihre eigene Komplexität, der mit unterschiedlichen Strategien begegnet wird. Die Betrachtung sozialwissenschaftlicher Methoden aus komplexitätstheoretischer Perspektive zeigt, dass die Einordnung einzelner Verfahren in bestimmte Komplexitätsdimensionen an keiner Stelle einwandfrei funktioniert und untermauert die Forderung, diese Perspektive in der Analyse und Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methodologien mehr Raum zu geben. Dies bedeutet nicht, dass es sich bei dem hier angegangenen Unterfangen um eine selbsterfüllende Prophezeiung handelt. Vielmehr bestätigt es das allgemein anerkannte Theorem des Selektionszwangs. Jede Methode kann aus der einen oder anderen Perspektive beschrieben werden. Aus der einen Perspektive kann sie komplexitätsreduzierend erscheinen, und gleichzeitig aus einer anderen Perspektive komplexitätserhaltend oder -induzierend. Eine wichtige Erkenntnis daraus ist, dass dies offensichtlich kein Widerspruch sein muss. Die Sozialforschung demonstriert das in ihrer Praxis. Wenn man es doch als Widerspruch begreift, so lautet die Lehre daraus, dass entgegen gängiger Me231

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thodologien und ihren zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Grundannahmen Widerspruchsfreiheit offensichtlich ein Prinzip ist, das aus der Praxis der Sozialforschung nicht abzuleiten ist. Widersprüche werden ausgehalten. Anders ist Sozialforschung gar nicht möglich. Die Frage, die sich aus dieser Bestätigung des Selektionszwangs ergibt, lautet, wie Selektion aus ihrer Widerspruchsfreiheit generierenden Funktion, d.h. ihrer eindimensional wirkenden Fokussierung, herausgelöst werden kann. Eine vielversprechende Antwort stellt das Verfahren GABEK dar, in dem es gelingt, Selektion nicht mit Ausschluss gleichzusetzen und multiperspektivisches Denken in ein konkretes Verfahren der Sozialforschung zu implementieren. Die Identifikation von Störungen, Fehlern oder Unfällen in der Sozialforschung muss vor diesem Hintergrund neu interpretiert werden. Störungen existieren nur aus einer Perspektive, die ignoriert, dass diese Phänomene Begleiterscheinungen der konstitutiven Bedingungen des Kommunikationssystems Sozialforschung sind und in diesem System selbst produziert werden. Der Versuch, Störungen zu verhindern, kann also nur darauf hinauszulaufen, sie zu ignorieren. Allerdings zeigt die Praxis, dass die Störungen auch die entsprechend vorkalibrierten Aufzeichnungsapparaturen unterlaufen. Wenn Sozialforschung also immer das Oszillieren zwischen den verschiedenen Strategien im Umgang mit Komplexität meint, folgt daraus, dass die Bevorzugung einer bestimmten Strategie immer nur eine Annäherung sein kann. Umgekehrt bedeutet die Ablehnung des Befundes, dass die Sozialforschung nicht nur komplexe Systeme untersucht, sondern auch selbst ein solches darstellt, die Annahme simplifizierender Kommunikations- und auch Gesellschaftsmodelle. So schließt die – nur als Idealvorstellung existierende – rein quantitative Sozialforschung die Induktion von Komplexität kategorisch aus. Ihr leitendes Axiom ist die Reduzierung der Sozialforschung auf die Reduktion von Komplexität. Diese besteht in der Negation von Komplexität sowohl der Gegenstände als auch der Sozialforschung selbst. Komplexität wird auf Kompliziertheit reduziert. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen den Selbstbeschreibungen der Sozialforschung, denen zufolge Reduktion die vorherrschende Strategie ist, und den tatsächlichen Methoden, in denen oftmals Komplexität induziert wird. Um diese Diskrepanz zu überbrücken, muss die Sozialforschung zunächst anerkennen, dass sie selbst Komplexität produziert und diese nur im Zusammenhang mit den von ihr untersuchten Gegenständen zu verstehen ist. Diese Sichtweise läuft darauf hinaus, Forschungssysteme weiter zu fassen, als dies in gegenwärtigen Methodologien üblich ist. Aus komplexitätstheoretischer Sicht ist es nicht mehr 232

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möglich, Forscher lediglich als außenstehende Beobachter zu modellieren. Darüber hinaus müssen die unterschiedlichen Prozesse der Sozialforschung, die schon bei der Konstitution von Forschungssystemen beginnen, in Rechnung gestellt werden. Betrachtet man die Phase der Konstitution von Forschungssystemen, muss man davon abkommen, bereits hier zu sehr die Komplexität der untersuchten Gegenstände zu reduzieren, indem die Forschungsfragen bereits diese Komplexität ausblenden. Oder sie dürfen nur als Anhaltspunkt für die Erforschung jener Komplexität dienen. So geschieht es täglich in Beratungsprozessen, in denen sich herausstellen kann, dass die vom Auftraggeber gestellte Diagnose nicht oder nur teilweise zutreffend ist. Die Empfehlung muss also lauten, dass die Sozialforschung sich in allen Phasen die Möglichkeit offen hält, auf unerwartete Ereignisse und Erkenntnisse zu reagieren. Nur prinzipielle Offenheit und Anerkennung aller möglichen Medien verspricht, diese Komplexität erhalten und erforschen zu können. Dazu ist es notwendig, Strategien im Umgang mit solchen Ereignissen zu entwickeln. Hier bieten sich Verfahren wie die individuelle und soziale Selbstreflexion an.

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IV. S C H L Ü S S E L K O N Z E P T E D E R E M P I R I S C H E N S O Z I A L F O R S C H U N G (F A L L S T U D I E N )

Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Wissenschaftstheorie und die Methoden der Sozialforschung auf einer Makroebene untersucht wurden, werden nun darauf aufbauend ausgewählte Schlüsselkonzepte im Rahmen von Fallstudien untersucht. Die kommunikationstheoretische Perspektive dieser Arbeit wird dabei sowohl auf Konzepte angewendet, die bereits Gegenstand umfangreicher wissenschaftstheoretischer und methodologischer Reflexionen sind, als auch auf Konzepte, die bislang vornehmlich implizit als Referenz der Sozialforschung mitlaufen. Zur ersten Gruppe gehört das Thema der ersten Fallstudie, Validität und Validierung. In zahlreichen Arbeiten liegen dazu ausformulierte Konzepte und Strategien vor. Bislang nur ansatzweise belichtet erweist sich der Gegenstand der zweiten Fallstudie, die Frage nach den sozialwissenschaftlichen Daten. Dies überrascht, da sie zentraler Bezugspunkt aller empirischen Wissenschaften sind. Während Validität und Daten sowohl als theoretisch-statische Konzepte, als auch als Produkte der sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesse betrachtet werden können, werden in der letzten Fallstudie die Prozesse selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht: Zählen und Erzählen. Ihre Schlüsselstellung beziehen diese Konzepte aus ihrer fundamentalen Bedeutung hinsichtlich des Selbstverständnisses der als empirisch verstandenen Sozialforschung. Sie fungieren dabei als Scharnier zwischen der theoretischen Reflexionen und der Praxis der Sozialforschung und eignen sich daher in besonderer Weise, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu untersuchen. Diese Stellung in Kombination mit dem theoretischen Ansatz dieser Arbeit erlauben es, Kontinuitäten und 235

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Brüche innerhalb der Sozialforschung sichtbar zu machen, die nicht entlang der etablierten Demarkationslinien verlaufen, sondern diese unterlaufen und so die Sozialforschung als Ganzes in einem neuen Licht erscheinen lassen.

1 F a l l s t u d i e I : Va l i d i t ä t u n d Va l i d i e r u n g 1.1 Validität in der Sozialforschung In allen empirischen Wissenschaften gehört die Frage nach der Gültigkeit von Forschungsergebnissen zu den zentralen Kriterien für den Erfolg, die Beständigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit neuer Erkenntnisse. Validitätskonzepte sind vor allem in jenen Wissenschaften von Bedeutung, in denen eine Logik des Beweisens verfolgt wird, wie etwa in den Naturwissenschaften. Die Sozialwissenschaften sind jedoch keine Naturwissenschaften in dem Sinne, dass ihre Ergebnisse vollständig formalisierbar wären. Indem aber je nach Ansatz auch an die Naturwissenschaften angelehnte Forschungsstrategien Anwendung finden, kann von den Sozialwissenschaften – zumindest in Bezug auf ihre gegenwärtige Praxis – als Grenzwissenschaften zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gesprochen werden. In dieser Situation gewinnen Validitätskonzepte eine besondere Bedeutung. In der klassischen Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften gehört Validität neben der Objektivität, d.h. der Beobachterübereinstimmung, und der Reliabilität, d.h. der Messgenauigkeit, zu den drei Qualitätskriterien, an denen sich die Sozialforschung orientieren soll. Diese Dreiheit ist auf alternative Verfahren und Forschungsstrategien jedoch nicht ohne weiteres übertragbar. Deshalb erscheint Validität mittlerweile nicht mehr als feststehendes Konzept, sondern beschreibt vielmehr eine ganze Reihe von Vorstellungen, wie die Gültigkeit von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen gesichert werden kann. Beispielsweise wird unterschieden zwischen interner und externer Validität, zwischen Inhalts- und Konstruktvalidität, bei der noch einmal zwischen konvergenter und diskriminanter Validität unterschieden wird. Ferner begegnen einem face validity und expert validity, die Kriteriumsvalidität, Übereinstimmungsvalidität und prognostische Validität. Neben Validität als Kriterium findet man auch die Strategien der Validierung: ökologische Validierung, argumentative Validierung, kommunikative Validierung, kumulative Validierung oder die Validierung an der Praxis. Diese unvollständige Aufzählung zeigt bereits, dass unter Validität in den verschiedenen Spielarten der Sozialforschung unterschiedliche Dinge verstanden werden. Bei 236

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näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass die verschiedenen Konzeptionen Gegenstand von bzw. Indikator für die Diskurse über die Deutungshoheit in den Sozialwissenschaften sind. Die Frage nach der Validität hat dabei eine so zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften, dass ›Gültigkeit‹ sich unabhängig von den einzelnen Vorstellungen dieses Konzepts auf die Ergebnisse und damit auf die Rolle und Positionen der Sozialwissenschaften unter den Wissenschaften insgesamt und in der Gesellschaft bezieht. Die Fallstudie geht der Frage nach, in welchem Spannungsfeld sich die gebräuchlichen Konzepte von Validität bewegen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie die einzelnen Positionen begründet werden, sondern auch um die Frage nach verwandten Konzepten, nach historischen Implikationen der Diskussion sowie um die Praktiken der Validierung von Sozialforschung. Angesichts der unterschiedlichen und teils widerstreitenden Auffassungen von Validität erlaubt es die kommunikations- und medientheoretischen Betrachtungsweise, diese Auffassungen zueinander in Beziehung zu setzen. Diese Perspektive stellt die Diskussion von Validitätskonzepten um von der ontologischen Frage nach dem Wesen dieser Konzepte auf die methodologische Frage nach den Prozessen der Generierung von Validität in der Sozialforschung. Dabei stellt sich heraus, dass Validität abhängig ist von den medialen und kommunikativen Grundannahmen, die in unterschiedlichen Forschungsdesigns zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus muss Abstand genommen werden von der Vorstellung, dass ›Validität‹ sich auf zugeschriebene Eigenschaften wie die Exaktheit oder die Härte der Sozialforschung bezieht. Stattdessen bietet es sich an, im Zusammenhang mit der Validität von Sozialforschung deren Glaubwürdigkeit zu untersuchen. Aus dieser Perspektive geht es um die Frage, welchen Methoden, Daten und Akteuren im Forschungsprozess Glaubwürdigkeit zuerkannt wird und welche Kriterien dafür angelegt werden, dass die Ergebnisse schließlich als valide anerkannt werden können.

1.2 Basisdefinitionen Bereits der Vergleich gebräuchlicher Definitionen von Validität ergibt widersprüchliche Ergebnisse. In einem erfolgreichen Lehrbuch »Methoden der empirischen Sozialforschung« definieren die Autoren Validität für die quantitative Sozialforschung folgendermaßen:

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»Unter »Validität« (Gültigkeit) eines Messinstruments versteht man das Ausmaß, in dem das Messinstrument tatsächlich das misst, was es messen sollte.« 1

Mit dieser Aussage ist die Entscheidung verbunden, dass Gültigkeit sich auf messende Verfahren in der empirischen Sozialforschung bezieht. Validität ist aus dieser Perspektive lediglich ein Merkmal der am messtechnisch-naturwissenschaftlichen Paradigma orientierten quantitativen Sozialforschung. Entgegen dieser Exklusionsstrategie beanspruchen aber auch diejenigen Sozialforscher, die sich am interpretativ-hermeneutischen Paradigma orientieren, für ihre Forschung das Gütesiegel Validität. Im »Handbuch Qualitative Sozialforschung« wird deshalb ein erweitertes Verständnis von Validität vorgeschlagen. Dort heißt es: »Validität erstreckt sich auf ein Verfahren, das erforscht, was mit ihm erforscht werden soll und zwar »in dem Ausmaß, in dem unsere Beobachtungen die uns interessierenden Phänomene oder Variablen tatsächlich wiedergeben.«« 2

Prinzipiell zielt auch diese Definition auf die Frage ab, ob ein Verfahren dem Gegenstand angemessen ist. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Validität nicht mehr als immanente Eigenschaft eines Verfahrens begriffen wird, sondern mit dem Begriff eine Strategie bzw. ein Prozess verbunden wird. Dieser Prozess wird als Beobachtung zweiter Ordnung bzw. als Selbstreflexion der Sozialforschung beschrieben. Der Unterschied in den Sichtweisen darauf, was der Begriff Validität beschreiben soll, liegt darüber hinaus in den unterschiedlichen Wahrheitskriterien, die angelegt werden. Die quantitative Sozialforschung beruft sich vornehmlich auf das Kriterium der Korrespondenz, also auf die Frage, ob eine Übereinstimmung zwischen einer Behauptung und einer objektiven Welt vorliegt. Das qualitative Verständnis von Validität dagegen verzichtet auf das korrespondenztheoretische Wahrheitskriterium und betont stattdessen stärker die Aspekte Kohärenz und pragmatischen Nutzen. Dies bedeutet, dass es den Vertretern dieser Richtung eher auf die Konsistenz und die innere Logik ankommt sowie dass die Aussagen anhand ihres praktischen Nutzens bewertet werden sollen. 1 2

Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke, Methoden der empirischen Sozialforschung, München/Wien: R. Oldenbourg 2005, S. 154. Kvale, Steinar, Validierung: Von der Beobachtung zu Kommunikation und Handeln, in: Flick, Uwe/von Karrdorf, Ernst/Keupp, Heiner/von Rosenstiel, Lutz/Wolff, Stephan (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, Weinheim: Beltz. Psychologie Verlags Union 1991, S. 427-431, hier S. 427f. Der zweite Teil der Definition ist ein Zitat aus Pervin, Lawrence A., Persönlichkeitstheorien, München: Ernst Reinhardt 1987, S. 64.

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Definitionen von Validität, die einen neutralen Standpunkt einnehmen, sind angesichts der eindeutigen Zuordnung der meisten Lehrbücher zu einer bestimmten Tradition der Sozialforschung selten. Nicht von ungefähr findet sich eine solche in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Einträge hier sind – zumindest bei umstrittenen Sachverhalten – immer als Kompromiss unterschiedlicher Interessen und Perspektiven zu betrachten. Validität wurde hier zu einem bestimmten Zeitpunkt folgendermaßen definiert: »Mit Validität (von lat. validus: stark, wirksam, gesund) wird in erster Linie das argumentative Gewicht einer wissenschaftlichen Feststellung bzw. Aussage, Untersuchung, Theorie oder Prämisse bezeichnet. Sie gilt vor allem für empirische Untersuchungen als Inbegriff des Vorhandenseins exakter methodisch-logischer Qualitätskriterien und wird [...] als Maßstab für die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Feststellung verstanden. [...] Im Gegensatz zur grundsätzlichen Falsifizierbarkeit (Widerlegbarkeit) und Verifizierbarkeit (Belegbarkeit) einer wissenschaftlichen Aussage als solche wird hiermit also ein Gütekriterium für die Belastbarkeit einer bestimmten Aussage beschrieben.« 3

Validität wird in dieser Definition als ein relativer Begriff beschrieben. Die Relativität bezieht sich auf den Prozess der Validierung. Entscheidend für unsere Fragestellung sind die Begriffe »Belastbarkeit« und »argumentatives Gewicht«. Validität wird demnach als Kriterium definiert, das sich im Anschluss an die Forschung in der kommunikativen Auseinandersetzung über die Ergebnisse erweisen muss. Festzuhalten bleibt, dass sich die Definitionen von Validität zwar graduell hinsichtlich des damit verbundenen Anspruchs unterscheiden, am Begriff selbst jedoch festgehalten wird. Es gibt jedoch innerhalb der qualitativen Sozialforschung Absetzbewegungen, die entweder das Ziel verfolgen, die klassischen Qualitätskriterien durch eigene zu ersetzen, 3

Vgl. Eintrag »Validität« in der Wikipedia, Version vom 9.12.2007, verfügbar unter http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Validität&oldid=3986 4579. Aus Wikipedia zu zitieren, ist im Allgemeinen problematisch. An dieser Stelle wird es jedoch aus zwei Gründen als gerechtfertigt betrachtet. Zum einen können Einträge hier als Kompromissformeln betrachtet werden. Zum anderen ist die zitierte Definition über einen relativ langen Zeitraum stabil geblieben (laut Versionsgeschichte des Artikels seit 24.11.2003). Entscheidend jedoch ist, dass der kollektive Entstehungsprozess von Wikipedia-Einträgen selbst als Prozess der Validierung verstanden werden kann (siehe dazu den Abschnitt Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem in diesem Kapitel). Allerdings ist auch in solchen Prozessen nicht ausgeschlossen, dass Unsinn produziert wird. Man beachte die tautologische Formulierung »[Validität] gilt als Inbegriff des Vorhandenseins exakter methodisch-logischer Qualitätskriterien«. 239

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oder sie ganz ablehnen. So wurde bspw. als Alternative zu ›Validität‹ der Begriff »Fidelität« vorgeschlagen. Damit ist gemeint, dass die Güte von Daten in Bezug auf ein zu lösendes Problem beurteilt werden soll, statt in Bezug auf ein »ungeklärtes Modell innerer, logischer Konsistenz« 4 . Damit erfährt die Auslegung des Begriffes eine Ausrichtung auf den pragmatischen Nutzen sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag von Ines Steinke, die Güte qualitativer Sozialforschung anhand einer Reihe von »Kernkriterien« zu beurteilen. Dazu zählt sie die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die Indikation der Methodenwahl, die empirische Verankerung der Theoriebildung, Limitation im Sinne einer Überprüfung der Grenzen des Geltungsbereichs sowie Kohärenz, Relevanz und reflektierte Subjektivität. 5 Anhand dieser Aufzählung wird bereits deutlich, dass das Konzept der Validität in verschiedene Aspekte diffundiert. Indikation, empirische Verankerung und reflektierte Subjektivität beziehen sich auf den Forschungsprozess, während Kohärenz und Relevanz sich auf die Ergebnisse beziehen. Die einzelnen Kriterien erfordern dabei unterschiedliche Strategien der Bewertung. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation oder Relevanz erfordern tendenziell einen kollektiven kommunikativen Prozess zur Bestimmung ihrer Erfüllung, während die Prüfung der Kohärenz auch als individuelle Leistung möglich ist. Schließlich ist die Forderung nach Kriterien wie Kohärenz und Relevanz ebenso normativ wie die nach Objektivität. Auch wenn Steinkes Kriterienkatalog eine Reihe von Aspekten enthält, die gewöhnlich nicht zum Spektrum der Selbstreflexion der Sozialforschung gehören, bleibt unklar, ob und in welchem Verhältnis die einzelnen Kriterien zueinander stehen. Als Minderheitenposition wird eine generelle Ablehnung von Qualitätskriterien vertreten. Sie wird im Wesentlichen damit begründet, dass es unmöglich sei, diese Kriterien auf ein feststehendes Bezugssystem zu beziehen. Aus der Perspektive des Sozialkonstruktivismus etwa würde mit dem Anlegen fester Standards eben jene sozialkonstruktivistische

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Bogumil, Jörg/Immerfall, Stefan, Wahrnehmungsweisen empirischer Sozialforschung. Zum (Selbst-)Verständnis des sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, Frankfurt am Main/New York: Campus 1985, S. 71. Dieser Vorschlag steht in Zusammenhang mit einer allgemeinen Abkehr von den traditionellen Gütekriterien der Sozialforschung zugunsten pragmatischer Konzepte. So fordern die Autoren auch, ›Objektivität‹ durch ›Transparenz‹ zu ersetzen, ›Reliabilität‹ durch ›Stimmigkeit‹ sowie ›Intersubjektivität‹ durch ›Diskurs‹. Vgl. ebd. Vgl. Steinke, Ines, Kriterien qualitativer Forschung. Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer Sozialforschung, Weinheim: Juventa 1999, S. 205-248.

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Grundposition verlassen. 6 Die Ablehnung wird also wissenschaftstheoretisch begründet. Auf Seiten der Befürworter, die für ein Festhalten an möglichst standardisierten Qualitätskriterien eintreten, finden sich vollkommen andere Argumente. Jo Reichertz sieht die Notwendigkeit dazu u.a. in den knapper werdenden Ressourcen der Forschung. Die Kanonisierung von Gütekriterien und Forschungsstandards in der qualitativen Sozialforschung skizziert er als unbedingte Voraussetzung, um im Wettbewerb um die Finanzierung der Forschung auf Dauer erfolgreich sein zu können. 7 Im Mittelpunkt des letzten Beispiels, das nicht den Sozialwissenschaften entstammt, sondern als erweiterter Referenzhorizont dienen soll, steht ebenfalls der pragmatische Nutzen von Forschungsergebnissen. In der Medizin, in bestimmten Bereichen gewissermaßen eine Nachbardisziplin der Sozialwissenschaften, wird statt ›Validität‹ auf den Begriff der Evidenz (nach lat. evidentia = Ersichtlichkeit bzw. engl. evidence = Beweis, Indiz) zurückgegriffen. Die sogenannte evidenzbasierte Medizin bezieht sich in ihrer Anwendung auf Informationen aus klinischen Studien, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen. Der Begriff der Evidenz stellt einen primär relationalen Begriff dar, auch wenn er bisweilen mit »Beweis« übersetzt wird. Diese Feststellung leitet sich aus der Tatsache ab, dass es innerhalb der evidenzbasierten Medizin eine sogenannte Evidenzhierarchie gibt. Dieser Hierarchie zufolge lässt sich die externe Evidenz bestimmter Verfahren nach verschiedenen Validitätskriterien ordnen. Diese Skala reicht von »wenigstens ein systematischer Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter, randomisierter Studien« über »wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung« bis hin zu höchsten Stufe »Berichte/Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten«. 8 Gerade diese höchste Stufe deutet darauf hin, dass Evidenz in hohem Maße abhängig ist von einer kommunikativen Aushandlung und Bewertung von Forschungsergebnissen. Evidenz hat 6

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Vgl. Steinke, Ines, Gütekriterien qualitativer Forschung, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 319-331, hier S. 321. Vgl. Reichertz, Jo, Zur Gültigkeit von Qualitativer Sozialforschung [76 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 1, Nr. 2 (2000), insbesondere Absätze 61-76, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0002324. Es ist allerdings klar, dass eine Wissenschaft, deren Wissenschaftstheorie sich nicht mehr auch aus den Notwendigkeiten der Wissenschaft speist, am Ende ist. Vgl. Kunz, Regina, u.a. (Hrsg.), Lehrbuch evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2001, S. 91. 241

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also von vornherein eine doppelte Bedeutung. Zum einen ist sie eine Eigenschaft von naturwissenschaftlichen bzw. klinischen Forschungsergebnissen, zum anderen aber auch Resultat kommunikativer Prozesse. Es zeigt sich, dass die Konstitution und Postulierung von Validität auf der Ebene der Definition zwischen den Polen Eigenschaft oder Produkt eines Prozesses angesiedelt wird. Unterschiede bestehen hinsichtlich des zeitlichen Charakters des Konzepts. In der messenden Sozialforschung ist Validität ein statisches Konzept, während es in den anderen Auffassungen vielmehr als Prozess vorgestellt wird, in dem Validität erst erzeugt wird. Der Bezug zu den Medien, durch die Validität erzeugt wird, wird besonders deutlich im Beispiel der Medizin. Evidenz wird hier im Wesentlichen durch Verfahren und Expertentum erzeugt.

1.3 Der Positivismusstreit und die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konzepten besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der deutschen Sozialwissenschaften. Der im Vorfeld der in den 1970er Jahren aufkommenden Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung abgelaufene Positivismusstreit wirkte sich lange Zeit konstitutiv für das Selbstverständnis der Sozialforschung aus. Auch wenn seit den 1980er Jahren verstärkt vermittelnde Positionen vertreten werden, orientiert sich die Methodendiskussion noch immer an jener vereinfachenden, aber dennoch paradigmatisch wirkenden Unterscheidung qualitativ – quantitativ. In Anknüpfung an den ersten Werturteilsfreiheitsstreit ging es um die Wertfreiheit der Wissenschaft, das Verhältnis vom Empirie und Theorie, um die politische Verantwortung des Wissenschaftlers, um die Möglichkeit, einzelne Daten und Fakten aus der »gesellschaftlichen Totalität« zu isolieren und um das Verhältnis des Wissenschaftlers zu Forschungsziel, -prozess, -methode und -resultat. Karl Popper und Hans Albert als Vertreter des kritischen Rationalismus vertraten die Ansicht, dass jede Theorie zu empirisch operationalisierten Aussagen kommen müsse, die mit standardisierten und jederzeit wiederholbaren Verfahren überprüft werden können. 9 Nur unter diesen Umständen sei eine Theorie wissenschaftlich. Dagegen waren Theodor Adorno und Jürgen Habermas als Vertreter der Frankfurter Schule der Meinung, dass dieses Ideal nicht nur angesichts der »gesellschaftlichen Totalität«, innerhalb derer und auf 9

Zum kritischen Rationalismus siehe auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen.

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die sich beziehend die Sozialforschung stattfinde, unmöglich sei. Eine bloße Erhebung der faktischen Realität als Prüfinstanz von Theorien verkenne diese Tatsache. Deswegen sei es notwendig, über jene standardisierten Verfahren hinaus – die die Vertreter der Frankfurter Schule nicht generell ablehnten – sich auch in qualitativer Weise dem Einzelfall zuwenden. Wissenschaft müsse das Bestehende transzendieren und kritisch in Frage stellen. 10 Ungeachtet des ideologischen Gehalts dieser Debatte lässt sich ihr Kern reformulieren als Frage nach dem Umgang mit der Selbstähnlichkeit in der Sozialforschung. 11 Dann reduziert sich die Auseinandersetzung auf die Zugangsweisen der Sozialforschung zu ihren Gegenständen und der Zulässigkeit, daraus verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zu ziehen. Aus dem Blickfeld geraten so die Fragen nach dem Gegenstand, dem Ausgangspunkt und dem Ziel von Sozialforschung. Stattdessen rücken dann die medialen und kommunikativen Bedingungen und Voraussetzungen der Sozialforschung in den Vordergrund bzw. das Verhältnis der Methoden, der mit ihrer Hilfe produzierten Daten und der auf deren Grundlage formulierten Ergebnisse zu den untersuchten Gegenständen. Aus einer distanzierten Perspektive dreht sich diese Auseinandersetzung folglich um die Frage des Geltungsanspruches und der Geltungsbegründung von Sozialforschung, oder kurz um ihre Validität. Die Reichweite des Positivismusstreits ist daher nicht zu unterschätzen, geht es doch um das große Ganze und nicht nur um die daraus abgeleiteten Methodendebatten der folgenden Jahrzehnte. Diese Debatten waren allerdings in der Folge des Positivismusstreits der Ort der Ausbuchstabierung der unterschiedlichen Sichtweisen. Unter den Labels qualitative und quantitative Sozialforschung wurden Forschungsstrategien separiert und institutionalisiert, die zuvor nicht als gegensätzlich betrachtet wurden.12 Aufgrund dieser Aufspaltung wurde es möglich, Konzepte von Validität nun auch unabhängig voneinander zu

10 Zum Positivismusstreit siehe die klassische Aufsatzsammlung Adorno, Theodor Wiesengrund (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt: Luchterhand 1989. 11 Zur Selbstähnlichkeit siehe den Abschnitt Selbstähnlichkeit und Emergenz – die ontologische Dimension in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 12 Das bekannteste historische Beispiel für das Zusammenspiel der verschiedenen Ansätze ist die von beiden Lagern gerne zitierte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal. Aber auch im Werk von Jakob Levy Moreno findet sich mit Soziometrie und Psychodrama die Kombination beider Strategien. Zu den Selbstbeschreibungen der Sozialforschung siehe auch den Abschnitt Die Labels der Sozialwissenschaften in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 243

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formulieren und methodologisch in unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses zu verorten. Die quantitative Sozialwissenschaft greift auf möglichst standardisierte oder standardisierbare Instrumente zurück. Dies hängt mit dem Ziel zusammen, nach Möglichkeit annähernd nomothetische Aussagen zu gewinnen. Die qualitative Sozialforschung verwendet dagegen Methoden, die individuell eingesetzt werden und in der Regel nicht beliebig wiederholbar sind. Beide Ansätze stehen für jeweils unterschiedliche Grundannahmen über den Charakter empirischer Sozialforschung und den darin wirksam werdenden Kommunikationsmodellen. Quantitative Sozialforschung orientiert sich am naturwissenschaftlich-nomologischen Paradigma des Messens. Diese grundsätzliche Entscheidung beinhaltet, dass nur einzelne Merkmale oder Variablen gemessen werden können.13 Dies setzt bereits bei der Operationalisierung der Forschungsfrage die Reduktion der sozialen Komplexität auf ein Minimum voraus. Die Dynamik der sozialen Tatsachen wird so weit reduziert, bis am Ende die beforschten Individuen oder Gruppen als Merkmalsträger isoliert werden können. Diese Komplexitätsreduktion ist wie in den Naturwissenschaften die Voraussetzung für die Durchführung von Messungen. Eine weitere Bedingung für die Durchführung von Messungen, die zu zuverlässigen Ergebnissen führen sollen, ist das Ausschließen von Störquellen. Die Reaktivitätsforschung beschreibt eine ganze Reihe von möglichen unerwünschten Effekten.14 Die Unmöglichkeit ihres vollständigen Ausschlusses widerspricht jedoch dem Ideal des naturwissenschaftlichen Messens. Die soziale und kommunikative Realität der Datenerhebung bedeutet selbst schon wieder eine solche Komplexität, die trotz gewissenhafter Vorbereitung nur schwer zu kontrollieren und mitunter unberechenbar ist. Diese Komplexität des Kommunikationssystems Sozialforschung ist auf der anderen Seite Voraussetzung vieler Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Beiden Ansätzen gemeinsam ist die zentrale Bedeutung von Interviews bzw. Befragungen in den jeweiligen Methodenrepertoires. Der Unterschied zwischen standardisierten und offenen Formen des Interviews besteht nicht nur in den darin bevorzugten Kommunikationsformen, sondern auch in den Aufgaben und dem Arbeitsaufwand, die sie im Forschungsprozess generieren. Offene Verfahren verlagern einen erheb13 Siehe dazu auch den Abschnitt Messen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 14 Zu den unerwünschten Störungen in der Sozialforschung und der Unmöglichkeit ihres vollständigen Ausschlusses siehe auch den Abschnitt Störungen als unerwünschte Effekte in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 244

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lichen Teil des Aufgabenspektrums der Forscher in die Phasen des Forschungsprozesses, die der Datenerhebung folgen. Dies beginnt bei der Aufbereitung und der Dokumentation der gewonnen Informationen, die verarbeitet und zu den auszuwertenden Daten transformiert werden. 15 Die anschließende Auswertung stellt einen weiteren Verarbeitungsschritt dar. Beide Phasen folgen dabei spezifischen Programmen, die gegebenenfalls erst parallel entwickelt werden.16 Bei quantitativen Verfahren ist der Forschungsprozess umgekehrt gewichtet. Während die Auswertung der Daten nach feststehenden Programmen, d.h. aufgrund der Regeln der Statistik erfolgt, liegt hier das besondere Augenmerk auf der Gestaltung der Erhebungsinstrumente. So standardisiert diese Methoden auch erscheinen mögen, liegt die besondere Herausforderung und Schwierigkeit in der Konstruktion der Messinstrumente, in der Regel von Fragebögen. Entscheidend ist hier die Operationalisierung der Forschungsfrage, die schließlich einen wesentlichen Anteil an der Validität der Ergebnisse hat. Diese Arbeitsschritte sind folglich als Kernaufgabe im Forschungsprozess zu betrachten. Hier findet der eigentliche Kommunikationsprozess statt, der durch Phasen der Rückkopplung gekennzeichnet ist. 17 Nach erfolgreichem Abschluss dieser Phase kann dann das Messinstrument im industriellen Maßstab eingesetzt werden. Kommunikationstheoretisch entspricht diesem großflächigen Einsatz das Kommunikationsmodell der interaktionsarmen Massenkommunikation. Beide Forschungsstrategien sind zu ihrer Umsetzung auf spezifische technische Medien angewiesen. Die quantitative Sozialforschung stützt sich dabei im Wesentlichen auf Fragebogen und rechnergestützte statistische Auswertung. Diese werden in erster Linie zur Aufzeichnung und Verarbeitung von Informationen genutzt und funktionieren idealerweise autonom von den Forschern. In der qualitativen Sozialforschung sind 15 So hat etwa die Entscheidung für bestimmte Dokumentationsverfahren, wie z.B. die Notation bei der Transkription von Interviews, qualitative Auswirkungen auf den später auszuwertenden Datenkorpus und damit auch auf die Auswertung. Siehe dazu auch die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 16 Dies gilt insbesondere für die sogenannten heuristischen Verfahren wie z.B. die Grounded Theory. Erste Erkenntnisse bzw. gewonnene Hypothesen dienen dann als Orientierungsmuster bzw. Programme im weiteren Verlauf der Auswertung. Siehe dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 17 Als Prozess der Rückkopplung ist das Testen des Erhebungsinstruments zu verstehen. Dieses wird probeweise eingesetzt und die damit erzielten Ergebnisse fließen dann wiederum in die Gestaltung des Instrumentes ein. Kommunikation findet dabei vor allem unter den Forschern statt. Das Testen der Messinstrumente erfolgt dagegen entsprechend dem bevorzugten Kommunikationsmodus in der Datenerhebung möglichst unkommunikativ. 245

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dynamische Speichermedien zentral. Paradigmatisch dafür ist das Tonbandgerät zur Aufzeichnung von Interviews. Diese technischen Medien funktionieren allerdings nicht als quasi-autonome Registrierungsapparaturen, sondern erfüllen vielmehr eine unterstützende und entlastende Funktion im kommunikativen Prozess der Forschung. Sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Sozialforschung sind technische Medien also konstitutives Moment im Forschungsprozess. 18 Der Unterschied der Anwendung solcher Medien besteht jedoch in den der Sozialforschung zugrundeliegenden Kommunikationsmodellen. Während die qualitative Sozialforschung den Prozess der Datenerhebung explizit als Kommunikationsprozess auffasst, unterdrückt die quantitative Forschung diese Tatsache weitestgehend. Zusammengefasst besteht der Kern der Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden nicht wie im Positivismusstreit behauptet in ihrem ideologischen Gehalt. Der Kern der Unterscheidung ist vielmehr die zugeschriebene Belastbarkeit der Verfahren und Ergebnisse der Sozialforschung sowie ihre Begründungen. Die Begründung der Belastbarkeit stützt sich auf jeweils unterschiedliche Kommunikationssysteme, die in der Sozialforschung gebildet werden. Diese Systeme dienen dazu, Zugang der Sozialforschung zu den von ihr untersuchten Gegenständen und damit Korrespondenzen bzw. Spiegelungen zwischen psychischen, sozialen und technischen Systemen herzustellen. Die Art der Korrespondenzen und das jeweilige Verständnis von Validität bestimmen sich dabei gegenseitig. Da die mediale Verfasstheit der Kommunikationssysteme jedoch unterschiedliche Korrespondenzen und Spiegelungen produziert, sind unterschiedliche Strategien der Validierung erforderlich, die in unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses ansetzen. Jenseits der an die Verfahren gebundenen Kriterien zur Bestimmung der Validität von Sozialforschung ist im Hintergrund die Frage virulent, worauf sich die Validität der Ergebnisse oder Verfahren beziehen soll. In den im Positivismusstreit vertretenen Positionen bezieht sich Validität 18 Insofern ist die rasche Adaption neuer technischer Medien unschwer nachzuvollziehen. Allerdings muss immer die Frage gestellt werden, zu welchem Zweck diese Adaption erfolgt oder unter welchen Prämissen. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem Einsatz neuer Medien auf der Grundlage der Programme schon vorhandener Medien oder ob sich dadurch qualitativ neue Einsatzmöglichkeiten und Strategien der Sozialforschung ergeben. So folgen der Einsatz von Computern zur Unterstützung der statistischen Datenauswertung oder der Einsatz von Onlinefragebögen einer Logik der Akkumulation: ›Mehr vom Gleichen‹. Dagegen haben der Einsatz von Tonband- und Videogeräten neue Untersuchungsgegenstände und strategien ermöglicht, wie etwa die Mikroanalyse nonverbalen Verhaltens. Hier folgt die Adaption neuer Medien einer Logik der Erweiterung. 246

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auf zwei unterschiedliche Bereiche. Der kritische Rationalismus begrenzt seinen Geltungsanspruch auf die Wissenschaft selbst. Wie im Fall seines Kerngedankens, dem Deduktionismus, 19 bezieht sich Validität auf innerwissenschaftliche Kriterien. Hier steht vor allem die logische Konsistenz von Aussagen im Vordergrund. Die von der Frankfurter Schule als Referenzhorizont angegebene »gesellschaftliche Totalität« dagegen verwirft die strenge Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Stattdessen schwingt hier eine grundsätzlich interventionistische Grundhaltung mit, die zumindest prinzipiell als Kriterium für die Validität von Sozialforschung dient.

1.4 Validierungsstrategien Die zur Herstellung von Validität notwendigen Strategien der Validierung setzen je nach Konzept an unterschiedlichen Punkten im Forschungsprozess an. In der quantitativen Sozialforschung erfolgt die Validierung der Messinstrumente im Vorfeld der eigentlichen Datenerhebung. In der Operationalisierung findet die eigentliche Forschertätigkeit statt. Im Sinne des naturwissenschaftlich-messtechnischen Paradigmas geht es hier um die richtige Kalibrierung der Messinstrumente, damit diese auch messen, was sie messen sollen. Validierung und Validität beziehen sich auf die Datengewinnung und nicht auf ihre Auswertung, die in der Regel durch statistische Verfahren erfolgt. Hier setzen die Validierungsstrategien der qualitativen Sozialforschung an. Diese beziehen sich sowohl auf die Datenauswertung als auch auf die Ergebnisse selbst. Auch die spezialisierten Validitätskonzepte face validity, expert validity und predictive validity beziehen sich auf die Messinstrumente. Allerdings beziehen diese Konzepte auch nicht messbare Faktoren mit ein. Face validity meint die durch Augenschein feststellbare Validität eines Messinstruments, oder einfacher ausgedrückt, die subjektive Plausibilität, ob das Messinstrument misst, was es messen soll. 20 Graduell, aber nicht prinzipiell anders funktioniert die expert validity. Dabei wird das Verfahren oder das Messinstrument Experten zur Begutachtung vorgelegt, die dann aufgrund ihrer wissenschaftlichen Erfahrung die Gültigkeit des Messverfahrens überprüfen. 21 In diesen Fällen wird Validität, noch dazu die eines Messinstrumentes, auf Augenschein und Erfahrung 19 Siehe dazu auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 20 Vgl. Lamnek, Siegfried, Qualitative Sozialforschung. Band 1 Methodologie, Weinheim: Psychologie Verlags Union 1995, S. 160. 21 Ebd. 247

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gegründet. Medium des Erkenntnisgewinns sind hier solitäre Beobachtungen, die sich auf die Verarbeitungsprogramme ›gesunder Menschenverstand‹ und Expertenwissen beziehen. Prinzipiell ist nicht ausgeschlossen, dass es sich um kommunikative Strategien der Validierung handelt, da unklar ist, ob die Validierung von den Forschern selbst vorgenommen wird. Der Unterschied liegt in den zugrundeliegenden Kommunikationsmodellen. Während die expert validity durch die Bezugnahme auf wissenschaftliche Autoritäten ein hierarchisches Verhältnis beschreibt, kann Validierung im Sinne der face validity tendenziell als hierarchielos verstanden werden. 22 Anders verhält es sich bei der predictive validity. Auf der Basis ermittelter Messergebnisse wird ein bestimmtes Verhalten prognostiziert. Validierung erfolgt in diesem Konzept als doppelter Rückkopplungsprozess. Die gewöhnliche Kalibrierung von Messinstrumenten erfolgt durch die Durchführung von Pretests, also durch Probeläufe der Messinstrumente. 23 Deren Ergebnisse können anschließend wiederum in die Verfeinerung der Messinstrumente einfließen. Es handelt sich folglich um einen Rückkopplungsprozess im Vorfeld der eigentlichen Datenerhebung. Predicitve validity bezieht ihre Relevanz dagegen aus den abschließenden Ergebnissen, die dann zur Vorhersage von Ereignissen, Verhalten oder Ähnlichem genutzt werden. Prinzipiell gilt, dass bei Eintreten eines aufgrund von Messergebnissen vorhergesagten Verhaltens das Messinstrument valide Ergebnisse geliefert hat. Problematisch dabei ist allerdings, dass nicht jede ermittelte Einstellung auch ein entsprechendes Verhalten nach sich ziehen muss (bspw. muss Antisemitismus nicht manifest werden) und dass Prophezeiungen sich auch selbst erfüllen können. Derartig verstandene Validität ist komplexer als die einfache Überprüfung von Messinstrumenten, indem sie sich auf die zeitlichdynamische Dimension der untersuchten Phänomene bezieht. Das von der Sozialforschung unabhängige Phänomen wird so zum Gradmesser der Forschung. Validierung erfolgt also durch die Rückkopplung der sozialen Realität an die Verfahren der Sozialforschung. Konstrukt-Validität ist in der quantitativen Sozialforschung schließlich gegeben, wenn aus den Ergebnissen Hypothesen abgeleitet werden können, die wiederum mit Hilfe neuer empirischer Tests überprüft werden können. Dieses Konzept ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen ist es eines der wenigen wissenschaftstheoretischen Konzepte der am kritischen Rationalismus orientierten Sozialforschung, das sich auf

22 Tendenziell deshalb, da hier auch auf Laienwissen rekurriert werden kann. 23 Auch Kodierbücher oder Experimente können Pretests unterzogen werden. 248

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die Generierung von Hypothesen bezieht. 24 Zum anderen modelliert es Sozialforschung im Ganzen als rekursives System. Die Validität des gesamten Systems ist dann gegeben, wenn es sich selbst am Laufen hält. Die Validierungsstrategien der qualitativen Sozialforschung beziehen sich auf die Methoden der Datenerhebung und -auswertung sowie auf die damit erzielten Ergebnisse. Auf der Ebene der Methoden ist die Triangulation ein Verfahren, durch die Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven Validität herzustellen. Triangulation meint die Kombination mehrerer Methoden, Datenquellen oder Theorien.25 Das Ziel ist die Erhöhung der Aussagekraft von Ergebnissen durch den Vergleich möglicher Abweichungen zwischen den Ergebnissen der einzelnen Methoden. Ungeklärt ist aber das Verhältnis, in das die verschiedenen Perspektiven gesetzt werden, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die jeweiligen Methoden ihren Gegenstand erst konstituieren. Weitere Validierungsstrategien sind Verfahren, die Validität durch Rückkopplung von Ergebnissen an die Beforschten zu erreichen suchen wie die ökologische und die kommunikative Validierung. Ökologische Validität meint die Gültigkeit der Ergebnisse im natürlichen Lebensraum der Beforschten. Ökologische Validierung als dazugehörige Strategie bezieht sich sowohl auf die Datenerhebung als auch auf deren Auswertung und die Überprüfung der Ergebnisse. Die Datenerhebung soll in spezifischen Lebensräumen stattfinden, an die die Erhebungsinstrumente angepasst werden. Die unter Einbezug dieses Kontextes gewonnenen Ergebnisse sind anschließend wiederum im natürlichen Lebensraum der Beforschten zu überprüfen. Dahinter steht die Überzeugung, dass gültige Ergebnisse nur dort erzielt werden können und diesem Sachverhalt auch bei der Methodenwahl und Interpretation der Daten Rechnung getragen werden muss. 26 Anstelle eines isolierenden Vorgehens sollen die Um24 Poppers Deduktionismus lässt diese Frage offen. Vgl. den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 25 Vgl. Flick, Uwe, Triangulation. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. Das Konzept selbst geht auf Norman Kent Denzin zurück. Vgl. ders., The Research Act. A Theoretical Introduction to Sociological Methods, Chicago: Aldine 1970. Siehe dazu auch den Abschnitt Triangulation in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 26 Vgl. Mühlfeld, Claus/Windolf, Paul/Lampert, Norbert/Krüger, Heidi, Auswertungsprobleme offener Interviews, in: Soziale Welt, Jg. 32, Nr. 3 (1981), S. 325-352, insbesondere S. 346f. Daneben existiert auch eine abstraktere Vorstellung von ökologischer Validität: »Ökologische Validität oder Gültigkeit bezeichnet das Ausmaß, in dem die von den Versuchspersonen einer wissenschaftlichen Untersuchung erlebte Umwelt die Eigenschaften hat, die der Forscher voraussetzt.« Siehe Bronfenbrenner, Urie, 249

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weltbedingungen der Beforschten in die Analyse einfließen. Validität orientiert sich hier an einem von Untersuchungsgegenstand bestimmten Referenzraum, der Datenerhebung und -auswertung bestimmen soll. Sie wird erreicht, indem die Instrumente und Modelle/Ergebnisse für Forscher wie Beforschte im Hinblick auf den untersuchten Lebensraum konsistent sind. Die kommunikative Validierung meint die erneute Befragung oder das Gespräch mit den Beforschten nach Abschluss der Datenauswertung. 27 Dahinter steht die Überzeugung, Erkenntnis nicht als Interaktion mit einer nichtmenschlichen Wirklichkeit, sondern als Dialog zwischen Personen zu verstehen. Ziel der kommunikativen Validierung ist die Überprüfung der Daten und Analyseergebnisse durch deren Rückkopplung an die Beforschten. 28 Die Validität einer Interpretation gilt dann als gesichert, wenn darüber Konsens zwischen Forschern und Beforschten hergestellt ist. Dies gilt jedoch nicht zwingend, um die Übernahme von Ideologien und Mythen der Beforschten zu vermeiden. 29 In neueren Arbeiten wird die Anwendung kommunikativer Validierungsstrategien innerhalb von Forscherteams diskutiert. Zur Absicherung von Ergebnissen werden hier die Kombination von Insider- und Outsider-Perspektiven oder die permanente Rückkopplung von Zwischenständen in großen Forschergruppen vorgeschlagen. 30

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Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 46. Aus dieser allgemeinen Perspektive können auch Untersuchungen in Laborumgebungen valide Ergebnisse liefern. Zur kommunikativen Validierung siehe auch den Abschnitt Kommunikative Validierung und Triangulation in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. Vgl. Klüver, Jürgen, Kommunikative Validierung – einige vorbereitende Bemerkungen zum Projekt Lebensweltanalyse von Fernstudenten, in: Heinze, Thomas (Hrsg.), Theoretische und methodologische Überlegungen zum Typus hermeneutisch-lebensgeschichtlicher Forschung, Werkstattbericht, Hagen: Fernuni Hagen 1979, S. 69-84 und Heinze, Thomas/Thiemann, Friedrich, Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegründung. Bemerkungen zum Beitrag von E. Terhart, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 28, Nr. 4 (1982), S. 635-642. Vgl. Heinze/Thiemann, Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegrüdung, S. 636. Vgl. Russell, Glenda M./Kelly, Nancy H., Research as Interacting Dialogic Processes. Implications for Reflexivity [47 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (OnlineJournal), Bd. 3, Nr. 3, Art. 18 (2002), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114fqs0203181 und Crawford, H./Ken, Leybourne/Marnie L./Arnott, Allan, How we Ensured Rigour in a Multi-site, Multi-discipline, Multiresearcher Study [28 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 1, Nr. 1 (2000), verfügbar

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Zur Integration verschiedener Perspektiven wird als Voraussetzung die Selbstreflexion der beteiligten Forscher genannt. Phasen individueller und sozialer Selbstreflexion werden darüber hinaus auch in konventionellen Forschungssettings als Möglichkeit betrachtet, zur Validierung von Forschungsprozessen beizutragen. Dies beginnt bei der Klärung der Vorannahmen, bei der wissenschaftliches Vorwissen oder Alltagswissen in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand dargelegt werden. Übertragen auf die Datenauswertung und die Präsentation von Ergebnissen beschreibt das Verfahren der argumentativen Validierung diese Klärung als Verankerung der Interpretationen in einem gemeinsam geteilten Vorwissen von Interpret und Leser. 31 Weitere Formen der Selbstreflexion von Forschern sind das Führen von Forschungstagebüchern oder die gezielte Erhebung affektiver Daten. Soziale Selbstreflexion meint die Erweiterung dieser individuellen Techniken auf ganze Forschungssysteme. Soziale Phänomene wie die gemeinsamen Interaktionen von Forschern und Beforschten oder ihre institutionellen Beziehungen werden hier zu Subjekten und Objekten der Reflexion gemacht. 32 Gemeinsam ist den Validierungsstrategien der qualitativen Sozialforschung ihr kommunikativer Grundcharakter. Die Triangulation bezieht verschiedene Perspektiven dialogisch aufeinander, die kommunikative Validierung etabliert einen Dialog zwischen Forschern und Beforschten jenseits der Datenerhebung und die Verfahren der Selbstreflexion etablieren eine kommunikative Selbsthinterfragung der Forscher und ihrer Rolle im Forschungsprozess. Zusammengefasst gilt, dass Validierung in allen Ansätzen der Sozialforschung unabhängig vom zugrunde gelegten Validitätskonzept ein kommunikativer Prozess ist und Validität somit sein kommunikatives

unter: urn:nbn:de:0114-fqs0001125. Siehe dazu auch den Abschnitt Forscherteams in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 31 Terhart, Ewald, Intuition – Interpretation – Argumentation. Zum Problem der Geltungsbegründung von Interpretationen, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 27, Nr. 5 (1981), S. 769-793, hier S. 789, insbesondere Fußnote 12. Die Klärung des gemeinsamen Vorwissens beschreibt Terhart in Anschluss an Reinhard Uhle als »fiktiven Dialog«. Vgl. Uhle, Reinhard, Hermeneutische Interpretation als Rekonstruktionsmethode von Alltagswissen, in: Lenzen, Dieter (Hrsg.), Pädagogik und Alltag. Methoden und Ergebnisse alltagsorientierter Forschung in der Erziehungswissenschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 43-51. 32 Vgl. Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Zur Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung in der Beratung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 507-511. 251

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Produkt. Unterschiede bestehen lediglich hinsichtlich der Phase des Forschungsprozesses, in der die Validierung vorgenommen wird.

1.5 Glaubwürdigkeit Die Vorstellung von Validität als kommunikatives Produkt evoziert die Frage nach ihrem Funktionieren. In keinem der Verfahren wird mit Validität ein Zustand beschrieben, der unabhängig von Beobachtern vorhanden wäre. Hier bietet es sich an, auf ein Konzept zurückzugreifen, das geeignet ist, den Anspruch auf Validität auch in den stark von persönlichen Urteilen abhängigen Konzepten zu rechtfertigen: Glaubwürdigkeit. Die kommunikative Herstellung von Glaubwürdigkeit als Gütekriterium der Wissenschaft wurde bereits in den 1980er Jahren unter dem Vorzeichen sozialkonstruktivistischer Überlegungen vorgeschlagen. 33 Zur näheren Klärung des Konzeptes Glaubwürdigkeit kann auf Ergebnisse der Kommunikationswissenschaft zurückgegriffen werden, die dazu ein eigenes Forschungsfeld ausgeprägt hat. Die Glaubwürdigkeitsforschung widmet sich der Frage, unter welchen Umständen insbesondere journalistischer Berichterstattung vertraut wird bzw. ihr Glaubwürdigkeit unterstellt wird. In jüngerer Zeit verabschiedet sich die Glaubwürdigkeitsforschung vom Begriff der Glaubwürdigkeit und wendet sich dem in den Sozialwissenschaften geläufigeren Thema des Vertrauens zu. Die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf die hier untersuchte Fragestellung erfolgt jedoch unter Vorbehalt, da sich die Glaubwürdigkeitsforschung entsprechend dem Gegenstand der klassischen Kommunikationswissenschaft vorwiegend mit massenmedialer Kommunikation beschäftigt. Günter Bentele fasst Glaubwürdigkeit ganz allgemein folgendermaßen auf: »Glaubwürdigkeit lässt sich bestimmen als eine Eigenschaft, die Menschen, Institutionen oder deren kommunikativen Produkten (mündliche oder schriftliche Texte, audiovisuelle Darstellungen) von jemandem (Rezipienten) in Bezug auf etwas (Ereignisse, Sachverhalte usw.) zugeschrieben wird.«34 In diesem dreigliedrigen Konzept wird Glaubwürdigkeit als stets rezipienten- und kontextabhängige Eigenschaft beschrieben. Erst aus dem Zusammenspiel der Komponenten Rezipient, Kommunikationsprodukt und Kontext kann Glaubwürdigkeit emergieren. 33 Vgl. Lincoln, Yvonna S./Guba, Egon G., Naturalistic Inquiry, Beverly Hills: Sage 1985, S. 289ff. 34 Bentele, Günter, Der Faktor Glaubwürdigkeit. Forschungsergebnisse und Fragen für die Sozialisationsperspektive, in: Publizistik, Jg. 33, Heft 2/3 (1988), S. 406-426, hier S. 408. 252

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Diese Basisdefinition lässt sich in einem ersten Schritt in zweierlei Hinsicht auf die Sozialforschung übertragen. Zum einen extern und somit strenger im Sinne der Definition auf das Gesamtsystem der Sozialwissenschaften, das Ergebnisse produziert, publiziert und kollektiv bewertet. Zum anderen intern auf den Ablauf von Forschungsprozessen. Als Rezipienten können dann Forscher, die beforschten Experten oder ein weiteres Publikum stehen, für kommunikative Produkte die produzierten Daten und die darauf aufbauenden Modelle. Der Unterschied zwischen den Formen der Sozialforschung besteht nun gerade in der Art und Weise, wie Daten produziert werden bzw. welche Medien dazu genutzt werden. Quantitative Daten sind in hohem Maße durch die Operationalisierung vordefiniert und werden bei der Verarbeitung quantifiziert und von Irrläufern bereinigt, die nicht in dieses Schema passen. Qualitative Daten dagegen müssen nach ihrer Erhebung erst einmal aufbereitet, d.h. nochmals prozessiert werden, um sie einer Auswertung zugänglich zu machen. Diese Schritte, in der Regel Transkription und Kodierung von Interviews, beinhalten die prinzipielle Möglichkeit, im Vorfeld noch nicht erwartete oder eingeplante Aspekte des Forschungsgegenstandes mit in die Auswertung einzubeziehen. 35 Die Glaubwürdigkeit der erhobenen Daten bezieht sich dann auf unterschiedliche Dinge. Quantitative Daten als kommunikative Produkte sind glaubwürdig, weil sie durch die verwendeten Medien bereits weitestgehend gefiltert worden sind, auf einem bestimmten Niveau emergieren und sich deshalb genau auf die Variablen beziehen, die von den Forscher definiert wurden. Glaubwürdigkeit ist also eine Eigenschaft der Medien. Qualitative Daten erscheinen andererseits deshalb als glaubwürdig, da sie tatsächlich als Produkte des Kommunikationsprozesses zwischen Forscher und Beforschten aufgefasst werden. Was Beforschte äußern, kann als Datum behandelt und somit ausgewertet werden. Damit handelt es sich um unterschiedliche Informationsmedien, die die jeweiligen Forscher nutzen. Vereinfacht ausgedrückt nutzt der quantitative Forscher den Fragebogen als Informationsmedium und der qualitative die Probanden bzw. den Kommunikationsprozess mit ihnen. Ein wichtiger Aspekt der Glaubwürdigkeit von Daten sind darüber hinaus die Forscher selbst. Sie spielen die entscheidende Rolle einerseits bei der Operationalisierung der Variablen und andererseits bei der kommunikativen Produktion und anschließenden Interpretation der Daten. In beiden Fällen handelt es sich um die Glaubwürdigkeit der Forscher.

35 Zur Konstitution von Daten siehe auch die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 253

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Im Zuge der Verlagerung des Interesses in der Glaubwürdigkeitsforschung von ›Glaubwürdigkeit‹ hin zu ›Vertrauen‹ definiert Matthias Kohring Glaubwürdigkeit als eine von mehreren Dimensionen von Vertrauen in öffentlichen Kommunikationsprozessen. Er versteht Glaubwürdigkeit dabei als Vertrauen in die faktische Richtigkeit. 36 Faktische Richtigkeit ist auch für Glaubwürdigkeit im Sinne von Validität ein entscheidendes Kriterium bzw. Kern des Validitätskonzepts der quantitativen Sozialforschung. Faktische Richtigkeit ist dann gegeben, wenn durch die Operationalisierung von Variablen ein direkter Zusammenhang zwischen beiden gegeben ist, wenn das Instrument also misst, was es messen soll. In der qualitativen Sozialforschung ist faktische Richtigkeit dagegen eine Eigenschaft, die allen Aussagen von Beforschten zugeschrieben wird. In beiden Fällen bezieht sich das Vertrauen in die faktische Richtigkeit in keiner Weise auf ein übergeordnetes Wahrheitskriterium, ob also die Äußerungen oder Angaben von Beforschten wahr sind. Dem widerspricht einerseits der Zwang zur Operationalisierung von Variablen, durch die die direkte Befragung umgangen wird. Andererseits ist dies auch in qualitativen Forschungsprozessen unerheblich, da sämtliche Aussagen auf Plausibilität geprüft werden und Widersprüche selbst wieder als interpretationsfähige Daten aufgefasst werden können. In einer Überspitzung dieser Konzepte ergibt sich faktische Richtigkeit auf der einen Seite aus dem Messinstrument, und auf der anderen Seite aus der Interpretationsleistung der Forscher. In beiden Fällen ist sie damit das kommunikative Produkt der Forscher. In seinen allgemeinen Ausführungen bezeichnet Kohring mit Luhmann Vertrauen als eine »riskante Vorleistung« 37 . Das Risiko besteht in der ungewissen Zukunft, die auf der Grundlage von Informationen aus der Vergangenheit bestimmt wird. Niklas Luhmann bezeichnet Vertrauen als einen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Vertrauen gewinnt mit zunehmender Komplexität an Bedeutung: »Im Akt des Vertrauens wird die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert.« 38 Vertrauen bezieht sich demnach auf die zeitliche und damit auf die dynamische Dimension sozialer Prozesse. Ausgehend von den Strategien

36 Vgl. Kohring, Matthias, Vertrauen in Journalismus, in: Scholl, Armin (Hrsg.), Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft, Konstanz: UVK Verlags-Gesellschaft 2002, S. 91-110, hier S. 106f. 37 Vgl. Kohring, Matthias, Vertrauen in Journalismus. Theorie und Empirie, Konstanz : UVK Verlags-Gesellschaft 2004, S. 95. 38 Vgl. Luhmann, Niklas, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Enke 1989, S. 20, zitiert nach Kohring, Vertrauen in Journalismus. Theorie und Empirie, S. 94. 254

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im Umgang mit der Komplexität der Sozialforschung 39 bezieht sich die Reduktion von Komplexität oftmals gerade auf die dynamische Dimension der Sozialforschung. Idealerweise macht dann die vollständige Reduktion von Komplexität in dieser Dimension im Sinne einer angestrebten Entdynamisierung Vertrauen letztendlich überflüssig. Dafür spricht die Feststellung, dass Vertrauen nicht auf Wissen basiert, sondern dieses ersetzt: »Wer nicht vertraut, muss kontrollieren.« 40 Dieses Kontrollprinzip ist ein wesentliches Merkmal von hochgradig standardisierten, Hypothesen testenden Forschungsdesigns. Ihre Validität ergibt sich gerade daraus, dass ihre Daten und Ergebnisse sich ausschließlich auf die zuvor formulierten Hypothesen beziehen und auf keine außerhalb liegenden Phänomene im Sinne neuer Hypothesen. Heuristische bzw. Hypothesen generierende Verfahren sind jedoch im Umkehrschluss auf Ungewissheit angewiesen. In manchen Forschungsansätzen wird vollständige Unwissenheit (tabula rasa) idealisiert, die dann durch den Forschungsprozess systematisch beseitigt wird. 41 Zusammengefasst bedeutet dies, dass Validität jeweils in Abhängigkeit von bestimmten Kommunikationsmodellen gedacht wird und somit selbst das Produkt kommunikativer Prozesse ist. Auf der einen Seite wird Validität dadurch sichergestellt, dass der Kommunikationsprozess Sozialforschung so weit wie möglich entdynamisiert wird. Auf der anderen Seite ist Validität nur denkbar auf der Grundlage eines möglichst dynamischen und inhaltlich nicht vorhersehbaren Kommunikationsprozesses. In beiden Fällen spielen jedoch die Forscher selbst eine zentrale Rolle. Validität ist nicht schon das Ergebnis der zugrunde gelegten präferierten Forschungsdynamiken. Diese sind notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Es ist die kommunikative Leistung der Forscher, die Validität schließlich sicherstellt: entweder bei der Konstruktion und Kalibrierung von Messinstrumenten oder bei der Auswertung bereits erhobener Daten. Beide Male handelt es sich also um Faktoren, die nicht vollständig formalisierbar sind, sondern von denen die jeweiligen Strategien der Validierung abhängig sind.

39 Siehe dazu den Abschnitt Strategien der Bewältigung in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 40 Kohring, Vertrauen in Journalismus, S. 96. 41 Beispiele für solche tabula-rasa-Konzepte sind die Grounded Theory sowie die Objektive Hermeneutik. 255

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1.6 Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem Auch in der letzten Phase von Forschungsprozessen, in der die Validierung von Ergebnissen innerhalb der Wissenschaftlergemeinde und ihrem weiteren gesellschaftlichen Umfeld erfolgt, spielt Glaubwürdigkeit eine zentrale Rolle. Diese Form der Validierung ist in der Regel nicht Teil der methodologischen Selbstbeschreibungen der Wissenschaft. Die Anerkennung der Gültigkeit erfolgt hier auf mehreren Ebenen. Noch im engeren Sinne zum Forschungsprozess gehörig sind Verfahren zur Sicherstellung der bereits erwähnten expert validity. Dem entsprechen institutionalisierte Begutachtungen wie die peer-review-Verfahren im Vorfeld der Publikation von Ergebnissen. Dass diese Prozesse nicht immer erfolgreich verlaufen, zeigen die immer wieder auftretenden Fälle von Fälschungen, die auch anerkannten Autoritäten ihrer Disziplinen nachgewiesen werden. 42 Eine Voraussetzung für Fälschungen liegt in der Art und Weise der Validierung solcher Ergebnisse. Bei peer-reviewVerfahren handelt es sich um Plausibilitätsprüfungen im Sinne der expert validity, nicht jedoch um eine tatsächliche Überprüfung der Forschungsergebnisse. Während dies in naturwissenschaftlichen Disziplinen theoretisch denkbar ist und bisweilen auch gemacht wird, ist dies in den Sozialwissenschaften weitestgehend ausgeschlossen. Bis auf den Spezialfall hochgradig laborgebundener Experimentalanordnungen sind Überprüfungen von Forschungsergebnissen in Form von Wiederholungen des Forschungsprozesses in der Regel nicht möglich. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich den Status affektiver Daten vergegenwärtigt. Deshalb wird neben der Plausibilität als zweiter Aspekt das

42 Eines der spektakulärsten Beispiele in der jüngeren Vergangenheit ist der Skandal um den Stammzellforscher Hwang Woo-suk. Hwang hatte 2005 einen Bericht über die angebliche Konstruktion eines geklonten menschlichen Embryos und daraus abgeleiteter Stammzelllinien in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht (vgl. Woo Suk Hwang u.a., PatientSpecific Embryonic Stem Cells Derived from Human SCNT Blastocysts, in: Science, Bd. 308, Heft 5729 (2005), S. 1777-1783). Diese Darstellung sowie eine frühere Publikation Hwangs stellten sich im Nachhinein als Fälschungen heraus (vgl. Kennedy, Donald, Editorial Expression of Concern, in: Science, Bd. 311, Heft 5757 (2006), S. 36). Auch wenn die Sozialwissenschaften in dieser Hinsicht weniger auffällig sind, werden auch hier Betrugsfälle aufgedeckt. Vgl. Fröhlich, Gerhard, Betrug und Täuschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften, in: Hug, Theo (Hrsg.), Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Bd. 4, Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2001, S. 261-273. 256

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Renommee der beteiligten Forscher virulent, das sich auf das ihnen entgegengebrachte Vertrauen auswirkt. Das Renommee von Forscher geht mittlerweile auch auf die Ergebnisse der Szientometrie als eigenständige Disziplin innerhalb der Wissenschaftsforschung zurück. Ihr Ziel ist die Beschreibung der Strukturen und Dynamiken der Arbeit von Wissenschaftlern in einem Fachgebiet, einer Region oder in einem bestimmten Zeitraum. Als Instrumente dienen ihr die Bibliometrie, d.h. die Beobachtung von Publikationen und der Zitierhäufigkeit, die Infometrie, d.h. das Verfolgen von Begriffen durch Zeitschriften und andere Medien, und neuerdings auch die Webometrie, d.h. die Untersuchung von Internet-Strukturen. 43 Die Szientometrie hat mit den wissenschaftlichen Zitationsdatenbanken eigene Institutionen begründet. 44 In ihnen wird verzeichnet, welche Werke wo und wie häufig zitiert werden. Dies geschieht durch eine automatische Indexierung von Literaturangaben in wissenschaftlichen Dokumenten. Aus der Anzahl der Zitationen lässt sich anschließend einerseits der sogenannte Impact Factor wissenschaftlicher Zeitschriften berechnen. Andererseits lässt sich daraus auch darauf schließen, wo, von wem und wie oft ein Autor zitiert wird. Aus diesen Daten lässt sich eine Einstufung der Autoren gemäß der Häufigkeit ihrer Zitation vornehmen. In dieser Hinsicht besonders erfolgreiche Wissenschaftler erhalten im Fall des Science Citation Index den Status »high cited persons«. 45 Zu diesen Personen finden sich in der Datenbank neben einer ausführlichen Publikationsliste biographische Angaben, der wissenschaftliche Werdegang, Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen oder Expertenkommissionen, zuerkannte Preise sowie eine Auflistung der eingeworbenen Drittmittel. 43 Vgl. Umstätter, Walther, Szientometrische Verfahren, in: Kuhlen, Rainer/Seeger, Thomas/Strauch, Dietmar (Hrsg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Bd. 1: Handbuch zur Einführung in die Informationswissenschaft und -praxis, München: Saur 2004, S. 237-243. 44 Zu den etablierten Institutionen gehören die Datenbanken für verschiedene Disziplinen des Science Citation Index. Dazu drängen in jüngerer Vergangenheit neue Anbieter auf den Markt wie Google Scholar oder die Bielefeld Academic Search Engine. 45 Robert Merton hat bereits in den 1960er Jahren, noch unabhängig von entsprechenden Datenbanken, für die Zitierhäufigkeit in wissenschaftlichen Publikationen den »Matthäus-Effekt« (»Wer hat, dem wird gegeben«) beschrieben. Demzufolge werden bekannte Autoren häufiger zitiert als andere, so dass ihre Bekanntheit als positiver Rückkopplungseffekt weiter erhöht wird. Vgl. Merton, Robert King, The Matthew Effect in Science, in: Science, Jg. 159, Nr. 3810 (1968), S. 56-63 und ders., The Matthew Effect in Science, II. Cumulative Advantage and the Symbolism of Intellectual Property, in: Isis, Jg. 79, Nr. 4 (1988), S. 606-623. 257

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Zitationsdatenbanken liegt somit ein spezifisches Verständnis von Wissenschaft und wissenschaftlicher Kommunikation zugrunde. Zum einen wird hier die Produktivität und die Güte der Wissenschaft zumindest teilweise auf ein quantitatives Modell umgestellt und an der Zahl der Publikationen gemessen. Zum anderen wird diese quantitative Bewertung in ein System umgesetzt, in dem Wissenschaftlerpersönlichkeiten als zentrale Bezugspunkte dienen. Autorität wird hier im wahrsten Sinne des Wortes durch Autorschaft bestimmt. Dieses trägt zur Bildung eines Starsystems in der Wissenschaft bei, das dadurch auch gleichzeitig stabilisiert wird. 46 Dieses System funktioniert unabhängig von der Erfassung von inhaltlichen oder praxisrelevanten Aspekten wissenschaftlicher Publikationen sowie von den Rahmenbedingungen und sozialen Prozessen ihrer Entstehung. 47 Indem die Anerkennung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse sich auf wissenschaftliche Autorität beruft, die durch die Indexierung von Publikationen in Datenbanken und den daraus abgeleiteten quantitativen Kennzahlen konstruiert wird, erweist sich Validität tendenziell als Medieneffekt. Dieser ist abzugrenzen von der kollektiv-literarischen Validierung von Erkenntnissen wie sie in der inhaltlichen Auseinandersetzung tatsächlich stattfindet. 48 Insofern ist eine Institution wie Wikipedia von besonderem Interesse, da es sich hierbei um ein Paradebeispiel kollektiv-literarischer Validierung handelt. Allerdings fallen Einträge darin aus dem etablierten Zitationssystem der Buchkultur heraus. Validierung ist hier kein Prozess, in dem Zustimmung zu einer manifesten und unveränderlichen, da schriftlich fixierten Position generiert wird. Die spezifische Literarizität besteht in der Möglichkeit der Veränderung und in der Eigenschaft der Einträge, nicht fixiert zu sein. Für den Idealfall qualitativ hochwertiger Einträge bestehen folglich zwei Möglichkeiten. Entweder werden widerstreitende Positio46 Am anderen Ende der Skala erzeugt dieses System einen Publikationsdruck, vor allem für Nachwuchswissenschaftler, um überhaupt wahrgenommen zu werden. 47 Vgl. hierzu auch die Kritik von Fröhlich, Gerhard, Das Messen des leicht Meßbaren. Output-Indikatoren, Impact-Maße: Artefakte der Szientometrie?, in: AGMB aktuell. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen, Nr. 7 (2000), S. 13-18. Abseits der rein quantitativen Szientometrie gibt es auch Bestrebungen, inhaltliche und semantische Aspekte mit einzubeziehen. Diese spielen bislang jedoch nur eine marginale Rolle. Vgl. bspw. Callon, Michel (Hrsg.), Mapping the Dynamics of Science and Technology. Sociology of Science in the Real World, Houndmills: Macmillan 1986. 48 Jürgen Klüver spricht unter Bezugnahme auf die klassischen Laborstudien von der »kollektive[n] Validierung der Fakten durch die literarische Konstruktionsebene«. Siehe Klüver, Jürgen, Die Konstruktion der sozialen Realität Wissenschaft, Braunschweig: Vieweg 1988, S. 94. 258

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nen möglichst neutral gegenüber gestellt, oder es erfolgt eine Einigung auf eine gemeinsame Position. Die oben zitierte Definition von Validität entspricht der zweiten Möglichkeit. Die nachträgliche Validierung und damit die Anerkennung, Zirkulation und Durchsetzungsfähigkeit von Forschungsergebnissen ist von Faktoren abhängig, die die Forscher selbst nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen können. Diese Tatsache wird insbesondere dann problematisch, wenn Forschungsergebnisse anerkannten Vorstellungen zuwider laufen bzw. eine Minderheitenposition vertreten. Im Extremfall kann dies zu einer Unterdrückung und folgender Nichtanerkennung dieser Ergebnisse führen. 49

1.7 Fazit und Ausblick Die unterschiedlichen Konzepte von Validität und die dazugehörigen Strategien der Validierung sind eng mit den unterschiedlichen Forschungsstrategien und den dabei verwendeten Medien verknüpft. Das Gütekriterium Validität ist eine von ihnen abhängige Variable. Je nachdem welche Medien und Methoden im Forschungsprozess verwendet werden und wie der sozialwissenschaftliche Kommunikationsprozess organisiert wird, danach richtet sich, was überhaupt als Validität angesehen wird und wie diese erreicht und gewährleistet werden soll. Aus den verschiedenen Auffassungen von Validität ergibt sich folgende Systematik. Validität ist ein relatives Konzept, das sich auf drei Aspekte bezieht. Jede Ausprägung beantwortet die Fragen von was, für wen und in Bezug auf was Validität bestehen soll. Diese drei Dimensionen lassen sich wie folgt näher bestimmen. In der ontologischen Dimension sind die Merkmalsträger der Validität entweder die Verfahren bzw. das Handeln der Forscher, die dadurch produzierten Daten oder die auf deren Grundlage erzielten Schlussfolgerungen, Modelle und Ergebnisse. In der epistemologischen Dimension sind die Entscheidungsinstanzen über die Validität die Forscher selbst, die Datenproduzenten in Form der beforschten Experten oder ein alltägliches Laienpublikum. In der netzwerktheoretischen Dimension ist der Bezugspunkt der Validität, auf den hin sie gewährleistet werden soll, die logisch-theoretische Konsistenz, die Alltagstauglichkeit im Sinne einer Problemlösungskapazität oder der Konsens innerhalb des Wissenschaftssystems. Alle vorgestellten Konzepte von Validität beziehen sich auf alle drei Dimensionen. Die Unterschiede bestehen zwischen den konkreten Aus-

49 Vgl. Fröhlich, Betrug und Täuschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften, S. 263. 259

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prägungen, die ihnen gegeben werden und den Gewichtungen der einzelnen Dimensionen. Die meisten Varianten beschränken sich auf eine Ausprägung pro Dimension wie etwa das Validitätskonzept der quantitativen Sozialforschung. Andere wie die ökologische Validität versuchen dagegen etwa in der ontologischen Dimension sowohl die Verfahren als auch die Schlussfolgerungen mit einzubeziehen. Das gleiche gilt für die kommunikative Validierung, die in der epistemologischen Dimension mehrere Entscheidungsinstanzen berücksichtigt. Aus diesen Feststellungen lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen handelt es sich bei Validität als wissenschaftstheoretisches Gütekriterium wie auch als konkrete Eigenschaft von Forschungsprozessen bzw. -ergebnissen um das Resultat von Konstruktionsund Aushandlungsprozessen. 50 Entsprechend kann von Validität als Produkt eines kommunikativen Netzwerkes gesprochen werden. Dies gilt auch für scheinbar aus dem Rahmen fallende Konzepte wie das korrespondenztheoretische Konzept der quantitativen Sozialforschung. Der Prozess der Validierung bzw. Kalibrierung der Messinstrumente kann als zentraler Arbeitsschritt im Forschungsprozess als rückgekoppelter Kommunikationsprozess verstanden werden. In diesem Sinne sind Bezeichnungen wie kommunikative Validierung irreführend und verweisen nur auf die Betonung bzw. die Auszeichnung eines bestimmten Aspektes innerhalb des aufgezeigten mehrdimensionalen Modells von Validität. Alle Darstellungen, die diese Tatsache verneinen, können als Nebelkerzen betrachtet werden, die den prinzipiell unsicheren Status dessen verschleiern, was mit dem scheinbar sicheren und harten Begriff der Validität bezeichnet wird. Erkennt man die Gebundenheit von Validität und Validierung an Kommunikationsprozesse an, stellt sich die Frage nach den Implikationen für die Weiterentwicklung der Methodologien der Sozialforschung. Eine mögliche Schlussfolgerung ist folgender Umkehrschluss: wenn Validität durch Kommunikation hergestellt wird, warum sollte dann nicht von vornherein Kommunikation Validität herstellen? Unausgesprochen findet sich dieser Gedanke bereits in der Kommunikativen Sozialforschung, die sich dem Prinzip der Selbstähnlichkeit folgend auf Kommunikation als leitendes Prinzip ihrer Methodologie verpflichtet. Die Ergebnisse dieser Fallstudie unterstreichen die Angemessenheit dieses Ansatzes.

50 Diese Feststellung wird auf der wissenschaftstheoretischen Ebene auch für alle anderen Gütekriterien getroffen. Vgl. Reichertz, Zur Gültigkeit von Qualitativer Sozialforschung, Absatz 76. 260

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2 F a l l s t u d i e I I : S o z i a l w i s s e n s c h a ft l i c h e D a t e n 2.1 Daten als blinder Fleck der Wissenschaftstheorie Daten werden als elementare Grundlage der empirischen Sozialwissenschaften betrachtet. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Daten als Begriff und philosophisch-epistemologische Kategorie von der wissenschaftstheoretischen Reflexion weitestgehend ignoriert werden.51 Erst in jüngerer Zeit wird der Begriff der Daten einer kritischen Betrachtung unterzogen. 52 Dies ändert jedoch nicht die grundsätzlich zu beobachtende Haltung, dass in den gängigen Methodologien die einzelnen Phasen von sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen zwar eingehend besprochen werden, das Datum ›Daten‹ jedoch auf den Radarschirmen der sozialwissenschaftlichen Methodologien und Wissenschaftstheorie auf sonderbare Weise unsichtbar bleibt. Diese Auslassung ist verblüffend, da erst die Daten, das empirische Material und ihre besondere Art der Gewinnung und Verwendung, jenes Distinktionsmerkmal ausmachen, mit dem sich die auf diesem Grundverständnis operierenden Wissenschaften von anderen Zugangs- und Erkenntnisweisen unterscheiden wollen. Als abstrakte Kategorie bleiben Daten weitgehend unbeachtet und treten nur als Funktion innerhalb der methodologischen Rezepte auf. Darin erscheinen Daten als Gegenstände, die ihre epistemische Wirkung vor allem durch die von den Forschenden über sie ausgeübte Kontrolle entfalten können. Wissenschaftstheoretische Betrachtungen der Sozialwissenschaften kommen jedoch nicht umhin, an die sozialwissenschaftliche Praxis die zentralen Fragen bezüglich der Konstituierung von Daten zu stellen: wie entstehen Daten, was kann zu Daten werden, für wen und in Bezug auf was? Die Klärung dieser Grundfragen ist schon deswegen notwendig, da die unterschiedlichen Forschungsstrategien und Methoden unterschiedliche Sorten von 51 In den Standardwerken der Wissenschaftstheorie werden Daten nicht gesondert thematisiert. Vgl. bspw. Seiffert, Helmut, Einführung in die Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Sprachanalyse – Deduktion – Induktion in Naturund Sozialwissenschaften, Bd. 2: Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie – Hermeneutik und historische Methode – Dialektik, München: Beck 1969/70. 52 Beispiele dafür sind die weiter unter besprochene Arbeit von Christian Lehmann zu linguistischen Daten (vgl. Lehmann, Christian, Data in Linguistics, in: The Linguistic Review, Jg. 21, Nr. 3/4 (2004), S. 175-210) und Michael Gieseckes medientheoretische Reflexion zur Rolle von technischen Medien bei der Konstituierung von Daten (vgl. Giesecke, Michael, Von der typographischen zur elektronischen Konstituierung von Daten in den Sozial- und Sprachwissenschaften, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 23, Nr. 90/91 (1993), S. 23-39). 261

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Daten nutzen: die Statistik verwendet numerische Daten, die Konversationsanalyse setzt Gesprächsprotokolle voraus und die Diskursanalyse kann alle möglichen Dokumente als Spuren gesellschaftlicher Interaktionen zu ihren Daten erklären. Diese unvollständige Aufzählung zeigt bereits das weite Spektrum dessen, was unreflektiert unter dem Sammelbegriff ›Daten‹ in den Sozialwissenschaften zusammengefasst wird. Bereits auf der lexikalischen Ebene enthält der Datenbegriff einen Hinweis darauf, dass das Konzept einen kommunikativen Kern enthält. Die lateinische Wurzel datum = das Gegebene, von dare = geben beinhaltet eine Metaphorik, die als Kommunikationsprozess gedeutet werden kann. Dann stellt sich die Frage, wer oder was wem oder was wie und wofür gibt. Problematisch an der Metaphorik des Gebens ist die mögliche Konnotation eines einseitigen Prozesses, bei dem ein untersuchtes System Informationen bzw. Daten liefert. Darüber hinaus enthält sie die zu Recht kritisierte Transportmetapher der Kommunikation. Die Metapher des Gebens macht nur Sinn, wenn man diesen Prozess als mehrseitig vorstellt und auch das Nehmen als integralen Bestandteil auffasst. Wie sich zeigen wird, reicht diese Metaphorik nicht aus, den untersuchten Sachverhalt in seiner ganzen Komplexität zu beschreiben. Vielmehr ist es nötig, nicht nur reale Personen als Beteiligte dieses Prozesses aufzufassen, sondern auch die technischen und sozialen Settings in die Betrachtung mit einzubeziehen. Zur Klärung des Konzepts sozialwissenschaftliche Daten ist eine Untersuchung aus verschiedenen Perspektiven erforderlich. Am Anfang steht die Befragung wissenschaftstheoretischer Grundannahmen, die implizit oder explizit Konzepte von Daten enthalten und somit das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihren Daten bestimmen. Dazu gehören die Funktionen von Daten als Repräsentationen wissenschaftlicher Objekte und als intersubjektiv überprüfbare Einheiten sowie die Unterscheidungen der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Datentypen. Daran schließt sich die Frage nach der Konstituierung und Konstruktion von Daten und der Rolle von technischen Medien bei Datenerhebung, -dokumentation und -auswertung an. Es zeigt sich, dass unterschiedliche technologische Voraussetzungen sowie die dazugehörigen Verwendungsweisen, d.h. die sozialen Settings, in die sie eingebunden werden, in ihrem Status unterschiedliche Daten produzieren. Darauf aufbauend werden Detailfragen zur zeitlichen Struktur und zur Referenzialität von sozialwissenschaftlichen Daten erläutert. Abschließend erfolgt eine kommunikations- und medientheoretische Synthese, die einen allgemeinen Bezugsrahmen zum Verständnis unterschiedlicher Daten und ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen liefert.

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2.2 Die Funktionen von Daten 2.2.1 Daten als Repräsentationen wissenschaftlicher Objekte Grundlegend bei der Betrachtung von sozialwissenschaftlichen Daten ist die Frage nach dem Verhältnis dessen, was als Daten anerkannt wird, und den wissenschaftlichen Objekten, auf die sie sich beziehen, und somit auch zu den Forschern, die sie verwenden. Führt man den modernen Datenbegriff auf seine lateinische Wurzel zurück, muss man ihn nicht etwa sogleich relativieren, da das Gegebene zumindest begrifflich auf eine privilegierte Relation zum Untersuchungsgegenstand etwa im Sinne eines Abdrucks von oder einer Ähnlichkeit mit der untersuchten Realität, die die Hoffnung auf Objektivität nährt, verweisen könnte und deshalb von vornherein mit einer epistemologischen Skepsis belegt werden müsste. In der gegenwärtigen Diskussion finden sich Vorschläge, Daten als ein semiotisches Konzept aufzufassen. Christian Lehmann beschreibt in einer linguistischen Analyse des Datenbegriffs Daten als ein relationales und funktionales Konzept. 53 Daten sind insofern relational, indem sie zwischen einer (Daten-)Quelle bzw. einem Produzenten und einem Rezipienten/Nutzer positioniert sind. Folglich sind Daten auch nicht aus sich selbst heraus Daten, sondern werden erst dazu, indem sie als solche für jemanden fungieren. 54 Um den methodologischen Status von Daten näher zu klären, unterscheidet Lehmann zunächst in Anlehnung an ein Konzept der »Ontologie des naiven Realismus« zwischen Entitäten erster und zweiter Ordnung, d.h. physische Objekte sowie Ereignisse und Prozesse, die durch ihre Verortung in Raum und Zeit beobachtbar sind, und Entitäten dritter Ordnung wie Fakten im Sinne von Aussagen, die nicht beobachtbar sind. Weiterhin beschreibt er die empirischen Wissenschaften dahingehend, dass ihre Objektbereiche über ein angenommenes »letztes Substrat« verfügen, d.h. über eine Basis in der Umwelt des Forschersubjekts, das dieses wahrnehmen kann. Zur Komplexitätsreduktion konstruieren Wissenschaften ihren Objektbereich hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen so, dass diese Objektbereiche keinen Ausschnitt mehr aus der physischen Umwelt darstellen, sondern vielmehr mentale Repräsentationen der Welt, die aus Entitäten dritter Ordnung bestehen. Forschung befasst sich nun mit einzelnen epistemischen Objekten (Phäno53 »What I propose, thus, is a semiotic conception of the datum; to be sure, not restricted to the linguistic datum, but intended for the datum of empirical research in general. Since a datum is a sign, it may be an icon, an index or a symbol.« Siehe Lehmann, Data in Linguistics, S. 182. 54 Vgl. ebd., S. 177. 263

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menen), so dass gewonnene Daten einzelne Aspekte des untersuchten Objekts repräsentieren bzw. in Erweiterung dieser Aussage Daten im Allgemeinen einzelne Aspekte des Objektbereichs einer empirischen Wissenschaft repräsentieren. Daraus folgert Lehmann, dass Daten weder Entitäten erster noch zweiter Ordnung sind, sondern Entitäten dritter Ordnung, indem sie mit Fakten korrespondieren, von denen man annimmt, dass sie wahr sind. Lehmann beschreibt weiterhin eine vierstufige Kaskade oder Hierarchie in den Wissenschaften aus letztem Substrat, epistemischem Objekt, Aufzeichnung und abgeleiteter semiotischer Repräsentation, an deren Ende erst sich die Daten konstituieren. Am Beispiel der Linguistik setzt er für letztes Substrat den Sprechakt, für epistemisches Objekt eine konkrete Äußerung, für Aufzeichnung den Tonbandmitschnitt und für abgeleitete Repräsentation die phonetische Transkription der Äußerung. Die Funktionen von Daten bestehen nun entweder in der induktiven Konstruktion von Thesen oder in der Überprüfung deduktiv abgeleiteter Hypothesen. 55 Um diese Funktionen erfüllen zu können, müssen Daten laut Lehmann eine Existenz außerhalb und unabhängig vom Forschersubjekt besitzen. Die Relationalität von Daten hängt dabei aber nicht etwa im Sinne einer pragmatischen Relativität von den Forscherpersönlichkeiten ab, sondern von den konkreten Forschungsfragen. 56 Daten sind also nur Daten in Abhängigkeit von einem Zweck bzw. einer Verwendung, der sie zugeführt werden. Lehmann nennt dies die intrinsische Relationalität des Datenkonzepts. Darauf aufbauend können die Beziehungen von Daten zu ihren Produzenten und Nutzern ausdifferenziert werden. Lehmann identifiziert in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Neuerung, dass die Quellen von Daten angegeben werden. Darüber hinaus stellt er zumindest für die Linguistik eine konservierende Funktion von Daten fest, wenn diese bspw. aussterbende Sprachen dokumentieren. Auf der Nutzerseite unterscheidet Lehmann Forscher und Adressaten der Forscher. Neben der Konstruktion bzw. Überprüfung von Hypothesen können Forscher Daten auch als Argumente in Forschungsberichten nutzen. 57 Auf Seiten der Adressaten identifiziert Lehmann unterschiedliche Interessen an den Daten. 55 Daten sind somit die Objekte rationaler Informationsverarbeitung. Vgl. dazu den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 56 So können etwa Forschungsberichte selbst wieder Gegenstand von bzw. Daten in Forschungsprozessen werden, wenn diese wie in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, um etwas über die impliziten Kommunikationskonzepte von Sozialwissenschaftlern zu erfahren. 57 Lehmann, Data in Linguistics, S. 191. 264

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Ist der Adressat vornehmlich an den theoretischen Ergebnissen interessiert, kann er die im Hintergrund stehenden Daten als gegeben akzeptieren. In diesem Fall hätte er nur dann ein konkretes Interesse an den Daten, wenn er dem Forscher und seiner Arbeit misstrauen würde. Sein Interesse an den Daten könnte aber auch in einem anderen Erkenntnisinteresse liegen, das der Forscher selbst nicht verfolgt hat. 58 Semiotische Konzepte werden auch zur Bestimmung der verschiedenen Arten sozialwissenschaftlicher Daten herangezogen. Bspw. verwendet Harald Witt implizit ein solches Konzept. Quantitative Daten definiert er dadurch, dass sie nur zahlenmäßig darstellbar und abstrakt sind. Mit »abstrakt« meint er die Tatsache, dass diese Daten (bzw. Zahlen) »nicht den Bedeutungsgehalt des gemessenen Datums mitenthalten«. Qualitative Daten werden im Umkehrschluss dadurch charakterisiert, dass sie Bedeutungen enthalten, die unmittelbar jedoch nicht eindeutig sein müssen. 59 Konkreter und mit explizitem Bezug zur Semiotik unterscheidet der Informatiker Frieder Nake zwischen Informationen, Daten und Wissen. 60 Nake orientiert sich an der Unterscheidung zwischen Syntaktik (ein Zeichen ist ein Mittel ohne Bezeichnung und Bedeutung, nur mit Bezug zu anderen Zeichen), Semantik (Zweierrelationen ohne Bedeutung, denen Bedeutung/Sinn zugeschrieben wird) und Pragmatik (Dreierrelation, bei der neben dem Sinn auch Zweck und Ursache des Auftretens eines Zeichens betrachtet werden). Daten ordnet er der syntaktischen Ebene zu, Informationen der semantischen und Wissen der pragmatischen Ebene. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Daten nicht als vollständige Zeichen zu betrachten sind, sondern nur als Signale. Sie sind nicht interpretierbar und können daher von Maschinen, d.h. Rechnern verarbeitet werden. Im Umkehrschluss heißt dies, dass alles, was von Rechnern verarbeitet werden kann, Daten sind. Diese Art von Daten kann nur im Zusammenhang mit Maschinen gedacht werden, die sie lesen können. Es handelt sich also keinesfalls um arbiträre Zei-

58 Ebd., S. 194. Diese Aussage verweist auf die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärdaten, siehe dazu den Abschnitt Typen sozialwissenschaftlicher Daten in diesem Kapitel. 59 Witt, Harald, Forschungsstrategien bei quantitativer und qualitativer Sozialforschung [36 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 2, Nr. 1, Art. 8 (2001), Absätze 2-3, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs010189. Hier unterläuft Witt eine nicht unerhebliche Ungenauigkeit, wenn er zwischen »Daten« und »Datum« unterscheidet, ohne diese Unterscheidung genauer zu erläutern. Mit »Datum« meint er offensichtlich das epistemische Objekt, das unabhängig von der Forschung existiert. 60 Vgl. Nake, Frieder, Information und Daten, in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, Jg. 9, Nr. 2 (1998), S. 238-239. 265

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chen, jedoch gilt, dass diese Daten nur auf sich selbst verweisen. Ihre Funktion erfüllen Daten erst dann, wenn sie in maschinenlesbarer Form vorliegen. Eine Kernaufgabe der empirischen Wissenschaften besteht folglich darin, Informationen in diesen Zustand zu transformieren. Dieser Datenbegriff liegt der quantitativen Sozialforschung zugrunde. In den genannten Konzepten wird die Funktion von Daten relativ bestimmt. Bei Lehmann stehen die Forschungsfrage und der Objektbereich der jeweiligen Disziplin im Vordergrund. Daten ergeben sich aus diesem relationalen Netzwerk, wobei offen bleibt, welcher Art die Daten am Ende sein sollen. Ihre Funktion besteht folglich darin, Forschern einen Zugang zu den von ihnen untersuchten Objektbereichen zu ermöglichen bzw. diesen innerhalb von Forschungssystemen zu repräsentieren. Die strenge zeichentheoretische Auslegung bestimmt die Funktion von Daten dagegen in Bezug auf die Programme der technischen Datenverarbeitung, nach denen sie ausgewertet werden. Beide Sichtweisen sind jedoch ineinander verschränkt und nicht voneinander zu trennen. Auch Lehmann verweist auf die technischen Medien, die zur Konstituierung der Daten beitragen, sowie auf die Auswertungsprogramme der rationalen Informationsverarbeitung. Andererseits kommt auch das Konzept quantitativer Daten nicht umhin, ihr Verhältnis zu den Untersuchungsobjekten zu beschreiben und Medien zu verwenden, die zur Konstituierung bedeutungsfreier numerischer Daten führen. Daraus ergibt sich als Gemeinsamkeit der verschiedenen Konzepte, dass die grundlegende Funktion von Daten in der Verknüpfung von Untersuchungsgegenstand und Forschungsfrage besteht. Die Art der Daten ergibt sich dagegen aus den Medien der Erhebung und den Programmen der Auswertung, auf die hin sie erhoben werden. Somit ergibt sich auch die Funktion erst aus dieser Dreierrelation. Unterschiedlich sind die Konzepte jedoch hinsichtlich der Forschersubjekte, auf die sich die Daten beziehen. Während Lehmann ganz allgemein induktive und deduktive Forschungslogiken anführt, hinter denen sowohl psychische wie auch technische Systeme der Informationsverarbeitung stehen können, hält sich das streng zeichentheoretische Modell an das Prinzip der Entsubjektivierung und schließt Forscher als Adressaten von Daten aus. Dennoch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es schließlich doch die Forscher sind, die den bedeutungsfreien Zeichen letztlich Bedeutung zuweisen müssen. In einer Überspitzung könnte man sagen, dass diese Art der Daten mehr Bedeutung enthalten, als Lehmanns semiotische Repräsentationen. Die Bedeutung wird ihnen durch die Operationalisierung von Variablen schon im Vorfeld ihrer Erhebung zugewiesen, während diese Zuordnung bei Lehmanns Daten erst im Nachhinein erfolgt.

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Übertragen auf die Gesamtheit der Sozialwissenschaften stellt sich die grundlegende Frage, welchem Element von Forschungsprozessen Vorrang eingeräumt wird. Quantitative Verfahren müssen notwendigerweise von ihren Methoden ausgehen, um jene Daten zu erhalten, die mit den zur Verfügung stehenden Programmen verarbeitet werden können. Lehmann dagegen erweckt den Eindruck, dass sich die Daten aus den untersuchten Objektbereichen selbst ableiten. Diese Vorstellung ist jedoch irreführend, da auch Lehmanns »letztes Substrat«, das von ihm als einziges seiner Elemente als nicht vermitteltes ontologisiert wird, als Konstruktion der Wissenschaft betrachtet werden kann. Insofern müsste die von ihm vorgenommene Hierarchisierung durch ein zirkuläres System ersetzt werden. Dennoch kann Lehmanns Unterscheidung als Aufforderung verstanden werden, den empirischen Prozess der Sozialforschung zu hinterfragen. Jede Disziplin muss sich vergegenwärtigen, was ihre Gegenstände sind, was deren Repräsentationen und durch welche Transformationen daraus wissenschaftliche Repräsentationen im Sinne von Daten werden. 61 Übergeordnet verbirgt sich dahinter die Frage, auf welcher Ebene Daten emergieren müssen, um eine Ähnlichkeit mit dem abstrakten Untersuchungsgegenstand aufzuweisen. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Funktion von Daten immer perspektivisch bestimmt wird. Aus der Sicht der Datenquellen und -produzenten gibt es keine Daten. Ihre Anerkennung durch ihre Rezipienten ist voraussetzungsreich und hängt vom grundsätzlichen Wissenschaftsverständnis, den Untersuchungsgegenständen, dem Erkenntnisinteresse und den anleitenden Methodologien ab. Die Perspektivierung beinhaltet dabei immer die Betonung eines Aspektes des Netzwerkes, in dem Daten produziert werden, nicht jedoch die Reduzierung des Netzwerkes auf weniger Elemente.

2.2.2 Daten als intersubjektiv überprüfbare Einheiten: Die Wiederholbarkeitsannahme Wie bereits von Lehmann angedeutet, haben Daten auch die Funktion, die Überprüfbarkeit von Forschungsergebnissen zu gewährleisten. Das Kriterium der intersubjektiven Überprüfbarkeit wird im Allgemeinen auf den Prozess der Datenerhebung bezogen und impliziert das Postulat nach der prinzipiellen Reproduzierbarkeit dieser Schritte. Indem die in61 Diese Fragen sind auch innerhalb einzelner Disziplinen nicht unumstritten. Auch die Kommunikationswissenschaft muss entscheiden, inwiefern Kommunikationen ihr »letztes Substrat« sein sollen – wie es ihr Name suggeriert – oder ob Kommunikationen ihre epistemischen Objekte sind. 267

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dividuellen sozialen Interaktionen der Datenerhebung nicht wiederholbar sind, bezieht sich das Postulat aber nicht auf eine tatsächliche, sondern auf eine prinzipielle Reproduzierbarkeit im Sinne einer vorgestellten Möglichkeit. Diese vorgestellte Möglichkeit lautet, dass wenn eine dritte Person den gleichen Standpunkt einnimmt wie ein Forscher und das Setting einer Untersuchung wiederholt, er ähnliche Informationen erhalten und zu den gleichen Ergebnissen gelangen wird. 62 Diese vorgestellte Möglichkeit kann als Wiederholbarkeitsannahme bezeichnet werden. Diese Annahme ist ein Zugeständnis an die Tatsache, dass Sozialforschung prinzipiell immer den von ihr untersuchten Gegenständen ähnlich ist und deshalb und keinen außerhalb liegenden Beobachterstandpunkt einnehmen kann. In dieser Eigenschaft handelt es sich bei der Wiederholbarkeitsannahme um eine unhintergehbare Norm. Die Wiederholbarkeitsannahme steht im Widerspruch zur Individualität der Forschung und beinhaltet zwei Paradoxien. Die prinzipielle Wiederholbarkeit bezieht sich zum einen auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Die Annahme postuliert nämlich nicht, dass die Datenerhebung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in ähnlicher oder gleicher Weise mit ähnlichen oder gleichen Ergebnissen wiederholt werden könnte. Grammatikalisch ausgedrückt handelt es sich also nicht um die Aussage »man könnte«, sondern um die Vergangenheitsform »man hätte gekonnt«. Zum anderen unterstellt die Annahme die Möglichkeit, dass ein Forscher den Standpunkt eines anderen Forschers einnehmen könnte. Diese Annahme funktioniert jedoch nur, wenn als Bezugspunkt klar formalisierte Regeln gelten, mit deren Hilfe der Standpunkt definiert werden kann. Als solche Regeln oder Anleitungen fungieren die Methodologien der Sozialwissenschaften. Aus ihnen können die Elemente und Bedingungen abgeleitet werden, auf deren Grundlage sich der Standpunkt prinzipiell rekonstruieren ließe. Dazu gehören etwa das Forschungsinteresse, die Fragestellung, die theoretischen Referenzen, die Hypothesen, etc. Der Schwachpunkt der Annahme liegt jedoch darin, dass Forscher nicht nur ein von der Methodologie bestimmtes, klar definierbares Element in diesem Setting sind, sondern immer auch als individuelle Forscherpersönlichkeiten agieren. Diese Tatsache, nämlich, dass Sozialforscher niemals ausschließlich auf der Grundlage ihrer professio62 Für die Ethnographie formuliert Geertz diesen Sachverhalt so: »Ethnographen müssen uns [...] nicht nur davon überzeugen, daß sie wirklich »dort gewesen« sind, sondern auch [...] davon, daß wir, wenn wir dort gewesen wären, gesehen hätten, was sie sahen, empfunden hätten, was sie empfanden, gefolgert hätten, was sie folgerten.«. Siehe Geertz, Clifford, Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München: Hanser 1990, S. 23f. 268

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nellen Programme handeln, sondern immer auch alltagsweltliche Interpretationen und persönliche Dispositionen in ihr Handeln einfließen, wird von der Wiederholbarkeitsannahme ausgeblendet. Sie bezieht sich ausschließlich auf die intersubjektiv überprüfbaren professionellen Programme. Da man aber nicht davon ausgehen kann, dass diese Programme immer so klar sind, wie die Methodologien es suggerieren und wie in den Selbstdarstellungen der Sozialforschung behauptet wird, handelt es sich hierbei um eine weitere Einschränkung, die grundsätzlich bei der Zustimmung zur Wiederholbarkeitsannahme gemacht werden muss. Diese Beschränkungen haben Folgen für die Zulässigkeit der Medien, die in Forschungsprozessen genutzt werden dürfen. Zunächst einmal schränkt das Postulat der intersubjektiven Überprüfbarkeit die Zulässigkeit etwa von Affekten als Medien des Erkenntnisgewinns stark ein, da sie stets subjektiv und somit nicht objektivierbar sind. Das Postulat bezieht sich also ausschließlich auf kognitive Prozesse. Die Annahme der Wiederholbarkeit verlangt also nach Medien, die Dritten Wiederholbarkeit im Sinne von Nachvollziehbarkeit durch kognitive Prozesse ermöglichen. Damit ist die Sozialforschung in erster Linie an technische Medien gebunden, die eine dauerhafte Speicherung ermöglichen. Das klassische Speichermedium, das dieses Kriterium erfüllt ist Papier, es überdauert bei geeigneter Qualität Jahrhunderte. Im Laufe der Zeit sind zahlreiche weitere Speichermedien in das methodische Instrumentarium der Sozialwissenschaften aufgenommen worden wie Aufzeichnungsmedien für akustische Informationen (angefangen bei analogen Verfahren wie Edisons Phonographen über magnetische Tonbänder bis hin zu digitalen Rekordern) und visuelle Informationen (Fotografie, Film und Video sowie deren digitale Weiterentwicklungen). Durch die digitalen Vernetzungs- und Speichermedien wie das Internet und (relationale) Datenbanken ist ein Aspekt des Konzepts der intersubjektiven Überprüfbarkeit, nämlich die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Daten, erweitert worden. Ortsungebundene Verfügbarkeit ermöglicht nicht nur räumlich unabhängiges kooperatives Arbeiten in der Forschung, sondern erhöht auch die Ansprüche an die Bereitstellung von Daten für Dritte. Standard in der bisherigen Praxis waren in Ergänzung zu Forschungsberichten Materialbände, in denen insbesondere Daten, die verschriftlicht werden können wie z.B. Interviewtranskriptionen, sowie nicht-dynamische visuelle Materialien wie Fotos oder Grafiken, versammelt wurden. Mitschnitte von Interviews wurden meist verschriftlicht und die analogen Datenträger dann aus Kostengründen zum Zwecke der Wiederverwendung gelöscht. Mit der digitalen Speicherung entfällt dieser Zwang, so dass kein Grund mehr besteht, diese dynamischen Daten zu vernichten und nicht auch zugänglich zu machen. 269

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Ausdruck der gestiegenen Ansprüche an die Zugänglichkeit nicht nur von Daten und Ergebnissen sind wissenschaftspolitische Programme wie die Open-Access-Initiative. Open-Access verfolgt das Ziel, wissenschaftliche Literatur und Materialien ohne Beschränkungen (z.B. Gebühren oder Lizenzen) über das Internet zugänglich zu machen. 63 Durch die Kopplung der intersubjektiven Überprüfbarkeit an die Zugänglichkeit von Daten erfolgt eine Anpassung der wissenschaftstheoretischen Normen an die Möglichkeiten, die die zeitgenössische Medientechnik bietet. Die Funktion von Daten als Gewährträger der Überprüfbarkeit und damit der Sicherstellung der Güte und Gültigkeit von Forschung werden Daten in ein Verhältnis zu Elementen gesetzt, die nicht Bestandteil der Forschungssysteme sind, in denen sie erzeugt werden. 64 Ihre Funktion bezieht sich dabei nicht mehr auf die durch sie repräsentierten Gegenstände oder auf die Methoden, sondern auf den Forschungsprozess im Ganzen. Aufgrund der prinzipiellen Einschränkungen, denen das Konzept intersubjektiver Überprüfbarkeit unterliegt, ist jedoch fragwürdig, ob die Daten allein den an sie gestellten Anspruch erfüllen können. Hier sind insbesondere eine Dokumentation des Forschungsprozesses und eine Reflexion der Konstituierung der Daten in Erwägung zu ziehen.65

63 Hintergrund der Forderung sind einerseits finanzielle Gründe (mehrfache Subventionierung wissenschaftlicher Ergebnisse durch die öffentliche Hand) sowie mehr Transparenz der Forschung selbst, indem Forschungsprozesse dadurch nachvollziehbar gemacht werden könnten. Ein weiteres Beispiel ist der 2004 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung berufene Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten. Er verfolgt das Ziel, die Verfügbarkeit von bereits vorhandenen Daten und perspektivisch die Qualität sozialwissenschaftlicher Daten zu erhöhen. Bei dieser Initiative bleibt jedoch abzuwarten, ob sie wiederum Standardisierungsbestrebungen verfolgt, die die herkömmlichen Formen der Sozialforschung fortschreiben. Zum Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten siehe Solga, Heike/Wagner, Gert G., Eine moderne Dateninfrastruktur für eine exzellente Forschung und Politikberatung. Bericht über die Arbeit des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten in seiner ersten Berufungsperiode (2004–2006) (Working Paper No. 1), verfügbar unter: http://www.ratswd.de/download/workingpapers2007/01_07.pdf. 64 Zur kollektiven Validierung im Anschluss an die Forschung siehe auch den Abschnitt Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem in Fallstudie I: Validität und Validierung. 65 So werden im größten deutschen Archiv für sozialwissenschaftliche Daten, dem Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA) der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen e.V. (GESIS) laut Selbstdarstellung lediglich »Primärmaterial« wie »Daten, Fragebögen und Codebücher« aufbewahrt. Vgl. http://www.gesis.org/ZA/index.htm [21.05.2008]. 270

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2.3 Typen sozialwissenschaftlicher Daten Sozialwissenschaftliche Daten können neben ihrer Funktion nach ihrer Art unterschieden werden. Übernimmt man die Unterscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung wird die Frage nach der Vorurteilsfreiheit beim Datengewinn virulent. Auch wenn dieser Begriff problematisch und historisch belastet ist, schwingt der Vorwurf des Mangels derselben an die Adresse der quantitativen Sozialforschung immer schon in den Prinzipien der heuristischen, theoriegenerierenden Sozialforschung mit. Wenn man diesen Anspruch ernst nimmt und konsequent durchhalten wollte, besteht jedoch das Problem, dass sich weder Forschungssystem noch Gegenstand noch Fragestellung konstituieren könnten und damit selbstverständlich auch keine Daten, die dann einer unvoreingenommenen Analyse unterzogen werden könnten. Dies gilt auch für die qualitative Sozialforschung. In ihrer extremen Auslegung ist die Frage nach der Vorurteilsfreiheit wenig fruchtbar. Bricht man sie jedoch auf eine forschungspraktische Ebene herunter, ergeben sich neue Einsichten in die Unterschiede zwischen den einzelnen Datenformen. Dies betrifft vor allem den Umgang mit Komplexität. Der Unterschied besteht in der Offenheit gegenüber der Frage, was zu Daten werden kann, bzw. im Zeitpunkt der Beantwortung der Frage. So kann bereits im Vorfeld bei der Konstruktion von Hypothesen und Messinstrumenten entschieden werden, was die Schwelle zum Datum überschreitet, oder aber erst während der Datenerhebung oder der Datenauswertung. Dabei muss beachtet werden, dass es sich hierbei um einen graduellen und nicht um einen prinzipiellen Unterschied handelt. Die quantitative Sozialforschung weiß paradoxerweise in der Regel, was sie wissen will und gießt diesen vor der Datenerhebung liegenden Diskurs üblicherweise in Fragebögen. 66 Das bedeutet nicht, dass nicht auch die quantitative Sozialforschung zu unvorhergesehenen Ergebnissen kommen könnte. Dafür stehen die explorativen statistischen Verfahren. Jedoch konstituieren sich dadurch die Daten in einem völlig anderen Beziehungsgeflecht zwischen Objektbereich und Forscher, oder anders ausgedrückt, die Daten sind artverschieden in Bezug auf ihre kommunikative Konstituierung und damit in Bezug auf die kommunikativen Modelle, die die Forscher ihren Methoden zugrunde legen und in der Erhebung umsetzen.

66 Das deutsche Wort Datenerhebung ist in diesem Zusammenhang ungenauer als die Entsprechungen im Englischen. Hier wird zwischen ›data collection‹ und ›data ascertainment‹ in der Statistik unterschieden. 271

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2.3.1 Basisunterscheidungen Die sozialwissenschaftliche Literatur kennt nur wenige Kriterien zur Unterscheidung unterschiedlicher Daten. Eine gängige Klassifizierung differenziert zwischen Primär- und Sekundärdaten. Primärdaten werden eigens für eine Untersuchung erhoben, während Sekundärdaten bereits vorliegen, da sie in einem anderen Zusammenhang erhoben wurden. Diese Unterscheidung ist mit Blick auf die Relationalität aller Daten jedoch zweifelhaft. Daten müssen immer zu Daten erklärt werden, um als Daten zu erscheinen und entsprechend den Auswertungsprogrammen genutzt zu werden. Besonders deutlich wird dies an jenen Forschungsansätzen, die ausschließlich auf vorhandenes Material zurückgreifen wie die Diskursanalyse. Das in ihr genutzte und zu Daten erklärte Material erhält diesen Status erst durch die Einbindung in Forschungssysteme. Ebenso verhält es sich, wenn Theorien oder Lehrbücher zu Daten erhoben werden. Da diese nicht als Daten in einem Kommunikationsprozess zum Zweck der Auswertung eigens generiert wurden, sind sie keine Daten, die nun in einem anderen Zusammenhang ein zweites Mal ausgewertet werden – es gab nie ein erstes Mal. Der Begriff Primärdaten ist daher problematisch, da er im Gegensatz zu den umgewidmeten Sekundärdaten in Bezug auf die Fragestellung eine gewisse Unmittelbarkeit suggeriert. Diese Unmittelbarkeit findet sich auch in der Metaphorik von »Datenquellen«, die nahe legt, dass Daten in irgendeiner Weise von selber »sprudeln« könnten und Forscher diese bloß »abzuschöpfen« bräuchten. Auch hier genügt der Hinweis auf die Relationalität von Daten, um dieser Metaphorik das Wasser abzugraben. Spätestens wenn man Forschungssysteme als kommunikative Netzwerke mit unterschiedlichen Medien auffasst, kann nicht mehr von Unmittelbarkeit und Quellen ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass sämtliche Daten als Produkte von Forschungssystemen betrachtet werden müssen. Die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärdaten bezieht sich folglich in erster Linie auf die Forscher und ihre Rolle bei der Produktion von Daten. Die Differenz liegt dann in der Feststellung, ob sie selbst als Kommunikatoren an der Konstituierung der Daten mitgewirkt haben oder nicht. Über Art und Form der Daten sagt die Unterscheidung nichts aus. Eine weitere populäre Beschreibung von Daten ist »Rohdaten«, dessen komplementärer Begriff ›gekochte Daten‹ allerdings nicht verwendet wird. Diese Metaphorik erweckt Assoziationen wie unbehandelt oder unzubereitet, vielleicht auch blutig. Allein schon auf der Ebene dieses Bildes wird der Trugschluss erkennbar. Es ist klar, dass ein Stück rohes Fleisch nicht von sich aus in der Welt existiert, sondern erst dazu gemacht werden muss. In der Regel schneidet es ein Metzger aus einem to272

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ten Tier heraus. Erst dann hat man ein Stück rohes Fleisch. Niemand würde auf die Idee kommen, beim Anblick einer Kuh auf einer Weide an rohes Fleisch zu denken. In der Praxis bezeichnet der Begriff Rohdaten jene Daten, die nach ihrer Registrierung noch keiner weitergehenden Bearbeitung unterworfen wurden. Mit ihrer medialen Registrierung sind diese Daten jedoch immer schon vermittelt. Ihre Registrierung erfasst auch keine außerhalb des Forschungssystems existierenden Entitäten, sondern nur solche, die bereits Bestandteil dieses Kommunikationssystems sind. Das bedeutet: es gibt keine Rohdaten. Was es jedoch gibt und zentrales Differenzkriterium für die Beschreibung sozialwissenschaftlicher Daten sein muss, sind die unterschiedlichen Niveaus, auf denen Daten emergieren.

2.3.2 Numerische Daten Numerische Daten zeichnen sich dadurch aus, dass sie formal auf einem Niveau emergieren, so dass sie einer maschinellen Verarbeitung unterzogen werden können. Als reine Zahlen sind sie in Nakes Sinne bedeutungsfrei. Jedoch wird es schon im Zuge der maschinellen Verarbeitung notwendig, den Kontext ihrer Konstituierung in die Auswertungsprogramme mit einzubeziehen. Das liegt daran, dass sozialwissenschaftliche statistische Daten sich hinsichtlich der verwendeten Skalenniveaus und ihres Informationsgehalts unterscheiden. Nominale Merkmale wie Geschlecht oder Farbe weisen unterschiedliche Ausprägungen auf, die nicht in eine Reihenfolge gebracht werden können. Ordinalskalierte Merkmale wie Schulnoten oder Ranglistenplätze weisen letztere Eigenschaft auf. Bei metrischen intervall- (Temperatur in Grad Celsius) und verhältnisskalierten (Alter) Merkmalen ist neben der Rangfolge auch der Abstand zwischen den einzelnen Ausprägungen festgelegt. Der Unterschied besteht darin, dass intervallskalierte Merkmale keinen absoluten Nullpunkt aufweisen. 67 Die unterschiedlichen Skalenniveaus wirken sich auf die zulässigen statistischen Operationen aus. Ein Beispiel dafür sind die Lageparameter bzw. die zentrale Tendenz. Intervallskalen lassen die Berechnung des arithmetischen Mittels und Verhältnisskalen die Berechnung des geometrischen Mittels zu. Bei Ordinalskalen dagegen wird der Median berechnet, bei Nominalskalen der Modalwert. 68 Diese Anweisungen bzw. die Information über das jeweilige Skalenniveau sind in den Zahlen selbst nicht enthalten, son-

67 Patzelt, Werner J., Einführung in die sozialwissenschaftliche Statistik, München: Oldenbourg 1985, S. 18-26. 68 Ebd., S. 48-51. 273

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dern müssen als Kontextinformationen hinzugefügt werden. Der Informationsgehalt von Daten ist abhängig vom Skalenniveau, bei Nominalskalen zusätzlich von der Anzahl der Klassen. 69 Die angestrebte Selbstähnlichkeit der Daten mit den untersuchten Gegenständen ergibt sich erst aus ihrer Zuordnung zu einem empirischen Relativ, nicht aus den Zahlen selbst. Die Ebene der Zahlen ist umgekehrt das Niveau, auf dem die empirischen Beobachtungen ähnlich und damit vergleich- bzw. aufeinander beziehbar gemacht werden. Das Ziel statistischer Verfahren und der Erhebung numerischer Daten ist folglich, dass sich die Daten selbst ähnlich werden. Sie sind das Ergebnis mindestens zweier Transformationen. Zunächst erfolgt die Operationalisierung von zuvor identifizierten Variablen im Vorfeld der Datenerhebung. Daran schließt sich die Transformation der registrierten Ausprägungen in numerische Daten an. Kern des Konzeptes numerischer Daten ist diese Transformation auf ein einziges Niveau. Sie ist die Voraussetzung für die selbstreferenzielle Zeichenpraxis der Statistik.

2.3.3 Semantisch-pragmatische Daten Daten, die eine Bedeutung tragen bzw. nicht vollkommen bedeutungsfrei sind und denen daher eine Bedeutung zugeschrieben werden kann, können als semantische Daten bezeichnet werden. Sie sind nicht an ein bestimmtes Emergenzniveau gebunden. Die Sozialforschung nutzt bspw. Interviewmitschnitte oder deren Transkriptionen und entscheidet sich damit für ein bestimmtes Niveau. Während der Transformation vom Mitschnitt zur Transkription wird die semantische Ebene dieser Daten in den Vordergrund gerückt, wenn die Beziehung einzelner Äußerungen und die Art ihrer Äußerung in Beziehung zueinander gesetzt werden, um daraus schriftlich fixierte und damit von ihrer möglichen Kontingenz bereinigte Aussagen zu produzieren. Insofern sind Transkriptionen das Ergebnis von semantischen Auswertungsprozessen. Die Nutzung unterschiedlicher Emergenzniveaus tritt auch in Form der kombinierten Nutzung unterschiedlicher Daten, bspw. von selbst erhobenen Daten und unabhängig davon zur Verfügung stehenden Informationen auf. Die Nutzung unterschiedlicher Niveaus findet sich auch in der Erweiterung des medientechnischen Instrumentariums in der Sozialforschung. In den vergangenen Jahren ist eine sich verstärkende Tendenz zu beobachten, in den Sozialwissenschaften bisher nicht genutzte Medien als Daten zu er-

69 Vgl. Clauß, Günter/Finze, Falk-Rüdiger/Partzsch, Lothar, Statistik für Soziologen, Pädagogen, Psychologen und Mediziner, Bd. I, Thun: Deutsch 1995, S. 21. 274

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schließen. Dafür steht bspw. die sogenannte visuelle Soziologie, die versucht Fotografien und Filme als Daten zu verwenden.70 Auf der pragmatischen Ebene lässt sich die Bedeutung dieser Daten erst im Zusammenhang mit dem Kontext ihrer Generierung erschließen, unabhängig davon, ob die Daten eigens in Forschungssystemen generiert werden oder ob andere Informationen zu Daten erklärt werden. Gerade die nicht selbst produzierten Daten erlangen in der jüngeren Vergangenheit verstärkte Aufmerksamkeit in der Sozialforschung. Dafür stehen vor allem die Forschung in der Tradition der Grounded Theory sowie neuerdings die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. In der Grounded Theory gilt das Diktum »All is data«. 71 Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass prinzipiell alle Informationen vom Busfahrplan bis zur Fernsehsendung als Daten genutzt werden können. 72 Dabei gilt, dass die unterschiedlichen Arten von Daten nicht hierarchisiert werden. Ein praktisches Beispiel für die Verknüpfung von eigenen und in anderen Kontexten produzierten Daten ist die biographische Fallrekonstruktion. Hier werden biographische Erzählungen, die in Interviews angeregt werden, mit unabhängig davon bestehenden Materialien, die Auskunft über biographische Stationen geben können, kontrastiert. Ziel ist es, die Differenzen zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte herauszuarbeiten und deren Wechselbeziehung zu analysieren. 73 Die sozialwissen-

70 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von Norman Denzin zum Film (bspw. Denzin, Norman Kent, Images of Postmodern Society. Social Theory and Contemporary Cinema, London: Sage 1998) oder von Douglas Harper zur Fotografie (bspw. Harper, Douglas, Eyes across the water, II. Essays on Visual Anthropology and Sociology, Amsterdam: Het Spinhuis 1993). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Disziplinen, die seit jeher dem visuellen Paradigma verpflichtet sind, nun auch visuelle Medien für sich entdeckt haben. Interessant an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass bereits seit langer Zeit eine Tradition in den Humanwissenschaften besteht, visuelle Medien als Forschungsinstrumente zu verwenden, insbesondere in der Ethnographie, diese Welt aber vor allem der Soziologie, die sich in ihrer empirischen Variante vor allem auf quantitative Verfahren stützt, so lange verborgen geblieben ist und nun Einzug in den Methodenkanon zumindest der qualitativen Sozialforschung hält. 71 Vgl. Glaser, Barney G./Holton, Judith, Remodeling Grounded Theory [80 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 5, Nr. 2, Art. 4 (2004), Absatz 45, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs040245. 72 Glaser und Strauss haben insbesondere darauf hingewiesen, wissenschaftliche Bibliotheken als Datenquellen der Sozialforschung zu betrachten. Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm Leonard, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern: Huber 1998, S. 169. 73 Vgl. Fischer-Rosenthal, Wolfram/Rosenthal, Gabriele, Analyse narrativbiographischer Interviews, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, 275

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schaftliche Diskursanalyse schließlich konzentriert sich fast ausschließlich auf nicht eigens erhobene Daten. In Frage kommen all jene Artefakte, die als Zeugnisse der zu untersuchenden Diskurse betrachtet werden können. Hierbei reicht die Spannweite von Texten und anderem audiovisuellen Material über Vergegenständlichungen in Objekten bis hin zu beobachtbaren sozialen Praktiken. 74 Verallgemeinernd kann man davon sprechen, dass als Daten alle möglichen Spuren von Kommunikationsprozessen bzw. kommunikativen Interaktionen genutzt werden. Aus dieser Perspektive und aufgrund der fließenden Übergänge zwischen den genutzten Daten meint Datenerhebung dann nicht mehr nur Interaktionsprozesse von Forschern im Feld, sondern vielmehr abstrakt den Vorgang, in dem Informationen zu Daten erklärt und damit in ein besonderes Verhältnis zu den anderen Elementen eines Forschungssystems gesetzt werden. Die Besonderheit der Sozialwissenschaften besteht darin, dass ihre Daten immer in diesem Wechselspiel zwischen Semantik und Pragmatik perspektiviert werden. Die Betonung des jeweiligen Aspektes hängt von der Frage ab, in Bezug auf was und auf wen die Daten analysiert werden. Beispielsweise kann in einer kommunikationswissenschaftlichen Analyse von Kommunikationssituationen die semantische Ebene in den Vordergrund treten, wenn es darum geht, Äußerungen formal in Beziehung zueinander zu setzen. In einer Diskursanalyse wird dagegen stärker der pragmatische Aspekt von Aussagen betont, wenn diese inhaltlich in Bezug zu anderen Aussagen gesetzt werden. Diese unterschiedliche Gewichtung wird auch im Spezialfall der nachträglichen Quantifizierung semantisch-pragmatischer Daten virulent. Die Kodierung qualitativer Interviews bezieht sich primär auf den pragmatischen Gehalt von Aussagen, 75 während die quantitative Inhaltsanalyse die semantischen Aspekte ihrer Daten erfasst. Erfolgt dagegen eine interpretative Auswertung von Daten, bei der Forscher einen verstehenden Standpunkt einnehmen, kann nicht mehr scharf zwischen semantischen und pragmatischen Aspekten von Daten getrennt werden. Die Interpretation beinhaltet immer beide Aspekte.

Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 456-468, hier S. 462. 74 Vgl. Keller, Reiner, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 8284. 75 Siehe dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 276

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2.3.4 Affektive Daten Im Zentrum der Nutzung von affektiven Daten steht die individuelle Forscherperspektive. Der Status solcher Daten wird unterschiedlich bewertet. In der psychoanalytischen Traditionen sind sie fester Bestandteil von Erkenntnisprozessen; die qualitative Sozialforschung kennt die Methode der Introspektion. 76 In der quantitativen Sozialforschung dagegen werden sie als unerwünschte Nebeneffekte bzw. Fehlerquellen betrachtet, die es zu unterdrücken gilt. Als Spiegelungsphänomene und damit als Ergebnis von Kommunikationsprozessen in Forschungssystemen können diese Informationen als mögliches Datenmaterial genutzt werden. In der psychoanalytischen Tradition werden affektive Daten bisweilen als vorrangiges Datenmaterial betrachtet.77 Affektive Daten nehmen eine Sonderstellung ein, die sich zunächst aus dem Niveau ergibt, auf dem diese Daten emergieren. Entgegen dem in der Sozialforschung bevorzugten Modus der rationalen Informationsverarbeitung sind sie das Ergebnis emotionaler Informationsverarbeitung. Indem sie an konkrete Personen gebunden sind, erfüllen sie nicht den Anspruch auf intersubjektive Überprüfbarkeit. Im Gegensatz zu anderen nichtsprachlichen Medien wie Film oder Fotografie sind sie nicht speicherbar: ob Wut oder Freude, einmal verflogen bleibt nur noch eine abstrakte Erinnerung. Diese Erinnerung jedoch ist speicherbar bzw. in eine sprachliche Repräsentation überführbar. In Form von Protokollen über Emotionen, Empfindungen und Erlebnisse während des Forschungsprozesses können sie als Datenmaterial dem Forschungssystem zur Verfügung gestellt werden. Dies schließt nicht aus, dass affektive Prozesse als Medium des Erkenntnisgewinns bereits im Moment ihres 76 Vgl. bspw. Kleining, Gerhard/Witt, Harald, Qualitativ-heuristische Forschung als Entdeckungsmethodologie für Psychologie und Sozialwissenschaften: Die Wiederentdeckung der Methode der Introspektion als Beispiel [19 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 1, Nr. 1 (2000), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0001136. 77 Daraus folgt die methodologische Forderung, die Erhebung affektiver Daten aktiv zu betreiben: »Der ideale Psychoanalytiker kanalisiert absichtlich Reize, die vom Patienten ausgehen, direkt in sein eigenes Unbewußtes [...]. Er erlaubt seinen Patienten, ihn zu erreichen – und in ihn hineinzureichen.« Siehe Devereux, Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 335. Zur Übernahme dieses Prinzips in die Kommunikative Sozialforschung siehe Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Zur Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung in der Beratung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 117f. 277

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Auftretens bewusst oder unbewusst genutzt werden. 78 Im Sinne einer gewünschten Vervollständigung der Datenbasis müssen diese dann aber im Nachhinein dokumentiert werden. Aus dem Vergleich der unterschiedlichen Datentypen lässt sich als Schlussfolgerung eine doppelte Kommunikationsgebundenheit sozialwissenschaftlicher Daten ziehen. Alle Typen von Daten sind Produkte von Kommunikationsprozessen, unabhängig vom Kontext, in dem sie generiert werden. 79 Ihren Status als Daten erhalten sie zudem erst dann, wenn sie in das Kommunikationssystem Forschung eingebunden werden. Sozialwissenschaftliche Daten werden also nicht allein durch die Art und Weise ihrer Erhebung bestimmt, sondern auch durch die Perspektive, unter der sie zu Daten gemacht und als solche analysiert werden. Ob Informationen zu Daten werden, hängt weniger von den Informationsmedien ab als von der Stellung und den Funktionen, die ihnen in Forschungssystemen zugewiesen werden. Dies führt zu der generellen Frage, was der Sozialforschung als Daten dienen kann. Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass es bei der Datenerhebung prinzipiell keine Beschränkungen gibt, welche Informationsmedien bei der Konstituierung von Daten genutzt werden. In der Praxis der erprobten und häufig angewendeten Methoden ergeben sich die Beschränkungen aber gerade aus den Instrumenten der Sozialforschung, durch die Daten konstituiert werden.

2.4 Technische Konstituierung von Daten Das Zustandekommen von sozialwissenschaftlichen Daten unterliegt in den verschiedenen Forschungsstrategien je nach Methode unterschiedlichen technischen und sozialen Bedingungen. Die Methodenliteratur der jüngeren Vergangenheit demonstriert ein ausgeprägtes Interesse an den Möglichkeiten neuer technischer Medien.80 Darin zeigt sich die Ten78 Dies gilt etwa für narrative Interviews, in den Forscher zwischen ihren professionellen Programmen und ihrer Rolle als Teilnehmer an einer alltäglichen Kommunikationssituation oszillieren müssen. Letztere erfordert die empathische Teilnahme und unter Umständen auch die Preisgabe von Affekten. Siehe dazu auch den Abschnitt Erzählen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 79 Hier kann weiter zwischen verschiedenen Ebenen differenziert werden. So erhebt die quantitative Einstellungsforschung nicht nur ihre Daten kommunikativ, sondern hebt auch auf Einstellungen als Produkte von Kommunikationen ab. 80 Insbesondere werden die Möglichkeiten der computergestützten Auswertung qualitativer Daten diskutiert. Vgl. bspw. Kuckartz, Udo, Qualitative 278

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denz, die veränderten technischen Bedingungen vor allem auf die arbeitsökonomischen Aspekte der Sozialforschung zu beziehen. Neue Medien erscheinen als neue Hilfsmittel für alte Methoden. Auswirkungen auf die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen der Sozialforschung werden in der Regel nicht festgestellt. Auf die Bedeutung des Wandels, der mit der Veränderung der technischen Medien und Programme einhergeht, hat Michael Giesecke bereits in den frühen 1990er Jahren hingewiesen.81 Giesecke unterscheidet zwischen typographischer und elektronischer Konstituierung von Daten, wobei er Wissenschaft im Allgemeinen als Subsystem der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften versteht. Die typographische Kommunikationsgemeinschaft ist durch eine Bevorzugung visueller Sensoren und typographischer Speicher- und Verbreitungsmedien gekennzeichnet, während die elektronische Kommunikationsgemeinschaft deren Beschränkungen nicht mehr unterliegt und verschiedene Typen von Sensoren, Speicher- und Verbreitungsmedien zulassen kann. Aufgrund des zunehmenden Technikeinsatzes in der Sozialforschung plädiert Giesecke dafür, Forschungssysteme als informationsverarbeitende Systeme zu beschreiben, die aus natürlichen und technischen Elementen bestehen.82 Unter den Bedingungen der elektronischen Medien emergieren Informationen auf einem anderen Niveau als zuvor. Sie erscheinen nicht mehr als Produkt von technisierter menschlicher, sondern von elektronischer Datengewinnung, die menschliche Wahrnehmungsleistungen substituieren kann.83 Der qualitative Unterschied bzw. der Vorteil elektronisch gespeicherter Daten besteht darin, dass audiovisuell aufgezeichnete Prozesse nun auch im Nachhinein als dynamische Prozesse simuliert werden können und die klassische zwangsläufige Stillstellung von Forschungsgegenständen entfällt. Des Weiteren sind die sekundären Selektionsprozesse etwa während der Transkription von Interviews bei vorhandenen sekundären dynamischen Speichern nun im Sinne intersubjektiver Überprüfbarkeit nachvollziehbar. Damit ändert sich grundsätzlich der Status von Informationen: »Nach der Transformation von ›Kunst‹ und ›Erfahrung‹ in ›Wissen‹ erfolgt nun eine erneute Transformation des Wissens und anderer Informationen in

Datenanalyse: computergestützt. Methodische Hintergründe und Beispiele aus der Forschungspraxis, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. 81 Giesecke, Von der typographischen zur elektronischen Konstituierung von Daten in den Sozial- und Sprachwissenschaften. 82 Vgl. ebd., S. 35. 83 Vgl. ebd., S. 29. 279

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elektronische Daten. Beide Metamorphosen der Information sind durch technische Informations- und Kommunikationsmedien ausgelöst und sie können ihre Gestalt nur durch das Gerüst dieser Medien erhalten.« 84

Kunst und Wissen erscheinen hier als unterschiedliche Niveaus, auf denen Informationen als Produkte komplexer kommunikativer Netzwerke von Medien und Praktiken emergieren können. Was ist dann aber das Spezifische an Daten im Vergleich zu Kunst oder Wissen und welche Rückschlüsse erlaubt dies über den zugrundeliegenden Datenbegriff? Nach den bisherigen Überlegungen handelt es sich bei Daten noch nicht um Wissen. Herkömmlichen Wissenschaftstheorien zufolge emergiert wissenschaftliches Wissen in Form von Theorien bzw. wird in ihnen abstrahiert und gespeichert. Folglich handelt es sich hier um einen weiteren Wissensbegriff, der Wissen nicht nur auf die Domäne Wissenschaft beschränkt und auf unterschiedliche Speicher und Emergenzniveaus bezieht. Wenn Daten ein auf ein anderes Niveau transformiertes Wissen darstellen, ist damit kein exklusives wissenschaftliches Wissen mehr gemeint, sondern eines, das durch wissenschaftliche Prozesse erst in wissenschaftliches Wissen transformiert werden kann. Zieht man das von Giesecke verwendete Prinzip der Homomorphie, der Konstanz der informativen Strukturen hinzu, ist bei allen Transformationen entscheidend, dass die Konstanz dieser Strukturen gewahrt bleibt. Die Frage lautet nun, ob informative Strukturen unabhängig von ihren Speichern gedacht werden können. Hier besteht die Gefahr, einem naiven ontologischen Spiegelungsmodell zu verfallen. Auf diese Gefahr weist Giesecke am Beispiel von Transkriptionen hin. Die Konstituierung sozialwissenschaftlicher Daten erfolgt durch eine Reihe von Transformationen. Informationen werden audiovisuell aufgezeichnet und anschließend auf unterschiedliche Art und Weise transkribiert. Forscher werden dann vor die Frage gestellt, was sie selbst als ihre Daten auffassen und wo sie damit die Grenzen des Forschungssystems ziehen. Giesecke kritisiert jene Auffassung, die erst den auswertenden Forscher als Sensor des Forschungssystems betrachtet und alle davor liegenden Sensoren und Transformationen ausblendet. 85 Die Entscheidung, wo die Grenze gezogen wird, hat maßgeblichen Einfluss auf die Ergebnisse. Eine solche Betrachtung, die eine kontinuierliche (Spiegelungs-)Linie etwa von der Äußerung eines Interviewpartners hin zur fertigen Transkription annimmt, entspricht dem naiven ontologischen Realismus. Diese Sichtweise betrachtet Transkriptionen als einfache Transformationen von In-

84 Ebd., S. 29. 85 Vgl. ebd., S. 33. 280

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formationen, bei denen keine weitergehende Informationsverarbeitung stattfindet. Die damit verbundene Ausblendung der technischen Seite der Informationsgewinnung und -transformation ist gerade vor dem Hintergrund interessant, dass die traditionelle Sozialforschung sich ausschließlich auf Informationen stützt, die auf diesen Wegen gewonnen werden. Darüber hinaus verkennt diese Sichtweise aber auch die Tatsache, dass jene Informationen, die dann zu Daten werden, nicht unabhängig von Forschungsprozessen existieren, sondern erst im kommunikativen Netzwerk Forschungssystem generiert werden. Gieseckes Datenbegriff zufolge sind Daten Zustände der Medien, in denen sie gespeichert werden. Die informativen Strukturen sind dabei abhängig von den verwendeten Speichern und verändern sich durch die Transformationen bei der Übertragung von einem Medium ins andere. Das betrifft im Fall von Interviewtranskriptionen bspw. die zeitliche Struktur der Daten.

2.5 Die zeitliche Struktur von Daten Die zeitliche Struktur von Daten umfasst die äußere Dimension ihrer historischen Verortung und ihre innere Struktur, die durch die Art ihrer Erhebung vorgegeben ist. Die Historizität von Daten bezieht sich nicht nur auf den Zeitpunkt ihrer Erhebung. Vielmehr sind Daten immer eingebettet in umfassende Dispositive, die sich auf der Grundlage gesellschaftlicher, technischer, professioneller, individueller und anderer Programme konstituieren. Die innere zeitliche Struktur von Daten, gleich welcher Art, gründet sich zunächst auf das neuzeitliche wissenschaftliche Axiom der Stillstellung bzw. des Stillstands. Dieses Axiom gilt seither für alle Wissenschaften, die sich der Erforschung dynamischer Prozesse widmen, seien es die Sozialwissenschaften oder aber auch die Naturwissenschaften. Zeitliche Abfolgen werden in eine dauerhafte Form gebracht, die es erlaubt, einzelne Punkte zu analysieren. Wenn Clifford Geertz in Bezug auf die Aufschreibetechniken der Ethnologie davon spricht, dass es darum gehe, das Gesagte »dem vergänglichen Augenblick zu entreißen« 86 , ist damit schon zweierlei gesagt. Das Ziel ist es, vergängliche Prozesse einer dauerhaften Form zuzuführen. Dies kann aber offensichtlich nur dadurch erreicht werden, dass der Prozess atomisiert und auf tendenziell zeitlose »Augenblicke« reduziert wird. Diese Atomisierung ist in vielen wissen86 Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 7-43, hier S. 30. 281

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schaftlichen Disziplinen anzutreffen und wird gewissermaßen als eine Möglichkeitsbedingung von Wissenschaft überhaupt aufgefasst. Der zeitlose Augenblick ist aber nicht nur eine Eigenschaft der zu Daten geronnenen epistemischen Objekte, sondern darüber hinaus auch das Prinzip der meisten Erkenntnistheorien. Ebenso wie die Objekte ihrer Zeitlichkeit (nicht ihrer Historizität!) entledigt werden, steht auch im Akt der Erkenntnis die Zeit still. Wie die epistemischen Objekte ist auch die Erkenntnis kein Prozess. 87 Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der zeitlichen Struktur der Daten und den Instrumenten ihrer Erhebung und Auswertung, die wiederum abhängig sind vom gewählten Forschungsstil. Die Entzeitlichung kann in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses einsetzen. Bei Hypothesen testenden Strategien liegt dieser Punkt bereits vor der Datenerhebung bei der Formulierung der Hypothesen. Die Überprüfung mittels messender Verfahren verlangt von vornherein statische Objekte, die gemessen werden können. Der mögliche Einwand, bei Zeitreihenuntersuchungen oder Langzeitstudien wäre dies nicht der Fall, greift nicht, da der prinzipielle Charakter dieses Forschungsstils und damit der produzierten Daten kein anderer ist. Zeitreihen beziehen sich ausschließlich auf die bereits erwähnte Historizität, also auf ihre Verortung im Zeitkontinuum. Die quantitative Sozialforschung benötigt kein Tonband, sondern Kreuze auf Fragebögen. Der selbst auszufüllende Fragebogen ist das Speichermedium für die Ergebnisse der Introspektion des Untersuchungsteilnehmers, der im Akt des Ausfüllens selbst die Entzeitlichung des epistemischen Objektes reproduziert. Die Entzeitlichung bzw. Entdynamisierung kann aber auch nach der Datenerhebung während der Datendokumentation erfolgen. Im Zusammenhang mit der Transkription von Interviews stellt sich die Frage nach der Dynamik des Mediums Schrift. Ihre Dynamik ist linear. Deshalb muss weiter zwischen den verschiedenen Transkriptionsformen und Notationssystemen unterschieden werden. Als Extremfälle können die zwar nicht mehr empfohlene, aber immer noch anzutreffende standardschriftsprachliche Transkription und die Notation in Partiturschreibweise angesehen werden. 88 Bei der standardschriftsprachlichen Transkription wird die gesprochene Sprache in eine Form gebracht, die dem Ideal der Schriftsprache entspricht, aber in der Regel nicht in tatsächlichen face87 Siehe dazu auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 88 Zu weiteren Transkriptionsformen siehe Dittmar, Norbert, Transkription. Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 282

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to-face-Kommunikationssituationen auftritt. 89 Die standardschriftsprachliche Transkription, wie sie etwa aus Zeitungsinterviews bekannt ist, beinhaltet nicht nur eine grammatikalische Interpretation in Form der Setzung der Interpunktion, sondern auch eine zeitliche Linearisierung des Gesprächsverlaufs. Die Notation in Partiturschreibweise (Abb. 8) dagegen versucht, die Gleichzeitigkeit bzw. Parallelität von Äußerungen zu dokumentieren. Zähler 0:00:10 bei Beginn

+------------------------------------------------|RN Guten Abend meine Damen und Herrn, guten Abend zuhause. | (alle reden durcheinander, RN muß sich erst durchsetzen) 1 +-----------------------------------------------------------+------------------------------------------------|RN Ich möchte Ihnen zu Beginn die Teilnehmer vorstellen, zu 2 +------------------------------------------------------------

[1]: zeigt auf SE

+------------------------------------------------| > [1] |RN meiner Linken . Steffen/ |SE Aber wirklich zur Linken, das |RG (lacht) 3 +------------------------------------------------------------

+------------------------------------------------|RN Steffen Eihmer/ Sie/ Sie kommen |SE stimmt wirklich, also das stimmt sicher, eigentlich/ es | > \ |RG Hm |SS Das ist typisch! |

[2]: leise zu | > \/ SS |JG Hm | (trinkt Wein----------) [2] 4 +------------------------------------------------------------

Abbildung 8: Ausschnitt aus einer Transkription in Patiturschreibweise. Neben dem zeitlichen Verhältnis der Redebeiträge werden auch Kontextinformationen über die Handlungen der beteiligten Personen erfasst. Quelle: http://www.ehlich-berlin.de/hiat/demotxt1.htm. Das Problem für den Leser jedoch ist, dass er im Lesen diese Gleichzeitigkeiten nicht reproduzieren bzw. rezipieren kann. Somit ist diese Notationsweise nur eine detailliertere Annäherung an die reale Gesprächssituation. Auch wenn die Komplexität der Transkription beliebig gesteigert werden kann, etwa durch Dokumentation von Rezeptionssignalen und Tonlagen oder nonverbaler Kommunikation, bedeutet die Reduktion 89 Natürlich gibt es Ausnahmen, d.h. Menschen, die »reden wie gedruckt«. Ein gut dokumentiertes Beispiel dafür ist das Interview mit Papst Benedikt XVI am 5. August 2006 von Radio Vatikan, verfügbar als Transkription samt Audiofile zum Nachhören unter: http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=91050. Die Transkription wurde nicht, wie in journalistischen Interviews sonst üblich, vollständig in Standardschriftsprache transformiert, lange und verschachtelte Sätze blieben erhalten. 283

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

der multimedialen Gesprächssituation auf das Medium Schrift immer eine Verzerrung der zeitlichen Dimension. Im Fall der standardschriftsprachlichen Transkription geschieht dies durch die Herstellung künstlicher Linearität, im Fall der Partiturschreibweise durch Auflösung der Synchronizität/Simultaneität. Ein weiterer Aspekt der zeitlichen Struktur von Daten ist die Synchronizität der Informationsverarbeitung bei der Datenerhebung. Ein Maximum an paralleler Informationsverarbeitung ist bei narrativen Interviews mit wechselnden Rollen zu erwarten. Dagegen ist der selbst auszufüllende Fragebogen das genaue Gegenteil. Aufgrund der asynchronen Struktur und der damit verbundenen Interaktionsfreiheit der Datenerhebung kann der Teilnehmer ausschließlich sich selbst als Referenzobjekt bzw. als Resonanzkörper nutzen. Die damit verbundenen Probleme sind der Sozialforschung durchaus bewusst. Bei der Konstruktion von Fragebögen wird ein nicht unerheblicher Teil der Arbeit auf die Operationalisierung von Variablen verwendet. Das Ziel dabei ist klar. Es geht hier nicht darum, eine selbständige, vom individuellen Einzelfall ausgehende Informationsverarbeitung anzuregen, sondern jene der Forscher zu reproduzieren. Was bedeutet die Entzeitlichung der epistemischen Objekte und ihre Fixierung in statischen Daten nun konkret? In den Sozialwissenschaften, deren Gegenstand komplexe soziale Systeme und Prozesse sind, ist die Frage zu stellen, inwieweit die Atomisierung, deren Umkehr die Annahme ist, aus den Teilen ein Ganzes rekonstruieren zu können, geeignet ist, die Gegenstände zu beschreiben. Hier gilt, dass die Entzeitlichung der Gegenstände durch die materiellen Bedingungen der Speicherung von Daten eine zeitliche Struktur erzeugt, die nicht der Eigenzeit der untersuchten Gegenstände entspricht. Daher ist das Maß an Selbstähnlichkeit von Forschungsgegenständen und ihren Repräsentationen innerhalb von Forschungssystemen auch abhängig von der Art und der zeitlichen Struktur der erzeugten Daten.

2.6 Selbst- und Fremdreferenz sozialwissenschaftlicher Daten Ein generelles Problem von Wissenschaft ist das oftmals ungeklärte Verhältnis von Selbst- und Fremdreferenz, das auf verschiedenen Ebenen anzutreffen ist. Das klassische naturwissenschaftliche Selbstverständnis bezieht sich vereinfacht auf eine außenstehende Beobachterposition. Das fremdreferenzielle Vorgehen besteht darin, Informationen aus der Umwelt in Daten zu transformieren, die wiederum als Umwelt fungieren. Die Anekdote vom Apfel, der Newton auf den Kopf fällt, zeigt 284

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aber bereits, dass Forscher auch in den Naturwissenschaften integraler Bestandteil von Forschungssystemen sind. Newtons Körper funktioniert hier als Resonanzkörper. Aus der Beobachtung der Resonanz schließt Newton auf das Verhalten anderer Körper. Der Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften besteht darin, dass sich in ersteren leichter zwischen Forschern und Untersuchungsgegenständen unterscheiden lässt. Oder anders formuliert: Naturwissenschaftlern fällt es leichter als Sozialwissenschaftlern, mit ihren Daten und Ergebnissen auf extrawissenschaftliche Systeme zu verweisen. Besonders einleuchtend mag dies etwa in der Astronomie erscheinen. Auf den zweiten Blick jedoch muss man einsehen, dass dies gerade in diesem Beispiel nicht stimmt. Durch die Eigenschaften der von der Astronomie untersuchten Objekte ist diese Disziplin gezwungen, als reine Laborwissenschaft zu funktionieren. Die direkte Beobachtung ihrer Objekte ist nicht möglich. Astronomen beobachten keine Galaxien und schon gar keine schwarzen Löcher, sie beobachten den Output ihrer Messinstrumente.90 Das Problem für Sozialwissenschaftler besteht darin, dass sie im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern ihren Untersuchungsobjekten viel ähnlicher sind. Sie können nicht nur keinen Standpunkt einnehmen oder konstruieren, der vollkommen außerhalb ihrer Untersuchungsobjekte liegt, sondern sind vielmehr auf diese Selbstähnlichkeit angewiesen, um überhaupt Zugang zu ihren Forschungsgegenständen zu erhalten.91 Die Untersuchungsgegenstände der Sozialwissenschaften werden dennoch oftmals als extrawissenschaftliche Systeme modelliert. Dies spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen wider. Ergebnisse gehören zur Wissenschaft und werden dementsprechend selten den untersuchten Systemen zur Verfügung gestellt. Noch deutlicher wird dieses Verhältnis aber auf der Ebene der Daten. Der sozialwissenschaftliche Blick ist der des außenstehenden, unsichtbaren Beobachters. Der Sozialforscher beobachtet und ist überrascht, wenn er selbst beobachtet wird. In zahlrei-

90 Vgl. hierzu die Studien von Bruno Latour. Insgesamt zeigt sich vor allem in der jüngeren Vergangenheit eine Tendenz in Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichtsschreibung, Wissenschaft als einen intrasystemischen Diskurs vorzustellen. In Abkehr von klassischen Autorkonzepten wird hier besonderes Augenmerk auf die materiellen Bedingungen von Wissenschaft gelegt, um so durch bestimmte Mediendispositive konstituierte Diskursnetzwerke zu beschreiben. Diese Analysen erzeugen bislang allerdings oftmals primär anekdotisches Wissen über das Auftauchen von Gedanken und Formationen, als dass sie etwas über die zugrundeliegenden kommunikativen Netzwerke aussagen. 91 Siehe dazu auch den Abschnitt Selbstähnlichkeit und Emergenz – die ontologische Dimension in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 285

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chen methodologischen Grundsätzen kommt die Annahme zum Ausdruck, dass Rückkopplungseffekte sich negativ auf die Qualität der Daten und damit auf die Ergebnisse auswirken und deshalb vermieden werden sollten. Daher sollen Daten die Funktion von Repräsentanten einer unabhängigen Umwelt übernehmen. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss. Indem Informationen erst zu Daten werden, indem sie auf das Forschungssystem bezogen werden bzw. in Bezug auf die Auswertungsprogramme hin erhoben und konstituiert werden, sind sie immer schon auch selbstreferenziell. Daten markieren die imaginäre Grenze zwischen Forschern und Umwelt, die in Form von Daten in Forschungssystemen produziert wird. Die Selbstreferenzialität von Daten in Bezug auf Forschungssysteme wird deutlicher, wenn die Forschersubjekte nicht nur als ausführende Organe professioneller Programme verstanden werden, sondern bewusst als individuelle Persönlichkeiten auftreten. Dies ist der Fall bei hermeneutisch-verstehenden Datenanalysen, wenn Forscher versuchen, den Standpunkt der Beforschten einzunehmen. Insbesondere in den erwähnten psychoanalytischen Ansätzen ist Selbstbeobachtung als Medium des Erkenntnisgewinns anerkannt. Grundgedanke dieser Art des sozialwissenschaftlichen Blicks ist die Beschreibung der Forscher als Spiegel ihrer Forschungsobjekte. Aus den eigenen Reaktionen lassen sich Rückschlüsse auf den Untersuchungsgegenstand ziehen. Dieses Verständnis integriert Forscher derart in Forschungssysteme, dass ein unabhängiger Beobachterstandpunkt nicht mehr möglich ist. Nur weil der Forscher selbst ein Teil dieses Systems ist, kann er überhaupt zu Informationen und Erkenntnissen gelangen. Daten sind aus dieser Perspektive das Produkt eines Wechselspiels des Referenzrahmens. Erst durch die Vernetzung und Reflexion von Selbst- und Fremdreferenz werden in diesem Setting Informationen erzeugt, die dann als Daten dienen können. Daraus folgt, dass sozialwissenschaftliche Daten vom Standpunkt der Forschung aus immer fremd- und selbstreferenziell zugleich sind und sich in jenem Wechselspiel organisieren, in dem Forscher ihr Verhältnis zu ihren Gegenständen bestimmen.

2.7 Daten als Produkte kommunikativer Netzwerke Auf der Grundlage dieser Befunde kann nun ein Konzept formuliert werden, das sozialwissenschaftliche Daten als Produkte kommunikativer Netzwerke beschreibt. Als Spezialfall von Informationen können Daten informationstheoretisch erfasst werden. Dann sind sie Gegenstand und Produkt von Wahrnehmungs- und Darstellungsprozessen, Eigenschaften von Medien sowie Produkte von Beziehungen und Netzwerken. 286

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Als Produkte von Netzwerken erhalten Informationen dann ihren Status als Daten, wenn sie für jemanden in Bezug auf etwas als solche fungieren. Dies ist im Prinzip der von Lehmann beschriebene relationale Kern des Datenbegriffs. Daten resultieren aus der Vernetzung von Informationen mit Forschern im Hinblick auf ein Forschungsinteresse bzw. in Bezug auf Auswertungsprogramme. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die Informationen im Forschungssystem generiert werden oder als externer Input hinzugezogen werden. Die eigenständige Datenerhebung kann ebenfalls als Vernetzungsprozess beschrieben werden. Jede Art der Datenerhebung ist eine Vernetzung mehrerer Kommunikatoren. Je nach Erhebungsmethode unterscheiden sie sich in Typik und Anzahl. In einer großen statistischen Untersuchung ist die Anzahl der Kommunikatoren weit größer als bei einer Einzelfallstudie. Die Wahl der Vernetzungsmedien bestimmt auch die Art der Vernetzung. Im Falle des Fragebogens wird im Idealfall eine einseitige lineare Relation zwischen den Kommunikatoren, also zwischen Forschern und Beforschten hergestellt. Im Interview dagegen handelt es sich bereits um eine rekursive Vernetzung zwischen den Beteiligten, die durch die Möglichkeit von Rückkopplungseffekten gekennzeichnet ist. Daten sind aus dieser Perspektive Informationen, die aus der Vernetzung unterschiedlicher Elemente resultieren. Die Entwicklung relationaler Datenbanken unterstreicht die Bedeutung der netzwerktheoretischen Dimension. Das kann an der darin enthaltenen Metaphorik abgelesen werden. So wie Geld in der abstrakten Dimension des Begriffs keinen eigenen Wert besitzt, besitzen auch Daten keinen eigenen Wert. Geld- und Datenbanken können als Speicher gedacht werden. Für Geld gilt, dass Banken ein Ort der Vermehrung bzw. der Wertsteigerung sein können. Während sich Daten in einer Datenbank nicht vermehren können, besteht der Mehrwert hier vielmehr in der möglichen Verknüpfung bzw. Vernetzung der darin enthaltenen Daten. Die dort hergestellten Relationen zwischen ihnen können als neue Informationen betrachtet werden. Dieses Prinzip der Informationsgewinnung durch Relationierung wird insbesondere in der Diskursanalyse betont. Aus informationstheoretischer Perspektive sind Daten das Produkt von Wahrnehmungs- und Darstellungsprozessen. Dabei muss zwischen verschiedenen Typen von Informationsverarbeitung unterschieden werden. Die klassische Sozialforschung beschreibt die Datenerhebung als fremdreferenzielle Informationsverarbeitung, bei der Informationen aus der untersuchten Umwelt in Daten als Umwelt der auswertenden Forscher transformiert werden. Dies gilt unabhängig von der Frage, wo der Forscher die Grenze zur Umwelt zieht, ob er beispielsweise also die 287

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Tonbandaufnahme oder die Transkription als seine Umwelt betrachtet. Da Daten immer auch in Bezug auf die Auswertungsprogramme konstituiert werden, handelt es sich bei der Datenerhebung aus Sicht der Forschungssysteme immer auch um selbstreferenzielle Informationsverarbeitung. Insofern sind Daten immer zugleich selbst- und fremdreferenziell. Besonders deutlich wird dies am Status von affektiven Daten. Unterschiede bestehen dahingehend, ob der Prozess der Datenerhebung als lineare Verkettung von Informationsprozessen oder als parallele Informationsverarbeitung gestaltet wird. Die Differenz zwischen interaktionsarmen und -intensiven Verfahren kommunikativer Datenerhebung besteht in der Hervorhebung der unterschiedlichen Referenzobjekte. Die Erhebung statistischer Daten wird als linearer Prozess der Informationsverarbeitung gestaltet. Das Ziel ist die Selbstreferenz des Forschungssystems auf die Auswertungsprogramme zu beschränken. Rückkopplungsintensive Verfahren wie das narrative Interview dagegen stellen Prozesse paralleler Informationsverarbeitung dar. Hier bezieht sich die Selbstreferenz der so erzeugten Daten auf die Forscher selbst, die an der kommunikativen Generierung der Daten beteiligt sind. Eine Steigerung der Komplexität von Daten ist die reflexive Informationsverarbeitung wie sie die Kommunikative Sozialforschung vorschlägt, d.h. die Integration von fremd- und selbstreferenziell erzeugten Daten. Die Transformationen von Informationen, die zur Konstituierung von Daten führen, können aus informationstheoretischer und spiegelungstheoretischer Perspektive beschreiben werden. Das Beispiel der Transkription von Interviewmitschnitten zeigt eine weitere Einschränkung für das Konzept fremdreferenzieller Informationsverarbeitung. Transkribenden sind multimediale und multiprozessorale Instanzen der Informationsverarbeitung. Sie hören und schreiben auf, bedienen das Abspielgerät per Hand oder per Fußschalter und treffen pausenlos Entscheidungen darüber, was und wie sie etwas aufschreiben. Diese selektiven Entscheidungen müssen nicht nur rational, sondern können auch emotional getroffen werden. Insofern ist unsicher, ob die informativen Strukturen der Audioinformationen erhalten bleiben. Aus spiegelungstheoretischer Sicht sind Daten das Produkt von Abbildungsprozessen. Daten sind untrennbar mit den Medien ihrer Erhebung verbunden, wobei technische Medien Spiegelungen auf unterschiedlichen Niveaus ermöglichen. Die Entdynamisierung von dynamisch gespeicherten Informationen bewirkt jedoch schon eine qualitative Veränderung der informativen Struktur. Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt bei kodierenden Verfahren. Die Kodierung qualitativer Daten dient der Zusammenfassung bzw. Gruppierung sinnhafter Zusammenhänge, während die Kodierung quantitativer 288

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Daten diese auf eine sinnentbehrende Dimension reduziert, um sie zu Objekten elementarer mathematischer Zeichenoperationen zu machen. In beiden Fällen gilt, dass die informativen Strukturen durch die Kodierung festgelegt werden und nicht umgekehrt, dass sich diese Strukturen in der Kodierung spiegeln. 92 Die Transformationen von Informationen haben folglich qualitative Auswirkungen auf das als Analyseobjekt dienende Datenmaterial. Die mit dem Begriff der Datendokumentation suggerierte Neutralität dieser Transformationsprozesse muss deshalb zurückgewiesen werden. Die Unterschiede zwischen Datenerhebung, -dokumentation und -auswertung sind demnach nur gradueller und nicht prinzipieller Art. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Daten die Methoden ihrer Erhebung spiegeln und die Methoden wiederum die Auswertungsprogramme. Die Frage, die sich die Sozialforschung immer wieder von Neuem stellen muss, lautet, an welcher Stelle dieses zirkulären Prozesses die Sozialforschung beginnen soll. Für die Statistik fällt die Antwort immer gleich aus: Sie beginnt immer bei der Statistik.

2.8 Fazit Der Produzent sozialwissenschaftlicher Daten sind nicht Untersuchungsteilnehmer oder Sozialforscher. Diese Vorstellungen greifen zu kurz und denken Sozialforschungsprozesse weiterhin in linearen Schemata. Sozialforschung ist aber keine lineare Verkettung Datenquelle – Daten – Forscher. Der Datenproduzent ist vielmehr ein kommunikatives Netzwerk, in dem Untersuchungsteilnehmer und Forscher nur Elemente unter anderen sind. Daten sind das emergente Produkt solcher multidimensionalen, rekursiven Netzwerke. Ändern sich die Parameter dieser Netzwerke, ändern sich auch Art und Form dieser Daten. Informationen werden zu Daten, indem sie in ein solches Netzwerk eingebunden werden oder aus diesem emergieren. Das bedeutet, dass Daten sich in erster Linie auf Forschungssysteme beziehen und nicht, wie es ein naiver empiristischer Realismus nahe legen würde, auf die untersuchten Systeme. Sozialwissenschaftliche Daten sind in erster Linie abhängig von den Medien ihrer Erhebung und den Programmen ihrer Auswertung. Da durch diese Mechanismen implizit auch die Gegenstände der Sozialforschung konstituiert werden, ist die Forderung nach der Gegenstandsangemessenheit der Methoden als Versuch zu betrachten, das zirkuläre Verhältnis von Gegenstand, Methoden und Daten zu linearisieren. Die

92 Siehe dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 289

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Analyse des Konzeptes sozialwissenschaftlicher Daten fordert dagegen dazu auf, die Reflexion des Verhältnisses von Forschern zu ihren Gegenständen und der Bestimmung der Umweltgrenzen zum integralen Bestandteil von Forschungsprozessen zu machen. Angesichts der Komplexität ihrer Gegenstände ist die Sozialforschung gut beraten, in ihren Forschungssystemen auch auf der Ebene der Daten Komplexität zuzulassen und dem Prinzip »All is data« der Grounded Theory zu folgen. Ähnlich wie moderne Naturwissenschaftler finden sich Sozialforscher eingebettet in ein System von Apparaturen, psychische, soziale und technische Systeme, innerhalb derer sie nur ein Element unter anderen sind. In ihnen funktionieren die Programme der Newton-mechanischen Welt nicht.

3 Fallstudie III: Zählen und Erzählen Die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Zugangsweisen der Sozialforschung werden gewöhnlich unter den Etiketten ›quantitativ‹ und ›qualitativ‹ geführt. Die Fallstudie verfolgt das Ziel, diese irreführende Unterscheidung zu unterlaufen, indem mit ›Zählen‹ und ›Erzählen‹ ein alternatives Beschreibungsraster eingeführt wird. Dieses hat zunächst den Vorteil, dass damit die Diskussion von einer statischen Beschreibung der Gegenstände auf eine Orientierung auf die Prozesse der Forschung umgestellt wird. Diese Orientierung ist für die Anwendung einer kommunikationstheoretischen Perspektive unerlässlich. Darüber hinaus bietet sich die Möglichkeit, abseits der bekannten differenzierenden Selbstbeschreibungen der Sozialforschung nun eine Perspektive zu eröffnen, aus der die Verschränkungen ihrer unterschiedlichen Traditionen erkenntlich werden. Zählen und Erzählen gehören zu den elementaren Kulturtechniken der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. 93 Sie können allerdings nicht so strikt getrennt werden wie es auf den ersten Blick erscheint, indem man Zählen der quantitativen und Erzählen der qualitativen Sozialforschung zuschreiben würde. Beide Strategien finden in den unterschiedlichen Ansätzen der Sozialforschung Anwendung. So kennen beispielsweise auch qualitative Methoden kodierende Verfahren, wie umgekehrt auch die quantitativen Methoden nicht nur auf ihre statisti93 Die Biosoziologie geht bisweilen so weit, die Entwicklung dieser Techniken als Marksteine des Beginns der Kulturgeschichte der Menschheit zu betrachten. Vgl. bspw. Claessens, Dieter, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 166-170. 290

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schen Verfahren reduziert werden können. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Zählen und Erzählen nicht nur auf der lexikalischen Ebene verwandt sind. Neben den Überschneidungen interessieren in diesem Zusammenhang auch die Unterschiede. Dies betrifft zunächst die epistemologischen Standpunkte, die mit den jeweiligen Strategien verbunden sind. Zählen orientiert sich an den Idealen Objektivität und intersubjektive Überprüfbarkeit, während Erzählen subjektive Perspektiven und kommunikative Bearbeitung von Erfahrung prämiert. Beim Zählen steht die Frage nach dem ontologischen »Was« im Vordergrund, während beim Erzählen die Frage nach einem relativen »Wie« bevorzugt wird. Unter dem Oberbegriff Zählen werden im Folgenden die Verfahren zusammengefasst, die das Ziel verfolgen, soziale Sachverhalte zu messen und/oder Sachverhalte bzw. Daten zu kodieren. Damit werden sowohl die statistischen Verfahren erfasst, die ihre Gegenstände bereits im Vorfeld der Datenerhebung operationalisieren und kodieren, als auch jene Verfahren, die erhobenes Datenmaterial im Nachhinein kodieren. Der Begriff Zählen wird so über seine numerische Konnotation erweitert hin zu hermeneutischen Praktiken der Abstraktion in der Sozialforschung. Der Begriff Erzählen soll hier mehrdimensional verstanden werden. Zunächst einmal ist damit die Kommunikationsform Erzählen gemeint, bei der Erfahrungen kollektiv und interagierend verarbeitet werden. Darüber hinaus verweist der Begriff auf die literarische Gattung der Erzählung in einem abstrakten Sinn. Gemeint ist die Produktion kohärenter und konsistenter Darstellungen in wissenschaftlichen Publikationen als Medium interaktionsarmer Kommunikation.94 Schließlich verweist der Begriff auf einer übergeordneten Ebene auf narrative Strukturen, die Wissenschaft selbst erzeugt und auf die sie zurückgreifen kann. Abstrakt ausgedrückt besteht der Unterschied zwischen Zählen und Erzählen darin, dass mit diesen Strategien unterschiedliche Beziehungen zwischen den Akteuren der Sozialforschung verbunden sind. Zählen meint die Bevorzugung unidirektionaler Beziehungen und linearer Prozesse, während Erzählen auf eine mehrdimensionale Vernetzung und nichtlineare Dynamik abhebt.

94 Vgl. Weber, Philippe, Schwellen der Wissenschaftlichkeit. Einleitung, in: Höcker, Arne/Moser, Jeannie/Weber, Philippe (Hrsg.), Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld: Transcript 2006, S. 85-90. Weber stellt einer puristischen Definition von Wissenschaft, in der Erzählungen als Verunreinigungen gelten, gegenüber, dass auch formalisiertes Wissen auf kohärente und sinnstiftende Darstellungselemente angewiesen ist. Narrative wären demnach als integraler Bestandteil von Wissenschaftlichkeit anzusehen. 291

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Die Fallstudie geht der Frage nach, welche Kommunikationsmodelle in den Strategien des Zählens und Erzählens wirksam werden bzw. in welchen Zusammenhängen diese Strategien in den Kommunikationsprozessen der Sozialforschung auftreten. Dazu werden drei Praktiken näher untersucht. Im ersten Teil »Messen und Kodieren« stehen jene Verfahren im Vordergrund, deren Ziel die Reduktion von Komplexität durch möglichst strukturgleiche Abbildung ist. Dazu gehören die mathematischen Verfahren und die Kodierung in der Grounded Theory. Der zweite Teil »Repräsentieren« widmet sich den Prozessen der Repräsentation sowohl von Forschungsgegenständen innerhalb von Forschungssystemen als auch von Ergebnissen in der Außendarstellung der Forschung. Beispiel dafür sind Verfahren wie das narrative Interview als kommunikative Erzeugung von Daten sowie die Nutzung von Visualisierungen quantitativer Daten zur Erzeugung narrativer Strukturen in Ergebnisberichten. Im dritten Teil »Simulieren« wird schließlich auf Verfahren der Computersimulation eingegangen. Diese zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass hier Zählen und Erzählen nicht mehr voneinander getrennt werden können, sondern auch dadurch, dass Simulationen als relativ neue Weise der Erkenntnisproduktion ohne den Verweis auf empirische Relative auskommen.

3.1 Messen und Kodieren 3.1.1 Messen Messen kann als Kulturtechnik bis in die früheste Kulturgeschichte der Menschheit zurückverfolgt werden. 95 Diese Feststellung führt bisweilen zu der Annahme, dass es sich dabei um eine anthropologische Konstante handelt, die ihren sprachlichen Ausdruck in der Bezeichnung Homo mensurans findet. 96 Messen bezieht sich dabei immer auch auf den Menschen und soziale Zusammenhänge. Der Mensch wird nicht nur vermessen, sondern bei Protagoras im Homo-Mensura-Satz selbst zum Maß aller Dinge. Im Bereich des Sozialen wird eine Koevolution von Messen und Gesellschaft konstatiert, denn »ohne die umfangreiche Infrastruktur des Messens, Zählens und Rechnens in allen Branchen der Produktion,

95 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Messen als Instrument der Sozialforschung. Zu Sozialforschung und anderen Wissenschaften als Gegenstand von Messungen innerhalb der Szientometrie siehe den Abschnitt Nach der Forschung: Validierung im Wissenschaftssystem in Fallstudie I: Validität und Validierung. 96 Vgl. Haustein, Heinz-Dieter, Weltchronik des Messens. Universalgeschichte von Maß und Zahl, Geld und Gewicht, Berlin: de Gruyter 2001, S. 3. 292

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der Dienstleistungen und des Verbrauchs würde die moderne Zivilisation nicht existieren.« 97 Diese Sichtweise verweist sowohl auf die Funktion des Messens für die Organisation und Ausdifferenzierung von sozialen Ordnungen als auch auf seine Funktion als Technologie der Macht. Die erkenntnistheoretische Radikalisierung des Mess- und Zählprinzips wird ebenfalls bereits in der Antike vorgenommen und gipfelt bei Philolaos von Kroton in der Formulierung »Und in der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, eine Zahl. Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit dem Gedanken zu erfassen oder zu erkennen ohne diese.« 98 Auch die Geschichte der modernen Sozialwissenschaften kann als eine Episode in der Kulturgeschichte des Messens und Zählens verstanden werden, da ihre Wurzeln u.a. in der Verwaltungsstatistik liegen.99 Messen und Zählen bilden bis heute die Grundlage eines Großteils der zeitgenössischen Sozialforschung, wobei diese Basis bekanntermaßen nie unumstritten war und ist. Das Messen ist eine Technik jener Sozialforschung, die das Ziel verfolgt, eine große Zahl von Fällen »systematisch und intersubjektiv nachvollziehbar« 100 zu untersuchen. Messbar sind dabei nur einzelne Merkmale. Dies setzt voraus, dass die »Fälle« auf ihre Eigenschaft als Merkmalsträger reduziert werden. Unter dieser Prämisse ist es dann möglich, Messen als »Zuordnung einer Menge von Zahlen oder Symbolen zu den Ausprägungen einer Variablen, mithin auch zu den Objekten zu definieren [...] Die Zuordnung (oder genauer: Abbildung) soll so erfolgen, daß die Relationen unter den Zahlenwerten den Relationen unter den Objekten entsprechen« 101 . Messen beschreibt also den Vorgang der Überführung eines empirischen in ein numerisches Relativ. 102 Diese Überfüh-

97 98

Ebd. Zitiert nach Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Erster Band, Berlin: Weidmann 1989, S. 408. 99 Alain Desrosières identifiziert für die Statistik zwei Traditionen. Zum einen die Verfahren aus Verwaltung und Wirtschaft, in deren Zentrum ihre präskriptive und handlungsleitende Funktion steht. Zum anderen die Naturwissenschaften, in denen der Einsatz der Statistik deskriptiv und erkenntnistheoretisch motiviert ist. Daraus, so Desrosières, ergebe sich eine unauflösbare Spannung. Vgl. Desrosières, Alain, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg: Springer 2005, S. 7-10. 100 Brosius, Hans-Bernd/Koschel, Friederike, Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 47. 101 Friedrichs, Jürgen, Methoden empirischer Sozialforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 97 (kursiv im Original). 102 Siehe dazu auch den Abschnitt Numerische Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 293

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rung verfolgt das Ziel einer strukturtreuen Abbildung. Damit ist klar, dass Messen eine Praxis darstellt, bei der das Ergebnis eines Beobachtungsvorganges in Zeichen übersetzt wird. Die Beobachtungsrelation und der Standpunkt der Beobachtung sind dabei durch die Art der Zeichen – nämlich Zahlen – festgelegt. Nicht festgelegt sind die Messinstrumente, die sich nach der Art der zu beobachtenden Variablen richten müssen. Deshalb muss zunächst die allgemeine Charakterisierung des Messens als Zuordnung von Zahlen zu Variablen im Hinblick auf die Sozialforschung weiter spezifiziert werden, da die zu messenden Merkmale nicht unbedingt per definitionem einem numerischen Korrelat zuzuordnen sind. Dies gilt insbesondere, wenn komplexe Phänomene wie etwa latente Merkmale wie Risikobereitschaft oder Mitgefühl einer Messung unterzogen werden sollen, aber auch wenn Einkommen oder Schulnoten gemessen werden. Hier bestehen Unterschiede hinsichtlich der Eigenschaften der produzierten Zahlen und ihrem Verhältnis zueinander. In der Statistik werden sie nach den zugrundeliegenden Skalenniveaus (nominal, ordinal und metrisch) unterschieden, denen jeweils bestimmte statistische Verfahren der Auswertung entsprechen. 103 Eine weniger an der Statistik als an den Gegenständen orientierte Sichtweise verortet diese Unterschiede nicht auf der Ebene der Zahlen, sondern auf der Ebene der sie repräsentierenden Begriffe. Helmut Kromrey unterscheidet entsprechend zwischen klassifikatorischen, komparativen und metrischen Begriffen.104 Damit erweitert er die zweigliedrige Repräsentationslogik von empirischem und numerischem Relativ um eine linguistische Ebene, auf der zunächst die Begriffe als Repräsentationen von Objekten erscheinen. Numerische Repräsentationen repräsentieren dann streng genommen nur mehr diese Begriffe, sodass der Gedanke der Abbildung von Sachverhalten durch Zahlen den in ihm enthaltenen Anspruch der Unmittelbarkeit verliert. Diese Begriffe sind der Knackpunkt, an dem sich in den statistischen Verfahren die Grenze zwischen Zählen und Erzählen auflöst. Kromreys Darstellung ruft die Kritik von Aaron Cicourel – nicht nur – an den messenden Verfahren der Sozialforschung in Erinnerung.105 Ci103 An dieser Stelle wird auf eine nähere Erläuterung der Skalenniveaus verzichtet, die in jedem Lehrbuch zur Statistik nachgelesen werden kann, z.B. in Bortz, Jürgen, Statistik für Sozialwissenschaftler, Berlin: Springer 1999, S. 25-27. Siehe dazu auch den Abschnitt Numerische Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 104 Kromrey, Helmut, Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, Stuttgart: Lucius & Lucius 2002 (10., überarbeitete Auflage), S. 207-209. 105 Vgl. Cicourel, Aaron Victor, Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 294

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courel bemängelt an sozialwissenschaftlichen Messungen, dass in ihnen im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Messungen keine expliziten Theorien darüber bestehen, wie durch Messoperationen theoretische Begriffe adäquat in Bezug zu empirischen Daten gesetzt werden. Stattdessen verfügen die Sozialwissenschaften lediglich über implizite Theorien in Form unreflektierten Common-Sense-Wissens, das bei der Konstitution von Messinstrumenten wirksam wird. Aufgrund der mangelnden Reflexion dieses Wissens sei Sozialforschung in großen Teilen willkürlich. Besonders deutlich wird dies an Messungen mit vorfixierten Fragebögen: »Fragebogenantworten sind wie Löcher auf einer IBM-Karte; die Bedeutungen und Regeln für ihre Erzeugung und Interpretation werden nicht in ihnen per se gefunden oder in Aggregation von ihnen, sondern eher in ihren differentiellen Wahrnehmungen und Interpretationen, die die Entscheidung des Forschers bei ihrer Zusammenstellung und die Wahrnehmung und Interpretation der Handlungsszene von seiten des Befragten bei ihrer Beantwortung hervorbrachten.« 106

Vorfixierte Antworten sind demnach die Leerstellen, die die Grenze markieren zwischen der Informationsverarbeitung der Forscher, die zur Formulierung von Begriffen, Fragen und Antworten geführt hat und durch das Loch auf der Karte zum Verschwinden gebracht wird, und der Informationsverarbeitung der Beforschten, die bei der Beantwortung der Fragen ebenso in dieses Loch fällt. Das Loch in der IBM-Karte stellt sicher, dass keine Kommunikation zustande kommt. Eine zeitgenössische Formulierung dieser Kritik würde den Fragebogen wohl als geronnenen Diskurs der Forscher bzw. der Forschung bezeichnen. Unabhängig von der Begriffswahl – Common Sense oder Diskurs – bleiben Regeln und Bedeutungen, die zur Konstitution von Begriffen und Instrumenten führen, unreflektiert. Unreflektiert bleiben also sowohl die abstrakten und im Hintergrund wirkenden Erzählungen, vor deren Hintergrund die Begriffe und Instrumente emergieren können, sowie die konkreten kommunikativen Aushandlungen, in denen Forscher ihre Begriffe und Fragen formulieren. Messen und Zählen sind aus dieser Perspektive die ihrer kommunikativen Komponenten beraubten Fragmente der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ihre Instrumente gewährleisten unidirektionale und lineare Prozesse der Informationsverarbeitung.

106 Ebd., S. 164f. (kursiv im Original). 295

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Die Frage ist, welchen Vorteil Messinstrumente als institutionalisierte Form des Vergessens in der Sozialforschung bieten oder ob dieses Vergessen überhaupt die Voraussetzung für das Gelingen dieser Art der Sozialforschung sind. Cicourel verneint dies, da Forschung auf diese Weise willkürlich bleibt. An diesem Punkt setzen die qualitativen Verfahren an, als deren Vorteil ihre Kontextsensitivität angeführt wird. 107 Die quantitative Sozialforschung bleibt von der Kritik jedoch ebenso unberührt wie die naturwissenschaftliche Forschung von den Laborstudien. 108 Während Cicourels Kritik nicht auf der Ebene konkreter Forschungspraktiken ansetzt, sondern die Problematik auf der Ebene der Methodologien und der Erkenntnistheorie ansiedelt, verharrt die Verteidigung messender Verfahren auf der Ebene Praxis. Indem Kromrey die Sozialforschung primär als Textwissenschaft darstellt und Messen auf die zugrunde gelegten Begriffe und weniger auf die Gegenstände bezieht, relativiert sich die Unterscheidung zwischen dem Messen von qualitativen und quantitativen Merkmalen: »Die Scheinalternative quantitativ versus qualitativ reduziert sich hier auf die Wahl des angemessenen statistischen Modells.« 109 Diesen Anspruch auf Vollständigkeit im Sinne einer allgemeinen Anwendbarkeit messender Verfahren in der Sozialforschung zementiert Kromrey in der 11. Auflage seines Lehrbuchs: »Man kann ihn [den Fragebogen; S.Z.; ...] als ein generalisiertes Messinstrument charakterisieren: Prinzipiell alle Sachverhalte können Gegenstand standardisierter Datenerhebung (= »Messung«) sein.«110 In 107 Vgl. bspw. Trinczek, Michael, Wie befrage ich Manager? Methodische und methodologische Aspekte des Experteninterviews als qualitativer Methode empirischer Sozialforschung, in: Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (Hrsg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 209222, hier S. 211. 108 Siehe dazu den Abschnitt Sozialkonstruktivismus: Forschung als sozialer Prozess im einleitenden Kapitel. Für die Naturwissenschaften behauptet Bruno Latour, dass das Vergessen des Forschungsprozesses, der zur Stabilisierung von Fakten führt, elementarer Bestandteil der Forschung ist. 109 Kromrey, Empirische Sozialforschung, S. 209 (kursiv im Original). 110 Kromrey, Helmut, Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, Stuttgart: Lucius & Lucius 2006 (11., überarbeitete Auflage), S. 257. In diesem Zusammenhang geht Kromrey auf den »sozialwissenschaftliche[n] Spezialfall: Messen durch Befragung« ein. Dabei unterscheidet er zwischen direktem Messen von Merkmalen am Befragten und indirektem Messen durch den Befragten. Im ersten Fall reagieren Befragte auf Stimuli des Interviewers als messender Person. Im zweiten Fall ist dagegen der Befragte die messende Person, die standardisierte Antworten gibt, vgl. ebd. Diese Unterscheidung kategorisiert sozialwissenschaftliche Messungen 296

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dieser Aussage wird zwar kein Alleinvertretungsanspruches erhoben. Sie unterschlägt jedoch die Frage nach der Angemessenheit messender Verfahren. Messen bezieht sich weniger auf die zu messenden Gegenstände als auf das Maß, das an sie angelegt wird. 111 Maße zur Bestimmung von Gewicht, Entfernung und Zeit sind Konventionen, die handlungsleitend funktionieren. In der Sozialforschung sind die Maße das Produkt von Diskursen, von Common-Sense-Wissen und forschungspraktischen Überlegungen. Insofern ist auch Messen ein »sozialer Akt« 112 . Die Messung ist der Versuch der Objektivierung von Diskursen, die gerade deshalb nicht gelingt, da sie nicht zum Gegenstand einer Explikation gemacht werden. Vielmehr reproduzieren die Messinstrumente die sie hervorbringenden Diskurse, verleugnen sie aber im gleichen Moment. Gerade deshalb ist es nicht möglich, Messen und damit das Zählen unabhängig vom Erzählen zu verstehen. Im Gegenteil. Hier besteht ein Widerspruch zwischen der kommunikativen Konstitution von Messinstrumenten und der kommunikativen Leerstelle, die durch die Messung geschaffen werden soll. Jene Leerstelle, die den Kerngedanken sozialwissenschaftlichen Messens als radikalste Form der Unterdrückung von Kommunikation in der Sozialforschung ausmacht, bewirkt schlussendlich, dass Sozialforschung nicht über ihre Ähnlichkeit mit ihren Untersuchungsgegenständen definiert wird. Im Gegenteil wird Sozialforschung hier per definitionem als Reduktion von Komplexität durch die Vermeidung von Kommunikation verstanden. Diese Auffassung macht aus der Sozialforschung eine Wissenschaft begrenzter Reichweite. In ihr läuft ständig die Frage mit, welchen Grad an Komplexität die Gegenstände nicht überschreiten dürfen, um mit diesen Verfahren untersucht werden zu können. anhand der im Forschungsprozess etablierten Beobachtungsrelationen. Im ersten Fall erfolgt die Beobachtung durch Interviewer bzw. Forscher, im zweiten Fall erfolgt Selbstbeobachtung durch die Beforschten, die Gegenstand einer Beobachtung zweiter Ordnung durch die Forscher ist. Beide Varianten unterschlagen jedoch, dass die Beobachtungen jeweils das Ergebnis kommunikativer Prozesse sind. 111 Man beachte die Medienanalogie, die Paul Feyerabend für diesen Zusammenhang einführt. Er verwendet für diese Maßstäbe die Generalmetapher »Computer«. Die ihm zugrundeliegenden Gesetze der Arithmetik »können objektiv sein, ohne dabei autonom [...] zu sein«. Siehe Feyerabend, Paul, Poppers »Objektive Erkenntnis«, in: ders., Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie der Erklärung, der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte, Braunschweig: Vieweg 1981, S. 326364, hier S. 340-342. 112 Vgl. Wimmer, Ulla, Kultur messen. Zählen, Vergleichen und Bewerten im kulturellen Feld, Berlin: Logos 2004, S. 24-35. 297

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3.1.2 Kodieren Eng verwandt mit dem Messen und Zählen sind in der Sozialforschung kodierende Verfahren. Während bei den messenden Verfahren die Kodierung im Zuge der Operationalisierung von Fragestellungen im Vorfeld der Datenerhebung stattfindet, kennt die qualitative Sozialforschung die Kodierung bereits erhobener und dokumentierter Daten. In der Grounded Theory bspw., die sich als Methodologie auf alle Phasen von Forschungsprozessen bezieht, bilden kodierende Verfahren das Herzstück, mit dem das Ziel der gegenstandsbegründeten Theoriebildung erreicht werden soll. Gegenstandsbegründet meint, dass Theorien als Ergebnisse der Forschung sich direkt auf die ausgewerteten Daten zurückverfolgen lassen und sich weniger auf das theoretische und praktische Wissen der Forscher beziehen. Kodieren meint in der Grounded Theory nicht das Zuweisen von Zahlenwerten, sondern von begrifflich fixierten Konzepten.113 Als Datenmaterial können dabei alle möglichen Arten von Texten dienen. Das Kodieren gestaltet sich dabei als mehrstufiger Prozess aus offenem, axialem und selektivem Kodieren. Im ersten Schritt, dem offenen Kodieren, werden die Daten »aufgeschlüsselt«. Einzelnen Ereignissen oder Phänomenen werden Konzepte (»Etiketten«) zugeordnet.114 Das offene Kodieren ist ein »expandierendes Verfahren«115 , das den untersuchten Texten größere Mengen Interpretationstext hinzufügt. Im nächsten Schritt, dem axialen Kodieren, werden die gebildeten Konzepte zu Kategorien zusammengefasst. 116 In dieser Phase interessieren insbesondere die Beziehungen zwischen den Kategorien. Hypothetische Beziehungen werden an weiteren Beispielen deduktiv überprüft. 117 Der letzte Schritt, das selektive Kodieren, bezieht sich nur mehr auf das von den Forschern in 113 Der folgende Überblick bezieht sich auf die neuere Darstellung des Grounded Theory-Ansatzes in Strauss, Anselm Leonard/Corbin, Juliet, Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union 1996. 114 Vgl. ebd., S. 43-55, insbesondere S. 43. 115 Böhm, Andreas, Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2004, S. 475-485, hier S. 478. 116 Dieser Schritt richtet sich nach dem sogenannten Kodierparadigma, nach dem ein beobachtetes Phänomen in Beziehung gesetzt wird zu den ursächlichen Bedingungen des Phänomens, seinem Kontext und den intervenierenden Bedingungen seines Auftretens sowie zu seinen Konsequenzen. Vgl. Strauss/Corbin, Grounded Theory, S. 75-93, insbesondere S. 75. 117 Vgl. ebd., S. 86f. 298

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den vorherigen Kodierschritten produzierte Material. Ziel ist die Identifizierung einer Kernkategorie zur Benennung des zentralen Phänomens, um die herum die Grounded Theory formuliert werden kann. Die Kernkategorie dient dabei als »roter Faden der Geschichte (story line)«, der dazu dient, eine »beschreibende Erzählung« über das zentrale Phänomen zu verfassen. 118 In dieser kurzen Darstellung des zentralen Verfahrens der Grounded Theory, den verschiedenen Kodierschritten des Datenmaterials, die schließlich zur Formulierung einer Theorie führen, sind für unsere Fragestellung zwei Aspekte von Bedeutung. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Tatsache, dass es sich bei der anfänglichen offenen Kodierung im weitesten Sinne um einen Zählvorgang handelt, der jedoch nicht die Zuordnung von empirischem und numerischem Relativ beinhaltet, sondern von empirischem und semantischem Relativ. Dieses semantische Relativ – Konzepte, Etiketten und Kategorien – ist jedoch wie die Begriffe, auf die sich Messungen beziehen, ein Kondensat aus dem Common-SenseWissen der Forscher. Dieses lässt sich nicht aus den Begriffen extrahieren. Neben dieser strukturellen Gemeinsamkeit der nachträglich kodierenden Verfahren mit den messenden Verfahren bleibt als Unterscheidungskriterium der Zeitpunkt im Forschungsprozess, an dem die Kodierung einsetzt. Durch die der Datenerhebung nachgeordnete Kodierung bleibt die Grounded Theory stärker gegenstandsbezogen als messende Verfahren. Jedoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass der epistemologische Standpunkt der gleiche ist. In beiden Fällen wird die traditionelle Perspektive eingenommen, in der Forscher sich in ein distanziertes

118 Vgl. ebd., S. 94. Der hier idealisiert dargestellte Ablauf der einzelnen Arbeitsschritte wird in der Regel zirkulär gehandhabt, d.h. zwischen den einzelnen Verfahren kann hin- und her gesprungen werden. Dies gilt auch für das Verhältnis von Datenerhebung und -auswertung, die nicht linear nacheinander ablaufen müssen. Es soll nicht unterschlagen werden, dass Strauss’ und Corbins Konzept vom Kodieren bei Barney G. Glaser, dem Mitbegründer der Grounded Theory, auf Widerstand gestoßen ist. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen das axiale Kodierparadigma, in dem er ein Erzwingen (»Forcing«) theoretischer Strukturen sieht, dem er sein Konzept des Sich-entwickeln-lassens (»Emergence«) von Theorien entgegensetzt. Vgl. Glaser, Barney G., Basics of Grounded Theory Analysis. Emergence vs. Forcing, Mill Valley, Calif.: Sociology Press 1992. Siehe dazu auch Kelle, Udo, »Emergence« vs. »Forcing« of Empirical Data? A Crucial Problem of »Grounded Theory« Reconsidered [52 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 6, Nr. 2, Art. 27 (2005), verfügbar unter: urn:nbn: de:0114-fqs0502275. 299

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Verhältnis zu ihren Objekten setzen.119 Dieser Standpunkt ist jedoch prekär. Die angestrebte Objektivierung wird in der Grounded Theory einerseits durch Distanzierung mittels Kodierung zu erreichen gesucht, andererseits soll die Theorie »induktiv« aus der Untersuchung abgeleitet werden. Dieses »Hin- und Herpendeln zwischen induktivem und deduktivem Denken« 120 erst begründet die Gegenstandsverankerung der so aufgestellten Theorien. Dieses Oszillieren deutet sich auch schon in der Wortwahl an. Während Kodierung Verschlüsselung meint, wird unter offenem Kodieren »Aufschlüsseln« verstanden. Damit ist klar, dass es sich bei den kodierenden Verfahren der quantitativen wie der qualitativen Sozialforschung um Forschungsstrategien handelt, die die rationale Informationsverarbeitung der einzelnen Forscher in den Mittelpunkt stellen. Die kommunikativen Elemente des Forschungsprozesses erscheinen in ihnen lediglich als Umwelt, die ihren Kerngedanken wissenschaftlicher Erkenntnis nicht berührt. Der zweite Aspekt bezieht sich auf das explizite Ziel der Grounded Theory, durch Kodierung im Endergebnis zu Theorien in Form beschreibender Erzählungen zu gelangen. Dies bedeutet, dass die gegenstandsbegründeten Theorien im Sinne von Geschichten die Bedingung der Kohärenz erfüllen müssen. Die Frage ist, ob damit die Reichweite der Grounded Theory auf solche Sachverhalte beschränkt ist, die widerspruchsfrei sind, oder ob umgekehrt die Grounded Theory geeignet ist, widersprüchliche Sachverhalte aufzudecken. Viel interessanter ist jedoch in der Gesamtschau die Generierung dieser Kohärenz. Sie ist das Resultat eines Prozesses, der mit der Abstraktion der untersuchten Daten beginnt. Es folgt die Relationierung der gefundenen Abstrakta, bevor diese gewichtet und hierarchisiert werden. Daraus folgt am Ende eine Leitge-

119 Vgl. Giesecke, Michael, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 302. Giesecke bezieht sich an dieser Stelle nur auf Verfahren, bei denen die »Kodierung nach vorher festgelegten Rastern« erfolgt. Dies gilt aber ebenso für die nachträgliche Kodierung. 120 Vgl. Strauss/Corbin, Grounded Theory, S. 89. Es ist umstritten, ob diese Selbstbeschreibung zutreffend ist. Jörg Strübing spricht in diesem Zusammenhang vom »induktionistischen Missverständnis« der Grounded Theory und charakterisiert sie als primär abduktives Verfahren. Vgl. Strübing, Jörg, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 49. Siehe dazu auch den Abschnitt Abduktion als tertium datur sozialwissenschaftlicher Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 300

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schichte, die am Ende als fertiges Produkt, als Theorie, umgekehrt auch die zu Beginn nur vage definierte Forschungsfrage mit formuliert. 121 Gegenstandsbegründete Theorien sind also Erzählungen, die sich nicht aus den eingangs vorhandenen Theorien ableiten sollen, sondern aus den vorgefundenen oder erhobenen Daten. Der Prozess des Erzählens ist allerdings kein kommunikativer, sondern einer des Zählens. Die Grenze zwischen Zählen und Erzählen ist sowohl in quantitativ messenden wie in nachträglich kodierenden Verfahren nicht aufrecht zu erhalten. Zählen ist in diesem Zusammenhang die Strategie der Entkommunikatisierung des Erzählens.

3.2 Repräsentieren 3.2.1 Visualisieren Die Feststellung unscharfer Grenzen findet sich auch in Bereichen, die nicht exklusiv die Sozialforschung betreffen. Jede Wissenschaft sieht sich vor der Aufgabe, ihre Gegenstände angemessen in ihren Forschungssystemen wie auch ihre Ergebnisse in der Außendarstellung zu repräsentieren. Innerhalb dieses weiten Feldes kommt in Forschungsstrategien, die die Quantifizierung von Phänomenen betreiben, Visualisierungen quantitativer Daten eine herausragende Bedeutung zu. In quantitativen Verfahren sollen wie gezeigt die zu untersuchenden Sachverhalte durch numerische Daten repräsentiert werden. Voraussetzung dafür ist die Operationalisierung von Konzepten und Begriffen. Obwohl es das Ziel ist, dadurch strukturähnliche Abbildungen zu erzeugen, unterliegt die so erreichte Selbstähnlichkeit Einschränkungen. Zum einen ist sie eindimensional, da die Daten nur auf einem Niveau emergieren. Zum anderen handelt es sich schon und gerade auf der Ebene der Zahlen um eine Fragmentierung der Gegenstände, indem die kontinuierlichen Informationen, die soziale Prozesse generieren, diskretisiert werden. 122 Dies hat Rückwirkungen auf die zulässigen Gegenstände. Sie

121 Das Phänomen der Erzählung von Leitgeschichten findet sich auch in der Biographieforschung. Hier findet eine Stabilisierung von Subjekten statt, indem sie ihre Geschichte linearisieren. Aus vielen möglichen Geschichten werden einzelne herausgegriffen, die Biographien repräsentieren sollen. 122 Diskretisierung meint in der Mathematik die Gewinnung diskreter, d.h. räumlich und zeitlich getrennter Daten aus kontinuierlichen Informationen. Die so gewonnenen Daten sind einerseits Annäherungen, andererseits dadurch durch Informationsverlust gekennzeichnet. Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung von Musik, bei der analoge Signale – konti301

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müssen so definiert werden, dass Kontinuität und Dynamik nicht ihre wesentlichen Eigenschaften sind. Dies ist insbesondere bei der Untersuchung von Kommunikationsprozessen problematisch. Entsprechend kommt in diesem Feld nur die Untersuchung von Kommunikationsprodukten oder -spuren – wie etwa die quantitative Inhaltsanalyse oder das Messen von Einstellungen – in Betracht. Die Diskretisierung erzwingt in diesen Fällen folglich per definitionem eine Beobachtung zweiter Ordnung. Es können nur Sachverhalte repräsentiert werden, die selbst schon als Repräsentationen der Gegenstände betrachtet werden. Die Fragmentierung auf der Ebene der Repräsentation von Gegenständen innerhalb von Forschungssystemen schließt nicht aus, dass die so produzierten quantitativen Daten selbst wieder Ausgangspunkt von Erzählungen werden, im Gegenteil. Statistiken und ihre Darstellung sind nicht nur »bildgebend, sondern zugleich blickbildend« 123 . Edward Tufte weist in seinen Arbeiten auf die Aussagekraft von Visualisierungen quantitativer Daten hin. Er hebt nicht nur die unterstützende Funktion von Visualisierungen hervor, sondern vor allem ihre erläuternde bzw. ihre narrative Funktion. 124 Tufte empfiehlt, Visualisierungen zum zentralen narrativen Moment wissenschaftlicher Darstellungen zu machen, dem sich die begleitenden Texte unterordnen sollen. Was aber bedeutet dies für das Verhältnis von Zahlen und Erzählungen? Die Transformation von quantitativen Daten in Visualisierungen und ihre Erhebung zum leitenden narrativen Motiv bedeutet ebenso wie ihre Transformation in Textform eine perspektivische Dramatisierung. Diese ist in den quantitativen Daten selbst nicht enthalten, sondern erfordert ebenso wie bei der Transformation von Begriffen in Zahlen die Berücksichtigung von Common-Sense-Wissen. Die Frage ist dann nicht, ob die Visualisierungen eine Verselbständigung der Zahlen darstellen, sondern ob die Visuanuierliche Schallwellen – in diskrete, d.h. nichtkontinuierliche digitale Signale zerlegt werden. 123 Nikolow, Sybilla, Die Nation als statistisches Kollektiv. Bevölkerungskonstruktionen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Jessen, Ralph/Vogel, Jakob (Hrsg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt am Main: Campus 2002, S. 235-259, hier S. 240. 124 Vgl. Tufte, Edward Rolf, Visual and Statistical Thinking. Displays of Evidence for Making Decision, Cheshire, Conn.: Graphics Press 1997. Als Beispiel führt er das Unglück der Raumfähre Challenger im Jahr 1986 an. Obwohl das Wissen um das Risiko bzw. die Daten, aus denen dieses Wissen abzuleiten gewesen wäre, zur Verfügung standen, wurde darin kein Handlungsbedarf erkannt. Dies erklärt Tufte mit den unzureichenden bzw. nicht selbsterklärenden Visualisierungen der Daten, aus denen die Verantwortlichen keinen Rückschluss über das tatsächliche Risiko ziehen konnten. 302

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lisierungen ebenso wie Texte weniger auf die Zahlen verweisen als auf das nicht explizierte Common-Sense-Wissen der Forscher, das in die Generierung der quantitativen Daten eingeflossen ist, in Verbindung mit dem Wissen, das in der neuerlichen Transformation enthalten ist. Aus dieser Perspektive würden quantitative Daten nur mehr ein weniger bedeutendes Element im Forschungsprozess darstellen als angenommen. Ihre Funktion wäre dann vor allem die eines angenommenen Gewährträgers der Repräsentation der untersuchten Sachverhalte, und damit jener Repräsentationen, die selbst schon prekär sind. Die Zahlen verweisen dann nur noch auf sich selbst und stabilisieren in dieser selbstreferenziellen Schlaufe ihren unsicheren Status. 125

3.2.2 Erzählen In der qualitativen Sozialforschung erfolgen die Repräsentationen und Transformation mit weniger epistemologischen Brüchen, sondern eher durch Verschiebungen. Zum Beispiel dient das narrative Interview der reziproken Herstellung eines geteilten Wissens. Die Repräsentation dieses Wissens – die Erzählung – ist als Produkt eines Kommunikationsprozesses immer schon auch das Produkt des Forschers. Indem die Kommunikationsform Erzählung genutzt wird, wird auf die Sozialforschung ein alltägliches Kommunikationsmodell appliziert. Die beteiligten Kommunikatoren übernehmen darin komplexe Funktionen, die sich nicht auf ein einfaches Sender-Empfänger-Modell reduzieren lassen. Erzähler und Zuhörer bilden ein System, in dem beide aufeinander angewiesen sind. Diese Feststellung mag banal erscheinen, markiert aber eine entscheidende Differenz zu Verfahren, in denen lediglich die Beforschten als Informationsmedien bzw. Sender fungieren. Erzähler und Zuhörer bilden ein gemeinsames Kommunikationssystem, dessen zeitlicher Ablauf einem bekannten Schema, einer Normalform folgt (Vorphase, Orientierungsphase, Darstellung, Bearbeitungsphase, Schlussphase). 126 Kommunikationstheoretisch bedeutet dies, dass es sich hierbei 125 Siehe dazu auch den Abschnitt Selbst- und Fremdreferenz sozialwissenschaftlicher Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 126 Vgl. das Erzählmodell von Labov, William/Waletzky, Joshua, Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, in: Ihwe, Jens (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch 1972-1973, S. 78-126 sowie Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia, Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Zur Integration von Selbstbetrachtung und distanzierter Betrachtung in der Beratung und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 173ff. 303

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um parallele bzw. soziale Informationsverarbeitung handelt. Indem eine allgemein bekannte und verfügbare Kommunikationsform genutzt wird, sind die so entstandenen Repräsentationen weniger artifiziell als messtechnische Repräsentationen. Gleichzeitig spiegeln sie die Dynamik ihrer Generierung wider. Die Nutzung narrativer Interviews ist wissenschafts- und erkenntnistheoretisch ebenso folgenreich wie voraussetzungsvoll. Dies betrifft die Vorstellung vom erkennenden Subjekt, das nicht mehr auf ein solitäres Forschersubjekt reduziert werden kann. Voraussetzung sind technische Medien, die praktisch diese Erweiterung ermöglichen und deshalb in der Wissenschaftstheorie als integraler Bestandteil der Forschung berücksichtigt werden müssen. Der Unterschied zwischen der Kommunikationsform der Erzählung im Alltag und in der Forschung besteht zunächst darin, dass nicht die Erzählenden den Anstoß zur Erzählung geben, sondern die Forscher. Hier ergeben sich die ersten Verschiebungen hinsichtlich der von den Beteiligten zu übernehmenden Funktionen und Rollen. Besonders deutlich werden diese Verschiebungen an den Funktionen der Forscher. Ihre Aufgabe besteht darin, während narrativer Interviews permanent zwischen verschiedenen Programmen zu oszillieren. Sie sind zugleich Kommunikationspartner bzw. Zuhörer einer Erzählung und Forscher, die mit einem spezifischen Interesse den Anstoß zu einer Erzählung geben und der Erzählung zielgerichtete Impulse geben. Als Zuhörer sind Forscher dazu verpflichtet die Erzählung empathisch mitzuerleben, die notwendigen Rezeptionssignale auszusenden und gegebenenfalls ihre eigenen Affekte preiszugeben. Als Forscher sind sie dagegen verpflichtet, sich von diesem subjektiven Standpunkt zu distanzieren, die Aufmerksamkeit der Beforschten in eine bestimmte Richtung zu lenken und möglicherweise auch ausufernde Berichte über Nebensächlichkeiten zu unterdrücken. Diese Gegenüberstellung der verschiedenen Funktionen, zwischen denen Forscher oszillieren müssen, verdeutlicht bereits, dass der eigentliche Forscherstandpunkt kein ausschließlich distanzierter ist. Vielmehr ist hier eine Dezentrierung des klassischen solitären Forschersubjekts zu beobachten, das Teil eines kollektiven Forschersubjekts wird. 127 127 Erkenntnistheoretisch wird die Besonderheit narrativer Interviews bislang dadurch gekennzeichnet, dass in ihm als Methode der Datenerhebung sowie während seiner Auswertung der Abduktion als vorherrschender Erkenntnislogik zugeordnet wird. Vgl. Glinka, Hans-Jürgen, Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen, Weinheim: Juventa 1998, S. 37-39. Diese Charakterisierung übersieht jedoch die sozialen Aspekte der Informationsverarbeitung, da sich alle Konzep304

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Die Programmwechsel auf Seiten der Forscher und das damit verbundene prozessorale Denken in der Sozialforschung setzt Instrumente voraus, die diese Wechsel sowie die Prozesse rekonstruierbar machen. Das medientechnologische Analogon findet diese Form der Sozialforschung in den dynamischen Speichern. Erst die Verfahren der Videound Tonaufzeichnung haben in den vergangenen Jahrzehnten neue Perspektiven wie etwa Mikroanalysen verbaler und nonverbaler Kommunikation ermöglicht. Ihre sozialwissenschaftliche Nutzung folgt dabei zunächst einer Logik der Substitution. Tonband und Kamera übernehmen in dieser Logik die Funktion des neutralen Beobachters. Es ist der kalte und leidenschaftslose Blick der Kamera, der als gegensätzlich zum direkten Beteiligtsein der Forscher gedacht wird. Erst die Externalisierung des vermeintlich neutralen wissenschaftlichen Blicks, lässt den leidenschaftlichen Blick der involvierten Forscher zu. Diese Geräte sind Backup und Mikroskop zugleich. Backup sind sie insofern, als dass sie Forschern erlauben, ungezwungen zwischen ihren verschiedenen Programmen zu wechseln, und Mikroskop insofern, als dass sie jene Äußerungen und Regungen registrieren, die den Augen und Ohren der Forscher zumindest auf der Ebene des Bewusstseins entgehen. 128 Die Repräsentation von Sachverhalten im Rahmen der Datenerhebung ist unabhängig von den Verfahren der Dokumentation und Auswertung, denen sie zugeführt werden. Ist das Ziel der Datenerhebung mittels narrativer Verfahren und der anschließenden Transformationen jedoch der Erhalt der Ähnlichkeit, müssten konsequenterweise auch in den anschließenden Schritten kommunikative Verfahren eingesetzt werden. 129 Die Transformation dieser Daten bzw. der Auswertungsergebnisse in Er-

te logischen Schlussfolgerns auf individuelle Informationsverarbeitung beziehen. Wissenschaftstheorie, die sich lediglich auf diese Programme bezieht, bleibt einseitig und wird der Realität interagierender Sozialforschung nicht gerecht. Siehe dazu auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 128 Daraus folgt, dass die technischen Medien einerseits dazu genutzt werden können, mehr Komplexität in Forschungsprozessen zuzulassen und zu erhalten. Andererseits bedeuten dynamische Speicher gleichzeitig eine Induktion von Komplexität, indem Daten damit auf einem anderen Niveau emergieren. Zum Umgang mit Komplexität siehe das Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung, zur Konstituierung von Daten siehe die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 129 In der Grounded Theory ist dies offensichtlich nicht der Fall. Auch hier können narrative Interviews als Ausgangsmaterial genutzt werden. Durch die Kodierung des Materials erfolgt aber ein epistemologischer Bruch. 305

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gebnisberichte ist ebenso wie bei quantitativen Daten als Generierung von Erzählungen bzw. als Dramatisierung zu verstehen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass hierbei Erzählungen in Erzählungen transformiert werden, also die Transformation auf einem ähnlichen Emergenzniveau stattfindet. Besonders deutlich wird dies bei der Rekonstruktion von Fallgeschichten, wie etwa in der psychoanalytischen Sozialforschung oder in der Biographieforschung. 130 Gerade die Rekonstruktion von Lebensgeschichten wird auch als »rhetorisch-figurativer Prozess« verstanden. 131 Dieser Prozess ist in den narrativen Verfahren der Sozialforschung nicht nur kollektiver Natur, sondern auch ambivalent, indem er Teil der Datenerhebung, aber auch Teil der Datenauswertung und der Präsentation von Ergebnissen ist. Erzählen ist im narrativen Interview also der Prozess, in dem die Elemente von Forschungssystemen kommunikativ vernetzt und auf dieser Grundlage die Repräsentationen von Untersuchungsgegenständen ebenfalls kommunikativ konstituiert werden. Ohne diesen kommunikativen Kern würden weder das System noch die Repräsentationen zustande kommen. Dieser Prozess ist wie gesehen sehr voraussetzungsvoll und von Unsicherheit gekennzeichnet, da er nicht der vollen Kontrolle der Forscher unterliegt. Erst vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit ist es jedoch möglich, die gewünschten Daten und Repräsentationen zu produzieren.

3.3 Simulieren Simulationen gehören, auch wenn sie immer noch ein Nischendasein führen, seit Jahrzehnten zum methodischen Instrumentarium der Sozialwissenschaften und werden dort zur Erforschung komplexer sozialer Systeme und Prozesse genutzt. 132 Als Anwendungsmöglichkeiten wer-

130 Bei Sigmund Freud erschienen Fallgeschichten tatsächlich noch als Novellen. Vgl. Bude, Heinz, Freud als Novellist, in: Stuhr, Ulrich/Deneke, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.), Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument, Heidelberg: Asanger 1993, S. 3-16. 131 Koller, Hans-Christoph, »Ich war nicht dabei«. Zur rhetorischen Struktur einer autobiographischen Lern- und Bildungsgeschichte, in: ders./ Krokemohr, Rainer (Hrsg.), Lebensgeschichte als Text. Zur biographischen Artikulation problematischer Bildungsprozesse, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1994, S. 90-108, hier S. 92. 132 Die Verwendung des Begriffs Simulation erfolgt im Weiteren im Sinn von Computersimulation. Einen Überblick zur Geschichte und den Verfahren der Computersimulation in den Sozialwissenschaften siehe Troitzsch, Klaus G., Simulation in den Sozialwissenschaften, in: Orth, Barbara/Schwietring, Thomas/Weiß, Johannes (Hrsg.), Soziologische 306

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den bspw. die Konstruktion künstlicher Gemeinschaften zur Demonstration des Funktionierens realer Gemeinschaften, die Ersetzung von Beobachtungen durch Simulationen zur Bestätigung oder Falsifikation von Theorien sowie die Überprüfung der Implikationen von Theorien genannt. 133 Mit der Thematisierung von Computersimulationen wird das eigentliche Feld der empirischen i.S. einer interagierenden Sozialforschung verlassen. Sie hat aber dennoch ihre Berechtigung, da Simulationen in der Praxis der Forschung derart verwendet werden, dass ihnen ein »quasi-empirischer« Charakter zugesprochen wird. 134 Dies wird damit begründet, dass die Simulation als »Experimentieren mit Modellen« begriffen und ihr somit ein eigenständiger Status in der Wissensproduktion »jenseits von Modell und Experiment« zugewiesen werden kann.135 Dennoch werden Simulationen nicht explizit zu den Methoden der Sozialforschung gezählt und finden sich entsprechend nicht im Ausbildungskanon der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre. 136 Dies liegt womöglich auch daran, dass die Verwendung von Simulationen, wie gezeigt werden wird, einigen Prinzipien der traditionellen Sozialforschung widerspricht.

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Forschung. Stand und Perspektiven. Ein Handbuch, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 353-363. Vgl. Weber, Karsten, Simulationen in den Sozialwissenschaften, in: Journal for General Philosophy of Science, Jg. 38, Nr. 1 (2007), S. 111126, hier S. 113. Hier findet sich auch eine prägnante wissenschaftstheoretische Kritik an der Nutzung von Simulationen in den Sozialwissenschaften für die genannten Zwecke. Küppers, Günter/Lenhard, Johannes, Computersimulationen: Modellierungen 2. Ordnung, in: Journal for General Philosophy of Science, Jg. 36, Nr. 2 (2005), S. 305-329, hier S. 318. Ebd., S. 326. Der Status von Simulationen wird an anderer Stelle auch als Schnittstelle zwischen Theorie und Experiment bezeichnet. Vgl. Gramelsberger, Gabriele, Computersimulationen in den Wissenschaften – Neue Instrumente der Wissensproduktion. Explorationsstudie, 2004, S. 42-49, verfügbar unter: http://www.sciencepolicystudies.de/dok/explorationsstudie_computersimulationen/inhaltsverzeichnis.html. Die Bezugnahme auf die Fluchtpunkte Theorie und Experiment zeigt die Ausrichtung dieser Diskussion auf die Naturwissenschaften. Eine eigenständige Einordnung für die Sozialwissenschaften steht noch aus. Zumindest findet sich in den üblichen Lehrbüchern nur selten der Hinweis auf Simulationen als Methode der Sozialforschung. In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie besteht eine eigene Sektion »Modellbildung und Simulation« unabhängig von der Sektion »Methoden der empirischen Sozialforschung«. Eine Auflösung dieser Trennung deutet die Aufnahme von Beiträgen zum Thema »Modellbildung und Simulation« in: Diekmann, Andreas (Hrsg.), Methoden der Sozialforschung, Sonderheft 44/2004 der Kölner Zeitschrift für Soziologe und Sozialpsychologie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006 an. 307

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Für diese Fallstudie sind Simulationen nicht nur aus dem Grund von Interesse, dass es sich um Verfahren handelt, bei denen die Sozialforschung vollkommen von technischen Medien abhängig ist – im Sinne einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung. Sie sind vor allem von Interesse, da in ihnen die Grenzen zwischen Zählen und Erzählen endgültig nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Diese Auflösung hat weitreichende Auswirkungen auf das Verhältnis der Sozialforschung zur Empirie, zu ihren Medien und ihren Strategien und soll anhand von drei Punkten erläutert werden. Zunächst geht es um die Frage nach der Berechenbarkeit von Gegenständen der Sozialforschung. Hier zeigt sich, dass die mathematischen Grundlagen von Simulationen sich von denen der deskriptiven Statistik unterscheiden und sich somit der Status der Strategie Zählen ändert. Der zweite Punkt behandelt die Frage nach der praktischen Handlungsdimension von Simulationen. Hier treten die Interaktion zwischen Forschern und Simulationen sowie die Praxis und Funktion von Visualisierungen von Simulationen in den Vordergrund. Schließlich wird die Frage erläutert, wie sich Simulationen in die bisherige Sozialforschung einfügen und welche Rückwirkungen sie auf das Verständnis von Empirie haben.

3.3.1 Berechenbarkeit und Unsicherheit Simulationen dienen nicht der Berechnung von tatsächlichen, beobachtbaren Phänomenen, sondern von möglichen Phänomenen auf der Grundlage von Modellen. Ein auffälliges Merkmal ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit Unsicherheit. Küppers und Lenhard zeigen, dass es nicht notwendig ist, alle Grundgleichungen eines mathematischen Modells zu kennen, damit Simulationen funktionieren, bzw. dass man auf die Lösung von Grundgleichungen sogar verzichten sollte. Es ist nämlich so, dass sogar Annahmen in Simulationen einfließen können, die den bekannten Eigenschaften der untersuchten Systeme widersprechen, um das eigentliche Ziel, die Imitation von Prozessen, zu erreichen. 137 Aufgrund dieses für Simulationen spezifischen Modellierungsschritts sprechen Küppers und Lenhard von einer »Autonomie der Simu137 Küppers und Lenhard führen als Beispiel die Simulation von Klimamodellen an. Da Simulationen dazu neigen, Abweichungen und Fehler im Verlauf einer Simulation zu potenzieren und daher die Simulationen von Atmosphären schnell kollabieren können, führte der Meteorologe Akio Arakawa als zusätzliche Annahme die Erhaltung der kinetischen Energie ein; eine Annahme, die gegen die Erfahrung und das vorhandene Wissen gerichtet ist. Durch diesen Trick ist es jedoch möglich, stabile Atmosphären zu simulieren. Vgl. Küppers/Lenhard, Computersimulationen, S. 320-324. 308

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lationsmodellierung«. Während in dieser Sichtweise die Stabilisierung von Simulationen im Vordergrund steht, ihr Funktionieren im Sinne der Imitation von empirisch beobachtbaren Prozessen, wendet Jan Schmidt den Aspekt der Instabilität ins Positive. Er bezeichnet »Instabilität als Erkenntnismedium«. 138 Erst die Instabilität komplexer Systeme begründet die Notwendigkeit bzw. den Bedarf an ihrer Simulation. Entsprechend kann die Instabilität von Simulationen auch als Grundlage ihrer Validierung herangezogen werden: Nur wenn ein simuliertes Modell zusammenbricht, hat man ein komplexes System modelliert.139 In dieser Hinsicht stehen Simulationen den mathematischen Verfahren der Statistik und den dazugehörigen Verfahren der Datenerhebung diametral gegenüber. Während es in letzteren vorrangiges Ziel ist, Instabilitäten bzw. Störungen zu vermeiden, sind sie für Simulationen konstitutiv. 140 Erst damit sind die Voraussetzungen geschaffen, der mathematisch orientierten Sozialforschung komplexe Gegenstände – unter Erhalt ihrer Komplexität – zu erschließen.

3.3.2 Die praktische Dimension von Simulationen und ihre Visualisierung Die Erstellung von Simulationen kann als »Ereigniskette« 141 oder als Ablauf spezifischer Handlungen beschrieben werden. Als Handlungspraktik verstanden ergibt sich für das Vorgehen beim Simulieren ein Ablauf von »Modellieren – Parametrisieren – Tunen – Visualisieren – Validieren – Verstehen«. 142 Dieser Ablauf erinnert stark an das Vorgehen bei quantitativen Erhebungen, bei denen Hypothesen aus Theorien oder Modellen abgeleitet und anschließend operationalisiert und getestet 138 Schmidt, Jan, Instabilitäten als Erkenntnismedium und als Herausforderung für Simulationshandlungen, in: Gramelsberger, Computersimulationen in den Wissenschaften, S. 61-64. 139 Vgl. ebd. Letztendlich führen beide Sichtweisen – Instabilität als Problem bzw. als Voraussetzung von Simulationen – auf die Diagnose hinaus, dass es sich bei Simulationen um eine Kontrolltechnologie handelt: nicht zur Herstellung von Sicherheit, aber zur Bändigung und Berechnung der Unsicherheit. 140 Zum Umgang mit Störungen in der quantitativen Sozialforschung siehe den Abschnitt Störungen als unerwünschte Effekte in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 141 Helmut Neunzert beschreibt Simulationen als Ereigniskette »Objekt – Modell – Algorithmus – Programm – Ergebnisanalyse – Objektsteuerung«. Vgl. Neunzert, Helmut/Rosenberger, Bernd, Stichwort Mathematik, München: Droemer Knaur 1993, S. 223, zitiert nach Gramelsberger, Computersimulationen in den Wissenschaften, S. 50). 142 Gramelsberger, Computersimulationen in den Wissenschaften, S. 50. 309

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

werden. Die Interaktion findet allerdings nicht mit Untersuchungsteilnehmern statt, sondern mit dem formalisierten Simulationsmodell, das »parametrisiert« und »getunt« wird. Parameter sind diejenigen Werte, die sich während einer Simulation nicht ändern, aber für jeden Durchlauf neu festgelegt – eben getunt – werden können. Neben den Gleichungen zur Beschreibung von Prozessen fungieren Parameter als Mittel zur Steigerung des Realitätsgehalts von Simulationen. An dieser Stelle ist es möglich, empirische Daten in Simulationen zu integrieren. Liegen diese nicht vor, können sie durch Annahmen ersetzt werden. Der Prozess des Simulierens stellt sich folglich als permanenter Rückkopplungsprozess zwischen Forschern und Modellen dar. Zentrales Bindeglied in diesem Prozess und damit noch wichtiger als bei der Aufbereitung statistischer Daten sind Visualisierungen. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass Simulationen im Gegensatz zu statischen Statistiken dynamische Prozesse abbilden. Während Statistiken als Zahlen präsentiert werden können, erfordern Simulationen den Transformationsschritt in möglichst dynamische Visualisierungen, um ihren Informationsgehalt überhaupt erfassbar zu machen: »Looking at the printed numbers is out of the question.« 143 Bisweilen stellen Visualisierungen die einzige Möglichkeit dar, den Einfluss bestimmter Parameter zu untersuchen. 144 Damit sind Visualisierungen in Simulationen der eigentliche Erfahrungsgegenstand. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, die Visualisierung als integralen Arbeitsschritt im Prozess des Simulierens zu betrachten. Damit erfüllt die Visualisierung nicht die Funktion der Aufbereitung bzw. Repräsentation von Daten und Ergebnissen für das Publikum der Forscher, sondern als genuines Erkenntnismedium der Forscher. Diese werden als Adressat der Visualisierung nun ebenfalls als integraler Bestandteil des Forschungssystems vorausgesetzt. Simulieren erscheint dann als Interaktion zwischen Forschern und dynamischen Modellen, die über die Visualisierungen miteinander vernetzt werden. Für die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Zählen und Erzählen kann festgestellt werden, dass Visualisierungen die sichtbaren Ergebnisse eines über sie hinausweisenden Prozesses der Generierung von narrativen Strukturen sind. Zwar ist wie im Fall der Visualisierung von quantitativen bzw. statistischen Daten die Art der Visualisierung von 143 Winkler, Karl-Heinz A./Chalmers, Jay W./Hodson, Stephen W./Woodward, Paul R./Zabusky, Norman J., A Numerical Laboratory, in: Physics Today, Jg. 40, Nr. 10 (1987), S. 28-37, hier S. 32. 144 Vgl. Stäudner, Frank, Virtuelle Erfahrung. Eine Untersuchung über den Erkenntniswert von Gedankenexperimenten und Computersimulationen in den Naturwissenschaften, Dissertation, Universität Jena, 1998, S. 166. 310

SCHLÜSSELKONZEPTE

Bedeutung. Es zeigt sich aber noch deutlicher, dass der Prozess der Generierung narrativer Strukturen bereits im Vorfeld beginnt, indem ihr Grundgerüst bereits mit der Formalisierung von Modellen angelegt wird. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Verlauf nicht wie im Fall der Statistik linear ist, sondern je nach Veränderung der Parameter ungewiss ist. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Zählen und Messen keine Voraussetzung mehr zur Erzeugung narrativer Strukturen sind, sondern diese aus den formalisierten Modellen hervorgehen. Dies hat Folgen für das Verhältnis der Sozialforschung zur Empirie.

3.3.3 Simulation und Empirie Simulationen sind als Instrumente der Sozialwissenschaften höchst ambivalent, da sie einige traditionelle Forschungsprinzipien in ihr Gegenteil verkehren, andere dagegen gerade dadurch auf die Spitze treiben. Das Grundprinzip der empirischen Forschung, dass – auf welche Weise auch immer gewonnene – empirische Daten als Bezugspunkt der Forschung und als Grundlage der Formulierung von Ergebnissen dienen, gilt nicht mehr. Vielmehr sind das Produkt von Simulationen die in ihnen selbst erzeugten synthetischen Daten. Karsten Weber weist darauf hin, dass damit ein Eckpunkt fallibilistischer Forschungslogik, auf der die Prüfung von Theorien und Hypothesen beruht, nicht mehr erfüllt ist. Hier gilt die Bedingung, dass Erklärungen einen empirischen Gehalt aufweisen müssen. Daraus ergeben sich Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit, Theorien mit Hilfe von Simulationen zu überprüfen. 145 Empirische Forschung bedarf also unter den Bedingungen der Computersimulation nicht mehr eines empirischen Relativs als Begründung, sondern nur mehr als Prüfstein. Computersimulation meint in diesem Sinne eine Umkehr des Forschungsprozesses, in dem der Bezug zur Empirie auf ihre Funktion zur Validierung reduziert wird.146 Aber gerade durch diesen Bruch mit den Prinzipien der empirischen Forschung erscheinen Simulationen aus dieser Perspektive als Umsetzung von Pop-

145 Vgl. Weber, Simulationen in den Sozialwissenschaften, S. 113-116. 146 Jean Baudrillard hat diese Sichtweise derart zugespitzt, dass die Simulation selbst zum umfassenden Prinzip der Wirklichkeitskonstitution wird. Simulationen betrachtet er als »Liquidierung aller Referentiale«, sie erst produzieren das Reale. Vgl. Baudrillard, Jean, Die Präzession der Simulakra, in: ders, Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978, S. 7-69, hier S. 9. 311

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

pers Idealvorstellung der Auslagerung und Distanzierung von Beobachterstandpunkt und Erfahrung von den Forschern selbst. 147 Eine weitere Umkehrung im Vergleich zur traditionellen quantitativen Forschung besteht darin, dass mit der Parametrisierung und dem Tuning die deduktive Forschungslogik umgekehrt wird. Zwar können diese Annahmen auf deduktives Schlussfolgern zurückgehen. Auf der Grundlage von durch die Veränderung von Parameterwerten induzierten Verhaltens werden jedoch induktiv gewonnene Erkenntnisse generiert. 148 Diese Aufhebung bzw. Umkehrung der gewohnten Prinzipien der quantifizierenden Sozialforschung ist auf den ersten Blick erstaunlich. Sie ist aber dennoch die konsequente Fortführung der traditionellen Sozialwissenschaften, indem sie weiterhin Komplexität nur auf der Ebene der Modelle zulässt. Insofern handelt es sich bei Simulationen um eine Quantifizierung der theoretischen Sozialwissenschaften, nicht aber um eine neue Qualität der klassischen empirischen Sozialforschung. Da mit Simulationen das Ziel verfolgt wird, das dynamische Verhalten von komplexen Systemen nachzubilden, schließen sie die Lücke, die innerhalb der mathematischen Verfahren durch die Bevorzugung entzeitlichter Messverfahren vorhanden ist. Dass nun auch mit Hilfe dieser Verfahren komplexe Systeme untersucht werden können, hat aber auch Konsequenzen für die praktische Seite der Forschung. Durch den Verzicht auf empirisch erhobene Daten scheint das Ziel der Kommunikationsfreiheit der Sozialforschung endlich gewährleistet. Das Zulassen der Komplexität der Gegenstände wird dadurch erreicht, dass die Komplexität der praktischen Forschung selbst nun endgültig abgeschafft wird. Und so erzeugen Simulationen nun auf der Grundlage von formalisierten Modellen mögliche Erzählungen. Damit wird die numerisch-formale Basis zum eigentlichen Erzähler, die Visualisierung als erzeugte narrative Struktur das eigentliche Objekt der Erkenntnis.

3.4 Fazit Der Vergleich der Strategien Zählen und Erzählen führt zu der Feststellung, dass nicht nur die Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung nicht aufrecht zu erhalten ist, sondern die Strategien selbst in den Methoden der Sozialforschung miteinander ver147 Siehe dazu den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 148 Vgl. Gramelsberger, Computersimulationen in den Wissenschaften, S. 50. 312

SCHLÜSSELKONZEPTE

schränkt sind. Dabei zeigt sich vor allem die Abhängigkeit der zählenden Sozialforschung von Formen des Erzählens. Es ist in der Tat so, dass Zählen als Funktion des Erzählens verstanden werden kann. Diese Funktion ist die eines Unterbrechers der Kommunikation in der Sozialforschung. Dies zeigt sich in der Eigenschaft von Mess- und Zählvorgängen, konsequent nicht prozessorientiert zu sein. Dennoch können quantitative Daten über den Transformationsschritt der Visualisierung als narrative Momente der Ergebnispräsentation genutzt werden. Aber erst wenn sich die mathematische Formalisierung vom Zählen löst, ist sie in der Lage, autonom Erzählungen zu generieren. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Es bedeutet im Extremfall auch die Ablösung von einer der theoretischen Forschung korrespondierenden Empirie. So wird auch das als gesichert geltende theoretische Wissen, das in die Formalisierung einfließt, willkürlich wie das von Cicourel kritisierte unreflektierte Common-Sense-Wissen in der traditionellen quantitativen Sozialforschung.149 Nichtsdestotrotz bleibt es spannend, welche Entwicklung die Simulation sozialer Systeme nehmen wird. Bislang werden vor allem Simulationen mit vielen Einheiten, die durch wenige Variablen gekennzeichnet sind, durchgeführt. Es fehlen jedoch weitgehend Simulationen von Systemen mit wenigen Einheiten, dafür aber vielen heterogenen Variablen wie sie etwa die Simulation von face-to-face-Kommunikation darstellen würde. 150 Was bedeuten diese Ergebnisse für die Auseinandersetzung über die verschiedenen Paradigmen der Sozialforschung? Zunächst einmal kann die auch schon an anderer Stelle ad acta gelegte Rede von unterschiedlichen Paradigmen auch aus dieser Perspektive zurück gewiesen werden. Nun interessiert nicht mehr die Frage, ob die unterschiedlichen Forschungsstile durch (In-)Kompatibilität oder Komplementarität gekennzeichnet sind. Vielmehr erscheinen die verschiedenen Ansätze der Sozialforschung als mehrdimensionales, an überraschenden Stellen verschränktes Netzwerk, das erst durch die Prämierung von spezifischen Aspekten auf einer begrifflichen Ebene in unterschiedliche Teilbereiche aufgespalten wird. Vielleicht ist diese Praxis bereits intrinsisch in den 149 Diese Problematik zeigt sich bei der Überführung von theoretischen Modellen in formale Modelle. Insbesondere in den Sozialwissenschaften besteht die Schwierigkeit, die nötige Präzision bei der Explikation aller darin enthaltenen Annahmen zu gewährleisten. Vgl. Weber, Simulationen in den Sozialwissenschaften, S. 116. 150 Daher wird Warren Weavers Forderung nach der Erforschung von Problemen organisierter Komplexität in diesem Feld nicht erfüllt. Siehe dazu den Abschnitt Das Versprechen der Komplexität in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 313

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Grundvoraussetzungen der Sozialforschung angelegt. Nicht angelegt ist jedoch die Vehemenz, mit der künstliche Grenzen – auch durch die genannten Begriffe Kompatibilität und Komplementarität – aufrecht erhalten werden sollen. Die künstlich gezogenen Grenzen verdecken nur die tatsächlichen Schnittmengen. Diese Schnittmengen werden jedoch nicht von gleichberechtigten Elementen gebildet. Kern der Sozialforschung, und das ist das Ergebnis dieser Fallstudie, ist ein natürliches Primat von erzählenden Elementen in der Sozialforschung. Die Konsequenz daraus muss lauten, dass dieser Tatsache auch auf der Ebene der Wissenschaftstheorie und der Methodologien Rechnung getragen wird. Vor allem auf Seiten der quantitativen Sozialforschung muss anerkannt werden, dass Zählen nur im Wechselspiel mit Erzählen möglich ist, nicht aber autonom.

314

V. S O Z I A L F O R S C H U N G

ALS

K O M M U N I K AT I O N

Die bis hierhin erarbeiteten Ergebnisse können nun als Grundlage für eine systematische Beschreibung der Sozialforschung als Kommunikation genutzt werden. Gemeint ist damit die Entwicklung eines Modells, mit dem Forschungssysteme und Forschungsprozesse in den Sozialwissenschaften konsequent als Kommunikationssysteme und Kommunikationsprozesse beschrieben werden können. Ausgehend vom dreidimensionalen Kommunikationsbegriff Gieseckes 1 kann Sozialforschung dann nach ihren Dimensionen Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung unterschieden werden, die dann wiederum zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Am verständlichsten erscheinen heute die Perspektiven der Informationsverarbeitung und der Vernetzung. Sozialforschung als Spiegelung aufzufassen, ist noch ungewohnt und dürfte auf die größten Widerstände treffen. Eine konsequente Analyse der Sozialforschung als Kommunikation kann jedoch nicht darauf verzichten, einen solchen multiperspektivischen Zugang zu wählen. Entsprechend ist die Trennung der drei Dimensionen nur analytisch; sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Dimensionen nur zusammen zu denken sind. Dies zeigt sich insbesondere bei ihrer weiteren Aufschlüsselung. Hier können als analytische Raster wiederum die anderen Dimensionen mit einbezogen werden. Die folgenden Beschreibungen »Sozialforschung als...« sind daher als spezifische Perspektivierungen ein und desselben Phänomens zu verstehen.

1

Zu Gieseckes Kommunikationsbegriff siehe den Abschnitt Medien und Kommunikation im einleitenden Kapitel. 315

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

1 S o z i a l f o r s c h u n g a l s I n f or m a t i o n s v e r a r b e i t u n g Allgemein meint Informationsverarbeitung in der Sozialforschung die Transformation von gewonnenen Informationen in wissenschaftliche Daten und Wissen. Die Informationsverarbeitung erfolgt dabei auf unterschiedlichen Ebenen: als individuelle, soziale und technische Informationsverarbeitung. In erster Linie handelt es sich in der Sozialforschung um soziale und kooperative Informationsverarbeitung, so dass die Betonung individueller Informationsverarbeitung in der Wissenschaftstheorie als perspektivische Verzerrung aufgefasst werden muss. Dennoch spielt sie eine nicht unwesentliche Rolle und wird deshalb hier besonders ausführlich behandelt. Die Unterscheidung zwischen individueller, sozialer und technischer Informationsverarbeitung orientiert sich an ihren strukturellen Merkmalen. Alternativ ist es auch möglich, auf der Grundlage des allgemeinen Prozessmodells zwischen linearer, paralleler und rekursiver Informationsverarbeitung zu unterscheiden. Diese Perspektive stellt die dynamische Dimension in den Vordergrund. Sie läuft aber zugunsten der besseren Verständlichkeit der strukturellen Perspektive nur im Hintergrund mit.

1.1 Individuelle Informationsverarbeitung Individuelle Informationsverarbeitung meint all jene Prozesse der Informationsverarbeitung, die von den Beteiligten individuell, d.h. allein und ohne Interaktion mit anderen Beteiligten geleistet werden. Dies betrifft in erster Linie die Forscher, aber auch je nach Verfahren die Beforschten. Die individuelle Informationsverarbeitung kann nach der Art der angewendeten Programme und Prozessoren unterschieden werden. Dominant sind in der Wissenschaftstheorie der Sozialforschung die Programme rationaler Informationsverarbeitung. 2 Hinzu kommen die meist weniger beachteten Formen der emotionalen und relationalen Informationsverarbeitung.

1.1.1 Rationale Informationsverarbeitung Rationale Informationsverarbeitung umfasst die Formen logischen Schließens Deduktion, Induktion und Abduktion. Deduktives, induktives und abduktives Schließen setzen die Subjekte dieser Informationsverar2

Siehe zu den folgenden Ausführungen auch den Abschnitt Die strenge Prüfung: Empirismus der Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen.

316

SOZIALFORSCHUNG ALS KOMMUNIKATION

beitung jeweils in ein spezifisches Verhältnis zu ihrer Umwelt und etablieren entsprechende Beobachtungsrelationen. Die deduktive Forschungslogik prämiert die distanzierte Umweltbeobachtung als Erkenntnismedium. Distanziert meint in diesem Zusammenhang auch den Anspruch, tendenziell einen entsubjektivierten Standpunkt einnehmen zu können. Beim induktiven Schließen wird diese Beobachtungsrelation umgekehrt. Hier geht es nicht nur darum, vom Einzelfall auf das Allgemeine zu schließen, sondern auch subjektive Standpunkte der Beforschten einzunehmen, um diese zu verstehen. Die Einnahme subjektiver Standpunkte bedeutet eine Bevorzugung der Selbstbeobachtung als Medium des Erkenntnisgewinns. Induktives und deduktives Schließen werden zwar in der Regel als Gegensätze dargestellt, weisen aber die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich im Rahmen der logischen Formalisierbarkeit bewegen. Die Einführung abduktiven Schließens bricht diesen Dualismus jedoch auf. In der Literatur ist keine einheitliche Definition von Abduktion zu finden. Dies liegt an der prinzipiellen Schwierigkeit der Zuordnung des abduktiven Schließens zum Bereich der formalisierbaren Logik. Indem abduktive Schlüsse – in dieser Hinsicht sind sich die Autoren einig – nicht willentlich herbeigeführt werden können, sondern vielmehr spontan auftreten, können sie nur noch bedingt der rationalen Informationsverarbeitung zugerechnet werden. Dies ist im Wesentlichen nur noch aufgrund ihres Ergebnisses als logische Regel möglich, nicht aber aufgrund des Prozesses, in dem sie gebildet wurde. Im Vergleich deutet sich an, dass abduktives Schließen die Lücke zwischen deduktivem und induktivem Schließen füllt: abduktives Schließen träte dann auf, wenn die Ergebnisse von Umwelt- und Selbstbeobachtung in Widerspruch zueinander treten, der durch einen abduktiven Schluss aufgelöst wird. Demnach stünde im Zentrum des abduktiven Schließens die Beobachtung des Verhältnisses zwischen Umwelt- und Selbstbeobachtung. Es ist anzunehmen, dass die Unterscheidung zwischen deduktivem, induktivem und abduktivem Schließen nur eine analytische ist, die in dieser Reinform keine Entsprechung in der Praxis der Sozialforschung findet. Vielmehr handelt es sich sowohl in den Wissenschaftstheorien als auch in den Methodologien, die sich darauf beziehen, um Bevorzugungen der einen oder der anderen Form rationaler Informationsverarbeitung. Abseits der Rhetorik der Ausschließlichkeit sind jedoch in der Regel Mischformen anzutreffen, sei es aus pragmatischen Gründen oder aus gezielten methodologischen Überlegungen. So bleibt in der am kritischen Rationalismus orientierten Sozialforschung die Frage nach der Generierung von Hypothesen, die einer deduktiven Überprüfung zugeführt werden, entweder unbeantwortet oder es wird das Phasenmodell 317

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

empfohlen, nach dem die Generierung von Hypothesen induktiv und deren Überprüfung deduktiv zu erfolgen habe. Das Beispiel der Grounded Theory steht für den Versuch, beide Strategien systematisch in Form eines induktiv-deduktiven Wechselspiels zu integrieren.3 Der Einbezug des abduktiven Schließens in die erkenntnistheoretischen Überlegungen zeigt aber auch die Grenzen der rationalen Informationsverarbeitung als primärer Modus der Informationsverarbeitung in der Sozialforschung auf. An dieser Stelle bricht das rationale Konstrukt wenn auch nicht zusammen, so doch zumindest auf: individuelle Informationsverarbeitung lässt sich, auch wenn der Bezugspunkt Logik angesetzt wird, nicht mehr als vollständig rational modellieren. Die Hervorhebung der rationalen Informationsverarbeitung in der Wissenschaftstheorie hat zwei wesentliche Konsequenzen für die Praxis der Sozialforschung. Die Betonung rationaler Informationsverarbeitung weist einzelnen Forschern die zentrale Rolle im Prozess der Wissenschaft zu. Forscher sind der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus Forschung organisiert wird, die relevante, zu untersuchende Umwelt bestimmt wird, und in Bezug auf die Daten erhoben und gewonnen werden. Und sie sind vor allem das Element im System, das letztendlich wissenschaftliche Erkenntnisse generiert. Wissenschaft ist aus dieser wissenschaftstheoretischen Perspektive immer ein zentralistisches System. Dieses System ist über Jahrhunderte gewachsen, so dass die Widerstände gegen eine Vertreibung aus diesem Paradies verständlich erscheinen. Die zweite Konsequenz ist die mit der Betonung rationaler Informationsverarbeitung verbundene Relativierung bzw. Vernachlässigung der kommunikativen Aspekte der Sozialforschung. Dies betrifft nicht nur die kommunikative Interaktion von Forschern mit ihren Auftraggebern und den beforschten Systemen, sondern auch die Kommunikation unter den Forschern selbst. Forschung im Team ist nicht durch ihren Mehrwert in Form der Kombination unterschiedlicher Perspektiven und der sich daraus ergebenden Gruppendynamik integraler Bestandteil des Prozesses der Konstituierung neuen Wissens, sondern aus einer hierarchischen Perspektive nicht mehr als ein Instrument der Arbeitsteilung. Vernunft und ihre Steigerung als kritische Vernunft der Vorläufigkeit ist eine Ant3

Siehe dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen sowie den Abschnitt Abduktion als tertium datur sozialwissenschaftlicher Logik in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. Dort findet sich auch der Hinweis auf Jörg Strübings Kritik, dass die Grounded Theory hier einem Missverständnis aufsitzt, da sie seiner Meinung nach Abduktion als primären Modus logischen Schließens bevorzugt.

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SOZIALFORSCHUNG ALS KOMMUNIKATION

wort auf die zahlreichen Unwägbarkeiten, die aus der kommunikativen Verschränkung komplexer Gegenstände und der von der Sozialforschung selbst produzierten Komplexität resultieren. Diese Antwort ist jedoch wie alle Formen der Reduktion der Komplexität mit dem Problem konfrontiert, dass damit beide Komplexitäten reduziert werden, die der Forschung genauso wie die der Gegenstände. Die Konzentration auf das rationale Element bewirkt jedoch, dass all jenes, das sich – vielleicht auch nur auf den ersten Blick – der Vernunft und der Logik entzieht, nicht mehr Gegenstand und Produkt der Forschung sein kann. In einer Wissenschaft, die es aber nicht mit vollständig berechenbaren Gegenständen zu tun hat, ist dies eine Selbstbeschränkung, die sich auch Freunden der Vernunft nicht mehr plausibel erklären lässt.

1.1.2 Emotionale Informationsverarbeitung Die relative Bedeutung rationaler Informationsverarbeitung wird noch deutlicher angesichts der Ansätze und Methoden, die auch andere Formen der Informationsverarbeitung nutzen, allen voran die emotionale Informationsverarbeitung. Ihre Programme finden nicht nur weniger Beachtung, sondern sind vielmehr Objekt von Unterdrückungsstrategien. Da diese weder formalisierbar noch steuerbar sind, ist ihre Nutzung nicht mit konkreten Handlungsanleitungen verbunden, sondern einzig darauf angewiesen, dass sie zugelassen werden. Dies ist die Grundvoraussetzung, damit ihre Produkte wie Affekte und (Gegen-)Übertragungen als auswertbare Daten genutzt werden können, wie z.B. in den psychoanalytisch inspirierten Verfahren der Sozialforschung.4 Während die Methoden der Sozialforschung, die die emotionale Informationsverarbeitung nutzen, sich vor allem auf psychoanalytische Positionen und Erkenntnisse stützen, findet die theoretische Diskussion darüber vorwiegend im psychologischen und technologischen Bereich statt. Der Begriff der emotionalen Informationsverarbeitung taucht vor allem an der Grenze zwischen psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung auf. Hier sind die Arbeiten des Neurowissenschaftlers Antonio Rosa Damasio hervorzuheben, der in explizit anti-cartesianischer Wendung den Beitrag von Emotionen zur Bewusstseinsbildung und kognitiver Informationsverarbeitung herausarbeiten möchte.5 Dieser Zusammenhang findet sich auch in dem populären, mittlerweile bis in 4

5

Siehe dazu den Abschnitt Mit allen Sinnen: Empirismus der Sinnlichkeit in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. Vgl. bspw. Damasio, Antonio Rosa, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München: List. 319

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

Managerhandbücher verbreiteten Begriff »Emotionale Intelligenz«6 sowie in den Arbeiten Marvin Lee Minskys, dem Begründer des Artificial Intelligence Labs am Massachusetts Institut for Technology. Minsky hält emotionale Informationsverarbeitung für eine alternative Art zu denken und zugleich für einen unerlässlichen Bestandteil bei der Konstruktion künstlicher Intelligenzen. 7 Die Gemeinsamkeit dieser Ansätze besteht darin, dass emotionale Informationsverarbeitung in erster Linie in Abhängigkeit von der rationalen Intelligenz und damit von der rationalen Informationsverarbeitung gesehen wird. Diese emergiert hier lediglich auf einem anderen Niveau. Darüber hinaus handelt es sich immer um einen individuellen Prozess bzw. in Form einer »emotionalen Intelligenz« um eine Eigenschaft. Die Schwierigkeiten, emotionale Informationsverarbeitung zu beschreiben, beginnen bereits bei der Definition dessen, was unter Emotionen verstanden werden soll. Im Gegensatz zur rationalen Informationsverarbeitung, bei der zwischen den verschiedenen Formen logischen Schließens und damit auf der Ebene der jeweiligen Prozesse der Informationsverarbeitung unterschieden werden kann, ist dies bei der emotionalen Informationsverarbeitung nicht ohne weiteres möglich. Emotionen werden in der Psychologie oftmals als hypothetisches Konstrukt verstanden, das sich einer direkten Beobachtung entzieht. 8 Daher rekurrieren die meisten Definitionen auch nicht auf eine substantielle Basis von Emotionen, sondern argumentieren eher phänomenologisch. Die Definitionen beziehen sich vor allem auf Affekte als erlebte Gefühle, auf physiologisches Verhalten, auf die kognitive Dimension, indem sie Bewertungen einschließen, oder auf den Zusammenhang von Emotionen und ihrem Ausdruck. 9 Diese Schwierigkeit, Emotionen einer rationalen 6 7

8 9

Vgl. Goleman, Daniel, Emotionale Intelligenz, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1999. Vgl. Minsky, Marvin Lee, The Emotion Machine. Commensense Thinking, Artificial Intelligence, and the Future of the Human Mind, New York: Simon & Schuster 2006. Vgl. Schmidt-Atzert, Lothar, Lehrbuch der Emotionspsychologie, Stuttgart: Kohlhammer 1996, S. 27. Vgl. Kleinginna, Paul R. jr./Kleinginna, Anne M., A Categorized List of Emotion Definitions, with Suggestions for a Consensual Definition, in: Motivation and Emotion, Jg. 5, Nr. 4 (1981), S. 345-379. Für unsere Zwecke ist die Bestimmung von Emotionen und damit ihrer Ursache zweitrangig. Im Zusammenhang mit Kommunikationsprozessen scheint eine Einengung auf nur eine theoretische Perspektive sogar nachteilig. Anne Bartsch und Susanne Hüber zeigen in ihrem Abgleich von Emotions- und Kommunikationstheorien vielmehr, dass gerade ein mehrperspektivischer Ansatz zahlreiche Anschlusspunkte liefert. Vgl. Bartsch, Anne/Hübner, Susanne, Emotionale Kommunikation – ein integratives Modell, Disserta-

320

SOZIALFORSCHUNG ALS KOMMUNIKATION

Verarbeitung zugänglich zu machen, gilt auch für die Beschreibung der Informationsverarbeitung der Sozialforschung. Auch sie muss sich im Wesentlichen auf eine solche phänomenologische Beschreibung stützen, wie sie auch die praktische Nutzung von Affekten und (Gegen-)Übertragungen impliziert. Ein maßgeblicher Unterschied zwischen rationaler und emotionaler Informationsverarbeitung besteht darin, dass die darin ablaufenden Prozesse sowie ihr Input nicht intentional steuerbar sind. Rational kann ein Phänomen zum Ausgangspunkt von Überlegungen gemacht werden, die sich entweder an den Prinzipien der Logik oder an der Matrix einer Theorie orientieren. Emotionen dagegen geschehen. Man kann sie ignorieren oder unterdrücken, aber sie geschehen immer noch, und das, ohne dass man wüsste wie und warum. Einer am Ideal der rationalen Informationsverarbeitung orientierten Forschung sind solche Elemente der Unsicherheit selbstverständlich unliebsam, wenn nicht sogar unheimlich. Dennoch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass emotionale Informationsverarbeitung ein wesentlicher Bestandteil des Zugangs zur Welt ist – es gibt keinen ausschließlich rationalen Kriterien folgenden Zugang. Es ist vielmehr so, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen rationaler und emotionaler Informationsverarbeitung um unterschiedliche Prozessoren handelt, mit denen Umweltreize parallel verarbeitet werden. Parallel heißt dabei auch, dass sie sich wahrscheinlich gegenseitig beeinflussen. Daher macht die explizite Nutzung der emotionalen Informationsverarbeitung in der Sozialforschung in doppelter Weise Sinn. Sie eröffnet nicht nur eine zusätzliche, von der rationalen Informationsverarbeitung verschiedene Zugangsweise zum Verstehen der Interaktionen der Sozialforschung, sondern darüber hinaus auch eine Möglichkeit, die Prozesse und Ergebnisse der rationalen Informationsverarbeitung selbst hinterfragen und verstehen zu können. Die Produkte emotionaler Informationsverarbeitung erfordern deshalb eigene Programme zur Auswertung, um sie für die Sozialforschung nutzen zu können. Dies sind die Programme individueller oder sozialer Selbstreflexion, denen Affekte und Übertragungen unterzogen werden müssen. Emotionale Selbstreflexivität meint individuell die Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung im Sinne ihrer Gesamtheit von Rezeption, Verarbeitung und Darstellung und bietet die Möglichkeit zur Lösung von der »Entschiedenheit des eigenen Blicks«. 10 Reflexion bedeution, Universität Halle-Wittenberg 2004, verfügbar unter: urn:nbn:de:gbv: 3-000011479. 10 Vgl. Arnold, Rolf, Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2005, S. 83-108, hier insbesondere S. 85f. 321

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

tet in diesem Zusammenhang also Abgleich zwischen Selbst- und Umweltbeobachtung. Affekte und Übertragungen werden zwar trotz gewissenhafter Dokumentation und Reflexion nie den Status »harter« Daten erreichen können, jedoch unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht nicht von allen anderen verschriftlichten Daten, die die Sozialforschung nutzt. 11 Auch diese sind nicht nur Gegenstand und Resultat verschiedener Transformationen, sondern genauso auch möglicher Manipulationen. Sie werden aber dennoch genutzt. Voraussetzung ist jedoch die Bejahung der Frage, ob die Sozialforschung nicht prinzipiell alle möglichen Medien und Kommunikationsformen nutzen sollte, um Zugang zu ihren Gegenständen zu erhalten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die emotionale Informationsverarbeitung nämlich wiederum von der rein rationalen. Sie verweist zunächst auf ein größeres Maß an Sinnlichkeit, d.h. auf ihre multimediale Konstitution, indem Emotionen nur im Zusammenhang mit dem ganzen Körper gedacht werden können. Darüber hinaus verweist sie aber auch auf die kommunikative Komponente der Informationsverarbeitung. Sie ist immer nur in kommunikativer Auseinandersetzung mit den Gegenständen und Materialien der Sozialforschung denkbar. Für das Verständnis der Bedeutung des Körpers bzw. körperlicher Prozesse bei der emotionalen Informationsverarbeitung bedarf es der Einnahme einer Perspektive, die den Körper nicht auf einzelne Elemente, etwa einzelne Sinne, reduziert, sondern in seiner Gesamtheit als komplexes System der Informationsverarbeitung betrachtet. 12 Der Zusammenhang zwischen Emotion und Körper meint zum einen den Körper als Projektionsfläche von Emotionen als auch den Körper als Raum ihrer Konstituierung. Emotionale im Sinne körperlicher Informationsverarbeitung ist in dieser Hinsicht in viel stärkerem Maße an der Erfahrung der Umwelt beteiligt, als dies der rein rationalen Informationsverarbeitung zugeschrieben wird. Sie wird in der Regel zumindest als intentionaler Prozess als unabhängig von der Erfahrung beschrieben, wenngleich Erfahrungsinhalte zu ihrem Objekt gemacht werden können. Unabhängig von Erfahrung meint in diesem Zusammenhang vor allem eine idealisierte entkörperlichte Distanz. 13

11 Zum Status von Daten in den Sozialwissenschaften siehe die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 12 Vgl. Damasio, Antonio Rosa, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München: List 2000, S. 182. 13 Siehe dazu auch den Abschnitt Induktionsproblem, Falsifikationismus und Widerspruchsfreiheit in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 322

SOZIALFORSCHUNG ALS KOMMUNIKATION

Neben ihrer körperlichen Dimension weist die emotionale Informationsverarbeitung in doppelter Hinsicht bereits über den eng gefassten Bereich individueller Informationsverarbeitung hinaus. So können Affekte und Übertragungen einerseits als Produkte von Kommunikationsprozessen betrachtet werden, als auch als Elemente, die konstitutiv für das Zustandekommen von Kommunikationsprozessen sind. Dabei geht es nicht um die hier nicht beantwortbare Frage, in welchem Verhältnis Emotion und Kommunikation stehen. Vielmehr geht es hier um die Frage, in welchem Verhältnis die emotionale zur rationalen Informationsverarbeitung steht, die von der Forschung bevorzugt wird. Es geht also um eine Perspektive, die diese Prozesse parallel denkt, und somit die Möglichkeit eröffnet, ihr Verhältnis bestimmen zu können. Dies kann dann anhand ihrer Ergebnisse geschehen, etwa in Form eines Vergleichs zwischen den Affekten gegenüber Beforschten und den professionellen Aussagen über sie.

1.1.3 Relationale Informationsverarbeitung Der dritte Modus individueller Informationsverarbeitung kann als relationale Informationsverarbeitung bezeichnet werden. Darunter sollen jene Prozesse verstanden werden, die Informationen in Verbindung zueinander setzen bzw. Informationen durch Relationierung von Informationen generieren. Hier liegt der Fokus auf der Herstellung von Beziehungen und der Bildung von Strukturen, kann aber auch deren Dekonstruktion beinhalten. Dieser Modus der Informationsverarbeitung wird in den Verfahren der Diskursanalyse, aber auch in den heuristischen Verfahren der Sozialforschung wie der Grounded Theory hervorgehoben. Während Konstruktion und Dekonstruktion noch einen starken Bezug zur rationalen, im Sinne einer intentionalen Informationsverarbeitung aufweisen, ist dieser Bezug im Fall der Mustererkennung weniger stark ausgeprägt. Stattdessen findet sich hier vielmehr eine Ähnlichkeit mit dem Konzept der Abduktion. Die Grenzen verlaufen, um beim Beispiel der Grounded Theory zu bleiben, zwischen den Strategien des Emergieren-lassens (»emerging«) von theoretischen Strukturen und ihrer forcierten Konstruktion (»forcing«). 14 Während sich diese Unterscheidung primär auf den Prozess der Datenauswertung und damit auf die Gewinnung theoretischer Aussagen bezieht, sollen unter relationaler Informationsverarbeitung aber auch all jene Prozesse der Informationsverarbeitung verstan-

14 Vgl. Glaser, Barney G., Basics of Grounded Theory Analysis. Emergence vs. Forcing, Mill Valley, Calif.: Sociology Press 1992. Siehe dazu auch den Abschnitt Kodieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 323

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den werden, die in anderen Phasen, etwa während der Datenerhebung, wirksam werden. Der vor allem aus der Informatik bekannte Begriff der Mustererkennung verweist auf die Tradition der Gestaltpsychologie und der Gestalttheorien. Sie beschäftigen sich mit der Entstehung von Ordnung in Wahrnehmung, Verhalten, Fühlen und Denken und fassen Menschen als offene Systeme auf, die ihre Wahrnehmung im aktiven Umgang mit ihrer Umwelt in Mustern organisieren. 15 Da im Kern auch hier die Auffassung vertreten wird, dass die Wahrnehmung von Gestalten nicht auf deren einzelnen Bestandteile zurückzuführen ist, handelt es sich um einen Ansatz, der sich – mit zeitgenössischem Vokabular ausgedrückt – mit Emergenzphänomenen beschäftigt. Das Erkennen von Mustern ist nicht auf das Befolgen logischer Schlussregeln zurückzuführen. Das Fehlen logischer Regeln zeigt die Nähe zur Abduktion. Daher ist Mustererkennung dieser Art auch nicht zu verwechseln mit der Erkennung statistischer Zusammenhänge. Der Unterschied besteht zum einen darin, dass statistische Zusammenhänge nur als Zusammenhänge von Daten, die auf ein und demselben Niveau emergieren, möglich sind. Zum anderen sind die Regeln, die zur Erkennung dieser Zusammenhänge bzw. Muster führen, vollständig bekannt bzw. selbst definiert. Im Gegensatz dazu ist das Erkennen von Gestalten ein Erkennen von Entitäten, die mehr als die Summe ihrer Teile sind. Relationale Informationsverarbeitung wird in all jenen Verfahren der heuristischen Sozialforschung hervorgehoben, die dabei keine expliziten Regeln über ihre Heuristik im Sinne einer Verknüpfung von Daten und Informationen angeben. Dementsprechend befinden sich diese Methoden insbesondere im Hinblick auf die Methodenausbildung in einem Zwiespalt zwischen der möglichst exakten Angabe von Regeln zu ihrer Durchführung und dem Prinzip, gerade durch das Auslassen solcher Re-

15 Die Gestalttheorie hat sich auch direkt in den Sozialwissenschaften niedergeschlagen. Kurt Lewin hat ihre Grundgedanken weiterentwickelt und auf die Beschreibung von Gruppen angewendet. Er schreibt: »Es gilt heute weitgehend als ausgemacht, daß eine Gruppe mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder oder, genauer, von ihr verschieden. Sie hat ihre eigene Struktur, ihre eigenen Ziele und ihre eigenen Beziehungen zu anderen Gruppen. [...] Eine Gruppe lässt sich als ›dynamische Ganzheit‹ charakterisieren; das bedeutet, daß eine Veränderung im Zustand eines Teils den Zustand jedes anderen Teils verändert.« Siehe Lewin, Kurt, Der Hintergrund von Ehekonflikten, in: ders. (Hrsg.), Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim: Christian-Verlag 1953, S. 128-151, hier S. 128, zitiert nach Lück, Helmut E., Die Feldtheorie und Kurt Lewin. Eine Einführung, Weinheim: Psychologie Verlags Union 1996, S. 70. 324

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geln diesen Modus der Informationsverarbeitung zuzulassen. Ein Beispiel sind die Bestrebungen, Methoden und Methodologien der Diskursanalyse auszuarbeiten. 16 Die Diskursanalyse stellt insofern ein gut geeignetes Beispiel dar, da in ihrem Fall nicht geklärt ist, ob sie – aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive – eher zu den qualitativen oder den quantitativen Methoden gezählt werden soll. Dass diese Frage überhaupt im Raum steht, liegt daran, dass sie sich wie viele andere Methoden der Sozialforschung durch eine starke Textzentriertheit auszeichnet. Dieser Zwiespalt ist aber auch generell charakteristisch für Verfahren relationaler Informationsverarbeitung. Das Beispiel GABEK 17 kann in Maßen als Externalisierung dieser Form der Informationsverarbeitung verstanden werden. Der Zweck dieses Systems besteht darin, die Prinzipien der Gestalttheorie auf die Auswertung großer Datenkorpora zu übertragen. Die eben gemachte Einschränkung bezieht sich auf die Tatsache, dass auch dieses System auf die manuelle Kodierung der einzelnen Daten angewiesen ist und daher nicht voll automatisch funktioniert. Bei GABEK zeigt sich wie bei der Diskursanalyse, dass relationale Informationsverarbeitung womöglich als Wechselspiel von rationaler und emotionaler Informationsverarbeitung betrachtet werden muss und somit, eingeordnet in das allgemeine Prozessmodell, eine rekursive Form der Informationsverarbeitung darstellt.

1.1.4 Individuelle Informationsverarbeitung als multimodaler Prozess Zusammengefasst gilt, dass die individuelle Informationsverarbeitung in der Sozialforschung nur als Zusammenspiel ihrer unterschiedlichen Modi zu verstehen ist. Ihre Bevorzugung in der Wissenschaftstheorie betrifft dabei auch nur einzelne Aspekte, wie im kritischen Rationalismus die deduktive Spielform der rationalen Informationsverarbeitung. Die Zusammenschau der verschiedenen Dimensionen individueller Informationsverarbeitung legt jedoch den Verdacht nahe, dass sie nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, sondern alle in der Sozialforschung wirksam werden. Je nachdem, welche wissenschaftstheoretische Position vertreten oder welche konkrete Methode angewendet wird, werden bestimmte Dimensionen besonders hervorgehoben bzw. vernachlässigt. Individuelle Informationsverarbeitung macht jedoch nur 16 Ein Beispiel dafür ist das seit Ende 2007 von der DFG geförderte »Wissenschaftliche Netzwerk Methodologien und Methoden der wissenschaftlichen Diskursanalyse«. 17 Siehe dazu auch den Abschnitt Ontologisch: GABEK in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 325

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einen Teil der gesamten Informationsverarbeitung der Sozialforschung aus. Die emotionale Informationsverarbeitung zeigt bereits die Grenzen individueller Informationsverarbeitung an. Sie kann nicht ohne ihre soziale Dimension betrachtet werden.

1.2 Soziale Informationsverarbeitung Während die Modi individueller Informationsverarbeitung sowohl als Gegenstand der Forschung als auch als Bezugspunkt der Wissenschaftstheorie – hier aber weniger gut begründet – eine herausgehobene Stellung unter den verschiedenen Formen der Informationsverarbeitung genießen, gilt im Fall der sozialen Informationsverarbeitung das Gegenteil. Als Gegenstand der Forschung taucht sie bislang nur in spezialisierten Feldern auf, als Bezugspunkt der Wissenschaftstheorie spielt sie so gut wie keine Rolle. In Kapitel III wurde die spezifische Komplexität der Sozialforschung dadurch charakterisiert, dass sie komplexe Kommunikationssysteme bildet. Diese Perspektive lässt die soziale Informationsverarbeitung als primären Modus der Informationsverarbeitung der Sozialforschung hervortreten. Komplexe Kommunikationssysteme sind kein Produkt der Akkumulation individuell oder technisch informationsverarbeitender Systeme. Ihre Spezifik besteht vielmehr darin, dass in ihnen soziale Informationsverarbeitung die notwendige Voraussetzung zum Gelingen von Sozialforschung ist. Diese Feststellung gilt unabhängig von den bekannten Versuchen, dieses zu bestreiten. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie angesichts eines unbefriedigenden Forschungsstandes die soziale Informationsverarbeitung in der Sozialforschung näher beschrieben werden kann. Soziale Informationsverarbeitung ist in der Psychologie Gegenstand der Erforschung sozialer Kognition. Innerhalb der Soziologie beschäftigt sich vor allem der symbolische Interaktionismus mit ihr. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass die Psychologie selten darüber hinaus kommt, Informationsverarbeitung generell als ein individuelles Phänomen aufzufassen. Die Besonderheit sozialer Kognition bzw. Informationsverarbeitung besteht darin, dass die Inhalte dieser Informationsverarbeitung sich auf soziale Gegenstände beziehen. 18 Eine Ausnahme vom psychologischen Mainstream stellt eine Arbeit dar, die soziale Informationsverarbeitung vor allem als kooperative Informati-

18 Vgl. bspw. Leyens, Jacques-Philippe/Dardenne, Benoit, Basic Concepts and Approaches in Social Cognition, in: Hewstone, Miles/Stroebe, Wolfgang/Stephenson, Geoffrey M. (Hrsg.), Introduction to Social Psychology. A European Perspective, Oxford: Blackwell Publishers 1996, S. 109-134. 326

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onsverarbeitung auffasst. 19 Sie überwindet die Perspektive sozialer Informationsverarbeitung als auf soziale Gegenstände gerichtete individuelle Informationsverarbeitung, indem Gruppen als »informationsverarbeitende Organismen« 20 verstanden werden. Mitglieder von Gruppen wechseln dabei zwischen individueller und kooperativer Informationsverarbeitung, wobei allerdings auch hier noch ein Fokus mehr auf der Rolle einzelner informationsverarbeitender Systeme innerhalb von sozialen Systemen liegt. 21 Wichtig ist jedoch die Feststellung, dass es sich auch bei kooperativer Informationsverarbeitung immer um ein Wechselspiel zwischen individueller und sozialer Informationsverarbeitung handelt. Der symbolische Interaktionismus nimmt dagegen eine Perspektive ein, aus der auch individuelle Handlungen als Resultat sozialer Prozesse erscheinen. Soziale Tatbestände sind also nicht nur der Gegenstand von Kognitionen, sondern vielmehr das Produkt von Interaktionen. Der symbolische Interaktionismus argumentiert zwar handlungs- und nicht kommunikations- oder informationstheoretisch, eröffnet aber eine Perspektive, aus der soziale Dynamiken als emergentes Produkt betrachtet werden können, das nicht mehr nur aus der Summe der beteiligten Elemente erklärt werden kann. Wenngleich die psychologische Forschung in der Lage ist, kognitive Prozesse genauer zu beschreiben, ist für die Betrachtung der Sozialforschung von Bedeutung, dass anerkannt wird, dass soziale Informationsverarbeitung sich qualitativ von individueller Informationsverarbeitung unterscheidet. Giesecke definiert, wie bereits im einleitenden Kapitel beschrieben, Kommunikation im Sinne sozialer Informationsverarbeitung, als Zusammenwirken »mehrerer unabhängiger Informationssysteme«, die »aus einer gemeinsamen Umwelt ähnliche Informationen gewinnen, sie parallel verarbeiten und sie so darstellen, daß sie wiederum wechselseitig wahrgenommen werden können.« 22 Diese unabhängigen Systeme betreiben jedoch nicht soziale Informationsverarbeitung im Sinne einer 19 Vgl. Gehm, Theo, Informationsverarbeitung in sozialen Systemen, Weinheim: Psychologie Verlags Union 1996. 20 Ebd., S. 140-146. 21 Dem Autor geht es um »gemeinsame Informationsverarbeitungsprozesse von einzelnen »informationsverarbeitenden Systemen mit begrenzten Informationsverarbeitungsressourcen und -kapazitäten« innerhalb von sozialen Systemen.« Siehe ebd., S. 22f. (kursiv im Original). 22 Giesecke, Michael, Geschichte, Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung, in: Faßler, Manfred (Hrsg.), Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München: Wilhelm Fink 1999, S. 185-205, hier S. 186 sowie den Abschnitt Medien und Kommunikation im einleitenden Kapitel. 327

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Addition ihrer individuellen Kapazitäten. Stattdessen sind die Produkte sozialer Informationsverarbeitung das Ergebnis jener spezifisch komplexen Prozesse, die durch ihr Zusammenwirken möglich werden. In der Sozialforschung findet soziale Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Ebenen statt. In den dialogischen Methoden wird sie explizit genutzt. In anderen Fällen kann sie aber nur mittelbar identifiziert werden, etwa in ihren theoretischen Konzepten wie Validität. 23 Die Art der sozialen Informationsverarbeitung kann dabei hinsichtlich der daran beteiligten Informationssysteme, ihrer Funktion sowie ihrer Dynamik unterschieden werden. Als Beteiligte kommen im weitesten Sinne alle Elemente von Forschungssystemen, die als Schnittmenge mehrere sozialer Systeme verstanden werden können, in Betracht. Soziale Informationsverarbeitung kann hier zwischen Auftraggebern und Forschern, zwischen Forschern und Beforschten sowie zwischen den Forschern innerhalb und außerhalb des engeren Forschungssystems stattfinden. Die hier formulierte Einschränkung »kann« bezieht sich auf die Tatsache, dass soziale Informationsverarbeitung nicht stattfinden muss bzw. bisweilen explizit nicht gewünscht wird. 24 Ein Beispiel dafür ist der Einbezug von Auftraggebern. Oftmals sind Forscher selbst ihre Auftraggeber oder sie führen Forschungsaufträge aus, ohne sie zu hinterfragen. In Beratungskontexten ist die Phase der Konstitution eines Forschungssystems, in der auch die Forschungsfrage formuliert wird, elementarer Bestandteil des Forschungsprozesses. Berater wären schlecht beraten, wenn sie die Problemdefinition ihrer Auftraggeber unhinterfragt übernehmen würden. Insbesondere dann, wenn das Ziel die Herstellung einer gemeinsamen Praxis ist, ist es unerlässlich, ein gemeinsames Problembewusstsein zu entwickeln und davon ausgehend Ziele für den Forschungs- und Beratungsprozess zu formulieren. Abstrakt formuliert ist das Ziel eine Parallelisierung von Forschungsfragen und -zielen durch Forscher und Auftraggeber. Soziale Informationsverarbeitung in der Wissenschaft wurde bislang hauptsächlich wahrgenommen als Diffusion und Diskussion von Forschungsergebnissen über das Kommunikationssystem, das sich mit dem

23 Siehe dazu auch die Fallstudie I: Validität und Validierung. 24 So wird der sogenannte Sponsorship-Effekt in der quantitativen Sozialforschung als Problem aufgefasst. Damit ist gemeint, dass sich das Antwortverhalten von Untersuchungsteilnehmern auf den bekannten oder nur angenommenen Auftraggeber einer Studie bezieht und dadurch verzerrt wird. Siehe dazu auch den Abschnitt Störungen als unerwünschte Effekte in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 328

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Buchdruck als technisches Medium und dem Buchmarkt als Kommunikationsmedium seit der frühen Neuzeit etabliert und durchgesetzt hat. 25 Dieses System, das zugleich der Prototyp aller modernen Massenmedien ist, zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: es ist zentral organisiert, in dem Sinne, dass ein Sender viele Empfänger erreicht. Dabei ist es primär linear verknüpft und damit interaktionsarm, d.h. es verfügt über keinen eingebauten Rückkanal. Rekursivität wird in der Regel nur über die Nutzung des gleichen Mediums, also durch eigene Buch- oder Aufsatzpublikationen erreicht. 26 Untersuchungen, die diesem Design folgen, streben meist auch keine Rückkopplung der Ergebnisse an die Beforschten an. Soziale Informationsverarbeitung ist in der Sozialforschung vor allem parallele und kooperative Informationsverarbeitung. Kein Forschungssystem und kein Verfahren können darauf vollständig verzichten. 27 Explizit genutzt wird soziale Informationsverarbeitung in Methoden wie dem narrativen Interview, der Gruppendiskussion oder dem Psychodrama. Während die parallele Informationsverarbeitung im narrativen Interview schon ein hohes Maß an Komplexität aufweist, 28 wird sie im Psychodrama noch deutlicher. 29 Die Beteiligten bearbeiten gleichzeitig die Stimuli, die von unterschiedlichen Seiten gegeben werden, und zwar gemäß den von ihnen eingenommenen Rollen. Und auch die Gruppendiskussion folgt keiner Logik der Akkumulation, d.h. der Erhebung von quantitativ mehr Daten durch die Erhöhung der Teilneh25 Vgl. dazu das Standardwerk Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 26 Dieses System sozialer Kommunikation spiegelt sich, wenn auch in modifizierter Form, ebenfalls in den statistischen Verfahren der Sozialforschung. Die Befragung großer Gruppen wird ebenso zentralistisch organisiert, ein Forscher befragt viele Untersuchungsteilnehmer. Siehe dazu auch weiter unten den Abschnitt Struktur der Vernetzung. 27 Das gilt auch für die hochgradig standardisierten quantitativen Methoden, deren Ziel die Unterdrückung von Kommunikation ist. Gerade in der Phase der Konstruktion von Fragebögen und der Kalibrierung von Messinstrumenten sind sie auf soziale Informationsverarbeitung innerhalb von Forscherteams und zwischen Forscherteams und untersuchten Systemen angewiesen. Siehe dazu auch den Abschnitt Validierungsstrategien in Fallstudie I: Validität und Validierung sowie die Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 28 Zur Kommunikationsform der Erzählung im narrativen Interview siehe den Abschnitt Erzählen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 29 Siehe dazu auch den Abschnitt Soziometrie und Psychodrama in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 329

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merzahl. Vielmehr geht es hier darum, die Qualität der sozialen Informationsverarbeitung zu verändern, indem die Komplexität der Struktur des Forschungssystems erhöht wird und dadurch eine eigene Gruppendynamik entsteht. Soziale im Sinne paralleler Informationsverarbeitung ist nicht nur Teil der Datenerhebung, sondern auch aller anderen Phasen des Forschungsprozesses. Darauf haben bereits, wenn auch aus der Perspektive des Sozialkonstruktivismus, die Laborstudien der 1970er Jahre hingewiesen. 30 Ein schönes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit stammt vom »Wissenschaftsethnographen« Wolff-Michael Roth. Er demonstriert – wie in der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung üblich an einem Beispiel aus den Naturwissenschaften – das Funktionieren paralleler Informationsverarbeitung in einem Forscherteam bei der Lösung eines technischen Problems. 31 Roth schildert, wie in einem abgedunkelten Labor eine technische Störung an einem Monitor auftritt und behoben wird. Das eingesetzte Computerprogramm versagt seinen Dienst und gibt nicht die gewünschten Anzeigen auf dem Monitor aus. Die Forscher tappen wortwörtlich im Dunkeln, versuchen aber, unter diesen Bedingungen – eben im Dunkeln –, das technische Problem zu beheben. Zur Verständigung bedienen sie sich der Sprache – Gestik und Mimik fallen aus – und einem gemeinsamen »Tasten«, und zwar auf der Benutzeroberfläche des Computers. Der Mauszeiger wird dabei zum gemeinsamen Kommunikationsmedium, das vor allem ihre Suchbewegungen zeigt. Das Problem wird nach der Methode trial and error angegangen. »Durch ihre Suchbewegungen und die Wahrnehmungen von Konsequenzen ihrer Handlungen entstand eine neue Welt. Die materiellen (»sich durch die Welt der Software bewegen«) und verbalen Handlungen sind Explorationen.« 32 Sprache setzen sie nicht zur Repräsentation ein, sondern um hinzuweisen, hervorzuheben und um die eigene Wahrnehmung mit der der anderen in Übereinstimmung zu bringen. Ausgesprochen wird dabei nur das, was nicht schon für alle offensichtlich ist. 30 Vgl. Knorr-Cetina, Karin, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 und Woolgar, Steve/Latour, Bruno, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton: Princeton University Press 1986. Siehe dazu den Abschnitt Sozialkonstruktivismus: Forschung als sozialer Prozess im einleitenden Kapitel. 31 Vgl. Roth, Wolff-Michael, »Tappen im Dunkeln«. Der Umgang mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten während des Forschungsprozesses, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 5, Nr. 2 (2004), S. 155-178. 32 Ebd., S. 169 330

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Das Beispiel zeigt zweierlei. Zum einen ist parallele Informationsverarbeitung immer Bestandteil von Forschungsprozessen. Dies bleibt jedoch oftmals unerkannt. Hier wird dies in dem Moment offensichtlich, in dem die visuelle Wahrnehmung durch die Dunkelheit auf die Aktionen auf dem Bildschirm begrenzt wird. Visuelle Wahrnehmung von Mimik und Gestik ist nicht mehr möglich, sondern muss durch sprachliche Kommunikation substituiert werden. Parallele Informationsverarbeitung ist folglich abhängig von den Medien, die zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen zeigt sich, dass die soziale Informationsverarbeitung impliziert, dass das Subjekt des Explorations- bzw. Erkenntnisprozesses nicht mehr die einzelnen Forscherindividuen sind, sondern die Gruppe selbst. Erst durch ihre Interaktion und parallele Informationsverarbeitung wird das Produkt, in diesem Fall die Lösung eines technischen Problems, generiert. Dass soziale Informationsverarbeitung ein wesentliches Element jeder Sozialforschung ist, kann auch an ihren theoretischen Konzepten abgelesen werden. In der Fallstudie »Validität und Validierung« wurde gezeigt, dass Validität ungeachtet seiner verschiedenen konzeptionellen Ausprägungen in erster Linie als Kommunikationsprodukt zu verstehen ist. 33 Jedes Validitätskonzept beantwortet die Fragen nach dem Gegenstand der Validität, was also valide sein soll, wodurch etwas valide sein soll, und nach dem Bezugspunkt, auf den etwas valide sein soll. Die Sicherstellung von Validität, also der Prozess der Validierung, ist dabei immer ein Prozess sozialer Informationsverarbeitung, an dem unterschiedliche Instanzen beteiligt sind. Dieser Prozess folgt dabei entweder dem klassischen Modell sozialer, interaktionsarmer bzw. -freier Informationsverarbeitung wie im Fall der kollektiv-literarischen Validierung oder aber wie im Fall der kommunikativen Validierung interaktionsintensiv mit dem expliziten Ziel der Herstellung einer gemeinsamen Praxis. Die soziale Informationsverarbeitung in der Sozialforschung ist kein Element, das ein- oder ausgeschlossen werden kann. Sie kann nur hinsichtlich ihrer Komplexität gestaltet, also reduziert, erhalten oder induziert werden. Es zeigt sich jedoch, dass gerade die Nutzung ihrer Prinzipien es der Sozialforschung erlaubt, Selbstähnlichkeit zwischen ihr und ihren untersuchten Systemen zu erhalten, mehr und andere Informationen über sie emergieren zu lassen und auch in der Auswertung zu qualitativ anderen Schlussfolgerungen zu gelangen, als dies auf der Basis individueller Informationsverarbeitung und distanzierter Beobachtung möglich wäre.

33 Siehe dazu die Fallstudie I: Validität und Validierung. 331

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1.3 Technische Informationsverarbeitung Technische Informationsverarbeitung ist mittlerweile Bestandteil aller Phasen sozialwissenschaftlicher Forschungsprozesse und aller Methoden der Sozialforschung. Dies beginnt bei der Konstitution von Forschungssystemen, wenn Telefon und E-Mail als technische Medien der Vernetzung genutzt werden, und endet noch nicht mit der Publikation von Ergebnissen. Dabei übernehmen technische Medien unterschiedliche Funktionen. Technische Informationsverarbeitung erfüllt innerhalb der Sozialforschung drei Funktionen. Sie dienen der Vernetzung von Forschungssystemen, Ergebnissen und Daten. Im engeren Sinne zur Informationsverarbeitung werden technische Medien zur Auswertung und Aufbereitung von Daten verwendet. Vorher allerdings sind sie wesentlich an der Konstituierung von Daten beteiligt. 34 Alle drei Funktionen sind nicht voneinander zu trennen. Die Konstituierung von Daten geschieht immer auch in Hinblick auf die Art der Auswertung, der sie zugeführt werden sollen. Die Statistik benötigt etwa numerische Daten.35 Daher müssen die Erhebungsinstrumente und -methoden so ausgelegt sein, dass sie numerische Daten liefern. Dies bedarf zwar erheblicher Anstrengungen und Abstriche im Vorfeld der Datenerhebung, erlaubt dann aber eine vollkommen automatisierte Auswertung der Daten. Aber auch die Auswertung von qualitativen Interviews erfordert eine spezielle Konstituierung von Daten. Sie werden zunächst auf Tonband oder Video gespeichert und anschließend transkribiert. Die Art der Transkription hängt dabei von der Art der Auswertung und dem zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse ab. Technische Informationsverarbeitung ist nicht nur als funktionales Mittel der Konstituierung oder als Fluchtpunkt methodisch kontrollierten Vorgehens zu verstehen. Technische Medien können vielmehr auch als unterstützende Mittel bestimmte Formen der Kommunikation ermöglichen. Am weitesten verbreitet sind in der Sozialforschung Tonband und Video. Medien zur Aufzeichnung von Audio- und Videoinformationen fungieren nicht nur als Maschinen, die bloß registrieren. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten neue Perspektiven und Verfahren wie etwa Mikroanalysen verbaler und nonverbaler Kommunikation ermöglicht. Indem Tonband und Kamera gemäß einer Logik der Substitution der Sinne der Forscher die Funktion eines neutralen Beobachters übernehmen, können sie als Backup und Mikroskop eingesetzt werden. Sie kön34 Siehe dazu den Abschnitt Technische Konstituierung von Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 35 Siehe dazu den Abschnitt Numerische Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 332

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nen Forschungsprozesse nachvollziehbar machen und Informationen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Forscher registrieren. 36 Daraus folgt, dass die technischen Medien einerseits dazu genutzt werden können, mehr Komplexität in Forschungsprozessen zuzulassen und zu erhalten. Andererseits bedeuten dynamische Speicher gleichzeitig eine Induktion von Komplexität, indem Daten damit auf einem anderen Niveau emergieren. Dadurch ergibt sich die Frage, wie mit diesen Daten umzugehen ist bzw. allgemeiner, was Forscher als ihre zu erforschende Umwelt betrachten. 37 In der Simulation als jüngster Methode der Sozialforschung wird die technische Informationsverarbeitung gänzlich in den Vordergrund gerückt, indem sie dazu genutzt wird, Daten zu generieren. 38 Daten beziehen sich nicht mehr auf eine äußere Referenz, sondern haben ihren Ursprung in den wissenschaftlichen Modellen. Technische Medien dienen hier der Transformation von Modellen in dynamische Datensätze. Trotzdem kann auch hier die technische Informationsverarbeitung nicht unabhängig von den anderen Prozessen der Informationsverarbeitung betrachtet werden. Da die zugrunde gelegten Modelle selbst nicht rein technischen Ursprungs sind, kann man auch der Simulation keinen autonomen Status innerhalb der Verfahren der Sozialforschung zuschreiben.

1.4 Zwischenfazit: Sozialforschung als Zusammenspiel individueller, sozialer und technischer Informationsverarbeitung Die Sozialforschung nutzt in ihren Verfahren alle beschriebenen Modi der Informationsverarbeitung. Auch wenn sie zu Zwecken der Analyse unabhängig voneinander beschrieben werden können, muss festgehalten werden, dass Sozialforschung nur als Zusammenspiel dieser drei Formen denkbar ist. Sie ist dabei in erster Linie soziale und kooperative Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Niveaus. Dies ergibt sich aus der spezifischen Komplexität der Sozialforschung, die darin besteht, durch die Konstitution von Kommunikationssystemen Zugang zu ihren Gegenständen zu erhalten. Soziale Informationsverarbeitung ist zwar 36 Zur Funktion von Tonband und Kamera im narrativen Interview siehe auch den Abschnitt Erzählen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 37 Vgl. Giesecke, Michael, Von der typographischen zur elektronischen Konstituierung von Daten in den Sozial- und Sprachwissenschaften, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 23, Nr. 90/91 (1993), S. 23-39. Siehe dazu auch den Abschnitt Technische Konstituierung von Daten in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 38 Siehe dazu den Abschnitt Simulieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 333

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nicht ohne individuelle Informationsverarbeitung möglich und sogar auf sie angewiesen, doch muss ihre fast ausschließliche Prämierung in der Wissenschaftstheorie zurückgewiesen werden. Auch die technische Informationsverarbeitung ist als integraler Bestandteil der Sozialforschung aufzufassen. Wenngleich technische Medien gerne als vernachlässigbare Hilfsmittel aufgefasst werden, sind alle Methoden nicht ohne sie denkbar, wenn nicht sogar auf sie selbst ausgerichtet. 39 Im Fall der Transkription von Daten findet oftmals eine Transformation von in elektronischer Form vorliegenden Daten in dann wiederum in elektronischer Form vorliegende Daten statt. Dieser Transformationsprozess ist jedoch bislang ein Prozess individuell-psychischer Informationsverarbeitung, wenngleich nichts dagegen, aber vieles dafür spricht, diese Transformation als soziale Informationsverarbeitung zu gestalten. Diese Forderung kann auf alle Phasen von Forschungsprozessen übertragen werden. Angesichts des untrennbaren Zusammenhangs der unterschiedlichen Formen der Informationsverarbeitung in der Sozialforschung erweisen sich sowohl wissenschaftstheoretische Positionen als auch ganze Methodologien und Methoden, die nur einzelne Dimensionen der Sozialforschung thematisieren oder nutzen, als zu begrenzt, um die Prinzipien der Informationsverarbeitung der Sozialforschung zu erkennen oder zu reflektieren, und können daher auch nicht als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung und Reflexion des sozialwissenschaftlichen Instrumentariums dienen. Gewiss ist es sinnvoll, zu bestimmten Zeitpunkten einzelne Aspekte hervorzuheben und sie einer genaueren Analyse zu unterziehen. Eine ausschließliche Beschränkung auf ein solches isolierendes Vorgehen begrenzt jedoch fahrlässig die Reichweite sowohl der wissenschaftstheoretischen Reflexion als auch der gesamten praktischen Sozialforschung.

39 Die Gewichtung der drei Formen von Informationsverarbeitung würde für andere Wissenschaften anders ausfallen. In den Naturwissenschaften findet eine sehr starke Betonung der technischen Informationsverarbeitung statt, während in der Philosophie wohl die individuelle Informationsverarbeitung im Vordergrund steht. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass dies auch so in den jeweiligen Wissenschaftstheorien gesehen wird. Dort wird in den meisten Fällen die individuelle Informationsverarbeitung hervorgehoben. Diese pauschalen Zuschreibungen müssen für einzelne Fälle konkretisiert und angepasst werden. 334

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2 S o z i a l f o r s c h u n g a l s Ve r n e t z u n g Die zweite kommunikationstheoretische Perspektive auf die Sozialforschung ist die netzwerktheoretische. Aus ihr erscheint Sozialforschung immer als Vernetzung unterschiedlicher Medien und Kommunikatoren. Auf einer übergeordneten Ebene ist damit das Wissenschaftssystem gemeint, auf der Ebene der praktischen Sozialforschung spezifische Forschungssysteme. Die Vernetzung von Forschungssystemen kann unterschieden werden hinsichtlich ihrer Struktur, der Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren sowie der zur Vernetzung genutzten Medien.

2.1 Struktur der Vernetzung Mit der Struktur von Forschungssystemen ist in erster Linie das Verhältnis gemeint, in das sich Forscher und beforschte Systeme zueinander setzen. Die Nutzung quantitativer Verfahren mit einer großen Anzahl von Untersuchungsteilnehmern etabliert in der Regel eine zentralisierte und hierarchische Struktur. Im Zentrum dieser Struktur befinden sich die Forscher, bei denen die erhobenen Daten zusammenlaufen. Hierarchisch sind diese Strukturen insofern, dass ein Ungleichgewicht besteht hinsichtlich der kommunikativen Gestaltungsmöglichkeiten der Interaktionsteilnehmer. Forscher formulieren und konstruieren Instrumente, die an die Beforschten angelegt werden. Idealerweise soll hier ein einseitiger Informationsfluss von den Beforschten zu den Forschern stattfinden. Die implizierte Einschränkung bezieht sich auf die Tatsache, dass auch dazu der Aufbau einer kommunikativen Beziehung erforderlich ist und Anregungen zu Äußerungen gemacht werden müssen. Verglichen mit anderen Ebenen gesellschaftlicher Kommunikation zeigt sich in diesem Modell eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Prinzipien der interaktionsarmen Massenkommunikation.40 Eine weitere bedeutende Form der Vernetzung stellen die dyadischen Beziehungen dar, die durch Interviews aufgespannt werden. Im Prinzip sind sie auch Teil der zentral organisierten Netzwerke der Massenuntersuchungen, genau wie auch qualitative Interviews Teil von zentralen Netzwerken sind. Der Unterschied besteht jedoch im zugrundeliegenden Selbstverständnis dieser Forschungsstile und welchen Aspekten größere Bedeutung zugeschrieben 40 Dieser Verdacht kam schon vor Jahrzehnten in der Sozialforschung auf. Vgl. Scheuch, Erwin Kurt, Das Interview in der Sozialforschung, in: König, René (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung (2 Bde.), Stuttgart: Ferdinand Enke 1962, S. 136-195, hier S. 137. Siehe dazu auch den Abschnitt Methodologie: Kommunikation als Forschungsprinzip im einleitenden Kapitel. 335

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wird. In qualitativen Studien liegt die Betonung auf einzelnen Interviews, die jedes für sich eine wertvolle Datenquelle darstellen können, von den Forscher selbst geführt und anschließend mehr oder weniger aufwändig ausgewertet werden. Hier besteht ein Interesse am besonderen Einzelfall, so dass eben jene dyadische Kommunikation als wesentlich für den Forschungsprozess betrachtet wird. In Massenuntersuchungen werden die einzelnen Befragungen dagegen als austauschbare Elemente betrachtet, die für sich genommen keinen eigenen Wert besitzen. Daher und aufgrund der standardisierten Erhebungsinstrumente besteht für Forscher keine Notwendigkeit, die Datenerhebung selbst durchzuführen. Diese kann an Hilfskräfte oder Dienstleister delegiert werden. 41 Die teilnehmende Beobachtung und Gruppendiskussionen etablieren schließlich Strukturen, die tendenziell durch vollständige Vernetzung gekennzeichnet sind. Alle Beteiligten, unabhängig von ihrer Funktion als Forscher und Beforschte, sind mit allen vernetzt, können miteinander in Kontakt treten und wirken aufeinander ein. Soziale Informationsverarbeitung kann in diesen Strukturen alle Elemente umfassen. Die Entscheidung für eine bestimmte Methode ist immer auch die Entscheidung für eine bestimmte Form der Vernetzung. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Komplexität der durch sie erzeugten Netzwerkstrukturen.

2.2 Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren Die Komplexität der Vernetzung ist allerdings nicht nur durch den Grad der Vernetzung definiert, sondern auch durch die Art und die Funktionen der vernetzten Elemente. Dies beginnt schon auf der obersten Ebene von Forschungssystemen, die sich aus Auftraggebern, Forschern und den untersuchten Systemen zusammensetzen. In der Regel sind dies Institutionen und einzelne Personen. Die funktionalen Rollen ergeben sich aber erst durch ihre gegenseitige Zuschreibung während der Konstitution von Forschungssystemen sowie durch die gemeinsame Verständigung über das, was im speziellen Fall unter Forschung verstanden werden soll. Die Funktionen und Rollen unterscheiden sich nämlich grundlegend, wenn 41 Diese Auslagerung ist unter Umständen auch für ihre Anwender mit Problemen verbunden. In einem Lehrbuch der Methoden der Kommunikationswissenschaft wird vor »schwarzen Schafen« gewarnt, die aus »böswilliger Täuschungsabsicht« oder nur, weil sie in »Versuchung« geraten, »gefälschte Fragebögen« oder »gefälschte Interviews« abliefern. Daraus resultiert für die Sozialforscher die Betonung ihrer Kontrollfunktion, wenn es darum geht, solche »Fälscher rechtzeitig zu identifizieren«. Siehe Brosius, Hans-Bernd/Koschel, Friederike, Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 124-126. 336

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als Ziel Grundlagenforschung, Marktforschung, Politikberatung oder Interventionen wie Beratung und Therapie angegeben werden. Das Forschungssystem als Ganzes ist folglich mehr als die Summe seiner Teile. Durch die Vernetzung seiner Elemente werden also bereits Informationen generiert, über die die Beteiligten verfügen. Auch auf der Ebene der Methoden werden den Beteiligten jeweils spezifische Rollen und Funktionen zugewiesen. 42 In Massenuntersuchungen wird als Kommunikationsideal eine Rollenverteilung angestrebt, die die Befragten als Sender und die Forscher als Empfänger versteht. Im narrativen Interview oder im Psychodrama sind die Rollen und Funktionen der Beteiligten dagegen variabel definiert. So stellt das Psychodrama vor allem die Selbstbeforschung der Protagonisten in den Vordergrund. Sie wechseln nicht nur ihre inhaltlichen Rollen auf der Bühne, sondern oszillieren selbst zwischen den Funktionen Forscher und Beforschte. Im narrativen Interview findet ein solches Oszillieren auf Seiten der Forscher statt, die zwischen ihrer Rolle als Zuhörer einer Erzählung, die Einfühlungsvermögen und aktive Beteiligung verlangt, und ihrer Funktion als Forscher, die auch die Einnahme einer distanzierten Perspektive voraussetzt, wechseln können müssen. Ähnliches gilt auch für Beratungsgespräche. Hier wechseln Berater und Ratsuchende phasenweise zwischen den Rollen Laien und Experten.43 Die Komplexität der Vernetzungsstruktur ergibt sich folglich auch aus ihrer Flexibilität. Die Vernetzung von Forschungssystemen umfasst nicht nur Personen und Institutionen, psychische und soziale Medien, sondern auch technische Medien. Es ist sinnvoll, auch diese Medien mit einzubeziehen und somit als integrale Bestandteile von Forschungssystemen aufzufassen, sobald sie nicht mehr nur als bloße Hilfsmittel verstanden werden, sondern Forschungssysteme im Hinblick auf sie organisiert werden. Dies betrifft vor allem die quantitativen Verfahren, deren Design immer in Bezug zur statistischen Auswertung angelegt wird. 44 Aber auch bei Interviews, die aufgezeichnet werden, um sie mikroanalytisch auszuwerten, sind die technischen Aufzeichnungsverfahren integraler Bestandteil des Forschungssystems. Welche Funktion oder Rolle ein Element eines 42 Siehe dazu auch den Abschnitt Rollenverhältnisse in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 43 Vgl. bspw. Schwertl-Staubach, Maria, Relationiertes Expertentum. Konzeptionelle Grundlage für die Qualifizierung von Organisationsberatern unter dem Fokus Co-Produktion von Beratung, Dissertation, Universität Jena 2006, verfügbar unter: urn:nbn:de:gbv:27-20061207-153331-1. 44 Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die statistische Auswertung tatsächlich technisch im Sinne von rechnergestützt erfolgt oder manuell. Im Prinzip kommt immer das gleiche technische Programm zur Datenauswertung – die Statistik – zum Einsatz. 337

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solchen Netzwerkes übernimmt, ist dabei abhängig vom Beobachter. Das Beispiel Tonaufzeichnungen zeigt, dass technische Medien unterschiedliche Funktionen übernehmen können. 45 Die Art der vernetzten Medien und Kommunikatoren ist zusammengefasst keine Eigenschaft, über die die vernetzten Elemente unabhängig voneinander verfügen. Sie ist vielmehr das Resultat der Konstitution von Forschungssystemen und ihrer konkreten Ausgestaltung. Erst durch die gegenseitige Zuschreibung und Verständigung über Rollen und Funktionen emergiert das, was schließlich als Forschungssystem erscheint.

2.3 Medien der Vernetzung Die Vernetzung der Elemente von Forschungssystemen erfolgt durch unterschiedliche Medien. Je nachdem welche Elemente vernetzt werden, treten sinnliche, soziale oder technische Medien in den Vordergrund. Ein Forschungsansatz ist nicht von vornherein dadurch charakterisiert, welche Vernetzungsmedien genutzt werden. Stattdessen ist es möglich, unterschiedliche Medien für den gleichen Zweck zu wählen. Im Fall von Massenbefragungen stehen dazu mehrere Mittel zur Verfügung. Klassisch ist die Vernetzung über Interviewer, die die Verbindung zwischen Forschern und Beforschten herstellen, selbst aber abseits ihrer ausführenden Funktion nicht in den Forschungsprozess involviert sind. Handelt es sich um vollkommen strukturierte und standardisierte Befragungen und sollen Interviewer als »Störquellen« ausgeschlossen werden, kann diese Instanz umgangen werden, indem Fragebögen verschickt und von den Befragten eigenhändig bearbeitet werden. Die postalische Vernetzung hat allerdings immer mit dem Problem des Rücklaufs zu kämpfen. Entsprechend hat sich das Telefoninterview als gängiges Verfahren von Massenuntersuchungen etabliert. Online-Fragebögen sind eine weitere Variante der Anwendung dieses Prinzips. 46 Während sich diese Be45 Siehe dazu den Abschnitt Technische Informationsverarbeitung in diesem Kapitel sowie den Abschnitt Erzählen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 46 Interessanterweise werden darin aber meist keine qualitativen Änderungen des Forschungsprozesses gesehen. Oft werden Online-Befragungen unter den gleichen methodologischen Fragestellungen – etwa dem Problem der Repräsentativität – diskutiert wie klassische Befragungstechniken (vgl. bspw. Batinic, Bernad/Werner, Andreas/Gräf, Lorenz/Bandilla, Wolfgang (Hrsg.), Online Research. Methoden, Anwendungen und Ergebnisse, Göttingen: Hogrefe, Verlag für Psychologie 1999). Es gibt jedoch auch Ansätze, die vorhandene Technologie nicht bedingungslos traditionellen Methodologien unterzuordnen, sondern stattdessen die Methoden auf die Technologie zuzuschneiden – wenngleich auch noch unter dem gleichen methodologischen Paradigma (vgl. bspw. Mühlenfeld, Hans-Ullrich, Der 338

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fragungsmethoden hinsichtlich des Grades an Interaktion zwischen Forschern bzw. Interviewern und Befragten unterscheiden (mit oder ohne Interviewer), zeichnen sie sich mit Ausnahme des face-to-faceInterviews dadurch aus, dass sie eine strikt monomediale Vernetzung herstellen. Der (Online-)Fragebogen setzt auf den visuellen Kanal, das Telefoninterview auf den akustischen. Diese Reduktion führt dazu, dass die gegenseitige Wahrnehmung, aber auch die Darstellung – in diesem Fall von Fragen und Antworten – nur monomedial erfolgen kann. 47 Allerdings löst dieses Design nicht das Problem, dass die Informationsverarbeitung auf Seiten der Befragten nicht unbedingt auch so einseitig erfolgen muss, sondern sowohl rational als auch emotional und relational. Diese Tatsache ist aus den so erhobenen Daten jedoch nicht mehr rekonstruierbar. Stattdessen erfolgt eine rechnerische Überprüfung der Konsistenz aller Aussagen, um zu gewährleisten, dass nicht nur die Daten die geforderte Eindimensionalität erfüllen, sondern möglichst auch ihre Erhebung. Alle Verfahren, die dagegen face-to-face-Kommunikation als ihre Voraussetzung verstehen, implizieren ein multimediales Vernetzungsmodell. Offene Interviewformen funktionieren nur, da sie nicht nur auf den visuellen oder den akustischen Kanal zurückgreifen, sondern stets auf beide. Mimik und Gestik sind elementare Bestandteile zum gegenseitigen Verstehen und zur Gewährleistung des Fortbestehens der kommunikativen Beziehung. Diese multimediale Wahrnehmung und Darstellung von Informationen bedeutet eine hochgradig parallele Informationsverarbeitung. Diese Form multimedialer sozialer Informationsverarbeitung ist nicht nur Voraussetzung für dyadische face-to-faceKommunikation, sondern auch für Methoden, die mehr als zwei Personen involvieren. Bei Gruppenverfahren kommt jedoch hinzu, dass die Gruppen selbst als soziale Vernetzungsmedien fungieren und den Teilnehmern ihre Rollen und Funktionen zuweisen. Die Vernetzung von Forschungssystemen durch technische Medien hat in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Physische Anwesenheit ist keine Voraussetzung mehr für die erfolgreiche Durchführung von Forschungsprojekten. Stattdessen ist es möglich, die Arbeit auch großer Forscherteams durch elektronische Kommunikationsmedien

Mensch in der Online-Kommunikation. Zum Einfluss webbasierter, audiovisueller Fernkommunikation auf das Verhalten von Befragten, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2004). 47 Siehe dazu auch den Abschnitt Vernetzung von Medien in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 339

DIE ABHÄNGIGKEIT DER SOZIALWISSENSCHAFTEN VON IHREN MEDIEN

ohne großen Aufwand zu synchronisieren.48 Synchronisation ist dabei zu verstehen als eine Möglichkeit der Steuerung durch Vernetzung. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich mittels elektronischer Medien in Zukunft eigene Formen sozialer Informationsverarbeitung etablieren werden. Dies betrifft nicht nur die Kommunikation innerhalb von Forscherteams oder Forschungssystemen, sondern auch innerhalb des gesamten Wissenschaftssystems. Hier zeigt sich, insbesondere in den Naturwissenschaften, bereits eine Abkehr von traditionellen Publikationsstrukturen, die sich auch qualitativ auf die publizierten Produkte auswirkt. 49 Vernetzung innerhalb des Wissenschaftssystems meint nicht mehr nur den Austausch statischer Ergebnisse, sondern einen Austausch auf der Prozessebene.

2.4 Zwischenfazit: Flexible Vernetzung als Prinzip der Sozialforschung Die netzwerktheoretische Perspektive auf die Sozialforschung erlaubt es, Forschung abseits normativer Standpunkte als Produkt der Vernetzung unterschiedlicher Kommunikatoren und Medien zu betrachten. Diese Vernetzung ist nicht nur das Produkt intentionalen Handelns von einzelnen Beteiligten, sondern das Produkt eines Kommunikationsprozesses, der die Beteiligten in Beziehung zueinander setzt und ihnen Rollen und Funktionen zuweist. Diese Zuweisung wird je nach Wissenschaftsverständnis und angewendeter Methode mehr oder weniger flexibel gehandhabt. Der Vorteil einer flexiblen Anwendung liegt darin, dass im Laufe des Forschungsprozesses unterschiedliche Perspektiven einge-

48 Vgl. bspw. Crawford, H. Ken/Leybourne, Marnie L./Arnott, Allan, How we Ensured Rigour in a Multi-site, Multi-discipline, Multiresearcher Study [28 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 1, Nr. 1 (2000), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0001125. Die Autoren beschreiben die Koordination eines interdisziplinären Forschungsprojektes, das an unterschiedlichen Orten mit einer großen Anzahl von Forschern durchgeführt wurde. Dazu nutzten sie vor allem Online-Kommunikation, die um Präsenzphasen ergänzt wurde. Der Austausch diente dabei nicht nur der Ratifizierung von Teilergebnissen, sondern wurde kontinuierlich über alle Phasen des Forschungsprozesses gepflegt. 49 An erster Stelle zu nennen ist hier die Open-Access-Bewegung. Die Forderung nach freiem Zugang zu Forschungsergebnissen wird mittlerweile auch um die Forderung nach Zugang zu Forschungsdokumentationen ergänzt, um Forschungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Siehe dazu auch den Abschnitt Methodendiskussion im einleitenden Kapitel und den Abschnitt Daten als intersubjektiv überprüfbare Einheiten: Die Wiederholbarkeitsannahme in Fallstudie II: Sozialwissenschaftliche Daten. 340

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nommen werden können und dass durch die jeweiligen Relationierungsprozesse selbst wiederum Informationen generiert werden. Die Überwindung der Sprach- und Textzentrierung in den Sozialwissenschaften setzt die Einsicht voraus, dass die Vernetzung sozialer Strukturen eben nicht nur über diesen einen Kanal erfolgt, sondern über viele. Es gibt gegenwärtig keinen Grund mehr, diese Tatsache nicht anzuerkennen und stattdessen produktiv zu nutzen.

3 S o z i a l f o r s c h u n g a l s Sp i e g e l u n g Bislang werden Spiegelungen vor allem als Objekte der Sozialforschung betrachtet. In der Metaphernanalyse werden sprachliche Spiegelungen zur Erforschung impliziten Wissens verwendet. 50 Eine kommunikationstheoretische Betrachtung der Sozialforschung kommt aber nicht umhin, sie selbst aus spiegelungstheoretischer Perspektive zu betrachten. Sozialforschung kann grundsätzlich beschrieben werden als Spiegelung von Forschungsgegenständen in Forschungssystemen. Jede Form von Sozialforschung sieht sich vor die Aufgabe gestellt, innerhalb der von ihr etablierten Forschungssysteme mittels geeigneter Methoden Repräsentationen der von ihr untersuchten Gegenstände zu generieren. Selbst wenn die Untersuchungseinheiten mit den eigentlichen Untersuchungsgegenständen identisch sind, können Forscherteam und untersuchtes System nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Untersucht werden kann nur, was derart in Beziehung zur Forschung gesetzt wird, dass – unter Einbezug der Auftraggeber – dadurch ein eigenes System, eben das Forschungssystem entsteht. Untersucht werden in einem solchen System keine Entitäten, die außerhalb dieses Systems lägen, sondern nur solche, die durch die Konstitution von Forschungssystemen zu einem Bestandteil von ihnen gemacht worden sind. Dies beginnt schon bei der Perspektivierung von möglichen Gegenständen durch eine wissenschaftliche Fragestellung. Die Betrachtung von Sozialforschung als Spiegelung hebt die Tatsache hervor, dass sozialwissenschaftliche Forschungssysteme immer auf

50 Zur sozialwissenschaftlichen Metaphernanalyse vgl. vor allem die Arbeiten Rudolf Schmitts, z.B. Schmitt, Rudolf, Methode und Subjektivität in der Systematischen Metaphernanalyse [54 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 4, Nr. 2, Art. 41 (2003), verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0302415. Siehe dazu auch den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 341

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der Grundlage ihrer Selbstähnlichkeit mit den von ihr untersuchten Systemen operieren. Diese Selbstähnlichkeit ist kein Phänomen, das als Problem eine erfolgreiche Forschung behindert, da dadurch unerwünschte Effekte im Sinne von Reaktivität entstehen. Sie ist vielmehr die grundlegende Voraussetzung von Sozialforschung. Erst die unhintergehbare Verstrickung der Forscher mit ihren Gegenständen ermöglicht den Zugang zu ihnen. Diese Tatsache macht die Besonderheit der Sozialforschung aus und unterscheidet sie von anderen Wissenschaften. Die Orientierung an aus anderen Wissenschaften übernommenen Prinzipien behindert jedoch die Anerkennung dieser Tatsache. Die Methoden der Sozialforschung implizieren stets auch Spiegelungskonzepte. Diese Konzepte beziehen sich auf drei grundlegende Fragen. Erstens die Frage nach den Objekten der Spiegelung, was also in Forschungssystemen repräsentiert werden soll. Zweitens die Frage, im Hinblick auf was diese Objekte gespiegelt werden sollen, also welchem Zweck diese Spiegelungen dienen. Und drittens die Frage nach der Art und Weise der Spiegelung, wodurch also die Spiegelung erreicht werden soll.

3.1 Objekte von Spiegelungen Mit der Auswahl einer Methode wird definiert, was durch sie im Forschungssystem gespiegelt werden soll. Dies können Eigenschaften oder Merkmale, Strukturen oder Prozesse sein. Sozialwissenschaftliche Methoden als Medien der Spiegelung sind insofern selektiv, als sie immer einzelne Aspekte der untersuchten Gegenstände oder Phänomene hervorheben. Welche das sind, hängt davon ab, ob und in welchem Maße die Komplexität der Gegenstände durch ihre Korrespondenten im Forschungssystem reduziert oder erhalten werden soll. Ein Beispiel für extreme Reduktion von Komplexität ist das Spiegelungskonzept der quantitativen Verfahren. Sie zielen darauf ab, einzelne Eigenschaften oder Merkmale von Untersuchungsteilnehmern zu spiegeln. Zwar ist auch hier das Ziel, auf der Grundlage der erhobenen numerischen Daten strukturelle Zusammenhänge zu beschreiben oder aufzudecken. Jedoch wird dieses Ziel nicht dadurch erreicht, dass innerhalb von Forschungssystemen die Komplexität der Gegenstände aufgenommen bzw. gespiegelt wird. Methoden wie das Krisenexperiment oder das Psychodrama verfolgen dagegen eine gegenläufige Strategie. Ihr Ziel ist der Erhalt bzw. die Induktion von Komplexität, um so die Strukturen und Prozesse der untersuchten Gegenstände im Forschungssystem sichtbar zu machen. Das Psychodrama spiegelt die Strukturen etwa einer Gruppe, indem sie selbst 342

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zum Protagonisten des Dramas gemacht wird. Im Idealfall wird die Gruppe also vollständig im Forschungssystem abgebildet. Sie wird erforschbar, da diese Struktur mit der eigenen Struktur des Psychodramas und den damit zu vergebenden funktionalen Rollen überlagert wird. Die Einsicht in die Strukturen der Gruppe wird den Mitgliedern dadurch ermöglicht, dass sie ihre Rollen innerhalb der untersuchten Gruppen tauschen können. Dieses Prinzip der Generierung von Erkenntnis durch strukturelle Veränderungen findet sich auf der Ebene der Prozesse im Krisenexperiment. Alltägliche Routinen werden dadurch sichtbar gemacht, indem sie gestört, unterbrochen oder karikiert werden.51 Dies gelingt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die zu untersuchenden Prozesse im Forschungssystem zuvor gespiegelt werden. Die Methoden der Sozialforschung können folglich dahingehend unterschieden werden, wie viel Komplexität sie bei der Spiegelung von Gegenständen im Forschungssystem zulassen. Die Spannweite reicht hier von vollkommen offen bis vollständig definiert und richtet sich nach der Funktion und der Art und Weise der Spiegelungen.

3.2 Funktionen von Spiegelungen Die Objekte von Spiegelungen sind nicht zu trennen von dem Zweck und der Funktion, die sie im Forschungssystem erfüllen. Spiegelungen werden immer nur in Hinblick auf spezielle Funktionen zugelassen. Entsprechend den bereits skizzierten Objekten handelt es sich um Maßstabsverkleinerung, Strukturanalysen und Redundanzerzeugung. Das Prinzip der Maßstabsverkleinerung ist vor allem in Form der Diskussion über die Gewährleistung von Repräsentativität bei quantitativen Verfahren bekannt. Das Ziel der Repräsentativität wird immer dann zu erreichen gesucht, wenn es darum geht, Aussagen über große Untersuchungseinheiten machen zu können, die nicht vollständig in einem Forschungssystem abgebildet werden können, wie z.B. die Gesellschaft als Ganze. Repräsentativität gilt als Schlüssel zur Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen, die anhand einer Teilmenge erzielt worden sind, auf die jeweilige Grundgesamtheit. Ein Soziologe befragt nicht die Gesellschaft, sondern einzelne Personen oder Gruppen, um daraus Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen zu können. Spiegelung heißt in diesem Fall eine maßstabsverkleinernde Auswahl aus der Grundgesamtheit, die dieser in ihrer Struktur aber dennoch selbstähnlich ist. Selbstähnlichkeit wird dabei durch die in Frage kommenden Variablen – in der Regel

51 Siehe dazu auch den Abschnitt Krisenexperiment in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 343

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Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildungsstand u.ä. – durch die Forscher selbst definiert. Dabei geht es noch nicht um die Strukturen, die womöglich untersucht werden sollen, sondern lediglich um die Ausgangsbasis, auf deren Grundlage diese Erforschung erfolgen soll. Im Hinblick auf Strukturanalysen dienen Spiegelungen der Erzeugung von Strukturen im Forschungssystem, die den Strukturen der untersuchten Systeme ähnlich sind. In diesem Fall ist es nicht möglich, wie im Fall der Maßstabsverkleinerung die betreffenden Variablen im Vorfeld zu definieren. Stattdessen müssen Verfahren genutzt werden, die so offen sind, dass mit ihnen Strukturen gespiegelt werden können, die noch nicht bekannt sind. Ein Beispiel dafür sind alle Verfahren, die Rollenspiele nutzen wie auch das Psychodrama, in dem soziale Strukturen nachgestellt werden können. Ein anderes Beispiel sind Analysen sozialer Netzwerke. Sie gestalten sich in der Regel als Synthese der Analysen von Gesamtnetzwerken und persönlichen Netzwerken. 52 Netzwerkanalysen zeichnen sich durch eine Vielfalt an Methoden aus, die sowohl quantitativen als auch qualitativen Verfahren zugerechnet werden können. Zu den eher quantitativen Verfahren zählt bereits Morenos Soziometrie, der Begriff einer qualitativen Netzwerkanalyse ist dagegen neueren Datums. 53 Der Unterschied zu traditionellen Verfahren der quantitativen Sozialforschung, bei denen es etwa um die Erhebung von Einstellungen geht, liegt darin begründet, dass die einzelnen Datensätze nicht vollständig unabhängig voneinander zu betrachten sind, sondern vielmehr jeder Datensatz komplett in Beziehung zu allen anderen Datensätzen gesetzt werden muss. Nur dadurch, dass die Komplexität der Daten nicht so weit wie möglich reduziert wird, ist es möglich, die Strukturen von Gruppen zumindest in Bezug auf einige Aspekte analysieren zu können, und sie so im Forschungssystem zu spiegeln. Angesichts dieser Tatsache, dass Netzwerkanalysen prinzipiell davon abhängig sind, die Komplexität ihrer Gegenstände spiegeln zu können, sind sie auf Techni52 Vgl. Schnegg, Michael/Lang, Hartmut, Netzwerkanalysen. Eine praxisorientierte Einführung, Hamburg 2002, S. 17-23, verfügbar unter http:// www.methoden-der-ethnographie.de/heft1/Netzwerkanalyse.pdf. 53 Zur Soziometrie siehe Moreno, Jacob Levy, Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Siehe dazu auch den Soziometrie und Psychodrama in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. Der Begriff der qualitativen Netzwerkanalyse ist skeptisch zu betrachten, da er aufs Neue das bekannte Schisma und repliziert. Siehe dazu die Beiträge in Hollstein, Betina/Straus, Florian (Hrsg.), Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006. 344

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ken angewiesen, mit denen diese Komplexität auch dargestellt werden kann. Moreno selbst entwickelte dazu das Soziogramm als graphische Darstellung von Gruppenbeziehungen. Durch die Untersuchung immer größerer Netzwerke kommt ihrer Visualisierung eine zentrale Bedeutung zu. Sie sind dann nicht mehr nur Darstellungsmedium, sondern vor allem Erkenntnismedium. 54 Die Funktion der Redundanzerzeugung von Spiegelungen soll hier nicht nur im Sinne der Erzeugung sich wiederholender Informationen verstanden werden, sondern vor allem als Herstellung redundanter Prozesse. 55 Sozialforschung, die primär an der Untersuchung von Prozessen interessiert ist, ist darauf angewiesen, diese auch im Forschungsprozess reproduzieren zu können. Dieser Fokus ist in der Sozialforschung wenig ausgeprägt, da die meisten Methodologien und Methoden dem Primat der distanzierten Beobachtung und dem Primat der Stillstellung folgen. Die Erzeugung redundanter Prozesse wird aber in all jenen Verfahren genutzt, in der eben jene Prozesse nicht nur Gegenstand der Beobachtung sind, sondern ebenso das Medium des Erkenntnisgewinns. Dies ist nicht nur der Fall im Psychodrama, sondern in den meisten Formen interagierender Sozialforschung wie z.B. im narrativen Interview, in der Gruppendiskussionen oder der teilnehmenden Beobachtung. In diesen Verfahren werden die gewünschten Informationen kommunikativ erzeugt. Durch diese prozessorale Generierung emergieren die Informationen als redundante Informationen, da ihre Referenz, d.h. die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, als der Forschung vorgängig angenommen werden. Diese Redundanz auf der Ebene der Prozesse dient folglich dazu, Informationen sichtbar zu machen, die einer distanzierten Beobachtung nicht zugänglich sind. Dies gilt auch im Spezialfall der teilnehmenden Beobachtung, bei der die untersuchten Prozesse und der Untersuchungsprozess nicht voneinander getrennt werden können, sondern sich gegenseitig überlagern. Erst diese Überlagerung auch der unterschiedlichen Forscherperspektiven (emphatische Teilnahme und distanzierte Beobachtung) erzeugt jene Redundanz, die eine wissenschaftliche Auswertung der so gewonnenen Informationen ermöglicht. Das medientechnologische Analogon der Erzeugung redundanter Prozesse stellen dynamische Speicher wie Ton- und Bildaufzeichnungs54 Zu Visualisierungen in der Sozialforschung siehe auch den Abschnitt Repräsentieren in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 55 In der Informationstheorie ist jener Teil einer Nachricht redundant, der keine neue Information enthält, da diese schon vorher implizit oder explizit gegeben wurde. Der hier verwendete Redundanzbegriff bezieht sich auf seine kommunikationstheoretische Bedeutung im Sinne von Wiederholung. 345

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verfahren dar. Mit ihnen ist es nicht nur möglich, jene Prozesse rekonstruierbar zu machen. Sie ermöglichen auch eine aktive selektive Wahrnehmung, indem sie Redundanz zwischen den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses erlauben, also zwischen der Datenerhebung und ihrer Auswertung. 56 Die verschiedenen Funktionen von Spiegelungen können zwar hier analytisch voneinander getrennt werden, in der Praxis jedoch nicht. So folgt bspw. auch die Erforschung interpersonaler Kommunikationsprozesse wie des Beratungsgesprächs mittels teilnehmender Beobachtung oder Interviews zwar der Logik der Erzeugung redundanter Prozesse, gleichzeitig aber auch der Logik der Maßstabsverkleinerung, wenn es um die Erforschung allgemein gültiger Prinzipien geht. Unterschiede bestehen immer nur in den Ausprägungen und Hervorhebungen der einzelnen Funktionen.

3.3 Medien der Spiegelung Wiederum in einem wechselseitigen Verhältnis zu den Objekten und Funktionen von Spiegelungen stehen die verwendeten Spiegelungsmedien. Allgemein können sie danach unterschieden werden, ob sie offen oder eng definiert sind. Dazu kommt die Unterscheidung, ob sie nur einseitige Spiegelungen zulassen oder wechselseitige, und ob sie monooder multimedial spiegeln. Ob ein Spiegelungsmedium offen oder eng definiert ist, entscheidet darüber, was in ihm gespiegelt werden kann. Ein Spiegel aus Glas ist dadurch gekennzeichnet, dass er Licht bestimmter Wellenlängen reflektiert. Er ist in der Hinsicht offen, dass nicht definiert ist, welche Gegenstände sich in ihm spiegeln können; andererseits ist er aber durch das reflektierbare Lichtspektrum genau definiert. Diese Unterscheidung eignet sich auch zur Beschreibung der Spiegelungsmedien der Sozialforschung. Das offene Interview bspw. ist offen in dem Sinne, dass die Inhalte, die in ihm zur Sprache gebracht werden, nicht definiert sind. Definiert ist jedoch das Kommunikationssystem offenes Interview. Seine Charakteristik besteht in der Rollenverteilung zwischen Interviewer und Interviewten, die kommunikativ, d.h. hier kooperativ, ein Wissen versprachlichen, das sprachlich zugänglich ist. Im Spezialfall des biographischen Interviews sind es die biographischen Selbstdarstellungen, die narrativ, d.h. in einem System von Erzähler und Zuhörer, erzeugt werden – ohne

56 Prinzipiell gilt das auch für Ergebnispräsentationen, denen solche Daten hinzugefügt werden können und somit die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses für Außenstehende ermöglichen können. 346

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Zuhörer keine explizite biographische Selbstbeschreibung. Diese spiegelt sich also durch das Kommunikationsmedium biographisches Interview. Natürlich handelt es sich dabei nicht um die tatsächliche Lebensgeschichte, und schon gar nicht um das Leben selbst. Es ist eine kommunikative Verarbeitung dessen in einem artverschiedenen Medium. Tendenziell nichtkommunikative Sozialforschung kann nicht auf Kommunikationsmedien als Spiegelungsmedien zurückgreifen. Extremfall ist der Fragebogen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Die Beantwortung der Fragen erfolgt hier als Abgleich der Selbstbeobachtung der Befragten mit den möglichen Antworten. Das Ergebnis der Selbstbeobachtung soll sich also in den Antworten widerspiegeln können. Dies ist in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen sind die möglichen Antworten begrenzt. Im Spiegelungsmedium ist also definiert, was es nicht nur formal, sondern auch inhaltlich spiegeln kann. Diese Beschränkung wird mit den Antwortmöglichkeiten »Sonstiges«, »Keine Angabe« oder »Weiß nicht« aufgefangen. Diese Antworten sind nichts anderes als die blinden Flecken des Spiegels. 57 Diese blinden Flecken beziehen sich aber nicht auf die tatsächlichen Antworten, die Befragte vielleicht auf eine gegebene Frage geben könnten. Nein, sie beziehen sich vielmehr auf das Wissen der Forscher, die den Fragebogen konstruiert haben. In ihm ist nur deren Wissen gespeichert, ihr eigener Diskurs ist zum Fragebogen geronnen. Und damit ist auch das zweite Problem angeschnitten. Solche Fragebögen fungieren nicht als Medium, in dem Resonanz erzeugt wird. Nicht die Umwelt spiegelt sich im Fragebogen, sondern der Fragebogen spiegelt sich im Befragten und erzeugt nur dort Resonanz und Redundanz. Der Fragebogen kann als Ausgangspunkt für die Beschreibung der weiteren Merkmale von Spiegelungsmedien genutzt werden. Die einseitige Erzeugung von Resonanz weist ihn als Medium aus, das nur einseitige Spiegelungen erzeugt. Andere Medien erzeugen jedoch auch wechselseitige Spiegelungen. Beispiel dafür sind psychoanalytisch inspirierte Verfahren, die sowohl Übertragungen als auch Gegenübertragungen nutzen. 58 Gegenübertragungen von Beforschten auf Forscher werden dann genutzt, wenn die eigenen Affekte der Forscher als Datenmaterial betrachtet und ausgenutzt werden. Das gleiche geschieht im Psychodrama, 57 Siehe dazu auch den Abschnitt Spiegelungsphänomene in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung sowie den Abschnitt Messen in Fallstudie III: Zählen und Erzählen. 58 Siehe zu George Devereux’ Konzept von Übertragung und Gegenübertragung und seiner Nutzung für die Sozialforschung auch den Abschnitt Die Mannigfaltigkeit der Sinne in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen. 347

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in dem Übertragungen und Gegenübertragungen zwischen Protagonisten und Publikum beabsichtigt sind.59 Aber auch abseits dieser zugegebenermaßen marginalisierten Methoden finden sich Beispiele für die Nutzung wechselseitiger Spiegelungen. Das narrative Interview bspw. würde nicht funktionieren, wenn der Interviewer sich lediglich als Beobachter verstehen und nicht als aktiver Zuhörer agieren würde, der empathisch miterlebt und entsprechende Rezeptionssignale aussendet. Alle Verfahren, die wechselseitige Spiegelungen nutzen oder voraussetzen, können als Verfahren einer kommunikativen Sozialforschung betrachtet werden. Alle Verfahren, die dies unterdrücken, unterdrücken impliziert auch die kommunikativen Aspekte der Sozialforschung. 60 Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Spiegelungsmedien ist die Frage, ob sie monomedial oder multimedial verfasst sind. Diese Unterscheidung ist immer tendenziell zu verstehen und hängt vom Standpunkt des Beobachters ab. Wenngleich der Fragebogen monomedial erscheint, da er Schrift und damit Visualität prämiert, ist er bspw. nicht von seinen taktilen Qualitäten zu trennen. Schon allein, da Fragebögen mit Stift oder Tastatur ausgefüllt werden müssen, erfordert die Beantwortung eines Fragebogens immer eine multimediale Informationsverarbeitung. Darüber hinaus ist er immer eingebunden in eine Kaskade aus Spiegelungen, die sich über verschiedene Medien erstreckt. In der Regel werden Fragebögen rechnergestützt ausgewertet. Dazu werden sie gescannt oder manuell eingegeben. In der Zusammenschau vieler Datensätze soll sich dann die Struktur der Untersuchungseinheit widerspiegeln. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Informationsverarbeitung an der Schnittstelle zwischen Forschern und Beforschten, dem Fragebogen, die Interaktion tendenziell einseitig und monomedial verfasst ist.

59 Moreno nennt das Publikum an einer Stelle auch das »Sprachrohr« des Protagonisten, das dessen Erleben auf der Bühne verstärken soll. Umgekehrt sollen sich die angestrebten therapeutischen Effekte, die »Katharsis« der Protagonisten, auch auf das Publikum übertragen. Vgl. Moreno, Jacob Levy, Psychodrama und Soziodrama, in: ders., Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften, Köln: Edition Humanistische Psychologie 1989, S. 45-52, hier S. 45 (Ausschnitt aus: ders., Who shall survive? A new approach to the problem of human interrelations, Washington: Nervous and Mental Disease Publ.1934, S. 81-89). 60 Besonders deutlich wird dies bei der Problematisierung des Einflusses von Forschern auf Beforschte, wenn sogenannte »Versuchsleiterartefakte« vermieden werden sollen. Siehe dazu auch den Abschnitt Störungen als unerwünschte Effekte in Kapitel III. Die Komplexität der Sozialforschung und Strategien ihrer Bewältigung. 348

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Andere Formen der Spiegelung funktionieren dagegen nur deshalb, weil sie multimedial, d.h. auf verschiedenen Ebenen ablaufen. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn es das Ziel ist, Dynamiken zu spiegeln. Die Dynamik offener Interviews, von Gruppendiskussionen oder im Psychodrama entfaltet sich nur aufgrund der Tatsache, dass es sich gerade nicht um lineare, sondern um rekursive und vor allem parallele Prozesse handelt, die hier zugelassen werden. Die parallele Nutzung unterschiedlicher Medien und Sinne ist die Voraussetzung für die Spiegelung komplexer Sachverhalte. Die Nutzung von Affekten ist nur möglich, wenn sowohl die rationale als auch emotionale Informationsverarbeitung parallel genutzt werden. Das Psychodrama vereint alle menschlichen Sinne, es ist audiovisuell, es ist olfaktorisch, es ist taktil, kurz, es lebt davon, dass alle Beteiligten sich auch körperlich vollständig einbringen. Nur dadurch können die verhandelten Sachverhalte im Psychodrama gespiegelt werden; denn auch die dargestellte Realität ist nicht monomedial.

3.4 Zwischenfazit: Die Unausweichlichkeit von Spiegelungen Jede Form der Sozialforschung impliziert ein Konzept von Spiegelungen, unabhängig davon, ob sie bewusst genutzt oder unterdrückt werden. Unterschiede bestehen im Hinblick auf die Komplexität der Spiegelungen. Objekte, Funktionen und Medien der Spiegelung sind dabei nicht voneinander zu trennen, sondern stehen in einem gegenseitigen Verhältnis zueinander. Jede Methode der Sozialforschung impliziert ein Konzept von Spiegelungen, das sich sowohl auf die Objekte, ihre Funktion und Medien bezieht, dabei aber unterschiedliche Aspekte akzentuiert bzw. vernachlässigt. Es ist jedoch keine Sozialforschung denkbar, die ohne Spiegelungskonzept auskommt. Unabhängig von der bewussten Nutzung von Spiegelungen oder ihrer Unterdrückung führt die allgemeine Feststellung, dass Spiegelungen auftreten, zur Schlussfolgerung, dass die Sozialforschung ihnen prinzipiell offen gegenüber stehen sollte. Dann können nämlich auch Spiegelungen, die nicht beabsichtigt sind oder die Irritationen auslösen, als Medium des Erkenntnisgewinns oder zumindest als Datenmaterial genutzt werden. Dann kann allein schon die Tatsache, dass Spiegelungen auftreten, zwischen welchen Teilen von Forschungssystemen auch immer, produktiv genutzt werden. Dies bezieht sich auf die Inhalte von Spiegelungen selbst, aber auch auf die Spiegelungsprozesse.

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4 Fazit Das hier vorgeschlagene Modell von Sozialforschung als Kommunikation eignet sich, die Komplexität der Sozialforschung und ihrer Methoden kommunikationstheoretisch zu analysieren und vergleichbar zu machen. Ihre verschiedenen Dimensionen können nur zusammen betrachtet werden. Dabei zeigt sich die Ambivalenz der Medien der Sozialforschung. Je nach Perspektive erscheinen sie als Medien der Informationsverarbeitung, als Medien der Vernetzung oder als Medien der Spiegelung. Und das gilt für alle Medien: für die Forscher selbst, für ihre Methoden, ihre technischen und sozialen Medien. Wie sie erscheinen, ist abhängig vom Beobachter. Aber nur weil bestimmte Aspekte vernachlässigt oder unterdrückt werden, heißt das nicht, dass sie keine Rolle spielen würden. Sozialforschung ist immer Informationsverarbeitung und zwar vor allem soziale Informationsverarbeitung. Diese Tatsache kann auch nicht durch Gewohnheiten, sie in der Wissenschaftstheorie zu verdrängen, verdeckt werden. Im Gegenteil macht die Hervorhebung dieser Perspektive die spezifische Eigenart der Sozialforschung sichtbar. Sozialforschung ist dabei immer auch das Produkt von Vernetzungsprozessen. Ohne Beforschte gibt es keine Forscher und umgekehrt, und ohne Verständigung darüber gibt es keine Forschung. Und ohne Spiegelung gibt es auch keine Sozialforschung. Nur weil sie Methoden entwickelt hat, ihre Gegenstände im Forschungssystem zu spiegeln, hat sie Zugang zu ihren Gegenständen. Sozialforschung hat kein Außen, sondern ist immer mittendrin. Sozialforschung ist komplex, da sie immer darauf beruht, Kommunikationssysteme zu konstituieren. Diese Tatsache ist in den Sozialwissenschaften bislang vor allem als implizites Wissen vorhanden, dass sich in ihren Bewältigungsstrategien niederschlägt. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Voraussetzung dafür, dass die Sozialforschung eine zeitgemäße Selbstbeschreibung entwickeln kann. Einer solchen Selbstbeschreibung dient nicht nur der Relativierung der Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien, sondern weist darüber hinaus. Dann können die Sozialwissenschaften auch ein Selbstverständnis entwickeln, das nicht in Abhängigkeit von Natur- oder Geisteswissenschaften verwurzelt ist. Denn auch wenn die Sozialwissenschaften in enger Beziehung zu ihnen stehen, kann Sozialforschung nicht auf naturwissenschaftliches Messen oder geisteswissenschaftliche Textexegese reduziert werden. Durch ihre spezifische Art der Informationsverarbeitung, ihre spezifische Art der Vernetzung und ihre spezifische Art der Spiegelung hebt sie sich entscheidend von ihnen ab. Die Integration verschiedener Standpunkte und Herangehensweisen und das reflektierte Oszillieren zwischen ihnen begründet kein Abhängigkeitsverhältnis, sondern die Eigenständigkeit der Sozialforschung. 350

VI. F A Z I T

UND

AUSBLICK

1 D i e M e d i e n d e r S o z i a l f o r s c h u n g : Vo n d e r Abhängigkeit zur Autonomie Die Ergebnisse zeigen, dass jede Form von Sozialforschung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Kommunikationssysteme konstituiert, der Umgang mit dieser Tatsache und die Gestaltung der Kommunikationsprozesse aber je nach Ansatz variiert. Die Anstrengungen, Kommunikation zu unterdrücken, müssten konsequenterweise in der Formulierung einer Methodologie nichtkommunikativer Sozialforschung münden. Dieser Gedanke ist jedoch zu absurd, dass dieser Schritt gewagt worden wäre. Als Zuspitzung ist er jedoch hilfreich, das Augenmerk auf das tragende Prinzip der Sozialforschung zu lenken: ihre kommunikative Grundverfassung. Die Einsicht in die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien ist der erste Schritt in Richtung eines selbstbewussten Umgangs mit ihnen und einer bewussten Gestaltung von sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen. Sie ist die Voraussetzung, den analytischen Blick auf die eigene Forschungspraxis zu schärfen, um ihre Prinzipien aus der Praxis heraus verstehen zu können und nicht aus der normativen Perspektive wissenschaftstheoretischer Positionen. Das Ziel einer Überwindung der Abhängigkeit in Richtung Autonomie meint dabei, dass die Nutzung der Medien nicht nur gemäß aus anderen sozialen Bereichen übernommenen Programmen erfolgt, sondern sukzessive auch nach selbst entwickelten Programmen, und dass die Sozialforschung als Ganze sowie die Sozialforscher individuell in die Lage versetzt werden, zwischen diesen verschiedenen Programmen zu oszillieren.

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Was bedeutet dies praktisch? Gegenwärtig sind oftmals die Medien, Methoden und Verfahren der Forschung vorgängig, d.h. dass das Design von Forschungsprozessen auf sie zugeschnitten wird. Der Gegenentwurf dazu ist die altbekannte Forderung nach der Gegenstandsangemessenheit der Methoden, die quasi die Medien in ein gegenabhängiges Verhältnis zu den Untersuchungsgegenständen stellen möchte. Autonomie bedeutet dann, dass die Sozialforschung sich selbst als Prozess des gegenseitigen ins-Verhältnis-Setzens begreifen muss, als Prozess, an dem alle Elemente von Forschungssystemen beteiligt sind: die Institutionen und Personen, die Methoden und Verfahren sowie Grundannahmen, Werte und Programme, die sie einbringen. Dieser Prozess ist kein einfacher linearer Prozess, sondern immer ein paralleler und zirkulärer; in ihm existieren keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sozialforschung ist nicht die Summe ihrer Teile, sondern vielmehr das Produkt des komplexen Zusammenwirkens all dieser Elemente. Damit die Sozialforschung diese Autonomie in Form einer eigenständigen Kommunikativen Sozialforschung gewinnt, sind weitere Anstrengungen nötig. In der empirischen Wissenschaftsforschung müssen weitere Erkenntnisse über die tatsächlichen Kommunikationsprozesse erzielt werden. Die grundlegenden Institutionen der Selbstreflexion der Sozialforschung, nämlich ihre Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sowie ihre Methodologien müssten auf die kommunikativen Prinzipien der Sozialforschung umgestellt werden. Dann ist es möglich, dass die Sozialwissenschaften und die Sozialforschung zu einer zeitgemäßen Selbstbeschreibung gelangen, die als tragfähige Basis einer Sozialforschung dient, deren Relevanz sich aus ihrer eigenen Logik ergibt.

2 D e r We g z u r K o m m u n i k a t i v e n Sozialforschung Die Weiterentwicklung der Kommunikativen Sozialforschung erfordert weitere Arbeiten in Wissenschaftsforschung, Wissenschaftstheorie und Methodologie und ist als ganzheitlicher Ansatz zu verstehen. Sie stehen nicht in einem Verhältnis zueinander, in dem das Eine dem Anderen vorrangig wäre. Eine solche Annahme würde zu ideologischen Verzerrungen führen und die Probleme, wie sie aus den Auseinandersetzungen über die richtige Forschung bekannt sind, nur replizieren. Stattdessen müssen die drei Bereiche parallel und zirkulär gedacht werden, und zwar in dem Sinne, dass sie aufeinander zurückwirken.

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2.1 Wissenschaftsforschung über die Sozialforschung Zur Untermauerung der hier vertretenen Thesen ist weitere empirische Forschung notwendig. Die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung ist aufgefordert, sich von ihrer Fixierung auf die Naturwissenschaften zu lösen und ihre eigenen Disziplinen zum Gegenstand zu machen. Diese Forderung ist nicht neu, bislang aber kaum umgesetzt worden. 1 Die Selbstbeforschung der Sozialwissenschaften muss die Kommunikationsprozesse zwischen den am Forschungsprozess beteiligten Personen und Institutionen wie Auftraggeber, Forscher und Beforschte sowie die dazu verwendeten Medien in den Vordergrund stellen. Ein solcher ganzheitlicher Ansatz unterscheidet sich von der klassischen Wissenschaftsforschung der Laborstudien, die vor allem die sozialen Konstruktionsprozesse zwischen Forschern untersucht hat. Sie unterscheidet sich auch von der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen, historisch orientierten Wissenschaftsforschung, die vor allem die materiellen Bedingungen der Forschung fokussiert. Beide Sichtweisen muss die Wissenschaftsforschung integrieren und zueinander in Beziehung setzen. Sie stellt eine Neuausrichtung der Forschung dar, da sie als Sozialforschung über Sozialforschung auch inhaltlich eine Beobachtung zweiter Ordnung verfolgt. Eine solche Forschung kann keine Einbahnstraße sein und kommt deshalb nicht umhin, ihren eigenen Forschungsprozess zu reflektieren. Diese Reflexion wird dann die eigentliche Forschungsleistung und den Mehrwert dieses Unterfangens ausmachen. Das Ziel muss es sein, die untersuchte Forschung mit der eigenen Forschung in Beziehung zu setzen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Sozialforscher es zulassen, sich selbst zu beforschen und beforschen zu lassen.

2.2 Sozialwissenschaftliche Wissenschaftstheorie und Epistemologie als Reflexion ihrer medialen und kommunikativen Bedingungen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie werden seit geraumer Zeit in den Sozialwissenschaften vernachlässigt. Daran ändern auch die Konjunkturen der Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Forschungsparadigmen nichts, da sie sich weiterhin auf der Basis der über lange Zeit etablierten Selbstbeschreibungen abspielt. Persönliche Erfahrungen zei1

Vgl. bspw. den Vorschlag von Theo Hug, die Erziehungswissenschaften zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Feldforschung zu machen. Vgl. Hug, Theo, Wissenschaftsforschung als Feldforschung – ein erziehungswissenschaftliches Projekt, in: Störfaktor. Zeitschrift kritischer Psychologinnen und Psychologen, Jg. 8, Nr. 3 (1996), S. 45-63. 353

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gen, dass praktische Forscher oftmals gar kein Interesse an wissenschaftstheoretischen Fragestellungen haben. So lange Methoden als Werkzeuge zur Verfügung stehen, die die erwünschten Ergebnisse herbeiführen, besteht daran offensichtlich kein Bedarf. Andererseits liefert jede praktische Forschung immer auch ein – meist nicht reflektiertes – Selbstverständnis darüber mit, was unter Forschung verstanden wird. Wissenschaftstheorie läuft aus dieser Perspektive immer parallel mit. Zur expliziten Theorie wird dieses Verständnis allerdings erst dann, wenn man einen Schritt zurückgeht und das eigene Handeln tatsächlich reflektiert. Für eine dauerhaft erfolgreiche Sozialforschung ist es sinnvoll, zwischen diesen beiden Ebenen, der Parallelität von Forschung und Wissenschaftstheorie sowie deren bewusster Reflexion als distanzierte Betrachtung bzw. als rekursiver Prozess, der wiederum Ausgangspunkt für die Praxis der Forschung sein kann, oszillieren zu können.2 Es gibt nicht den einen idealen Prozesstyp in der Sozialforschung. Sozialforscher müssen vielmehr in der Lage sein, zwischen linearen, rekursiven und parallelen Prozessen unterscheiden und wechseln zu können. Damit erübrigt sich auch die Frage, ob Wissenschaftstheorie primär deskriptiv oder normativ sein sollte. Sie sollte vor allem selbstreflexiv sein und dabei entsprechend der Praxis der Sozialforschung auch kooperativ erfolgen. Wissenschaftstheorie muss kein Reservat der Philosophie sein. Reflexion der kommunikativen und medialen Bedingungen meint die Analyse der Kommunikationsbeziehungen, die die Sozialforschung auf unterschiedlichen Ebenen eingeht und gestaltet, unter Einbezug der psychischen, sozialen und technischen Medien, die sie dabei nutzt. Sozialforschung ist durch die Besonderheit ihrer Gegenstände und Methoden auf viele artverschiedene Medien angewiesen, vielmehr als andere Wissenschaften. Die theoretische Reflexion dient dazu, ihre spezifischen Leistungen und Funktionen sowie ihr Zusammenwirken herauszuarbeiten. Deshalb darf das Ergebnis auch nicht wiederum die Prämierung eines oder mehrerer Medien sein, sondern eine Grundlage, auf der methodologische Überlegungen unabhängig von ideologisierten Forschungstraditionen erfolgen können. Diese Analyse darf aber nicht von einem äußeren Beobachterstandpunkt erfolgen, sondern von innen heraus und unter Beachtung der jeweiligen Kontexte, in denen Sozialforschung stattfindet. Der Kontext sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch die spezifischen Anforderungen, die durch konkrete Forschungsprojekte gestellt

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Siehe dazu auch den Abschnitt Der Status der Wissenschaftstheorie in Kapitel II. Der Empirismus der empirischen Sozialforschung. Traditionen und Tendenzen.

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werden. Jedes Forschungsprojekt ist tendenziell einzigartig, weshalb Methodologien auch nicht als Rezeptwissen formuliert werden dürfen, sondern als offene Räume, innerhalb derer unter Einbezug von Forschungsgegenstand, -frage, Forscherteam und Auftraggeber dennoch konsistente Forschungsstrategien entwickelt werden können, die den Anforderungen methodologischer Stringenz genügen.

2.3 Sozialwissenschaftliche Methodologie als Gestaltung von Kommunikationsprozessen Methodologische Stringenz kann unter einem kommunikationstheoretischen Blickwinkel nicht mehr dadurch erreicht werden, dass mögliche Ambivalenzen und Unklarheiten vermieden werden. Methodologie kommt vielmehr die Aufgabe zu, Richtlinien der Anpassung von Forschung und Gegenstand zu formulieren, die es erlauben, einen möglichst breiten Zugang zu den Gegenständen zu ermöglichen. Damit ist gemeint, dass die Komplexität von Forschung und Gegenständen nicht ohne Not oder gar nur wegen der Erfordernisse einer Methode oder Methodologie reduziert wird. Komplexität zulassen und gleichzeitig methodologisch kontrolliert vorgehen heißt unter diesen Bedingungen die bewusste Gestaltung von Kommunikationsprozessen, und zwar zwischen allen Beteiligten. Kommunikation zuzulassen, erfordert aber auch spezifische Reflexionsleistungen, die wiederum nur durch alle Beteiligten gemeinsam zu leisten sind. Seit den Anfängen der Kommunikativen Sozialforschung sind methodologische Angebote erarbeitet worden, die den gesamten Forschungsprozess als Kommunikationsprozess gestalten. Diese können als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung und Diffusion kommunikativer Prinzipien für die Sozialforschung dienen. Angesichts des Prozesscharakters von Kommunikation und der Veränderlichkeit ihrer Strukturen kann das Ziel dieser Entwicklung keine feststehende Methodologie sein. Stattdessen muss Methodologie selbst als fortlaufender Prozess aufgefasst werden, der abhängig ist von gesellschaftlichen Kommunikationsformen und Medien. Methodologie ist aus dieser Perspektive der kontinuierliche Prozess der Parallelisierung von Sozialforschung und ihren Forschungsgegenständen.

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2.4 Wissenschaftswandel durch das Zusammenwirken von Wissenschaftsforschung, -theorie und Methodologie Die Entwicklung der Kommunikativen Sozialforschung kann nur als Zusammenwirken von Wissenschaftsforschung, Wissenschaftstheorie und Methodologie erfolgen. Sie muss parallel zur praktischen Forschung und nicht unabhängig von ihr erfolgen. Dies hat auch Implikationen für die Methodenausbildung. Sie kann weder als Frontalunterricht noch nur als praktische Einübung durchgeführt werden, sondern muss von Anfang an die Reflexionsfähigkeit angehender Forscher über das eigene Handeln fördern. 3 Die zentrale Frage, die sich die Sozialforschung immer wieder aufs Neue stellen muss, nämlich »Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?« 4 , darf dann keine Frage für Mußestunden außerhalb der täglichen Forschung sein, sondern die Frage, die in jeder praktischen Forschung ständig mitläuft. Dies bedeutet auch eine Veränderung der Anforderungen, die an Sozialforscher gestellt werden. Eine Kommunikative Sozialforschung, die sich von den wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundannahmen der Geistes- und Naturwissenschaften emanzipiert, ist auf andere Fähigkeiten angewiesen, als sie in Geistes- und Naturwissenschaften prämiert werden. Natürlich wird auch sie nicht auf die Fähigkeit zur distanzierten Beobachtung verzichten können, genauso wenig wie auf Sprachgefühl und hermeneutische Denkweisen. Kommunikative Sozialforscher müssen jedoch in der Lage sein, zwischen den verschiedenen Denk- und Beobachtungsweisen zu oszillieren. Kommunikative Sozialforscher brauchen nicht die allseits in Stellenanzeigen geforderte Kommunikationsfähigkeit, sie benötigen vor allem die Fähigkeit, Kommunikationen reflektieren zu können, und dies vor allem in Form von kommunikativer, kooperativer und sozialer Selbstreflexion. Dadurch werden bestimmte Fähigkeiten in den Hintergrund treten. Das Ausführen eines großen Gedankens in einer Monographie wird we3

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Diese Forderung ist kompatibel mit Wolff-Michael Roths Vorschlag, die Methodenausbildung von zu lehrender Methodologie auf eine reflexive Praxis umzustellen. Vgl. Roth, Wolff-Michael, Textbooks on Qualitative Research and Method/Methodology: Toward a Praxis of Method [63 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online-Journal), Bd. 7, Nr. 1, Art. 11 (2006), insbesondere Absätze 58-63, verfügbar unter: urn:nbn:de:0114-fqs0601111. So auch der Titel der von Theo Hug herausgegebenen umfassenden Einführung in Theorie und Praxis der Wissenschaft. Vgl. Hug, Theo, Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? (4 Bde.), Baltmannsweiler: SchneiderVerlag Hohengehren 2001.

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niger wichtig als die kooperative Generierung und Reflexion von Wissen. Rechnen und Zählen wird weniger wichtig als die Einnahme unterschiedlicher Standpunkte. Sozialforscher müssen lernen, dass sie in Forschungssystemen nur ein Element unter anderen sind. Strenges methodisches Vorgehen wird weniger wichtig als die Anpassungsfähigkeit der Sozialforscher. Methoden werden in Zukunft nicht mehr am Anfang von Forschungsprozessen stehen, die auf sie hin ausgerichtet werden. Stattdessen wird die Entscheidung für ein bestimmtes methodisches Vorgehen das Ergebnis der Verständigung zwischen allen Beteiligten sein; eine Entscheidung, die vorläufig ist und im Laufe des Forschungsprozesses revidiert werden kann.

3 Für eine zeitgemäße Selbstbeschreibung der Sozialforschung Die traditionellen Selbstbeschreibungen der Sozialforschung beruhen auf Annahmen, die den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr angemessen sind. Seitdem es üblich geworden ist, Gesellschaften und generell soziale Systeme als informationsverarbeitende Systeme zu verstehen, verlieren mechanische und hermeneutische Ansätze in der Sozialforschung an Bedeutung bzw. erweisen sich als weniger geeignet, soziale Entwicklungen beschreiben und verstehen zu können. Die Sozialwissenschaften haben die aktuellen Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse bislang nicht nachvollzogen. Dieses Defizit, das das Potenzial zur Ausweitung zu einer Krise haben könnte, bietet den Sozialwissenschaften aber auch die große Möglichkeit, sich aus bestehenden Abhängigkeiten in Richtung einer wissenschaftlichen Autonomie zu befreien. Auf einer übergeordneten Ebene besteht diese Abhängigkeit darin, dass es bislang weder in den Selbstbeschreibungen noch in der praktischen Sozialforschung gelungen ist, die Sozialwissenschaften als eigenständige Disziplinenfamilie zu positionieren. Sie beschreiben sich stattdessen in Abhängigkeit von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften und übernehmen deren Forschungsprinzipien. Dies mag zu bestimmten historischen Zeitpunkten von Vorteil gewesen sein und die bisherige Entwicklung der Sozialwissenschaften positiv beeinflusst haben. Und auch heute erweist sich der Rückgriff auf die auf diesen Grundsätzen beruhenden Verfahren bisweilen als sinnvoll, indem sie aufschlussreiche Perspektiven auf Forschungsgegenstände ermöglichen. Das Festhalten an diesen Prinzipien verhindert es jedoch, dass die Sozialwissenschaften ihre eigene Mitte finden, ein selbstbewusst zu vertretendes Selbstverständnis, das ihre Eigenart her357

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vorhebt und aus dem eigene methodologische Schlussfolgerungen folgen. Die Sozialwissenschaften sind keine Naturwissenschaften und sie sind keine Geisteswissenschaften – diese Aussage findet sich in dieser Klarheit bislang nicht in den Sozialwissenschaften. Die Eigenart und Besonderheit der Sozialwissenschaften ergibt sich nicht allein wie in den Naturwissenschaften aus ihren Gegenständen oder in den Geisteswissenschaften aus ihren Methoden. Die Eigenart der Sozialwissenschaften besteht gerade in dem Verhältnis zwischen Gegenständen und Methoden. Sie sind sich ähnlich. Diese Ähnlichkeit ist nicht das Problem der Sozialforschung, sondern ihre Grundlage, auf der auch ein neues Selbstverständnis aufbauen kann. Die Betrachtung dieses Verhältnisses und der Schnittstellen zwischen Gegenständen und Forschung rückt die hier vertretene Perspektive der Sozialforschung als Kommunikation und die Bedeutung ihrer Medien in den Vordergrund. Die Abhängigkeit von den Medien ist keine, die erst im Zeitalter der digitalen Medien entstanden wäre. 5 Sie besteht bereits seit dem Moment, in dem soziale Sachverhalte aus einer wissenschaftlichen Perspektive untersucht werden. Seitdem ist die Sozialforschung darauf angewiesen, den Besonderheiten des Verhältnisses zwischen ihr selbst und ihren Gegenständen Rechnung zu tragen und auf dieser Grundlage spezielle Zugänge zu ihren Gegenständen zu finden. Es ist verständlich, dass die damit verbundenen Unwägbarkeiten zu einer Bevorzugung von Strategien geführt hat, die Zugang durch Distanzierung zu erreichen suchen. Dies gilt für die am kritischen Rationalismus orientierte Sozialforschung genauso wie für all jene Verfahren, die Sozialforschung in erster Linie als Forschung am Text verstehen. Ihr kontinuierlicher Ausbau hat in der Vergangenheit zu Verhärtungen im Kampf um die Deutungshoheit über das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften geführt. Diese Verhärtungen sind der Formulierung einer zeitgemäßen Selbstbeschreibung der Sozialwissenschaften hinderlich, da sie letztendlich zu einer immer stärker werdenden Selbstbezogenheit der Sozialforschung führen. Die modischen Angebote zur Versöhnung bleiben jedoch so lange folgenlos, wie die Argumentation innerhalb derselben Dichotomisierungen verharrt. Die Hervorhebung von Kommunikation als grundlegendem Prinzip der Sozialforschung bietet jedoch die Möglichkeit, die bisherigen Paradigmen zu relativieren und ihren Verfahren den Status hilfreicher, aber nicht mehr zentraler Instrumente zu5

Siehe dazu auch die Arbeit von Stefan Rieger, der die Bedeutung technischer Medien für die Entwicklung der Sozialforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat. Vgl. Rieger, Stefan, Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Siehe dazu auch den Abschnitt Medien als Gegenstand der Wissenschaftsforschung im einleitenden Kapitel.

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zuweisen. Dieser Schritt ist unangenehm und wird verständlicherweise zu Widerständen führen – hängen doch nicht zuletzt zahlreiche individuelle Karrieren und Wissenschaftlerbiographien daran. Er eröffnet den Sozialwissenschaften jedoch neue Spielräume und hilft, ihre Zukunftsfähigkeit und Anschlussfähigkeit zu sichern. Die Überwindung der Abhängigkeit von ihren Medien kann auch die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Abnehmern verringern. Dann muss man vielleicht gar nicht mehr fragen, ob Marktforschung und Politikberatung durch amtliche Statistik tatsächlich zu ihren Kernkompetenzen zählen; vielleicht ergeben sich aus einer Neubesinnung der Sozialwissenschaften auch für diese Anwendungsfelder neue Einsichten und Möglichkeiten, die dann aber nicht mehr auf die Notwendigkeiten und Begehrlichkeiten der Abnehmer, sondern vielmehr auf die Besonderheiten und Stärken der sozialwissenschaftlichen Forschung zurückzuführen sind. Eine neue Selbstbeschreibung kann stattdessen der Ausgangspunkt dafür sein, dass die Sozialwissenschaften neue Visionen entwickelt. Gegenwärtig stellen sie sich als Wissenschaften dar, denen nämlich gerade dies fehlt: Sie haben keine genaue Vorstellung, in welches Verhältnis sie sich selbst zu der Gesellschaft setzen sollen, die sie hervorgebracht hat. Angesichts der Anforderungen und Möglichkeiten sich verändernder gesellschaftlicher Kommunikationsstrukturen ist ein Nebeneinander unterschiedlicher Stile, Ansätze und Zielsetzungen zu beobachten, die größtenteils noch unter anderen Rahmenbedingungen ausformuliert wurden. Diese Pluralität ist nicht die Ursache für die Unklarheiten und Irritationen innerhalb der Sozialwissenschaften über die Angemessenheit ihrer Ziele und Strategien, sondern ihr Ausdruck und gleichzeitig Chance für die Formulierung zeitgemäßer Ansprüche an sich selbst. Eine mögliche Vision ist eine neue Grundlagenforschung, die komplexe soziale Systeme, Strukturen und Prozesse durch ebenso komplexe Methoden erforscht. Ausgehend von dieser Basis können dann die Anwendungsfelder sozialwissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse neu bestimmt werden. Ein möglicher Orientierungspunkt dafür ist die Beratung. Unter Beratung ist in diesem Zusammenhang nicht die Belieferung von Politik und Wirtschaft mit Datenmaterial als Entscheidungsgrundlage gemeint. Beratung wird vielmehr als jener kooperative Prozess verstanden, in dem alle Beteiligten gemeinsam die Fragen und Probleme bestimmen, gemeinsam die Lösungsstrategien entwickeln und umsetzen und alle Beteiligten etwas über sich und ihr Handeln lernen können. Solche Ziele und Visionen müssen allerdings selbst kooperativ ausgehandelt werden, damit die Sozialwissenschaften selbstbewusst ihre Stärken und

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Potenziale erkennen und nutzen können, anstatt als reiner Dienstleister an wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Relevanz zu verlieren.

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L I T E R AT U RV E R Z E I C H N I S

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DANKSAGUNG

Die Danksagung ist jenes offensichtliche Indiz, das auf das Thema dieser Arbeit verweist: Wissenschaft und Forschung finden nie im stillen Kämmerlein statt, sondern vielmehr im Zusammenspiel vieler Personen, die auf ihre eigene und besondere Weise zum Gelingen eines Vorhabens beitragen. Auch wenn die Nennung des einzelnen Autors diese Tatsache verdrängt – ohne die Anregungen, den Zuspruch und die Geduld der Menschen im Hintergrund wäre auch diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. An erster Stelle möchte ich meinen Betreuer, Herrn Prof. Dr. Michael Giesecke, nennen. Er hat den Prozess der Entstehung dieser Arbeit nicht nur kritisch, geduldig und intellektuell auf äußerst anregende Weise begleitet. Michael Giesecke hat mich auch abseits des engeren wissenschaftlichen Kontextes stets warm und herzlich unterstützt und mir dadurch über das eine oder andere Tief hinweggeholfen. Von ihm weiß ich, dass Wissenschaft nicht nur intellektuelle Anstrengung ist, sondern erst durch ihre affektiven Anteile zum Leben erwacht. Jedem Doktoranden ist eine solche, in jeglicher Hinsicht optimale Betreuung nur zu wünschen. Meinem zweiten Betreuer, Herrn Prof. Dr. Frank Ettrich, danke ich für das Interesse, das er dem Projekt entgegengebracht hat. Erst Neugier ermöglicht Wissenschaft, und es wäre ein Gewinn, wenn sie immer wie von ihm gepflegt würde. Jedes wissenschaftliche Werk ist auch das Produkt des institutionellen Kontextes, der es ermöglicht und in dem es erarbeitet wurde. Das Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ an den Universitäten Erfurt, Weimar und Jena gewährte mir drei Jahre lang eine akademische Heimat. Die Kollegiaten wie die betreuenden Hochschullehrer haben 397

durch ihre Anregungen, aber auch durch die gebotenen Reibungsflächen dazu beigetragen, das Profil und die Schlussfolgerungen der vorliegenden Arbeit zu schärfen. Die Universität Erfurt hat mich darüber hinaus großzügig mit der Gewährung des Christoph-Martin-WielandStipendiums unterstützt und mir dadurch die Freiheit gegeben, mich in vollem Umfang meinen Studien zu widmen. Wissenschaft ist nur das halbe Leben. Entsprechend ist mir die Würdigung meiner wichtigsten Unterstützer ein ganz besonderes Anliegen. Meine Familie, meine Eltern und Geschwister haben nicht nur jahrelange Geduld mit den Höhen und Tiefen eines Promotionsprojekts bewiesen. Durch ihren Zuspruch und ihre Unterstützung gelang es, so manchen (Selbst-)Zweifel aus dem Weg zu räumen. Nie gezweifelt haben dagegen meine Freunde und Kollegen, allen voran jene aus Jena. Ohne sie hätte die Arbeit nicht halb so viel Freude bereitet. Und schließlich ein großes Danke an dich, Anke, für deine Ermunterungen und deine Nachsicht.

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Sozialtheorie Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken Zeitgenössische Positionen Dezember 2009, 340 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1160-1

Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.) Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung September 2009, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1155-7

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Januar 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-10-29 12-04-41 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 031b224715099894|(S.

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3) ANZ1318.p 224715099902

Sozialtheorie Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität August 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert Januar 2010, ca. 290 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5

Gabriele Winker, Nina Degele Intersektionalität Zur Analyse sozialer Ungleichheiten Juni 2009, 166 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1149-6

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3) ANZ1318.p 224715099902

Sozialtheorie Regina Brunnett Die Hegemonie symbolischer Gesundheit Eine Studie zum Mehrwert von Gesundheit im Postfordismus

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Avantgarden und Politik Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne

November 2009, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1277-6

August 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1167-0

Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Dezember 2009, 478 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

Devi Dumbadze, Johannes Geffers, Jan Haut, Arne Klöpper, Vanessa Lux, Irene Pimminger (Hg.) Erkenntnis und Kritik Zeitgenössische Positionen Oktober 2009, 398 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1285-1

Beate Fietze Historische Generationen Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität Februar 2009, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-942-8

Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.) Die Architektur der Gesellschaft Theorien für die Architektursoziologie Mai 2009, 424 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1137-3

Arlena Jung Identität und Differenz Sinnprobleme der differenzlogischen Systemtheorie Januar 2009, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1002-4

Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.) Vieldeutige Natur Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene März 2009, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-944-2

Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.) Fluide Religion Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen Dezember 2009, ca. 264 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1250-9

Christian Morgner Weltereignisse und Massenmedien: Zur Theorie des Weltmedienereignisses Studien zu John F. Kennedy, Lady Diana und der Titanic August 2009, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1220-2

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2009-10-29 12-04-41 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 031b224715099894|(S.

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3) ANZ1318.p 224715099902

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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