Die Metaphorik der Autobahn: Literatur, Kunst, Film und Architektur nach 1945 9783412217969, 9783412224219

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Die Metaphorik der Autobahn: Literatur, Kunst, Film und Architektur nach 1945
 9783412217969, 9783412224219

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Jan Röhnert (Hg.)

DIE METAPHORIK DER AUTOBAHN Literatur, Kunst, Film und Architektur nach 1945

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Albumcover Kraftwerk, Autobahn (1974).

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Thea Gerdes, Braunschweig Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU 978-3-412-22421-9

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Inhalt Jan Röhnert

Die endlose Ausdehnung von Asphalt · Vorläufige Streckenabschnitte zur Metaphorik der Autobahn  .. ................................................................................   9 Steffen Richter

Auf dem Weg zur Autobahn · Die Straße als infrastrukturelles Integrationsmedium der Moderne  .................................................................................   23 Frank Seehausen

Zur Rhetorik einer mobilen Moderne · Die architektonische und visuelle Inszenierung der Stadt durch Autobahnen und Hochstraßen in der Nachkriegsmoderne  . . ...............   35 Benedikt Einert / Michael Ploenus

Grenze und Autobahn · Transit und Stillstand im kollektiven Gedächtnis  .............................................................   77 Christophe Fricker

„Machina machinarum“ · Ernst Jüngers Autobahnen  .......................   87 Jan Brandt

Zwei Geschwindigkeiten · Über das Verhältnis von Autobahn und Literatur seit 1945  .................................................................   105 Mario Marino

Existenzversuche und Moderne · Zu strada und autostrada im italienischen Kino  ........................................................................   127 Rüdiger Heinze

Off the Road: Abseitige Wege in der US-amerikanischen Kultur  . . ......   147 Jan Röhnert

Melancholie des Highways · Wim Wenders’ Paris, Texas  . . ................   165

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Andreas Kramer

Crash! J. G. Ballards Mythologie der Autobahn  ...............................   175 Héctor Canal

Die Autobahn als literarischer Spielplatz · Julio Cortázars und Carol Dunlops Autonauten auf der Kosmobahn  ......................................................................   197 Jan Urbich

Kreis aus Kreisen · Automobile Bewegung im gegenwärtigen amerikanischen Kino: Lost Highway, Drive und Somewhere  ............   221 Theo Baart

Das Fotoprojekt Snelweg · Highways in the Netherlands  .. ................   239 Willem van Toorn

Welche Autobahn?  .......................................................................   257 Carsten Rohde

Fahren und Sehen · Zur traffikalen Inszenierung in der Landschaftsdarstellung nach 1945 (Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Hans-Christian Schink, Peter Bialobrzeski)  ....................................   265 Jörg Paulus

Fahren im Futurum (in)exaktum · Autobahnwahrnehmung bei Jürgen Becker  ....................................   281 Heinrich Popp

Wortsegel  . . ..................................................................................   297 Irmgard und Benno Rech

Wie die Autobahn bei Johannes Kühn ins Gedicht kommt  . . .....................................................................   299 Johannes Kühn

Gedichte  .....................................................................................   301



Autorenverzeichnis  ......................................................................   313 Abbildungsnachweise  ..................................................................   317 Personenverzeichnis  ....................................................................   321

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Die endlose Ausdehnung von Asphalt · Vorläufige Streckenabschnitte zur Metaphorik der Autobahn

1 In einem Gedicht Rolf Dieter Brinkmanns wird das Kino einmal als „die endlose Ausdehnung von Celluloid“ bezeichnet;1 abgewandelt könnte man ebenso von der Autobahn als der endlosen Ausdehnung von Asphalt sprechen: Die Autobahn ist so allgegenwärtig, dass sie uns, wie der Wald vor lauter Bäumen (den sie mit schneidender Geradlinigkeit durchquert, sofern er ihr nicht ganz gewichen ist), als in Wahrnehmung und Sprache eingewandertes Konstrukt längst schon wieder aus dem Blick zu entgleiten droht – ein Dispositiv im Sinne Foucaults, also eine Art vor die Wirklichkeit geschobenes Raster sowohl ideeller wie technischer Art, das für eine unbewusste Vor-Einstellung unseres Sehens und Denkens sorgt.2 Als die Landschaft durchziehende Verkehrsstraße und -trasse dominiert sie Mittel- und Westeuropa, also im Wesentlichen das Gebiet der EU, ebenso aber auch große Flächen der übrigen Erdteile, insbesondere, unter dem Begriff des Highways, den nordamerikanischen Subkontinent. Als technisch-wegebauliches Konstrukt, das dem Kraftfahrzeugverkehr vorbehalten ist, bildet sie buchstäblich die Grundlage, um all die Möglichkeiten, welche die Erfindung des Verbrennungsmotors und des Automobils in sich bergen, adäquat und optimal umzusetzen. Anders jedoch als der Zug an Eisenbahn und Schiene ist das Auto, wenngleich das analog zur Eisenbahn gebildete deutsche Kompositum es suggeriert, nicht direkt und unmittelbar symbiotisch an die Autobahn gekoppelt – diese hat sich erst ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Autos als die einzige allein Kraftfahrzeugen vorbehaltene Fahrbahn durchgesetzt und damit eine Entwicklung mit weitreichenden Folgen für Gestaltung, Erfahrung und Wahrnehmung von Landschaft,

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Rolf Dieter Brinkmann: Cinemascope. In: ders.: Standphotos. Gedichte 1960–1970. Reinbek 1980, S. 295. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1981. Zum Dispositiv der Autobahn als aus Wirklichkeit und Propaganda der frühen, in der Nachwirkung lange wahrnehmungsprägenden nationalsozialistischen Bauphase der Autobahn heraus entstandenem technisch-mentalen Konstrukt vgl. Benjamin Steininger: Raum-Maschine Reichsautobahn. Zur Dynamik eines bekannt/unbekannten Bauwerks. Berlin 2005.

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Verkehr, Mobilität, Geschwindigkeit und Beschleunigung in Gang gesetzt. Die in Deutschland am Anfang der Autobahnen stehende unheilvolle Liaison des neuen Wegemediums mit Hitlers Expansionspolitik wird aus der Geschichte der Autobahn nicht mehr wegzudenken sein. Wie kein anderes Artefakt von solcher Ausdehnung bestätigt die Autobahn auf drastische Weise Walter Benjamins Einsicht, dass es kein Zeugnis der Kultur gebe, das nicht zugleich auch eines von Barbarei sei.3 Auch die Tatsache, dass die metaphorische Analogiebildung Autobahn seit spätestens 1927 als technischer Begriff belegt ist und konkrete Planungen mindestens seit dieser Zeit existierten, die dann von den Nationalsozialisten instrumentalisiert werden konnten, ändert daran nichts.4 Die für die Frühgeschichte der Autobahn und ihre kulturelle Rezeption entscheidende Entwicklung zwischen 1933 und 1945 als sogenannte Reichsautobahn ist kulturwissenschaftlich inzwischen gut durchforscht, beispielhaft hierfür stehen die in mehre1–2  Hermsdorfer Kreuz (2013) ren Monografien und Sammelbänden dokumentierten Arbeiten von Erhard Schütz und von Thomas Zeller: Auch wenn Letzterer die Entwicklung bis ins Jahr 1970 hinein untersucht, so analysiert er sie doch nahezu ausschließlich vor der Folie des megalomanen nationalsozialistischen Raumprojekts.5 3 4 5

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1974, S. 253 f. Vgl. Michael Matzke: „Die Straßen Adolf Hitlers“. Reichsautobahnen 1933–1941. Dipl. Uni Wien 2008, S. 20. Thomas Zeller: Driving Germany. The landscape of the German autobahn, 1930–1970. New York et al. 2006; Erhard Schütz: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941. Berlin 1996; zuvor bereits Reinhard Stommer: Reichsautobahn. Pyramiden des Dritten Reichs. Analysen zur Ästhetik eines unbewältigten Mythos. Marburg 1982.

Die endlose Ausdehnung von Asphalt

Für die Zeit nach 1945 ist die kulturwissenschaftliche Autobahnforschung bislang vergleichsweise lückenhaft und bescheiden geblieben, obwohl die Autobahnen der Nachkriegszeit eine den Vorkriegsumfang bei Weitem übersteigende und stetig anwachsende Ausdehnung in europäischem und globalem Maßstab erlebt haben. Die ideologische Bedeutung, die Hitler dem Terminus Autobahn verlieh, lässt sich als historische Konnotation des Begriffs zwar nicht verdrängen, spielt aber im Alltagsgebrauch kaum eine dominierende Rolle mehr; bautechnisch sind sogar die Betonplatten als Grundlage der „Reichsautobahnen“ mittlerweile weitgehend durch asphaltierte Streckenabschnitte ersetzt worden. Es wird daher vom gegenwärtigen Zeitpunkt (2014) aus betrachtet möglich, die Autobahnen seit 1945 als dasjenige Transitphänomen zu würdigen, welches sich quer durch die europäischen, nordamerikanischen und inzwischen auch südamerikanischen und asiatischen Kulturen und Sprachen fortsetzt: in den Niederlanden etwa als snelweg, in England als motorway, in den Vereinigten Staaten als highway, in Frankreich als autoroute, in Italien als autostrada, in Russland als avtomagistral usw.: Phänomenologisch jedoch bleibt eine Autobahn als technisches Konstrukt auch über Länder und Grenzen hinweg als Autobahn mit ganz bestimmten, für ihr Erscheinungsbild reservierten Merkmalen wiederzuerkennen. Diese willkürlich gemachten Fotos von einer gegenwärtigen deutschen Autobahn – hier: bei Hermsdorf am Hermsdorfer Kreuz, Blick auf die A9 aus der gleichen Brückenperspektive, doch in jeweils entgegengesetzter (Nord-/Süd-)Richtung – zeigen, was eine Autobahn zu einer Autobahn macht und entscheidend von anderen Straßen absetzt: die meist mehrspurigen, in jeweils nur eine Richtung führenden, gegenläufigen Trassen, die Abgrenzung beider Richtungen voneinander durch Leitplanken, einen grünen Streifen oder analoge Bebauung, vor allem aber die Abgrenzung zum Raum jenseits der Autobahn durch Leitplanken und ähnlich robuste Befestigungswälle, die hier auch bodentechnisch durch eine Böschung sowie Zäune und Wände, die zusätzlich dem Lärmschutz dienen, verstärkt sind – last, but not least die endlose, bis in den Horizont reichende Ausdehnung des Asphalts, die sich wie ein grauer Strich durch die Landschaft zieht. Wenn es auch viele verschiedene Arten von Autobahnen, nach dem Prinzip der Autobahn konstruierte Schnellstraßen und Highways gibt, die auch in den einzelnen Ländern noch einmal in Bauweise und Attributen extrem unterschiedlich sein können, so ist doch wohl mit diesen allgemeinen Merkmalen etwas genannt, das eine Autobahn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über Individuen und Grenzen hinweg als Autobahn prototypisch wiedererkennbar macht. Die Schwierigkeit, Autobahn als raumrasterndes Konstrukt phänomenologisch zu erfassen, liegt wohl eher darin, dass ihre Wahrnehmung so viele unterschiedliche Bereiche der Lebenswelt berührt: Soziologisch ließe sich fragen, wie sie sich auf unsere Alltagspraxis auswirkt; architektonisch und gestaltpsychologisch lässt sich erörtern, wie mit ihr unsere Landschaft bzw. unsere Wahrnehmung von Landschaft

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sich verändern; ökonomisch kann man fragen, wie sich der dank der Autobahn beschleunigte Warenfluss auf die Geldströme auswirkt; und ökologisch, welche Belastung sie für die Biosphäre darstellt – parallel zur Entstehung der Autobahnen kamen in Deutschland übrigens die ersten Naturschutzgebiete auf; noch heute sind hierzulande für jeden Kilometer Autobahn, welcher der Landschaft hinzugefügt wird, Rekultivierungsmaßnahmen in autobahnnahen Biotopen jenseits der Autobahn vorgeschrieben. Und wer sich im Katalog der Nationalbibliothek unter dem Schlagwort „Autobahn“ kundig macht, wird erstaunt sein, wie viele archäologische Funde und Fundbeschreibungen sich dem Autobahntrassenbau verdanken – es gibt demnach nicht nur eine Technik und Architektur, eine Ökonomie und Ökologie, sondern (neben der Gastronomie, Soziologie und Philosophie…) auch eine Archäologie der Autobahn. Natürlich impliziert Letztere ebenso die Geschichtlichkeit des eigenen Verkehrsweges, die konzeptuell lange vor 1933 beginnt. Die historischen Transformationen seit 1945 und 1990 – Kalter Krieg, Grenzöffnung, Globalisierung – haben sich auf dem mehrspurigen Asphalt der Autobahn schließlich ebenso abgedrückt, wie dieser sich wiederum in die Vorstellungswelten von Literatur, Film, Musik und bildenden Künsten eingeschrieben hat, in ästhetische Repräsentationsweisen von Wirklichkeit also, die wir auch als ‚metaphorisch‘ beschreiben können: Wirklichkeit generiert und vervielfältigt sich nicht einfach in den Medien von Schrift, Bild und Musik, sondern wird übertragen bzw. übersetzt in eine bestimmte Art der Darstellung und Interpretation, die ihrerseits jedoch wiederum auf die Wirklichkeit zurückprallt und diese überformt – Metaphorik ist ein wechselseitiger Prozess, der direkt mit unserer Wahrnehmung und Anschauung von Wirklichkeit korrespondiert, diese Wahrnehmung (aisthesis) jedoch selbst wiederum in die Wirklichkeit überträgt, sodass sie ein integraler, nicht wegzu‚denkender‘ Bestandteil von ihr und uns in ihr ist. Durch Metaphorik jeder Art veranschaulichen wir erst unsere Welt.6 In diesem Sinne sollen im Konzept einer „Metaphorik der Autobahn“ in diesem Sammelband ästhetische Repräsentationsweisen der Asphalttrasse in unserer Gegenwart gesichtet und vorgestellt werden. 6 Vgl. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und

3  Wolfgang Mattheuer, Hinter den sieben Bergen (1973)

Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. – Zur Einbettung der Metaphorik in die menschliche Lebenswelt Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1997.

Die endlose Ausdehnung von Asphalt

Ein solches Vorhaben ist von vornherein nur interdisziplinär zu bewerkstelligen – Literatur, Musik, Film und bildende Kunst sind gerade in Bezug auf das Thema Autobahn oft synästhetisch miteinander verflochten –, nicht ohne dass dabei auch die verkehrsplanerischen, architektonischen und politischen Dimensionen der Autobahn, sofern sie für deren metaphorische Repräsentationen eine Rolle spielen, mit angerissen werden. Denn vermeintlich rein technische Perspektiven schwingen auch in jeder künstlerischen Darstellung mit: In obiger Abbildung sehen wir das Gemälde „Hinter den sieben Bergen“, das der Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer 1973 anfertigte – trotz des hier nur zweispurigen Bandes ist in der endlos ausgedehnten Straße zweifellos eine Anspielung auf die die DDR durchziehenden Transitautobahnen A4 und A9 zu erkennen, die doch von der einheimischen Bevölkerung selbst nicht zum unbeschränkten Transit genutzt werden konnten, wie der Historiker Axel Doßmann eindringlich dargelegt hat.7 Wie der transitäre Ort (oder, mit Marc Augé: Nicht-Ort?)8 der Autobahn in seiner geradezu dialektischen Verschränkung von geforderter Mobilität des Fahrzeugs und Immobilität der Landschaft, durch die es sich bewegt, eine permanente Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen heraufbeschwört, lässt sich gut an folgendem Foto aus dem Jahr 1950 sehen – an der kyrillischen Schrift auf den Wegweisern unterhalb der deutschen Städtenamen ist aber ebenso gut die Geschichtlichkeit des vermeintlichen Niemandslandes erkennbar (hier: ein Ort am Hermsdorfer Kreuz in der deutschen Nachkriegszeit). In unsere Gegenwart hineinprojiziert würde ein solches Spazierengehen auf der Autobahn zu einem geradezu utopisch-revolutionären Nutzungsrecht der Autobahn aufrufen – nämlich mit dem Kinderwagen dort flanieren gehen zu dürfen, wo sonst die Fahrzeuge vorbeischießen.9 Was heute getrennt voneinander, doch verkehrstechnisch und virtuell durchaus ineinander verschränkt geschieht, findet hier noch in ein und demselben Raum statt. Von heute aus gesehen kann dieses Foto deshalb wie eine Projektion literarisch-künstlerischer Perspektiven auf die Autobahn wirken, bei denen es immer auch um den Möglichkeitssinn, um ein Als-ob als denk- und vorstellbare Alternative zum schlicht Gegenwärtigen geht – siehe etwa die Imaginationen des spanischen Autors Julio Cortázar zum Camping an der südfranzösischen Autobahn von Paris nach Marseille (im vorliegenden Sammelband im Beitrag von Héctor Canal vorgestellt). Aber das Foto sagt auch etwas darüber, dass und wie die Autobahn für viele ein alltäglicher Ort jenseits kulturpessimistischer Pers­ pektiven auf das „Fahren Fahren Fahren“ sein oder werden kann. Viele leben einfach 7 8 9

Axel Doßmann: Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR. Essen 2003. Marc Augé: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München 2010. Über eine ähnliche Verschmelzung von Autobahn und Familienspaziergang in den späten 60-er / frühen 70-er Jahren berichtet Lutz Seiler: Schwarze Abfahrt Gera Ost. In: ders.: Sonntags dachte ich an Gott. Aufsätze. Frankfurt a. M. 2004, S. 112-119, bes. S. 117-119.

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‚mit‘ der Autobahn (allerdings auf andere Weise, als in diesem Bild suggeriert), weil sie integraler Teil ihrer Landschaft und ihrer Lebenswelt ist. Die folgenden beiden Fotos entstanden im Sommer 2013 unter der sogenannten Teufelstalbrücke im Thüringer Holzland, wiederum am Hermsdorfer Kreuz: 1938 eine der größten Betonbogenbrücken der Welt, heute eine von vielen dicht befahrenen Autobahnbrücken irgendwo in Europa: Direkt neben und unter dieser Trasse ver4   Die A 4 am Hermsdorfer Kreuz um 1950 laufen jedoch eher stille Wanderwege, Pfade und Fahrradstraßen – die Gleichzeitigkeit und Gleichräumigkeit von Zentrum und Peripherie, die Notwendigkeit, das Bedingungsverhältnis von Nähe und Ferne, Mittelpunkt und Rändern, Stillstand, Verlangsamung, extremer Schnelligkeit und Beschleunigung im Lichte solcher Autobahnbrücken-Wahrnehmungen zu überdenken, drängt sich angesichts dieser Bilder geradezu auf. Um derartige topografische, ästhetische, soziale und verkehrstechnische Beziehungen in ihrer ganzen Verschränktheit und Komplexität anschaulich und exemplarisch zu vergegenwärtigen, ist auf die metaphorische Referenzialität der Literatur und der bildenden Künste zurückzukommen. Wie die Autobahn in deren Zeichensysteme ein- und in diesen aufgeht, das möchte dieser Sammelband in vielfältigen Zugängen anzuschneiden versuchen. So allgegenwärtig uns die Autobahn als lebensweltliche Erscheinung ist, so verschwindend gering ist paradoxerweise die kultur- und geisteswissenschaftliche Forschung zur ‚Einschreibung‘ des Autobahndispositivs in die metaphorischen Weltrepräsentationen, die sonst ihr Gegenstand sind. Nicht, dass die Autobahn als Gegenstand von Kunst und Literatur unbemerkt geblieben wäre. Analysen und Kritiken einschlägiger Werke von Autoren, Künstlern oder Regisseuren, die auf die Autobahn Bezug nehmen, können nicht umhin, die ästhetische Faszination dieses Verkehrswegs festzustellen; was dabei fehlt, ist eine konzise Bündelung und Zusammenführung der einzeln konstatierten Autobahnpoetiken im Lichte einer allgemeinen Metaphorik der Autobahn, an der diese ästhetischen Entwürfe auf ihre Weise partizipieren. Soweit ich sehe, ist vorliegender Sammelband mit seiner gezielten Schwerpunktsetzung auf einzelne, wenngleich für den Topos oft Paradigmen setzende Ästhetiken und Poetiken der Autobahn ein Novum in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung und kann daher jene geforderte allgemeine Metaphorik der Autobahn zunächst tatsächlich nur anhand einzelner Streckenabschnitte liefern – das Projekt, gerade in dieser Anfangsphase, muss ein Torso bleiben, den es in weiteren Anläufen und Stre­ ckenerschließungen zu komplettieren gilt. Wichtig ist zunächst, das Pflaster abzustecken,

Die endlose Ausdehnung von Asphalt

5–7  Teufelstalbrücke (2013)

innerhalb dessen die künftige Recherchearbeit sich vollziehen sollte – das heißt konkret, etwa erst einmal Autoren, Kunst- und Architekturkonzepte, Filme, Traditionen, Schulen, Einflüsse und zentrale Motivketten ein- und vorzuführen, die stellvertretend für viele andere an der Metaphorik der Autobahn mitwirken und diese spezifisch konturieren. Dies gehört zur Absicht des Bandes. Es kann jedoch keineswegs darum gehen, Autobahn als Wahrnehmungsdispositiv und ästhetischen Topos von anderen Straßen- und Wege-Erscheinungsformen zu isolieren, da diese entweder in direkter zeitlicher und räumlicher Korrespondenz auf die Autobahn zuführen, in ihr münden oder zu ihr in einem bestimmten Wechselverhältnis stehen. Nicht alle Straßen sind Autobahn, unsere Wahrnehmung von motorisiertem Verkehr und beschleunigter Mobilität ist aber entscheidend durch das Bild der Autobahn geprägt. Das hat sicher damit zu tun, dass sich phänotypisch gesehen auf der Autobahn verschiedene Wege treffen, kulminieren und einander potenzieren: Verkehrsimaginationen, die oft nicht ausschließlich die Autobahn zum Gegenstand haben, orientieren sich doch an den Projektionen von Schnelligkeit, Beschleunigung, Mobilität und motorisiertem Fluss, welche die Autobahn vorgibt. Diese geradlinige Mono-Tonie des Verkehrsflusses auf der Autobahn kommt übrigens im repetitiven, sich selbst ad inifinitum rezitierenden und sampelnden Pop-Gestus des bekanntesten, für die populäre Musikgeschichte geradezu epochalen Kraftwerk-Songs Autobahn sehr schön, ja fast schon überdeutlich zum Ausdruck.10 10 Der entsprechende Wikipedia-Eintrag zum Song und der 1974 veröffentlichten gleichnamigen

Platte hebt „die Monotonie als Klangbild der titelgebenden Fahrt auf der Autobahn“ hervor: „Verschiedene eingesetzte Soundeffekte verstärken diesen Eindruck: Unter anderem sind gemäß dem Doppler-Effekt auf- und abschwellende Töne zu hören, welche vorbeifahrenden Autos ähneln.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Autobahn_(Album) (Zugriff 11.01.2014).

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Aktuelle Verkehrsimaginationen können daher in der Autobahn gewissermaßen ihr Ideal entdecken. Abgesehen vom motorisierten Verkehr im Luft- und Wasserraum, der aufgrund seiner völlig verschiedenen Steuerungsprinzipien – die individuellen Zugangs- und Teilnahmevoraussetzungen sind dort aus einer Reihe von Gründen ungleich höher als auf dem Lande – und der unvergleichbaren Elemente, auf deren Grundlage sich der Verkehr dort vollzieht, sich nicht zum Vergleich eignet, gibt es nirgendwo sonst als auf der Autobahn eine derart hohe Regulierung, Beschränkung und Kanalisierung von Verkehr bei gleichzeitiger Individualität, Hochgeschwindigkeit und massenhafter Konzentration der Verkehrsteilnehmer. Die Inszenierung von gegenwärtiger Mobilität verwirklicht sich daher am eindrucksvollsten auf der bzw. im Zeichen der Autobahn. Gerade dort, wo beispielsweise aufgrund eines Staus oder von Unfällen eine Störung des im Zeichen der Autobahn intendierten unablässigen Verkehrs- und Mobilitätsflusses eintritt, zeigt sich die Wirksamkeit des Dispositivs: Stau und Unfall werden nirgendwo so wie auf der Autobahn als maximale Abweichungen von der erwarteten Normalität empfunden, und die Folgen und Risiken eines Staus, geschweige denn eines Unfalls sind nirgendwo so hoch und unkalkulierbar wie auf der Autobahn. Genau solche Störfälle werden aber immer wieder von Literatur und Künsten aufgegriffen und verarbeitet, nicht nur wegen der eindringlichen Bildlichkeit, die vom Stau oder vom Unfall ausstrahlt, sondern auch wegen des systemimmanenten Widerspruchs, in dem sie zum Ethos der Mobilität oder des Verkehrs stehen: systemimmanent, weil die Art der motorisierten Mobilität und ihrer Regulierung auf der Autobahn auch erst solche Störfälle wie Stau und Unfall indirekt mit heraufbeschwört und sie einzukalkulieren gezwungen ist, gerade wenn sie sie zu vermeiden sucht. Stau und Unfall sind die dunkle Kehrseite der Metaphorik der Autobahn; deren Imagination bleibt dialektisch mit dem Bild von Mobilität und Fluss verknüpft. Stau, Unfall und andere Abweichungen bleiben gerade für die Künste der Prüfstein, an dem Projektion und Versprechen der Autobahn, der Anspruch ihrer „Fiktion“ gemessen werden können.

2 Keine Fiktion kommt indessen aus dem Nichts; hinter jeder Projektion steckt die Vorgeschichte eines Projektes, welches nach Verwirklichung drängt. Folgerichtig beginnt dieser Band mit einem Beitrag, der unter der gleichnamigen Überschrift die Etappen Auf dem Weg zur Autobahn veranschaulicht. Steffen Richter widmet sich einem Konzept von Straße, wie es im kolonialen, sich globalisierenden 19. Jahrhundert aufkommen konnte und zwangsläufig nach einer Repräsentationsform des weltweiten Verkehrs verlangte, die dann in der Autobahn gefunden wurde – auf der Autobahn erst kommt, so Richters These, demnach die Idee der Straße ganz zu sich selbst.

Die endlose Ausdehnung von Asphalt

Frank Seehausen knüpft daran die Perspektive des Architekten: Autobahnen und Hochstraßen in der Nachkriegsmoderne stehen einerseits vor der Aufgabe, der panoramatischen Inszenierung ‚schöner‘ Landschaft, wie sie den Autobahnprojekten des Dritten Reiches vorschwebte, Sachlichkeit, Funktionalismus, Pragmatismus und die Utopie eines umfassenden menschlichen Wohn- und Lebensraums entgegenzusetzen, andererseits Konzepte von Urbanität und Mobilität sinnvoll miteinander zu verbinden – retrospektiv gesehen wohl ein (nie ganz umgesetzter) Vorgriff auf die Postmoderne. Michael Ploenus und Benedikt Einert widmen sich einem im Projekt der Autobahn nicht vorgesehenen, aus der zeithistorischen Konstellation des Kalten Krieges abgeleiteten ‚Störfall‘, der zwischen 1949 und 1989 das Bild deutsch-deutscher Mobilität entscheidend prägte: die innerdeutsche Grenze und der durch sie implizierte Stillstand des Verkehrs. Grenze und Autobahn – Stillstand und Transit im kollektiven Gedächtnis untersucht die Wechselbeziehungen motorisierter Mobilität und dem Zum-Halten-Kommen am Grenzübergang. Wie die Autoren zeigen, ist jedoch die Wahrnehmung dieser den Autobahnfluss blockierenden Grenze in Ost und West diametral verschieden gewesen und wird auch im gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis auf oft nur pauschale Weise reproduziert, während sich der tatsächliche Grenzverkehr hingegen auf sich über die Jahre ausdifferenzierenden und auch verschiebenden ideologischen, aber auch pragmatischen Bahnen abspielte. Ernst Jünger, der dank seiner langen Lebenszeit gern sprichwörtlich als ‚Jahrhundertautor‘ verstanden wird, hat schreibend über die Dauer seiner Existenz auch Entwicklung, Bau und allmähliche Gewöhnlichkeit der Autobahnen verfolgt, und zwar von seinem totalitären Moderne-Entwurf Der Arbeiter (1932) an bis zu den späten Tagebüchern Siebzig verweht (1980 ff.) immer aus der Distanz des reflektierenden Beobachters am Rande der Fahrbahn oder höchstens vom Beifahrersitz aus, da er zwar eine Flugzeuglizenz, nie jedoch einen Führerschein erworben hatte – Jüngers dergestalt ‚stereoskopische‘ Perspektive des unbeteiligt Beteiligten am Autobahngeschehen wird von Christophe Fricker in Machina Machinarum. Ernst Jüngers Autobahnen eingehend beleuchtet und als unverwechselbarer ästhetisch-literarischer Standpunkt im Technik-Raum der Moderne herausgestellt. Warum die Autobahn in der deutschen Literatur nach 1945 lange Zeit eine marginale Rolle spielte, obwohl sie doch den Raum wie kein anderes Bauwerk neu zu kartieren und rastern half, erörtert Jan Brandt in Zwei Geschwindigkeiten. Über das Verhältnis von Autobahn und Literatur seit 1945. So wirkt eben der (die tatsächliche Autobahngeschichte absolut verkürzende) Autobahnmythos Hitlers hemmend auf die umstandslose literarische Darstellung und Inszenierung der Autobahn – Ausnahmen, die genau des NS-Mythos wegen die Autobahn ideologiekritisch vergegenwärtigen, inbegriffen. Erst im neuen Jahrtausend scheint sich die Haltung gegenüber dem Mobilitätskonstrukt grundlegend zu wandeln und, wie Brandt an drei einschlägigen Romanen der letzten Jahre diskutiert, einem neuen, zwischen Utopie und Dystopie

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changierenden Bild von Autobahn Platz zu machen – einer Autobahn, die in jeder Hinsicht die Grenzen zum Fallen bringt. Die Autobahn ist indes von Beginn an ein grenzüberschreitendes Projekt gewesen – sowohl in der Idee einer Grenzen überwindenden Mobilität als auch in der Manifestation verschiedener nationaler Autobahnprojekte, die bis heute so etwas wie national durchaus verschiedene Autobahn‚kulturen‘ hervorgebracht haben. Mario Marino verdeutlicht das in Existenzversuche und Moderne. Strada und autostrada im italienischen Kino am Beispiel der italienischen „autostrade“ und ihrer filmischen Widerspiegelung: Errichtet im Zeichen von Mussolinis faschistischem Großprojekt, bleibt die Autobahn in ihren ersten Jahrzehnten doch für viele Italiener ein Fremdkörper und Exotikum innerhalb einer häufig noch ländlich geprägten Lebenswelt – gerade im südlicheren Italien, das nach dem Zweiten Weltkrieg umgekehrt gerade über das Medium der Autobahn Anschluss an die Industrie- und Finanzmärkte des Nordens suchte. In die Vereinigten Staaten und deren filmisch und literarisch überbordende, doch in gewisser Hinsicht ikonografisch verfestigte Autobahnmythologie führt Rüdiger Heinze mit Off the Road: Abseitige Wege in der US-amerikanischen Kultur, einem Aufsatz, der nicht nur die grundsätzliche Relevanz des Highways für das US-amerikanische Selbst- und Raumverständnis herausarbeitet, sondern die US-Variante der Autobahn auch als hochambivalente kulturelle Metapher schildert, die in der Dialektik von Auf-dem-Wege-Bleiben und Vom-Wege-Abkommen zugleich die Fragilität des amerikanischen Traums als unbegrenztes Freiheitsversprechen verkörpert – da diese Freiheit ‚abseits‘ des Hauptweges dauernd in Gefahr, sich zu verlaufen und in einen Albtraum umzuschlagen ist. An derartige Kippmomente auf dem Highway innerhalb des amerikanischen Kinos knüpft auch Jan Urbichs Beitrag Kreis aus Kreisen an, der sich in einer Art kinematografischen close readings mit Erscheinungsformen und Funktionen der Straße in drei ausgewählten Filmen beschäftigt, die jeweils exemplarisch für genretypische Highway-Repräsentationen gelten können: Einmal als Suggestion der Freiheit im Musikvideo, als ambivalente, in ein Dunkel von Unsicherheit und inneren wie äußeren Abgründen führende Spur in den Thrillern David Lynchs und schließlich als ‚Straße des Todes‘ im Splattermovie, wo die glatte Infrastruktur der Autobahn zum Austragungsort anti-mythischer Destruktions- und Zerstörungsfantasien wird. Ist es ein romantischer Blick auf den amerikanischen Highway, wenn ein deutscher Regisseur diesen zum Sujet eines seiner Filme macht? Wim Wenders hat wie kein zweiter deutscher Regisseur immer wieder die Straße und Straßen in seinen Filmen vergegenwärtigt, und in seinem amerikanischen Familienepos Paris, Texas wird der Highway nicht nur zur Spur, auf der ein Vater mit seinem Sohn nach der verschollenen Mutter sucht, zu einem getrennte Leben wieder verbindenden Element, sondern zum ebenso trennenden Konstrukt, das in seiner transitären

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Eigenschaft das zur Vereinigung Strebende nur mehr in flüchtigen Kontakt miteinander bringt, um es sich auf Nimmerwiedersehen in der Weite der Asphaltspur wieder entfernen zu lassen. Jan Röhnert stellt diesen strukturellen Zusammenhang in Melancholie des Highways als symptomatisch für einen American Way of Life heraus, an dessen Streckenabschnitten entlang Wenders seine ungewöhnliche Geschichte erzählt. Als Kippfigur enthält die von der transitären Spur des Highways hinterlassene Melancholie aber unausgesprochen auch ihren Gegenpart, die zart und vage angedeutete Utopie. Die Mythologie des britischen Motorways mag nicht einen derart ausgeprägten identitätsstiftenden Charakter haben wie der Highway für die Vereinigten Staaten; dafür verdichtet sich in dem relativ jungen, engmaschigen Autobahnnetz rund um die britische Hauptstadt London herum wie an kaum einem anderen Ort Europas die Mythologie postmoderner, megalopoler Urbanität und Mobilität, die in J. G. Ballards Meisterwerk Crash schnell ihre kongeniale ästhetische Widerspiegelung erfahren hat. Andreas Kramer bietet in Crash! Zur Mythologie der Autobahn bei J. G. Ballard am Leitmotiv des das faktische London wie die Romanfiktion umschließenden Autobahnrings samt seiner Auffahrten und Abfahrten, seiner Un-Orte und Abwege eine dichte Lektüre dieses Klassikers, der den Rang der Autobahn im Ensemble der postmodernen, technische und virtuelle Artefakte, Surrogate und Amputate recycelnden postmodernen Imagination unterstreicht. Als postmodernes Experiment könnte man mit Héctor Canal auch Julio Cortázars Märchen von der Autobahn verstehen, dessen nach Art eines genau durchkalkulierten, parametrisch aufgeschlüsselten ethnologischen Feldversuchs angefertigter Reisebericht von einer Etappenfahrt auf der französischen Autoroute du Sud von Paris nach Marseille in mehrfacher Hinsicht bewusstseinserweiternd wirkt: einmal in seiner originellen, wissenschaftliche Praxis (die ethnologische Feldstudie) auf die literarische Recherche und Schrift übertragenden Form, einmal in seinem völlig verfremdeten, von außen kommenden Blick auf das Phänomen massenhafter Mobilität und ihrer Regulierung mittels der Autobahn und schließlich in seiner präzisen Phänomenologie eines spezifisch französischen Typus der Autobahn mit seiner eigentümlichen kulturellen Ausprägung und Konnotation. Den spezifisch niederländischen Typus der Autobahn hat wiederum der Fotograf Theo Baart – einer der renommiertesten Fotokünstler bei unseren westlichen Nachbarn – mit seinem Fotoprojekt Snelweg in the Netherlands einzufangen versucht, das er für diesen Sammelband in einer Auswahl von Abbildungen und mit einer einleitenden Notiz versehen vorstellt: Die Niederlande haben das bei Weitem dichteste Autobahnnetz Europas (über 30 Prozent aller Verkehrswege gelten dort als ‚Autobahnen‘), das im Ensemble des vergleichsweise engen und dicht besiedelten niederländischen Raums eine völlig eigene, hybride Transitlandschaft hervorbringt – in der die Menschen zwar höchst fragmentiert und so seltsam irritiert wie verletzlich

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wirken mögen, dennoch aber bisweilen in ihr zu einer neuen Art von Anwesenheit und manchmal auch zu einer eigentümlichen Würde gelangen mögen. Dies ist zumindest die Hoffnung des in Frankreich lebenden niederländischen Dichters Willem van Toorn, der in seinem Essay Welche Autobahn? die Autobahn als von allen, die sie kreuzen, befahren, an und mit ihr wohnen, gleichermaßen mit geprägte und besiedelte Lebenswelt zu deuten sucht. Toorn, einer der großen Essayisten und Lyriker der niederländischen Gegenwartsliteratur, den die Landschaften und Lebenswelten des technisierten, postmodernen Europas ebenso wie die agrarischen und fluvialen Erinnerungslandschaften seiner Kindheit als diametral verschiedene Phänotypen kultivierter Natur interessieren, geht es um einen Alltag, der jenseits des von Marc Augé beschworenen Nicht-Orts in der Autobahn innerhalb des je eigenen Lebensentwurfs einen individuellen Ort zu sehen vermag, der weder emphatisch noch kulturpessimistisch gedeutet werden muss, sondern als landschaftstypologischer Fait accompli zum Leben gehört – ohne dass deshalb gleich das Leben, wie in einem Faust’schen Pakt, sich an die Autobahn verriete. Die Frage ist vielmehr, wie mit der Autobahn umzugehen ist, wie sie integriert oder womöglich sogar ‚aufgehoben‘ werden kann in einer Kunst und Literatur, die sich der Landschaft als Raum, Topos und Thema verschrieben hat. Wie schiebt sich die Autobahn etwa vor den das Erhabene oder das „Schöne“ (im Sinne von Hogarths klassischer „line of beauty“) suchenden ästhetischen Blick? Immerhin gelingt es einem Autor wie Peter Handke, im Versuch über den geglückten Tag Hogarths „line of beauty“ mit der von Paris in die westlichen Vororte führenden RER-Hochbahn zu verknüpfen11 – sollte es analog auch ähnlich befreiende Perspektiven für die Autobahn geben? Solche Um- und Gegenbesetzungen des Asphalts können etwa in der traffikalen Inszenierung in der Landschaftsdarstellung nach 1945 stattfinden, wie Carsten Rohde in seinem zwischen Autobahn-Repräsentationen in der bildenden Kunst, besonders der Fotografie, und ästhetisch in deren Bezugsrahmen angesiedelten literarischen Texten (von Rolf Dieter Brinkmann, Jörg Fauser und anderen) demonstriert. Auch der Lyriker Jürgen Becker ist ein von der Fotografie affizierter Autor – sein 1974 erschienener Band mit dem Titel Das Ende der Landschaftsmalerei, welcher wie aus dem fahrenden Auto heraus geschossen eine Landschaftsaufnahme zeigt, ist diesbezüglich Programm –, für den die Autobahn von Anbeginn im Radius der poetischen Wahrnehmung steht, sogar zugleich auf mehreren Ebenen: Biografisch-historisch in der Erinnerung des Alter Ego des 1932 geborenen Autors; lebensweltlich als mit dem Auto (für den Autor selbst zwischen Köln und dem Bergischen Land) befahrene Landschaftsstrecke; metapoetisch als Bahn, an der die diversen Wahrnehmungen seiner Gedichte vorbeifließen, sich einander ablösen und dennoch im Bewusstsein des fahrenden Subjekts aneinandergereiht bleiben. Jörg Paulus schildert 11 Vgl. Peter Handke: Die drei Versuche. Frankfurt a. M. 2001, S. 138–195.

Die endlose Ausdehnung von Asphalt

in einem close reading eines jüngeren Gedichtes von Jürgen Becker, wie sich die verschiedenen Dimensionen von Autobahn überlagern und wie zugleich die Autobahn selbst an der Struktur des Gedichtes ihren Anteil hat. Durch das Saarland fließt die Bundesautobahn A1, von der aus eine Landschafts­ skulptur, eine 32 Meter hohe Stahlinstallation des Künstlers Heinrich Popp, zu sehen ist, welcher er den Titel Wortsegel verlieh. Für ihn ist, wie er erläutert, dieses über der Mobilitätsspur thronende Artefakt, das aus dem gleichen Material wie die unten vorbeischießenden Autos gemacht ist, ein fester Punkt, der die bäuerlich-handwerkliche Landschaft seiner Heimat am saarländischen Schaumberg mit der weiten Welt verbindet – als Ort, an dem sich die Poesie versammeln und ihr ein Denkmal gesetzt sein soll. Der dem Wortsegel am nächsten lebende Dichter, von dessen Lyrik seine Inszenierung auch maßgeblich inspiriert wurde, ist Popps Landsmann und Freund Johannes Kühn, der, im ländlichen Hasborn am Schaumberg aufgewachsen, die Autobahn zeitlebens, analog zum Titel einer seiner Sammlungen, Ich Winkelgast, aus einer ab-seitigen, wenngleich hellwachen und geistesgegenwärtigen Perspektive wahrgenommen hat: der des Fußgängers, Spaziergängers, des dichtenden Feld- und Flurflaneurs, für den die Asphalttrasse ein Hindernis darstellt, das Wut und Schmerz angesichts technischer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Landschaft seiner Kindheit provoziert – andererseits kennt er auch die Perspektive des Straßenbauarbeiters, imaginiert die des Fernfahrers und anderer Charaktere, die in der Autobahn nichts als ein Mittel sehen, um ans Ziel ihrer Sehnsüchte zu gelangen. Das versöhnt den Dichter in gewisser Weise wieder mit dem Monstrum aus Teer und Beton, über das tagaus, tagein unzählige Millionen Tonnen Stahl bugsiert werden. Und in der Tat: Eine Landschaft, die die Schneisen ihrer Infrastruktur irreversibel in die Natur hineingefräst hat, ist ästhetisch nicht ohne Weiteres hinzunehmen. Umso wichtiger ist es, in diesen Aufsätzen und Beiträgen auf verschiedene Blickwinkel in Literatur, Medien und Künsten zu verweisen, die fern jeder banalen Affirmation entlang der Autobahn innovative und widerständige Ästhetiken entwickeln, in deren Licht ein vermeintlicher Nicht-Ort wie die in der Autobahn ‚zu sich selbst gekommene Idee der Straße‘ (Steffen Richter) plötzlich ganz anders aussehen kann. Die einzelnen Beiträge demonstrieren: Ästhetiken der Gegenwart, die in verschiedenen Genres mit den verschiedensten Medien operieren, beziehen die Autobahn in ihre Wahrnehmung mit ein, verfremden sie, verleihen ihr neue, über die gewöhnliche Vorstellung vom Verkehrsfluss hinausreichende, zwischen Utopie, Dystopie, Melancholie und Poesie changierende Vorstellungen und machen sie auf diese Weise zu einem Ort, den es recht eigentlich erst zu entdecken gibt. In diesem Sinne möchte der vorliegende Band zu einer Begehung der Autobahn einladen, wie sie bislang kaum stattgefunden hat. Die Verkehrsimaginationen, die hier versammelt sind, geben einen Einblick in die Vielfalt der Metaphorik alltäglicher Mobilität, in die ästhetische Anschauung einer Straße, auf der sich unsere Lebenswirklichkeit entrollt.

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Für die zügige und zugleich technisch gelungene Zusammenführung der Beiträge auf der Datenautobahn und die Erstellung des Manuskripts danke ich Thea Gerdes und Monika Kummer aufs Herzlichste; das fachmännische Lektorat, Aufnahme ins Verlagsprogramm und die Umsetzung der Autobahn ins ansprechende Buchformat konnten nur dank Harald Liehr, Julia Beenken und Franziska Creutzburg vom Böhlau Verlag zustande kommen. Ohne die großzügige Unterstützung und stets begeisterte Anteilnahme von Dr. Thomas Girst und dem Kulturengagement der BMW GROUP hätte dieser Band nicht Realität werden können. Braunschweig, im Mai 2014

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Auf dem Weg zur Autobahn · Die Straße als infrastrukturelles Integrationsmedium der Moderne

1 Deutsche Angst vor Straßen Am Beginn seiner medienkritischen Analyse in Die Antiquiertheit des Menschen (1956) erzählt Günther Anders folgende Geschichte: „Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. ‚Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen‘, waren seine Worte. ‚Nun darfst du es nicht mehr‘, war deren Sinn. ‚Nun kannst du es nicht mehr‘, deren Wirkung.“1 Bemerkenswert – und symptomatisch – erscheint mir die Deutung des Vorgangs: Die natürliche Fortbewegung zu Fuß wird durch ein Artefakt aus Wagen und Pferd ersetzt, was Fortbewegungsradius und -geschwindigkeit zweifellos erweitert und eine Entlastung darstellt („du brauchst nicht“). Doch das technische Mittel, das die Lebenspraxis erleichtert, wird sofort denunziert, da es diese Praxis zu beschneiden scheint („du darfst nicht“) und letztlich angeblich zur Verkümmerung kultureller Fähigkeiten führt („du kannst nicht“). Anders’ Deutung dieser Geschichte, die sich mit Räumen und Vehikeln der Fortbewegung – also Techniken des Verkehrs – beschäftigt, scheint Ausdruck einer spezifischen German Angst zu sein. Und zwar insofern, als sie sich in eine Tradition deutscher Technikkritik und -feindschaft einschreibt. Sie ist verschwistert mit der Abwehr von Modernität, mit dem Bekenntnis zu einem Begriff von ‚Kultur‘, der gegen den der ‚Zivilisation‘ in Stellung gebracht wird. Sie gehört zum Kokettieren mit der Nicht- oder nur Halbzugehörigkeit zur westlichen Welt- und Wertegemeinschaft. Diese für die deutsche Hochkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert konstitutive Skepsis gegenüber scheinbar ungeistiger und untranszendentaler Materialität wie der des Verkehrs lässt sich zum einen aus ihrer idealistischen Denktradition erklären.2 Zum anderen wird diese 1 2

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. München 2010, S. 97. Für Naturwissenschaft oder gar an praktischem Nutzen orientierte Technik gab es lange Zeit – von Herder über Hegel bis Wilhelm von Humboldt – kaum einen Platz im deutschen Bildungsbegriff. Klassisch-idealistische Bildung ist aktive Selbstbildung dessen, was bereits im Subjekt angelegt ist: „Denn alle Bildung“, dekretiert Wilhelm von Humboldt 1789 in „Über Religion“, „hat ihren Ursprung allein in dem Inneren der Seele, und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden.“ Zit. nach Reinhart Koselleck: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M. 2010, S. 105–154, hier S. 114.

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Abwehr vor dem Hintergrund verständlich, dass Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rasend schnelle Industrialisierung erlebt. Sie katapultiert das Kaiserreich binnen weniger Jahrzehnte in Sachen Demografie, Industrieproduktion und Urbanisierung an die Spitze der europäischen Entwicklung.3 Flucht aus Deutschland und koloniale Siedlungspraktiken in der weiten, vermeintlich leeren, vorindustrialisierten Natur Amerikas oder Afrikas lassen sich ebenso als Reaktionen auf diesen Schock lesen wie die einheimische, naturversessene Lebensreformbewegung. Die Straße, das scheint aus dieser Perspektive nur folgerichtig, hat als künstliche, die Natur technisch transformierende Verkehrstrasse im zeitgenössischen deutschen Diskurs anfangs einen schweren Stand. Sie findet allerdings durchaus auch Befürworter. Zwei Positionen, die mir für das Spektrum zwischen harscher Ablehnung und euphorischer Begeisterung repräsentativ erscheinen, möchte ich hier kurz anreißen. Dabei handelt es sich um den konservativen Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) und den Begründer der deutschen Technikphilosophie Ernst Kapp (1808–1896).

2 Zwischen Technikkritik und -euphorie Alles, was nicht organisch gewachsen ist, so lautet die Quintessenz aus Riehls Hauptwerk „Naturkunde des deutschen Volkes“ von 1851–1855, ist modernes Teufelszeug. Dazu gehören neben den großen Städten, der bürokratischen Verwaltung des Zentralstaats und dem Geld selbstverständlich auch die Verkehrsmittel. „Zuerst kam die ozeanische Schiffahrt“, stöhnt Riehl in einem programmatisch mit „Wege und Stege“ überschriebenen Kapitel, „dann kamen die Kunststraßen, dann Dampfschiffe und Eisenbahnen.“ Während er das Lob des „natürlichen Fußpfads“ und der winkligen Gasse singt, verfällt die mit Kalkül angelegte „Kunststraße“ der Verdammnis: und zwar, weil sie sich nicht um Naturvorgaben schert, kleine Städte umgeht und die großen zu immer mächtigeren urbanen Zentren anwachsen lässt – Zentren mit Industrie, mit Transport-und Kommunikationsmedien.4 Die Rationalität, die in einer geraden Linie gleichsam zu sich selbst kommt, ist Riehl ein Graus: „Das einfache Muster einer schönen Straßenlinie ist der natürliche Fußpfad, den des Wanderers Fuß unwillkürlich immer in anmutig geschwungenen Wellenlinien zeichnet, niemals schnurgerade.“5 Riehls Abscheu vor Straßen rührt aber auch daher, dass er in ihnen 3 4 5

Vgl. Hans Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Göttingen 1994, S. 19–40 (zuerst 1973). Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Prof. Dr. Hans Naumann und Dr. Rolf Haller. Leipzig o. J., S. 47 ff. Ebd., S. 378. Moderne (Straßen-)Architektur hingegen wird befinden: „Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg des Menschen.“ – Le Corbusier: Städtebau. Stuttgart 1979, S. 10.

Auf dem Weg zur Autobahn

Indikatoren moderner staatlicher Regulierungswut zu erkennen glaubt: Das Schild „Dieser Weg ist erlaubt“ liest Riehl – nicht zu Unrecht – als paradoxes Zeugnis des „modernen Polizeigeistes“6. Wir halten fest: Straßen sind für Riehl Gewalt an der Natur, sie befördern Urbanisierung und Industrialisierung und dienen als Instrumente des zentralstaatlichen Eingriffs in den Bewegungsspielraum des Einzelnen, also als Mittel der Sozialdisziplinierung. Diese distanzierte Haltung zu Phänomenen der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung teilt Riehl mit weitaus größeren Geistern. Max Weber spricht von der Rationalität des Kapitalismus als „stahlhartem Gehäuse“, Georg Simmel beobachtet ein „Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur“ gewonnen hat.7 Die kulturelle Technikskepsis à la Riehl hat allerdings die stürmische Tech­ nikentwicklung nicht verhindert, sondern ihr oft nur die Akzeptanz versagt. Eine Ausnahme bildet Riehls Zeitgenosse Ernst Kapp, der – offenbar nicht folgenlos – nach der gescheiterten Revolution von 1848 nach Amerika emigriert war und dort als Farmer mit einer sehr konkreten Arbeit am Raum vertraut war. In deutlicher Entgegensetzung zu Riehl, der mit seiner „Naturgeschichte des deutschen Volkes“ den Menschen der Natur eingliedern will, begreift Kapp seine „Vergleichende Allgemeine Erdkunde“ von 1845/1868 als „Culturgeographie“, macht also die Natur zur Domäne des tätigen Menschen. Die Umgestaltung dieser Natur zur Schaffung von Verkehrswegen begleitet er begeistert als „Correcturen an dem Erdboden“. Dabei gelten ihm „Straßen und die damit verbundenen Bauwerke, Brücken, Tunnels, Viaducte“ als „Grund- und Bodenbedingungen der beschleunigten Communication“. Straßen, deren Potenzial zur Vernetzung er früh erkennt, werden dem enthusiastischen Kapp sogar zur „Propaganda des Geistes und der Menschenverbrüderung“.8 Straßen auf dem Land sind – neben den bis ins 19. Jahrhundert hinein noch bedeutsameren Wasserstraßen und den von Kapp bereits imaginierten Luftstraßen – zum einen Mittel der nationalen Integration, zum anderen aber Agenten einer im Modus der Völkerverständigung gedachten Globalisierung. Kapps Position allerdings ist klar minoritär. Eine ähnliche Aufgeschlossenheit der Straße gegenüber findet man bestenfalls beim deutschen Eisenbahnpionier Friedrich List, der aus Kostengründen

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Riehl, Die Naturgeschichte des deutschen Volkes, S. 54. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München 2010, S. 201. – Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a. M. 1989, S. 621. Ernst Kapp: Vergleichende Allgemeine Erdkunde in wissenschaftlicher Darstellung. Zweite verbesserte Auflage. Braunschweig 1868, S. 647 und 654.

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den Schiffs- und Eisenbahnverkehr jedoch vorzieht.9 Und natürlich findet die Straße Anhänger bei Dichteringenieuren wie Max Eyth, Heinrich Seidel oder Max Maria von Weber, oder gar bei Ingenieuren, die in Personalunion Autoren von Zukunftsromanen sind, wie Kurd Laßwitz10 oder später Hans Dominik. Jedenfalls dürfte deutlich geworden sein, dass die Reaktionen auf die Straße – sei es in Gestalt von Aversion oder Euphorie – weit mehr meinen als nur die Straße selbst. In der ambivalenten Aufnahme der Verkehrstechnologie spiegelt sich eine ambivalente Haltung zur Moderne schlechthin. Diese Disposition wird sich ins 20. Jahrhundert fortschreiben, wo sich deutsche Auto- und Autobahnversessenheit auf der einen und ökologisches Sendungsbewusstsein auf der anderen Seite gegenüberstehen. Eine Vermutung wäre, dass der Stolz auf technikbasierte Wirtschaftsleistungen die politische Zurückstufung kompensieren muss, die das geteilte Deutschland spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg erleidet. Das „Wir sind wieder wer“, mit dem sich das gekränkte nationale Ich nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft schon 1954 zurückmeldet, wird flankiert von Tausenden VW-Käfern, die über deutsche Autobahnen ins Urlaubsland an der Adria rollen.

3 Die Straße als moderne Infrastruktur Bevor der Mailänder Ingenieur Piero Puricelli 1923 die erste Autostrada projektiert, haben wir es mit verschiedenen Formen der inner- und außerstädtischen Straße zu tun: von der Gasse über die Zeile und den Steig bis zum Boulevard und der Avenue oder von der Landstraße und der Heerstraße bis zur Chaussee und der Allee. Doch bereits am Ausgangspunkt ihrer europäischen Geschichte – nämlich auf der lateinischen Via strata im Römischen Reich – lässt sich beobachten, warum Straßen im 19. Jahrhundert derart polarisieren werden. Der gepflasterte Weg, die Via strata, führt geradewegs zum Ziel, er weicht natürlichen Hindernissen nicht aus, sondern bezwingt sie mit Kunstbauten: Brücken, Dämmen, Böschungen. Die großen Konsularstraßen verbinden die Kapitale mit den eroberten Provinzen, sie sind Symbole machtbewusster imperialer Raumbewältigung. Vgl. Friedrich List: Das deutsche National-Transport-System in volks- und staatswirthschaftlicher Beziehung beleuchtet von Fr. List, Consul der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu Leipzig. Altona und Leipzig 1838, S. 24 f. (Repr. Berlin/DDR 1988). 10 Laßwitz träumt 1897 im ersten deutschen Zukunftsroman, der spektakulären Technik- und Sozialutopie „Auf zwei Planeten“, von einem ausgeklügelten Transportsystem auf dem Mars. Es besteht aus Gleit- und Radbahnen, die Güter und Personen schnell über weite Strecken befördern. Der Clou sind sogenannte Stufenbahnen, bei denen nicht der Reisende, sondern die Straße selbst sich bewegt. Sämtliche Verkehrswege verweben sich zu einem „dichten Netz“. Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Ungekürzte Neuausgabe des erstmals 1897 erschienenen Romans. Hg. von Dieter von Reeken. Dieter von Reeken. Lüneburg 2009, S. 165 ff. 9

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Sie dienen dem Transport von Personen, Gütern und Nachrichten. Kurz: Sie bilden das Rückgrat des Reichs, seine technisch-materielle Basis, an der eine Vielzahl kultureller Bilder andocken kann.11 Damit ist die Straße eine klassische Infrastruktur, wie sie der Historiker Dirk van Laak beschreibt: „Als vermittelnde Sachsysteme“, so van Laak, „haben sich Verkehrs- und Kommunikationseinrichtungen sowie Anlagen der Ver- und Entsorgung ungemein nachhaltig zwischen den Menschen und die Natur geschoben. Damit nehmen sie eine spezifische Mittlerstellung zwischen militärischen und zivilen Bereichen der Gesellschaft ein, zwischen Zentralen und Peripherien, Städten und Umlanden, Staat, Wirtschaft und Verbrauchern, arm und reich. Sie erschließen, verbinden, vernetzen und integrieren, sie entlasten und erweitern den Horizont, sie erhöhen unsere Abhängigkeit von großtechnischen Systemen und steigern zugleich unsere Begehrlichkeit.“12 Infrastrukturen führen zum einen zu einer technischen Mobilisierung der Gesellschaft. Sie integrieren diese Gesellschaft räumlich und zeitlich, sie gewährleisten durch Vernetzung die Erreichbarkeit entlegenster Orte sowie schnelle Formen der Kommunikation. Sie bilden ein habitualisiertes Versorgungs- und Vorsorgesystem, das als Bestandteil von Alltagsroutinen zur ‚Unsichtbarkeit‘ tendiert.13 Doch zum anderen ist die mit Infrastrukturen verbundene Entlastung mit Risiken behaftet, wie Unfall, Inkaufnahme von Kontrollierbarkeit oder Umweltbelastungen. Diese Ambivalenz von technisch gestütztem Freiheitsgewinn des Individuums und seiner Disziplinierung, von einer Standardisierung im Inte­ resse rational geplanter, effizienter Abläufe, doch zugleich nivellierender Normierung führt Infrastrukturen ins Herz des Programms der Moderne. Infrastrukturen sind Technologien, auf denen der Modernisierungsprozess basiert.14 Auch wenn das Netz der Inkastraßen in Ecuador, Peru und Chile mit einer Länge von 30.000 Kilometern bereits enorme Dimensionen besaß,15 auch wenn mittelalterliche europäische Fernstraßen bis zu 500 Meter breit sein konnten, weil Witterungsbedingungen die 11 Vgl. Arnold Esch: Zwischen Antike und Mittelalter. Der Verfall des römischen Straßensystems

in Mittelitalien und die Via Amerina. Mit Hinweisen zur Begehung im Gelände. München 2011.

12 Dirk van Laak: Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integrationsmedien des Raumes

und der Zeit. In: Doering-Manteuffel, Anselm (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner: Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, S. 167. 13 Straßen werden vor allem dann sichtbar, wenn Krisen diese Alltagsroutine stören – also etwa im Fall eines Unfalls oder Staus. 14 Paul N. Edwards befindet: „infrastructures simultaneously shape and are shaped by – in other words, co-construct – the condition of modernity“. Paul N. Edwards: Infrastructure and Modernity. Force, Time, and Social Organization in the History of Sociotechnical Systems, in: Thomas J. Misa, Philip Brey, Andrew Feenberg (Hg..): Modernity and Technology. Cambridge 2003, S. 186. 15 Alexander von Humboldt steht bei seiner großen Amerikareise staunend vor den Resten der Inka-Kunststraßen, die schon die spanischen Conquistadores bewunderten – und zerstörten. Vgl. Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur. Stuttgart 2008, S. 120–124.

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Spuren immer wieder verwischten und zu Parallelwegen zwangen16 – trotz alledem: Jene Straße, aus der die Autobahn sich entwickelt, wird erst erahnbar gegen Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, wenn das Verkehrssystem sich spezialisiert und ausdifferenziert: dann, wenn die industrielle Revolution auf ihr marschiert und verschiedene Verkehrsmittel eigene Räume erfordern, die von denen der anderen Verkehrsmittel abgekoppelt werden, auch um das Unfallrisiko zu minimieren;17 dann, wenn regionale Überlandstraßen, überregionale Fernstraßen und Bundesstraßen sowie die Autobahn als Schnellstraße ihre eigene differenzierte Hierarchie ausbilden. Der Verkehr auf Straßen führt also in die Moderne. Straßen sind in ihrer Geradlinigkeit und in ihrer pragmatischen Gerichtetheit geradezu Ausgeburten moderner Rationalität, im Unterschied zu Plätzen führen sie irgendwohin. Die „Road to Nowhere“ gehört zur Ordnung der antirationalistischen Utopie – ebenso wie das schöne Bekenntnis „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“, das wahlweise Kurt Tucholsky oder dem vietnamesischen Sprichwortschatz zugeschrieben wird. Zu ihrem pragmatischen Charakter und ihrer Zentralstellung im Prozess der Urbanisierung gehört die Polyfunktionalität von Straßen. Als moderne Infrastruktur ist die Straße von zahlreichen parasitären Infrastrukturen befallen: auf ihr verlaufen die ersten Eisenbahn- und später Straßenbahnschienen sowie Viadukte für Hochbahnen, über ihr Oberleitungen und Beleuchtungsanlagen, unter ihr Leitungen und Kanäle für Abwasser, Gas und Elektrizität.18 Die Straße führt aber nicht nur in die Moderne, sondern auch in ihre Ambivalenz: Sie integriert Räume – und schließt andere aus. Sie bildet ein filigranes, differenziertes Netz – und nivelliert, womit sie in Berührung kommt. Sie erschließt das fremde Draußen – und ist Einfallschneise, auf der das Fremde ins eigene Innere vordringen kann. Die Straße bedeutet Anschluss an Modernität – und kann von ihr abkoppeln. Nicht zuletzt: Wie alle Infrastrukturen scheinen Straßen zunächst kalt und unparteiisch – und sind doch zugleich ein eminentes Politikum. 16 Hartmut Winkler: Spuren, Bahnen. Wirkt der Traffic zurück auf die mediale Infrastruktur? In:

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld 2013, S. 53. 17 Mit ihrer steigenden Komplexität und Ausdifferenzierung wird die Straße als sozialer Raum zum „Lehrpfad für Verhaltensroutinen und Sicherheitserwartungen“ – Alexa Geisthövel u. a.: Erfahrungsräume der Moderne, in: dies. u. a. (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. / New York 2005, S. 359. Und sie liefert Anschauungsmaterial für kulturell unterschiedliche Regelungen des zwischenmenschlichen Verkehrs, deren Spektrum von Vorfahrt und Vollgas auf der einen Seite bis zu kommunikativem Aushandeln auf der anderen reicht. 18 Zur parasitären Logik von Infrastrukturen vgl. Gabriele Schabacher: Rohrposten. Zur medialen Organisation begrenzter Räume, in: Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft, S. 211.

Auf dem Weg zur Autobahn

4 Politik der Straße Gerade ihre vermeintliche Neutralität macht die Straße anfällig für Besitzergreifungen verschiedenster Art. Jeder kann auf ihr marschieren. Straßen wurden oft aus militärischen Gründen angelegt und vom Militär gebaut. Sie dienen zu Waffentransporten oder zu Demonstrationen gegen Waffentransporte. Doch nicht nur die konkrete Indienstnahme der Straße ist hochgradig politisch, sondern auch ihre Metaphorik: „Auf die Straße gehen“ ist Ausdruck von Bürgerprotest. Unter den Pflastersteinen der Zivilisation vermutete die letzte gesellschaftspolitisch revolutionäre Bewegung Westeuropas 1968 bekanntlich eine utopische Natur: „sous les pavés la plage.“ Doch ist die Straße nicht nur ein öffentlicher Protestraum. Für diejenigen, die „auf der Straße leben“, ist sie ein Raum sozialer, wenn nicht gar metaphysischer Unbehaustheit. Und mit der Durchsetzung des individuellen Pkw-Verkehrs seit den 1930er-Jahren wird sie zunehmend zum Raum privater Mobilität. Schon das 19. Jahrhundert allerdings ist hellsichtig genug, die Straße als Ausdruck politischer Macht und Voraussetzung weiteren Machterwerbs zu begreifen. Ein populäres Sachbuch des einflussreichen Geopolitikers und Journalisten Arthur Dix feiert 1901 den sagenhaften ökonomischen Aufstieg des Kaiserreichs an die Spitze Europas. Es trägt den Titel „Deutschland auf den Hochstraßen des Weltwirtschaftsverkehrs“.19 Und Friedrich Ratzel, der Vater der politischen Geografie in Deutschland, bekundet 1897: „Der Bau fester Straßen setzt die Mittel und den zähen Willen einer starken politischen Macht voraus. Die durch Straßen bezeichnete höhere Stufe des Verkehrs ist also nur möglich, wo die politische Entwicklung schon weiter fortgeschritten ist.“20 Wenig später, in den 1920er-Jahren, werden geopolitische Publikationen Straßendarstellungen mit dicken Richtungspfeilen versehen und damit imaginierte Verknüpfungen bejubeln oder territoriale Begehrlichkeiten anzeigen. Schließlich schwafelt der völkische Schriftsteller Ernst Hering 1935 in einem Buch über „Wege und Straßen der Welt. Von der Wildfährte zum Weltraumschiff“: Die Straße sei ein „organisches Ding mit eigener Seele“. Straßen seien „Runen, darin sich das Wesen eines Volkes enthüllt“. Und natürlich: „Herrschervölker aus arischem Blute übernahmen die Führung“ beim Straßenbau.21 Zum Generalinspektor des deutschen Straßenwesens Fritz Todt und Hitlers Reichsautobahn ist es nur noch ein kleiner Schritt. Bis heute wird mit Straßen in vielfältiger Weise Politik gemacht. Wie andere ­In­frastruktureinrichtungen sind sie Instrumente der Herrschaftsgewinnung, -ausübung und -sicherung. Besitzverhältnisse – ihre öffentliche oder private Bereitstellung – regulieren die Verfügungsgewalt über sie und können den Zugang zu ihnen 19 Arthur Dix: Deutschland auf den Hochstraßen des Weltwirtschaftsverkehrs. Jena 1901. 20 Friedrich Ratzel: Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehres und

des Krieges. Zweite umgearbeitete Auflage. München / Berlin 1903, S. 516.

21 Ernst Hering: Wege und Straßen der Welt. Von der Wildfährte zum Weltraumschiff. Eine

Geschichte für jedermann. Berlin o. J. (1935), S. 24.

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blockieren oder auch den Anschluss an sie erzwingen. Der Anschluss an Fernverkehrsstraßen und Autobahnen ist im 20. Jahrhundert für viele Städte und Gemeinden ökonomisch lebensnotwendig – und wird zugleich aus ökologischer Perspektive oft harsch kritisiert. Darüber hinaus – ich beziehe mich wieder auf Dirk van Laak – indizieren Straßen als Infrastrukturen in vielfältiger Weise Machtverhältnisse. Sie sind Symbole der Bemächtigung von Naturvorgaben durch den Menschen; sie besitzen durch ihren oft beträchtlichen Zeit-, Kapital- und Arbeitseinsatz einen großen Repräsentationswert und signalisieren Vertrauen in – wenn nicht gar Herrschaft über – die Zukunft. Nicht zuletzt machen die Normierungen und Standardisierungen, die mit Straßenbauten einhergehen, die Gesellschaft „lesbarer“, kalkulierbarer und somit beherrschbarer.22 Das illustriert etwa die Einführung von Hausnummern in innerstädtischen Straßen im späten 18. Jahrhundert, die unter anderem eine effizientere Sozialkontrolle verbürgt. Wie sich politische Machtverhältnisse in Straßen spiegeln, kann man vorzüglich an den Straßennamen ablesen, wie sie ostdeutsche Stadtpläne mit ihren zahlreichen Umbenennungen und Rückumbenennungen vor und nach den Epochenumbrüchen von 1945 und 1989 verzeichnen. Straßen können Zeichencharakter für politische Geschichte erlangen – wie etwa die (Ost-)Berliner Ackerstraße als Grenzraum, die Bernauer Straße als Straße des Mauerbaus oder die Bornholmer Straße als Straße des Mauerfalls; ganz zu schweigen von den Transitstraßen zwischen Westberlin und Westdeutschland durch das Gebiet der DDR, an denen sich höchst unangenehme kollektive Erfahrungen angelagert haben. Damit gelange ich zum letzten Punkt, der Lektüre der Straße.

5 Lektüre der Straße Meist nehmen wir Straßen als Bestandteil des Verkehrs wahr. Verkehr aber lässt sich als ein Medium begreifen. In seiner historischen Semantik meint der Begriff keineswegs nur den technischen Transport, sondern ebenso die Informationsübertragung. Während die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Verkehr den ‚Handelsverkehr, Umsatz, Vertrieb von Waren‘ verstand, meinte der Begriff danach ‚mit jemandem Verbindung, Umgang, Gemeinschaft haben‘, also Fragen des sozialen Miteinanders und der Kommunikation. In der Bedeutung von ‚Transport‘ wird er erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebraucht.23 Im englischen communication oder in romanischen Sprachen (französisch: communication, italienisch: communicazione, 22 Dirk van Laak: Infrastrukturen und Macht, in: François Duceppe-Lamarre / Jens Ivo Engels

(Hgg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. Environnement et pouvoir: une approche historique. München 2008, S. 108. 23 Vgl. Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 1995, Stichwort ‚verkehren‘.

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spanisch: comunicación) ist die Vereinigung von Transportweg und Mitteilung noch stärker präsent als im Deutschen. Sinnbildlich verknüpft das 19. Jahrhundert die Eisenbahn mit dem Telegrafen oder die Dampferlinie mit dem Unterseekabel zum Medienverbund. Einer Verschränkung von Transport und Information verdankt sich auch die Entstehung von Radsportveranstaltungen wie der Tour de France oder des Giro d´Italia um 1900. Verbunden werden die Fortbewegung auf der Straße und das veranstaltende Kommunikationsmedium Zeitung – und zwar im Zeichen moderner Beschleunigung. Nicht zuletzt verfügt ‚verkehren‘ auch über die Bedeutungsvariante ‚umkehren‘ und ‚verändern‘, die daran erinnert, dass der Gegenstand des Verkehrs – also materielle Objekte, Personen oder Informationen – im Prozess des Verkehrens affiziert und verändert wird. Verkehr also beschreibt immer ein Verhältnis, einen Austausch, eine Relation. Dass er „Momente der Vermittlung und Verwandlung, der Übertragung und der Transformation“ umfasst, macht ihn zu einem Medium.24 Als solches soll die Straße nun gedeutet werden. Eine Straße freilich kommt selten allein. Wegen ihrer modernen funktionalen Bestimmung, um ihrer Effizienz willen tendiert sie zur Vernetzung. In der Entstehungszeit des modernen Straßensystems beobachtet das nicht nur Ernst Kapp, sondern auch Friedrich Ratzel. „Die Ströme des Verkehrs“, schreibt er, „entwickeln sich also gleich den großen Wasserströmen aus einem Geäder unendlich vieler kleiner und mittlerer Wege, von denen immer mehr von den großen Wegen aufgenommen werden. Aber zugleich bilden sich immer neue Adern zwischen den alten; in dem Maße, wie die Hauptwege sich vertiefen, verdichtet sich das ganze Netz.“25 Diese Vernetzung des Verkehrs, die im 19. Jahrhundert zunächst durch die Eisenbahn bewerkstelligt wurde und nationale Integration bedeutete, wird mit der modernen Straße zum transnationalen, ja globalisierenden Projekt. Selbst wenn Autobahnen bis heute immer auch nationale Prestigeobjekte sind, ist ihnen doch die Grenzüberschreitung und kontinentale Integration eingeschrieben. Dabei geht es um konkrete materielle Verbindungen, aber auch um kulturelle Integration. Das zeigen etwa die Brennerautobahn von München über die Alpen nach Modena, aber auch die Alaska-Feuerland-Verbindung der Panamericana oder Amerikas Mainstreet, die Route 66. Nationale Besonderheiten wie Maut oder Farben der Beschilderung treten hinter die verbindende und normierende Kraft als internationales Fernstraßennetz zurück. Dieses Straßennetz – wohlgemerkt als ein Medium – findet seine privilegierte Repräsentationsform – natürlich – in einem anderen Medium: dem Zeichenverbundsystem Karte. Nicht zufällig gehören zu den ersten topografischen Karten überhaupt 24 Christoph Neubert / Gabriele Schabacher: Verkehrsgeschichte an der Schnittstelle von Technik,

Kultur und Medien. Einleitung, in: dies. (Hg.), Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft, S. 22. 25 Friedrich Ratzel, Politische Geographie oder Die Geographie der Staaten, S. 456.

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Itinerare, also Wegbeschreibungen. Deren prominenteste ist die Tabula Peutingeriana, die das römische Straßennetz des 4. Jahrhunderts verzeichnet. Wenn wir auf Straßen schauen – und zwar aus einer fixen Außenperspektive –, dann nehmen wir sie medial wahr. Diese Wahrnehmung wird zur hermeneutischen Praxis: der Entschlüsselung eines hybriden Text-Bild-Mediums, der Lektüre von Symbolen, die auf einer Karte verzeichnet sind.26 Eine zweite Möglichkeit der Wahrnehmung von Straßen erfolgt gleichsam aus der Innenperspektive: Der Wahrnehmende ist mobil und bewegt sich in einem Fahrzeug. Falls er von der umgebenden Landschaft etwas sehen sollte, dann wäre seine Wahrnehmung in einigen Aspekten der des Postkutschen- oder Eisenbahnreisenden vergleichbar: Die Landschaft wird fragmentiert und verflüchtigt sich, der Vordergrund wird zugunsten des Panoramas ausgeblendet.27 Tatsächlich aber riskiert ein landschaftssinniger Autofahrer das Leben. Was er zur Kenntnis nehmen soll und kann, geht nicht weit hinaus über die Beschilderung am Fahrbahnrand – also die Beschriftung der Straße – oder über das Display seines GPS-Geräts. Auch hier wäre von medialer Wahrnehmung zu sprechen. Ob aus der Außenperspektive der Karte oder aus der Innenperspektive des Fahrzeugs: Die Wahrnehmung der modernen Straße gleicht der Lektüre abstrakter Symbole, sie ist eine mediale, entsinnlichte Raumerfahrung. Und dass das Wahrgenommene den Wahrnehmenden konditioniert, die Straße also auf das Subjekt zurückwirkt, scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Der Mensch, so suggerieren diverse Spielarten der Technik- und Zivilisationskritik, bezahlt die Emanzipation von seinem Nah-Raum nicht nur mit der der Abhängigkeit von technischen Geräten, der Inkaufnahme sozialer Kontrolle und dem Verlust sozialer Interaktion. Der moderne Verkehr „vernichte“ zudem den sinnlich erfahrbaren Raum. Die Abfolge infrastruktureller Leitmedien wird dabei gern als Verlustgeschichte gelesen: Im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, im 20. Jahrhundert die Autobahn, im 21. Jahrhundert wird es vermutlich das Breitbandkabel für den digitalen Datentransfer sein. Doch es gehört zur Ambivalenz des modernen Verkehrs, dass damit nur die halbe Wahrheit angesprochen ist. Tatsächlich generieren Straßen 26 Zum ‚unreinen‘ Medium Karte vgl. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und

Lust in Karten und Literatur. München 2007.

27 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum

und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993 (zuerst 1977), S. 61; Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn der Ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997, S. 126 ff. Während die Eisenbahn samt Bahnhöfen – trotz Klassensystems – als demokratischer Reiseraum gefeiert oder verdammt worden war, privatisiert die Straße diesen öffentlichen Raum. Doch nicht nur der Raum, auch die Zeit des Verkehrs wird durch die Straße grundlegend affiziert. Trug diese Zeit im Eisenbahnzeitalter aufgrund der täglichen Frequenz der Bewegung zyklischen Charakter, wird sie beim Fahren auf der Autobahn in eine lineare umgewandelt. Die Autobahn schlägt eine Schneise nicht nur in den Raum, sondern auch in die Zeit.

Auf dem Weg zur Autobahn

und die Autobahnen auch neue Räume und bilden eine eigene Sub-Infrastruktur aus: Raststätten, Haltebuchten, Autobahnkirchen, Tankstellen, Notrufsäulen. Nicht zuletzt die Straße selbst und das Fahrzeug, das auf ihr rollt, sind interessante Räume. Räume, in denen sich Erfahrungen machen lassen. Sie bieten ein enormes Reservoir an Bildern und Erzählungen. Ein Potenzial, das Film und Literatur seit jeher produktiv zu nutzen wissen.

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 Kapitelendet

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Zur Rhetorik einer mobilen Moderne · Die architektonische und visuelle Inszenierung der Stadt durch Autobahnen und Hochstraßen in der Nachkriegsmoderne Im Bau von Stadtautobahnen und inner­ städtischen Schnellstraßen nur die Lösung verkehrstechnischer Probleme zu sehen, greift zu kurz. Maßstab und Geschwin­ digkeit der Anlagen und ihrer Benutzung bewirkten auch eine veränderte ästheti­ sche Wahrnehmung der Städte. Während Automobilität im 20. Jahrhundert generell zu einem untrennbaren Bestandteil urba­ ner Erfahrung geworden war und in alle Lebensbereiche eingriff, erfolgte mit dem Bau von Stadtautobahnen der Einzug einer neuartigen Dimension, eine visuelle Rhyth­ misierung und Verdichtung und damit ver­ bunden eine unausweichliche Anpassung der Städte. Bereits die grafische Gestaltung 1  Sigfried Giedion: Raum Zeit und des Schutzumschlags der 1941 in Harvard Architektur, Ravensburg 1965 (Harvard erschienenen Vorlesungssammlung Space, 1941), Titelillustration Time and Architecture. The birth of a new tradition des Kunsthistorikers Sigfried Giedion zeigt, wie sehr die räumliche Dimen­ ­ ahrgenommen wurde. sion des automobilen Verkehrs Mitte des 20. Jahrhunderts w Das in kräftigen Blautönen gehaltene, isolierte Bild des gewaltigen Autobahn­ knotens der 1936 errichteten Anschlussstelle auf Randalls Island in New York City mit seinen gegenläufigen Rampen liegt diagonal über der blassen Vogelschau des barocken Gartens von Versailles. Hier überlagern sich der geometrische Garten und die geschwungene Straße als Stellvertreter zweier Raum- und Bewegungs­ modelle: das visuelle Erleben des Fußgängers und des Autofahrers, die durch kunstvolle Raumgebilde gelenkt werden. In der kurzen Textpassage zu diesem von Robert Moses errichteten Autobahnanschluss in New York beschrieb Giedion das Verkehrsbauwerk als „modern sculpture“, als Stellvertreter der von ihm in seinem

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2  Handschriftlicher Brief von Henrik Bakema vom Dezember 1962 zur Ausführung des Rathauses in Marl als Gruppe von drei Hängehäusern (Ausschnitt).

Buch beschriebenen Raum-Zeit-Konzeption.1 In der ergänzenden Einleitung, die Giedion seinem Werk 1965 in der in vielen Punkten überarbeiteten deutschen Erst­ veröffentlichung vo­ranstellte, beschrieb er schließlich das Automobil als wesentli­ ches, wenn nicht gar zentrales Element moderner Raum- und Architekturerfahrung, denn erst „Durch das Auto wurde die Bewegung zu einem untrennbaren Element der Architektur.“2 Giedion, der die architektonische und urbane Entwicklung des 19. und 20. Jahr­ hundert als ungleichmäßige Synthese von technischem, formalem und konstrukti­ vem Fortschritt beschrieb, erkannte in der Architektur der Moderne ein neuartiges 1 2

Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture. Harvard 1946, S. 556. Sigfried Giedion: Architektur um 1960: Hoffnung und Gefahren. In: ders.: Raum, Zeit, Archi­ tektur – Die Entstehung einer neuen Tradition. Stuttgart 1965.

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Zusammenspiel von Menschen und Bauten, von aktiver (automobiler) Bewegung und der „raumausstrahlenden Kraft“ von Solitären. Städtebaulich und architektonisch sei dies eine Konsequenz der „optischen Revolution des frühen 20. Jahrhunderts“, als ein dynamischer Raumbegriff die starren Perspektiven abzulösen begann und damit die Bewegung des Betrachters mit seinen wechselnden Blickpunkten zunehmend ins Zentrum der Überlegungen stellte. Raum wurde nicht mehr als Abgrenzung und Umschließung gesehen, sondern als Zusammenspiel von Konzentrationspunkten und Bewegungsbahnen. Was eine derartige Verschiebung der Parameter im konkreten Fall bedeuten konnte, lässt sich anhand der Planungen des Rathauses für die nordrhein-westfälische Stadt Marl 1962 ablesen, das von dem niederländischen Büro van den Broek und Bakema als Ensemble von ursprünglich vier zueinander versetzt angeordneten Hängehäusern entworfen wurde. Da aus Kostengründen nur zwei Türme realisiert werden sollten, kämpfte Jacob Berend Bakema vehement dafür, zumindest eine Dreiergruppe umzu­ setzen. In einem handschriftlichen, durch eine Skizze ergänzten Brief begründete er im Dezember 1962 gegenüber der Stadt sein Anliegen mit der räumlichen Wirkung, die erst durch drei Baukörper entstehen kann. Nur so könne das Rathaus im Sinne einer im Stadtraum erfahrbaren Ikonografie und damit pars pro toto als Ausdruck guter gesellschaftlicher Verhältnisse erlebt werden.3 Den Architekten schwebte hier eine dynamisch angelegte Raumwirkung vor, die nicht nur zwischen den Türmen wahrnehmbar sein sollte, sondern ebenso von der angrenzenden Straße und damit aus der Bewegung der Autofahrer heraus: Auch von hier sollte das Rathaus als Raum und nicht als Silhouette wirken, wie Bakemas Skizze zeigt. Das Ensemble stellte er daher stets in einem Zusammenhang mit der Straße dar, die bereits im Medium der Zeichnung als aufsteigende Bilddiagonale zum Bewegungsmotiv wurde. Als Giedion Anfang der 1960er-Jahre seine ergänzende Einführung für die deut­ sche Ausgabe von Raum, Zeit und Architektur schrieb, wurde in Europa die Inte­ gration des automobilen Verkehrs in die neu zu strukturierenden Städte nach wie vor als eine zentrale Aufgabe des Wiederaufbaus verstanden. Mehr noch, rund zwei Dekaden nach Kriegsende waren die wesentlichen planerischen Entscheidungen in den meisten Fällen bereits umgesetzt. Die Publikationen dieser Zeit waren denn auch oft ein Resümee des bisher Erreich­ ten, angesichts weiterer Wachstumsprognosen von Verkehr und Städten aber auch eine Perspektive für anstehende planerische Entscheidungen. In der Begleitausstellung „Die Stadt von Morgen“, die zur Internationalen Bauausstel­ lung (Interbau) in Berlin 1957 durch das Bundesministerium für Wohnungsbau initiiert wurde und zwei Jahre später in einem gleichnamigen, von Karl Otto redigierten Buch 3

Siehe: Museum Folkwang (Hg.): Urbanität gestalten. Stadtbaukultur in Essen und im Ruhr­ gebiet 1900 bis 2000. Essen 2011, S. 204–205.

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mündete, stellten die Autoren vor allem den landschaftlichen Aspekt der aufgelockerten Stadtplanung in den Vordergrund,4 verbunden mit dem Ziel, durch strikte Separierung, Kanalisierung und Differenzierung des Verkehrs ein angenehmes, weitgehend durch­ grüntes Wohnumfeld zu schaffen, dessen Straßen dem motorisierten Anwohnerverkehr vorbehalten waren. Fußgänger und Radfahrer sollten eigene und davon weitgehend getrennte Verkehrswege erhalten: „In den verkehrsbefreiten Stadteinheiten gibt es keinen Lärm, keinen Staub, keine Erschütterung und keine Abgase mehr. In diesen verkehrsfreien Zonen werden die Kinder ohne Gefahren aufwachsen, lernen und spielen können.“5 Das städtebauliche Ideal der 1950er-Jahre, das in der genannten Publikation durch Zeichnungen des populären Karikaturisten Oswald Meichsner einem breiten Pub­ likum nahegebracht werden sollte, war die landschaftliche und aufgelockerte Stadt.6 Unter der Prämisse, „die Grünfläche ist das Gerüst der städtebaulichen Gliederung“, verstand man damit ein Gegenmodell zur Stadt des 19. Jahrhunderts: Nicht die Ausspa­ rungen in einem überbauten Volumen und die Raumkanten geschlossener Bebauung bildeten die Freiräume, sondern der fließende Raum der Landschaft. In Verbindung mit der Bewegung der Betrachter waren darin die Bauwerke rhythmisch angeordnet. 7 Wenngleich als Erholungsflächen gedacht, so hatten die Grünanlagen keinesfalls den Charakter eines Landschaftsgartens, sondern dienten auch Landwirtschaft und Verkehr.8 Bruno Wehner, Verkehrswissenschaftler an der Technischen Universität Ber­ lin, sah darin sogar Reserven für künftige Mobilitätsformen: „In den ausgedehnten Grünflächen werden auch ausreichende Möglichkeiten für die Entwicklung im Luft­ verkehr gegeben sein. In diesen Grünflächen werden die kleinflächigen Landeplätze der Hubschrauber und der Privatflugzeuge liegen.“9 Diese Visionen ungebremster Mobilität machen die grundlegende Absicht moderner Planer deutlich, den Verkehr 4



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Straßenbau spielte bei der Interbau 1957 in Berlin eine erstaunlich geringe Rolle, Kritiker ver­ muteten sogar, dass das Thema gemieden würde. Es lag sicher am Organisator der Ausstellung „Verkehr von Morgen“, der Bundesbahn, die neben dem Straßenverkehr auch den Luftverkehr aussparte. Vgl. Bauwelt 37, 1957, S. 974. Das neu erbaute Hansaviertel thematisierte den motorisierten Individualverkehr nur in unter­ geordneter Weise durch breite Straßen, eine differenzierte Straßengestaltung, die kleinen Gara­ genbauten der Einfamilienhäuser oder die Tiefgarage des Apartmenthauses von Pierre Vago. Parkflächen waren ansonsten zwischen den Häusern eingebettet und wurden nicht als eigen­ ständige technische oder gestalterische Herausforderung begriffen, Parkhäuser wurden nicht gebaut. Umso deutlicher wurde der motorisierte Individualverkehr in der Themenausstellung „Städtebau“ subsumiert, die im Schloss Bellevue stattfand. Stadt und Verkehr, bearbeitet von B. Wehner, Berlin in: Karl Otto (Hg.): die stadt von mor­ gen – gegenwartsprobleme für alle. Berlin 1959, S. 70. Oswald Meichsner, genannt Oswin (1921–1984), war ein Berliner Karikaturist. Stadt und Natur, bearbeitet von W. Rossow, Berlin in: Karl Otto (Hg.): die stadt von morgen – gegenwartsprobleme für alle. Berlin 1959, S. 49. Ebd. Ebd. S. 70.

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3  Oswald Meichsner (genannt Oswin), Zeichnung der Stadt von Morgen. Panorama einer durchgrünten Wohn- und Verkehrslandschaft. Publiziert in der 1959 erschienenen Publikation zur Ausstellung „Die Stadt von Morgen“ und in Hans Bernhard Reichows Buch „Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959“.

frühzeitig in die Planungen zu integrieren und damit jene vermeintliche Unverein­ barkeit der Systeme Stadt und Verkehr auszuschließen, die man den alten Städten schon im 19. Jahrhundert zuschrieb. Bereits auf dem IV. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) in Athen wurden 1933 in der Charta von Athen Verkehr und Bewegung expli­ zit zu integralen Bestandteilen moderner Städte erklärt. Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen seien die Kernthemen moderner Großstädte, so betonte es auch Le Corbusier in seinem erst 1962 in deutscher Sprache publizierten Buch zur Umsetzung der Charta.10 Diesem funktionalistischen Ansatz entsprechend sollte der Autoverkehr 10 Le Corbusier: An die Studenten – Die Charte d´Athènes. Hamburg 1962, Lehrsatz 77, S. 118 f.

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4  Hans Bernhard Reichow: „Verkehrsstruktur der Sennestadt mit Farbanordnung der Straßenbeleuchtung.“ Die Verkehrsentflechtung und Verkehrsdifferenzierung in der von Reichow geplanten Stadterweiterung setzte sich von den Straßenprofilen bis in die Farbigkeit der Beleuchtung fort, hier am Beispiel der von Reichow umgesetzten Sennestadt bei Bielefeld.

vorrangig durch einen verkehrs­ gerechten Ausbau der Straßen in die Stadt integriert werden, dif­ ferenziert durch die hierarchische Gliederung des Straßennetzes, die Trennung der Verkehrsarten und den Bau unvollständiger Erschlie­ ßungsnetze.11 Schon früh wurde im 20. Jahr­ hundert das Auto als künftig prä­ gendes Verkehrsmittel erkannt und nahm in den Augen fort­ schrittsorientierter Planer und Architekten zunehmend die Rolle einer Zukunftsmetapher ein. In Deutschland waren es unter ande­ rem die Architekten Peter Behrens, Erich Mendelsohn oder Ludwig Hilbersheimer, die schon früh den wachsenden Einfluss des Automo­ bils in ihren Entwürfen berücksich­ tigten.12 International nahm vor allem Le Corbusier eine Schlüs­ selrolle ein, der dem Automobil in seinen einflussreichen Publikatio­ nen an zahlreichen Stellen einen besonderen Stellenwert beimaß. 1925 beschrieb er das Automobil in seinen Ausführungen zum Städ­ tebau sogar als Motor unaufhaltsa­ men Fortschritts: „Das Automobil hat die Geschäfte geschaffen, und die Geschäfte bilden das Automo­

11 Vgl. Ursula Flecken: Zur Genese der Nachmoderne im Städtebau. Entwürfe 1960–1975 in

Westdeutschland. Berlin 1999, S. 31f.

12 Peter Behrens: Einfluß von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung, in:

Jahrbuch des deutschen Werkbundes, 3, Berlin 1914, S. 7–10; Erich Mendelsohn: Die internatio­ nale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion (1923), in: ders.: Das Gesamtschaffen des Architekten, Berlin 1930, S. 22–34, hier S. 28; Ludwig Hilbersheimer: Groszstadtarchitektur, Stuttgart 1927.

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bil weiter. Wechselwirkung ohne v­ oraussehbare Grenze.“13 Eine Optimierung der Stadt und Berücksichtigung der Belange des motorisierten Individualverkehrs sei daher überlebenswichtig, denn „Schnelligkeit“, so zitierte er in diesem Zusammen­ hang den französischen Verkehrsplaner Emile Massart, „trägt den Fortschritt unserer modernen Gesellschaft selbst in sich“.14 Bewegung und vor allem automobile Bewegung war damit spätestens in den 1920er-Jahren zu einem Wesensmerkmal des Raums, seiner Wahrnehmung und Gestaltung geworden. Die automobilen Verkehrsbahnen wurden dabei zunehmend differenziert, die Idee des Fließens, der Verästelung und der Kreisläufe des Verkehrs, die in Deutschland vor allem durch Hans-Bernhard Reichows Ausführungen zum organischen Städtebau populär gemacht wurden, einen rein funktionalen Ansatz zu sehen, würde jedoch zu kurz greifen. Bereits die Gestaltung von Reichows Publi­ kationen, vor allem aber die Linienführung der Straßen und ihre auf eine dynami­ sierte visuelle Wahrnehmung ausgerichteten Details machen deutlich, dass hier ein ästhetisch motivierter Ansatz vorliegt, die Übertragung eines Harmoniegedankens aus dem organischen Leben der Natur in die gestaltete Umgebung der Stadt. Nicht zuletzt sollten die innerhalb von Städten für Straßen benötigten Flächen drastisch reduziert werden.15 Reichow fasste in seiner 1959 erschienenen Publikation „Die autogerechte Stadt“ schließlich eine Tendenz zusammen, die den Wiederaufbau der Städte im Sinne einer verkehrsgerechten Ausformulierung in unterschiedlichen Varianten prägte. Doch im Titel wird dabei eine einseitige Berücksichtigung auto­ mobiler Belange suggeriert, die in dieser Form und Ausschließlichkeit gar nicht im Sinne des Autors lag und später zum Kampfbegriff der Kritiker umfunktioniert wurde. Reichow ging es infolge von bereits in den 1920er-Jahren entwickelten stadtplaneri­ schen Ideen in erster Linie um eine Verkehrsberuhigung von Wohngebieten durch eine differenzierte und getrennte Verkehrsführung und ein reibungsloses Fließen sämtlicher Verkehrsformen.16 13 Le Corbusier: Städtebau, [Paris 1926] Berlin 1929, S. 101. 14 Emile Massart, zitiert nach Le Corbusier: Städtebau, [Paris 1926] Berlin 1929, S. 101. Massart

sprach auf dem Internationalen Kongress für Straßenbau 1923 in Paris.

15 Ein Vergleich mit einem konventionellen, schachbrettartigen Straßenraster machte nach Rei­

chows Berechnungen deutlich, dass die Verkehrsentflechtung zu einer Reduktion der Straßen­ fläche um 60 % führen kann. Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959, S. 25. In der 1954–69 realisierten Sennestadt bei Bielefeld konnte Reichow seine Ansätze auch praktisch umsetzen. 16 Als Reichows Buch 1959 erschien, war der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte in Deutsch­ land in seinen Grundzügen abgeschlossen. In den 1970er-Jahren setzte mit zunehmender Kritik am Städtebau der Moderne auch eine negative Rezeption Reichows ein, die in den meisten Fällen aber lediglich den Titel seines Buchs plakativ als Synonym einer einseitig auf automobile Belange ausgerichteten Stadt- und Verkehrsplanung nutzte.

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Auf den Organismus der Stadt übertragen wurde die Idee des Fließens, der unge­ hinderten, freien und daher kreuzungsfreien Verkehrsströme zum Ausdruck prospe­ rierender und gesunder Urbanität. Bei Neuplanungen von Städten wie Brasilia wurde Automobilität zum essenziellen Bestandteil, wenn nicht gar zur Bedingung städtischer Wahrnehmung. Als der Rezensent der Bauwelt, Jan Kim Wallenborn, 1965 über das Pariser Architekturfilmfestival berichtete, realisierte er erst im Medium des Films die visuelle Choreografie dieser Stadt: „Wir erleben Brasilia, [...] von den Straßen aus, in Bewegung [...] und es fiel mir wir Schuppen von den Augen: die vielgeschmähte Eintönigkeit, die gigantischen Dimensionen existieren gar nicht, es geht auf und ab, und die ständige Verschiebung der gewählten Formen und Gebilde fasziniert. Bis zur Einfahrt in ein Quartier stimmt alles, es geht auf freier Erde dahin, in großem Schwung, leicht bergauf, zwischen Stützen hindurch und hinein! – Hier erst setzt eine andere Dimension ein, die des Fußgängers. Solche filmischen Erlebnisse füh­ ren unmittelbar zur Erkenntnis, daß maschinelle und menschliche Bewegung auch verschieden dimensionierte Welten verlangen.“17 Innerhalb Berlins lässt sich der Zusammenhang von Stadt, Landschaft und Auto­ bahn in seinen Grundzügen bereits anhand der ersten umfassenden Nachkriegspla­ nung 1946 aufzeigen. Der sogenannte Kollektivplan, der unter Mitwirkung von Hans Scharoun als Leiter der Bauabteilung von den Stadtplanern und Architekten Wils Ebert (Arbeits- und Wohnstandorte), Peter Friedrich (Verkehr), Ludmilla Herzen­ stein, Reinhold Lingner (Grünplanung), Luise Seitz, Selman Selmanagic und Herben Weinberger erarbeitet und erstmals von August bis Oktober 1946 in der Ausstellung „Berlin plant“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, nahm die starken Zerstörungen zum Anlass, eine grundlegende Neuorganisation der Stadt vorzuschlagen.18 Unge­ achtet seines utopischen Potenzials eröffnete dieser Plan eine gedankliche Freiheit, die trotz fehlender Realisierungsmöglichkeiten noch lange nachwirkte.19 Berlin sollte als eine radial um ein hoch verdichtetes Zentrum gewachsene Groß­ stadt aufgelöst werden. Den Planern schwebte stattdessen eine bandartige Verknüpfung 17 Jan Kim Wallenborn: Bewegte Architektur. Zum Pariser Architektur-Film-Festival. In: Bauwelt

34/35, 1965, S. 947 f., hier S. 948. Zur autoorientierten Planung von Brasilia siehe: Willy Stäubli: Brasilia. Stuttgart 1965, S. 12–17, S. 26–35. 18 Hans Scharoun war hinsichtlich der Ausrichtung des Kollektivs relativ unsicher und legte sich nur zögerlich fest. Eine grundlegende Darstellung des Kollektivplans findet sich in: Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1945–1989. München 1989, S. 180 f.; Siehe auch: Peter Friedrich: Drei Phasen der Gestaltbildung : erschauet, abgeleitet, konkretisiert. Berlin 1989, S. 139 f. Die Ausstellung „Berlin plant“ fand 1946 in provisorisch hergerichteten Räumen des Berliner Schlosses statt. 19 Vor allem der mit dem vom Planungskollektiv erarbeiteten Generalaufbauplan von 1949, dessen Verkehrsplan im September 1949 der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) übergeben wurde und den Ausbau eines Netzes innerstädtischer Autoschnellstraßen vorsah. Siehe: Johann Friedrich Geist / Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1945–1989. München 1989, S. 269.

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5  Kollektivplan Berlin 1945–46 vom Planungskollektiv erarbeitet. Zeichnung. Planzeichnung Maßstab 1:10.000, 95 x 195 cm.

nachbarschaftlich organisierter und ihren Funktionen entsprechend gestalteten Zellen überschaubarer Größe vor.20 In den Dimensionen von Dörfern, Klein- und Mittel­ städten sollten sie als landschaftlich geprägter Ortsverbund in das Berliner Spreetal eingebettet werden, das unter der für diese städtebauliche Neuerfindung program­ matischen Bezeichnung „Berliner Urstromtal“ zum großräumigen Landschaftsbild stilisiert wurde. Prägendes und ablesbares Element war das großzügige, netzartige Gitter von planfreien „Verkehrsstraßen der Kraftwagen, ohne Bebauung“ inmitten von 200 Meter breiten Grünstreifen.21 Der Verkehrsplaner Peter Friedrich betonte, dass mit der bandartigen Organisation der Stadt ein Wesensmerkmal Berlins auf­ genommen werde, die neuen Straßen hätten demnach in weiten Teilen dem Verlauf vorhandener Straßen folgen können.22 Vermeintlich dem topografischen Verlauf des eiszeitlichen Tals entlang der Spree folgend, sollten diese Straßen eine möglichst gleichmäßige Verteilung des Verkehrs 20 Scharoun betonte in seiner Eröffnungsansprache, dass diese Teile der ‚Stadtlandschaft‘ eine dem

Inhalt entsprechende sinnvolle und schöne Silhouette haben sollten, die „wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken“. Vgl. Bauwelt 11, 1959, Seite 335. 21 Vgl. Peter Friedrich: Lagebeziehungen und Verkehrsnetzgestaltung des neuen Berlin, in: Der Bauhelfer 11, 1946, S. 11f., hier S. 12. 22 Friedrich, Drei Phasen der Gestaltbildung, S. 156.

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sicherstellen und damit eine Grundbedingung für die ausgewogene städtebauliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt herstellen. Eine Voraussetzung dafür sah man in der systematischen Differenzierung des Verkehrs und dem niveaufreien Ausbau der großen Kreuzungspunkte, mit dem ein Straßennetz geschaffen werden sollte, das bis in seine kleinsten Verästelungen ein geordnetes und gleichmäßiges Fließen des automobilen Verkehrs sicherstellen sollte. Es war damit aber auch ein eklatanter Paradigmenwechsel verbunden: Das Gitternetz der Straßen avancierte auf den Planzeichnungen zur ablesbaren Struktur einer Stadt, die sich nicht mehr durch Monumente und Sichtachsen, sondern vorrangig durch die visuellen und räumlichen Eigenschaften ihres Verkehrssystems darstellte. Konsequent waren auf den großen Übersichtsplänen die anderen Straßen weitgehend ausgeblendet und wurden erst bei den lokalen Planungen berücksichtigt. Die gekrümmte und in die Landschaft eingebundene Linie muss im Gegensatz zur Achse tatsächlich erfahren werden, um ihre räumliche Beziehung zu begreifen; die Idee des Urstromtals als politisch unver­ fängliches und quasi „natürliches“ Motiv künftiger städtischer Identität sollte in der Bewegung und durch die sanfte Linienführung der Straßen vermittelt werden – ein quasi natürliches Gegenmodell zur Hauptstadtplanung des Nationalsozialismus mit seiner gigantischen Nord-Süd-Achse. In seinem radikalen und utopischen Ansatz war der Kollektivplan zum Scheitern verurteilt. In prägnanter Klarheit machte er eine neuartige verkehrliche Lösung zur Grundlage einer städtebaulichen Neuerfindung der Stadt und erklärte die Organi­ sation des Autoverkehrs in Verbindung mit der Landschaft zum prägenden visuellen und räumlichen Element. Die tatsächliche Umsetzung der innerstädtischen Autobahn erfolgte in Berlin schließlich unter anderen Vorzeichen und in einem deutlich dichter bebauten Kontext, wenngleich die Bezeichnung „Autobahn“ im Allgemeinen vermie­ den wurde und man stattdessen bis in die frühen 1960er-Jahre von innerstädtischen „Schnellstraßen“ sprach.23 Mit dem Senatsbeschluss vom 4. Juli 1955 über den Bau des westlichen Schnellstraßenrings mit Anschluss an die AVUS begannen die Arbeiten. 24 Geplant wurde ein Autobahnring, der netzartig angeordnete innerstädtische Schnell­ straßen einschließen sollte. In weiteren Teilen wurde eine Trassenführung entlang des S-Bahn-Rings vorgesehen, eine pragmatische Lösung, da die neue Straße in weiten Teilen über Bahngelände führte und daher relativ unproblematisch zu realisieren war. Dennoch zeigen bereits die frühen Studien des Stadtplanungsamts eine auffallend großzügige Trassenführung, die überall dort, wo es die Einflechtung in bestehende Stadtstrukturen zuließ, eine deutliche räumliche Aufweitung vorsah. 23 Vgl. Ural Kalender: Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins, Köln 2012, S. 374. 24 Senatsbeschluss Nr. 715/55 über den Bau des Schnellstraßenrings. Die ersten Abschnitte sollten

vom Hohenzollerndamm über die Halenseestraße, den Messedamm, die Rognitzstraße bis zum Kaiserdamm führen.

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Schon am 1. April 1956 erfolgte der erste Spa­ tenstich zum Bau der Berliner Stadtautobahn und im Zweijahresrhythmus wurden die Teilabschnitte fertiggestellt: im November 1958 der Abschnitt Halenseestraße bis Hohenzollerndamm, 1960 der Abschnitt Hohenzollerndamm bis Mecklenbur­ gische Straße, 1962 und 1964 die Abschnitte zwi­ schen Halenseestraße und Jakob-Kaiser-Platz.25 Die scheinbar problemlose Finanzierung des ambitio­ nierten Projekts durch Bundesmittel machte deut­ lich, dass es hier 1955 um mehr als die Lösung eines Verkehrsproblems ging: Westberlin sollte als Schaufenster des Westens im Kalten Krieg die Leistungsfä­ higkeit moderner westlicher Stadtplanung demons­ trieren – auch im Straßenbau. Die Bedingungen waren günstig, zumal durch die Zusammenfassung von Stadtplanung und Tiefbau in einer Behörde das Projekt planerisch und organisatorisch inner­ halb kurzer Zeit umgesetzt werden konnte.26 Zur Internationalen Bauausstellung 1957, die mit dem aufgelockerten Städtebau des Hansaviertels als poli­ tische Antwort auf die Sozialistische Magistrale der Stalinallee verstanden werden wollte, war der erste Abschnitt der Westberliner Stadtautobahn in allen wichtigen Bereichen in Arbeit und wurde in den zeitgenössischen Publikationen dementsprechend hervorgehoben.27 Vor allem der Anschluss am Rathenauplatz war im Kontext der neuen Straße ein neuralgischer Punkt, der besondere gestalterische Aufmerksamkeit erfuhr. Seine Entstehung verdankte der Platz ausschließlich 25 Am 26. November 1958 wurde der erste Abschnitt des

Autobahnrings zwischen Halensee und Hohenzollern­ damm eröffnet. 26 Ural Kalender, Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins. Köln 2012, S. 370. 27 In den „Bauwelt-Karten“ anlässlich der Interbau 1957, wurde die Anschlussstelle als „Schnellstraße Halensee“ in die Übersichtsdarstellung „Berlins bedeutsame Bau­ ten“ aufgenommen. Siehe: Bauwelt 24, 1957, S. 593.

6  Stadtautobahn und AVUS-Knoten. Zeichnung 1955.

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7   Walther-Rathenau-Platz. Luftbild 1958. Unbezeichnetes Fundstück aus dem Nachlass des Stadtplanungsamts.

dem Bau der Stadtautobahn, genau genommen wurde er über dem Tunnel des durch­ gehenden Autobahnabschnitts errichtet, und verband über einen Kreisverkehr die Autobahn mit dem Kurfürstendamm, dem kommerziellen Zentrum Westberlins.

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Eine Glasgalerie an der Platz­ rückwand verband nicht nur die Stadtbushaltestellen am Platzrand und an der Autobahn, sondern bot einen wettergeschützten Blick auf die Fahrbahnen in Richtung Süden. Die Realisierung einer großzügi­ gen Auffahrt war hier innerhalb des dicht bebauten Stadtgebiets von Wilmersdorf relativ unprob­ lematisch möglich, da am Halensee das Gelände des 1935 abgerissenen Lunaparks als Flächenreserve zur Verfügung stand. Die erst zu den Olympischen Spielen 1936 ange­ legte Halenseestraße wurde dabei 8  Postkarte Rathenauplatz, um 1960. geteilt und flankierte von nun an zu beiden Seiten die Stadtautobahn. Die Anschlussstelle präsentierte sich als städtebauliche Gesamtkomposition aus Platz, Tunnel, Punkthochhaus und auffallend weit und elegant geschwungenen Autobahn­ rampen. Berlin, das trotz Kriegszerstörungen nach wie vor durch die Blockrandbe­ bauung des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, zeigte sich hier aufgelockert, großzügig und landschaftlich, ganz im Sinne des modernen Städtebaus. Dieser Eindruck konnte dynamisch erlebt werden, durch die sanft geschwunge­ nen, nebeneinander verlaufenden Straßen ihrer sich überlagernden Linienführung im Bereich der Anschlussstelle, vor allem aber auch im Zusammenspiel mit der Höhen­ dominante, die 1956–58 mit dem Neubau des Apartmenthochhauses von Felix Hinssen an der Hubertusallee ergänzt wurde.28 Die Stadtautobahn wurde am Rathenauplatz zum prägnanten städtebaulichen Ensemble, zum Bild einer dynamischen Moderne. Vor allem der Blick von Norden ließ im Zusammenspiel von Auffahrten, Tunnel und Hochhaus jenes emblematische Bild einer neuen Zeit entstehen, das schließlich als Vision und Versprechen von Berlins Zukunft durch Fotografien und Postkarten mas­ senhaft verbreitet wurde. Auch als 1965 die Deutsche Bundespost Berlin eine Serie von Briefmarken mit wichtigen Westberliner Neubauten herausbrachte, nahm sie eben dieses durch Postkarten bekannte Motiv der Autobahnauffahrt am Rathenauplatz 28 Mit dem Apartmenthochhaus Hubertusallee/Gillweg war zudem eine genuin großstädtische

Typologie verbunden: kleine, modern und komfortabel ausgestattete Stadtwohnungen für berufstätige Alleinstehende oder Paare, die als agile Großstadtbewohner das Mobilitätsangebot der Stadtautobahn annehmen sollten.

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auf. Die Berliner Stadtautobahn wurde damit gleichwertig mit der Deutschen Oper, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der Philharmonie und dem Ernst-ReuterPlatz in jene Reihe ikonischer Hochbauten aufgenommen, mit der sich Westberlin in seiner erneuerten städtischen Identität darstellte. Darüber hinaus kam der Stadtautobahn nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 auch eine interessante kompensatorische Bedeutung zu. Werner Düttmann, Senats­ baudirektor und Direktor für Baukunst an der Akademie der Künste, brachte es 1967 auf den Punkt, als er schrieb: „Heute ist diese Stadt wie im Mittelalter von einer Mauer umgeben und muß versuchen, das Glück ihrer Bürger auf engem Raum zu ermöglichen. Und diese Bürger freuen sich, daß Mies van der Rohe das Museum am Kemperplatz baut, sind stolz auf den Saal der Philharmonie, sie schimpfen auf die neuen Siedlungen, und die, die da wohnen, wohnen gern darin. Sie rasen auf der Stadtautobahn, weil diese einen Hauch von Ferne und ein Gefühl der Weite gibt, der Weite, die diese Stadt von jeher ausgezeichnet hat.“29 Vor allem in Westberlin wurde die Stadtautobahn zum Motiv einer Sehnsucht nach Modernität. Damit untrennbar verbunden war die Idee selbstbestimmter Beweglich­ keit und einer Imagination von Amerika als Synonym dieses Freiheitsversprechens. Besonders deutlich wird dies an der großzügigen landschaftlichen Gestaltung der Anbindung der Stadtautobahn an die AVUS. Bereits 1940 war die AVUS, die ehe­ malige, ab 1912 aus privater Initiative errichtete Rennstrecke, mit dem äußeren Auto­ bahnring verbunden worden.30 Sie war nicht nur die älteste Nur-Autostraße in Europa, sondern aufgrund ihrer innerstädtischen Lage auch die älteste Stadtautobahn. Mit dem AVUS-Anschluss am Funkturm wurde 1957 die ehemalige Rennstrecke mit ihrer geraden Linienführung in die moderne, landschaftlich gestaltete Autobahn überführt, die ganz im Gegensatz zu der alten Rennstrecke weniger an Geschwindigkeit als an lustvoller Bewegung orientiert war. Während der Anschluss in den ersten Planungen 1955 noch als mehrgeschossiger Kreisverkehr gestaltet werden sollte (vgl. Abb. 06), orientierte man sich schließlich bei der Ausführung an einer landschaftlichen Verflechtung der Bewegungsbahnen, wie sie in dem gewaltigen Knotenpunkt ihr Vorbild hatte, der in New York den Grand Central Parkway, die Grand Central Parkway Extension, den Union Turnpike, den Interboro Parkway und den Queen´s Boulevard miteinander vereint. Zwischen 1936–1937 errichtet, hob ihn Sigfried Giedion in Space, Time and Architecture als eine 29 Werner Düttmann, ... was wir hier und in unserer Stadt tun (unveröffentlichter Vortrag zu den

Berliner Bauwochen 1967), in: Werner Düttmann: Berlin ist viele Städte. Berlin 1984, S. 29–38, hier S. 38. 30 Die AVUS nahm mit ihren jeweils zwei richtungsgetrennten Fahrbahnen und niveaufreien Kreuzungen den Standard der späteren Reichsautobahnen vorweg. Seit 1921 wurde sie als pri­ vate Kraftverkehrsstraße in Betrieb genommen und 1940 an den neu errichteten Berliner Ring angeschlossen.

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9  Anschlussstelle Stadtautobahn – AVUS, Luftbild um 1957. Veröffentlichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970.

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10  Luftbild der Anschlussstelle „The Pretzel“ in New York 1937. Aus: Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture, 1946, S. 557.

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der bestdurchdachten Verkehrslösungen der Moderne hervor.31 Für Giedion stellten die nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch ästhetisch motivierten parkways, die er vor allem im Großraum New Yorks vorfand, eine grundlegend neue räumliche Qua­ lität dar, die für die künftige Entwicklung moderner Städte vorbildhaft sein könne. Dennoch, so hielt er 1962 fest, gelang es dem parkway vor allem deshalb nicht, „in die Stadt einzudringen, weil die Stadt daran festhielt, eine unflexible Struktur zu bleiben, unbeweglich und in sich selbst verstrickt“.32 In der visuellen und topografischen Beziehung der parkways zur Umgebung, ihrer Regelhaftigkeit ohne starre Regelmäßigkeit sowie ihrem grundlegenden ästhetisch und sinnlich motivierten Anspruch der Bewegung waren sie nach Giedions Auffassung vorbildhaft für eine künftige moderne, durch Dynamik und Großformen geprägte städtebauliche Entwicklung. Damit wurde nicht zuletzt ein landschafts- und bewe­ gungsästhetischer Gedanke gestärkt, bedenkt man, dass diese großzügige visuelle und emotionale Inszenierung des Fahrens letztlich auf die Ideen von Frederick Law Olmstedt zur Anlage landschaftsgebundener Straßen zurückging.33 Aus dieser ideengeschicht­ lichen Tradition heraus bemerkte Sigfried Giedion, dass der Parkway die Überland­ straße „vermenschliche“, schließlich sogar „befreiende Empfindungen“ ermögliche.34 Das Berliner Beispiel macht deutlich, wie sehr die Stadtautobahn mit ihren kom­ plexen Linienführungen und Anschlussstellen in den 1950er- und 1960er-Jahren den Vorbildern US-amerikanischer Stadtautobahnen und Parkways folgte und eben nicht mehr der landschaftsgebundenen Autobahn, wie sie vermeintlich in den Jahren des Nationalsozialismus realisiert wurde.35 Das gilt auch für die Autobahnprojekte anderer Städte und Stadtverbünde dieser Jahre in der Bundesrepublik. So wurde etwa beim Ausbau des Ruhrschnellwegs ab 1952 eine europäische Verkehrsachse geschaffen, welche die wichtigen Städte des Ruhrgebiets mit den niederländischen Industrie­ zentren verbindet. Vorbildhaft waren auch hier amerikanische Autobahnen, wie die 31 Giedion, Space, Time and Architecture, S. 557. 32 Ebd. S. 491. 33 Frederick Law Olmstedt verband die Traditionen des englischen Landschaftsgartens mit den

hygienischen und verkehrlichen Bedingungen Nordamerikas. Zusammen mit Calvert Vaux entwarf er 1866 den Eastern Parkway in New York als ersten Parkway, eine komfortabel ausge­ baute Freizeitstraße, die durch Verkehrstrennung und Vermeidung störender Randbebauung im Fahren einen visuellen Landschaftsgenuss ermöglichen sollte. 34 Sigfried Giedion: Raum, Zeit und Architektur. Stuttgart 1962, S. 491. 35 Thomas Zeller weist in einer vergleichenden Studie darauf hin, dass die Landschaftsbindung beim Autobahnbau der NS-Zeit bei Weitem nicht so ausgeprägt war wie bei den amerikani­ schen parkways. Siehe: Thomas Zeller: Der Automobile Blick – Berg- und Alpenstraßen und die Herstellung von Landschaft in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert. In: Hans Liudger Dienel, Hans-Ulrich Schiedt (Hg.): Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Deutsches Museum. Beiträge zur Historischen Verkehrsfor­ schung Band 11), Frankfurt a. M. und New York 2010, S. 265–283.

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systematische Sammlung zahlreicher Fotografien städtebaulicher und verkehrlicher Situationen aus den USA zeigt, die sich in den Nachlässen der verantwortlichen Planungsabteilungen fanden; vor allem Bilder von visuell eindrucksvollen Rampen und Knotenpunkten, etwa des viergeschossigen Knotenpunkts der Autobahneinfahrt nach Fort Worth in Texas oder des Harbour Freeway in Los Angeles.36 Es wundert nicht, dass angesichts des gewaltigen Motorisierungsvorsprungs der USA die dort vorhandenen Straßenbauwerke nahezu uneingeschränkt vorbildhaft waren, zumal die USA in den westdeutschen Nachkriegsjahren vor allem in den 1950er-Jahren in den meisten Fragen ästhetischer und inhaltlicher Neuausrichtung die entscheidende Orientierung boten. Nachdem Senatsbaudirektor Schwedler bereits 1954 eine den Schnellstraßenbau vorbereitende Studienreise in die USA unternommen hatte, unternahmen schließlich im Winter 1957 verantwortliche Mitarbeiter der Berliner Bauverwaltung unter der Regie des leitenden Baudirektors von Berlin-Wilmersdorf Friedrich Fürlinger eine mehrwöchige Rundreise durch amerikanische Großstädte, um systematisch vor Ort die technischen und planerischen Aspekte der Stadtauto­ bahnen in Boston, Detroit und Los Angeles zu studieren.37 Der Forschungsbericht wurde erst 1961 publiziert, doch flossen die Erkenntnisse der Reise ganz unmittelbar in die Planungen der Berliner Stadtautobahn ein; nur ein Jahr nach der Studienreise konnte der erste Teilabschnitt eröffnet werden.38 Ungeachtet der deutlich engeren räumlichen Verhältnisse zeigte sich auch eine motivische Vorbildfunktion der ame­ rikanischen Beispiele, vor allem der breit horizontal gelagerten Anschlussbauwerke, etwa der Entwurfszeichnung des Anschlusses der Südtangente mit der Westtangente, die als isoliertes, mehrgeschossiges Verkehrsbauwerk für heranfahrende Autofahrer fast den gesamten Horizont einnimmt.39 36 Die visuelle Dynamik einer weit gespannten S-Kurve als fließendes, horizontales Pendant zu

den geometrisch geschichteten Hochhäusern ist an die Zufahrtsrampen zum Omnibus-Zen­ tralbahnhof in New York angelehnt, in denen das Zusammenspiel der unterschiedlichen Formen deutlich wird. Vgl. Museum Folkwang (Hg.): Urbanität gestalten. Stadtbaukultur in Essen und im Ruhrgebiet 1900 bis 2000. Essen 2011, S. 186–187. 37 Schwedler beauftragte im unmittelbaren Anschluss an seine Studienreise die Ausarbeitung eines niveaufreien Straßennetzes für Berlin, das sich in weiten Teilen an den im Flächennutzungsplan von 1950 vorgesehenen Straßen orientieren sollte, der einen Ring mit vier innen liegenden Tan­ genten aufweisen sollte. Siehe: Ural Kalender: Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins. Köln 2012, S. 368. Die Ergebnisse von Fürlingers Team, das im Winter 1957 die USA bereiste, wurden 1961 in einem Forschungsbericht veröffentlicht: Rationalisierungs-Kuratorium der deutschen Wirtschaft (Hg.): Stadtautobahnen. Erfahrungen deutscher Fachleute in den USA. Wiesbaden / Berlin 1961. Vgl. (Anon.:) Dreispurig durch Berlin, in: DER SPIEGEL, 14. Januar 1959, S. 46–47. 38 Vgl. ebd. S. 46–47. 39 Vorbilder derartig organisierter, mehrgeschossiger Verkehrsanlagen finden sich in zahlreichen amerikanischen Städten, im Bericht der Arbeitsgruppe wird u. a. das Verkehrskreuz des Harborund Hollywood-Freeway mit seinen Zweigverbindungen abgebildet. Vgl. Stadtautobahnen, S. 99.

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11–12  Perspektivzeichnungen von Anschlussbauwerken der Berliner Stadtautobahn.

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Seit 1954 intensiv geplant und ab 1955 errichtet, wurde die Berliner Stadtautobahn als Monument der Moderne ostentativ in Szene gesetzt. Die Perspektivzeichnungen, die vom Senat für Bau- und Wohnungswesen vor dem Baubeginn offenbar in großer Zahl ausgeführt wurden, zeigen, wie sehr die Autobahn vor allem durch Hochstraßen im Stadtbild verankert werden sollte – die innerstädtische Autobahn sollte als Inbegriff zukunftsorientierter Modernität auch sichtbar sein. Auch aus diesem Grund wurde bei der Verabschiedung des Flächennutzungsplans 1955 ein alternativer Trassenverlauf im südlichen Bereich, den die Abteilung für Tiefbau unter pragmatischen Aspekten erarbeitet hatte, mit der Begründung abgelehnt, dass die Stadtautobahn dann „auf großen Strecken beiseite gedrängt, wie eine zweitrangige Eisenbahnanlage, hinter Bahndämmen, Schuppen und Hinterhöfen versteckt“ verlaufen würde.40 Stattdessen führte man den besagten Abschnitt offen über den Breitenbachplatz, was später als Sündenfall der Verkehrsplanung gewertet wurde. Berlin war damit kein Einzelfall, in der Bundesrepublik wurden auch in ande­ ren Städten Stadtautobahnen oder innerstädtischen Schnellstraßen als Inbegriff der Modernität auffallend in Szene gesetzt, etwa in Düsseldorf, Saarbrücken, Mann­ heim, Hannover oder Essen. Ende der 1960er-Jahre wurde dann auch in der DDR ein beispielloses Straßenbauprogramm umgesetzt. Riesig dimensionierte Schnell­ straßen, Hochstraßen, Brücken und Tunnelbauwerke versprachen in den Zentren von Ostberlin, Halle oder Chemnitz eine moderne Zukunft. Mit unterschiedlichen Ausprägungen und Vorzeichen war der Straßenverkehr systemübergreifend: als ­Rhetorik der Moderne. Die bemerkenswerte Variante einer Parkway-Adaption findet sich in Mannheim, wo mit dem Ausbau des Rheinbrückenkopfs in „eine leistungsfähige Großverkehrs­ anlage“ der ehemalige Park des kurfürstlichen Schlosses, der bereits durch eine Eisenbahntrasse stark beeinträchtigt war, mit gewundenen Schnell- und Stadtstraßen durchzogen wurde, ergänzt durch separierte Rad- und Gehwege. 22 Brückenbauwerke garantieren „absolute Kreuzungsfreiheit“ und damit einen ungehinderten Verkehrsfluss aller Beteiligten auf in Grün eingebetteten Fahrspuren mit reizvollen Ausblicken auf Park, Schloss und Rhein – man kann das aus der Zeit heraus durchaus als demokrati­ sches Verkehrsverständnis deuten.41 Vor allem aber ist das landschaftliche Verständnis deutlich, mit dem das Verkehrsbauwerk äußerst sinnfällig in den englischen Land­ schaftsgarten eingeflochten wurde. Bewegung, die ja im Landschaftsgarten per se auch eine motivische Rolle spielt, fand hier ihre zeitgenössische Entsprechung, indem 40 LAB B Rep. 009/81: VII C 1: Untersuchung über den Schnellstraßenring zwischen Hohenzol­

lerndamm und Sonnenallee, vom 29.12.1955, 110 Seiten, hier S. 2. Zit. nach: Ural Kalender: Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins. Köln 2012, S. 372, Anm. 94. 41 Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968, Essen 1970, S. 379 f.

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13  Das Anschlussbauwerk im Mannheimer Schlosspark. 22 Brückenbauwerke sorgen für eine kreuzungsfreie Überlagerung von Straße, Rad- und Gehwegen. Luftbild 1968. Veröffentlichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970.

der Automobilverkehr in das Wegenetz integriert wurde und damit eine Antithese zu der durchtrennenden Wirkung der benachbarten Eisenbahn aufbaute. In Saarbrücken wurde schließlich die Stadtautobahn entlang des Saarufers als visu­ elles Erlebnis inszeniert, nachdem das Saarland erst am 1. Januar 1957 in die damalige Bundesrepublik eingegliedert worden war. Als ‚Geschenk‘ der Bundesrepublik kam dem monumentalen Straßenbauwerk als sichtbares und erlebbares Symbol des Fortschritts eine eminent politische Bedeutung zu. Eine enorme Fläche des einst dicht bebau­ ten Stadtzentrums wurde für die Trassenführung freigeräumt und das kreisförmige

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14  Die Stadtautobahn in Saarbrücken. Luftbild um 1968 (Ausschnitt). Veröffentlichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970.

Anschlussbauwerk bildet eine markante Figur im Stadtgrundriss.42 Die gegenüberlie­ gende Berliner Promenade, wie sie 1969 mit ihrem eleganten Schwung auf einer Post­ karte abgebildet wurde, machte dies ganz im Sinne der verkehrsgerechten Stadt auch für Fußgänger erlebbar. Die Parkplätze wurden mustergültig unter den Hochstraßen, in diesem Fall unter der Promenade untergebracht. Die in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 beschriebene Orientierung zur Saar war auch eine Orientierung zur Autobahn.43 Die prototypische bürgerliche Flaniermeile bot ein Panorama von Moder­ nität und wirtschaftlicher Prosperität, gesäumt von modernen Verwaltungsbauten mit ebenerdigen Geschäfts- und Restaurantnutzungen. Auch neue Kulturbauten, etwa die Kongresshalle, wurden konsequent entlang des Flussufers gebaut. Und selbst kleinere Städte machten hier in den späten 1960er-Jahren keine Aus­ nahme, selbst wenn sie keine akuten Verkehrsprobleme aufwiesen, wie die Univer­ sitätsstadt Marburg. Hier wurde entlang des Flussufers eine riesige und in Teilen aufgeständerte Schnellstraße realisiert, an der einerseits die Neubauten der Post, der 42 Ein motivisch vergleichbarer überlagerter Kreisverkehr wurde von Friedrich Tammss mit dem

„Verteilerbauwerk Seestern“ bei der Stadtautobahn in Düsseldorf realisiert, bei der Teilortsum­ gehung in Bonn, oder 1955 in Berlin bei den Vorplanungen zum Anschluss der Berliner Stadtau­ tobahn an die AVUS geplant, dort allerdings in einem landschaftlichen Kontext. 43 Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968. Essen 1970, S. 362.

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Geisteswissenschaftlichen Fakultä­ ten und der Universitätsbibliothek als Monumente einer städtischen Moder­ nisierung aufgereiht wurden und ande­ rerseits die Silhouette der mittelalter­ lichen Stadt autogerecht als visuelles Erlebnis inszeniert wurde. In den USA wandte sich schon in den frühen 1960er-Jahren mit Donald Appleyard, Kevin Lynch und John R. Myer ein renommiertes Autorenteam am Massachusetts Institute of Techno­ logy (M. I. T.) einem weiteren Potenzial der Stadtautobahnen zu, das über die funktionalen und ikonischen Qualitä­ 15  Die Berliner Promenade in Saarbrücken ten der Ingenieurbauwerke hinausging gegenüber der Autobahn. Postkarte 1969. und eine ästhetische Neucodierung for­ derte: Bezug nehmend auf die visuellen und emotionalen Erlebnisqualitäten der Parkways untersuchten sie systematisch die spezifischen visuellen und wahrneh­ mungstechnischen Qualitäten, die aus der Verbindung von automobiler Bewe­ gung und Straßenführung entstanden. Kernthese war, dass die geschwunge­ nen und in den Höhen differenzierten Fahrbahnen es ermöglichten, die umlie­ gende Stadt wie aus einem Kinosessel heraus zu erleben, und damit einen gran­ diosen visuellen Erlebnisraum schufen. 16  Die innerstädtische Schnellstraße in Marburg 1964 publizierten sie ihre Studie unter mit angrenzenden Post- und Universitätsbauten. dem Titel The View from the Road. Die Das von Johannes Möhrle entworfene Postamt Marburg von 1976. Fotografie von Gabriele Peé-Seidel. grafischen Notationen und Analysen der Stadtautobahn in Boston beschreiben ähnlich einem Storyboard exemplarisch eine visuelle und emotionale Choreografie. Auf Seite drei der Einleitung lesen wir: „Roadwatching is a delight, and the highway is – or at least might be – a work of art. [...] The view from the road can be a dramatic play of space and motion, of light and texture, all on a new scale.“44 44 Donald Appleyard / Kevin Lynch / John R. Myer: The View from the Road. Cambridge Mass.

1964, S. 3.

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Mehr noch, das Auto mit seinen bequemen Sesseln und seiner hohen Geschwindigkeit, so folgerten die Auto­ ren, ermöglichte es durch die reibungslosen Fahrten auf Stadtautobahnen in vielen Fällen innerhalb der immer weiter ausgedehnten Siedlungen erstmals wieder, über­ haupt so etwas wie stadträumliche Zusammenhänge wahr­ zunehmen. Der Umkehrschluss war eine klare Forderung, beim Bau innerstädtischer Schnellstraßen eine architek­ tonische und visuelle Choreografie durch entsprechende Trassenführung und akzentuierende Bebauung herzustel­ len und den Stadtautobahnbau als eine baukünstlerische 17  Notationen von Aufgabe aufzufassen: Die Schnellstraße als ordnendes Donald Appleyard, Kevin Lynch und John R. Myer Kunstwerk war eine architektonische Aufgabe. In der zum visuellen Erleben Realität – und das zeigt diese Studie deutlich – war die von Boston durch die Planung der Stadtautobahnen meist die Aufgabe von Stadtautobahnen, aus: The View from the Road, 1964. Technikern. Stadträumliche und baukünstlerische Fragen kamen daher in sehr unterschiedlichem Maß zum Tragen und hatten nicht immer die Qualität, die Giedion in den Parkways um New York vorfand. Eine derart explizite Auseinandersetzung mit der automobilen Wahrnehmung, wie sie von Appleyard, Lynch und Myer vorgenommen wurde, war in Deutschland zu dieser Zeit nicht erkennbar, ein entsprechender Text Appleyards zur Bewegung in der Stadt erschien allerdings 1969 in deutscher Überset­ zung.45 Dennoch zeichnete sich in etlichen Beispielen ein vergleichbares Verständnis panoramatischen Sehens und visueller Dramaturgie ab. Auch in Berlin finden sich aus diesen Jahren neben der aufwendigen visuellen und räumlichen Inszenierung des Rathenauplatzes im Kontext der Stadtautobahn zunehmend Hochbauten, die explizit auf automobile Bewegungs- und Wahrneh­ mungsweisen bezogen waren. Ein Beispiel ist die rund 950 Meter lange Rudolf-Wis­ sell-Brücke, die nach dreijähriger Bauzeit 1961 dem Verkehr übergeben wurde.46 Sie hebt die Autofahrer in weitem Bogen sanft in einer Höhe von 16 Metern über den Landschaftsraum der nordwestlichen Spree und macht damit erstmals jenes Berliner Urstromtal erlebbar, mit dem schon 1946 der Kollektivplan begründet wurde. Sogar auf 45 Donald Appleyard: Bewegung, Abfolge und Stadt. In: Gyorgy Kepes (Hg.): Wesen und Kunst

der Bewegung. Brüssel 1969.

46 Der zunächst als Nordbogenbrücke geplante Straßenabschnitt der A100 wurde 1963 nach dem

Politiker Rudolf Wissell benannt. Zum Brückenbauwerk siehe H. Heusel: Das Brückenbauwerk Nordwestbogen in Berlin, in: Der Bauingenieur 5, 1959, S. 169; Elmar Oehm (Hg.): Stadtau­ tobahnen, Planung Bau Betrieb, Wiesbaden und Berlin, 1972, S. 376–377; Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen (Hg.): Berliner Brücken. Berlin 1991, S. 40.

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18  Die Rudolf-Wissel-Brücke (Nordbogenbrücke). Zeichnung der Vogelschau um 1957

Brückenaufbauten wurde verzichtet und das Bauwerk als Spannbetonbrücke auf nur 12 Stützen aufgelagert, sodass der Blick ungehindert über die Landschaft gleiten kann. Auch der Flughafen Berlin-Tegel, der 1966 aus einem Wettbewerb hervorging, kann als ein Bauwerk betrachtet werden, das sich nahtlos in eine derartige visuelle Choreografie automobilen Erlebens einbinden lässt.47 Errichtet im Anschluss an die Rudolf-Wissell-Brücke, wurde mit dem Flughafen Tegel der erste Drive-in-Flughafen in Deutschland realisiert. Damit folgten die Architekten Vorgaben einer autogerechten 47 Der offene Wettbewerb für Architekten der Bundesrepublik, Westberlins und der Staaten der

EEC und EFTA wurde im Mai 1965 ausgelobt. 68 Arbeiten wurden bis zum 15. November eingereicht, die international besetzte Jury tagte unter Regie von Senatsbaudirektor Werner Düttmann im März 1966 und prämierte den Entwurf des jungen Büros von Gerkan, Marg und Partner. Vgl. Berliner Flughafen-Gesellschaft (Hg.): The New Terminal Area of the Ber­ lin-Tegel Airport. Result of a Competition. Berlin 1967.

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Verbindung von Straßen und Luftverkehr, die wenige Jahre zuvor von der Lufthansa ent­ wickelt wurden.48 Der sechs­ eckige Flugsteigring  – ins­ gesamt zwei davon waren vorgesehen – wurde nicht aus­ schließlich über das zen­trale Terminal erschlossen: Eine zweigeschossige „Schnellvor­ fahrt“, so die Bezeichnung im Erläuterungsbericht, ermög­ lichte es, direkt vor den jewei­ ligen Abfertigungsschalter zu fahren.49 Eine vergleichende Studie der TH Braunschweig wies 1967 nach, dass im besten Fall etwa 40 Meter zwischen Auto und Gate zu überwinden waren.50 In keinem anderen Flughafen dieser Größe wurde 19  Vorfahrt 1974. der intermodale Wechsel der­ art verkürzt. Die Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg inszenierten diesen Mobi­ litätswandel vom Boden in die Luft und umgekehrt durch eine Folge architektoni­ scher Motive. Es war ein besonderer Glücksfall, dass die Architekten den Flughafen tatsächlich bis ins letzte Detail planen und mit diesem ersten Großbau ihres noch sehr jungen Büros ein Verkehrsbauwerk von außergewöhnlich hoher funktionaler und ästhetischer Qualität schaffen konnten.51

48 Vgl. Günther Kühne: Einen Flughafen planen, in: Bauwelt 23, 1964, S. 649–654, hier: S. 649;

Hans Süssenguth: Das Drive-in-Flughafen-Projekt der Lufthansa, in: Bauwelt 23, 1964, S. 658. Die Ausschreibung sah sogar den vollständigen Verzicht auf einen U-Bahn-Anschluss vor. Stattdessen sollten 45 % der Fluggäste mit Bussen, 25 % mit Taxen und 30 % mit dem eigenen Wagen kommen. Bauwelt 1966, Heft 22, S. 659. 49 Zit. nach: Bauwelt 22, 1966, S. 651. 50 Technische Hochschule Braunschweig (Hg.): Flugempfangsgebäude. Ein Forschungsbericht. Lehrstuhl Professor Z. Strizic, Mitarbeit Renate Koschel. Braunschweig 1967, S. 47f. 51 Günther Kühne betonte die ästhetische Durchbildung des Flughafens, die ganz auf den rei­ bungslosen Verkehrsfluss ausgerichtet sei. Bauwelt 45, 1974, S. 1479.

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20  Querschnitt des Terminals A, um 1972.

Die Annäherung an den Flughafen Tegel beginnt mit einem Eintauchen: Der Abzweig der Stadtautobahn führt durch einen abgesenkten Tunnel unter der Ver­ teilerrollbahn hindurch in das Flughafenareal. Wenngleich dieses Motiv der Überla­ gerung von Straße und Rollbahn sein Vorbild im New Yorker John F. Kennedy Air­ port hat und auch in Paris-Orly zum Einsatz kam, bekam es in Tegel eine besondere Qualität durch die dynamisierende Bewegung des Eintauchens und die Gestaltung des Tunnels; vor allem aber scheint während der Anfahrt das Terminalgebäude selbst für einen Moment auf der Rollbahn zu stehen. Mit seinem abgeschrägten Kopfende und den Bandfenstern zeigt es zudem eine auffallende motivische Verwandtschaft zu einem Verkehrsflugzeug: auf Stützen gelagert, mit einer weit zurückgesetzten und verschatteten Erdgeschosszone scheint es über der Verkehrsebene zu schweben und ist durch die gestaltete Untersicht als aufgeständerter Körper zu lesen, vergleichbar mit einem Flugzeug mit ausgefahrenem Fahrwerk. Im Inneren des Flughafens folgt die Transformation des Reisenden vom Boden in die Luft über eine Folge dynami­ sierender Bewegungsräume. Im Terminal ist es das städtisch-transitorische Motiv der Passage, an dessen Enden die beiden Flugsteigringe angeschlossen werden sollten. In den Flugsteigringen und Wartezonen wird durch das stets präsente Dreiecksraster und die diagonale Anordnung des Mobiliars eine permanente visuelle und physi­ sche Dynamisierung erzeugt. Der Zugang zur Gangway thematisiert den fließenden Systemwechsel architektonisch: Die Fassaden zur Rollbahn bestehen ausschließlich aus raumhohen kunststoffbeschichteten Paneelen, die mit ihrer engen Reihung ver­ tikaler Softline-Fenster motivisch auf die unmittelbar davor aufgereihten Flugzeuge

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21  Softline-Fenster zum Flugsteig. Architektonische Thematisierung des intermodalen Wechsels.

bezogen sind. Der Mobilitätsraum des Städtischen und der Mobilitätsraum der Luft begegnen sich im Flughafen, die Bewegungsformen ändern sich, der fliegende Ver­ kehr wird sukzessive zum fließenden und umgekehrt. Auch deshalb gleicht im Sinn einer Übertragung von Bewegungsideen im Anschluss die Autofahrt auf der Stadtautobahn über die weitläufig geschwungene Rudolf-­ Wissell-Brücke einem Einflug in die Stadt (vgl. Abb. 18). Untrennbar mit Stadtauto­ bahn und Flughafen verbunden ist das Internationale Congress Centrum (ICC), das in seiner heutigen Gestalt um 1969 von Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte entwor­ fen und nach langer Planungs- und Bauzeit schließlich 1979 eingeweiht wurde. Wie auch der Flughafen in Tegel verfügt das ICC nicht nur über einen direkten Anschluss

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an die Stadtautobahn, sondern ist auf eine vorrangige Erschließung durch Pkw ausgelegt, die von der Autobahn und dem Messedamm abzweigen und auf der ganzen Länge durch das Gebäude geführt werden. Ein unterirdi­ scher Autobahnhof ermöglicht am Kopfende die Abfertigung von 1.600 Fahrzeugen in der Stunde; über Rolltreppen sollten die Besucher von unten zum Haupteingang des Gebäudes gebracht werden. Die Erschließung war damit primär auf die über die Stadtautobahn kom­ menden Pkw konzentriert. 22  Das Internationale Congress Wie auch in Tegel, so wurde im ICC die Idee der Bewegung zum tragenden räumli­ Centrum (ICC) Berlin. Blick aus Norden von der Autobahn. chen Element: Die fließende Bewegung der Automobile setzt sich im Inneren des rund 300 Meter langen Gebäudes durch eine Folge stark dynamisierter Räume fort. Ein zent­ raler ‚Boulevard‘ sammelt die Besucher auf der Eingangsebene und führt sie in Längs­ richtung durch das Gebäude, analog und in räumlicher Folge zu der automobilen Erschlie­ ßung. Durch das eigens von dem Lichtkünst­ ler Frank Oehm gestaltete Leit- und Orien­ tierungssystem werden sie von dem Boule­ vard aus auf kurzen Wegen im Haus verteilt. 23  Das Internationale Congress Fließende Bewegung und Kommunikation Centrum (ICC) Berlin. Grundrisse aus wurden räumlich und visuell inszeniert. Bis der Publikation in der Bauwelt. Verkehrshin zur Leselampe der Kongresssessel fast im einbindung und Grundriss Autogeschoss, Erdgeschoss mit Boulevard Sinne eines Gesamtkunstwerks gestalteten die Architekten das gewaltige Bauwerk als einen originären Entwurf, der sich im Sinne des Grundthemas in vielen Punkten an der Logik und Ästhetik von Großflughäfen orientiert. Als Identität stiftendes Bauwerk für eine internationale Öffnung Westberlins fügt sich der Großbau des Kongresszentrums in die großmaßstäbliche Verkehrslandschaft des AVUS-Knotens ein. Derart exponiert und auf die Bewegungsströme der Stra­ ßen bezogen, übernahm das ICC, so postulierte 1979 der Kunsthistoriker Helmut Börsch-Supan, „eine ähnliche Funktion wie das Brandenburger Tor einst“.52 Städte­ baulich markiert das ICC als Point de Vue das Ende der AVUS. Es erscheint für die 52 Helmut Börsch-Supan: Alexander vor Ecbatane. Bauwelt 7, 1979, S. 705.

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24  Das Internationale Congress Centrum (ICC) Berlin. Innenraumperspektive von Reinhard Boes, um 1974.

von Westen einfahrenden Autofahrer zunächst als silbriger Schimmer am Horizont, bevor zunächst mit dem Fachwerkträger, dann mit den Fassadenelementen immer mehr Einzelformen sichtbar werden. Westberlin empfängt die Besucher mit einem riesigen Bauwerk, das, ganz auf Fernwirkung konzipiert, jenseits des traditionellen architektonischen Kanons angesiedelt ist; ein Bauwerk, das Neugierde weckt und das aus seiner Zeit heraus als ein grandioses Zukunftsversprechen formuliert wurde, indem es rund eine Dekade nach dem Mauerbau eine äußerst großzügige Idee von Austausch und Internationalität städtebaulich und architektonisch manifestierte. Vorgelagert wurde dieser wohl wichtigsten Stadteinfahrt Westberlins allerdings noch ein anderes Bauwerk: die Raststätte Dreilinden, die 1968–1972 nach Plänen des Chefarchitekten der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Gerhard Rai­ ner Rümmler als Ensemble aus zwei Tankstellen, einer Ausflugsgaststätte und einer Polizeistation am Transitübergang Dreilinden errichtet wurde. Mit seiner markanten Rundform, der kräftigen Farbgebung und der auf Fernwirkung konzipierten Erschei­ nung sowie den beiden die Straße flankierenden Tankstellen ist die Anlage eines der wenigen bedeutenden Beispiele von Pop-Art-Architektur der Bundesrepublik. Durch die architektonischen Details und die starke, auch im Inneren fortgeführte Farbigkeit wurde dem Bauwerk die in die Architektur eingeschriebene martialische Wirkung genommen; vielmehr markierte es als fröhliche architektonische Plastik den

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Stadteingang Westberlins. Eine Besucherterrasse und ein Panoramarestaurant inszenierten den ein- und ausströmen­ den Verkehr als visuelle Attraktion, das Ausflugsrestaurant und die Plattform wurden über eine Betonbrücke von einem höher gelegenen Parkplatz aus erschlossen. Verkehrsbeobachtung war auch das Thema des ebenfalls leuchtend roten Turmbauwerks, das am Kreuzungspunkt des neu errichteten Verbindungsstücks der Stadtauto­ bahn mit der als Einkaufsstraße beliebten Schloßstraße in Steglitz ebenfalls nach Plänen der ICC-Architekten 25  Raststätte Dreilinden zwischen 1972 und 1976 errichtet wurde – zusammen mit von Gerhard Rainer dem zweigeschossigen U-Bahnhof. Als weithin sichtba­ Rümmler als Markierung des Stadteingangs von rer Orientierungspunkt erhebt es sich über die Autobahn Westberlin. hinaus und ermöglicht durch die geneigten Fenster mit ihren dahinter angeordneten Sitznischen einen fast schon intimen Panoramablick über die Kreuzung und den nahe gelegenen Autobahnkreisel. Die Nutzung als Bar und Restaurant war den Architekten fast zweitrangig, ihnen schwebten verschiedenste öffentliche Nutzungen vor, die aber alle den Ausblick auf die Straße ermöglichen sollten.53 Dennoch vollzog sich auch in Berlin Anfang der 1970er-Jahre ein Umdenken im Verhältnis zur Dominanz des Autoverkehrs und der Stadtautobahnen. Emissionen und Flächenverbrauch, aber auch die trennende Wirkung der Trassen wurden ange­ sichts des Verkehrszuwachses und der begrenzten Stadtfläche als negative Begleit­ erscheinungen der Motorisierung wahrgenommen. Vor allem die scheinbar unver­ meidliche offene Trassenführung durch Wohngebiete stieß zunehmend auf Kritik durch Anwohner und Stadtplaner. Der dadurch ausgelöste Sinneswandel zeigte sich beim Bau des Autobahnabzweigs Schmargendorf mit seiner seit 1955 geplanten und 1958 beschlossenen Trassenführung über den Breitenbachplatz. Im Anschluss sollte die Autobahn auf einem sechs Meter hohen Damm über ein ehemaliges Kleingartenge­ lände geführt werden – eine erhebliche Beeinträchtigung der angrenzenden bürger­ lichen Wohnquartiere. 1971, der Damm war schon aufgeschüttet, entschloss sich die Berliner Immobilien- und Baufirma Ernst Mosch zu dem ungewöhnlichen Projekt der Überbauung eines etwa 600 Meter langen Teilstücks der Autobahn parallel zur Schlangenbader Straße. Die Autobahn wurde hier in zwei neben­einanderliegenden Tunnelröhren mitten durch ein gigantisches Haus mit rund 1.700 Wohnungen gelei­ tet. Architekten dieses weltweit einmaligen Projekts waren Georg Heinrichs und Dieter Krebs, die 1971 erste Entwürfe lieferten und die Anlage bis 1980 fertigstellten, 53 Vgl. Institut der Gesellschaft für Kommunikationsplanung und Versammlungsstättenforschung

mbH (Hg.): Informationsschrift zum Turmbauwerk in Steglitz, Berlin 1976.

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26  Der Verkehrsknotenpunkt Schloßstraße mit Turmrestaurant. Luftaufnahme von Horst Siegmann im August 1977.

zunächst unter dem klangvollen Namen „Wohnpark Wilmersdorf“.54 Wirtschaftliches Ziel war es, den Luftraum über der Autobahn zu bebauen und den Mehraufwand durch die extrem hohe Ausnutzung des Grundstücks auszugleichen. Eine Strategie, die hier modellhaft erprobt werden sollte und auch für andere Berliner Standorte vorgesehen war.55 Ideengeschichtlich vereinte die Autobahnüberbauung die Utopie der „Straße im Haus“, die seit den 1920er-Jahren die architektonische Avantgarde beschäftigte mit Versuchen, durch Straßenüberbauung städtischen Raum zu generieren und Emis­ sionen einzudämmen. Die Architekten orientierten sich dabei unmittelbar an der zwischen 1967 und 1971 im Auftrag der Ford Foundation in New York entstandenen Studie des Architekten Paul Rudolph zur Überbauung des bis in die 1960er-Jahren von Robert Moses projektierten und letztlich unrealisiert gebliebenen Lower Manhattan 54 Vgl. DEGEWO (Hg.): Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Ein Bauvorhaben der

DEGEWO, Berlin (1980) o. J.; Ernst Seidel und Wolf Bertelsmann: Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Vom Abenteuer, das Unmögliche zu wagen... Berlin 1990. 55 Bauwelt 24, 1972; Bauwelt 31, 1976; zur kritischen Aufnahme des Projekts s. Bauwelt 18, 1981.

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27  Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin-Wilmersdorf.

Expressway. Der Bau der gewaltigen Autobahn zwischen der Williamsburg Bridge und dem Holland Tunnel sollte nach den Plänen von Robert Moses zu einer Aufwertung Manhattans führen, zu einer verkehrlichen Anbindung des Central Business Districts und einer Verdrängung mittelloser Bevölkerungsschichten. Nicht selten waren Stadtautobahnen nach dem Erlass des neuen Housing Act 1949 in der Koppelung mit den Slum-Clearance-Programmen ein bedeutendes Mittel für eine radikale städtebauliche und soziale Neuordnung der Innenstädte. Verwahrloste Viertel wurden zugunsten von Schnellstraßen, Parkflächen und neuen Wohnhäusern flächendeckend abgerissen.56 Nachdem es in New York bereits beim Bau des Cross Bronx Expressway heftigen Widerstand seitens der Bevölkerung gegeben hatte, gelang es, den Lower Manhattan Expressway durch gut organisierte Bürgerproteste zu ver­ hindern – unter maßgeblicher Mitwirkung von Jane Jacobs, die 1961 mit ihrem Buch The Death and Life of Great American Cities jenes Umdenken formuliert hatte, das mit einer Sensibilisierung für stadträumliche und soziale Zusammenhänge verbunden war.57 56 Friedrich Lenger: Urbanisierung als Suburbanisierung – Grundzüge der nordamerikanischen

Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Friedrich Lenger / Klaus Tenfelde (Hg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion. Köln / Weimar / Wien 2006, S. 464. 57 Robert A. Caro: The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York, New York 1975, S. 839–843; 859–894.

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28  Paul Rudolphs Studie einer Überbauung des nicht realisierten Lower Manhattan Expressway. Abschnitt zum Holland-Tunnel. Kolorierte Schnittzeichnung um 1970 aus „The Evolving City“.

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Angesichts dieses grundlegenden Stimmungswandels kann Rudolphs Studie als Versuch der Automobilindustrie gewertet werden, eine stadtverträglichere Einbin­ dung der Autobahn vorzunehmen: durch eine differenzierte, aber nahezu vollständige Überbauung und punktuelle Verknüpfung mit anderen Verkehrssystemen. Wenngleich die Bedingungen in Berlin grundlegend andere waren, so entstand mit der Auto­ bahnüberbauung Schlangenbader Straße das weltweit einzige Beispiel einer derarti­ gen Integration der Straße im Haus. Wie auch in Paul Rudolphs Plänen wurde die Straße als gewaltiges Bauwerk überhöht und weithin sichtbar als Monument ihrer selbst im Stadtbild verankert. Der segmentartige Aufbau der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße legt nahe, dass eine Verlängerung grundsätzlich angedacht war. Wie an einer Perlenkette reihen sich die hier vorgestellten, zwischen 1957 und 1980 fertiggestellten Bauwerke entlang der Berliner Stadtautobahn auf und spiegeln das sich wandelnde Wechselverhältnis von Stadt und Stadtautobahn wider. In allen Fällen wurde der Autobahn eine wichtige Bedeutung beigemessen. In den 1950er-Jahren war sie ein begeistert begrüßtes Symbol des Fortschritts und Gegenstand einer Sehnsucht nach einer neuen Stadt. In den 1960er-Jahren kam ihr im Selbstverständnis Westber­ lins eine besondere Rolle zu, die mit der fließenden Mobilität das Versprechen von Internationalität verband. Der Flughafen Tegel und das ICC sprechen beide dafür, aber auch die vielen städtebaulichen Projekte, die in Berlin in Erwartung künftiger Trassenführung konzipiert wurden und teilweise explizit auf die projektierten Stra­ ßen bezogen waren, darunter die Staatsbibliothek am Kulturforum oder die Wohn­ bebauung am Mehringplatz.58 Die Autobahn war Teil der Stadtplanung, aber auch einer Inszenierung, die von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Im SPIEGEL war 1966 etwa über Westberlin zu lesen: „Glitzerding, [...] diese neuer­ standene Muster-City mit Stadtautobahnen, Superhotels und kühner Architektur wie Brasilia, in die man westdeutsche Primanerklassen und afrikanische Notabeln schickt, damit sie des deutschen Elends innewerden, ehe sie [...] im ‚Eden-Playboy‘ Jerk tanzen [...] oder im ‚Coupé 77‘ versacken“.59 Das Beispiel Westberlins macht in besonders eindrücklicher Weise deutlich, dass mit dem Bau der Stadtautobahnen nicht nur eine Bündelung und Kanalisierung automobiler Verkehrsströme verbunden war, sondern auch eine visuelle Choreografie, die in der Bewegung das Bild einer modernen und durch spektakuläre Großbauten geprägten Stadt vermittelte – wenngleich sie nicht in allen Details in diesem Sinne 58 Die unter der Regie von Werner Düttmann 1968 bis 1975 umgesetzte Wohnbebauung am

Mehringplatz transformierte den einstigen Verkehrsplatz in einen Wohnplatz, indem sie den Verkehr außen am Platz vorbei führte und das Rondell zum Mittelpunkt einer hohen Wohnbe­ bauung machte, an deren geschlossener Nordseite die Trasse der Stadtautobahn als Hochstraße mit einem Anschlussbauwerk an die Friedrichstraße verlaufen sollte. Die Hochhauszeile wurde damit als Lärmschutzwand konzipiert. 59 DER SPIEGEL 41, 1966, S. 43.

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29  Hauptverkehrsbänder mit zusätzlichen tertiären Schwerpunkten. Zeichnung Stadtplanungsamt Düsseldorf.

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geplant wurde, so ergibt die Vielzahl der mit der Autobahn untrennbar verbunde­ nen Hochbauten ein facettenreiches Panorama der Moderne, das in seiner Inszenie­ rung der Stadt durchaus Aspekte der von Appleyard, Lynch und Myer geforderten Gestaltung aufweist. Ein frühes Beispiel einer dezidierten Inszenierung der Stadt durch Schnellstraßen stellt in der Bundesrepublik der ab 1948 umgesetzte Stadtumbau von Düsseldorf dar, der maßgeblich durch den Leiter des Stadtplanungsamts Friedrich Tamms umgesetzt wurde. Tamms, einst im Planungsstab von Albert Speer für Autobahn- und Brücken­ bauten verantwortlich, erhielt in Düsseldorf umfangreiche Planungsbefugnisse und war deshalb in der Lage, seine Vorstellungen einer grundlegenden Erneuerung der Stadt durchzusetzen: Weitläufige, großzügig geschwungene Stadtautobahnen und drei moderne Rheinbrücken bildeten künftig das Gerüst seiner Neuordnung der Stadt als modernes Wirtschaftszentrum. Tamms begriff die Stadtautobahnen im Rahmen einer verkehrlichen Neuordnung als Bedingung für eine positive wirtschaftliche Entwicklung der Stadt: „Das Zusammenspiel von Wirtschaft und Verkehr ist die Vo­raussetzung für das Leben in der Gemeinschaft.“ Vor allem aber sah er im Verkehr auch ein ästhetisches Erlebnis. Nicht umsonst hob er in dem einleitenden Kapitel der Publikation zur Düsseldorfer Stadtautobahn unter dem Titel „Verkehr und Gestal­ tung“ die gestaltbündelnde Kraft der Autobahnen für die Wahrnehmung der Stadt hervor. Diese „gliedern das Stadtgebiet und lockern es auf. Sie sind einprägsam und erleichtern die Übersicht. Richtig angelegt bilden sie ­eindrucksvolle Stadteinfahr­ ten.“60 Die Verbindung von fließendem Verkehr, Hochstraßen und ­„Hochhäuser[n] als städ­tebauliche[n] Dominanten“ schuf die Möglichkeit, eine moderne Stadtsilhouette zu kreieren, die komfortabel und dynamisch aus dem Automobil heraus zu erleben war.61 Tamms' Buch zur Stadtautobahn stand in einer Reihe von sorgfältig editierten Publikationen, in denen er Düsseldorf und die Stadtautobahnen in sorgfältig kom­ ponierten Schwarz-Weiß-Fotografien als ästhetisches Erlebnis inszenierte und das neue Image der Stadt eindrucksvoll ins Bild setzen ließ.62 Zentrum dieser Inszenie­ rung Düsseldorfs als neues und modernes Wirtschaftszentrum bildete die elegante „Hochstraße nach amerikanischem Vorbild“, die entsprechend dem Leitplan von 1957

60 Friedrich Tammss: Stadtautobahn Düsseldorf. Bad Godesberg 1960, S. 9. 61 In der Einleitung zu der Darstellung der städtebaulichen Planungen in Düsseldorf seit 1945

wurde um 1960 vermerkt: „Hochhäuser auf Abstand als städtebauliche Dominanten bilden dort, wo für den ruhenden Verkehr genügend Parkraum verfügbar ist, neue Schwerpunkte.“ Siehe: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung e. V., Köln (Hg.): Deutscher Städtebau nach 1945. Essen 1961, S. 122. 62 Vgl. Stadt Düsseldorf (Hg.): Das neue Düsseldorf. Stationen einer Wandlung. Düsseldorf 1957 (unter maßgeblicher Mitarbeit von Tamms). Friedrich Tamms: Düsseldorf: Work-Play-and Planning. Düsseldorf und Wien 1966.

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Anfang der 1960er-Jahre über den zentralen Jan-Wellem-Platz geführt wurde.63 „In dieser großen offenen Raumform“, so formulierte es Tammss, „steht nun der Tausendfüss­ ler. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß eine solche großarchitektonisch-rhythmi­ sche Form wohltuend für diesen Raum sei.“64 Die Hochstraße war Teil einer aufwendi­ gen Separierung der Verkehrssysteme. Wäh­ rend Straßenbahnen, Fußgänger und ein Teil des Autoverkehrs ebenerdig geführt wurden, lenkte Tamms den von Norden kommen­ den Autoverkehr in großem Bogen über den Platz, die Hochstraße selbst gestaltete er als elegantes und filigranes Verkehrsbauwerk. Erstmals, nicht nur in Düsseldorf, kam es zu einer auffallend plastischen Gestaltung der Straßenuntersicht, wie Fritz Leonhard hervorhob.65 Das einfache Wellenprofil für die zweispurigen Teile der Jan-WellemPlatz-Brücke und das Doppel-Wellen-Profil 30  Fotografische Inszenierung von für den 4-spurigen Teil ermöglichten eine Hochstraße und Hochhaus, um 1963. filigrane Ausbildung der Randbereiche, vor allem aber eine Übertragung des Motivs flie­ ßender Bewegung auf den städtischen Raum unter der Hochstraße. Verglichen mit den anderen Brücken- und Hochstraßenbauten dieser Zeit, auch den von Friedrich Tamms geplanten Beispielen in Düsseldorf, war diese Modellierung und die damit verbundene Einpassung in die Stadt beispiellos. Um die Wirkung des Bauwerks zu überprüfen, wurde schließlich 1960 nicht nur ein großformatiges Modell der gesamten Platzsituation mit Hochhaus und Hochstraße gebaut, sondern auch ein 1:1-Modell 63 Bernd Kreuter: Auf dem Weg in die autogerechte Stadt. In: Susanne Anna (Hg): Architek­

tenstreit. Wiederaufbau zwischen Kontinuität und Neubeginn. Düsseldorf 2009, S. 146.

64 Friedrich Tammss in der Begründung für den Bau der Hochstraße, vorgetragen im Juni 1959

vor dem Rat der Stadt Düsseldorf [Bestand des Düsseldorfer Brückenbauamtes im Stadtar­ chiv Düsseldorf, Signatur IV 20590, Aktenzeichen 8075: Bauwerksakte Hochstraße Jan-Wel­ lem-Platz von Oktober 1957–Februar 1965, lfd. Nr. 14], zit. n.: Axel Föhl: Rheinisches Amt für Denkmalpflege: Gutachterliche Stellungnahme zum Denkmalwert vom 8.10.1991, S. 5. Axel Föhl sei an dieser Stelle für die freundlichen Informationen gedankt! 65 Fritz Leonard war zur Erbauungszeit Gutachter und Berater für die Hochstraße. Siehe Brief von Fritz Leonard vom 27.8.1991, zit. nach Axel Föhl ebd. S. 7.

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31  1:1-Modell der Hochstraße auf dem städtischen Bauhof zur Überprüfung der Untersicht, um 1960.

eines Abschnitts der Hochstraße auf dem Betriebshof des Straßenbauamtes errichtet. Deutlich wird nicht nur, wie leicht die Elemente der Y-Stütze und der Doppelwelle zusammenspielen, sondern auch, dass die später in der Ausführung gewählte horizon­ tale Bretterschalung mit ihren breiten Längs- und kurzen Stoßfugen die Horizonta­ lität des Bauwerks eindrucksvoll unterstreicht. Zusammen mit der schachbrettartig gegliederten Pflasterung und der Anordnung der Straßenbahnhaltestellen unter der Hochstraße gelang es den Planern, das Bauwerk aus der Fußgängerperspektive als eleganten städtischen Parasol wirken zu lassen. Der Paradigmenwechsel der städtischen Identität wurde nicht nur mit dem Bau der Hochstraße und der Neugestaltung des Jan-Wellem-Platzes inszeniert. Zentraler Teil

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des Ensembles war das neue Verwaltungshochhaus der Phönix-Rheinrohr-AG, das 1955 aus einem Wettbewerb hervorging und 1957–1960 errichtet wurde. Das von dem Architekturbüro Hentrich und Petschnigg entworfene und aufgrund seiner markanten Form auch als Dreischeibenhochhaus bezeichnete Bauwerk war das einzige Hochhaus in der Bundesrepublik, das auch in den USA in zahlreichen Publikationen begeistert aufgenommen wurde und mit seiner eleganten Leichtigkeit scheinbar in dem Land­ schaftsraum am Rande des Hofgartens zu schweben schien.66 Mit der Hochstraße wurde es schließlich immer wieder aus neuen Blickwinkeln inszeniert (vgl. Abb. 30). Tamms gelang es, durch eine geschickte Verknüpfung einzelner Maßnahmen ein beispiellos modernes Stadtzentrum zu realisieren. Weder Rathaus noch Kirche bilde­ ten künftig den räumlichen und visuellen Mittelpunkt der Stadt, sondern Wirtschaft und Verkehr, eingebunden in einen landschaftlichen Kontext. Eben diese Aspekte der Planung wurden auch 1963 in einer ausschließlich dem Verkehr gewidmeten Aus­ gabe der französischen Architekturzeitschrift l´architecture d´aujourd´hui besonders positiv hervorgehoben: der visuelle Rhythmus des Stadtraums, die hohen gestalteri­ schen Qualitäten der einzelnen Bauwerke und der Gesamtanlage.67 Ungeachtet dieser frühen positiven Wertung ist das Ensemble heute zerstört, die denkmalgeschützte Hochstraße wurde 2013 trotz heftiger Proteste abgerissen. Stadtautobahnen und Schnellstraßen waren in den 1950er- und 1960er-Jahren in vielen Städten Deutschlands ein wichtiges städtebauliches Mittel der Neuerfindung städtischer Identität. Die gestalterische Qualität war dabei höchst unterschiedlich, doch international wurde den bundesdeutschen Stadtautobahnen ein ausgesprochen positives Zeugnis ausgestellt. Im viel beachteten und durchaus kritischen Bericht des englischen Verkehrswissenschaftlers Colin Buchanan heißt es mit Blick auf die ­D üsseldorfer Beispiele 1963: „Wir können Deutschland nicht verlassen ohne ein Wort des Lobes über die hervorragende Anlage der neuen Stadtautobahnen und ihre Einfü­ gung in die Landschaft. Dahinter steht bekanntermaßen eine lange Tradition, die von den Vorkriegsautobahnen ihren Ausgang nahm. [...] alles hat Schwung und Linie und zeugt von dem Streben nach Vollkommenheit.“68 Heute gilt es, diese gewaltigen und in vielen Fällen auch problematischen baulichen Anlagen hinsichtlich ihrer architek­ tonischen und kulturgeschichtlichen Qualität nach einer langen Phase der Ablehnung differenziert zu betrachten und zu bewerten. Wie in kaum einer anderen Bauaufgabe zeigen sich in den Stadtautobahnen die kulturellen und politischen Widersprüche der Moderne. Die hier aufgezeigten Beispiele sind Stellvertreter für eine visuelle und 66 Hentrich und Petschnigg ließen sich bei dem Wettbewerb von Gordon Bunshaft, dem New

Yorker Chefarchitekten von SOM, beraten. Damit wurde ein radikaler formaler Wechsel ihrer Architektursprache eingeleitet. Siehe: Henry Russell Hitchcock: HPP Bauten und Entwürfe – Building Projects. Düsseldorf und Wien 1973, S. XIII und S. 19–29. 67 L´architecture d´aujourd’hui 110, 1963, S. 26–29. 68 Colin Buchanan: Verkehr in den Städten. Essen 1963, S. 176.

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räumliche Inszenierung der im Sinne der Moderne auf- und umgebauten Städte, teils mit hohem ästhetischem Anspruch und inszenatorischem Feingefühl. Sie machen aber auch den Wandel von Mobilitäts- und Modernitätsvorstellungen deutlich und schließen damit nicht selten die Kritik an der automobilorientierten Umgestaltung der Städte mit ein. In fast allen Fällen ging es den Planern auch um gestalterische Fragen, selbst in der pragmatischen ingenieurstechnischen Literatur zu Stadtauto­ bahnen wurde Anfang der 1970er-Jahre bemerkt: „Stadtautobahnen sollen ja nicht nur Sammel- und Verteilerschienen für den Verkehr sein, sondern ansehenswürdige Bauwerke in unserer Stadt als Zeichen unserer Zeit und unserer Geisteshaltung.“69

69 Elmar Oehm: Stadtautobahnen. Wiesbaden und Berlin 1973, S. 86.

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Grenze und Autobahn · Transit und Stillstand im kollektiven Gedächtnis1 Marienborn sei der letzte Ort in Deutschland, „den die Bundesrepublikaner fürs Erzählen haben“,2 mutmaßte 1985 der Schriftsteller Thorsten Becker in seinem Debüt Die Bürgschaft. Und weil dem so sei, dürfe die DDR-Regierung, so Becker weiter, die allfällige Nutzungspauschale auch ruhig erhöhen. Die Rede ist von der Transitautobahn – einem Erinnerungsort, der seine Spuren im westdeutschen Kollektiv­ gedächtnis hinterlassen hat. Denn mitnichten ist die Transitautobahn primär ein Erinnerungsort der DDR – auch wenn der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow uns dies glauben machen will.3 Erfahrungsgeschichtlich gehört zum Transit unbedingt die Passage, also jene Trias von Verlangsamung, Stillstand und Übergang, die auch das kollektive Narrativ von der Transitautobahn dominiert. Und diese Erfahrung ist eben eine primär westdeutsche – die mit der Chiffre „Marienborn“ zugleich auch ihren paradigmatischen Erzählort gefunden hat. Die hier bewusst mehrdeutig verstandene Transition transformierte den Charakter einer auf „Freie Fahrt für freie Bürger“ hin verstandenen Autobahn West. Marienborn an der A2 – das steht für mehr als nur einen unfreiwilligen Stopp samt obligatorisch unfreundlichem ostdeutschen Grenzpersonal. Marienborn war eine Schleuse, die dem Bundesbürger andersartige Erfahrungsmöglichkeiten bot. Die ehemalige Grenzübergangsstelle Helmstedt-Marienborn war einer von sechs Grenzpunkten und als größte und wichtigste ihrer Art der Hauptknotenpunkt des West-Ost-Transits nach Berlin. Zwischen 1972 und 1989 wurden jährlich Millionen von Reisenden und Berufskraftfahrern von Zoll- und BGS-Beamten auf westdeutscher sowie Angehörigen der DDR-Grenztruppen und der Staatssicherheit auf ostdeutscher Seite kontrolliert und für die Weiterfahrt abgefertigt. Die Geschichte dieses Massenbetriebs, einer „Art pervertierte[n] Großstadtbetrieb[s], durch den inmitten

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Dieser Beitrag gibt in leicht überarbeiteter und ergänzter Form unseren Vortrag auf der Tagung Die Metaphorik der Autobahn wieder. Es war unser Anliegen, ein Rezeptionsproblem miszellenartig anzuschneiden, auf das in ähnlicher Form bereits von Axel Doßmann (vgl. ders.: Die Transitautobahn, in: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 411– 421) hingewiesen wurde. Zuletzt prägnant und nach der Tagung hat Karl Schlögel (Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München 2013) das Problem der Passagenerfahrung erneut thematisiert – mit gleichen Beobachtungen. Thorsten Becker: Die Bürgschaft. Zürich 1985, S. 5. Vgl. Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR.

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stiller Landschaft, Millionen von Menschen geschleust wurden“,4 wie es bei Hans Pleschinski heißt, ist bisher noch nicht erzählt. Verlässliche Zahlen und Daten zum Grenzverkehr finden sich in den Archiven nur für bestimmte Jahre.5 Selten hat sich die historische Forschung über die bloße Aufzählung der Eckdaten hinausgewagt, die Erforschung des Grenzdienstes beider deutscher Staaten ist ebenso Forschungsdesiderat wie die Baugeschichte der Kontrollanlagen und die Frage, ob es sich hier um eine bewusste Architektur des Schreckens handelte, wie es viele Bundesbürger rückblickend sehen, oder um reine Funktionsbauten ohne intendierte Einschüchterungsabsicht. Zum einen mag unser defizitärer Kenntnisstand an den üblichen Problemen von Quellenlagen und Forschungskonjunkturen liegen. Zum anderen aber ist das kein spezifisches Problem von Marienborn. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze überhaupt wird als Thema für gewöhnlich der DDR-Geschichte zugeschlagen. Aber genau dies greift im Fall von Marienborn an der A2 und für die anderen Grenzübergangsstellen viel zu kurz – Marienborn ist eben ein westdeutscher Erinnerungsort.

1 Halt in Marienborn – Deutsch-deutsche Erzähldominanten Wenn von Marienborn die Rede ist, keimen – je nach Generation und unabhängig von der historischen Faktenlage – ganz eigene Assoziationen auf. Für die meisten steht der Name dieses kleinen Wallfahrtsortes direkt hinter der innerdeutschen Grenze für den unmittelbaren Kontakt mit dem Grenzregime, ja überhaupt dem Regime der DDR: Marienborn steht für Passkontrolle, Befragung, Autodemontagen, verbunden mit Unbehagen und Ohnmachtsgefühlen. Diese Narrative sind bekannt. Und sie sind heute dominierender denn je. Für die meisten Ostdeutschen hingegen war Marienborn ein Abstraktum, das sie aus eigener Anschauung gar nicht kannten, sondern unerreichbar fern wie das – wenn von Marienborn die Rede ist – meist unterschlagene Helmstedt, das von den wenigen DDR-Ausreisenden denn auch wie ein „Tor zur Freiheit“, gleichsam ein verheißungsvoller „Sehnsuchtsort Ost“, zumindest auf der Landkarte gewärtigt wurde. Ganz passend erscheint da auch die Tatsache, dass der erste Übertritt einer DDR-Bürgerin in der historischen Nacht des 9. November 1989 in Marienborn-Helmstedt stattfand, was – auch unabhängig von der Herkunft – kaum jemandem bekannt sein dürfte. 4 5

Hans Pleschinski: Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland. München 2004, S. 44 f. Sicher lässt sich anhand der Aufzeichnungen des Bundesgrenzschutzes sagen, dass seit Inkrafttreten des Transitabkommens 1973 die Zahl der grenzüberschreitenden Reisebewegungen kons­ tant anstieg, bis sie in den 1980er-Jahren konstant über 20 Millionen pro Jahr lag. Vgl. Niedersächsisches Landesarchiv-Staatsarchiv Wolfenbüttel, 1 A Bund Zg. 22/1991 Nr. 59: Statistiken zum Reiseverkehr.

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1  Grenzmarkierung an der GÜSt Marienborn

Die sprichwörtliche Mauer, sie fiel eben nicht zuerst in Berlin, sie fiel zuerst auf der Transitautobahn zwischen Hannover und Berlin. Nicht zu vergessen wären als dritte Gruppe noch diejenigen, die beim Stichwort Marienborn keinerlei Erinnerungen mehr abrufen können, weil sie die deutsch-deutsche Grenzpassage als Kleinkinder antraten oder zur heutigen Generation Grenzenlos gehören. Für sie ist Marienborn allenfalls eine Autobahnraststätte neben vielen, auch wenn es sie verwundern mag, dass nur fünf Kilometer weiter bei Helmstedt schon die nächste große Raststätte folgt. Jede Generation vor der Letztgenannten ist sich aber aus eigener Anschauung des abschneidenden Charakters von Grenzen bewusst – oder wurde es, angesichts der auf der A 2 auftauchenden Schilder und der bald am Horizont sich erhebenden Fluchtlichtmasten und Türme, der sich verlangsamenden Fahrt und der nun durchgezogenen Fahrbahnmarkierungen zur Vorsortierung des ausrollenden Verkehrs. Mitten auf der auf zügigen Verkehr hin gedachten Autobahn kam es zum verordneten Stillstand vor einem kleinen Nadelöhr im Eisernen Vorhang, an dessen Rückseite der Verkehr ins Hinterland sickerte. Zwischen Entschleunigung, Anhalten und schließlich entschleunigter Weiterfahrt stand die Kontrolle. Und dort das berüchtigte Förderband,

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auf dem der Pass verschwand, die womöglich vor allem unter dem Aspekt ihres Einschüchterungspotenzials entworfenen Abfertigungshallen, die mürrischen Grenzbeamten. Dieses Szenario verwandelte die Autobahn in einen Ort des zwangsweisen Innehaltens – und vielleicht auch des zwangsweisen Besinnens. Der Schriftsteller Hans Pleschinski, aufgewachsen im westdeutschen Grenzland, genauer bei Wittingen, hat die westdeutsche Erfahrung des Grenzübergangs folgendermaßen beschrieben: „Einmal wurde mein Vater nachts auf der Rückreise wegen der nicht gestatteten Ausfuhr eines Bettvorlegers zum Aussteigen aufgefordert und musste sich vor den Augen seiner Kinder, bei vorgehaltener Maschinenpistole, mit erhobenen Händen im Neonlicht an die Wand stellen. Ein anderes Mal – eine Lappalie der 60er Jahre, als in Liverpool All You Need is Love gedichtet und gesungen wurde – hatte die Zoll-technische Zerlegung unseres Autos zwischen Magdeburg und Braunschweig zur Folge, dass noch bis zu seiner Verschrottung die Rückenlehnen unverstellbar blieben. Kleine deutsche Nachkriegstribute.“6 Diese für die Chiffre „Marienborn“ fast stereotypen Beobachtungen der Grenzpassage finden sich in Pleschinskis autobiografischem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Ostsucht“. Auch seine Erzählung des Grenzübergangs in Marienborn („eine Umgebung, Verhaltensweisen, Rituale auf der annähernd niedrigsten Zivilisationsstufe“)7 setzt sich aus wohlbekannten, weil kollektiv vorhandenen Erinnerungspartikeln zusammen, die das ganze Spektrum deutsch-deutscher Wahrnehmungen und Vorurteile umfassen. Ganz offensichtlich jedenfalls schärfte der Grenz- und Systemübertritt die Sinne, was den Historiker Karl Schlögel zu dem Schluss kommen ließ, es habe sich mit Marienborn eben nicht nur um einen Ort der Grenzabfertigung und des erzwungenen Innehaltens gehandelt, also einen Funktionsort, sondern um einen ganzen „Empfindungskomplex“.8 Die kollektive Passagenerfahrung wollte erzählt, wenigstens spontan verarbeitet werden – oftmals übrigens sogleich dem nächsten kontrollierenden BGS-Beamten. Eben noch ohnmächtig der Willkür ausgeliefert, explodierten auf westdeutscher Seite oftmals bei der kleinsten Unfreundlichkeit die Gemüter und entluden sich beim kleinsten Anlass. In den Akten wimmelt es von Beschwerden über das vermeintliche oder tatsächliche unfreundliche Verhalten des Grenzschutz­ einzeldienstes.9 Und so bildete sich innerhalb dieser Generation der Pendler zwischen zwei Deutschland – Schlögel nennt sie gar die „Generation Marienborn“ – die Meistererzählung 6 7 8 9

Pleschinski: Ostsucht, S. 47. Ebd., S. 45 f. Karl Schlögel: Generation Marienborn. Essay. In: APuZ, 21–22/2009, S. 3. Ein ganzes Konvolut an Beschwerden über kontrollierende BGS-Beamte in Helmstedt findet sich in StA Wolfenbüttel, 1 C Bund Zg. 26/1990 Nr. 7.

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eines Grenzortes, den der Bundesrepublikaner nicht nur aus der Distanz oder von Grenzbeobachtungspunkten sich gruselnd besehen konnte, sondern in den er sich unmittelbar hineinbegab, hinein bis in die Mühlen des konkurrierenden Systems. „Schon hier, ein paar Kilometer vor den ersten DDR-Beamten, zeitigte die Staatsgrenze West einen Solidarisierungseffekt, den ihre Erbauer nicht beabsichtigt hatten und der Walter Ulbricht und dem FDJ-Führer Erich Honecker wahrscheinlich auch gleichgültig war: Westdeutsche näherten sich dem Gefahrenmoment, dem Augenblick, in dem Bankkonto, Zivilstand, Toupet oder Glatze, Allgemeine Ortskrankenkasse, CDU- oder FDP-Mitgliedschaft nichts mehr nützten, wenn auf DDR-Gebiet ein DDR-Grenzer sie erst einmal aus der Kolonne herauswinkte. Vor der Grenze also, der stets denkbaren Zerlegung des Westautos in seine Bestandteile, bildete sich im Morgengrauen eine minimale Schicksalsgemeinschaft von Insassen der beladenen Autos mit Kölner Nummer, mit KS für Kassel oder dem GF für Gifhorn. Leute, die sich nicht kannten, nie kennenlernen würden, die sich im Stadtverkehr seinerzeit gerne den Vogel zeigten, überholten sich nun nicht mehr hastig, duldeten langsamere Fahrer vor sich – Mit-Westler! – blickten einander durch die Scheiben ahnungsvoll an, wenn ein Fahrer Richtung Magdeburger Verwandtschaft einen Fahrer und ­Trockenhauben-Überbringer für Leipziger Verwandtschaft sich einfädeln ließ. Die sich nähernde DDR-Grenze erzeugte Abschiedsstimmung im Anblick der properen Vorgärten Helmstedts. […] Die Grenze gebar Westdeutsche, die hier zu ihrer popeligen Bundeshauptstadt am Rhein, auch zum belächelten Bundespräsidenten Lübke ein grundlegend bejahendes Verhältnis gewannen.“10 Jenseits der üblichen Erzähldominanten – und das ist selten genug – stellt sich Pleschinski als westdeutschen Reisenden vor, der sich erst im Angesicht dieses Apparats zur Verwaltung einer absurden Teilung seiner Existenz als Bundesrepublikaner gewahr wird. Eine mutige, wenn wohl nicht ganz von der Hand zu weisende These, die viel von ihrer Überzeugungskraft dadurch gewinnt, dass sie in einem Buch mit dem Titel „Ostsucht“ formuliert ist. Die bundesdeutsche Identität zwischen Staatsgründung und sogenannter Wende resultiert auch, gleichsam ex negativo, aus dem Erfahren des anderen, aus dem Blick auf den Bruderstaat im feindlichen System. Die sich hinziehende innerdeutsche Grenze ist für sie gleichzeitig Rückgrat und Wunde im Fleisch. „Das westliche Freiheitsgefühl, was wäre es gewesen ohne die Transiterfahrung?“11 fragt ganz folgerichtig der Schriftsteller F. C. Delius. Satirisch auf die Spitze getrieben und daher besonders brauchbar ist folgende Bemerkung aus Axel Hackes Deutschlandalbum: „Schikanierte man uns durch Kofferraumkontrollen, wähnten wir, Chruschtschow habe, von Kennedy verärgert, persönlich 10 Pleschinski, Ostsucht, S. 44. 11 Friedrich Christian Delius: Angenehme Weiterreise! In: ders. / Peter Joachim Lapp: Transit

Westberlin. Erlebnisse im Zwischenraum. Berlin 1999, S. 9–38, hier S. 38.

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in den Blechhütten angerufen, um verschärftes Sächseln anzuordnen.“12 Was diese Aussage verdeutlicht, ist die Zeitgebundenheit der Abläufe in Marienborn. Eigentlich war diese Anlage doch ein paradoxer Ort: ein Einfallstor im antifaschistischen Schutzwall, ein bürokratisch verwalteter Durchlass in menschenverachtender Grenzfestung. Hier befand sich der Reisende auf der Fahrt durch die Frontlinien des Kalten Krieges, hier bekam er Frostperioden und Tauwetter unmittelbar zu spüren. Marienborn war ein Verwaltungsbetrieb der Systemkonkurrenz, Alltag für Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen von beiderseits der Demarkationslinie. Hier wurde nicht Krieg geführt, sondern der unglückselige Zustand der deutsch-deutschen, ja der europäischen und globalen Teilung in den Normzustand überführt – und damit zementiert. Das heißt auch: Marienborn ermöglichte so erst Mobilität – wiewohl meist einseitige – zwischen den zwei deutschen Staaten. Zwar verlor die Autobahn ihren Charakter der Zieloffenheit und die westdeutsche Freiheit der Autofahrt endete am Passkontrollhäuschen der DDR-Grenzer, aber erst dadurch konnte sie überhaupt ein Mindestmaß an Verbindungen zwischen West und Ost gewährleisten. Der Verkehrshistoriker Helmuth Trischler spricht ganz folgerichtig von „Verdeckte(n) Wege(n) der Verknüpfung von Ost und West“ und bezeichnet die Lastkraftwagenfahrer (Ost) als „zentrale Mediatoren zwischen den geteilten Welten Europas“, die „damit das politisch-gesellschaftliche Fundament des Ostblocks zu unterminieren begann[en]“.13 Marienborn also Katalysator des Ostblockzerfalls? Das wäre jedenfalls als ein neues Narrativ den Erzähldominanten hinzuzufügen. Außer Acht sollte jedenfalls nicht gelassen werden, dass Marienborn nicht einfach sinnbildlich für den Stillstand des Verkehrs auf der Autobahn steht, sondern auch für den Transit im doppelten Wortsinn. Was vielfach als Erfahrung des „Stillstands“ in Marienborn überliefert ist, mag dem Einzelnen auf seiner Mikroebene für einige Stunden als Phase verordneten Innehaltens vorgekommen sein – auf der Makroebene der global verhärteten Fronten gab es gerade in Marienborn aber vor allem Bewegung zu bestaunen. Ganz so wie übrigens auf der anderen Seite der Demarkationslinie, wo die Zollund Grenzschutzbeamten der Grenzkontrollstelle Helmstedt das Abfertigungsprozedere dem anzusteuernden Bruderstaat vorwegnahm. Zielsetzung, Methoden der Fahndung und ihre Abläufe wiesen beiderseits der Grenze ein überraschend großes Maß an Übereinstimmungen auf. Das sollte insofern eigentlich weniger verwundern, als gerade im deeskalierten Verhältnis der beiden deutschen Staaten auf dem Höhepunkt der Transitbewegungen in den 1980er-Jahren schon aufgrund der 12 Axel Hacke: Marienborn. In: ders.: Deutschlandalbum. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 52–63,

hier S. 53.

13 Helmuth Trischler: Geteilte Welt? Verkehr in Europa im Zeichen des Kalten Krieges, 1945–1990,

S. 168. In: Ralf Roth / Karl Schlögel (Hrsg.): Neue Wege in ein neues Europa: Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2009.

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schieren Mengen an abzufertigenden Reisenden die Problemstellungen dieser Zeit die gleichen waren – wenn man einmal von den sich aus den grundverschiedenen Gesellschaftsentwürfen ergebenden Aufgabenstellungen absieht. Trotzdem schweigt sich die Überlieferung der Generation Marienborn zu ihrer Durchquerung der westdeutschen Grenzkontrollstellen beharrlich aus. Aus den wenigen bisher von der Forschung zu diesem Themenkomplex zur Kenntnis genommenen Quellen ergibt sich dieser Wahrnehmungsunterschied jedoch nicht.14 Doch, das soll nicht unterschlagen werden, der Modus des Reisens veränderte sich natürlich – die bundesrepublikanische, unbegrenzte Fahrt wurde eingebremst, gestoppt und dann verlangsamt weitergeführt – als „begrenzte Mobilität“, wie Axel Doßmann15 es nennt. Hatte der westdeutsche Reisende das Grenzabfertigungsprozedere hinter sich gebracht, musste er die Fahrt auf ostdeutschen Autobahnen unter anderen Vorzeichen fortsetzen – hier herrschte eine strenge und streng kontrollierte Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 Kilometern pro Stunde. Wer sich nur die kleinste Tempoüberschreitung leistete, wurde unmittelbar zur Kasse gebeten – die Strafe war willkürlich in horrender Höhe und, natürlich, in D-Mark zu entrichten. Die westdeutsche Freiheit der (Auto-)Mobilität mit ihrer kräftigsten, Asphalt gewordenen Metapher, der Autobahn, endete kurz hinter Helmstedt. Wer sich in Marienborn in die Fahrzeugkolonnen vor den Kontrollschaltern eingereiht hatte, begab sich in ein anderes, ein fremdes, offiziell sogar ein feindliches System. Er kam in Berührung mit der alltäglichen Diktatur vor der eigenen Haustür und konnte das Leben darin aus nächster Nähe, quasi en passant studieren. Dort herrschte von oben verordnete Langsamkeit und Marienborn war der Anlass zum vorherigen abrupten Abbremsen. Das Narrativ des Stillstands wird vorwiegend als eine vorsorglich selbst auferlegte Regungslosigkeit im Angesicht der erlebbaren DDR-Diktatur verstanden oder als Schockstarre angesichts der hier unterstellten und zum Teil sicherlich auch erlebten Willkür der Festungsbesatzung. Könnte aber der Stillstand nicht auch einen Moment des Besinnens meinen – und eben einen anderen, als es Pleschinskis identitäres Besinnen meint? Das in der Bundesrepublik womöglich zum Lebensstil gewordene besinnungslose Eilen, das Höher-Schneller-Weiter des Kapitalismus jedenfalls endete für den westdeutschen Reisenden beim Grenzübertritt so abrupt, wie sein Wagen vor den ostdeutschen Grenzhäuschen zum Halten kam; seine Illusion von Freiheit – immer dem Mittelstreifen nach – ebenso. Die Grenze baute sich vor ihm auf auch als eine „Scheidelinie 14 Eine erste exemplarische Untersuchung der Geschichte der Helmstedter Grenzschutzstellen

wurde in einer Abschlussarbeit am Lehrstuhl für Geschichte und Geschichtsdidaktik der TU Braunschweig vorgenommen und zeigte das ganze Potenzial dieses bisher von der Forschung fast völlig vernachlässigten Themas auf. Vgl. Benedikt Einert: Dienst an der Grenze. Zur Geschichte der Grenzschutzstellen in Helmstedt, unv. Masterarbeit. Braunschweig 2013. 15 Vgl. Axel Doßmann: Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR. Essen 2003.

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zwischen Gestern und Morgen“16, wie es der DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann einmal formulierte. Marienborn wurde gleichsam zu einer Zeitschleuse – auch wenn die Definition dessen, was „Gestern“ und „Morgen“ in diesem Kontext zu bedeuten hatten, je nach ideologischem Standpunkt verschieden ausfiel. Durch diese Zeitschleuse Marienborn hindurch rollte der Reisende auf der Autobahn, aus einer gnadenlos beschleunigten Welt kommend, hinein in ein „fernes Land“, wie es Marion Gräfin Dönhoff und Theo Sommer anlässlich einer DDR-Visitation empfanden.17 Rollte in ein Land, das wie aus der Zeit gefallen schien: von der westdeutschen Zukunftsfahrt in eine entschleunigte, verloren geglaubte Vergangenheit, die er schon im „verlangsamten Verkehr“18 unmittelbar erfahren konnte. Das Leben in der DDR konnte auf den Betrachter auch durch die Frontscheibe wie ein „raumzeitlicher Stillstand“ wirken, eine Art von Idylle, wenn auch in herbe Farben getaucht. Ähnlich wie auf den amerikanischen Parkways – wenn auch natürlich nicht mit gleicher Intention geplant und nicht gleich schön und frei – wird die verlangsamte Fahrt auf DDR-Straßen so zum Sightseeing im verfeindeten Bruderstaat. Und das war – im Gegensatz zu den millionenfachen Besuchen an der innerdeutschen Grenze, inklusive Blick von den Aussichtsplattformen – kein dark tourism mehr, sondern mehr eine Reise in die Vergangenheit; in ein Land, das gerade Älteren wie die Kulisse eigener Kindheitserinnerungen anmutete. Der Historiker Stefan Wolle hat diese subkutane DDR-Idylle in seinem schon sprichwörtlich gewordenen Buch von der „heilen Welt der Diktatur“ einmal wie folgt beschrieben: „Besucher aus der Bundesrepublik fühlten sich in der DDR oft in die Vergangenheit versetzt. Sie konnten ihren Kindern eine Dampflok zeigen, die wirklich ‚töff…töff‘ machte und eine Straßenbahn, die noch richtig bimmelte. Türklingeln und Telefone schrillten, statt ein zart-melodisches ‚Klingklong‘ von sich zu geben. Wenn man am Fernseher die Lautstärke verstellen oder den Kanal wechseln wollte, musste man sich noch erheben und unter Kraftaufwand am Knopf drehen. Aus den Schornsteinen stieg tatsächlich schwarzer Rauch in den Winterhimmel, und an kalten Tagen legte sich der anheimelnde Geruch von Kohlequalm über die Städte. […] Dies erinnerte so traulich an die Kindheit in der Nachkriegszeit oder in den Fünfzigerjahren. Der Alltag erschien dem Außenstehenden liebenswert altmodisch, anheimelnd deutsch und biedermeierlich gemütlich.“19 16 Das Zitat stammt aus dem Schulungs- und Propagandafilm für die NVA-Grenztruppen, Gren-

zer, von 1981. Enthalten ist der Film auf: DDR-Grenztruppen. UAP Film GmbH Leipzig in Kooperation mit dem Bundesarchiv Koblenz. Leipzig 2008. 17 Vgl. Marion Gräfin Dönhoff / Rudolf Walter Leonhardt / Theo Sommer: Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR. Hamburg 1964. 18 Vgl. Thomas Zeller: Der verlangsamte Verkehr: Die Herstellung von Landschaft durch Straßen im 20. Jahrhundert. In: Roth/Schlögel, Neue Wege, S. 361–376. 19 Stefan Wolle: Die Heile Welt der Diktatur. Bonn 21999, S. 220 f.

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Im Besucherbuch des DDR-Alltagsmuseums am Berliner Spreeufer hat das ein westdeutscher Tourist knapp auf den Punkt gebracht: „Warum haben meine Verwandten bei jedem Besuch so rumgejammert? War doch echt gemütlich.“ Aber das konnte nur jemand sagen, der den raumzeitlichen Stillstand nicht dauerhaft ertragen musste, weil er ihm jederzeit wieder zu entfliehen vermochte. Natürlich ist das kein Hohelied auf die Diktatur. Aber auch für die meisten westdeutschen Reisenden dürfte sich die unmittelbare Wahrnehmung der DDR, seiner Bewohner und der Lebensverhältnisse nicht allein auf den totalitären Charakter der SED-Diktatur beschränkt haben. Im Gegenteil: In diesem Biotop ließ sich (auch im Vorbeifahren) eine Form gesellschaftlicher „Verordnung“ beobachten, die ihren Reiz wohl vor allem aus dem radikalen Unterschied zum westdeutschen Lebensentwurf gewann. Hier liefen die Uhren offenbar langsamer und seine „Gemütlichkeit“ gewann das Leben in der Diktatur nicht nur trotz, sondern gerade wegen seiner offenkundigen Begrenztheit. Im Gegensatz zur heimischen sogenannten „neuen Unübersichtlichkeit“ zeichnete sich die DDR durch Überschaubarkeit aus – und zwar ab der A2 bei Marienborn. Der westdeutsche Besucher fand sich auch als Zeitreisender wieder.

2 Gesamtdeutsche Erinnerung statt ostdeutscher Erinnerungsort Wenn gerade die letzten Überlegungen etwas verwegen anmuten, so resultieren sie doch aus einem gewissen Misstrauen gegenüber jenen heutigen Narrativen, die sich – überspitzt – als Ex-post-Konstruktion in einer Marienborner „Märtyrererzählung“ verdichtet. Ein vorsichtiges Misstrauen gegenüber Erzählungen also, die primär von einem Empörungs- und Diktaturgedächtnis geprägt sind. Dieser Gedächtnistyp, den jüngst Martin Sabrow für die alte Bundesrepublik beschrieben hat,20 neigt zu historisch und politisch korrekter Flurbereinigung und gewinnt seine scheinbare Plausibilität allein aus dem dichotomischen Systemvergleich, unterschlägt damit aber zwangsläufig andere differenzierende Facetten, verschweigt die Gewöhnung und die gewachsene Normalität – auch der Passage bei Marienborn. Oder anders: Die Empörung lenkt den Blick entlastend allein ostwärts – also ganz im Sinne von Pleschinskis „Ostsucht“. Seit über zwanzig Jahren nun rollt der Verkehr auf der A2 zwischen Helmstedt und Marienborn. Ohne den ehedem verordneten Stillstand ist die Autobahn wieder in ihr eigentliches Recht gesetzt: freie Fahrt für freie Bürger – ohne Tempolimit. Die wenigen verbliebenen Artefakte der ostdeutschen Grenzanlagen, die eher an eine Industrieruine erinnern, veranlassen die wenigsten auf ihrer Durchfahrt zum freiwilligen Innehalten – auch wenn die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn beharrlich dafür wirbt. Die nächsten Jahre werden zeigen, welche Geschichte(n) dort 20 Vgl. Sabrow: Erinnerungsorte der DDR, S. 20.

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künftig erzählt wird bzw. werden. Überlegungen, Marienborn zu einer zentralen Gedenkstätte für die Toten des innerdeutschen Grenzregimes zu machen, dürfen zumindest nachdenklich stimmen. Ist das wirklich der richtige Ort dafür und taugt ausgerechnet die Schleuse Marienborn dazu, die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte oder die Geschichte des DDR-Grenzregimes in toto zu erzählen? Mit anderen Worten: Wir stehen erst am Anfang der Rekonstruktion der Geschichte Marienborns und der Marienborn-Erfahrung, eben aufgrund der Komplexität dieses Erzählortes. Zukünftig sollte es darum gehen, den bundesdeutschen „Empfindungskomplex Marienborn“ sinnvoll zu erweitern – zu einem metaphorischen gesamtdeutschen Erinnerungskomplex Helmstedt-Marienborn eben in all seinen Facetten.  Kapitelendet

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„Machina machinarum“ · Ernst Jüngers Autobahnen* Ernst Jüngers lebenslange Beschäftigung mit der Autobahn kreist um Themen, die in der gegenwärtigen verkehrs- und umweltpolitischen Diskussion zentral sind: Eingriffe des Menschen in die Landschaft, die Technisierung des Raumes, die Effizienz von Planungs- und Baumaßnahmen, die Veränderung der Art und Weise, in der Autofahrer ihre Mitmenschen und ihre Umwelt wahrnehmen, die Verantwortung des Einzelnen für den anderen Menschen. Die entsprechenden Äußerungen Jüngers berühren wichtige Themen seines Werks: die Kennzeichen der Moderne, ihre Repräsentanten, ihre Außenseiter – oder, mit Jüngers eigenen Worten, „Arbeitswelt“ und „Werkstättenlandschaft“, „Arbeiter“, „Waldgänger“. Der Autobahndiskurs ist eingebettet in Jüngers Denken über Tod, Technik und Verantwortung im 20. Jahrhundert, und er wird zum Testfall für Jüngers Konzeptionen autonomen Handelns, typischen Mitläufertums und eigenständiger Wahrnehmung. Der Verkehr steht bei Jünger paradigmatisch für die total mobilgemachte Moderne, und die Autobahn ist, wie zu zeigen sein wird, sein Symbol für den Verkehr.1 Daher wird der folgende Beitrag über Jüngers Autobahnen auch auf Straßenpersonenverkehr und Straßenbau in einem weiteren Sinn eingehen. Jüngers Formulierungen, Motive und Verweise decken sich oft nicht mit zeitgleich dominanten Diskursen; meist setzt er deutlich eigene Akzente. Dies geschieht im Laufe von sechs Jahrzehnten im Rahmen aller wichtigen Formen seiner Autorschaft: (Reise-)Tagebuch (einschließlich Traumnotate), Essay, Erzählung, Brief. Im Folgenden möchte ich Jüngers verstreute, teils entlegene und teils unveröffentlichte Äußerungen über die Autobahn sichten, systematisieren und im Rahmen seines Werks kontextualisieren. *

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Dankbar bin ich für die großzügige Förderung dieses Projekts durch ein Intra-European Fellowship im Rahmen der Marie Curie Actions des von der Europäischen Kommission aufgelegten Seventh Framework Agreements. Für freundliche Auskünfte danke ich Heimo Schwilk. Dass dies so ist oder von Jünger jedenfalls so dargestellt wird, meinte auch Heidegger. In dessen Handexemplar von Jüngers Essay Der Arbeiter (1932) findet sich neben der Aussage, zu erwarten sei in der nunmehr angebrochenen Zeit der großen Pläne „eine kühne und sichere Beherrschung des konstruktiven Elements“ (SW 8:229), die zuspitzende Randnotiz „R[eichs]-Autobahnen“; vgl. Martin Heidegger: Zu Ernst Jünger (Gesamtausgabe, Bd. 90). Hg. v. Peter Trawny. Frankfurt a. M. 2004, S. 393. – Ernst Jünger wird zitiert nach: Sämtliche Werke. 22 Bde. Stuttgart 1978–2003 [SW], und: Politische Publizistik 1919–1933. Hg., komm. und mit einem Nachwort v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001 [PP].

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Der rhapsodische Ton der frühen Essays und der (scheinbar) assoziative Stil der späten Tagebücher lässt für ein solches Vorgehen viel Raum. Diesen auszuloten lohnt sich, da Jünger bis auf die ironisch-intertextuellen Bezugnahmen aus der Popliteratur der Jahrtausendwende immer noch mit der gewaltsam-technisierten Moderne identifiziert wird,2 obwohl er jahrzehntelang in einer der autobahnfernsten Gegenden Deutschlands lebte3 und sich ab Mitte der 1930er-Jahre weitgehend kritisch gegenüber dieser Moderne äußerte. Eine relativ umfangreiche, reich bebilderte Satire zeichnet sogar Jüngers angebliche Rennsportkarriere nach und kommt zu dem Schluss, Jünger habe einen „zutiefst dezisionistischen, abenteuerlichen Zug, der sich im extremen, velocitären Automobilismus äußert“.4 Freilich: Jünger hatte nicht einmal einen Führerschein. Sein Autobahnerlebnis wie sein Fahrerlebnis im Ganzen war das des Beifahrers. Für Jünger war das Autofahren also nie eine einsame Angelegenheit. Auf längeren Fahrten in der weiteren Umgebung um seine süddeutsche Wahlheimat sowie auf Rundreisen und Exkursionen in aller Welt chauffierten ihn Bekannte und Freunde. Jünger reiste nicht nur „von Freund zu Freund“ (SW 4:302), wie er gern beteuerte, sondern meist auch mit einem Freund – oder natürlich seiner Frau. Der viel reisende Autor war in der Nachkriegszeit auf den Autobahnen verschiedener Länder unterwegs. Zu Jüngers Autobahnkenntnissen besitzen wir sowohl sprechende Details (wir wissen von Jünger selbst, dass er am 19. Mai 1939 zum ersten Mal auf der Autobahn war und dass er seinen 87. Geburtstag auf der Autobahn zubrachte, vgl. SW 2:50 und SW 20:135) als auch gewichtige Ausführungen. Der vorliegende Beitrag ist nach Themen gegliedert, da Jünger vor allem durch deren Auswahl, Ausgestaltung und Verknüpfung Akzente setzt. Ein werkchronologisches Vorgehen wiese mit Bezug auf die Autobahn als signifikanten Einschnitt nur wieder die von der Forschung anerkannte Zäsur in Jüngers Werk etwa Mitte der 1930er-Jahre auf, dies freilich in aller Deutlichkeit. Möglicher Vorteil eines chronologischen Vorgehens könnte die Verzahnung mit der Verkehrsgeschichte und der verkehrspolitischen Zeitgeschichte sein. Jünger setzt jedoch in den vier hier relevanten Zeitabschnitten (Weimarer Republik, NS-Staat, Wiederaufbau-Bundesrepublik, Reform-Bundesrepublik der 1970er-Jahre) durchgängig grundlegend andere Akzente als die Politik. Der vorliegende Beitrag wird das mit Bezug auf die einzelnen Themen verdeutlichen. Da Jünger aber allenfalls seine Wertungen verändert und nicht von seiner Bestandsaufnahme abrückt und sich an öffentlichen Debatten zur Verkehrs­ politik nicht beteiligt, wäre eine an diesen orientierte Gliederung irreführend. Noch 2 3 4

Vgl. Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern. Frankfurt a. M. 2002. Für den Roman ist die Autobahn mutatis mutandis das, was für Jüngers In Stahlgewittern der Schützengraben ist. Vgl. Jan Küveler: „Auf der Alb braucht’s keine Autobahnen“. In: Die Welt, 30. März 2011. Moritz Lupard (d. i. Tom Wolf ): „Kurzchronik eines bewegten Doppellebens“. In: Alois Roßnagel und ders. (Hg.): Von null auf hundert: Einhundert Jahre Jünger; ein Erinnerungsbuch. Tübingen 1995, S. 126–137, hier S. 128.

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weniger ergiebig wäre eine Gliederung nach Genres, da die Überblendung etablierter literarischer Gattungen zu den Hauptkennzeichen des Jünger’schen Werkes gehört.

1 Krieg Sieben Jahre nach Beginn der Planungen für die erste öffentliche Autobahn in Deutschland und gut einen Monat nach Eröffnung der ersten Strecke veröffentlichte Jünger, im September 1932, den umfangreichen Essay Der Arbeiter.5 Eines der „zentralen Bildfelder“6 darin stellt der Verkehr dar. Der Arbeiter ist Diagnose der Moderne und Prognose ihrer weiteren Entwicklung und zugleich der Versuch, die Leser für die Moderne zu mobilisieren.7 Dem Essay liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Moderne durch die „totale Mobilmachung“ gekennzeichnet ist: Staat und Gesellschaft und damit alle Menschen werden einheitlicher, effizienter und dynamischer. Im Straßenpersonenverkehr zeigt sich8 laut Jünger, was zu dieser Entwicklung gehört: Technik, Dynamik, Intensität, ein hohes Risiko für Leib und Leben und ein zielgerichteter Zugriff auf den Raum. Jüngers Definition des Verkehrs vereinigt diese Aspekte in einer konzisen Formulierung: „die mechanische Überwindung der Entfernung, die die Geschwindigkeit von Geschossen zu erreichen strebt“ (SW 8:103). Der Verkehr ist nach Jüngers Auffassung die Sphäre einer anonymen Öffentlichkeit (SW 8:120, 127); wie andere Teile der Netzinfrastruktur und der Geldversorgung ist er durch die Möglichkeit der Störung oder des Ausfalls auch ein Ort der Verunsicherung (SW 8:127). Von Anfang an fasst Jünger den Verkehr mit militärischen Metaphern: „Über die großen Plätze und durch die Schächte der Straßen rast ein Heer von Maschinen“ (PP 159). Apodiktisch heißt es, der Verkehr sei „eine Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln“ (SW 12:465). Auf den Straßen sterben so viele Menschen, dass 5 6

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Vgl. einführend Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 384–399. Steffen Martus: Ernst Jünger. Stuttgart 2001, S. 91. Einige sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Arbeiten zur Autobahn weisen auf Jünger und seinen Arbeiter hin, vor allem Dorothee Hochstetter: Motorisierung und „Volksgemeinschaft“: Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2005; Rudy Koshar: „Organic Machines. Cars, Drivers, and Nature from Imperial to Nazi Germany“. In: Thomas Lekan / Thomas Zeller (Hg.): Germany’s nature. Cultural landscapes and environmental history, Piscataway 2005, S. 111–139, hier S. 129; Thomas Zeller: Driving Germany: the Landscape of the German Autobahn 1930–1970. New York 2007, S. 67. Zum Illokutionären des Arbeiters vgl. Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 99. Zum Symptomcharakter des Verkehrs: „Die Aufgabe der Totalen Mobilmachung ist die Verwandlung des Lebens in Energie, wie sie sich in Wirtschaft, Technik und Verkehr im Schwirren der Räder oder auf dem Schlachtfelde als Feuer und Bewegung offenbart“ (SW 8:224, meine Hervorhebung).

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die Zahl der Opfer „nur an denen des Krieges zu messen ist“ (SW 8:103, Der Arbeiter). Krieg und Verkehr führen die Teilnehmer in die „Nähe des Todes“ (SW 8:152). In beiden Sphären sei es „nötig, daß wir diese Opfer noch bejahen“ (SW 8:206; „noch“ im Sinne von „sogar“). Dass die Gesellschaft die hohen Opferzahlen mit einem „Gefühl der Selbstverständlichkeit“ hinnimmt und hinnehmen solle, erkläre sich aus der Tatsache, dass der Verkehr zu den Grundphänomenen der „Arbeitswelt“ gehöre (SW 7:180, Über den Schmerz). Die „Opfer“ der „Verkehrstechnik“ würden allgemein für ihren Tod verantwortlich gemacht: Sie verstießen gegen die „Verkehrsdisziplin“, „eins der Kennzeichen der sachlichen Revolution“ der Moderne (SW 7:179). Der Arbeiter versucht zu zeigen, dass der Krieg in der Moderne grundsätzlich zum Wirtschaftskrieg, die Wirtschaft unausweichlich zur Kriegswirtschaft geworden ist. Der Verkehr als Hauptphänomen der Moderne ist folglich sowohl Wirtschaftsfaktor als auch militärstrategisches Ziel. Als solches erscheinen die Autobahnen um Hannover dreimal in den Kirchhorster Blättern, dem letzten Band der Kriegstagebücher (SW 3:319, 339, 358, Einträge 4. November, 11. Dezember 1944 und 8. Januar 1945). Umso erstaunlicher ist, dass Jünger auf die Militarisierung des verkehrsbezüglichen Sprachgebrauchs nach 1945 nicht explizit eingeht (etwa die „Richtlinien zur Bekämpfung [sic] von Verkehrsunfällen 1975/76“ des damaligen nordrhein-westfälischen Innenministers Burkhard Hirsch). Der Begriff „Schlachtfelder des Kraftverkehrs“ wurde 1931 geprägt9 und spiegelte den subjektiven Eindruck eines insgesamt stark zunehmenden Verkehrs. 10 Autos erregten Aufmerksamkeit als teure soziale und kulturelle Prestigeobjekte, als lärmende Präsenz im öffentlichen Raum und als Risikofaktor in einem Wegenetz, auf dem Richtungsfahrbahnen meist nicht wirksam getrennt waren und auf dem sich infolge des rasanten Bevölkerungswachstums immer mehr Fußgänger, Radfahrer und Nutztiere (!) tummelten. Die erste autobahnähnliche Straße, die Berliner AVUS, verstärkte als Test- und Rennstrecke im Bewusstsein vieler den Eindruck, dass Fortschritt, Beschleunigung und Autobahnbau zusammengehören; die überall in Deutschland von großen Menschenmassen verfolgten Motorrad-Meisterschaftsläufe unterstrichen diese Wahrnehmung. Aufgrund all dessen – und weil die technische Entwicklung von Pkws weiter fortgeschritten war als der Straßenbau – wurden Forderungen nach Investitionen Curt Kaftan: „Die Landstraßen – Schlachtfelder des Kraftverkehrs“. Hafraba-Mitteilungsblatt 6/1931, S. 5. 10 Im Sommer 1930 waren im Deutschen Reich zum ersten Mal über eine halbe Million Pkws zugelassen (wenn man, wie damals üblich, die knapp 12.000 Omnibusse mitzählt). Noch um fast die Hälfte höher, bei 731.237, lag die Zahl der (Klein-)Krafträder. Der Motorisierungsgrad von Großstädten und nicht-großstädtischen Regionen war insgesamt praktisch gleich hoch (42 bzw. 45 Kfz pro 1.000 Einwohner), allerdings war der Pkw-Anteil in den Großstädten deutlich höher als außerhalb. 9

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in Hochleistungsstraßen laut. Damit der Autobahnbau Fortschritte machen konnte, waren ordnungs-, arbeitsmarkt- und haushaltspolitische Entscheidungen nötig, denn Verwaltungsprozesse mussten vereinheitlicht, Arbeitskräfte rekrutiert und enorme Geldmengen aufgewandt werden. In der demokratisch verfassten, von Partikularinteressen dominierten, hoch verschuldeten Weimarer Republik waren das unüberwindbare Hindernisse. Die nationalsozialistische Diktatur konnte Entscheidungen in der nötigen Größenordnung treffen. Schon diese Effektivität sollte zur Legitimierung des Regimes beitragen. Auf dieser sehr abstrakten Ebene exemplifiziert der NS-Staat dadurch Jüngers „Arbeitswelt“; ein Blick auf die konkreten, mit dem Autobahnbau verbundenen Anstrengungen und die begleitende Propaganda macht aber eher Unterschiede zwischen NS-Deutschland und „Arbeitswelt“ sichtbar. Die nationalsozialistische Propaganda hob vier Aspekte des Autobahnbaus hervor: Sie prägte und verbreitete den Begriff „Straßen des Führers“; sie pries die Bautätigkeit als Teil der volksgemeinschaftlichen „Arbeitsschlacht“;11 sie betonte die Verbindung zwischen Autobahnen und „deutscher Landschaft“, einer ideologisch aufgeladenen und ästhetisch verwerteten Natur; und sie erklärte Trassen und Brücken zu Kultstätten und verglich sie mit Tempeln, Domen und Pyramiden. Jünger dagegen sah die Autobahn nicht als Werk einer Person, sondern als „Ausdruck eines mächtigen Lebens“ (PP 299); sein Arbeitsbegriff kommt ohne rassische Dimension und politische Teleologie aus; er warnte vor großflächigen Eingriffen in das Landschaftsbild (dazu später mehr); die kultische Aufladung technischer Einrichtungen beschreibt er im Arbeiter genau, zum Beispiel beobachtet er eine bestimmte „Frömmigkeit“ der Zuschauer von Rennsportveranstaltungen (SW 8:166), allerdings ist sie für ihn nicht notwendigerweise an den völkischen Führerstaat gekoppelt. Jüngers Arbeiter zufolge ist dasjenige Herrschaftssystem legitim, das mit den Eigenschaften der Arbeitswelt in Einklang steht. Die Arbeitswelt legitimiert das System – nicht umgekehrt. Umgekehrt verhält es sich aber, das macht die nationalsozialistische Propaganda gern vergessen, beim Autobahnbau der 1930er-Jahre. Hier war es eben erst das Regime selbst, das die bisher umstrittene und von weiten Teilen der Politik und der Gesellschaft abgelehnte Autobahn hoffähig machte. Selbst Teile der NSDAP hatten die Hochleistungsstraße zuvor als zu teuer und zu technisch abgelehnt; sie befürchteten die unkontrollierte Vermischung verschiedener Bevölkerungsgruppen, die durch das wachsende Straßennetz in engeren Kontakt miteinander kämen; und sie hatten Bedenken, weil viele Baufirmen in jüdischer Hand waren. Keines dieser Argumente konnte dem Jünger des Arbeiters einleuchten – daher ließ sich Jünger auch nicht für die staatlich initiierte Autobahnliteratur des Nationalsozialismus vereinnahmen.12 11 Vgl. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 2000, S. 53f. 12 Vgl. Jan Robert Weber: Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher (1934–

1960). Berlin 2011, S. 221.

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Die propagandistische Begleitung des Autobahnprojekts war aus Sicht des NS-Staats nötig, weil ein nüchterner Blick auf die Zahlen gezeigt hätte, dass die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt keinen Anlass zur Euphorie, die Auswirkungen auf die Staatsfinanzen dafür allen Grund zur Sorge boten. Während das Statistische Jahrbuch des Deutschen Reiches den Bau der Reichsautobahnen hinsichtlich Streckenlänge, erbrachter Arbeitsleistung und verbauter Materialien akribisch dokumentiert, bleiben die finanziellen Investitionen in den Autobahnbau im Gegensatz zu den Ausgaben für andere Straßentypen ungenannt, wohl weil die Lücke gegenüber dem volkswirtschaftlichen Nutzen ungleich größer war. Nur in einem einzigen Jahr lag die Zahl der durch den Autobahnbau entstandenen Arbeitsplätze im (niedrigen) sechsstelligen Bereich. Hier war Jüngers Blick langfristiger: Dass ein den Charakter der Arbeitswelt so genau wiedergebendes Projekt auch auf den Arbeitsmarkt positive Auswirkungen haben würde, konnte für ihn keinem Zweifel unterliegen. Dass Arbeitsbedingungen und Unterbringung von Arbeitern in den 1930er-Jahren so miserabel waren, dass es zu Streiks kam und schon 1940 die Hälfte der eingesetzten Arbeiter zwangsrekrutiert werden musste, ist für Jünger wenig relevant, da seiner Einschätzung nach die Arbeitswelt als Ganze ein Zwangssystem ist, in dem der Eindruck der Selbstbestimmung grundsätzlich trügt. Bemerkenswert ist die Parallelisierung von Verkehr und Krieg durch den ehemaligen Frontkämpfer Jünger im Rückblick auch deshalb, weil der Autobahnbau von Vertretern der Wehrmacht weitgehend abgelehnt wurde. Sie sträubten sich vor allem gegen Autobahnen in Grenznähe, weil sie fürchteten, dass diese zum Einfallstor für fremde Armeen werden könnten. Durch die zunächst weiße Deckschicht seien die Fahrbahnen für feindliche Luftstreitkräfte zu leicht erkennbar. Die Fahrbahndecke sei außerdem für Schwertransporte grundsätzlich zu empfindlich. Solche logistischen Erwägungen, die auf die Siegeschancen der einen oder anderen Seite abzielten, konnten für Jünger im Entwurf der Arbeitswelt keine Rolle spielen. Krieg und Verkehr in der total mobilgemachten Gesellschaft hatten sich gegenüber früheren Epochen grundsätzlich verändert; individuelle Handlungsvollmacht und zielgerichteter, organisierter Konfliktaustrag standen nicht mehr im Vordergrund. Dies gilt auch für den Verkehr: Hier gibt es kein Äquivalent zur klassischen Kriegserklärung, die Jünger zufolge für den unausgesetzten Kriegszustand der Moderne ohnehin nicht mehr relevant ist. Jüngers Parallelisierung von Krieg und Verkehr entspricht, dass beide in den 1920er- und frühen 30er-Jahren (und, was den Krieg betrifft, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) eine weitgehend innerstaatliche Angelegenheit sind. Aus Jüngers selbstproklamierter Distanz zu allen herrschenden Ideologien scheint es, als zeichneten sich diese Kriege gerade nicht durch ein Ringen um Alternativen aus. Jünger zufolge ist die Arbeitswelt so hochgradig einheitlich, dass Unterschiede zwischen politischen und wirtschaftlichen Systemen kaum auffallen. Diese Position ist einer der Hauptgründe dafür, dass Jünger als kontroverser Autor gilt. Ihr entspricht

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Jüngers (sicher weniger kontroverse) Wahrnehmung, dass der Verkehr kein Kampf zwischen Gruppen ist, die unterschiedlich stark in einen Staat integriert sind. Der Verkehr unterscheidet sich demnach von den meisten Kriegen des 20. Jahrhunderts, die einen Kampf um Beteiligung darstellen. Systemteilnahme (Verkehrsteilnahme) ist hier jedoch schon Bedingung für die Konfliktteilnahme. Dies wiederum macht es fast unmöglich, ein Szenario für einen „Sieg“ auf diesem Konfliktfeld zu entwerfen. Jünger widerrief seine Diagnose, Krieg und Verkehr zeichneten sich durch zahlreiche Ähnlichkeiten aus, nach 1945 nicht. Damit geriet er in Widerspruch zum dominanten Verkehrsdiskurs der Bundesrepublik Deutschland. Krieg und Individualverkehr galten hier von Anfang an als Gegensätze. Deshalb wurde der Autoverkehr bis weit in die 1970er-Jahre im Vergleich mit anderen Industrien und Mobilitätsformen überdurchschnittlich gefördert. Die Politik sah in ihm das Heilmittel gegen den militaristischen Kollektivismus.13 Jüngers Äußerungen zum Verkehr heben darauf ab, dass Verkehrsmittel Kampfmittel sind und dass solche Kampfmittel im Rahmen groß angelegter Konflikte auch in der vermeintlich befriedeten westlichen Welt nach 1945 eingesetzt werden. Sie werfen damit die unbequeme Frage auf, inwiefern sich Bürger auch in Westeuropa und Nordamerika organisierten gewalttätigen Konfliktparteien mit strategischen Zielen anschlossen.

2 Unfall und Verantwortung Die Ähnlichkeit zwischen Krieg und Straßenverkehr macht Jünger vor allem an den Opferzahlen fest. 1937 und 1938 liegen die Zahlen jeweils deutlich über 7.000; zwischen 1950 und 1965 starben zweihunderttausend Menschen allein auf bundesdeutschen Straßen. Bis 1970 stiegen die Zahlen unaufhörlich. Im Zuge seiner geistigen Wende Mitte der 1930er-Jahre ändert Jünger seine Einschätzung der Verkehrstode. Im Mittelpunkt steht für ihn nun zunächst die Frage, inwiefern ein Verkehrsteilnehmer überhaupt beeinflussen kann, ob er auf der Straße zu Tode kommt oder nicht. In der Terminologie des Arbeiters gefragt: Wer feuert die „Geschosse“ des Verkehrs eigentlich ab? Jünger vermutet, dass der moderne Mensch „unter lautlosen und unsichtbaren Kommandos“ steht (SW 8:142, vgl. SW 8:361 und SW 5:60), und zählt den Verkehr offenbar zu jenen Kriegen, „von denen keine Kenntnis genommen wird“ (SW 8:198). Der Fahrzeugführer kann folglich kaum als Führer seines Fahrzeugs gelten. Jünger verwies schon in seinem Essay „Über den Schmerz“ (1934) auf eine neue Waffe der japanischen Armee, die „nicht mehr durch mechanische, sondern durch menschliche Kraft gesteuert wird, und zwar durch einen 13 Vgl. z. B. die Diskussionen am 13. Februar 1968 im Deutschen Bundestag zum Verkehrspoli-

tischen Programm für die Jahre 1968 bis 1972 der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache V/2494), besonders die Rede des Abg. Seifriz (Sitzungsprotokoll, S. 7977–7982).

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Steuermann, der in eine kleine Zelle eingeschlossen ist und den man zugleich als ein technisches Glied und als die eigentliche Intelligenz des Geschosses betrachten kann“ (SW 7:160). Entscheidend hier und damit auch entscheidend für die Machtposition des Autofahrers ist, dass das Geschoss zwar gelenkt wird, dass es aber nichts anderes sein kann als ein Geschoss. Der einzelne Mensch hat also nur die eine Wahlmöglichkeit (eigentlich eine contradictio in adiecto), seine Situation zu bejahen und ihrer einzigen Anforderung gemäß zu handeln, denn er werde „bis zum letzten für die sachlichen Zusammenhänge verantwortlich gemacht, in die er einbezogen ist“ (SW 8:154) – unabhängig davon, wie stark dies seiner Einflussmöglichkeit auf diese Zusammenhänge eigentlich entspricht. Jünger hatte in seinem Essay „Über die Gefahr“, der als Einleitung zu dem Bildund Textband Der gefährliche Augenblick erschien, absolute Gefahr und absolute Bequemlichkeit als die beiden verborgenen Endziele der Technik (nicht: des Menschen im Umgang mit der Technik!) identifiziert.14 Der Bildteil enthält vier Fotos von Autounfällen, alle im Zusammenhang mit Rennfahrten. Gefahr und Risiko stehen für Jünger, wenn es um Automobile und Straßenverkehr geht, lebenslang im Vordergrund; die Bequemlichkeit als erfreulicher Effekt findet deutlich seltener Erwähnung. „Wer sich ans Steuer setzt, muß mit dem Unfall rechnen, wie vorsichtig er auch fährt“ (SW 12:466, Philemon und Baucis, vgl. SW 10:215, Subtile Jagden), bringt Jünger seine Überlegungen auf den Punkt. Den Opfern werde in Verkennung der eigentlichen Lage ein Grad an persönlicher Verantwortlichkeit zugeschrieben, der ihre Kontrollmöglichkeiten kategorisch übersteige. Schneidend formuliert Jünger 1964: „Verstöße [gegen die Verkehrsdisziplin] werden mit Verwarnung, Arrest, auch mit dem Tode bestraft. Verkehrsunfälle sind Opfer – allerdings“ (SW 8:330, Maxima – Minima). Der Versuch der Medien, „den Verkehrsunfall zu moralisieren“ (SW 7:436, Der Gordische Knoten), dem vermeintlich disziplinlosen Verkehrsteilnehmer also charakterliches Versagen zu unterstellen, beruhe auf einem fundamentalen Missverständnis der Fähigkeiten des Einzelnen im Angesicht der Technik. Nicht nur die Medien, auch die Behörden gingen von solchen falschen Vorstellungen über den Verunglückten aus: „Ein falscher Handgriff ist hochgefährlich, zudem stellt er das alte Untertanenverhältnis wieder her: die Polizei wird mächtig, der Fahrer zum Verkehrssünder“ (SW 21:11, Tagebucheintrag 10. Januar 1986). Die Polizei erinnere den Menschen an eine Verantwortung, die er gar nicht wahrnehmen könne. Schon 1947 sprach Jünger verächtlich von „uniformierten Wegelagerern“, deretwegen das Reisen in Deutschland weniger sicher sei als in „Central-Afrika“.15 14 Ferdinand Bucholtz (Hg.): Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und

Berichten; mit einer Einleitung von Ernst Jünger. Berlin 1931. Jüngers Einleitung steht S. 9–16; Wiederabdruck PP 620–626. 15 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, Brief vom 18. Mai 1947, zit. in Weber, Ästhetik der Entschleunigung, S. 229.

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Jünger kritisiert sowohl die Verkehrsverhältnisse als auch die Rechtsauffassung in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre. Der zum verkehrspolitischen Leitwort avancierte Begriff „Verkehrssünder“ steht für eine Ethisierung des politischen und juristischen Diskurses, der nicht Straßenverhältnisse oder Fahrzeugeigenschaften, sondern vor allem menschliches Fehlverhalten für Unfälle verantwortlich macht16 und politischen Handlungsbedarf so implizit bestreitet. Jünger konzentriert sich in seinem essayistischen Werk immer stärker auf die Opfer. 1972 widmet er dem österreichischen Rechtsphilosophen René Marcic und dessen Frau Blanka, die beim Absturz des British-European-Airways-Flugs 706 über Belgien starben, den Essay Philemon und Baucis, in dem er sich ausführlicher mit Tod und Unfall im technischen Zeitalter auseinandersetzt. Zielpunkt des Essays ist der Aufruf, des einzelnen Menschen zu gedenken, der im Rahmen eines technischen Unfalls den Tod gefunden hat, und dieses Todesereignis „vom Zufall und vom Trug der Epoche [zu] befreien“ (SW 12:471), um Schmerz und Trauer und damit das Leben, wie es die Technik übersteigt, wieder zur Geltung kommen zu lassen. Der Trauernde in seinem Schmerz erschließt sich, gerade indem die Unbegreiflichkeit des Verlusts zum Ausgangspunkt eines Sinngebungsprozesses wird, eine Welt, in der er über das unpersönlich-technische Verfügen hinausgeht und die schuldlos Getöteten ehren kann (SW 12:467–468). Bei einem besonders dramatischen Todesfall an der Autobahn vollzieht Jünger zwar den Zusammenhang zwischen Übertritt und Ahndung nach, enthält sich aber angesichts der folgenden Ereignisse der Wertung. Raimund Schmid, Sohn des damaligen Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid, war im Juli 1956 „verbotenerweise auf den Grünstreifen der Autobahn getreten und dort von einer Polizeistreife gestellt worden. Er drohte, sich zu erstechen, wenn ihn jemand anfaßte, und führte diesen Vorsatz auch aus. Der Vater schreibt, daß er im Augenblicke seines Todes den Hyperion bei sich trug. Er wurde auf dem Tübinger Friedhof, ganz in der Nähe von Hölderlins Grab, beigesetzt.“17 Jünger ergänzt allerdings: „Der Zarthäutigkeit eines gewissen Teils unserer Jugend, die nicht mit der Grobheit eines Polizisten fertig werden kann, entspricht die Ruppigkeit jener Halbstarken, die die Polizisten einfach totschlagen.“18 Das extreme Ereignis verdeutlicht: Jünger verlangt vom Aussteiger eine konstruktive Alternative, und er ist nicht bereit, den Ordnungshüter um jeden Preis anzuklagen. 16 Vgl. Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht: Reformdiskussionen und Gesetzgebung seit dem

Ausgang des 19. Jahrhunderts. Berlin 2007, S. 299–300 und S. 137. Das Wort „Verkehrssünder“ stammt noch aus der Vorkriegszeit. 17 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, Brief vom 28. Juli 1956, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. – Vgl. Petra Weber: Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie. München 1996, S. 567. 18 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, Brief vom 3. August 1956, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach.

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3 Trauer und Abstumpfung Jünger macht Sorgen, wie wenig Sorgen sich die Öffentlichkeit um die hohe Zahl der Verkehrstoten macht. Die Frage, wie die Moderne mit der Gefahr und der Erfahrung tödlicher Unfälle umgeht, beschäftigt ihn über Jahrzehnte. Schon 1932 hatte er bemerkt, für die Moderne gelte die Maxime, es sei „der Sinn des Verkehrs, daß man überfahren wird“ (SW 8:139, Der Arbeiter). Auf dieses Thema läuft eines von Jüngers eindrücklichsten Traumnotaten h ­ inaus. Eine Gesellschaft ergeht sich im Garten eines Schlösschens. Aus unbekannten Motiven wird sie beschossen, was niemanden zu stören scheint: „Die Gesellschaft schien das ballistische Problem nicht zu beschäftigen. Nun ja, die flogen viel und blickten kaum von der Zeitung auf, wenn die Maschine sich von der Piste hob und dicht über einen Wald oder eine Kuppe dahinraste. Jeder hatte auch schon Verwandte auf der Autobahn verloren; die Kurve zu schneiden, gehörte zu ihrem Pläsier.“ (SW 13:344 f.)19 Die Anwesenden sehen keinen Grund, von ihrer Konversation und ihren Spielen abzulassen, und zwar weil sie laut Jünger daran gewöhnt sind, in Todesgefahr zu schweben. Jüngers Traumbild verschmilzt Krieg und Verkehr aufs Neue miteinander. Die Sorglosigkeit im Umgang mit dem – durch das schnelle Fahren auf kurviger Strecke auch bewusst herbeigeführten – Tod betrifft das eigene Leben, aber auch das Leben anderer: Um die toten Verwandten wurde offenbar nicht getrauert. Der unpersönliche Ausdruck, man habe Verwandte „verloren“, unterstreicht die Kühle. Diese Toten werden in Jüngers Erzählung Gläserne Bienen teilweise sichtbar. Der Protagonist muss sich mit dem Schrecken der technologischen Welt abfinden; um sich zu suggerieren, dass Schreckliches selbst im normalsten Leben vorkommt, sagt er sich: „Abgeschnittene Ohren liegen auf jeder Autobahn“. Er versucht, sich zu beruhigen, indem er sich einredet, die entsprechende Gewalt gehöre zum „Plan“, und wenn das so sei, „zählten die Opfer nicht“ (SW 15:539). Bereits in den 1930er-Jahren hatte Jünger darauf hingewiesen, dass das schnelle Fahren die Wahrnehmung des Einzelnen abstumpft. Wer sich zum Autofahren entschließt, stimmt Jünger zufolge dieser Entwicklung zu. Sein Gesicht wird zu der Maske, die „jeder Kraftfahrer besitzt“ (SW 8:126) und die – eine weitere Parallele zwischen Krieg und „Frieden“ – an die Gasmaske des Soldaten erinnert. Die Wahrnehmung des Fahrers und des Soldaten ähneln einander, das erlebt Jünger eigener Aussage zufolge noch sechseinhalb Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg. Am 27. Januar 1980 notiert er auf der Rückfahrt von Paris nach Wilflingen: „Zur Linken die Kathedrale von Reims. Ich sah sie für einen Augenblick – wie damals von der anderen Seite mit dem Fernglas aus den Kreidegräben bei Le Godat“ (SW 19 Ein weiteres Traumnotat mit Autounfall, allerdings ohne Autobahn, steht SW 5:126 f.

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5:572).20 Dass selbst eines der wichtigsten Kulturdenkmäler Frankreichs im Sichtfeld einfach nur aufflackert, gehört zu den Wahrnehmungsmustern einer, wie sich eben an der Wahrnehmung erweist, von Grabenkrieg und Autobahn in gleicher Weise geprägten Moderne. Demzufolge betrachtet Jünger den Straßenverkehr nicht als dynamisches, sondern als ein System, welches „das Lethargische, Abwesende, Weltverlorene“ am Menschen fördert (SW 2:67, Tagebucheintrag 19. August 1939). Die Betäubung – und nicht etwa eine waghalsige Fahrweise – macht Jünger als jene menschliche Schwäche aus, die das Autofahren gefährlich macht. Ihr muss die Bauweise der Autobahnen angepasst werden: Von der reinen Geometrie, die Jünger zufolge der Technik an sich am besten entspricht, mussten die Planer abweichen, „damit die Fahrer nicht einschliefen“. Die Auseinandersetzung mit diesem Kompromiss macht eine Unschärfe in Jüngers Denken sichtbar. Einerseits geht Jünger davon aus, dass sich „die Technik“ immer reiner realisieren wird; andererseits, so ist aus der eben zitierten Stelle wohl zu schließen, gehört die Lethargie zu den Effekten der Technik – den Menschen betäubt „das gewaltige Wiegenlied ihrer Monotonie“. Kompromisse werden also nötig bleiben – es sei denn, man entschlösse sich, noch weit höhere Opferzahlen in Kauf zu nehmen. Jünger hat, um es einmal zugespitzt zu formulieren, beim Fahren nicht die Augen zugemacht. Vor allem die späten Tagebücher durchzieht eine beträchtliche Anzahl von Beobachtungen aus dem fahrenden Auto heraus (die meisten stammen allerdings nicht von Fahrten auf der Autobahn). Zusammen mit den Beobachtungen aus dem Bus und aus dem Flugzeug, an denen Jüngers Stil anschaulich zutage tritt, ergeben sie eine Galerie beschleunigter, keineswegs unscharfer Wahrnehmungen. Jünger durchdenkt diese Wahrnehmungen und stellt fest, dass sie nach dem Ankommen weiterwirken. „Reproduzierende Projektion“ nennt er die kreative Verarbeitung auf der Fahrt gewonnener Eindrücke durch den wachen oder halb wachen Geist (SW 5:31). Die entsprechenden Textstellen zu sichten und zu systematisieren wäre lohnend. Früh erkennt Jünger, dass die Geschwindigkeit des Wahrnehmenden und die Eigenschaften des Wahrgenommenen in Wechselbeziehung zueinander stehen. Die Art und Weise der Fortbewegung wirkt auf die Qualität des gestalteten Raumes ein. Über den Besuch in seinem Kindheitsort Rehburg schreibt er am 19. Mai 1939: „Vor allem aber merkte ich die andere Zeit, in der wir uns befinden, an den Entfernungen, die ich sämtlich als Strecken im Gedächtnis hatte, die man zu Fuß durchmißt. Nun flogen wir im Auto in Minuten zwischen diesen Punkten hin und her.“ (SW 2:50) Durch die neue Fortbewegungsart haben sich die Strecken selbst verändert, sie sind nicht mehr Strecken, „die man zu Fuß durchmißt“, sondern Teil einer Landschaft, die immer stärker zur „Werkstättenlandschaft“ wird. 20 Zu Jüngers Einsatz in der Champagne vgl. Nils Fabiansson: Das Begleitbuch zu Ernst Jünger

In Stahlgewittern. Hamburg 22010, bes. S. 24–26.

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4 Landschaft Auch ohne Autobahnnetz ist dieser Prozess 1932 bereits so weit fortgeschritten, dass Jünger feststellt: „Es gibt keine Region mehr, die nicht durch Straßen und Schienen, durch Kabel und Funkwege, durch Flug- und Schiffahrtslinien in Fesseln geschlagen ist.“ (SW 8:226) Jünger setzt Kommunikation und Mobilität gleich: Beide dienten der „Mobilmachung“ und prägten eine Landschaft, die sich insgesamt in einem „wirren, unaufgeräumten Zustande“ befinde, der sich wiederum aus dem „unvollkommenen Zustand der Technik selbst“ erkläre; wenn die Technik sich weiterentwickelt, werde aus der „Werkstättenlandschaft“ eine „Planlandschaft“, die sich, wie sich bereits andeute, durch „eine größere Sauberkeit und Bestimmtheit der Linienführung“ auszeichnen werde (SW 8:177). Bis September 1939 wurden 3.171 km Autobahn für den Verkehr freigegeben. Sie waren angebunden an ein insgesamt 203.379 km umfassendes Reichs- und Landstraßennetz. Das reichsdeutsche Netz hatte damit eine Dichte erreicht, die vom heutigen (auf einer kleineren staatlichen Gesamtfläche angelegten) bundesdeutschen überörtlichen Straßennetz mit seinen etwa 230.000 km nicht mehr weit entfernt war. Die Straße ist Jüngers Erkenntnis zufolge nicht nur ein neutraler Schauplatz, nicht einfach ein Untergrund. Das moderne Leben spielt sich auf einer „asphaltierten Grundlage“ ab, die als „Oberfläche nicht ohne Sinn“ sei (PP 297), auf den Lebensvollzug also konkret einwirkt. Der beim Autobahnbau vorrangig eingesetzte Baustoff Stahlbeton ist für Jünger ein Material „zum Bau von Schutzgräben“ (SW 8:193). Nicht nur Autos, sondern die Autobahn selbst zeichne sich durch ein „hohes Maß an Technik“ aus, das ihr das Attribut „machina machinarum“ einträgt (SW 2:50, Tagebucheintrag vom 19. Mai 1939). Zur „Technik“ der Autobahn gehören die Regelmäßigkeit der Materialien und Oberflächen,21 die klare Beschilderung und die neuen Baustoffe und Bauelemente, zum Beispiel neue Rückhaltesysteme. Technisch wird die Autobahn des Weiteren durch das Verschwinden des anderen Menschen, dem der Fahrer auf der Autobahn nicht mehr begegnet: Fußgänger und Radfahrer sind ausgeschlossen, die Fahrer anderer Automobile bleiben durch die Höhenfreiheit der Knotenpunkte und durch Bauweise und Geschwindigkeit der Fahrzeuge weitgehend unsichtbar. Die Streckenführung der Autobahn wurde im Nationalsozialismus auch unter ­naturästhetischen Gesichtspunkten diskutiert. „Landschaftsanwälte“ sollten die Strecken so planen, dass sie sich in das bestehende Landschaftsbild einfügten und 21 Allerdings besaßen 1939 noch weit über 70 % aller Straßen und sogar 44,5 % der Reichsstraßen

nur Schotter- oder Kiesdecken („leichte Decken“). Nur 2,7 % der in überörtlicher Verwaltung befindlichen Straßen und auch nur 9,2 % der Reichsstraßen waren über 6,5 m breit. Zum Vergleich: Bundesstraßen mit je einem Richtungsfahrstreifen sind heute 7,5 m breit, neu gebaute Autobahnen der niedrigsten Entwurfsklasse 25 m.

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dem Fahrer eine möglichst ansprechende Aussicht boten.22 Es bleibt unklar, ob diese Diskussion für Jünger relevant ist oder ob er Autobahnen grundsätzlich als „werkstättenhaften“ Eingriff in die Landschaft wertet. Wahrscheinlicher ist Letzteres, denn trotz aller propagandistischen Aufwertung der „schwingenden Straße“, die sich von schnurgeraden Autobahnen in den USA unterscheiden sollte, beinhaltete der Autobahnbau beträchtliche Eingriffe in Wald, Boden und Geologie. Im Übrigen ist die Landschaft, in der der Autobahnbau stattfindet, ohnehin kein unberührter Urwald, sondern, das weiß Jünger sehr genau, bereits durch viele erhebliche Eingriffe gestaltet. Seinen Lesern sagte er bereits in den 1920er-Jahren mit Blick auf Kulturlandschaften im technischen Zeitalter: „Das hat die Maschine getan.“ (PP 158) Die Landschaftsanwälte hatten schließlich nicht den Auftrag, die Natur an sich zu schützen, sondern den Umbau zu kontrollieren, gerade im Hinblick auf die ideologische Mobilisierung der Landschaft als „deutsche Landschaft“, wie sie dem postnationalistischen Jünger der späten 1930er-Jahre fremd war. Solange die bundesdeutsche Verkehrswegeplanung vom Prinzip der Bedarfsorientierung nicht abweicht, gilt auch für sie, dass der Umgang mit der Umwelt („Landschaftsverbrauch“) nicht Korrektiv, sondern integraler Bestandteil technischen Handelns ist. Jahrzehntelang waren Umweltstandards allein am „nach dem jeweiligen Stand der Technik unvermeidbaren Maß“ von Emissionen (Lärm, Schadstoffe) ausgerichtet.23 Im Zusammenwirken von Technik, Politik und Umwelt wurde Letzterer nie mehr als eine rein passive Rolle zugestanden. Selbst ein später Tagebucheintrag, der im Hinblick auf das Thema Natur und Autobahnen positiv hervorhebt, dass der Vogel Weih (Milan) so viel Nahrung findet, dass Jünger ihn oft sieht, verdeutlicht durch die Wortwahl, wie Jünger die Hochleistungsstraßen einordnet: „an den Autobahnen und Abraumhalden“ tue der Vogel sich gütlich (SW 20:289; Eintrag vom 8. Mai 1983).

5 Planung Autobahnen sind für Jünger Inbild gewaltsamen, geschichtsvergessenen und verständigungsfeindlichen Planens und Handelns. Als weiteres Beispiel eines solchen nennt Jünger die Versuche, die deutsche Rechtschreibung grundlegend zu reformieren. Gegenüber seinem Bruder Friedrich Georg äußert er bereits Ende der 50er-Jahre die Hoffnung, dass „Ihr [der Bruder und seine Frau Citta] in München auch das infame Attentat rügen werdet, das gegen unsere Rechtschreibung im Gange ist. Es scheint, daß man die Praxis der Autobahnen auf die Sprache übertragen will. Hier täte ein 22 Dass die nationalsozialistische Regierung schöner baute als andere europäische Länder, findet

William H. Rollins: „Whose Landscape? Technology, Fascism, and Environmentalism on the National Socialist Autobahn“. Annals of the Association of American Geographers 85 (1995) 3, S. 494–520. 23 § 49 der StVZO vom 24. August 1953, laut Bundesgesetzblatt I. 1953, S. 1183.

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neuer Hamann, eine neue Apologie des Buchstabens H not, und vor allem handfeste Knüppel aus dem Teutoburger Wald.“24 Jünger empfiehlt also eine Mischung aus Eloquenz, Intelligenz25 und brutaler Gegengewalt. Dass hohe geistige Güter auch mit der Waffe verteidigt werden müssen, schrieb er schon 1951 in Der Waldgang. Er lobte dort, dass 1933 „ein junger Sozialdemokrat“ seine Freiheit im Schutzraum der vermeintlich unverletzlichen Wohnung verteidigte, indem er im Hausflur „ein halbes Dutzend sogenannter Hilfspolizisten erschoß“ (SW 7:351). Zwei Monate nach dem Brief an seinen Bruder greift Jünger das Thema auf und verleiht ihm neuen Nachdruck, indem er seine Position auch historisch begründet: Gerade die Sprache sei doch den Deutschen in dieser „Trümmerwelt“ erhalten geblieben. „Einen solchen Bestand durchquert und zerstört man nicht mit Richtlinien, die vielleicht für die Anlage von Autobahnen geeignet sind.“26 Gegen Rechtschreibreformen verwahrte sich Jünger bis an sein Lebensende.27

6 Begegnung Wenn zu den Symbolen der Arbeitswelt die Autobahn gehört, die kriegsähnlichen Zuständen Vorschub leistet, unbeherrschbare Risiken birgt, die Wahrnehmung betäubt, Landschaft verbraucht und Planer und Macher in ihrem Tun bestätigt, und wenn Jünger sich ab Mitte der 1930er-Jahre von der Arbeitswelt distanziert, ist zuletzt zu fragen, was das für seine Perspektive auf den Straßenpersonenverkehr bedeutet. Die Antwort scheint einfach: Jünger wird zum Waldgänger – er geht abseits der gebahnten Wege zu Fuß. Es lohnt sich aber, es sich mit der Antwort nicht zu einfach zu machen, will man in Zeiten intensiver Debatten über Mobilität und Ökologie, über Sicherheit und Freiheit Jüngers Werk im Hinblick auf diese Themen ausloten. Jünger argumentiert, dass die Fortbewegung zu Fuß noch keine Distanznahme von der Technik beinhaltet. Der „Fußgängerverkehr“ gehöre zur Technik (PP 639), und die wenigen Fußgänger, die noch als Spaziergänger unterwegs sind, passten sich der Geschwindigkeit der Technik an und werden zu Wettläufern (vgl. SW 8:121 und 183). Fußgänger erlebten den Verkehr als so betäubend wie Autofahrer (PP 298) und 24 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, Brief vom 4. Januar 1959, Nachlass Ernst Jünger, DLA

Marbach.

25 Hamann sprach sich in Neue Apologie des Buchstabens h (1773) dafür aus, diesen Buchstaben nicht,

wie von einem frühen Rechtschreibreformer gefordert, abzuschaffen. Auch Jünger meint, das H sei „in seiner Unhörbarkeit als der Vertreter der verborgenen, verschwiegenen Dinge, als Symbol des geistigen Anteils an den Worten“ bedeutsam (SW 9:410). 26 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, Brief vom 4. März 1959, Nachlass Ernst Jünger, DLA Marbach. 27 Vgl. noch seinen Beitrag zur FAZ vom 12. Oktober 1996, wieder in SW 22:421 (dort irrtümlich auf den 12. Januar 1996 datiert).

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werden in ihren Möglichkeiten durch die Welt des Verkehrs beeinflusst. Der „Wald“, in den sich der freiheitsliebende Mensch bei Jünger spätestens in den 1950er-Jahren zurückzieht, ist keine Frage der Flächennutzung, er ist „überall“ (SW 7:353) – auch im Auto. Inmitten der Welt der Zerstörung gibt es, wie Jünger in einer Rezension von Georges Bernanos auf Deutsch als Der Abtrünnige erschienenen Romanen L’Imposture und La Joie hervorhebt, bereits Widerständler, die durch „nächtliche Telefonanrufe und Automobilfahrten“ miteinander in Verbindung stehen (PP 477). Sie stellen sich der Welt des „inneren Nicht-mehr-beteiligt-Seins“ entgegen (PP 474), und zwar, wie die Waldgänger,28 in verborgener Gemeinsamkeit. Trotzdem ist Jünger als aufmerksamer, die eigenen Wahrnehmungsweisen und -voraussetzungen mitreflektierender Beobachter der technischen Welt in erster Linie Fußgänger, auch Stadtgänger, denn nur diesem ist das Einhalten möglich, das die Voraussetzung genaueren Hinsehens ist und aus dem sich die Begegnung ergeben kann, der Jünger immer stärkere Aufmerksamkeit widmet. Weil all dies in der Sphäre der beschleunigten Fortbewegung als Hindernis gälte, darf man die Autobahn nicht überqueren, man kann sie nicht von einem Bürgersteig aus beobachten, und man kann an ihrem Rand keine Cafés oder Geschäfte eröffnen (allenfalls Raststationen und Tankstellen). Jünger interessieren aber solche Gegenbilder zur Arbeitswelt: Er betreibt „Straßenstudien“. Das von ihm gern gebrauchte sprechende Wort bezieht sich gerade nicht, obwohl es das anzudeuten scheint, auf Streckenführung, Gestaltung von Fahrbahnen, Mittel- und Seitenstreifen, sondern auf deren Nutzung, auf die Situation eines verkehrsdurchflossenen Stadtbilds. Der Spaziergänger bekommt das Gefühl, „bei Reich und Arm zu Gast zu sein, und der Bettler, der mich ansprach, erwies mir einen Dienst, indem er mir Gelegenheit gab, es zu bestätigen“ (SW 9:327). Zufallsbegegnungen wie diese vollziehen sich „auf der Straße“, also am Straßenrand, oder, man denke an die schöne Begegnung mit den Benediktinermönchen (SW6: 162–165), im Bus. Fast als ironischer Kommentar zur Einsamkeit des Autofahrens mag der Tagebucheintrag zu werten sein, der von Zufallsbegegnungen im Auto erzählt – im Taxi nämlich: Jünger setzt Taxifahrer und Kammerzofe gleich, die beide „oft merkwürdige Dinge“ erlebten (SW 5:298). Durch den Verweis auf Mirbeaus Journal d’une femme de chambre wird das Automobil zum Ort, der die Bodenlosigkeit der Moderne sichtbar macht.

7 Schluss Jüngst wurde behauptet, Jünger stehe, seinem distanziert-oppositionellen Habitus zum Trotz, meist im Einklang mit herrschenden geistigen Strömungen der Zeit nach 28 Vgl. Christophe Fricker, „The Worker’s Conversion? Ernst Jünger’s Waldgang“. In. andererseits.

Yearbook of Transatlantic German Studies 1 (2010), S. 95–106.

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1945.29 In zwei verkehrspolitischen Fragen konnte hier das Gegenteil gezeigt werden: Jünger hatte weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg Interesse am Straßenbau als Konjunkturfaktor und als Beitrag zur Stabilisierung eines bundesdeutschen Nationalbewusstseins,30 und er sah die Hässlichkeit technischer Einrichtungen sowie die Dimension der Eingriffe in die Natur schon kritisch, als der Umweltschutz noch eine Sache staatlicher Funktionseliten war.31 Deshalb sah er im Autobahnbau immer auch einen Verlust. Seine Geschichtsphilosophie ist keine klassische Teleologie, die Autobahn ist nicht nur ein Zeichen des Fortschritts, sondern auch Ausweis einer spätzeitlichen Krise. In An der Zeitmauer (1959), dem Folgeband zu Der Arbeiter, vergleicht Jünger die Autobahnen mit den Heerstraßen des Römischen Reiches (SW 8:464). Er suggeriert, dass Fernstraßen zwar bedeuten, dass sich Macht auch an der Peripherie eines Reichs aktualisieren kann, zugleich aber, dass sie dies erst muss, dass sie also nicht ohnehin wirksam ist – obwohl der von den Fernstraßen erschlossene Raum formal bereits zum Machtbereich des Bauherrn gehört, also faktisch einmal zu diesem gehört hat. Jünger hält also der Bundesrepublik Deutschland und rückblickend auch dem totalitären nationalsozialistischen Regime die Grenzen ihrer Macht vor. Ungewöhnlich ist Jüngers Weigerung, im Autobahnverkehr etwas Dynamisches zu sehen. Damit spricht er ihm eines der wichtigen Kennzeichen der Moderne ab. Jünger argumentiert zweischrittig: Während zum Verkehr eine solche Beschleunigung („Geschwindigkeit“, vgl. SW 8:152) gehört, dass unwillkürlich auch die Erwartungen an eine einzuhaltende Mindestgeschwindigkeit hochgeschraubt werden (vgl. SW 8:183), ist die durch ihn geprägte Welt letztlich eine Welt des Stillstands (sie ist „in Fesseln geschlagen“) und der festen Ordnung (vgl. SW 8:174–176). Geradezu als Burn-out-Kritik zu lesen ist die Warnung, dass derjenige, der sich am schnellsten bewegt, am wenigsten ans Ziel kommt (SW 8:183). Zu fragen ist schließlich, ob einige von Jüngers Vorbehalten gegen die Autobahn nicht inzwischen überholt sind. Die Parallelisierung von Krieg und Verkehr beruht nicht allein, aber doch zu einem beträchtlichen Teil auf der hohen Opferzahl beider Sphären. Nun ist aber die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland trotz eines rasant wachsenden Fahrzeugbestandes im Laufe der letzten vierzig Jahre um über 80 Prozent gesunken. Ist damit ein Abschnitt der Moderne beendet? Wird die Welt, die an Mobilität stets 29 Matthias Schöning / Ingo Stöckmann: „Diskrete Diagnosen: Ein Plädoyer für neue Frage-

stellungen“. In: dies. (Hg.): Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte. Berlin 2012, S. 3–33, hier S. 5. 30 Vgl. Dietmar Klenke: „Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Umwelt. Von der Motorisierungseuphorie zur ökologischen Katerstimmung“. In: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 15 (1994), Umweltgeschichte: Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive, S. 163–190, hier S. 181. 31 Vgl. ebd. S. 184.

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noch gewinnt, nun friedlicher? Genießen wir eine Bequemlichkeit, die Jünger sich auf seinen vielen Reisen zwar zugestanden, die er den Lesern seiner späten Werke nur nicht mehr eingestanden hat?

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Zwei Geschwindigkeiten · Über das Verhältnis von Autobahn und Literatur seit 1945

1 Mautdesaster und Turbo-Rolf, Sekundenschlaf und Rekordstau, Leitplanken und Lichthupe, Geisterfahrer und Baustelleninformationssystem – die deutsche Sprache hat der Autobahn viele Neologismen zu verdanken. Und die Namen mancher Ausfahrten, Knotenpunkte und Raststätten wirken wie Sehnsuchtsorte aus Pulp-Fic­ tion-Romanen: Auf der A44 geht’s an Heiligenhaus-Hetterscheidt vorbei, auf der A42 an Castrop-Rauxel-Bladenhorst und in Dresden auf der A4 am Wilden Mann. Von dort ist es nicht weit bis zur A9, an der es eine Raststätte gibt, der das Männermagazin Maxim 2002 in einem Test den niedrigsten Flirtfaktor bescheinigte, obwohl sie Nürnberg-Feucht heißt. Der Einfluss der Autobahn auf den Alltag reicht aber weit über unseren Wortschatz hinaus. Die Autobahn hat Macht über Zeit und Raum. Der Verkehr organisiert unser Leben. Die Sommerferienregelung soll – gestaffelt nach Bundesländern – Staus vermeiden und bestimmt, wann Eltern Urlaub nehmen und Kinder die Welt entdecken. Das 12.879 Kilometer lange Streckennetz1 von Flensburg bis Basel, von Aachen bis Frankfurt/Oder ist der einen Lieblingsthema und der anderen Hassobjekt. Hier können postpubertäre Jugendliche vermeintliche Defizite kompensieren, gestresste Angestellte ihre Aggressionen ablassen und Sportwagenbesitzer ordentlich aufs Gas drücken. Die Autobahn ist ein unübersehbares Zeichen für Mobilität und seit der Eisenbahn die größte raumplanerische Umweltkatastrophe unserer Zivilisation. Der Mythos Autobahn ist aber immer auch eine Inszenierung ersten Ranges. Und es ist sicher kein Zufall, dass die Autobahn dreimal in der deutschen Geschichte im Zusammenhang mit Krisen ins mediale Bewusstsein gerückt ist. Die Straßen des führerscheinlosen Führers sollten die Arbeitslosigkeit verringern; die Sonntagsfahrverbote die möglichen Folgen einer Energieknappheit mindern; und das Mautsystem von der Firma Toll Collect sollte Geld in die leeren Kassen der Bundesregierung spülen. Die Autobahn ist ein Politikum, Gradmesser für den gefühlten Wohlstand des Landes. 1

Vgl. Statistisches Bundesamt, http://www.statistik-portal.de/Statistik-Portal/de_jb16_jahrtab36. asp, abgerufen am 15.12.2013.

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Seltsam, dass ein Bauwerk mit einer derart gesellschaftspolitischen Bedeutung in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur kaum eine Rolle spielt. Was der am 14. Dezember 2001 bei einem Autounfall auf der englischen Landstraße B 1332 zwischen Norwich und Poringland ums Leben gekommene Literaturprofessor und Schriftsteller W. G. Sebald in seiner Poetikvorlesung 1997 an der Universität Zürich beklagte,2 nämlich dass die deutschen Schriftsteller in der Vergangenheit das Thema Luftkrieg sträflich vernachlässigt hätten, ließe sich also auch für den Umgang der Autoren mit der Autobahn sagen. Bisher nahmen ihre Protagonisten Schleichwege, um Häschern oder eigenen Dämonen zu entkommen, oder sie benutzten öffentliche Verkehrsmittel und tauchten in der Anonymität der Masse unter. In Rolf Dieter Brinkmanns Novelle In der Grube (1962) reist ein junger Mann im Zug in seine Heimatstadt zurück. Der namenlose Erzähler in Nicolas Borns Debütroman Der zweite Tag (1965) erinnert sich, im Zug entgegen der Fahrtrichtung sitzend, während die unmittelbare Vergangenheit an ihm vorbeizieht, an der Vortag. Bernward Vespers Romanessay Die Reise (1977) bleibt, trotz des Titels, statisch; die Reise vollzieht sich mehr im Bewusstsein des Autors, als dass sie eine Verbindung zwischen den Schauplätzen markiert. Martin Walser liefert in seinem 1979 erschienenen Roman Seelenarbeit das Psychogramm eines Chauffeurs, der seinen Chef quer durch Deutschland fährt. Ausführlich widmet sich Walser der „Gedankenproduktion“,3 der Sklavennatur und den Verdauungsproblemen seiner Hauptfigur – und bestätigt damit einmal mehr das Vorurteil der Angelsachsen, dass die Deutschen analfixiert seien. Die Beschreibung der Autobahn reicht bei Walser über die schlichte Prosa eines Navigationsgerätes nur selten hinaus: „Man fuhr heute den hinteren Weg zur Autobahn, über die 14 und die 27.“4 Und wenn doch, korrespondiert sie mit dem Innenleben des Fahrers: „Als die ersten Industrieanlagen links und rechts der Autobahn auftauchten, fühlte sich Xaver besser. Das stählerne Röhrengeschlinge der Chemiefabriken kam ihm vor wie die Großdarstellung seiner Darmsituation.“5 Siegfried Blum, Held in Jörg Fausers Krimi Der Schneemann (1981), flüchtet mit fünf Pfund Kokain von München nach Frankfurt mit der Deutschen Bundesbahn. Und der snobistische Erzähler in Christian Krachts Faserland (1995) lässt seinen Triumph stehen und reist von Sylt nach Zürich abwechselnd mit dem ICE, dem Flugzeug oder dem Interregio. Nur von Heidelberg nach München und von München nach Lindau wird er von einem Freund namens Rollo über diese „endlose deutsche Autobahn“6 gefahren. Aber während die anderen Strecken ausführlich beschrieben werden, die Inneneinrichtung der Fahrzeuge, die Mitreisenden, die Art der Fortbewegung, bleibt das Straßenerlebnis 2 3 4 5 6

W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München 1999. Martin Walser: Seelenarbeit. Frankfurt a. M. 1983, S. 166. Ebd. S. 15. Ebd. S. 31. Christian Kracht: Faserland. Köln 1995, S. 115.

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seltsam blass. Für die meisten Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 und die ihnen unmittelbar nachfolgende Schriftstellergeneration war die Autobahn kein Thema. Ganz im Gegensatz zu den USA, wo die Road Novel zu einem Genre geworden ist: Sinclair Lewis’ Free Air (1919), John Steinbecks The Grapes of Wrath (1939), ­Vladimir Nabokovs Lolita (1955), Jack Kerouacs On The Road (1957), Katherine Dunns Truck (1971), Doris Betts Heading West (1981), Paul Hemphills King of the Road (1989), Pauls Austers The Music of Chance (1990), Mark Childress’ Crazy in Alabama (1993), Pagan Kennedys Spinsters (1995) oder Steward O’Nans The Speed Queen (1997). Aber zwischen New York und San Francisco sind die Straßen unendlich, das Tempo gedrosselt und der Himmel weit. In Europa, wo der Asphalt immer wieder von Grenzen durchbrochen wird und die Geschwindigkeit grenzenlos zu sein scheint, bleibt wenig Zeit für Kontemplation oder Kreativität. Kein Wunder, dass in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 das sonderbare Nachbarsmädchen Clarisse McClellan zum Bücher verbrennenden Feuerwehrmann Guy Montag sagt: „Manchmal glaube ich, die Automobilisten wissen überhaupt nicht, was das ist, Gras oder Blumen, weil sie nie langsam daran vorbeikommen. Wenn man einem Autofahrer etwas Grünverwischtes zeigte, würde er sagen: ‚Ja, das ist Gras.‘ Etwas Rötlichverwischtes? ‚Das ist ein Rosengarten.‘ Weißverwischtes bedeutet Häuser. Braunverwischtes Kühe. Mein Onkel ist einmal langsam gefahren, auf einer Autobahn. Er fuhr mit sechzig Stundenkilometern und wurde zwei Tage lang eingesperrt.“7 Das Rasen mit den „Turbinenautos“ ist die oberste Freizeitbeschäftigung. Sie dient der Zerstreuung, damit niemand in der Lage ist, über den gesellschaftlichen Zustand nachzudenken. „Wenn man nicht mit hundertfünfzig Stundenkilometer dahinstiebt, wobei man an nichts als an die Lebensgefahr zu denken vermag, dann treibt man irgendeinen Sport oder sitzt in seinen vier Fernsehwänden, mit denen sich schlecht streiten läßt.“8 Autofahren ist hier Entertainment, das die Sinne betäubt. Nur zu Fuß lässt sich die Straße adäquat beschreiben, wie der walisische Schriftsteller Iain Sinclair in seinem Sachbuch London Orbital (2002) bewies, nachdem er die britische Hauptstadt der Umgehungsstraße M 25 folgend umrundet hatte. Oder, besser noch, man kommt ganz zum Stillstand und richtet den Blick vom Auge des Sturms aus auf das flüchtige Chaos um einen herum. So wie der Architekt Robert Maitland in J. G. Ballards Roman Concrete Island (1974), der mit seinem Jaguar auf einer Verkehrsinsel zwischen dem Westway und dem M-4-Motorway in London strandet und sich nur von dem ernährt, was er auf der Straße findet. Wer aber auch in Europa Rausch und Road zusammenbringen will, der muss schon Sex ins Spiel bringen, wie J. G. Ballard in seinem anderen, ein Jahr zuvor erschienenen 7 8

Ray Bradbury: Fahrenheit 451. Zürich 1981, S. 18. Ebd., S. 93.

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Roman Crash über einen Autounfallfetischisten, der zum „nightmare angel of the expressways“ wird. Und wer der Enge entkommen will, der muss nach den Sternen greifen – so wie Arthur Dent in Douglas Adams Hexalogie The Hitchhiker‘s Guide To The Galaxy (1979–1992). Dent entkommt nur mit Pyjama und einem Handtuch bekleidet der Zerstörung der Erde durch Vogonen, die eine Hyperraumexpressroute bauen wollen, und bricht zusammen mit seinem Freund Ford Prefect – benannt nach einem britischen Automodell – zu einem völlig halluzinogenen Weltraumtrip auf. In Deutschland blieben die reisefreudigen Nachkriegsschriftsteller bis auf einige wenige Pulp-Fiction-Ausnahmen stets auf dem Boden. Es scheint, als habe es – womöglich bedingt durch den Mythos, Hitler habe die Autobahn erfunden – Berührungsängste seitens der Autoren gegeben. Einige mögen in der Schnellstraße das einzige sichtbare Überbleibsel des Faschismus gesehen haben, andere fürchteten wohl deren Wirkungsmacht in der Wirtschaftswunderzeit und wollten sich nicht nachträglich in den Dienst der noch im Literaturbetrieb vertretenen ehemaligen Mitglieder der Reichsschrifttumskammer stellen. Jede Beschreibung oder Nennung wäre, dieser Denkfigur folgend, affirmativ gewesen, reaktionär und restaurativ. Eine weitere Ursache mag darin zu suchen sein, dass die Technikbegeisterung durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs insgesamt korrumpiert war. Dies würde auch die Renaissance einer politisch unbedenklichen Naturlyrik in den Vierziger- und Fünfzigerjahren erklären – und den Erfolg von Hermanns Hesses neoromantischem Roman Der Steppenwolf, in dem in einem virtuellen Theater eine „Hochjagd auf Automobile“9 veranstaltet wird. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das längste Bauwerk des Landes in der ernsthaften deutschsprachigen Literatur seit 1945 kaum Spuren hinterlassen hat. Im Dritten Reich wurde dagegen eine Fülle von belletristischen und journalistischen Werken publiziert, in denen die Autobahn eine zentrale Rolle spielt – zu einer Zeit, als erst wenige Kilometer fertiggestellt waren und sich kaum jemand ein eigenes Auto leisten konnte; so etwa in Heinrich Hausers Reisebericht Fahrten und Abenteuer im Wohnwagen (1935), Heinz Oskar Wuttigs Die Straße aus Eisen und Stein (1936), ein, wie es im Untertitel heißt, Roman von froher Kameradschaft, Hans Schmoddes Erzählband Kippe und andere Geschichten von der Autobahn (1937), Arno Thauß’ Die Nibelungenstraße – Ein Roman vom Autostraßenbau (1937), Georg A. Oedmanns Roman Eine Straße geht durchs Land (1938) oder Wilhelm Utermanns Roman Der Herr Prinzipal (1940).10 Sie dokumentierten nicht die Gegenwart, sie schrieben – auch um die Propagandamaschine zu bedienen – die Zukunft herbei. Der eigentliche Ausbau der Autobahn 9 Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Frankfurt a. M. 1955, S. 184. 10 Vgl. hierzu Erhard Schütz / Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung

der „Straßen des Führers“. Berlin 1996, S. 110–112.

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in den Fünfzigerjahren und die zunehmende Mobilisierung der Deutschen wirkten sich mit deutlicher Verzögerung auf die junge bundesrepublikanische Literatur aus. Der erste deutschsprachige Nachkriegstext, in dem die Autobahn einen besonderen Stellenwert zugewiesen bekommt, ist Friedrich Christian Delius Roman Ein Held der inneren Sicherheit aus dem Jahr 1981. Vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes erzählt Delius die Geschichte des ehemaligen Rallyefahrers Roland Diehl, der mit Mitte Dreißig zum Stillstand gekommen ist und als Referent Personalführung im Kölner Haus des Verbandes der Menschenführer, „Schaltstelle für Interessenkoordination in allen grundsätzlichen Fragen der Wirtschaft“,11 arbeitet. Er ist Spezialist für Grundwerte, Ghostwriter seines Chefs Alfred Büttinger. Diehl sieht sich aber selbst – wenn auch ironisch gebrochen – als „Chefdenker“, als einen, der nicht länger im Windschatten eines anderen fahren will, dem eine eigene Führungsposition zusteht. Ein Held der inneren Sicherheit ist das Psychogramm eines von Ehrgeiz und Selbstzweifeln Getriebenen. Die Möglichkeit zum betrieblichen Aus- oder Aufstieg bietet sich ihm, als Büttinger nach einem brutalen Feuergefecht von Terroristen entführt wird – wie dessen reales Vorbild, der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Alles geht ihm zu langsam: die Fahndung, die Berichterstattung darüber, die Neuorganisation des Unternehmens. Das Leben kommt ihm vor wie ein Stau. Am liebsten würde er zügig daran vorbeiziehen, so wie seine Wahrnehmung zügig an allem vorbeizieht. Das zeigt sich nicht nur daran, dass die Schlagzeilen unvollständig wiedergegeben werden, weil die entscheidende Nachricht über den Verbleib Büttingers fehlt, sondern auch in den teilweise interpunktionslosen Aufzählungen, wie sie – den Bewusstseinsstrom der Moderne wieder aufnehmend – auch stilprägend für den Neuen Realismus waren. Diehl hat aber, anders als die Protagonisten bei Born und Brinkmann, eine „tiefsitzende Abneigung gegen Zugfahrten“.12 Er fühlt sich bei dem Gedanken daran an seine erste Freundin erinnert, an melancholische, keusche Zeiten. „Der Zug eine einzige Zumutung, kannst nicht halten beschleunigen wenden. Mit dem Auto stünden alle Möglichkeiten offen und Liegesitze und bei Regen und Wind endlich geschützt.“13 Der polyamore Individualverkehr entspricht im doppelten Wortsinn eher seinem Naturell, seinem Freiheitsdrang. Seine Freundin durchschaut das sofort, indem sie ihm eine Platte von Queen schenkt, A Night At The Opera von 1975, und darauf den Song I’m In Love With My Car mit einem Herzen kennzeichnet. Die unverschuldete Lähmung, in die die Entführung des Menschenführers der Menschenführer das ganze Unternehmen, das ganze Land versetzt hat, nimmt Diehl persönlich: „Der dichte Verkehr, die abgeblockten Überholmöglichkeiten genügten, 11 Friedrich Christian Delius: Ein Held der inneren Sicherheit. Zit. n.: Deutscher Herbst. Rein-

bek 2005, S. 15.

12 Ebd., S. 167. 13 Ebd., S. 168.

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diese Enge empfand er wie fast jeden Morgen als Beleidigung seiner Person und seines BMW.“ Wegen seiner Fahrten zur niederländischen Grenze gerät auch er ins Visier der Ermittler. Er schafft es, ihnen eine plausible Begründung dafür zu liefern, was er der Polizei jedoch verschweigt, ist der „Autobahnfilm“, der täglich vor seinen Augen abläuft: Oft nach der Arbeit hatte er keinen anderen Wunsch, als die nächste staufreie Autobahn anzusteuern, den Wagen auf Spitze zu jagen und noch einen Tank leerzufahren, bis der Ärger des Tages verraucht, bis das taube Gefühl aus den Fingerkuppen verschwunden war, die nur Tasten gedrückt hatten am Diktiergerät an der Klimaanlage am Telefon. Nach dem unbewegten Tag im Schreibtischdrehstuhl oder auf Sesseln in Konferenzräumen sehnte er sich nach Bewegung, nach Tempo, nach Vollgas. Diehl der Rallyefahrer und Kilometerfresser, auch wenn er den Autobahnfilm schon hundert Mal gesehen hatte, auf den Straßen konnte er die einschläfernden Statistiken vergessen und die Reden nach Schema A oder B oder C. Sobald er über 150 Kilometer die Stunde kam, fühlte er sich leicht.14

Er, der Chefdenker, hält sich nach außen hin zurück, lenkt seine Wut nach innen, wartet, bis sie sich – verspätet und in wettbewerbsgesellschaftlich anerkanntem Rahmen – entlädt. Perfekte Affektkontrolle, bis er die Straße unter den Reifen spürt. Dann aber bricht es aus ihm heraus, und er mutiert zu dem, der er seinem Selbstverständnis nach ist: zum Cheflenker. Das Autobahnfahren erfüllt bei Diehl aber noch eine andere Funktion als Aggressionsabbau. Es gibt ihm ein kleingeistiges und kleinbürgerliches Gefühl von Überlegenheit, von Macht über Zeit und Raum – und über Menschen: Diehl nahm sich den Spaß, die Profile der Überholten zu mustern und jedesmal auf den empörten Anti-BMW-Blick zu warten. Alles Neid, alles höhere Verwaltungslümmels, Beamte, die sich gleich nach der Geburtstagsfeier verdrückten, lauter Zahnarztpatienten und Frühfeierabendmacher unterwegs, alle schon heim zu Mutti gute Stube warmes Essen eigen Heim in einem der bergischen Riesendörfer da oben. Mit all denen wollte er nichts zu tun haben, das dachte er ohne Verachtung, sie waren ihm gleichgültig wie Rollstuhlmenschen.15

Am Schluss wird Diehl Leiter der Abteilung „Medien Öffentlichkeit Versachlichung“ und nutzt seinen Wagen nur noch innerstädtisch. Er streift alle Individualität zugunsten einer elitären Gemeinschaft ab, spricht acht Stunden am Tag im Plural und passt sich der Geschwindigkeit der anderen an, ohne Langsamkeit als Makel zu empfinden. Die zynische Pointe von Delius’ Roman besteht darin, dass ein Nachgeborener im Konfliktfeld des Deutschen Herbstes durch das Gasgeben auf Hitlers Autobahn 14 Ebd., S. 63. 15 Ebd. S. 113.

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seinen Eigensinn verliert und zu einem neuen Führer wird, einem Menschenführer im Verband der Menschenführer. Ein Held der Inneren Sicherheit wird für lange Zeit eine Ausnahme bleiben. Nachfolgende Texte geben der Autobahn sehr viel weniger Raum und Bedeutung, auch dann, wenn die Straße zum auslösenden Moment der Handlung wird. So beschwört Thorsten Becker in seiner 1985 erschienenen Erzählung Die Bürgschaft das literarische Potenzial der Transitautobahn nach Westberlin.16 Langsamkeit und Langeweile bilden hier die Voraussetzung fürs Erzählen. Die Transitautobahn zwischen der Bundesrepublik und der urbanen Insel im Osten Deutschlands bot von beidem genug. Strecke und Geschwindigkeit waren festgelegt, drei Stunden in einem von Kontrollpunkten eingegrenzten Vakuum, das es mit allen Mitteln der Kunst zu füllen galt. In Beckers Bürgschaft sind es Tramper, die mit ihren wilden Geschichten die Fahrt zum Abenteuer werden lassen. Einer, der Glatze heißt, aber kein Skinhead ist, erzählt von Saufgelagen und Eskapaden und stimuliert dadurch die Fantasie des Fahrers. In Westberlin angekommen, wechselt er bald die Seiten der Stadt und des Landes, zieht vom Westen in den Osten, von Kreuzberg in den Prenzlauer Berg, und findet in den Kneipen an der Schönhauser Allee eine neue Heimat. Irgendwann hält er es nicht mehr aus; er fährt auf die Autobahn und beschließt, mit einem Lada die Grenzanlagen zu durchbrechen. In Gudrun Pausewangs 1983 veröffentlichter Erzählung Die letzten Kinder von Schewenborn oder … sieht so unsere Zukunft aus? ist es früh vorbei mit den hoffnungsvollen Tramper- und Aussteiger-Geschichten der Hippie-Ära. Zwei ungenannte Mächte haben mit Atombomben nicht nur Familien, sondern auch das deutsche Straßennetz zerrissen: „Der Vater führte uns auf die Autobahn Kassel–Frankfurt – oder auf das, was von ihr noch übrig war. An manchen Stellen war ihr Belag aufgerissen, wie geplatzt, und ihre Oberfläche war uneben geworden. Je weiter wir Richtung Frankfurt kamen, desto welliger wurde sie. Es schien, als sei sie geschmolzen.“17 Nach der Wende waren apokalyptische Visionen nicht mehr zeitgemäß. In Peter Kurzecks Roman Keiner stirbt von 1990 ist die Autobahn wieder das, was sie immer zu sein versprach: eine Möglichkeit, der dörflichen Enge auf schnellstem Wege zu entkommen. Kurzeck beschreibt ein ereignisarmes Wochenende Ende der Fünfzigerjahre, die „ewige Gegenwart“18 von fünf Männern, die mit einem Lastwagen von Gießen nach Frankfurt fahren. Ganz im Stil des Neuen Realismus werden unzählige Details aneinandergereiht, Momentaufnahmen eines kleinbürgerlichen Lebens, Männer in Fernfahrerkneipen, an Tankstellen, auf Rastplätzen – saufend, immer 16 Thorsten Becker: Die Bürgschaft. Zürich 1985. – Vgl. den Beitrag von Benedikt Einert / Michael

Ploenus im vorliegenden Band.

17 Gudrun Pausewang: Die letzten Kinder von Schewenborn oder … sieht so unsere Zukunft aus?

Ravensburg 1987, S. 104.

18 Peter Kurzeck: Keiner stirbt. Frankfurt a. M. 1992, S. 15.

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rauchend –, vor einer modrigen Landschaft, die, sobald der Motor angelassen wird, selbst in Schwung kommt: „Jetzt fängt der VW-Bus, siehst du, fängt wirklich zu fahren an. Die Bäume winken, der Tag gerät in Bewegung.“19 Ruckelnd geht es durch Kirch- und Lang-Göns, durch Klein- und Großen-Linden, vorbei an Kühen und Traktoren. Obwohl Kurzeck während der Fahrt den dörflichen Alltag schildert, erzählt er im Grunde vom Verschwinden der Provinz durch die Autobahn: „Umgehungsstraße, sagst du dir, sie hat sich ja vorher so hingeschlängelt die Straße. Durch das Gras und zwischen den Hügeln hindurch. Und ist doch mit jedem Jahr ein bißchen verbreitert, begradigt und ausgebaut worden, das ist jetzt die neue Zeit.“20 Die neue Zeit ist ein dunkles Versprechen, und Kurzecks Text ist ein Nachtstück, durchdrungen von Schwarzer Romantik. Nach und nach schlafen die Männer auf ihrer Reise in die Großstadt ein – bis auf den Fahrer, der dem Sekundenschlaf zu entkommen versucht, indem er seinen Blick auf die Straße richtet, und dabei doch in eine Art Wahn verfällt: Auf der Autobahn. Hauptsächlich Lastautos, hauptsächlich Fernfahrer noch unterwegs und der Wind. Wie Geisterschiffe die Lastautos mit ihren Lichtern. Mit flatternden Segeltuchplanen, mit Kabinen, Rüstzeug und Blechaufbauten, haushoch in der Finsternis. Und mit Anhängern, ganze Geleitzüge auch und fuhren als Nachtschriften durch seinen Kopf: keuchen und donnern und stöhnen und sooft er einen passiert hat, packt ihn wieder der Wind, ein Gerüttel.21

In Keiner stirbt dreht sich alles im Kreis. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, es ist eine Reise von wenigen Kilometern, ein Ausbruchsversuch, der immer wieder ins Stocken gerät und schließlich zum Ausgangspunkt zurückführt. Auch die Autobahn ist kein Fluchtweg. Auf der nächtlichen Straße werden die Lichtblitze der Lastwagen, die angestrahlten Brücken und reflektierenden Hinweisschilder zu einem Albtraum aus Blech, Beton und Teer. Etwas Vergleichbares wie Jack Kerouacs Highway-Novel On the Road hat die deutsche Nachkriegsliteratur nicht hervorgebracht. In Kerouacs Roman von 1957 ist die Straße nicht bloß Kulisse, auf der sich die Handlung entfaltet, vielmehr gibt sie Stil und Rhythmus vor, ist Hauptfigur und Hintergrund zugleich. Kerouac nahm der Legende nach die Bewegung des Fahrens im Produktionsprozess auf, indem er vier neun Meter lange Butterbrotpapierrollen zusammenklebte und On The Road innerhalb von drei Wochen22 rollend schrieb, um seinen Schreibfluss nicht unterbrechen zu müssen. 19 20 21 22

Ebd. S. 58. Ebd., S. 66. Ebd., S. 213. Vom 2. bis zum 22. April 1951, vgl. Howard Cunnell: Vorbemerkung. In: Jack Kerouac. On the Road – Die Urfassung. Reinbek 2011.

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Das Schreiben und das Fahren kennen nur eine Richtung: vorwärts, weiter. Das Ziel gibt den Gedanken eine Ordnung und dem Driften einen Sinn. „Wir waren alle entzückt, wir alle erkannten, daß wir Verwirrung und Unsinn hinter uns ließen und die einzige und einzig edle Funktion unserer Zeit erfüllten, in Bewegung zu sein.“23 Sex, Drugs und Bebop, Geschwindigkeitsrausch und Freiheitsdrang, Rebellion gegen konventionelle Erzählweisen und festgefahrene Literaturvorstellungen vermischen sich hier zu einem einzigartigen, rasanten Trip: „Im Nu waren wir wieder auf der Hauptstraße, und in dieser Nacht sah ich den ganzen Staat Nebraska vor meinen Augen abrollen. Hundertundfünfundsiebzig Sachen in einer Tour, eine pfeilgerade Straße, schlafende Städte, kein Verkehr. Der herrliche Wagen machte den Wind heulen; die Ebenen wickelten sich vor ihm ab wie eine Rolle Papier; den heißen Teer der Straße warf er ehrerbietig hinter sich. Wenn ich die Augen schloß, war alles, was ich sehen konnte, die Straße, die sich in mich hineinspulte.“24 Eine Roadscape wie in den USA ist in Deutschland nicht denkbar. Selten öffnet sich der Blick in Täler und Schluchten, über weite Ebenen oder einen fernen Horizont. Schallschutzwände und Baumreihen zu beiden Seiten der Fahrbahn lenken die Wahrnehmung auf das Wesentliche: das Vorwärtskommen, so schnell wie möglich, ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht der Weg, das Ziel ist das Ziel. In derart ergebnisorientierten Strukturen entsteht selten Poesie. Das zeigt auch der 2003 erschienene Roman Bundesautobahn von Johannes W. Betz.25 Auf 400 Seiten beschreibt Betz ein sehr langes Überholmanöver von München nach Düsseldorf. Bei der wilden Verfolgungsjagd, die sich Drogendealer und Bankräuber, Polizei und Sondereinsatzkommandos liefern, fallen eine Menge Schüsse und Sätze wie: „Das hier ist nicht der Straßenstrich, das hier ist die Autobahn. Die Autobahn hat ihre eigene Natur. Hier gilt das Recht des Stärkeren.“26 Und: „Das ist Deutschland und nicht Vietnam.“27 Trotzdem erinnern die Massenkarambolagen und abgestürzten Hubschrauber, die zerfetzten Körper und zerknüllten Blechlawinen an einen Kriegsschauplatz. Betz, hauptberuflich Drehbuchautor von Actionfilmen, entfacht in seinem Krimi ein Inferno. Über weite Strecken ist der Roman nicht mehr als ein bis in alle Einzelheiten ausformuliertes Storyboard. Das Interessante ist aber, dass Betz die Autobahn zum Antagonisten macht, zum Widerpart eines Helden, der möglichst schnell und hindernisfrei ans Ziel gelangen will, „was ja“, wie es an einer Stelle heißt, „der alleinige Zweck des Autobahnsystems“28 sei. Betz legt seinen Figuren nicht nur einen unend23 24 25 26 27 28

Jack Kerouac: Unterwegs. Leipzig 1980, S. 146. Ebd. S. 250. Johannes W. Betz: Bundesautobahn. Reinbek 2003. Ebd. S. 108. Ebd. S. 108. Ebd. S. 175.

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lichen Stein in den Weg, er unterbricht auch die Fahrt seiner Protagonisten durch Benzinmangel, Baustellen und Brückenwerfer, durch Staus, Fahrbahnverengungen, Verkehrskontrollen, Starkregen und Aquaplaning – den alltäglichen Wahnsinn –, auf dass sie trotz ihrer Devise „Schau geradeaus“29, „Fahr los“30, „Fahr weiter“31 niemals ankommen. Am Schluss, als das Gangsterpaar doch in Düsseldorf ankommt und gleich weiterfährt, Richtung niederländische Grenze – die gleiche Fluchtbewegung wie bei Delius –, gibt es ein Happy End: „Die friedliche Leere der Autobahn beruhigte. Sie hatte ihre Feindseligkeit verloren, als sei die ihr innewohnende Aggressivität nur eine Laune gewesen, ein Anfall von Jähzorn, und die Ereignisse des vergangenen Tages verblassten bereits.“32 Als der Roman erschien, war die Autobahn in aller Munde. Wenige Wochen zuvor war der Vertrag mit Mautbetreiber Toll Collect vorläufig gekündigt und ein DaimlerCrysler-Testfahrer namens Rolf F. (den die Boulevardmedien „Turbo-Rolf“ tauften) wegen fahrlässiger Tötung und schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Mit seinem Mercedes CL 600 Coupé soll er am 14. Juli 2003 einen Kia, in dem eine 21-jährige Frau und deren zweijährige Tochter saßen, nördlich von Karlsruhe von der A5 gedrängt haben. Der Kleinwagen kollidierte hinter der Leitplanke mit einem Baum, beide Insassen starben noch am Unfallort. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt, Turbo-Rolf ist wieder auf freiem Fuß, und das Mautsystem funktioniert seit dem 1. Januar 2006 einwandfrei.

2 In Cormac McCarthys postapokalyptischer Zukunftsvision The Road (2006) ist von solcherlei realer Reibungslosigkeit nichts zu spüren. Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. McCarthy entwirft ein noch beklemmenderes Szenario als Gudrun Pausewang in Die letzten Kinder von Schewenborn. Der Himmel ist stets wolkenverhangen, es regnet unablässig, die Temperatur schwankt um den Gefrierpunkt. Pflanzen und Tiere sind ausgestorben. Die Landschaft, selbst der Schnee ist grau, die Städte sind zerstört. Die Straße, auf der ein namenloser Vater mit seinem namenlosen Sohn in einem namenlosen Land zu Fuß nach Süden geht, auf der Flucht vor einem weiteren Winter in den Bergen, ist ein Highway of Hell: „Auf der anderen Seite des Flusstals führte die Straße durch völlig verbranntes schwarzes Gelände. In alle Richtungen erstreckten sich verkohlte, astlose Baumstümpfe. Asche wehte über die Straße, und von den geschwärzten Strommasten hingen wie schlaffe Hände abgerissene Kabel 29 30 31 32

Ebd. S. 235. Ebd. S. 244. Ebd. S. 314. Ebd. S. 393.

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und wimmerten dünn im Wind.“33 Vater und Sohn tragen Masken gegen den Staub und schieben einen Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten vor sich her. Einmal treffen sie auf einen von einem Blitz versengten Mann im geschmolzenen Teer, dann auf eine Gruppe Kannibalen und deren schwangere Frauen, neue Nahrung in sich tragend, ehe sie ihr Ziel, das Ende der Straße, die Küste, erreichen. Während sich in den USA der einst positiv besetzte Highway ins Gegenteil verkehrt, nimmt die Haltung der deutschen Schriftsteller zur Autobahn eine gegenläufige Entwicklung. In Thomas Klupps Roman Paradiso (2009) bricht ebenfalls ein Mann Richtung Süden auf, aber allein, und nicht, um sich vor dem menschenfressenden Mob zu retten, sondern um mit seiner Freundin in Urlaub zu fliegen. Plötzlich, zwanzig Jahre nach der Wende, wird die Autobahn in der jüngeren deutschen Literatur – ohne jede Schwermut – zum Symbol für Aufbruch und Freiheit. Alex Böhm hat alles, was er zum Leben braucht: Geld und Jugend und reichlich westdeutsches Selbstbewusstsein. Er studiert Drehbuchschreiben und will von Potsdam nach München. Von einer Mitfahrgelegenheit versetzt, brettert er ohne sich anzuschnallen gemeinsam mit einem ehemaligen Bekannten in dessen Audi TT mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn, steigt dann zu einem Fernfahrer in den Lkw, anschließend zu einem Hippiemädchen in den VW-Bus, besucht in einer Raststätte einen Sexshop, macht einen Abstecher in seine alte Heimatstadt, ins oberpfälzische Weiden, nimmt – was sonst? – Speed, demütigt seine Exfreundin, verprügelt seinen besten Freund und belügt alle, die ihm begegnen. Die Geschwindigkeit der Reise korreliert hier mit dem Tempo des Erzählens. Ähnlich wie bei Kerouac lösen die Sinneseindrücke rechts und links der Fahrbahn Assoziationen und Erinnerungen bei Böhm aus und eröffnen dadurch immer wieder Raum für Geschichten, für echte und falsche. Die Haltung zur Welt bleibt dabei stets die gleiche, arrogant und distanziert. Die Luft ist benzinverpestet, überall liegt Müll herum, und die Menschen, denen er begegnet, sind moralisch verkommen, so verkommen wie er selbst: „Ich spucke in hohem Bogen auf die Autobahn, dann schultere ich meinen Rucksack und marschiere los.“34 Die erfolgreichste deutsche Road Novel der vergangenen Jahre aber hat Wolfgang Herrndorf geschrieben. Tschick erschien im Herbst 2010, verkaufte sich seither in Deutschland mehr als eine Million Mal und wurde in sechzehn Sprachen übersetzt.35 Es ist eine einzigartige Coming-of-Age-Story, ein Jugend- und Abenteuerroman in der Tradition von Mark Twains Huckleberry Finn und Tom Sawyer – nur dass der Mississippi hier aus Beton ist:

33 Cormac McCarthy: Die Straße. Reinbek 2008, S. 11. 34 Thomas Klupp: Paradiso. Berlin 2009, S. 22. 35 http://www.boersenblatt.net/626041/, aufgerufen am 24.6.2013.

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Zu meiner Überraschung hatten alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten: rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. … Aber mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber in wenigen Minuten hatte ich den Plot in meinem Kopf zusammen, und allein, um nicht alles wieder zu vergessen, hackte ich in den folgenden zwei, drei Tagen 150 Seiten als Gedankenstütze runter.36

Die beiden Teenager Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, klauen einen Lada und brechen vom Berliner Randbezirk Hellersdorf aus zu einer Reise durch ein sonnendurchglühtes und vor Irrsinn flirrendes Ostdeutschland auf. Sie wollen in die Walachei, um Tschicks Großvater zu besuchen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wo diese sprichwörtlich gewordene Region überhaupt liegt. So beginnt eine Reise ins Ungewisse. Zunächst nehmen sie nur Landstraßen, weil sie Angst haben, von der Autobahnpolizei geschnappt zu werden. Auf diese Weise machen sie vor Mülldeponien und Braunkohlabbaugebieten halt, in den Mondlandschaften der Zivilisation; sie lernen andere Außenseiter kennen und kommen zu der Erkenntnis, dass die Menschen, vor denen die Eltern, Lehrer und das Fernsehen sie immer wieder gewarnt haben, so schlecht nicht sind. Die einzigen Wunden, die sich die beiden Jugendlichen im Verlauf des Romans zuziehen, stammen von der Autobahn, von einem Unfall, in den sie verwickelt werden. Und das, obwohl zunächst alles kinderleicht zu sein scheint, als sie die Auffahrt nehmen und zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig Gas geben: … und im Grunde war Autobahnfahren viel einfacher als Kurven fahren und bremsen und schalten und beschleunigen. Ich hatte eine Fahrspur für mich allein und musste nur noch geradeaus. Ich sah die weißen Striche wie in der PlayStation auf mich zurasen – was tatsächlich verdammt anders aussieht, wenn man in einem richtigen Auto auf einem richtigen Fahrersitz sitzt, da kann keine Grafikkarte mithalten. (…) Es war ein euphorisches Gefühl, ein Gefühl der Unzerstörbarkeit. Kein Unfall, keine Behörde und kein physikalisches Gesetz konnten uns aufhalten. Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein …37

Am 18. Dezember 2012 erschien bei Amazon, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, der bisher umfangreichste deutschsprachige Autobahnroman: Die reinen Herzen von Stephan Maus, spielt er doch auf knapp tausend Seiten oder 17.375 Positionen auf, unter und in der Autobahn. Das zwischen August 2003 und August 2005 entstandene

36 Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin 2013, S. 113. 37 Wolfgang Herrndorf: Tschick, Berlin 2010, S. 215 f.

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Typoskript (Arbeitstitel Autobahnkirche Ouroboros)38 fand keinen traditionellen Verlag39 – was einerseits am Umfang gelegen haben mag, andererseits an der Tatsache, dass die Geschichte im Pornomilieu angesiedelt ist, ohne pornografisch zu sein.40 Explizit erotische Stellen sucht man im Text vergeblich, obwohl Kapitelüberschriften wie Geisha, Brunft-Geld, Power-Ring oder Peitsche das Gegenteil erwarten lassen. Im Zentrum des Romans steht Kai Lehnert, Spross einer nordrhein-westfälischen Textildynastie, die Geschäfte mit dem Glauben macht. Die Sacrotex GmbH beliefert die katholische Kirche mit Paramenten und anderen Accessoires. Kai erweitert das Sortiment um Brautmoden und einen Mail-Order-Versand für Babykleidung und Taufgewänder, ist aber bald von der Aussicht, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und eine bürgerliche Existenz zu führen, derart angewidert, dass er mit Moni Sessler, der Barkeeperin der Kneipe Kontiki, durchbrennt. Ihr Floß ist ein roter Datsun Cherry. Mit dem fahren sie, Janis Joplin hörend (Oh, lord, won’t you buy me a Mercedes Benz) über Alleen und Bundesstraßen aus der namenlosen Stadt heraus, durch den Speckgürtel mit seinen Einkaufszentren, Waschstraßen und Tankstellen, bis sie das Hammertal unterhalb der Autobahnbrücke erreichen. Dort, zwischen den mächtigen Betonpfeilern, im Windschatten des Verkehrslärms, parkt Monis Airstream, „ein großer amerikanischer Wohnwagen aus gewelltem Aluminium“41 – ein Verweis auf das Vorbild, auf die Freiheit und Unendlichkeit der 38 https://www.facebook.com/diereinenherzen?fref=ts, Statusmeldung vom 12.11.2013, abgerufen

am 16. 12.2013.

39 In einem Essay für die Süddeutsche Zeitung dient Stephan Maus der Ausbau der Autobahn als

radikaler Gegenentwurf zur Subventionskultur des Literaturbetriebes: „Mein bescheidener Beitrag zu den gewaltigen Reformanstrengungen unserer Republik besteht in dem Vorschlag, sämtliche Literaturpreise und Autorenförderungen aus dem Finanzhaushalt zu streichen. All die herrlichen Autobahnen, die man von dem Geld bauen könnte.“ Stephan Maus: Haiku-Harakiri. Ich möchte keine Literaturpreise bekommen. Ich möchte lieber ein Haiku. Süddeutsche Zeitung, 18.2.2004, zitiert nach: http://www.stephanmaus.de/serendipity/archives/158-Literaturpreise-nein-danke!-SZ.html, abgerufen am 30.12.2013. In diesem Zusammenhang mutet die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Die reinen Herzen als konsequente Umsetzung dieser Forderung an. 40 Eine Inspirationsquelle für den Roman war der Besuch der 7. Internationalen Erotikfachmesse Venus, die vom 17. bis 19.10.2003 in Berlin stattfand, s. den Bericht von Stephan Maus, Sex, wo bleibt dein Stachel? in der Süddeutschen Zeitung vom 20.10.2003, in dem sich bereits die in Die reinen Herzen beschriebene Sehnsucht nach Spiritualität und Askese angesichts der massiven Zurschaustellung des Körperlichen findet: „Nach zwölf Recherchestunden im Land der Gummibäume, der künstlichen Fingernägel und der dickflüssigen Cum Shots vor depressionsinduzierenden Schrankwandalpträumen sehnt man sich weder nach ausschweifendem Oralverkehr im Stehen, noch nach zügellosem Missionarsverkehr im Liegen, sondern nach lebenslanger Enthaltsamkeit.“ Zit. n.: http://www.stephanmaus.de/serendipity/archives/159-Bericht-von-der-7.-internationalen-Erotikfachmesse-Venus-SZ.html, abgerufen am 30.12.2013. 41 Stephan Maus: Die reinen Herzen, 2012, Pos. 1882.

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I­ nterstate Highways. Zunächst bewegt sich der Anhänger jedoch nicht von der Stelle. Moni beichtet Kai, dass sie jahrelang als Pornodarstellerin gearbeitet und mit ein paar in der Nähe ansässigen Althippies Videos gedreht hat, bis der mächtige Produzent Max von Trümbach dem alternativen, kommerzfreien Treiben den Garaus machte. Gemeinsam erwecken Moni und Kai das Genre zu neuem Leben und gehen danach auf Promotour durch Deutschland. Es ist eine Reise durch die Peripherie, wie es für Autobahnfahrten typisch ist. Das Setting bestimmt den Inhalt: Vieles in diesem Roman spielt sich in „Interzonen“ ab, an „Nicht-Orten“ (Marc Augé), auf Rastplätzen und Truckstopps, Autobahnkirchen, Containern und Trailern, in Orten des Übergangs. Alles ist ständig in Bewegung, alles rauscht vorbei, bis der Treibstoff ausgeht oder einen die falsche Ausfahrt zum Halten zwingt: Sie verloren sich in einem Gewirr von Auf- und Abfahrten und achtspurigen Zubringern ins Nirgendwo. Links und rechts wechselten Schlaftürme amerikanischer Hotelketten mit den bunten Festungsmauern von Hüpfburgen ab. (…) Schallschutzmauern waren so prachtvoll begrünt wie die Hängenden Gärten von Babylon. Jedes Mal, wenn sie eine Abfahrt nahmen, landeten sie auf irgendeinem Parkplatz irgendeines Großhandels. ‚Es gibt kein Land mehr jenseits der Leitplanke.‘42

Mit jedem Kilometer, den sie auf der Straße zurücklegen, schwindet ihre Liebe. Während sich Moni nach ihrer Heimkehr mit anderen Männern vergnügt, lässt sich Kai mit dem mächtigen Pornoproduzenten ein und verkauft ihm seinen Körper und seine Seele. Bald aber sagt er sich wieder los vom Kapital, gründet eine Enthaltsamkeitssekte, geht eine platonisch-spirituelle Verbindung zur Harfenistin Kim ein, schart einen Haufen Fernfahrer-Jünger mit sprechenden Namen wie Turbo, Spoiler, Kolbenfresser und Mautpreller um sich – die „Masturbanten“ – und lässt im Hammertal eine Kirche aus weißen Containern errichten, die Autobahnkirche Ouroboros, „für all die ehemaligen Mini-Jobber, Outgesourcten und Langzeitpraktikanten, all die armen Seelen, die sich aufgemacht hatten, ihr Glück und ihre Götter zwischen den Autobahnkleeblättern zu suchen“,43 bis es schließlich in den Sprengkammern der Autobahnbrücke zum Showdown kommt. Der Ouroboros ist das zentrale Motiv des Romans. Der Begriff stammt aus dem Griechischen, Οὐροβόρος, und bedeutet übersetzt „Selbstverzehrer“ oder wörtlich „Schwanzverzehrer“. Als Bildsymbol ist die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt und mit ihrem Körper einen Kreis bildet, schon seit dem Alten Ägypten als Zeichen kosmischer Einheit bekannt. In der nordischen Mythologie formt die 42 Ebd. Pos. 14725. 43 Ebd. Pos. 15062.

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Midgardschlange einen Weltkreis. Die Alchemisten ersetzten die Schlange durch einen oder zwei Drachen, als Symbol eines in sich geschlossenen und wiederholt ablaufenden Wandlungsprozesses der Materie. Eins aber blieb über Jahrhunderte hinweg gleich: der Ouroboros als autarkes Wesen, selbstgenügsam, Mikro- und Makrokosmos verbindend, Leben und Tod, Anfang und Ende, vollkommen in seiner Struktur. Die Fernfahrer, die den Großteil der Masturbanten ausmachen, sind unaufhörlich auf Achse; sie sind ein allmächtiges analoges soziales Netzwerk, das sich über Funk und per Lichthupe verständigt – „Uns gehört die Autobahn. Und wer die Autobahn auf seiner Seite hat, dem gehört Deutschland“44 –, sie kreisen um sich selbst und verlangen vom Leben nicht mehr, als diese Bewegung aufrechtzuerhalten. Ihre Lkws sind mobile Häuser, Schlaf- und Kochstätten, Wohn- und Arbeitszimmer; alles, was sie brauchen, tragen sie immer bei sich. Die Autobahn lässt sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als eine Schlange deuten, wenn auch als eine potenziell unendliche, unüberschaubare, vielköpfige und vielgliedrige. Der Roman ist überdies so konstruiert, dass sich die Erzählung, ihrem Leitmotiv folgend, einmal um sich selbst schlängelt und sich in den eigenen Schwanz beißt. Im ersten Kapitel hängt die „Große Schlange der Verderbnis“45 noch wie ein Fragezeichen am Baum, „jenes stolz geschwungene Fragezeichen, mit dem alles angefangen hatte, Erkenntnis und Sünde“.46 Im weiteren Verlauf ändert sie aber ihre Form und gibt sich damit selbst die Antwort auf alle Fragen. Die Handlung setzt mit einem retrospektiven Prolog mit dem Titel Rückspiegel in einem Krankenhaus ein; der dritte Teil – Brücke – beginnt ebenfalls mit einer Krankenhausszene, die den Prolog fortsetzt und die ganze Geschichte auf eine Fantasie- oder Traumebene hebt und Zweifel sät, ob alles, was bisher geschehen ist, wirklich geschehen ist, oder ob sich das alles nicht vielmehr im von Anabolika getrübten Bewusstsein des Protagonisten abgespielt hat; und Die reinen Herzen endet auch im Krankenhaus mit dem Kapitel Rorschach und lässt damit auch das davor Geschehene oder überhaupt alles in diesem Buch Geschehene fraglich erscheinen: „Rorschach-Flecken. Haben keine Bedeutung. Nur die, die man in sie hineinliest.“47 Stephan Maus betreibt aber nicht nur in Bezug auf die Handlung ein postmodernes Spiel mit der Fiktion, sondern auch in Bezug auf den Text selbst, indem er seinen Text in andere Texte einbettet und Zitate auf Zitate verweisen lässt, etwa die jedem Kapitel vorangestellten Zitate (auf Stendhals Roman Rot und Schwarz), die Metaphern, Namen und Dialoge (auf seinen eigenen, im Jahr 2000 veröffentlichten Roman Alles Mafia!) oder die Kenntlichmachung der mythologischen Vorbilder (die hier in einem 44 45 46 47

Ebd. Pos. 5325. Ebd. Pos. 525. Ebd. Pos. 525. Ebd. Pos. 17647.

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sprachlich ganz anders gearteten, umgangssprachlicheren Kontext auftreten: „Jetzt musste Orpheus nur noch die Lyra in die erste gemeinsame Wohnung wuchten.“48). Er kompiliert alles Vorgefundene und Hinzugedichtete zu einem eigenen Genre namens FakeTrashDeLuxe, wie ein Kapitel heißt, sodass kaum zu unterscheiden ist, was Abwandlung und was Original ist. Das Echte und das Falsche gehen in diesem Roman unablässig ineinander über, beide Enden verschlingen sich. Der Autobahn kommt dabei eine multiple Rolle zu. Einerseits ist sie Sinnbild für Freiheit und Glück, andererseits für Technik und Kultur. Immer wieder wird sie dem Ideal der Natur, dem Urzustand, dem „idyllischen Tal“49 unterhalb der Autobahnbrücke gegenübergestellt. Während sich Bambi an der Seeaue labt, kommen „die Aas fressenden Bussarde von der Autobahn herübergesegelt, mit lautlos schlagenden Schwingen, dunkle Schicksalsvögel“.50 Das Tal ist ein verwunschener, märchenhafter Ort: „Gebrüder Grimm-Enklave mit Autobahn-Anschluss.“51 Und ein Aussteigerparadies: „Kommune mit Seeblick und Autobahn-Anschluss.“52 Die Autobahn ist das Tor zur Welt, aber auch ein permanenter Zubringer von Gefahr für die Talbewohner. „Es ist so idyllisch hier“, sagt Moni Sessler einmal, „und trotzdem seit Jahren all der Pornokram. Als würde die Sünde über die Autobahn zu uns gespült werden. Überhaupt die Autobahn! Sie bringt alles Unheil!“53 Von dort kommt das Böse: Manager, die auf der Suche nach Entspannung sind, Max von Trümbach mit seinen Männern, „Sattelschlepperladungen voller Gestörter“54 oder geisterhafte Erscheinungen wie die „sieben apokalyptischen Reiter“55. Dass die Sünde ins Tal hineingespült wird, ist kein Zufall. Während Wolfgang Herrndorf den Fluss zur Straße machte, um seine Helden in Deutschland auf Reisen zu schicken, verflüssigt Stephan Maus die Straße wieder. Bei Südwind klingen die vorbeifahrenden Autos auf der Autobahn wie Meeresrauschen, wie die „tosende Brandung des großen deutschen Verkehrspazifiks“;56 unterhalb der Brücke gedeihen dank des feuchten Klimas Pilze besonders gut; in romantischen Momenten geht die Sonne über der Autobahn unter; und einmal steigt ein Mann „beim Anblick einiger Seejungfrauen“57 auf dem Kommunenhof auf die Bremse. Später spielt Kai in den Sprengkammern der Autobahnbrücke „Stadt Land Fluss“. Hunderte Partien 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Ebd. Pos. 12834. Ebd. Pos. 2662. Ebd. Pos. 14085. Ebd. Pos. 1963. Ebd. Pos. 2490. Ebd. Pos. 6877. Ebd. Pos. 14255. Ebd. Pos. 7389. Ebd. Pos. 10738. Ebd. Pos. 2509.

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hat er schon gespielt, und doch scheitert er immer wieder an den Flüssen. „Ihm war, als hätten sie im Laufe ihrer Spielnachmittage schon alle Flüsse der Erde über die Autobahn hinein in ihr Festungs-Exil gezerrt.“58 Der Buchstabe, an dem er hängen bleibt, ist das S – S wie Schlange, ein umgedrehtes Fragezeichen ohne Punkt. Ihm will einfach kein Fluss mit diesem Anfangsbuchstaben einfallen, im Gegensatz zu seiner Mitspielerin, seiner Gefährtin, seinem Karmazwilling Kim, die Styx in ihre Spalte eingetragen hat, den Fluss der Unterwelt. Die Autobahn ist eine Wasserscheide; sie markiert die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Im hadesartigen Labyrinth der Sprengkammern, unterhalb der Autobahnbrücke, steuert der Roman auf sein großes Finale zu. Bei den Kammern handelt es sich um kleine, niedrige Räume. In die Wände sind schießschartenförmige Öffnungen eingelassen, die eine Sauerstoffzufuhr gewährleisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass bei einer Sprengung nicht zu viel Druck entweicht. Die Kammern stammen noch aus der Zeit des Kalten Krieges. Im Ernstfall sollten sie mit Dynamit bestückt und gesprengt werden und so ein Eindringen militärischer Verbände des Warschauer Paktes ins NATO-Gebiet verhindern. Bei der Konstruktion wurde darauf geachtet, dass durch die Detonation der in den Kammern angebrachten Sprengladungen ein Vormarsch der feindlichen Truppen verzögert, die Infrastruktur aber kaum in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. In den Richtlinien für Anlage und Unterhaltung Vorbereiteter Sperren und Lähmungen aus dem Jahr 1968 heißt es: „Das Ausmaß der zu erwartenden Zerstörungen bei Auslösung Vorbereiteter Sperren ist soweit zu beschränken, daß Totalzerstörungen möglichst vermieden werden, und nur eine taktisch unbedingt erforderliche Sperrdauer erzielt wird.“59 Die Fahrbahnen sollten in sich zusammenstürzen, die Pfeiler stehen bleiben. Man wollte sicherstellen, dass strategisch bedeutsame Bauwerke wie Autobahnbrücken nach dem Ende der Invasion sofort wieder instand gesetzt und für die eigenen Verbände genutzt werden konnten. Zwei Mal wird die Autobahn im Zusammenhang mit Hitler erwähnt. Einmal als Replik einer Figur, für die der Kommunarde Rainer Langhans als Vorbild gedient hat, auf die Macht der Fernfahrer angesprochen: „Das ist das Erbe von Hitlers Autobahnen. Die deutsche Vergangenheit kommt auf der Überholspur angedonnert.“60 Und einmal, als ein Wanderprediger von seiner Wallfahrt berichtet und Vermutungen über das maßlose Essverhalten der Autobahnreisenden anstellt: „Die Leute nehmen immer zu viel Reiseproviant mit. Sobald sie die Reichweite ihres Kühlschrankes verlassen, werden sie hysterisch und braten manisch Koteletts. Wahrscheinlich ein Nachkriegstrauma: Die fürchten die Hungersnot auf Hitlers Autobahnen.“61 Adolf Hitler 58 Ebd. Pos. 15403. 59 Michael Grube: Vorbereitete Sperren auf Deutschlands Straßen. http://www.geschichtsspuren.

de/artikel/verkehrsgeschichte/135-sperren-wallmeister.html, abgerufen am 21.12.2013.

60 Stephan Maus: Die reinen Herzen, Pos. 14308. 61 Ebd. Pos. 17093.

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ist immer noch Referenzpunkt für den Gründungsmythos, aber der Kalte Krieg hat das Dritte Reich als treibende Kraft für die Ausweitung der Kampfzone abgelöst. In diesem Epos feiert denn auch die unmittelbare Nachkriegszeit, das „Gleichgewicht des Schreckens“62, fröhliche Urständ – als hätte es den Fall der Mauer nie gegeben. Die Konfliktlinie verläuft jedoch nicht mehr zwischen Ost und West, sondern mitten durch die westdeutsche Gesellschaft. Zwei Ideologien stehen sich unversöhnlich gegenüber, Eskapismus und Enthaltsamkeit, das Kapital und die Konsumverweigerung, das Geld und die Liebe. Obwohl sich Stephan Maus unablässig auf die Antike bezieht, erweist er sich in vielfacher Hinsicht auch als Romantiker: In Die reinen Herzen verschmelzen ganz im Sinne von Schlegels Universalpoesie getrennte Gattungen; das Profane verbindet sich auf wunderbare Weise mit dem Erhabenen; mittelalterliche Sagen, Märchen der Gebrüder Grimm und Popkultur stehen auf einer Stufe mit biblischen Gleichnissen oder der griechischen und römischen Mythologie; und in seiner religiösen Dimension erzählt der Roman die Geschichte eines neuen Heilands, der den Riss, der durch die Menschen geht, zu kitten verspricht, indem er ihnen eine reine Lehre verkündet, die Lehre der Autobahn, das Kamasutra des Individualverkehrs, das Mantra der Masturbanten: „Berühre mich nicht. Berühre dich selbst. Finde zu dir. So findest du zu mir.“63 Bewusst bedient Maus urdeutsche Motive wie den Tannenwald, das Nebeltal, den Zaubersee, das Teufelsmoor und verwandelt dadurch den Schauplatz, das südliche Ruhrgebiet, in eine neoromantische Seelenlandschaft. Mit der Autobahn schreibt er der deutschen Gegenwartsliteratur gleichsam ein weiteres urdeutsches Motiv ein, und das nicht nur als Kontrast zu einem vormodernen Leben, als Glücksverheißung oder Freiheitsversprechen, sondern als eigenständige Figur, als Fabelwesen. Mal bezeichnet er die Autobahn als „Autobahnlindwurm“,64 mal als „Betonlindwurm“,65 „Betonsaurier“,66 „Betonfossil“,67 „urzeitliches Monstrum“68 oder „alten Drachen“.69 Dadurch verlegt er die Autobahn in eine graue, nicht mehr verifizierbare Vorzeit, er macht sie zu einer Legende, als wäre sie immer schon da gewesen, als hätte man die Fahrbahnen eines Tages bei archäologischen Ausgrabungen unter meterhohen Endmoränen entdeckt. Und mit dieser Enthistorisierung geht eine Entpolitisierung einher: Die Autobahn kennt keinen Gründungsvater mehr, keinen echten und keinen falschen, ob Hitler die Autobahn in Auftrag gegeben und ihren Ausbau vorangetrieben hat, 62 63 64 65 66 67 68 69

Ebd. Pos. 10189. Ebd. Pos. 12504. Ebd. Pos. 13077. Ebd. Pos. 5179. Ebd. Pos. 16652. Ebd. Pos. 16728. Ebd. Pos. 16664. Ebd. Pos. 13078.

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ob die Alliierten sie als Transport- und Fluchtweg für den Kalten Krieg präparierten – vor einem archaischen Hintergrund sind sie bloß Nachfolger, Nutznießer, die dem neuen Mythos Bundesautobahn nichts anhaben können. Die Autobahn ist die Schlange, der Drache: vollkommen autark, unantastbar und unendlich. Der Drache taucht an verschiedenen Stellen im Text auf, in Form von Möbelfüßen, Applikationen auf Kleidern, als Graffiti auf Bomben, in Anspielungen aufs Nibelungenlied als feuchte Erde oder übertragen auf magische Kaffeeautomaten, deren Getriebe nach Eingabe der Zahlenkombination o-U-R-o-8-o-R-o-5 röchelt „wie ein magenkranker Drache“.70 Der ganze Roman ließe sich als ausführliche Ikonografie dieser Metapher deuten. Mythologisch betrachtet verbindet der Drache viele zum Teil gegensätzliche Eigenschaften und Attribute: Er verfügt über Flügel und Löwenpranken, kann fliegen und Feuer speien; im Morgenland ist er ein menschenfeindliches Ungeheuer, das es zu bezwingen gilt und dessen Blut unverwundbar macht, im Abendland ist er Sinnbild für Fruchtbarkeit, Erfolg und Macht. Ein gottgleicher Supersuperheld: Er bringt Menschen zusammen und trennt sie; er reißt sie aus ihrem Alltag und verschafft ihnen im Sog der Geschwindigkeit Gefühle, die sie unter normalen Bedingungen niemals haben würden; er zwingt sie, in Sekundenschnelle Entscheidungen zu treffen und seinem Willen zu gehorchen; er löst bei ihnen Euphorie und Angst aus und richtet über ihr Leben und ihren Tod. Bei Maus ist die Autobahn weder Protagonist noch Antagonist, sie steht über allem und allen, es gibt niemanden, der sie bezwingen könnte, und deshalb wird der Kult, der sich um sie bildet, von der Gesellschaft gefürchtet, „weil sie die Kraft hat, sie umzuwälzen.“71 Die Leser von Die reinen Herzen werden Zeugen einer Erweckung: „Ouroboros ist der schlafende Muskel, die lauernde Kraft in den verborgenen Sprengkammern des Systems.“72 Der Drache erwacht aus seinem Jahrtausendschlaf, als es aufgrund von „Asphaltplaning“73 zu einem gewaltigen Unfall auf der Autobahnbrücke kommt, eine Stichflamme den Belag erhitzt und eine Erscheinung, einen hermaphroditischen Körper aus Licht, freisetzt – und mit ihm das poetologische Programm des ganzen Textes: „Um deine Visionen zu verarbeiten, muss man die Spur halten können. Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wo der Abgrund lauert.“74 Am Schluss tritt ein Fußgänger auf, ein Wandermissionar, der die ganze Zeit über schon im Hintergrund anwesend gewesen war, dessen Bedeutung sich aber erst zum Ende hin erschließt. Er heißt Sven und Claudia, denn er ist ein Zwitter: ein Wesen, das beide Geschlechter in sich vereint, nicht von Natur aus, sondern infolge von Medikamenten. Er ist Engel und Jünger zugleich und verbreitet die Lehre der 70 71 72 73 74

Ebd. Pos. 12674. Ebd. Pos. 14789. Ebd. Pos. 14789. Ebd. Pos. 17056. Ebd. Pos. 6489.

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Bewegung auf der Autobahn, dem „Pfad Onans“75 folgend, indem er nachts auf dem Standstreifen von Rastplatz zu Rastplatz geht, von Autobahnkirche zu Autobahnkirche, und die von ihm gelebte Entschleunigung zelebriert. In Die reinen Herzen prallen zwei Geschwindigkeiten unmittelbar aufeinander, schnelle Lustbefriedigung und Sehnsucht nach Beständigkeit, das Tempo des Erzählens und die Länge der Erzählung, Natur und Technik, Umgangssprache und hoher Stil, Pulp Fiction und Hochkultur. Die Autobahn nimmt dabei eine Zwischenposition ein. Den einen dient sie als Mittel zum Zweck, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, für die anderen ist sie der Pilgerweg zur Erleuchtung: „Eines Morgens habe ich mich da oben auf die singende Leitplanke gesetzt, und da habe ich gespürt, dass ich in der Autobahn immer einen zuverlässigen Verbündeten haben würde. Der Bar-Code der Fahrbahnmarkierungen hat mich sofort hypnotisiert. Ich wollte seine Botschaften entziffern. Ich bin von der Leitplanke gesprungen und habe den Asphalt betastet. Hat sich schön rau und griffig angefühlt. Ich wusste, er würde mir Halt geben.“76

3 Fazit Bis zur Jahrtausendwende war die Autobahn in der deutschen Nachkriegsliteratur kaum ein Thema. Zu schwer wog das mythologische Erbe des Dritten Reiches, zu schnell waren die Fahrten wieder zu Ende, als dass sie sich zu Geschichten verdichten konnten. In den USA und Großbritannien dagegen bildeten sich im gleichen Zeitraum zwei unterschiedliche Erzähltraditionen heraus: die weitgehend positiv besetzten Straßenlandschaftsbeschreibungen in den Vereinigten Staaten und die oft abgründige Science-Fiction in England als Kompensation und für den Inselstatus und das verlorene Weltreich. Während in den jüngeren Texten US-amerikanischer Autoren die Straße zunehmend zur Bedrohung wird, zu einem Symbol des Niedergangs, entdecken die deutschsprachigen Schriftsteller die Autobahn gerade erst als literarischen Ort für sich. In den Romanen von Klupp, Herrndorf und Maus ist sie das materialisierte Versprechen von Weite und Ungebundenheit; in ihr manifestiert sich die uramerikanische Überzeugung, alles hinter sich lassen zu können, auch und gerade die eigene Herkunft und Geschichte. Frei von jedem ideologischen Ballast reisen die jugendlichen Helden durchs Land und stoßen dabei doch immer wieder an ihre Grenzen – aber es sind persönliche Grenzen, keine geografischen oder politischen. Ein Grund, weshalb die Autobahn in den vergangenen zehn Jahren auch hierzulande ins kulturelle Bewusstsein gerückt ist, mag denn auch auf den Wegfall der 75 Ebd. Pos. 17109. 76 Ebd. Pos. 16713.

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Grenzkontrollen und die Einführung einer gemeinsamen Währung zurückzuführen sein, darauf, dass die Nationalstaaten in Europa aufgegangen sind. Kein Schlagbaum, kein Zollbeamter verzögert mehr die Fahrt. Auch wenn die Protagonisten das Land selbst nicht verlassen – die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, reichen jetzt weit über ihre Schauplätze, Ost- oder Westdeutschland, hinaus. Derart mental beschleunigt können sie, wenn sie wollen, an jeden denkbaren Ort gelangen. Solange ihnen die Fantasie nicht ausgeht. Oder sie im Schreibstau stecken bleiben.

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Existenzversuche und Moderne · Zu strada und autostrada im italienischen Kino1 A mio fratello Ugo, per i tanti chilometri fatti insieme

1 Zur Route Die hier dokumentierte Erkundungsfahrt durch die Kinogeschichte der italienischen Autobahn von den faschistischen ‚autostrade‘ der 1920er- und 1930er-Jahre über den das Wirtschaftswunder versinnbildlichenden Ausbau des Autobahnnetzes in der zweiten Nachkriegszeit bis zur spätestens in den 1970er-Jahren einsetzenden und heute noch andauernden Krise der italienischen Gesellschaft und Demokratie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.2 Durch einzelne, sozial- sowie kulturgeschichtlich kontextualisierte und ästhetisch reflektierte Filmanalysen wird auf die Hervorhebung von bestimmten ästhetischen und poetischen Werten und auf die Herausarbeitung von einigen tragenden, in künftigen Recherchen zu erprobenden und zu ergänzenden Leitlinien und Denkfiguren der italienischen kinematografischen Reflexion des 20. Jahrhunderts hingearbeitet. In einer ersten Etappe werden die politischen, sozialen und kulturellen Rahmen der Entstehung der italienischen 1

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Mehreren Gesprächspartnern in Weimar (im Nietzsche-Kolleg wie auch in der freundlichen Runde bei Maurizio Peronaci) und den Veranstaltern und Teilnehmern der Tagung in Braunschweig verdanke ich fruchtbaren Meinungsaustausch. Stellvertretend für alle sei hier Gabriele Fantoni, Carsten Rohde, Jan Röhnert, Frank Seehausen, Jan Urbich und Saskia M. Woyke gedankt. Systematische Studien und Monografien fehlen sowohl auf Italienisch als auch in anderen Sprachen. Für weitere partielle Darstellungen und Analysen s. Angelo Restivo: The Nation, the Body, the Autostrada. In: Steven Cohan / Ina Rae Hark (Hg.): The Road Movie Book. New York 1997, S. 231–247; Enrico Menduni: L’autostrada del Sole. Bologna 1999, S. 111–114; Laura Rascaroli: New Voyages to Italy. Postmodern Travellers and the Italian Road Movie. In: Screen, 44, 1, 2003, S. 71–91; Carlo Mazzacurati / Silvio Soldini / Gianni Amelio: Highways, Side Roads, and Borderlines – The New Italian Road Movie. In: William Hope (Hg.): Italian Cinema. New Direction. Frankfurt a. M. / London / Wien et al. 2005, S. 251–271; Gianni Canova: Rotaie, viadotti, autostrade. In: L’architettura del mondo. Infrastrutture, mobilità, nuovi paesaggi. Hg. von Alberto Ferlenga, Marco Biraghi, Benno Albrecht. Milano 2012, S. 232–239.

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Autobahn in den 1920er- und 1930er-Jahren umrissen; in einer zweiten Etappe wird die Aufmerksamkeit auf zwei ausschlaggebende, am Anfang der 1930er- und 1940er-Jahre gedrehte Filme gelenkt, bevor eine dritte und beschleunigte letzte Etappe Einblicke in die kinematografischen Formen von ‚strada‘ und ‚autostrada‘ in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bis zum Ende der sogenannten ersten Republik gewährt. Auf diesem Weg erweisen sich die Motive der Existenzversuche und der Moderne als besonders prägnant und plastisch bzw. die Wechselwirkung von künstlerischem Realismus und Gesellschaft als lebendig, erhellend und stilistisch vielfältig.

2 Aufbruch im Faschismus: Propaganda, Polemiken, Realität Man ist versucht zu sagen, dass die italienische Autobahn von Anfang an eine Metapher war und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits herrschte eine Ungewissheit darüber, was genau unter Autobahn zu verstehen sei, andererseits war die Autobahn Teil der verkleidenden und verklärenden Propaganda des faschistischen Regimes. Beide Phänomene verdienen nähere Aufmerksamkeit, weil auch die spätere Geschichte und öffentliche Wahrnehmung der Autobahn hiervon Spuren tragen. Schon das italienische Wort „Autostrada“ verrät im Vergleich zum deutschen Terminus „Autobahn“ insofern eine gewisse Zweideutigkeit, als es zwischen ‚Straße‘ und ‚Bahn‘, also im Italienischen zwischen einem allgemeinen Wort für alle alten und neuen, städtischen, ländlichen und außerstädtischen Verkehrswege wie ‚strada‘, und einem spezifischen Wort für spezielle Strecken wie beispielsweise ‚pista‘ nicht wesentlich unterscheidet. 3 Diese Ambivalenz 3

Im Unterschied zu ‚ferrovia‘, das im Laufe der Zeit die für ‚Eisenbahn‘ ursprünglich verwendete ‚strada di ferro‘ und ‚strada ferrata‘ ersetzte, setzte sich das am Anfang der 1920er-Jahre noch vorkommende Wort ‚autovia‘ nicht durch. Möglicherweise klang diese Neuprägung unspezifisch: Das lateinische ‚strata‘ steht für ‚gepflastert‘ und ergänzt das lateinische ‚via‘, ‚Weg‘ (so in den Redewendungen ‚viae silice stratae‘ und ‚viae glarea stratae‘), mit ‚autostrada‘ konnte man also den Akzent auf den neuen, charakteristischen, speziell für Fahrzeuge entwickelten Straßenboden setzen. Das Wort ‚pista‘ bildet mehrere Konstrukte wie ‚pista da corsa‘ (Rennbahn), ‚pista di decollo‘, ‚pista di atterraggio‘ und ‚pista di rullaggio‘ (Start-, Lande- und Rollbahn): anders als im Spanischen (‚autopista‘) steht es aber auf Italienisch nicht für die Autobahn. Die Bevorzugung des Wortes ‚strada‘ gegenüber ‚pista‘ könnte mit der die italienische Sprache und Kultur besonders stark prägenden humanistischen Tendenz zur Rückbesinnung auf die klassische Tradition bzw. mit der Heraufbeschwörung des legendären, das Römische Reich kennzeichnenden und die europäische Identität und Geschichte jahrhundertelang mitbestimmenden altrömischen Straßennetzes zusammenhängen. Noch zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs errichtete man anlässlich der Grundsteinlegung der Autostrada del Sole am 19. Mai 1956 eine Marmorsäule, deren lateinische Inschrift die römische Straße und die neue Autobahn in Verbindung setzte (dazu sowie zur Zeremonie und deren politischen Anlässen informiert Menduni: L’autostrada, S. 42).

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spiegelte sich – genau gesehen – in der Sache selbst wider. Denn nominalistisch sollte die Autobahn eine Straße sein, die speziell für Kraftfahrzeuge entworfen wird und jenen vorbehalten bleibt: Das verlangten die Ingenieure wie auch die avantgardistischen Befürworter der Autobahn,4 dies entsprach aber nicht immer der damaligen Wirklichkeit. 1941 wurde den Radlern die Fahrt auf der Autobahn gesetzlich gestattet,5 und noch Mitte der 1960er-Jahre gingen Anhalter auf der frisch eingeweihten Autostrada del Sole, damals der modernsten italienischen Autobahn.6 Einige in der Zwischenkriegszeit gebaute Autobahnen unterschieden sich kaum von anderen, in derselben Epoche modernisierten italienischen Straßen; und streng genommen fungierte selbst die Maut damals wie heute nicht als Unterscheidungsmerkmal. Die von Mussolini aus propagandistischen Gründen7 durchgesetzte, 30 Jahre später auf eine Staatsstraße zurückgestufte ‚Roma-Ostia‘ wie auch die in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaute A3 Salerno-Reggio Calabria waren von Anfang an mautfrei. Als Gründe für solche Widersprüchlichkeiten bieten sich für die Zwischenkriegszeit die Verschiedenheit der in die Beförderung, den Bau und das Management der Autobahnen auf lokaler und nationaler Ebene involvierten wirtschaftlichen (privaten, staatlichen, kommerziellen, industriellen) und politischen (parteilichen, ministerialen und administrativen) Instanzen und Interessen sowie der Umgang mit der infrastrukturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes an, welche die Modernisierung aller Verkehrswege forderte. Eine solche Lage spielt eine ambivalente Rolle bei der faschistischen

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Die Ochsenkarren, die es als Symbole der verhassten Rückwärtsgewandtheit eines dem Rhythmus der Moderne untauglichen Landes zu verdrängen galt und denen man überdies die Beschädigung des Autobahnbodens vorwarf, und die nicht motorisierten Fahrenden gehörten zu den Verlangsamungs- und Gefährdungsfaktoren der automobilen Fahrt. Der Hinweis auf das Königliche Dekret Nr. 653 vom 16. Juni 1941 (Lando Bortolotti/Giuseppe De Luca: Fascismo e autostrade. Un caso di sintesi: la Firenze-mare. Milano 1994, S. 80) deckt sich mit Mendunis Erinnerungen: „Man sagte mir, dass die Autobahn mangels Alternativen [‚in mancanza di meglio‘] während des Krieges für Fahrräder freigegeben wurde: Gruppen junger Leute fuhren mit dem Rad von Florenz nach Forte dei Marmi, um dort zu baden (...). Man erreichte die Pineta von Migliarino, die Autobahn war zu Ende, die Strände von Viareggio waren ein paar Schritte entfernt.“ (Menduni: L’autostrada, wie Anm. 2, S. 38) Nicht einmal zehn Jahre danach waren solche Ausflüge im sozialen Kontext einer großen Stadt wie Rom zu chaotischen und lärmenden Massenphänomenen geworden: so die Horde von Radlern und die rundherum drängenden Autos und Lastkraftwagen am ersten Sonntag im August auf der Roma-Ostia in Luciano Emmers Domenica d’Agosto (1950). Das zeigt einer der ersten Spielfilme, die auf der A1 Milano-Napoli gedreht wurden, nämlich Carlo Lizzanis L’autostrada del Sole aus dem Episodenfilm Thrilling (1965). Einerseits sollte die Hauptstadt aus Prestigegründen eine eigene Autobahn haben, andererseits sollte die Verbindung zwischen dem alten Rom und ‚seinem‘ Meer wieder geschaffen werden.

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Vereinnahmung des Autobahnprojekts in Italien, die zeitgleich mit der Ernennung Mussolinis durch den damaligen König beginnt und auf die nun einzugehen ist.8 Die blitzschnelle, von Mussolini persönlich bevorzugte und beförderte Umsetzung von Puricellis Projekt einer außerstädtischen mautpflichtigen Autobahn in der Lombardei – der ersten italienischen Autobahn: der sogenannten Milano-Laghi – hatte mindestens drei Folgen: 1) Sie wurde als Zeichen der Fertigkeiten und des Tatwillens der Nation und deren neuer politischer Führung verkauft. 2) Sie regte sofort ähnliche Anliegen in weiteren, wirtschaftlich und politisch aufstrebenden Regionen Italiens an: in der Toskana, die schon damals ein beliebtes bürgerliches touristisches Reiseziel war, und im Piemont, wo die italienische Autoindustrie ihre Hochburg hatte. 3) Sie löste heftige Kontroversen in der Politik und Öffentlichkeit über die Zweckmäßigkeit solcher Projekte und über den Stellenwert aus, der ihnen in der Propaganda-, Wirtschafts- und Baupolitik des Regimes zuzuschreiben war. Zum ersten Punkt lässt sich der Sachverhalt durch eine eigenhändige, im Puricel­ lis Büchlein über die erste italienische Autobahn gedruckte Widmung von Mussolini veranschaulichen: „Die Autobahnen sind eine großartige italienische Vorwegnahme und ein ganz gewisses Zeichen unserer der alten Kinder Roms nicht unwürdigen kons­ truktiven Kraft. Mussolini Rom, 11. Dezember 1925 – Viertes Jahr.“9 Wer sich mit der Sprache und Ideologie des italienischen Faschismus ein wenig auskennt, der wird sofort einige Elemente einzuschätzen wissen: 1) die forcierten Superlative des Willens, welcher die Realität schafft und zwingt – gemäß dem nihilistisch begründeten und in den 1920er-Jahren besonders lebendigen faschistischen Mythos des politischen Führers als Künstler; 2) der angebliche Vorrang des vom Faschismus revitalisierten italienischen Volkes; 3) die Berufung auf das alte bzw. römische Genie und die römische Größe, die beide der Faschismus erneuere. Die Autobahn gehörte also von Anfang an zu den Symbolen der nationalen Wiedergeburt und jener Aneignung und Modernisierung der Tradition, die die einflussreiche Baupolitik des Regimes umsetzen wollte. Dennoch blieb die Autobahn gegenüber anderen Bauprojekten des Regimes faktisch und propagandistisch im 8

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Vgl. Piero Puricelli: Autostrade. Roma 1925; Italo Bonardi: Le autostrade italiane. Loro organizzazione e loro importanza turistica. Bologna 1942; Serravalle SPA (Hg.): 1924–1935. Le autostrade della prima generazione. Milano 1984; Bortolotti / De Luca, Fascismo e autostrade; Massimo Moraglio: Storia delle prime autostrade italiane (1922–1943). Torino 2007. Allgemeiner und auch in vergleichender Perspektive zur Verschränkung von Architektur und Politik unter dem Faschismus Aram Mattioli und Gerald Steinacher (Hg.): Für den Faschismus bauen. Architektur und Städtebau im Italien Mussolinis. Zürich 2009. „Le autostrade sono una grandiosa anticipazione italiana e un segno certissimo della nostra costruttiva potenza non indegna degli antichi figli di Roma. Mussolini Roma, 11 Dicembre 1925 – anno 4“. In Piero Puricelli: Autostrade, S. 7. Ich bedanke mich bei meinem Kollegen und Freund Dr. Antonio Rosario Daniele sowie bei der Leitung und den Mitarbeitern der Biblioteca Provinciale Magna Capitana (Foggia) dafür, dass sie mir eine Kopie des seltenen Büchleins von Puricelli besorgt haben.

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Hintergrund. Das hat sozio- und wirtschaftspolitische Gründe: In den Zwanzigerjahren war das Motorisierungsniveau Italiens sehr niedrig und auf nationaler Ebene überaus unausgeglichen. Die meisten Autos befanden sich im industrialisierten Norden, insbesondere in Turin und Mailand, und waren im Besitz von Eliten, also: Aristokraten, Großbürgern oder wohlhabenden Künstlern und Intellektuellen. Viele Gegner behaupteten daher, die Autobahn habe sozial und wirtschaftspolitisch keine Priorität, weil die Mehrheit des Volkes davon nicht profitiere bzw. andere infrastrukturelle Investitionen viel dringlicher seien. So wurde die Autobahn beispielsweise von Ugo Ancona in der Zeitschrift Nuova Antologia 1928 als „Luxus“ angeprangert, „den sich nur reiche Länder leisten können, einmal angenommen, dass sie die gemeinen Straßen für Autoverkehr in Ordnung gebracht haben“: „die Begeisterung für die Autobahnen“ sei deshalb „schädlich“.10 Gegen solche Argumente appellierten die institutionellen und privaten Sponsoren an die Stärkung der nationalen Identität und des wirtschaftlichen Aufschwungs durch den von der Autobahn entscheidend vorangetriebenen Tourismus sowie daran, dass die Autobahn eine faschistische Errungenschaft sei, die an die Modernität und den Fortschritt anschließe und die Erlösungs- und Zukunftsfähigkeit der Nation zeige.11 Unter solchen Bedingungen kam es tatsächlich in zwanzig Jahren zur Fertigstellung von sieben kurzen Autobahnstrecken, die meist touristisch-kommerziellen Zielen dienten: die ersten drei entstanden in einer expansiven und liberalistischen Phase der faschistischen Wirtschaftspolitik, während die letzten vier in einer krisenbedingten Phase von Verstaatlichungen und staatlichen Interventionen gebaut wurden. Die Verbindung der bestehenden Strecken in einem das ganze Land deckenden Netz wurde damals entworfen, aber nicht realisiert; der Plan bildete dennoch die Grundlage für die Bauarbeiten der zweiten Nachkriegszeit.

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 bfahrt 1: Proletarier auf der Autobahn Milano-Laghi in Mario Camerinis Gli A uomini che mascalzoni (1932) Die bisher skizzierte soziale, touristische, infrastrukturelle Realität der italienischen Autobahn der 20er-Jahre wie auch deren ebenso angedeutete avantgardistische und abenteuerliche Dimension wurden Anfang der 1930er-Jahre in einem denkwürdigen Spielfilm zusammengefasst, in dem die Autobahn und deren Erfahrung wahrscheinlich zum ersten Mal in Italien verfilmt und ästhetisch und sozial reflektiert wurden. Gemeint ist hier Mario Camerinis Gli uomini che mascalzoni („Die Männer: was für Schurken“) – kein protofeministisches Manifest, sondern eine zarte Komödie, die u. a. 10 Zit. in S. 77. 11 So argumentierte Mussolinis Bauminister Francesco La Farina 1925 zugunsten der Autobahn,

dass „in einem Land wie Italien, wo nur einer von 455 Menschen ein Auto besitzt, [...] dieses Streben nach dem Bau der Autobahnen eine Kraft zum Ausdruck [bringt], die uns stolz in die Zukunft schauen lässt“, ebd. S. 73.

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das künftige Regiegenie des Neorealismus Vittorio de Sica als Sexsymbol lancierte und den weltweiten Erfolg eines romantischen Liedes (Parlami d’amore, Mariù) begründete.12 Der Film wurde plein air gedreht, was damals für das italienische Kino sehr ungewöhnlich war,13 und selbst bei den Bühnenbildern der Arbeits- und Wohnräume der Hauptdarsteller achtete man nach Prinzipien des italienischen literarischen Realismus (Verismo) auf Details, die den sozialen Zustand der einschlägigen Figuren wiedergeben sollten.14 Das Auto fungiert in dem Film eindeutig als Statussymbol, die Hauptfiguren jedoch sind zwei Proletarier: Der umtriebige Bruno, der als Chauffeur für einen reichen Mailänder arbeitet, verliebt sich auf den ersten Blick in eine schüchterne und reinherzige Parfümerieverkäuferin namens Mariuccia, auf die er an einem Zeitungskiosk gestoßen ist. Während sie mit der Straßenbahn zur Arbeit fährt, versucht Bruno auf seinem Fahrrad ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihm auch gelingt. Als sie aber aussteigt und mit den Kolleginnen zu Fuß weitergeht, wird Bruno von diesen verspottet, weil er mit seinem Fahrrad so hübschen Frauen nicht imponieren kann: Sie gestatten gewöhnlich nur jenen Männern ihre Gesellschaft, die sie mit dem Auto am Wochenende abholen und zu exklusiven Ortschaften wie dem Lago Maggiore und dem Comer See fahren. Bruno nimmt die Herausforderung an und präsentiert sich an dem darauffolgenden Samstag vor der Parfümerie mit dem Auto seines Dienstherren, der davon selbstverständlich nichts ahnt: Bruno erfüllt zunächst Mariuccias Wunsch, durch die Stadt zu fahren, dann nimmt er die Autobahn und chauffiert sie bis zum Lago Maggiore. Außerhalb der städtischen Grenzen, die Mariuccia womöglich nie überschritten hatte – jedenfalls nie in einem Auto und in der Gesellschaft eines Unbekannten am Lenker – schaut sie sich zunächst orientierungslos um und fragt bittend nach dem Ziel der Fahrt. Diese erste Sequenz scheint auf einer ländlichen Straße in einer Art Limbo gedreht zu sein, das Auto fährt langsam und taumelt. In der anschließenden Sequenz fährt das Auto schon stabiler und schneller. Mariuccia ist zunächst um die erhöhte Geschwindigkeit, dann 12 Nicht einmal zwei Jahre später verwendete Jean Vigo die französische Fassung des Liedes in

seinem Meisterwerk L’Atalante (1934).

13 Camerini war sich dessen vollkommen bewusst und programmatisch verfolgte er das Ziel eines

Filmes, den – wie er sich im Gespräch mit Libero Solaroli, dem damaligen Produktionsdirektor der Filmgesellschaft CINES und späterem Produktionsberater für Viscontis Ossessione ausdrückte – „man fast ganz außen drehen kann“, was – so fügte er rückblickend hinzu – „dem Film seinen Geschmack gab“ (Francesco Savio: Cinecittà anni trenta. Parlano 116 protagonisti del secondo cinema italiano (1930–1943). A cura di Tullio Kezich. Roma 1979, S. 209. Ähnliche Aussagen in weiteren Gesprächen und Interviews, beispielsweise in Sergio Gremk Germani: Entretiens avec Mario Camerini. In: Alberto Farassino (Hg.): Mario Camerini. Locarno 1992, S. 89–145, hier S. 103, 112). 14 Vgl. dazu die Erinnerungen des Bühnenbildners und Regieassistenten Ivo Perilli in Savio, Cinecittà: „In der Wohnung des Taxi-Fahrers gibt es – ich sage es nochmal – eine veristische Gründlichkeit: das Streben danach, das wahrhaft Wahre zu schaffen“ („...una pignoleria veristica, l’aspirazione a fare del vero vero“).

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um das Ziel besorgt. Als Bruno Letzteres verrät („zu den Seen“), reagiert sie verblüfft mit den Worten: „Sie sind doch verrückt!“, Bruno beruhigt sie aber mit dem doppelten Versprechen, die Laghi seien schön und in einer Stunde erreichbar. Die darauffolgende Ab- und Aufblende löst das Versprechen ein, wie es nur im Kino möglich ist. Diese insgesamt wenige Sekunden dauernde erste Autobahnszene wird in subjektiver Einstellung gedreht und versetzt somit den Zuschauer in Mariuccias psychologische und perzeptive Lage hinein, was nicht nur von der Handlung her, sondern auch angesichts des damaligen großen Kinopublikums durchaus Sinn machte: Die sozialen und geografischen Distanzen, die ihm solche Fahrten unmöglich machten, werden nämlich vom Kino aufgehoben. Mariuccia und der Zuschauer machen die glücksversprechende und leicht verwirrende Erfahrung einer Reise, bei welcher soeben erblickte Autos, Viadukte und Werbeschriftzüge und plötzlich winzig klein und schattenhaft werdende Fußgänger am Straßenrand gleich hinter uns verschwinden und Träume augenblicklich verwirklicht zu werden scheinen. Am Ende einer Woche bescheidener Arbeit am Rande der Oberschicht in luxuriösen, modernen Läden, deren Waren der Verkäuferin unzugänglich sind, wird man durch das Auto und die neue Straße, die Autobahn, bequem und augenblicklich in eine romantische Welt transportiert, von der man bisher nur gehört hatte und die es nun zu beschauen und genießen gilt.15 Diese Illusionen sind eine Art Urerfahrung der Autobahn, bei welcher eine neue Wahrnehmung und ein Glücksversprechen geltend gemacht werden. Interessant ist an der ganzen Szene, dass die in der subjektiven Einstellung Mariuccias vor unseren Augen schwebende Seelandschaft nicht aus der Perspektive des fahrenden Autos gezeigt wird, sondern von einem festen Standpunkt der Promenade. Dies mag damit zusammenhängen, dass die auf Geschwindigkeit und männliche Aggressivität setzende automobile Ästhetik des Futurismus (der in einer späteren Sequenz des Films eine entscheidende Rolle spielen soll) einerseits und die Vorstellung einer von rationalistischer und utilitaristischer Logik bestimmten Ästhetik der Autobahn als Objekt der Moderne andererseits der romantischen Sehnsucht programmatisch widersprachen. Einige Stunden später wird Bruno bei der Mittagspause in einer Gaststätte am Seeufer in Meina von der klatschenden Verwandtschaft seines Herren ertappt: Er muss sie umgehend nach Hause zurückfahren, ohne dass Mariuccia davon erfährt. Bei dieser zweiten, kürzeren Autosequenz wird der Abstand vom Ziel bzw. die Annäherung ans Ziel – wie von Sergio Micheli bemerkt: im Stil eines Stummfilms – durch das Steigen und Sinken des Zeigers des Kilometerzählers bezeichnet. Es gibt aber noch weitere Gründe, weshalb diese zweite Autobahnsequenz im Horizont der vorliegenden Untersuchung an Bedeutung gewinnt und abermals eine Symbiose von 15 Am Ende dieser Szene wird Bruno – während eine die biegenden Linien der Wellen, der Hügel

und der Liebe andeutenden schmachtenden Musik das off-screen stehende Paar wiegt – auch die erste leibliche Annäherung wagen, wie zu erwarten rigoros off-screen.

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ästhetischen, narrativen und psychologischen Motiven aufweist. Erstens bestätigt sie indirekt die damalige Vorstellung, dass der automobile Blick, von Beschleunigung und Geschwindigkeit geprägt, das Erträumte und das Pittoreske an der Natur löscht. Erst und alleine bei dieser unromantischen, von der Eile dominierten und für Bruno aus mehreren Gründen peinlichen, ernüchternden Rückfahrt (wo er wieder in seine Rolle als Diener zurückversetzt ist, die eilenden Herrschaften nach Hause zurückzufahren hat und ihm um sich selbst wie auch um Mariuccia bang ist) wird eine der bekannten Ortschaften am Lago Maggiore (Arona) ganz am Anfang der Sequenz und für einige Sekunde vom Standpunkt des fahrenden Autos ins Bild genommen. Gefangen zunächst zwischen nacheinander verschwindenden Häusern und Eisenbahnschienen, dann hinter den massiven Geländern und dichten Gittern einer Eisenbrücke büßt die Landschaft am Lago die idyllische Faszination ein, die Mariuccia und die Zuschauer vorher erfüllt hatte. Zweitens zoomt die Kamera gleich hinter Arona jene damals als wesentliche Bestandteile und Kennzeichen der Autobahn wahrgenommenen riesigen dreidimensionalen oder wie das beworbene Objekt ausgeschnittenen bzw. kleineren, schlichteren, einförmigeren Werbeplakate in den Vordergrund, durch welche sich die Warenwelt der modernen Gesellschaft von den Straßenseiten zur Eroberung des Blickfelds der fahrenden Menschen anschickte. Die Ambivalenz der plakatierten Ware, die ein jeder sieht, auf die aber nicht alle zugreifen können, reflektiert in dieser Szene ironisch und ernüchternd auch Brunos existenzielle Lage. Sobald der Dienst erledigt ist, setzt sich Bruno verzweifelt ins Auto, um so schnell wie möglich die in der Gaststätte zurückgelassene Mariuccia zu erreichen. Die entsprechende Szene, die viel länger als die früheren dauert und meist ohne Zooms auskommt, besticht durch eine der sowjetischen und auch deutschen Avantgarde und dem futuristischen Mythos der Geschwindigkeit verpflichteten Ästhetik,16 ohne 16 Camerini kannte sich nicht nur mit den sowjetischen Theoretikern und Kinokünstlern seiner

Epoche, sondern auch mit dem deutschen Kino der Weimarer Zeit aus, da er in Deutschland in den 1920er-Jahren gearbeitet hatte. Schon in einem früheren Film Camerinis (Rotaie) waren „Einflüsse des Kammerspiels [Deutsch im Original] und der sowjetischen Kinematographie“ (Gian Piero Brunetta: Cinema italiano tra le due guerre. Fascismo e politica cinematografica. Milano 1975, S. 52) wie auch erste Ansätze seines späteren Realismus zu spüren. Frank Seehausen verdanke ich den Hinweis auf Fritz Langs zweiten Mabuse-Film, in dem das auch bei Camerini vorkommende Bildmotiv des rollenden Autorads verwendet wird. Dies war übrigens schon ein Topos der futuristischen Malerei, wie in Giacomo Ballas (‚Futurballa‘) Automobile in corsa 1913 zu bewundern ist – ein Bild, das mit der letzten Autobahnsequenz bei Camerini etwas gemeinsam hat. Der Einfluss des sowjetischen Modells in der Debatte um Ästhetik, Ideologie und Produktionssystem des italienischen Kinos der 1920er- und 1930er-Jahre war so markant, dass die Forschung von einem politischen und intellektuellen „sowjetischen Mythos“ (vgl. dazu ebd. S. 67–73 und Vito Zagarrio: Il modello sovietico. Tra piano culturale e piano economico. In: Cinema italiano sotto il fascismo. A cura di Riccardo Redi. Venedig 1979, S. 185–200) redet, dessen Entwicklung sich übrigens mit derjenigen des faschistischen Regimes deckt.

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dass auf die narrative Funktion der Szene und auf die Darstellung des aufgewühlten Gemütszustandes der Hauptfigur verzichtet wird. Die Geschwindigkeit des Autos, die von der Autobahn ermöglicht wird, zerbricht die Wahrnehmung der umgebenden Wirklichkeit und setzt deren natürliche, technische und kontingente Elemente neu, und zwar antinaturalistisch, zusammen. Besonderes Gewicht bekommen dabei die Bildmotive des rollenden Autorads und der verbogenen Bäume sowie die steilen Fluchtlinien, die von zu überholenden bzw. überholten Autos und Heukarren ausgehen. Der Schnitt immer kürzerer Einzelbilder, durch welchen die immer weiter steigende Geschwindigkeit wiedergegeben wird,17 führt die rasende Progression der Fahrt und somit der ganzen Handlung bis zum endgültigen Kontrollverlust des Autos perfekt vor Augen.18 Köstlich ist, dass diese futuristisch-avantgardistische Szene mit einem Unfall endet, bei welchem das Auto wegen eines mitten auf der Straße laufenden, Obst transportierenden Pferdekarrens entgleist und dabei noch das Werbeschild der Fiera del Levante – einer bis heute veranstalteten Messe in Bari – niederreißt. Das darauffolgende Wortgefecht zwischen dem bestürzten Bruno und dem wütenden Bauern speist sich parodistisch aus der Autobahnverordnung, denn der eine hätte nicht in der Mitte fahren bzw. der andere sich rechts halten sollen.19 17 Camerini selbst beschrieb in mehreren Gesprächen diese von ihm angefertigte experimentelle

Technik, die „dem Unfall seinen Rhythmus schenkt. Die Geschwindigkeit – so sein Fazit – war nicht so groß, sie wird durch den Schnitt gegeben“ (Germani, Entretiens, S. 113. Vgl. Due interviste con Camerini. In: I favolosi anni Trenta. Cinema italiano 1929–1944. Milano 1979, S. 56–68, hier S. 65). 18 Jean A. Gili (Les Horizons européens de Mario Camerini. In: Farassino, Camerini, S. 47–54, hier S. 53) würdigt diese Szene als perfektes Beispiel der dynamisierenden und expressiven, den ganzen Film prägenden Fusionierung von wesentlichen Stumm- und Tonfilmelementen. 19 Vgl. den Artikel 5 des Königlichen Dekrets Nr. 1040 vom 27. Mai 1926. Außer Zweifel steht, dass der Art. 10 Bruno keinen Ausweg ließ: „Jederzeit soll der Fahrer von automobilen Fahrzeugen der Geschwindigkeit seines Fahrzeuges Herr sein, damit er sie reguliert, um jede Gefahr für die Sicherheit von Menschen und Sachen zu vermeiden“ (ebd.). Grmek Germani – der die Inschrift auf dem zerstörten Werbeschild durch die Zeitlupe folgendermaßen liest: ‚Fiera del Levante Bari Italia contadina e industriale‘ – interpretiert die Zerstörung des Schildes als Abschaffung des faschistischen Mythos einer Klassen- und nationalen Versöhnung zwischen Bauern und Arbeitern bzw. Norden und Süden (Germani, Camerini, S. 47). Dass der Unfall eine ironische Kraft entfacht, ist unverkennbar, und es ist anzunehmen, dass Camerini mit dieser Episode auch die Distanz zwischen den arbeitenden Massen und gewissen Modernisierungsmythen des Regimes markiert. Dass sich solche Ironie ausschließlich auf das Regime und dessen politische (und künstlerische) Mythen richtet, wäre aber einseitig und der subtilen Ambivalenz der Komödie nicht angemessen: die Szene parodiert gleichzeitig auch Brunos Versuch, sich als Weltmann auszugeben, der selbstsicher Damen auszuführen, ihnen die Genüsse und Annehmlichkeiten des Lebens hervorzuzaubern und – ohne die Kontrolle auf sich und seine Mittel zu verlieren – kritische Situationen zu bewältigen weiß: eine Rolle, zu welcher er und seine Klasse offensichtlich nicht taugen.

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Der Autounfall hat selbstverständlich Konsequenzen, der Ton des Filmes bleibt aber der einer Komödie: Bruno wird entlassen, Mariuccia will zunächst von ihm nichts mehr wissen, macht sich aber dann heimlich daran, für ihn einen Job bei der damals gerade eingeweihten Mailänder Messe zu finden. Nach unzähligen Missverständnissen verstehen beide, dass sie füreinander geschaffen sind, und werden von Mariuccias Vater, einem alten Taxifahrer, gesegnet.20 Das von der Autobahn vermittelte Glücksversprechen muss aber im Falle Brunos und Mariuccias auf einer anderen, niedrigeren Ebene eingelöst werden. Die Proletarier bleiben vorerst Proletarier: Sie fahren das Auto im Dienste der Herren und ihnen gilt ‚die‘ ‚wahre‘, anständige Liebe und der Traum, den sie durch die moderne (Auto- und Kino-) Industrie träumen können.21 20 Pietro Cavallo (Viva l’Italia. Storia, cinema e identità nazionale.1932–1962. Napoli 2009, S. 29,

39, 59), welchem Gli uomini che mascalzoni als „exemplarisch“ für die „Ablenkungsfilme“ des italienischen Kinos der 1930er-Jahre gilt, interpretiert das Finale als Bestätigung seiner These, wonach die die Mischung aus Angst und Faszination hervorbringende Herausforderung der Moderne in der damaligen italienischen Gesellschaft durch eine neue Rolle der Frau in der Gesellschaft aufgegriffen worden sei (ebd. S. 38–39). Einerseits sei Mariuccia die starke, leitende, bestimmende Figur des Films (ebd.: „die ‚Entdeckung‘ von Mailand und der Modernität geschieht hauptsächlich durch ihre Bewegungen, nach dem Motto: um die Moderne zu erkunden und verstehen, ohne sich dabei zu verlieren, brauchte man ein erneuertes Frauenbild, das als Leitfigur fungiert [una figura femminile che fungesse da guida]“), andererseits gehe diese Entwicklung nicht so weit, dass die Frau ihre häuslichen Pflichten aufgibt (der alte Vater von Mariuccia ließe die Ehe zwischen beiden zu, nachdem er belauscht hat, dass Bruno Mariuccia die Bedingung stellt, nicht mehr in der Parfümerie zu arbeiten). Dass sie Bruno bei den Industriellen der Messe vermittelt, wenngleich mithilfe ihrer Kolleginnen, stimmt; die somit besorgte, aber letztlich erniedrigende Beschäftigung, die Bruno von der Frau abhängig machen würde, ist aber provisorisch und es ist ersichtlich, dass er die künftige Familie durch eine Anstellung ernähren wird, die seinen Kompetenzen entspricht und ihm eine Autonomie und führende Position in der Beziehung gewährleistet. Im Allgemeinen lässt sich bemängeln, dass der Prägnanz der Autoszenen für die Erschließung des Sinnes von Gli uomini che mascalzoni durch die Fokussierung der Forschung auf die zweifelsohne grundlegenden und zurecht berühmten Messeszenen nicht Rechnung getragen wird: Die Moderne zeigt sich nämlich im Film nicht nur durch die Messe, sondern genauso durch das Auto und dieses bleibt im ganzen Film ein männliches Monopol. 21 An dieser Stelle sei nur noch darauf aufmerksam gemacht, dass die Ideologie der Finale von Camerinis Komödien aus den 1930er-Jahren eines der zentralen Themen jeder Forschungsdiskussion um das wechselseitige Verhältnis von Faschismus und italienischem Kino zwischen 1922 und 1945 bildet. Vgl. neben den schon erwähnten, von Redi bzw. Savio herausgegebenen Sammelbänden sowie dem ebenso oben zitierten Text von Gian Piero Brunetta noch Francesco Savio: Ma l’amore no. Realismo, formalismo, propaganda e telefoni bianchi nel cinema italiano di regime (1930–1943). Milano 1975; Mino Argentieri: L’occhio del regime. Informazione e propaganda nel cinema del fascismo. Firenze 1979, untersucht insbesondere die Geschichte und die Tätigkeit des Istituto Luce als Instrument der faschistischen Propaganda.

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4 Abfahrt 2: Luchino Visconti und die Straße der Obsession (1942) Zehn Jahre nach Gli uomini che mascalzoni drehte Luchino Visconti Ossessione, seinen ersten und als geniale Keimzelle des späteren italienischen Neorealismus lange Zeit gerühmten Film: eine freie, kühne Adaption von James Cains The postman always rings twice (1934). Schon bei den Vorarbeiten spielte die Straße eine wichtige Rolle. Die Erinnerungen von Giuseppe De Santis22 bringen zutage, dass Visconti und seine Mitarbeiter auf Cains Roman eine eigene Vorstellung der Vereinigten Staaten als hochrationalisierte, industrialisierte, atomisierte Gesellschaft mit losen menschlichen Beziehungen und ausgeprägter, promiskuitiver, individueller Mobilität auf einem unermesslichen Territorium zurückprojizierten. Die Highways und deren Welt, die in solcher Projektion ausdrücklich eine zentrale Rolle spielten23 und die sich auf den damals noch kurzen, so wenig vernetzten wie verkehrsreichen italienischen ‚autostrade‘ schwer reproduzieren ließen, suchte und fand Visconti nicht in De Santis’ archaischer Ciociaria, sondern – angeregt durch Libero Solaroli – auf der Hauptstraße entlang der Ebene des Flusses Po in der Gegend von Ferrara.24 Die Weite der dortigen infrastrukturellen Vernetzung, welche Land, Städte und Dörfer der Ebene mit den Häfen der Adriaküste in Verbindung brachte, die etablierte industrielle Tradition, die noch bestehende Gebundenheit an das Land und den Fluss und last but not least die traditionelle Rückhaltlosigkeit der Sitten machten aus dieser Region eine zusammenhängende, sozial-, infrastrukturell und wirtschaftlich dynamische Realität, die dazu geeignet war, die entsprechenden Voraussetzungen der in Cains Roman erzählten Geschichte im damaligen italienischen Kontext realistisch zu entwickeln.25 In diesem Sinne war die Straße von Ossessione nicht nur erkennbar – wie die „Milano-Laghi“ bei Camerini –, sondern auch die Ader eines repräsentativen sozialen Organismus, in welchem alle Figuren des Films tatsächlich zirkulierten. In dieser und weiteren Hinsichten lässt sich Ossessione gleichsam als Kehrseite von Gli uomini che mascalzoni interpretieren. 22 Giuseppe De Santis: E con ‚Ossessione‘ osai il mio primo giro di manovella. In: Bianco e Nero.

Giugno 1984, S. 15–20/Ottobre 1983, S. 26–29.

23 Ebd. S. 17: „Im Roman war von Versicherungen auf Leben, Haus, Auto, ja auf alles, was man

versichern könnte, die Rede bzw. wurde die doppeldeutige und sexuelle Stimmung der ‚drug-­ stores‘, Motels, Gasthäuser und Verkaufsstellen ausgemalt, die entlang der von Herumtreibern jeder Rasse bevölkerten großen amerikanischen Autobahnen [le grandi autostrade americane] liegen, und der Nomadismus der Wanderer als normale Lebenspraxis betrachtet.“ 24 Ebd., S. 18–19. 25 Ebd., S. 19: „Es war dort, dass die breiten Horizonte Nordamerikas, die Verkaufsstellen, die Herumtreiber, die Flüsse, die großen Straßen [le grandi strade], das ununterbrochene und händlerische Hin und Her – wenn nicht eine gleiche Identität, so doch das leidenschaftliche und sanguinische Pendant einer Erzählung finden konnten, die ursprünglich für ein industrialisiertes Land erdichtet worden war und nun in die Tiefen [le viscere: die Eingeweide] eines ganz italienischen Szenarios zu übertragen war, ohne dabei deren Wesen und Geist zu ändern.“

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Erstens gilt das Interesse beider Filme dem konkreten Leben und den Gefühlen und Wunschbildern der unteren Schichten: Was Camerini aber als optimistische Komödie der guten Gefühle darstellt, verarbeitet Visconti zu einem trüben existenziellen Drama voll abgründiger Leidenschaften. Zweitens bekommen die Autofahrt und die entsprechende Straße in beiden Filmen eine symbolische Bedeutung als Träger von bestimmten Glücksversprechen, die auf die Probe gestellt werden. Drittens ist beiden Filmen eine grundsätzliche Entscheidung gegen Studio- und für Außenaufnahmen gemeinsam, welche mit einem gewaltigen Anspruch an die ungeschminkte Darstellung menschlicher Verhältnisse und deren soziale und natürliche Umwelt einhergeht. Voraussetzung dafür war im Falle Viscontis die Gleichgesinntheit und enge Kooperation mit Solaroli und der antifaschistisch orientierten Gruppe der Zeitschrift Cinema, mit welcher er unter anderem das Interesse für den Realismus und das Streben nach Verga und dessen Verismus teilte. Diese realistische Grundentscheidung, die in beiden Filmen auch die Sequenzen im Auto betrifft, führt Visconti zu einer so schonungslosen und keineswegs ästhetisierenden Darstellung der ärmlichen Verhältnisse und der inneren Unruhen innerhalb der italienischen Gesellschaft, dass Ossessione einen Skandal erregte und mehrfach beschlagnahmt wurde.26 Das Liebespaar von Ossessione besteht aus einer unglücklichen, unbefriedigten und höchst anziehenden jungen Frau namens Giovanna, die den älteren, groben Betreiber einer Gaststätte und Tankstelle aus Not heiratete, und einem jungen, hübschen, kraftvollen Herumtreiber namens Gino, der am Anfang des Films von der Pritsche eines Lastkraftwagens bei der Gaststätte aussteigt. Besessen von einer auf den ersten Blick entfachten trüb-sinnlichen Leidenschaft begehen Gino und Giovanna nach einer vorläufigen Trennung, die ihre Leidenschaft nicht zu löschen vermochte, den einem Autounfall nachgestellten Mord an Giovannas Mann. Ginos Gewissensbisse, dass er seiner eigenen, auf Freiheit, Spontaneität und Autonomie vor der Gesellschaft orientierten Lebenseinstellung durch diese Tat untreu geworden ist, und sein nicht gerechtfertigter Zweifel an der Reinheit und Selbstlosigkeit von Giovannas Liebe bringen das Paar an den Rand der Selbstzerstörung. Die Krise scheint aber dann überwunden zu sein, als das sich im Schoß von Giovanna ankündigende neue Leben als Heilsbringer erlebt wird, der beide Geliebte unantastbar macht und vorige Sünden, Wunden und Konflikte tilgt: Solche Gedanken und Glücksversprechen teilen sich Gino und Giovanna zuversichtlich im Auto auf der Flucht mit, als Giovanna 26 Zu beachten ist dabei noch, dass Gli uomini che mascalzoni in einer Epoche gedreht wurde, in der

die Kontrolle der Zensur noch nicht so scharf und bedrückend war wie zur Zeit von Viscontis erster Regiearbeit. Schon 1934 wird Camerinis neue Komödie Il cappello a tre punte seitens der Presse als antifaschistisch und anti-italienisch angeprangert und um einige Dialoge gekürzt. Im Allgemeinen ist die Forschung darüber einig, dass die Jahre 1932–1935 einen Wendepunkt in der Zensurpolitik des Regimes markieren.

Existenzversuche und Moderne

bei einem Unfall ums Leben kommt. Die Schlussszene, die ebenfalls auf der Straße gedreht wird, zeigt uns das Gesicht von Gino, den inzwischen die Polizei gestellt hat, und darin all die Verzweiflung eines Gescheiterten, der alles entschwinden sieht, was den Sinn seines Lebens ausmachte. Das neue an Viscontis Film und dessen Umgang mit der Straße fällt durch einige Vergleiche mit Cains Roman bzw. dessen drei Jahre vor Ossessione in Frankreich von Pierre Chenal gedrehten, dem originalen Stoff treu gebliebenen ersten Verfilmung (Le dernier tournant) auf. Anders als in dem Roman und in Chenals Streifen gibt es bei Visconti vor allem kein gerichtliches Nachspiel, bei welchem Gino – des Mordes an Giovanna bezichtigt und dafür zum Tode verurteilt – ein Geständnis seiner Unschuld und seiner Liebe für die verstorbene Frau im Gefängnis ablegt. Auf die Wiederherstellung der Norm und somit der ethischen und sozialen Ordnung durch die ‚Justiz‘ und deren Rituale kommt es also bei Visconti nicht an: Er dreht keinen Krimi und die letzte Szene spielt wie die erste auf der Straße. Pierre Chenals Le dernier tournant [Die letzte Serpentine]27 trägt seinerseits die Straße zwar im Titel, zeigt sie aber kaum in Bildern. Die einzige Sequenz, die Chenal offenbar auf der Straße drehte, ist die des Vorspanns: eine Subjektive aus einem nicht sichtbaren Fahrzeug, das bei Tageslicht auf der Bergstraße entlang einer kargen Landschaft in jeder Kurve gefährlich zu schwanken scheint. Die Musik, die dabei ertönt, ist dieselbe, die Coras Geliebten am Ende des Streifens zur Hinrichtung begleiten wird, was einen interpretatorischen Nexus zwischen erster und letzter Szene des Films schafft. Als der sperrige Vorspann den damaligen shooting star des französischen Kinos „Corinne Luchaire (dans le rôle de Cora)“ ankündigt, erscheint deren Antlitz wie in einer Vision, als ob Frank sich rückblickend nach der verlorenen Geliebten sehnen würde. Anders als in Viscontis Ossessione, wo der Übergang von der ersten zur zweiten Sequenz dadurch gekennzeichnet ist, dass derselbe Lastkraftwagen in zeitlicher Kontinuität auf derselben Hauptstraße vor der Gaststätte hält, spielt die zweite Sequenz bei Chenal nachts und weit von Coras Gaststätte entfernt (sodass sie von Frank zu Fuß erreicht wird). Im Vergleich mit Ossessione löst sich die Vorspannsequenz bei Chenal von deren ‚informatorischer‘ Funktion nicht völlig bzw. sie steht in keiner so unmittelbaren Kontinuität mit der darauffolgenden Handlung: Wenn auch außen gedreht, hat sie paradoxerweise keinen realistischen, sondern traumartigen Charakter. Anders als bei Visconti werden die anderen Autoszenen wie beispielsweise die des gelungenen Mords und des tödlichen Unfalls der Frau im Filmstudio mit Tricks gedreht und durch nur wenige im Freien gedrehte Einzelbilder ergänzt. 27 Eine vergleichende Analyse von Ossessione und Cains The postman always rings twice bietet Lino

Micciché, Visconti, S. 32–38; Chenal wird dabei aber weggelassen. Micciché berichtet lediglich über Chenals unbegründeten Plagiatsvorwurf gegen Visconti (ebd. S. 26, Anm. 10).

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Visconti, der James Cain dabei folgt, die vorläufige Trennung der Geliebten auf der Hauptstraße zu drehen, folgt ihm aber auch mit genialer stilistischer und dramati­scher Konsequenz dabei, die Gespräche um die hinzugekommene Schwangerschaft samt den damit verbundenen Emotionen, Körpereindrücken und dem gegenseitigen Glücksversprechen beider Liebenden teils in der Nacht vor dem Tod der Frau im Schlafzimmer, teils am darauffolgenden Morgen am offenen Meer zu inszenieren. Während Chenal diese Gespräche drastisch verkürzt im Schlafzimmer des Liebespaars stattfinden lässt, dreht Visconti die Dialoge, deren Text er größtenteils dem Roman entnimmt, im Auto auf der Hauptstraße während der Flucht, die für Cora zum Tode führt. Die Straße dient also bei Chenal lediglich als Kulisse, während die Hauptstraße bei Visconti nicht nur konkret erkennbar ist, sondern auch so präsent und symbolträchtig erscheint, dass sie zur Protagonistin gemacht wird. Das zeigt sich schon durch die erste, meisterhafte Sequenz des Filmes,28 während der Vorspann noch läuft: Durch eine lange, düstere, asymmetrische und statische Kamerafahrt starrt der Zuschauer auf die Hauptstraße vom Standpunkt der Fahrerkabine des Gino zu Giovanna führenden Lkws, bis die Konturen der Gaststätte und der Tankstelle zu ahnen sind. Die ganze Sequenz wird durch eine unerbittlich düstere Musik kommentiert, welche die Leitmotive des leidenschaftlichen Betrugs, des Mords und die Schlussszene des Films vorwegnimmt. Diese erste Roadmovie-Einstellung, durch welche Visconti die den Blick auf die Welt beschränkende Obsession vermittelt, zeigt die Straße als schicksalhaft und fungiert von Anfang an als eine Art Symbol und Synthese der Handlung. Die Straße bedingt die ganze Handlung, sofern diese durch die reale und symbolische Präsenz der Straße sowohl narrativ als auch filmisch gestartet, getragen, offen gehalten und letztlich beendet wird. Und die Straße wird zur Trägerin der Ängste, Gefühle, Erwartungen und Illusionen, ja der Projektionen aller Hauptfiguren, die durch die Straße mit der Chance der Autonomie und der Gefahr der Entstabilisierung konfrontiert werden. Die durch die Straße gesteigerte und immer weniger kontrollierbar gewordene Mobilität der Menschen und ihrer Emotionen verunsichert Giovannas Ehemann, der eine statische und bäuerlich misstrauische Denkweise aufweist, aber auch Giovanna, die sich durch die Straße gute Geschäfte und somit ein befriedigendes Leben erhofft, den Ruf der Straße zugleich aber fürchtet, weil sie ihr Gino wegnehmen könnte. Und Gino, der durch die Straße der Gesellschaft den Rücken kehren wollte, um ein freies Leben zu genießen, überschätzt sich dabei 28 Nur wenige Kritiker haben sich eingehend damit beschäftigt, darunter Leonardo Quaresima,

für welchen „die Landschaft“ durch diese Sequenz zur „Protagonistin unter anderen Protagonisten“ der ganzen Handlung wird und von Anfang an eine „lähmende, bedrückende Wirkung [ausübt] [...]. Es handelt sich dabei um einen Raum, der das Subjekt tendenziell ausstößt, anstatt es zu empfangen und integrieren“ (Leonardo Quaresima: Ossessione. Il teatro dei rapporti. In: Veronica Pravadelli [Hg.]: Il cinema di Luchino Visconti. Venezia 2000, S. 37–52, hier S. 44.)

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tragisch. In der sozialen Welt von Ossessione verbindet und spaltet somit die Straße in ihrer symbolischen Dichte und infrastrukturellen Funktion die Lebenswege der Hauptfiguren sowie und ebenso radikal und unwiederbringlich die bäuerlichen und urbanen, die ruralen und industriellen materiellen und mentalen Strukturen der damaligen italienischen Gesellschaft.

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E xpansion, Stau, Ausfahrten: vom Wirtschaftswunder zur politischen, ­sozialen, ökologischen Katastrophe Weder die meisten Projektionen und Argumente, die die Entstehung der italienischen Autobahnen in der faschistischen Epoche unterstützt hatten, noch die Hauptmotive, die das zwischenkriegszeitliche Kino im Umgang mit der Autobahn hervorgebracht hatte, verschwanden nach 1945. Mehrere Kontinuitäten sind innerhalb des Wandels zu beobachten. Einerseits wurde das infrastrukturell und kulturell wichtigste Autobahnprojekt der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die zwischen 1956 und 1964 gebaute A1 von Mailand nach Neapel, wie deren Werbefilm der Autobahngesellschaft eindeutig und mehrfach zum Ausdruck bringt, zum Sinnbild erstens der Auferstehung des Landes und des Wiedergewinns eines nationalen Stolzes, diesmal nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs, und zweitens der Verschränkung von Modernisierung, wirtschaftlichem Aufschwung, Verwirklichung und Befestigung der nationalen Identität und schon damals auch der näheren Verbindung mit Europa. Zu den neuen Verhältnissen, die eine solche Verschränkung erneuerten, zählen 1) der nationale und internationale Massentourismus, 2) das Wirtschaftswunder, 3) die Überwindung geografischer Barrieren als Wendepunkt im Kampf um die bisher stets gescheiterte Vereinigung von Südund Norditalien und 4) die entstehende Realität der Europäischen Union, die die faschistische Allianz zwischen Italien und Deutschland ersetzte. Die Darstellung der Sorglosigkeit und der neuen Glücksversprechen der Nachkriegszeit speist sich im Kino und Fernsehen gern aus Bildern von Autofahrten, die am Wochenende und im Sommer wie in einer Osmose die Städte leeren und die Autobahnen füllen. Als Trägerin solcher Versprechen ist die Autobahn dann aber auch zur Darstellung der entsprechenden Enttäuschungen prädestiniert. So repräsentiert beispielsweise in Carlo Verdones „ironischer“29 Komödie Bianco Rosso e Verdone (1981), in der drei unterschiedliche Autofahrten an einem Wahlsonntag in Italien parallel erzählt werden,30 die italienische Autobahn für den süditalienischen 29 Antonio D’Olivo: Carlo Verdone. Milano 2008, S. 38. 30 Martini nimmt im Film auch einige „implizite“ (Franco Martini: Carlo Verdone. Roma 1997,

S. 27) Andeutungen der Unzufriedenheit der damaligen Wähler gegenüber dem politischen System wahr. Diese Wähleräußerungen sind jedoch eher als harmlos zu bewerten.

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Auswanderer die von ihm im deutschen Exil idealisierte Heimat. Pasquale erlebt eine Wiedergeburt, sobald er an der Mautstelle Richtung Grenze steuert. Auf der Autobahn, die solche Familiengefühle evoziert und den Norden und den Süden Italiens wie auch Europas verbinden sollte, wird ihm aber Halt für Halt alles Mögliche aus und vom Auto gestohlen. Als er an Bord eines nunmehr zum Wrack gewordenen Autos seine Heimatstadt Matera endlich erreicht, verabschiedet er sich nach Stimmabgabe im Wahlraum mit einem fulminanten, seine ganze Odyssee im Dialekt zusammenfassenden Fluch gegen das ganze Land.31 Besonders ironisch ist die Autobahnsequenz des ersten Diebstahls: In seinem Alfasud, hinter dessen schmieriger Windschutzscheibe eine Puppe mit lukanischer Tracht schaukelt, hört Pasquale auf dem Kassettenabspielgerät ein altmodisches, pathetisch klingendes italienisches Liebeslied, das von einem Liebesabschied am Gleis erzählt. Als er aber wenige Kilometer nach der Grenze aussteigt, um seinen Durst am Wasserschlauch bei einer einsamen Baustelle zu stillen, verklingt das Lied hinter seinem Rücken in der Ferne. Pasquale wendet sich zum Auto zurück, das Gerät ist aber schon spurlos verschwunden: Jetzt hört man nur Waldvögelchen. Am Anfang leidend, dann verzweifelt, endlich interrogativ schaut sich Pasquale um, bis er einen schrägen Blick auf ein Autobahnschild wirft, das das Geschehene objektiv zu kommentieren scheint und – von dem fröhlichen musikalischen Leitmotiv des Films potenziert – die ganze Via Crucis Pasquales auf der Autobahn ankündigt: ‚Benvenuti in Italia‘! Hier scheint die Sprache selbst der Autobahn zu signalisieren, dass die Wirklichkeit anders ist als der Traum. Auch das Motiv der Autobahn und im Allgemeinen der Straßen für das Auto als Orte der Enthüllung des Unauthentischen oder des Ungeeigneten im Leben einzelner Menschen und – in einigen Filmen vor allem der 1960er- und 1970er-Jahre – der ganzen Nation wird nach 1945 weiter entwickelt. Eine solche Funktion spielt auf der Strada Aurelia in Dino Risis Il sorpasso (1962) wie auch in Jean Luc Godards in Süditalien gedrehten Le Mépris [Die Verachtung] (1963) das schon bei Visconti enthaltene Motiv des tödlichen Unfalls. Es gibt aber auch weniger dramatische Varianten: Am Anfang von Soldinis auch in Deutschland bekanntem Pane e tulipani [Brot und Tulpen](2000) wird eine Hausfrau mit der Geringschätzung, die ihr ihre Familie und ihre Umwelt entgegenbringt, dadurch konfrontiert, dass sie auf der Rückfahrt innerhalb einer Gruppenreise mit dem Bus von dem ignoranten, groben und sexistischen Mann, den Kindern und den Familienfreunden einfach an einer Autobahnraststätte vergessen wird. Dies gibt Anlass zu einer Rebellion, an deren Ende die Möglichkeit 31 In dieser Schlussszene vermutet Antonio D’Olivo (Carlo Verdone. Milano 2008, S. 41) selbst

ein mögliches, noch impulsiv erlebtes Wiederaufwecken des Bürgersinnes bei Pasquale, was aber mit Pasquales abschließendem Schimpfwort nicht übereinstimmt. D’Olivos Gesamtanalyse der Figur Pasquales ist dennoch in mehrerer Hinsicht tiefgreifend.

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eines neuen Lebens außerhalb des auseinanderfallenden Familienmusters mit einem in der Stadt ohne Auto par excellence (Venedig) kennengelernten ausländischen Außenseiter steht. Das Werk, welches am deutlichsten die Autobahn als Inbegriff der gescheiterten Modernität Italiens darstellt, ist aber Luigi Comencinis 1979 unter dem Titel ­L’ingorgo. Una storia impossibile [Der Stau. Eine unmögliche Geschichte] erschienene, heute auch als Blackout in Autostrada [Blackout auf der Autobahn] und in Deutschland als Der Stau. Ein Film über das unvermeidliche Chaos bekannte Adaption von Cortázars Kurzerzählung Autopista del Sur.32 Cortázar erzählt von einem Stau, der an einem sommerlichen schwülen Sonntagnachmittag unerklärlich entsteht und monatelang dauert: Die Lähmung des hektischen und zielorientierten modernen Lebens veranlasst manche Autofahrer dazu, dass sie sich umschauen und erst dabei ihre Nächsten wieder wahrnehmen. Der Notzustand zwingt bald einander physisch nahe Autofahrer dazu, Gruppen zu bilden, innerhalb deren Menschennähe und Menschensolidarität wiederentdeckt, gemeinsame Regeln, Arbeitsteilung, hierarchische Institutionen gegeben werden, um dadurch und durch die kommerziellen, diplomatischen, im Notfall kriegerischen Beziehungen mit anderen ähnlich entstandenen Gruppen die Erfüllung der elementarsten Bedürfnisse der Menschen und das friedliche Zusammenleben zu garantieren. Sobald die Autos aber wieder zügig fahren dürfen, d. h. die moderne Gesellschaft die Menschen wieder in ihren Rhythmus zwingt, lösen sich solche Gemeinschaften und deren Humanität wieder in die moderne Zielorientierung, Indifferenz und Anonymität auf. Comencini verlegt die Handlung, die er auf 36 Stunden konzentriert, von einer französischen Autobahn in der Nähe von Paris auf einen im Studio nachgebildeten Autobahnzubringer zwischen dem Flughafen und der Stadt Rom. Ein he­runtergekommenes Haus, eine die Umwelt verpestende moderne Industrieanlage, ein Autofriedhof und ein unvollendetes Viadukt umgeben die Strecke, auf der die Hauptfiguren zusammenkommen. Die anziehende und selbstständige junge Frau, die in Cortázars Erzählung mit dem Ingenieur zarte Intimität bis zur Schwangerschaft erlebt, wird bei Comencini von dekadenten Emporkömmlingen vergewaltigt, ohne dass bewaffnete Schaulustige Zivilcourage zeigen. Der Ingenieur, der bei Cortázar von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr träumt, dem finalen Verschwinden der eigenen Gruppe zu trotzen versucht und deren Werte gewissermaßen in 32 Über den Stau als den „am häufigsten wiederkehrenden dramaturgischen Topos“ des italienischen

automobilen Kinos vgl. Canova: Rotaie, S. 237. L’ingorgo, dessen Stil vom Autor als „allegorischer Realismus“ zutreffend beschrieben wurde, ließ Kinokritiker – so beispielsweise Giorgio Gosetti: Luigi Comencini. Firenze 1988, S. 57–63 – und Publikum kalt, was den Regisseur tief enttäuschte (Luigi Comencini: Infanzia, vocazione ed esperienze di un regista. Milano 1999, S. 141). Eine der wenigen positiven Analysen des Films ist die sympathetische und enthusiastische von Jean A. Gili: Comencini. Paris 1981, S. 175–177.

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Erinnerung trägt, wird bei Comencini zum Prototyp jener in den 1970er-Jahren aufgekommenen zynischen, macht- und sexbesessenen, Politik, Finanz und Medien verbindenden Yuppies, von denen ein Exemplar zwanzig Jahre später mehrmals zum italienischen Premierminister gewählt wurde. Doch hat Comencini hier nicht die Zukunft vorhergesagt, sondern die italienische Gesellschaft blieb in den 1970er-Jahren stecken und hat seitdem dieselben Machtstrukturen und -verhältnisse unerbittlich reproduziert.33 Insgesamt führt der Notzustand in den Hauptfiguren von Comencinis Film nicht zur Rückbesinnung auf die Grundlagen der Humanität und Zivilisation, sondern zu Diebstahl, Vergewaltigung, Prostitution, Aggressivität und Umweltschändung. Aus Cortázars Utopie macht er also eine hoffnungs- und pietätlose Dystopie der Verrohung und des barbarischen Verfalls der italienischen Gesellschaft am Ende der 70er-Jahre wie auch der ökologisch unzumutbaren Folgen der chaotischen italienischen Industrialisierung. Egoismus, Individualismus, Gleichgültigkeit, Gewalt und die bestechende und enthumanisierende Macht des Geldes walten in dem Stau wie in der zukunftslosen und korrumpierten Gesellschaft, für die er steht.

6 Raststätte Am Ende dieser Erkundungsfahrt in das italienische Kino lässt sich feststellen, dass die Geschichte der italienischen Autobahn die der italienischen Gesellschaft durchzieht und dass dieses Verhältnis von Anfang an durch das italienische Kino erfasst und weiter reflektiert wurde. Prägend war dabei ein traditionsreicher und erneuerungsfähiger intellektueller und künstlerischer Drang nach dem Realen, welcher sich in den unterschiedlichen Tönen und Stilen der Komödie wie auch in der Allegorie und dem Drama zu bewähren weiß. In diesem Zusammenhang erwies sich die Autobahn als Reflexionsmedium von sozial relevanten Existenzversuchen sowie im Allgemeinen als mächtiges und ambivalentes Symbol des widersprüchlichen und ungelösten Verhältnisses der italienischen Gesellschaft und Kultur zur eigenen Identität, zur Moderne und zur Freiheit als Autonomie, welche die Moderne so wesentlich kennzeichnet: eine Modernität kurzum, die inzwischen – wie in einigen kinematografischen Darstellungen der gegenwärtigen 33 Ähnliche Diagnosen und Assoziationen suggeriert dem heutigen Zuschauer Marco Bellocchios

Sbatti il mostro in prima pagina (1973), wo eine Verschränkung von Neofaschismus, konservativem Bürgertum, Finanz- und Medienmacht wie auch die antidemokratische Intensivierung der ideologischen Konflikte durch eine korrupte und skrupellose politisch-mediale Instrumentalisierung von bestimmten Verbrechermeldungen (Morde und Sexualverbrechen) thematisiert wird. Die entsprechende Verunreinigung des sozialen, politischen Lebens und des individuellen Gewissens wird auch in diesem Film durch die abschließenden Bilder einer vorrückenden, unkontrollierten Verschmutzung der Kanäle von Mailand in Szene gesetzt.

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italienischen Gesellschaft durch hier nicht berücksichtigte Filmemacher wie Gianni Amelio und Carlo Mazzacurati – mit ihren Verunstaltungen und Verletzungen aus dem Alltag nicht mehr zu leugnen ist und die es gleichwohl gilt, im Sinne einer allen Menschen und der Umwelt gegenüber gerechteren Form des Zusammenlebens zu verbessern.

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Off the Road: Abseitige Wege in der US-amerikanischen Kultur

On a dark desert highway, cool wind in my hair Warm smell of colitas, rising up through the air (Eagles, „Hotel California“)

1 Einleitung: „Off the Road“ – „On the Road“ Die Autobahn bzw. der Highway in den USA ist im Vergleich zu anderen Ländern außergewöhnlich und auf vielfache Art und Weise aufgeladen – mythologisch, ideologisch, symbolisch, metaphorisch, allegorisch. Geht es um den amerikanischen Highway, so meine grundlegende Annahme, geht es nie „nur“ um den Highway als materialisierte Infrastruktur, sondern immer auch um die personale, kulturelle und nationale Identität der USA und des/der Reisenden; dies trifft nicht nur auf die Innenperspektive von Kulturprodukten aus den USA, sondern weitgehend auch auf die Außenperspektive von solchen über die USA zu. Auf dem amerikanischen Highway findet die (Wieder-) Entdeckung der Nation, des Landes und seiner Geschichte statt, und gleichzeitig eine Reise ins Ich.1 Das kann ins Glück, aber auch ins Verderben führen und manchmal einfach nur zurück an den Anfang oder an die Küste(n). Diese identitäre Verhandlung geschieht immer in einem komplexen Gesamtzusammenhang, synchron und diachron, über alle Genres, Textformen und Medienarten hinweg; man findet sie in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten, in „Populär“- und „Höhenkamm“-Literatur. Legt man – nur für einen Moment – ein allgemeineres Verständnis von Highway als befestigtem, öffentlichem Weg zugrunde (wortwörtlich „erhöht“ und damit trocken), welches der ursprünglichen Wortbedeutung am nächsten kommt, und demzufolge der moderne Highway die industrielle und konsolidierte Fortführung von verschiedenen Arten von Straßen, Wegen und Pfaden ist2 (inklusive alter Trekkingpfade, deren Route moderne Highways oft auffallend deckungsnah nachzeichnen), so zeigt sich, dass der „Highway“ bzw. die Straße oder der Pfad in zahlreichen ideen- und kulturgeschichtlichen Konzepten, die für das Selbstbild und Selbstverständnis der USA von der Gegenwart 1 2

Die Perspektive der indigenen Völker spielt in der Wahrnehmung und Verhandlung nationaler und kultureller Identität der USA lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. In der Tat wird die Bezeichnung Highway in den USA für alle möglichen, teils sehr unterschiedlichen Arten von Straßen verwendet, von einfachen Landstraßen bis hin zu den großen, transkontinentalen Freeways und Interstates.

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bis weit in die Zeit vor dem Unabhängigkeitskrieg grundlegend sind, eine mehr oder weniger auffällige Rolle spielt: Für die separatistischen Religionsgemeinschaften (oft etwas vage unter dem ursprünglich als Beleidigung gedachten Sammelbegriff „Puritaner“ gefasst), die die Kirche von England und England selbst zu Beginn des 17. Jahrhunderts verließen,3 verbindet und trennt der metaphorische/allegorische Pfad Besiedelung und Natur, Zivilisation und Wildnis, Glaube und Gottlosigkeit, Erlösung und Verdammnis, Gottes Reich und das des Satans. Man kann vom rechten Weg abkommen, oder ihm, wie John Bunyans Christian, trotz aller Verlockung bis in die himmlische Stadt Zion folgen.4 Erst viel später folgt als Gegenentwurf die bewusste Abkehr vom „konformen“ Weg durch die Transzendentalisten Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson und die Dichter Walt Whitman und Emily Dickinson.5 In der säkularisierten Variante führt der „Highway“ an die Grenze, die „frontier“, und weist darüber hinaus. Er verbindet Osten und Westen – wobei die Reise nach Westen niemals eine rein geografische, sondern immer auch eine metaphorische, allegorische ist und durchaus vertikal zwischen Norden und Süden stattfinden kann – erst über Pionierpfade und Trecks, dann über die transkontinentale Eisenbahn, und schließlich über das Interstate Highway System.6 Wenig überraschend wird die „frontier“, als es im Westen nicht mehr weitergeht,7 von John F. Kennedy und wenig später von Star Trek kurzerhand in den Weltraum verlegt.8 3

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Wie z. B. William Bradford in History Of Plymoth Plantation oder Michael Wigglesworth in seinem Gedicht „God’s Controversy with New-England“. Das Vokabular ist sehr ähnlich. Bradford schreibt über eine „hideous & desolate wildernes“, bei Wigglesworth ist es eine „waste and howling wilderness“. John Bunyans The Pilgrim‘s Progress war in den Kolonien außerordentlich erfolgreich, zumal die Mission eines zu gründenden Zion oder „New Jerusalem“ auf dem „neuen“ Kontinent ohnehin Teil der religiösen Vorstellungen fast aller sogenannten Separatisten war (und sich im Übrigen auch bei anderen, später gegründeten Denominationen wiederfindet, wie z. B. den Mormonen). Vor allem in Thoreau’s Walden und Emerson’s Essay Self-Reliance, oder Whitmans Gedicht Song of Myself und Dickinsons Much Madness is divinest Sense –. Dieses wurde Anfang der 1950er unter Eisenhower umgesetzt und geht zurück auf mehrere föderale Straßenbauprojekte Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Ziel war primär die militärische Mobilität. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Gutfreund betont, „roads in the United ­states were built and maintained almost exclusively by local government“. Owen D. Gutfreund: Highways and Reshaping of the American Landscape. New York 2005, S. 8. Zwar ist es üblicherweise die Pazifikküste, die dem sogenannten „westering“ (so John Steinbeck in seiner Novelle The Red Pony von 1933) in den meisten Texten eine Grenze setzt, jedoch haben die USA historisch durchaus weiter nach Westen expandiert, wie sich an Hawaii und diversen Militärstützpunkten noch weiter „westlich“ (z. B. Japan) nachdrücklich zeigt. In der Rede zur Annahme seiner Wahl zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten auf der Democratic National Convention am 15. Juli 1960 konstatiert Kennedy, dass die „alte“ „frontier“ der Pioniere durch eine „new frontier“ der 1960er ersetzt worden sei, mit zahlreichen Herausforderungen, unter anderem der Wissenschaft und des Weltraums. 1966 beginnt erstmals die Fernsehserie Star Trek, mit der berühmten Eröffnung „Space–the final frontier“.

Off the Road

Auch verbindet der „Highway“ das Urbane und das Ländliche, die Großstadt und die Kleinstadt, die Küsten und das Innere; Gegensatzpaare, die in den USA traditionell eine wichtige Rolle spielen, sich aber bei genauerem Hinsehen als nicht gänzlich trennscharf, sondern eher fließend und dialektisch erweisen. Je nach Verortung und Semantisierung gehen mit ihnen Utopie und Dystopie/Albtraum einher: zum einen konkret und real in den utopischen Gemeinschaften im 19. Jahrhundert oder der sie beerbenden, wiederkehrenden „Back to the land“-Bewegung (Anfang des 20. Jahrhunderts, in den 1970ern und gegenwärtig),9 zum anderen imaginär, wie zum Beispiel in Cormac McCarthys dystopisch-apokalyptischem Roman The Road oder in zahlreichen Horrorfilmen, in denen man, wenn man vom Hauptweg abkommt und eine Nebenstraße nimmt, schnell und schmerzhaft stirbt.10 Ganz allgemein verhandeln der Weg, die Straße und schließlich der Highway Bewegung und Stillstand, Prozess und Ankommen, Reise und Rückkehr bzw. Sesshaftigkeit. Dieser Hintergrund strukturiert unzählige US-amerikanische kulturelle Texte: Eine Vielzahl von Romanen findet „on“ und „off“ „the road“ statt, so zum Beispiel Jack Kerouacs On the Road (der wohl berühmteste Selbstfindungsreisebericht, der im Übrigen auch über die USA hinaus nach Süden führt), Paul Austers Moon Palace (hier steht der Protagonist am Ende fast ohne allen Besitz am Pazifik nach einer Fahrt durch die USA), Mark Childress‘ Crazy in Alabama (hier reist eine Frau mit dem Kopf ihres Ehemanns quer durch den Südwesten der USA), Stewart O’Nans The Speed Queen (eine Gruppe junger Mörder ist ebenfalls mit dem Auto „on the road“) oder Truman Capotes berühmte „non-fiction novel“ In Cold Blood (in dem die „Protagonisten“ die meiste Zeit „on the road“ verbringen). Das Muster unterliegt einem ganzen Subgenre amerikanischer Komödien, in denen ein „jaded urbanite“, ein abgebrühter Großstädter, mehr oder weniger freiwillig aus der Stadt aufs Land fährt und dort das „wahre“ Glück bzw. den „wahren“ Lebensweg findet; es erklärt den typischen Protagonisten einer Vielzahl amerikanischer Kulturprodukte, den populären Außenseiter und konformistischen Rebell zum Prototyp des „authentischen“, „wahren“ Amerikaners und Erbe von Emerson und Whitman, der am Ende erst mit dem Pferd und später mit vielen Pferden unter der Haube auf selten beschrittenen Wegen gen Westen in eine unbekannte Zukunft reitet, also auf Robert Frosts augenscheinlicher „road less traveled“; und es erklärt zumindest zum Teil die Widersprüchlichkeit der sogenannten Trailerparks, die faktischen „Stillstand“ mit potenzieller Mobilität vereinen. Der Highway spielt jedoch, so meine These, nicht irgendeine, sondern zumeist eine ganz bestimmte Rolle. Es gibt eine strukturelle Konstante, die den Highway 9 Siehe hierzu Dona Browns exzellentes Buch Back to the Land. 10 Prototypische Beispiele sind The Texas Chainsaw Massacre, The Hills Have Eyes, Wrong Turn

oder jüngst The Cabin in the Woods.

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Rüdiger Heinze

als Trope und hinsichtlich seiner vielfältigen Bedeutungen und Funktionen in der US-amerikanischen Kultur und Geschichte kennzeichnet; eine Konstante, die sich schon in meinem Titel andeutet: der Gegensatz von Nonkonformität und Konformität, von Mainstream und Rand, Majorität und Minorität, Hauptweg und Nebenstraße, „on“ bzw. „off the road“. Dieser Gegensatz ist insofern strukturell, als das Gegensatzpaar relational und an sich semantisch „leer“ ist. Nonkonformität gibt es notwendigerweise niemals ohne Konformität; beide Teile des Paares „füllen“ sich erst kontextabhängig mit Bedeutung, sodass nichts per se und a priori schon nonkonform oder konform sein kann. Damit ist das Gegensatzpaar immer nur vorläufig, eine fluktuierende Dialektik ohne schlussendliche Aufhebung. Der Highway an sich ist also weder konform noch nonkonform, er kann es logisch nicht sein. Er ist vielmehr zugleich spezifischer Ort und ambivalente Trope, über welche(n) diese Dialektik verhandelt wird, sich mit spezifischer Bedeutung „füllt“ und konkretisiert, eine Art ambivalenter Angelpunkt identitärer Verhandlung. Kein Wunder also, dass er sich so sehr für vielfältige Arten der Überhöhung und Aufladung eignet. In dieser funktionellen Hinsicht ist der US-amerikanische Highway entsprechend eher eine Heterotopie im Sinne Michel Foucaults oder ein Ort der Liminalität im Sinne Victor Turners als ein typischer Nicht-Ort im Sinne Marc Augés, denn er präfiguriert, strukturiert Geschichte und Identität bzw. partizipiert an Geschichten und Identitäten. Dabei generiert und perpetuiert er Ambivalenz, statt Komplexität zu reduzieren. Drei besonders wirkmächtigen bzw. illustrativen diskursiven Formationen soll nun mit Blick auf die Dialektik von Konformität/ Nonkonformität nachgegangen werden.

2 Der „Highway“ vor dem Highway Die ideengeschichtliche Bedeutung und polyvalente Aufladung des modernen Highways der Gegenwart bzw. des 20. Jahrhunderts lässt sich ohne einen zumindest kursorischen Blick in die Vergangenheit nicht angemessen verstehen. Dies soll nun anhand von drei Beispielen geschehen.11 Offensichtlich muss hierfür jedoch vorübergehend das allgemeinere Verständnis von Highway, wie ich es zu Beginn umrissen habe, zugrunde gelegt werden.12

11 Offensichtlich gibt es noch mehr einflussreiche diskursive Formationen; die gewählten Beispiele

halte ich aber für besonders aussagekräftig und wirkmächtig.

12 Einen guten Überblick über die Geschichte des „American Highway“ bietet William Kaszynski:

The American Highway. The History and Culture of Roads in the United States. Jefferson 2000 – auch wenn er entgegen dem Titel keine Kulturgeschichte, sondern eher eine Infrastruktur- und Gesetzgebungsgeschichte liefert.

Off the Road

Der Weg in die Hölle I: Nathaniel Hawthornes Young Goodman Brown Viele von Hawthornes Geschichten und Romanen beschäftigen sich mit den Konzepten von Sünde und Erlösung in Verbindung mit dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Seine allegorische Kurzgeschichte Young Goodman Brown tut dies (wie auch sein Roman The Scarlet Letter) im Umfeld des amerikanischen Puritanismus des 17. Jahrhunderts. Die Hauptfigur, Young Goodman Brown, verlässt gegen Abend sein Dorf Salem13 und seine Frau Faith, um eine Verabredung mit – wie durch zahlreiche Anspielungen schnell deutlich wird – dem Teufel einzuhalten. Sie treffen sich auf einem dunklen Pfad, der sie in den Wald und zu einem Initiationsritus, einer satanischen Weihe, führen soll: „He had taken a dreary road, darkened by all the gloomiest trees of the forest, which barely stood aside to let the narrow path creep through, and closed immediately behind“.14 Im Laufe der Weihe soll Brown Teil der dem Teufel anheimgefallenen Gemeinde werden. Bei Ankunft im Wald stellt er schnell fest, dass der größte Teil des Dorfs, vor allem die dem tagtäglichen Anschein nach Gottesfürchtigsten, ebenso wie seine eigenen Vorfahren und seine Frau Faith,15 bereits Teil der satanischen Gefolgschaft sind. Zwar verweigert er die Weihe und flieht, führt aber fortan ein Leben geprägt von Misstrauen, Ernüchterung und Resignation, von Einsamkeit inmitten seiner Familie und Dorfgemeinschaft. Der abseitige Weg in den Wald ist metaphorisch-allegorisch; nicht umsonst ist er dunkel und gewunden. Er führt in die wörtliche und metaphorische Wildnis und Finsternis, welche an Bradford oder Wigglesworth erinnert. Diese Wildnis ist das Reich Satans und der menschlichen Wildnis, d. h. solcher Menschen, die ihren triebhaften Impulsen folgen, statt sich der (Selbst-)Kontrolle durch den Glauben bzw. seine Institutionen zu unterwerfen. Der Pfad selbst ist allegorisch für den Lebensweg, auf welchem man stets die Entscheidung treffen muss, ob man dem rechten oder dem abseitigen folgt. Ironischerweise, und typisch für Hawthorne, ist das Dorf, inklusive der Vertreter eben jenes Glaubens, größtenteils ebenfalls dem Teufel verfallen, sodass der Pfad aus dem Wald zurück in die scheinbare Sicherheit und Zivilisation nur in eine weitere „Wildnis“ führt, der scheinbare „Hauptweg“ der Gemeinschaft also ebenfalls ein im religiösen Sinne „abseitiger“ ist. Der „rechte“ (Haupt-)Weg, dem Young Good­ man Brown zu folgen versucht, ist entsprechend ein einsamer. Seine „Abseitigkeit“ verläuft quer zum korrelierten Gegensatz von Glaubenskonformität/Gemeinschaft vs. Apostasie/Individuum und unterminiert diesen: Der Hauptweg ist nonkonform und der abseitige Weg konform. Interessanterweise wird selbst diese „Sicherheit“ von der Geschichte selbst untergraben, denn zum Ende eröffnet der Erzähler die Möglichkeit, dass Brown im Wald geschlafen und geträumt haben könnte. 13 Eine mehr als deutliche Anspielung auf die Hexenverfolgung von Salem. 14 Nathaniel Hawthorne: Young Goodman Brown. In: ders.: The Celestial Railroad and Other

Stories. London 2006, S. 112.

15 Hier werden der allegorische Charakter und die Ironie der Geschichte deutlich: Der Name

seiner Frau bedeutet Glaube bzw. Treue (im religiösen und ehelichen Sinne).

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Der Weg in die Eigenständigkeit I: Ralph Waldo Emersons „Self-Reliance“ Emersons Essay ist nur ein Text von vielen (und vielen Autoren), die sich mehr oder weniger explizit mit dem Konzept der „self-reliance“, der – spirituellen, aber auch epistemologischen, bei Thoreau materiellen – Eigenständigkeit, beschäftigen; für Thoreaus gesamtes Walden ist es zentral. Auch kann hier nur ansatzweise auf die hochkomplexen philosophischen, religiösen und spirituellen Zusammenhänge des amerikanischen Transzendentalismus in seinem historischen Umfeld eingegangen werden. Meine kurze Diskussion konzentriert sich demzufolge auf die Aspekte und Grundideen, die sich in verallgemeinerter Form als besonders wirkmächtig und nachhaltig gezeigt haben, zu erkennen an ihrer dauerhaften Präsenz in einer Vielzahl unterschiedlicher Diskurse. Im Grunde genommen ist Emersons Essay ein Aufruf, sich seines eigenen Verstandes/Glaubens zu bedienen und sich selbst und seinem intuitiven Wissen/Verständnis von Welt zu vertrauen: „Insist on yourself; never imitate“, denn „every mind is a new classification“. Dieses Selbst-Vertrauen wird durch den externen Zwang zur Konformität mit der Mehrheitsgesellschaft von Geburt an unterminiert und überlagert und muss vom Individuum zurückgewonnen werden: „Society everywhere is in conspiracy against the manhood of every one of its members. Society is a joint-stock company in which the member agrees for the better securing of his bread to each shareholder, to surrender the liberty and culture of the eater“. Und: „It is only as a man puts off from himself all external support, and stands alone, that I see him to be strong and to prevail“. Es ist dieser Aufruf, dem Thoreau mit seinem Experiment des autarken „Life in the Woods“ – so der Untertitel von Walden – folgt.16 Der Grundgedanke findet sich in Variationen in Gedichten von Whitman, z. B. in To the States, wo es heißt „Resist / much, obey little“, oder in Song of Myself: „Not I, not any one else can travel that road for you, / You must travel it for yourself“; er findet sich ebenso bei Emily Dickinson: Much Madness is divinest Sense – To a discerning Eye – Much Sense – the starkest Madness – ‘Tis the Majority In this, as all, prevail – Assent – and you are sane – Demur – you’re straightway dangerous – And handled with a Chain –

Aber er führt auch zum genialen Mathematiker Ted Kaczynski, dem berüchtigten sogenannten „Unabomber“, der, nachdem er sich in eine einsame Hütte in Montana 16 Thoreau hatte allerdings durchaus Kontakt und Austausch mit dem relativ nah gelegenen Dorf

und seinen Anwohnern.

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zurückgezogen hatte, zahlreiche Briefbomben verschickte und damit mehrere Menschen tötete. In seinem Manifest propagiert er das autarke Leben in Unabhängigkeit von moderner Technik und Industrie – ganz gemäß Thoreau und Emerson. Das Problem ist offensichtlich: Schon Emerson kann dem Gegensatz von Konformität und Nonkonformität keinen dauerhaften, universalen Inhalt geben. Er ist beinahe beliebig semantisierbar und appropriierbar. Es ist besonders ironisch, das ausgerechnet Robert Frosts – zugegeben subtile – lyrische Reflexion genau dieser Tatsache in The Road Not Taken oft als simpler Aufruf zur Nonkonformität verstanden wird, zum Begehen des weniger begangenen, d. h. abseitigen Weges. Auf den ersten Blick scheint das Gedicht, insbesondere die letzte Strophe, in der Tat genau dies zu propagieren: The Road Not Taken Two roads diverged in a yellow wood, And sorry I could not travel both And be one traveler, long I stood And looked down one as far as I could To where it bent in the undergrowth; Then took the other, as just as fair, And having perhaps the better claim, Because it was grassy and wanted wear; Though as for that the passing there Had worn them really about the same, And both that morning equally lay In leaves no step had trodden black. Oh, I kept the first for another day! Yet knowing how way leads on to way, I doubted if I should ever come back. I shall be telling this with a sigh Somewhere ages and ages hence: Two roads diverged in a wood, and I – I took the one less traveled by, And that has made all the difference.

Bei genauerem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass die Wege einander gleichen und dass das Gedicht eher ein ironischer und psychologischer Spottgesang ist auf die Neigung des Menschen, sich im Rückblick der eigenen Entscheidungen als Attest

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der Individualität zu vergewissern und zu spekulieren, wohin eine andere Entscheidung, d. h. ein anderer (Lebens-)Weg geführt hätte.17

Der Weg in den „Westen“ I: Die Mormonen Die Doppelbödigkeit und Ambivalenz des Gegensatzpaares zeigt sich wenig überraschend auch bei diskursiven Formationen, in denen der Weg in den „Westen“ an die „frontier“ und über diese hinaus eine zentrale Rolle spielt. Überraschender dürfte für die meisten Leser sein, dass es ausgerechnet die Glaubensgemeinschaft der Mormonen bzw. – in der offiziellen Nomenklatur – die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist, spezifisch ihre Entstehungsgeschichte im 19. Jahrhundert, anhand derer sich die Dialektik und Widersprüchlichkeit von Konformität und Nonkonformität im Zusammenhang mit dem „Weg in den Westen“ besonders anschaulich zeigen lässt. Auf der einen Seite sind die Mormonen von Anfang an – und in gewisser Weise bis heute – sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung Außenseiter. Ihr Gründer Joseph Smith erklärt sich Anfang der 1830er zum Propheten, der von Gott, Jesus und Engeln besucht und erleuchtet wird. Er behauptet, mithilfe von Gott zur Verfügung gestellter Werkzeuge das Buch Mormon von goldenen Platten aus der Vorzeit ins Englische übersetzt zu haben, und stellt dieses, ebenso wie spätere „Erleuchtungen“ gleichwertig neben die Bibel. Die Glaubensgemeinschaft hat schnell viele Anhänger, wird aber aufgrund ihrer selbst für die Zeit des „Second Great Awakening“ außergewöhnlichen Ansichten und Praktiken (u. a. der Glaube an die fortwährende göttliche „Erleuchtung“ des Kirchenführers, die früh eingeführte Polygamie, das kommunitaristische Wirtschaften, aber auch das fundamentalistische Verhalten gegenüber Nichtmormonen) überall verfolgt und vertrieben; Joseph Smith selbst wird von einem Mob 1844 umgebracht. Die Gemeinschaft begibt sich schließlich unter großen Opfern auf einen Treck nach Westen in die Wüste von Utah, wo sie überraschend erfolgreich überlebt. Dieser Weg nach Westen in die Wüste auf der Flucht vor der Verfolgung, aber auch in das eigene „Land“ bzw. den eigenen Staat (1896 wird Utah schließlich auch offiziell ein Bundesstaat), ist ein wichtiger Teil des Gründungsmythos und Selbstverständnisses der Kirche. Auf der anderen Seite könnten die Mormonen amerikanischer nicht sein. Sie sind, wie Harold Bloom feststellt, die erste „echte“ US-amerikanische Kirche, denn Methodisten, Baptisten, Episkopale, Lutheraner etc. haben ihren Ursprung alle außerhalb der USA. Sie sind trotz ihrer Verfolgung und Außenwahrnehmung mit Blick auf Entstehung und religiösen Unterbau ein eher typisches Produkt des Second Great 17 In der Tat legen, wie Frosts Biografen betonen, Aufzeichnungen und Briefe nahe, dass genau

dieser subtile Spott Frosts Absicht war.

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Awakening Anfang des 19. Jahrhunderts (u. a. hinsichtlich ihres Millennialismus). Am wichtigsten aber ist, dass sie sich mit ihrem Treck nach Westen als „ur-amerikanische“ Pioniere und als Teil des sogenannten „Manifest Destiny“ (also der göttlichen Mission, den Kontinent zu besiedeln) qualifizieren; mit ihrer konsequent verfolgten „self-reliance“ partizipieren sie darüber hinaus an einer weiteren US-amerikanischen „großen Erzählung“. Zusammengenommen kann man sagen, dass die Mormonen als Glaubensgemeinschaft mit Blick auf ihre Entstehungsgeschichte und den für ihr Selbstverständnis und ihre Selbstdarstellung so entscheidenden „Weg in den Westen“ sowohl konform als auch nonkonform sind. Tatsächlich sind sie die fast perfekte Manifestation der eingangs erwähnten Trope des/der konformistischen Außenseiter(s) und populären Rebellen, die man bei aller Vorsicht vor der Verallgemeinerung eine beinahe prototypische US-amerikanische nennen könnte und die immer noch eine Unzahl von Kulturprodukten durchzieht, wie zum Beispiel den Western, den (Super-)Helden-Comic oder den Actionfilm. Wie zu erwarten überschneiden sich diese drei „Wege“: Der Weg in die Eigenständigkeit ist in der US-amerikanischen Kulturgeschichte oftmals der Weg in den „Westen“; dieser wiederum führt regelmäßig in eine mehr oder weniger säkularisierte „Hölle“ oder in das persönliche Glück. Man muss das jeweilige Kulturprodukt bzw. die kulturelle diskursive Formation entsprechend immer sowohl spezifisch als auch kontextuell betrachten. Auch soll hier noch mal betont werden, dass das Gegensatzpaar konform/nonkonform nicht „entlang“ der „Wege“ verläuft. Das heißt, dass der Weg in die Eigenständigkeit nicht notwendigerweise nonkonform ist, ebenso wenig wie der Weg in den Westen. Zum einen wird, wie oben argumentiert, das Gegensatzpaar jeweils spezifisch semantisiert und aufgeladen; zum anderen ist seine Dialektik dynamisch und ohne schlussendliche Aufhebung. Insofern ist es nicht verwunderlich, sondern im Gegenteil naheliegend, dass z. B. die „große Erzählung“ der Mormonen gleichzeitig konform und nonkonform ist und damit, wie die meisten Erzählungen dieser Art, ambivalent bleibt.

3 Der Highway der Moderne All dies – die diskursiven Formationen, die Dialektik von Konformität/Nonkonformität, die Ambivalenz – charakterisiert auch die polyvalenten Aufladungen und Metaphoriken bzw. Allegorien des modernen Highways des 20. und 21. Jahrhunderts. Besonders auffällig ist dies naheliegenderweise in Texten (gemeint sind hier auch Filme, Comics und andere Medien, fiktional und nichtfiktional), in denen ein Roadtrip stattfindet. Dass ein solcher stattfinden kann bzw. dass es ihn als Konzept überhaupt gibt, ist dann auch ein erster wesentlicher Unterschied zu Texten aus früheren Jahrhunderten. Spätestens seit Kerouacs berühmtem und prägendem Buch On

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the Road kann es ein Selbstzweck sein, auf dem Highway unterwegs zu sein ohne ein bestimmtes Ziel oder eine bestimmte Richtung.18 Dies ist zum einen durch radikale Änderungen in der Infrastruktur und Mobilitätstechnologie möglich geworden, zum anderen durch fundamentale gesellschaftliche Veränderungen wie eine wachsende und relativ wohlhabende Mittelschicht, welche wiederum die extensive Nutz- und Verfügbarkeit dieser Infrastruktur und Mobilitätstechnologie ermöglicht und andere weitreichende Veränderungen in allen Bereichen nach sich gezogen hat. Die oben genannten beispielhaften diskursiven Formationen treten hierdurch noch stärker hervor und sie überschneiden sich noch stärker.

Der Highway in die Eigenständigkeit II Zwar spielt „being on the road“, das Auf-dem Highway- bzw. -der-Straße-Unterwegssein, in zahlreichen Texten der sogenannten Beat Generation eine wichtige Rolle, zum Beispiel in Allen Ginsbergs berühmtem Gedicht Howl („who barreled down the highways of the past“; „in my dreams you walk dripping from a sea-journey on the highway across America in tears to the door of my cottage in the Western night“), aber es ist unzweifelhaft Jack Kerouacs autobiografischer Reisebericht On the Road, der den Topos des „roadtrip“ nachhaltig als eigenständigen etabliert und der in seiner Wirkmächtigkeit kaum zu überschätzen sein dürfte. Der „Roman“ beschreibt die Reisen des jungen Protagonisten und Erzählers Sal Paradise hin und her durch die USA, von Osten nach Westen und zurück, aber auch von Norden nach Süden und zurück, über die Grenze nach Mexiko, mit wechselnden Begleitern und Kontakten aller Art, wechselnden Reisemodi (überwiegend mit dem Auto, aber auch zu Fuß; eigenständig und uneigenständig), und diversen Aufenthalten und (Un-)Tätigkeiten.19 Der Reisebericht ist, wie in der Sekundärliteratur vielfach erörtert, sowohl ein Reisebericht als auch ein Selbstfindungsbericht, in mehrfacher Hinsicht: Er ist ein Reisebericht einer realer Reise durch die USA und einer metaphorischen Reise „in“ die „Identität“ bzw. „Identitäten“ der USA; darüber hinaus ist er ein Reisebericht einer Reise ins Ich, in die – zu findende – Identität des Protagonisten. Insofern funktioniert er als Selbstfindungsbericht sowohl auf personaler wie auch auf kollektiver 18 Roadtrips gibt es in der US-amerikanischen Literatur schon früher, z. B. in Sinclair Lewis‘

Mainstreet. Sie sind aber nur Details einer Handlung mit einem anderen Fokus und daher längst nicht so extensiv, ungeplant und „subversiv“ konnotiert (z. B. hinsichtlich Alkohol, Drogen, sexueller Praktiken) wie in On the Road. 19 Das ist auch insofern passend, als es keine „frontier“ mehr gibt mit Ausnahme der Küsten, sodass Sal wie ein Flipperball hin und her springt. Bezeichnenderweise endet seine Reise im Osten, nicht im Westen, also dort, wo die Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents durch englische Kolonialisten begann.

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Ebene. Mit Blick auf die Entwicklung und das Ende jedoch „funktioniert“ er als Selbstfindungsbericht gerade eben nicht bzw. ist nicht erfolgreich, denn es wird nichts abschließend „gefunden“. Dies kennzeichnet ihn als nonkonformen Gegenentwurf zur US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Protagonist ist physisch und psychisch dauerhaft „on the road“, nicht sesshaft, ohne langfristiges Ziel und Lebensentwurf, ohne Produktivität in einem Beruf. Damit ist er, metaphorisch gesprochen, „off the road“ des gesellschaftlichen Mainstreams und Wertekanons, also abseits des Hauptweges. Dieser Gegenentwurf ist jedoch zwar „gegen“, aber kein konkreter Entwurf, der dann selbst wieder reifiziert – und damit möglicherweise konform – werden könnte. Ironischerweise ist Sal zudem fast immer in irgendeiner Art und Weise von anderen abhängig. Mit der echten „Eigenständigkeit“, der „self-reliance“, ist es also nicht sehr weit her. Auch fällt Sal – und nicht nur er – immer wieder in „konforme“ Lebensmuster zurück, wie eine heterosexuelle, auf Dauer angelegte Zweierbeziehung, auch wenn sie scheitert. Und schließlich trägt der Entwurf bzw. das Leben „on the road“ nicht nur utopische, sondern bisweilen auch dystopische Züge, so zum Beispiel, wenn Sal völlig mittel- und ausweglos irgendwo im Nirgendwo gestrandet ist und nur durch Zufall mithilfe anderer wieder zurück auf die Straße findet. Diese doppelte Ambivalenz – Konformität/Nonkonformität, Utopie/Dystopie – zeigt sich, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick und teilweise wider den ideologischen Hauptimpuls, in vielen nachfolgenden Texten, für die On the Road oder zumindest das Konzept des Roadtrips stilbildend war. Bis heute ist „on the road“ zu sein üblicherweise konnotiert als „off the mainstream road“ zu sein, auf einer Reise ins „wahre“ Ich und zur Selbstfindung, aber auch ins Ich von Amerika, zum „wahren“ Gesicht Amerikas, im dem sich das eigene spiegelt und umgekehrt. Diese Spiegelung kann romantisch, utopisch, zumindest ein wenig hoffnungsvoll oder gar zelebratorisch sein, wie in vielen (oft romantischen) Komödien (siehe Westen II); sie kann aber auch zynisch, menschenverachtend und tödlich sein, wie in vielen Horrorfilmen (siehe Hölle II). Der Topos des „roadtrips“ an sich ist mittlerweile so konventionell geworden, dass seine Affirmation und Wiederholung grundsätzlich als konformistisch gelten darf, auch wenn spezifische Ausprägungen durchaus noch kritisches Potenzial entfalten, in Filmen wie Thelma & Louise, Wild at Heart und Little Miss Sunshine oder Romanen wie Moon Palace, The Speed Queen und The Road.

Der Highway in den „Westen“ II Wie bereits angedeutet wurde, zeichnet sich eine zunehmende Überlappung der drei beispielhaften diskursiven Formationen ab. Sowohl in Moon Palace als auch in Thelma & Louise oder Little Miss Sunshine, um nur drei Beispiele zu nennen, steht

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der Roadtrip allegorisch für Eigenständigkeit und bewegt sich dabei von Osten nach Westen, wenn er auch nicht immer an der Ostküste beginnt. Darüber hinaus kann diese Reise sowohl utopische als auch dystopische bzw. albtraumhafte – höllische – Züge haben: Der Protagonist von Moon Palace steht am Ende nicht nur am Pazifik, sondern auch vor dem existenziellen Nichts, das sowohl das Ende als auch einen Neuanfang bedeuten kann. Wie so oft in den Romanen Paul Austers ist dies nicht eindeutig zu beantworten. Thelma und Louise fahren ihr Auto nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei über eine Klippe; und Little Miss Sunshine ist zwar humorvoll und deutlich lebensbejahend, trägt aber ebenfalls absurde und albtraumhafte Züge. Diese Überlappung sollte nicht überraschen: Der Weg in den „Westen“ bzw. in die „unbesiedelte“ Wildnis ist in den USA kulturhistorisch offensichtlich als Weg in die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit konnotiert, was er teilweise auch war, aber ebenfalls als Weg in die Hölle bzw. den Tod, was nicht nur puritanischem Gedankengut geschuldet ist (siehe oben), sondern auch der sehr realen Tatsache, dass viele diesen Weg nicht überlebt haben. Die Überlappung ergibt auch vor dem Hintergrund des Gegensatzpaares der Konformität/Nonkonformität einen „Sinn“, denn sowohl Konformität als auch Nonkonformität kann je nach Bewertungssystem als strafwürdig betrachtet werden. Zudem muss an dieser Stelle eine wichtige Differenzierung getroffen werden, die die spezifischen Semantisierungen des modernen Highways von älteren Wegen unterscheidet. Die terrestrische geografische bzw. demografische US-amerikanische „frontier“ (Frederick Jackson Turner argumentiert auf Grundlage des Zensus von 1890) gibt es schon lange nicht mehr. Sie ist, wie ich weiter oben behaupte, an andere reale und nichtreale – ideologische, soziale, politische, wissenschaftliche – „Orte“ verlagert worden. Eine konsequente geografische Reise nach Westen endet also üblicherweise in Kalifornien – oft in L. A. – und damit in einer ganz anderen Art von „Wildnis“ oder „Unzivilisiertheit“. Der mythologische und ideologische „Westen“ ist, wenn er nicht an gänzlich andere Orte transponiert worden ist (z. B. in den Weltraum), in vielen kulturellen Produkten in die „Mitte“ der USA rückverlagert worden und damit entweder in die Wüste/Wildnis – dies kann auch ein Wald sein – oder die Kleinstadt. In der Wüste jedoch ist ein dauerhaftes Überleben kaum möglich. Entsprechend sind die Reisenden hier oft nur auf der Durchreise oder für einen Ausflug (z. B. zu einer Hütte, einem See oder einer verlassenen Goldgräberstadt) und finden entweder sich selbst oder, durch natürliche oder unnatürliche Umstände (siehe Hölle II), den Tod, sobald sie den Hauptweg verlassen. Führt der Weg in den Westen in eine Kleinstadt, so hat die Semantisierung andere, wenn auch ähnliche Optionen, auf denen u. a. ein ganzes Subgenre US-amerikanischer romantischer Komödien basiert, wie z. B. Beautiful Girls, Sweet Home Alabama, Grosse Pointe Blank, Doc Hollywood oder auch der animierte Film Cars:

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Ein üblicherweise herablassender Städter (aus New York, L. A., aber auch Chicago o. Ä.) wird mehr oder weniger zufällig in (s)eine Kleinstadt verschlagen und sieht sich dort über Konflikte mit den Kleinstädtern mit sich selbst konfrontiert, in Form seiner Vergangenheit und/oder Traumata bzw. Verdrängungen. Dieser Aufenthalt kann durchaus permanent werden und zu einem „happy end“ führen; kehrt die Hauptfigur in die Stadt zurück, so als veränderte, geläuterte und „bessere“ Person, die sich selbst „gefunden“ hat. Bezeichnenderweise führt der „abseitige“ Weg in den „Westen“ (ab vom Highway, vom eigentlichen Reiseziel etc.) hier am Ende in die Konformität. Es lässt sich sogar sagen, dass eine temporäre „Abweichung“ und Nonkonformität entsprechend der Formel des Bildungsromans geduldet wird, solange sie nur „back into the fold“ führt, also zurück zu den Werten der Mehrheitsgesellschaft. Vor dem kulturhistorischen und ideologischen Hintergrund der USA erlangt dieser Gegensatz von Großstadt und Kleinstadt zudem eine weitere, diachronische Bedeutung: Wie Richard Hofstadter in seinem berühmten Buch The Age of Reform ausführt, war der Republikanismus von Thomas Jefferson agrarisch, ländlich, dezentral. Eine ausgesprochen wirkmächtige Vorstellung von Demokratie und nationaler und kultureller Identität in der Kulturgeschichte der USA, die darauf fußt und bis heute anhält (siehe die bereits erwähnten „back to the land“-Bewegungen), ist entsprechend die Vorstellung, dass das „wahre“ Amerika auf dem Land und in kleinen Städten zu finden ist, während die Großstädte, insbesondere Washington D. C., korrupt und verdorben sind.20 Nonkonform zu sein mit der Moderne, und im Umkehrschluss ländlich und kleinstädtisch zu sein, ist also konform mit einer der dominantesten Vorstellungen der Identität der USA. Wieder verbleibt eine fundamentale Ambivalenz.

Der Highway in die – säkulare – Hölle II Für Gruppen, deren kollektives Überleben von der Zusammenarbeit der einzelnen Mitglieder abhängt, kann die Sanktionierung abweichenden, nonkonformen Verhaltens evolutionär sinnvoll und überlebenswichtig sein. Die große Zahl US-amerikanischer kultureller Texte, in denen vom Hauptweg abweichendes Verhalten bestraft wird, ist evolutionär und anthropologisch gesehen also grundsätzlich nicht außergewöhnlich. Im Gegensatz zu den frühen puritanischen Vorstellungen und deren Verhandlung in Nathaniel Hawthornes Geschichten, ist die „Hölle“, mit welcher der Gang in die Wildnis und damit abwegiges Verhalten bestraft wird, in modernen Texten und auf dem modernen Highway auf den ersten Blick säkularer Natur, obgleich das „Böse“ in 20 Siehe hierzu auch David Danboms Born in the Country sowie die Aufsatzsammlung American

Georgics von Edwin Hagenstein, Sara Gregg und Brian Donahue.

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Gestalt von Dämonen, Monstern oder durch und durch „bösen“ Menschen durchaus eine Rolle spielt, ebenso wie Glaube und Rituale.21 Es ist nicht verwunderlich, dass Texte dieser Art oft generisch-allegorisch verhandelt werden und mit Blick auf die Bestrafung abwegigen Verhaltens ebenso oft als konservativ gelten. Ein genauerer Blick lohnt sich jedoch auch hier. Am aufschlussreichsten ist in dieser Hinsicht ein narrativer, geografischer und kinematografischer Topos, der so oft (und finanziell erfolgreich) im US-amerikanischen Horrorfilm auftaucht (z. B. in The Texas Chainsaw Massacre, The Hills Have Eyes, House of Wax, House of 1000 Corpses, The Evil Dead, The Cabin in the Woods, Disappearance, Wrong Turn etc.), dass er ein eigenes Subgenre konstituiert und damit als konventionell gelten darf: Eine Gruppe junger Menschen oder eine junge Familie begibt sich auf eine Reise, im Verlauf derer sie den gut ausgebauten Highway aus unterschiedlichen Gründen – und oft entgegen dem Rat einer ortsansässigen aber suspekten Person – verlässt und sich auf eine Nebenstraße begibt, um zu einem See, einer Hütte im Wald oder einer verlassenen Stadt in der Wüste zu gelangen, eine Abkürzung zu nehmen etc. Einmal auf Abwegen, wird die Gruppe systematisch von einheimischen Kannibalen (Texas Chainsaw), Mutanten (The Hills), Dämonen (Evil), Hinterwäldlern (Wrong Turn) o. Ä. dezimiert. Der Wiedererkennungswert dieses Topos ist auch kinematografisch so hoch, dass meist schon die Eingangssequenz ausreicht – ein Auto auf einer einsamen Straße –, um den Film relativ eindeutig zu markieren. Es ist verlockend, dieses Narrativ entsprechend dem oben skizzierten allegorischen Muster als eindeutig und konservativ einzuordnen: Die jungen Menschen, die den Hauptweg verlassen, scheinen ihr Schicksal allzu oft „verdient“ zu haben, denn sie haben den „Hauptweg“ der Mehrheitsgesellschaft bereits vorher verlassen, indem sie trinken, feiern und promisk sind. Darüber hinaus stellen sie sich regelmäßig ausgesprochen dumm an, sodass ihr Tod beinahe „selbstverschuldet“ ist und eine Wiederherstellung von Ordnung durch eine externe Instanz ist. In den Fällen, in denen tatsächlich „moralisch Unbelastete“ sterben, lässt sich immer noch eine schlichte Allegorie konstruieren, die die Zivilisation, das Urbane, in einer Inversion der o. g. romantischen Komödien gegen die Wildnis, das Ländliche, stellt. 21 Es ist bemerkenswert, dass religiöse und ritualistische Aspekte in vielen Filmen eine wichtige

Rolle spielen. Die Täterfamilien in Chainsaw und Corpses sind auf sehr eigene Art und Weise durchaus „gläubig“ (es finden sich Kreuze, es wird gebetet). Auch hat die generische Allegorie der Jugendlichen, die in der Wildnis einen „Test“ bestehen müssen, ehe sie in die „Zivilisation“ zurückkehren dürfen, durchaus eine rituelle Komponente. Der Meta-Horrorfilm The Cabin in the Woods spielt mit genau dieser Idee: Das Töten der Jugendlichen verläuft entlang eines Opferrituals, welches das Überleben der Menschheit sicherstellt.

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Diese Interpretationen greifen zu kurz, was sich an den Ambivalenzen zeigt, die hervortreten, sobald man einen genaueren Blick auf die Zuordnung von Konformität und Nonkonformität wirft, die eben nicht einfach entlang der Konfliktgruppen bzw. dessen, was sie zu repräsentieren scheinen, verläuft. In den meisten Fällen ist die Gruppe, die den Highway 1  Alejandre Aja, Dune Entertainment, einer Nebenstraße wegen verlässt, bereits The Hills Have Eyes, USA, 2006 in sich heterogen. Sie kommt zwar üblicherweise aus der Stadt und ist, sobald sie den Highway verlässt, mehr oder weniger orientierungslos (wortwörtlich und im übertragenen Sinne), aber weder sind alle Jugendlichen „korrumpiert“, noch ist die Familie gänzlich „unschuldig“ oder in sich geschlossen. Ihre relativ leichte anfängliche Dezimierung ist genau auf diese Heterogenität zurückzuführen: Sie kooperieren – ganz im Gegensatz zu ihren Widersachern – schlecht. Setzt man Kooperation als konform – sie ist 2  Marcus Nispel, New Line Cinema, in gewissem Umfang für eine dauerhaft The Texas Chainsaw Massacre, USA, 2003 stabile Gesellschaft zwingend notwendig und begründet eben jene „Mehrheit“ der „Mehrheitsgesellschaft“ –, so ist die Tätergruppe konform, nicht die Opfer. Dies wird auch dadurch bestärkt, dass die Tätergruppe in zahlreichen Filmen aus einer Familie besteht, die einen ausgesprochen ausgeprägten Familiensinn hat (z. B. in Chainsaw, Hills, Wrong). Diese Konformität steht in direktem Widerspruch 3  Drew Goddard, Lionsgate, zum eindeutig nichtkonformen Verhalten The Cabin in the Woods, USA, 2012 der Täter in anderer Hinsicht: Sie töten Unschuldige. Beide „Konfliktparteien“ sind also sowohl konform als auch nichtkonform; ebenso wenig ist der Gegensatz von ländlich vs. urban einfach deckungsgleich mit nichtkonform vs. konform oder umgekehrt. Der Highway in die Hölle ist also nicht zu vereindeutigen.

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4 Schlusswort: Lost Highways In einem wenig bekannten frühen Film von Steven Spielberg mit dem Namen Duel (1971) wird ein Autofahrer aus unerklärten Gründen auf einem abgeschiedenen Highway in der Wüste von einem Lkw verfolgt, der augenscheinlich die Absicht hat, ihn umzubringen. Der Zuschauer erfährt nur wenig über den Protagonisten, der bezeichnenderweise „David Mann“ heißt, und noch viel weniger über den Lkw-Fahrer; diesen sieht man den ganzen Film über nicht, nur einmal werden seine Stiefel und einmal seine Hand am Schaltknüppel gezeigt. Ein Kontakt oder gar ein Gespräch mit ihm ist nicht möglich. Überhaupt wird im Film nur wenig geredet oder erklärt. Der Highway wird nicht verlassen außer an einer Raststelle und am Schluss auf einer Nebenstraße, die in eine Schlucht mündet. Der Film inszeniert einen archaisch und atavistisch anmutenden Zweikampf zwischen sehr ungleichen Gegnern; der Vergleich mit David und Goliath ist fast zwingend. Gleichzeitig ist es ein Kampf mit Mitteln der Moderne und damit zwischen einem Mann und einer Maschine. Der Highway als Austragungsort dieser beinahe rituellen Auseinandersetzung erhält, auch durch die visuelle Inszenierung, einen fast schon mythischen Charakter. Nur er existiert, es gibt kein Entkommen für die Beteiligten, kein „Außerhalb“ oder „Abseits“ (nicht umsonst endet der Film in einer Schlucht), und er scheint allumfassend und ewig. Er ist gleichzeitig Monument der Moderne und Austragungsort eines vormodernen, uralten Rituals, so scheint es, in dem es um nichts weniger geht als um Leben und Tod. Einen „Sinn“ über die fundamentale Proposition hinaus, dass das Leben ein Kampf um das Überleben ist, scheint der Film nicht zu bieten. Wir alle befinden uns sozusagen permanent auf diesem Highway. Gleichzeitig ist diese universale Auslegung nicht beliebig in andere Kulturräume übertragbar, zumindest nicht in dieser konkreten Visualisierung und Inszenierung: Nur vor dem kultur- und ideengeschichtlichen Hintergrund des Highways in den USA erlangt diese Aufladung und Semantisierung vollständige Plausibilität. Der Highway durch die Wüste, bei dem zwischen Straße und Sand teilweise kaum zu unterscheiden ist, die Weite und Leere, der riesige Lkw, der Handelsreisende auf langer Reise, der Konflikt zwischen Mensch und Maschine – der Fahrer spielt, wie gesagt, kaum eine Rolle –, der in dieser Form eben nur in der Ödnis des Highways möglich ist – all dies erlangt seine spezifische Bedeutung eben nur, weil der US-amerikanische Highway sowohl historisch als auch gegenwärtig einer der wichtigsten physischen und metaphorischen Verhandlungsorte personaler und kultureller Identität ist. Wie sich anhand dieses letzten Beispiels nochmals zeigt, bleibt der Highway an sich semantisch „leer“ und damit je spezifisch „auffüllbar“. Diese Aufladungen sind jedoch nicht beliebig: Folgt man meiner Argumentation, so verhandeln sie fast ausnahmslos eine dynamische Dialektik von Konformität und Nonkonformität und müssen damit zwangsläufig ambivalent bleiben, denn eine Aufhebung gibt es

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nicht. Die von mir vorgeschlagenen beispielhaften diskursiven Formationen sind dabei natürlich nicht die einzig möglichen; auch Individuum und Gemeinschaft, Mensch/Natur und Moderne/Maschine, Gut und Böse, Stasis und Veränderung etc. hätten als Beispiele dienen können. Fest steht, dass „auf-“ und „abseitige“ Wege mit großer Wahrscheinlichkeit fester Bestandteil der US-amerikanischen Kultur bleiben werden.

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Melancholie des Highways · Wim Wenders’ Paris, Texas

1 Es grenzt an eine Binsenweisheit zu sagen, dass der Film eine besondere Affinität zu Verkehrswegen besitze. Erstens sind das bewegte Leben und die äußere Wirklichkeit, die der Film seit nunmehr bald 120 Jahren abbilden kann, von unzähligen Verkehrswegen durchzogen, deren Dichte noch immer stetig zunimmt. Es wäre nachgerade höchst seltsam, wenn Filme nicht auch von Anfang an die Eisenbahnen, Straßen, schließlich auch Flugplätze und Autobahnen, Autoroutes, Magistralen oder Highways der Welt in ihren bewegten Blick nehmen würden, die das moderne Leben

   

   

   

   

   

   

1  Filmstills aus Wim Wenders Paris, Texas. Deutschland / USA 1983.

Jan Röhnert

wie kaum eine andere technisch-landschaftliche Infrastruktur prägen, gestalten und in bestimmte Bahnen und Richtungen lenken. Zweitens gibt es eine innere Korrespondenz zwischen dem bewegten, technischen Abbildmedium Film und der Bewegung des technisierten Verkehrswesens, das die moderne Welt, wie sie der Film vorfand, in ihrem Erscheinungsbild erst hervorgebracht hat. In der maschinellen Bewegung auf der Straße oder der Schiene begegnet der Film derselben maschinellen Bewegung, aus der heraus er als Medium in Erscheinung treten kann. Daher ist es kein Zufall, dass vielleicht die erste dokumentierte Filmaufnahme überhaupt die Ankunft eines Zuges festhält und dass kurz darauf belebte und von Automobilen gekreuzte Asphaltstraßen in den Fokus der Kamera rücken und sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in Paris wie Hollywood Autos Verfolgungsjagden über Landstraßen hinweg lieferten. Film und Straße sind miteinander verwandt; sie sind aus derselben technischen Bewegung hervorgegangen – und in dieser Bewegung spiegeln sie sich wechselseitig: Eine Auto- oder Zugfahrt wird „wie im Film“ erlebt; Kamerafahrten nehmen das Auge auf eine Bahn- oder Straßenreise mit. Und indirekt zitiert jeder Film, der Straßen und Schienen in den Blick nimmt, seine eigene Vorgeschichte und die Bewegung als das ihm inhärente Prinzip immer mit. Filmemacher wie Jean-Luc Godard oder Wim Wenders, zu deren Poetik ganz explizit die Reflexion über die Geschichte des Mediums, über das Kino als Repräsentationsraum, den filmischen Blick und das Filmemachen als Aneignung und Imagination von Welt gehören, haben die Straße immer wieder emphatisch auf die Leinwand gebracht und sie zu einem räumlichen Leitmotiv ihrer Filme werden lassen. Autostraßen sind in nahezu jedem Film von Wim Wenders von Bedeutsamkeit.1 Erinnert sei an das erste Roadmovie des neuen deutschen Films, Im Lauf der Zeit von 1976, in dem Jürgen Vogel und Hanns Zischler in einem alten Lastwagen auf Landstraßen in Sichtnähe der innerdeutschen Grenze die westdeutsche Provinz zwischen Hamburg und Hof von Nord nach Süd auf der Landstraße bereisen – das Kino als Sujet des Films und die Straße begegnen sich hier in kongenialer Parallelführung, denn offizieller Anlass der Tour ist die Durchsicht und Reparatur von Vorführgeräten ländlicher Kinos im sogenannten Zonenrandgebiet. Während Im Lauf der Zeit also, trotz wichtiger Berührungspunkte mit Autobahnzu- und -abfahrten, erst auf Landstraßen jenseits der Autobahn sich emphatisch entrollt, enthält die Schlusspartie des 1977 folgenden Der amerikanische Freund 1

Darauf nimmt eine neuere Werkeinführung mit ihrem Titel explizit Bezug: Alexander Graf: The cinema of Wim Wenders. The Celluloid Highway. London 2002. – Wenders selbst hat die (amerikanische) Straße ebenso wie im Film in seinem fotografischen und fotoessayistischen Werk leitmotivisch ins Visier genommen. Vgl. Wim Wenders: Places, strange and quiet. Ostfildern 2013; ders.: Bilder von der Oberfläche der Erde. München 2003; ders.: Einmal. Bilder und Geschichten. München 2001.

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eine traumatische Autobahnfahrt mit tödlichem Ausgang: Infolge Übermüdung und innerer Verstörung erleidet der von Bruno Ganz gespielte Restaurator Jonathan Zimmermann einen Herzanfall, rast mit seinem Käfer über die Seitenbegrenzung hinweg eine Deichmauer hinauf und kommt wenige Meter vor der Nordsee zum Stehen. Über 15 Jahre später, 1993, ist ganz Mittel- und Westeuropa von einem dichten Autobahnnetz durchzogen, das die Anfangssequenz von Lisbon Story in der Zeitrafferfahrt über zwischen Berlin und der Iberischen Halbinsel sich spannende Autobahnen einfängt, die akustisch mit einer Collage verschiedensprachiger Radiostimmen unterlegt ist – ein skeptischer Kommentar zum babylonischen Sprachgewitter im europäischen Haus. Auch hier beginnt, wie fast naturgemäß bei Wenders, die eigentliche Geschichte erst abseits der Autobahn – im Altstadtgewirr der sich wandelnden Atlantikmetropole Lissabon und bei den melancholischen Liedern der Band Madredeus. Melancholie, im Miteinander entsprechender Aufnahmen und Songs bild- und musikästhetisch umgesetzt, ist die dominierende Grundstimmung von Wim Wenders’ Kino und seiner Figuren – oft sind diese allein, rastlos auf der Suche nach etwas, das sich ihnen entzieht, driften haltlos in ihren Erinnerungen ab oder jagen Phantasmen nach, die sich nicht einfangen lassen.2 Als Kennzeichen des melancholischen Gemütszustandes kann in Tradition der antiken Humoralpathologie gelten, dass vom an Melancholie Leidenden die Erinnerung an eine goldene Vorzeit beschworen wird, deren Ort jedoch auf keiner Landkarte zu finden ist, da er unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Mythologisches Sinnbild des Melancholikers ist der von Jupiter entmachtete Gott Saturn: Während daß Jupiter noch immer in Gefahr, der Herrschaft entsetzt zu werden, seine Blitze gegen die Giganten schleudert, ist Saturnus fern von dem verderblichen Götterkriege in Latium angelangt, wo unter ihm sich die glücklichen Zeiten bilden, die nachher in den Liedern der Menschen als ein entflohenes Gut besungen und vergeblich zurückgewünscht werden. […] Auf diese Weise ist nun Saturnus bald ein Bild der alleszerstörenden Zeit, bald ein König, der zu einer gewissen Zeit in Latium herrschte,3

heißt es bei Karl Philipp Moritz. Der verheißene Rückzugsort des von Jupiter seiner Rechte enthobenen Saturns ist ein Latium, das allein in der mythologischen Imagination 2

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Zur Analyse von Wenders’ Topoi vgl. u. a. Volker Behrens (Hg.): Wim Wenders – Man of plenty. Marburg 2005; Robert Philipp Kolker/Peter Beicken: The films of Wim Wenders. Cinema as vision and desire. Cambridge 1993; Norbert Grob: Wenders. Berlin 1991; Reinhold Rauh: Wim Wenders und seine Filme. München 1990. Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. Leipzig 1972, S. 21 f. [Berlin 1791]. – Seit Kurzem liegt eine Interpretation von Wenders’ Filmen auf der Folie mythologischer Narrative vor, in der Paris, Texas jedoch nicht auf das saturnische Melancholie-Motiv, sondern das homerische Odyssee-Narrativ zurückgeführt wird. Vgl. Horst Fleig: Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie. Bielefeld 2005, S. 14–47.

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existiert. Der Melancholiker hängt mit der erfolglosen Suche nach Saturns Versteck einem Zeitalter nach, das es in Wirklichkeit nirgendwo gibt und nie jenseits projektiver Wunschbilder gegeben hat. Bei einem modernen Melancholiker, Fernando Pessoa, der für den Protagonisten von Lisbon Story zur Lektüre gehört, liest sich das so: Zeit! Vergangenheit! Da ist etwas – eine Stimme, ein Gesang, ein gelegentlicher Duft gibt in meiner Seele den Vorhang frei auf meine Erinnerungen… Das, was ich war und nie wieder sein werde! Das, was ich hatte und nie wieder haben werde.4

2 Ich möchte im Folgenden eine Filmlektüre von Wim Wenders’ Paris, Texas vorschlagen, die am Leitmotiv des amerikanischen Highways Spuren einer melancholischen Suchbewegung nachzeichnet, Spuren einer Suche, die nirgendwo ihren angestrebten Ort zu erreichen vermag, weil es ihn nicht, oder zumindest nicht mehr, gibt. Dieser Ort ist im Fall des Films und seines Protagonisten Travis jenes vom Titel beschworene „Paris“, ein unbestimmter Nicht-Ort in der texanischen Steppe, von dem der nach Jahren der Abwesenheit buchstäblich aus dem Nichts, nämlich der Wüste, wieder Aufgetauchte seinem Bruder Walt während der gemeinsamen, über weite Strecken schweigend verbrachten Autofahrt entlang des amerikanischen Highways mit einem Mal ohne ersichtlichen Grund berichtet: „Paris“ meint ein Stück Land, das Travis sich in Erinnerung an eine Anekdote seines Vaters in der Mitte von Nirgendwo gekauft haben will: Ihre Eltern wollen sich an diesem Flecken kennengelernt und ihn als ihren ersten Sohn dort gezeugt haben. Die einzige Besonderheit dieses ­anonymen Stückchens Land ist sein mit der, wie Benjamin sie nannte, „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“5 identischer Name – doch im Namen von Paris klingt zugleich eine spezifisch moderne Variante der Melancholie mit, wie sie Charles Baudelaire in den Gedichten seiner Fleurs du Mal mustergültig festgehalten hat. Das Leben entzieht sich dem modernen Metropolenbewohner, weil es sich ständig in Bewegung, in Veränderung befindet und das, was man wiederzuerkennen sucht, immer schon von der Bildfläche verschwunden ist: „La forme d’une ville, hélas! Change plus vite que le cœur d’un mortel“ (Le cygne).6 Auf dem texanischen Highway berichtet Travis dem erstaunten Bruder von seinem verschwundenen Paris: (vgl. erste Abb., erste Reihe von links) 4 5 6

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Hg. von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Zürich 2007, S. 200. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Erster Band. Frankfurt a. M. 1983, S. 45–59. Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Friedhelm Kemp. München 1997, S. 180–184, hier S. 182.

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Die unstillbare Suchbewegung der Melancholie bricht sich in Paris, Texas nicht wie im Paris des späten 19. Jahrhunderts in Passagen-, Stahl-, Stein- oder Glasfassaden, sondern auf dem Asphalt des amerikanischen Highways. In der Phänomenologie von Wenders’ Film repräsentiert der Highway mindestens zweierlei, auf das ich im Folgenden näher eingehen will. 1) Als ‚exogenes‘, die äußere Wirklichkeit abbildendes Element ist in ihm und an ihm die amerikanische Welt im Allgemeinen und die des wüstenartigen US-amerikanischen Südwestens im Besonderen festgehalten. 2) Als ‚endogenes‘, die innere Welt und Form des Films symbolisierendes Element reflektiert sich im Bild des Highways das Filmmedium selbst mit seinen, wie sie Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films (Englisch zuerst 1960) aufzählt, „Affinitäten“ zur Bewegung, zur Endlosigkeit, zum Zufälligen, Unbestimmbaren und zum „Fluss des Lebens“.7 Dramaturgisch gesehen lassen sich in Paris, Texas schließlich noch auf der Zelluloid-Spur des Highways die narrativen Kulminationspunkte des Filmes nachvollziehen.

Zum Highway als Spiegel der US-amerikanischen Landschaft und Zivilisation (1) Travis taucht nach mehrjähriger Abwesenheit im Niemandsland zwischen den USA und Mexiko wieder auf. Bei seinem neuerlichen Einstieg in die Zivilisation lernt er die amerikanische Zivilisation mit neuem, staunend-verwundertem Blick kennen. Der alte Schienenweg, den er im ersten Fluchtimpuls, nachdem sein Bruder ihn aus der Wüste abgeholt hat, entlangtrottet, wird wohl nur noch gelegentlich für Güterverkehr genutzt; vor Flugzeugen fürchtet er sich – ihm bleiben nur das Auto und der Highway, um zum Anwesen seines Bruders in Los Angeles und zu seinem Sohn und mit ihnen in die amerikanische Zivilisation zurückzukehren. Im ersten Teil des Streifens wird Travis von seinem Bruder Walt im Auto quer über den Highway westwärts bis nach Kalifornien chauffiert – als Travis jedoch einmal das Steuer übernimmt, kommen sie plötzlich wieder vom Highway ab und landen für Momente im Niemandsland, mit dem Travis indes vertrauter als mit der ihm fremd gewordenen Zivilisation zu sein scheint. Das Niemandsland ist der Ort, der mit seiner jahrelangen Abwesenheit korrespondiert (vgl. zweite Abb., erste Reihe von links). Im zweiten Teil des Films macht sich Travis mit seinem Sohn Hunter selbst auf, um seine Exfrau Jane, Hunters Mutter, im texanischen Houston zu finden. Vom passiven Betrachter der technischen Zivilisation wird Travis zum aktiven, wenngleich 7

Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1985, S. 96–110.

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wortkarg, eigenwillig und verschlossen bleibenden Teilnehmer dieser mehrspurigen asphaltierten Infrastrukturen, die mit den weniger sichtbaren Infrastrukturen der zwischenmenschlichen Fernkommunikation in direktem Wechselverhältnis stehen. Spielend wird die schiere Quantität der Distanzen bewältigt, wo es jedoch um die Qualität der Kommunikation geht, um den besonderen einmaligen Kontakt zu einer bestimmen Person, ihrer Stimme und/oder ihrer leiblichen Nähe, drohen sie zu scheitern oder sind auf eine Intuition angewiesen, die eher an das Sichvorwärtstasten im ungebahnten Niemandsland erinnert – hier scheint es sich plötzlich auszuzahlen, dass sich Travis wie ein Nomade über mehrere Jahre in der Abwesenheit jeglicher vorgezeichneter Verkehrswege durchschlagen musste. Wenders’ Film lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Highway ein die US-amerikanische Landschaft präformierendes Element ist; alle entscheidenden Wege im Film werden auf Autostraßen, meistens Autobahnen, zurückgelegt. Wer nicht bereits motorisiert unterwegs ist, bleibt dementsprechend ausgeschlossen vom Raum dieser Zivilisation und hat seine Handlungsmöglichkeiten weitgehend eingebüßt – wie Travis zu Beginn der Geschichte. Das geht in Paris, Texas so weit, dass Travis sogar von seinem eigenen Sohn geschnitten wird, als er ihn zu Fuß und nicht wie für die anderen Kinder üblich mit dem Auto von der Schule abholen will; mit dem Verzicht auf die motorisierte Straßennutzung ist unfreiwillig auch die persönliche Erniedrigung und soziale Deklassierung verbunden. Der Highway mit seinem gigantischen Netz von Abfahrten, Auffahrten und Zubringerstraßen in amerikanischen Megacity-Agglomerationen wie Los Angeles oder Houston ist im buchstäblichen Sinn zugleich eine riesige Ausstellungsfläche der ökonomischen Basis des amerikanischen Lebens, nämlich des Konsums von Waren und Dienstleistungen und im übertragenen Sinn auch ein Schaubild des durch Flüchtigkeit, Anonymität und oberflächliche Kontakte geprägten Miteinanders, des zwischenmenschlichen ‚Verkehrs‘. Travis’ Bruder Walt verdient sein Geld in der die Straßen und Highways mit Billboards tapezierenden Werbebranche. Mit seinem kindlich staunenden Blick auf solche Suggestionen wird Travis zum Phänomenologen der Konsumästhetik entlang des Highways und stellt damit für ein Stückweit die Gewöhnlichkeit und Normalität des Alltags der Bruder-Welt in Frage (vgl. dritte Abb., erste Reihe von links). Travis’ Bruder Walt wiederum hat sich mit seiner (aus Frankreich mit dem ‚wirklichen‘ Paris stammenden) Frau Anne und dem bei ihnen lebenden Hunter, Travis’ Sohn, einen privaten Rückzug am Rand der Megalopole Los Angeles geschaffen, der gleichzeitig jedoch im frontalen Einfallsbereich ihrer technischen und medialen Infrastrukturen liegt – Hunters Familie lebt in Sichtweite des L. A. International Airport und sie versucht während Travis und Hunters eigenmächtiger Abwesenheit über das Telefon den Kontakt mit ihnen zu halten. Am eindruckvollsten manifestiert sich das gefühls- und beziehungsstrukturierende Element des Highways dann schließlich in der Suche von Travis und Hunter nach der Exfrau und Mutter Jane, eine Odyssee, die sich auf der

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Spur anonymer Interstate-Highways zwischen Kalifornien und Texas vollzieht, die sie jedoch mit ihrer persönlichen Geschichte durchaus mit individuellem Leben erfüllen. Von Jane ist lediglich noch bekannt, dass sie am 5. jeden Monats Geld aus einer bestimmten Bank in Houston – übrigens, wie man sehen wird, eine Drive-in-Bank, eine Bank also, in der sich alle Geschäfte vom Auto aus erledigen lassen – für Hunter überweist: Hier wird gewissermaßen die Idee des Highways in den persönlichen Zahlungsverkehr überführt. Travis und Hunter positionieren sich am Ausgang der Bank, der Sohn macht Jane nach Stunden vergeblichen Wartens schließlich ausfindig und verständigt den eingenickten Vater eindringlich über Walkie-Talkie davon. Beide verfolgen Janes mutmaßlichen Wagen – einen kleinen roten Chevy, wie er in Amerika zu der Zeit hunderttausendfach gefahren wird – auf dem Houston umgebenden Ringstraßenhighway. Wegen der Dichte und Schnelligkeit des Verkehrs, der Vielzahl ähnlicher oder gleicher Wagenmodelle und der Unmenge an Abfahrten gerät die Verfolgungsjagd zum verzweifelten Versteckspiel, das erst jenseits des Highways in der Seitenstraße eines heruntergekommenen Vororts seinen wider alle Wahrscheinlichkit erfolgreichen Abschluss findet (vgl. erste und zweite Abb., zweite Reihe von links). Diese zwischen Highway und dessen Peripherie sich abspielende Sequenz bietet zugleich einen Schlüssel für die zweite, ‚endogene‘ Bedeutungsebene des Highways im Film.

Der Highway als Sinnbild und Spiegel des Kinos (2) Der Anstoß für Travis, auf dem Highway nach seiner verschollenen Exfrau Jane zu suchen, wird in einer Art filmischer Mise en abyme dargestellt, wie Wim Wenders sie gern in seinen Filmen gebraucht. Mit „Mise en abyme“ ist hier das Motiv des Films im Film gemeint, das sich wie kein Zweites zur kinematografischen Metareflexion eignet – so ist etwa die Hauptfigur von Wenders’ Im Lauf der Zeit ein Filmvorführer und das Thema von Der Stand der Dinge sind Dreharbeiten, die nicht von der Stelle kommen. Das Ehepaar Walt und Anne in Paris, Texas, das Travis bei sich aufnimmt, schlägt dem aus dem Nirgendwo in ihren Alltag eingebrochenen Fremdling und Bruder/Schwager eines Abends vor, gemeinsam mit ihnen die alten Super-8-Filme anzuschauen, die ihn, Jane und Hunter als glückliche Familie miteinander zeigen (vgl. zweite Abb., zweite Reihe von links). Die Filmrollen des Heimkinos, dem Travis nachstaunt, vertauscht er nur wenig später mit den Rädern eines Wagens, um gemeinsam mit seinem Sohn auf dem Endlosband des Highways wie auf einem zurücklaufenden Film der goldenen Zeit des familiären Glücks bei der Suche nach Jane entgegenzufahren. Doch anders als das Zelluloid führt der Asphalt nicht in eine vermeintlich unbeschädigte Vorzeit zurück, er bringt indes die Gegenwart der Protagonisten wieder mit den unbewältigten Schatten ihrer Vergangenheit in Kontakt.

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Anstatt der Aussöhnung mit Jane steht am Ende von Travis’ Autobahnfahrt zurück in die eigene Erinnerung zunächst eine verstörende Wiederbegegnung mit seiner früheren Frau in der Peepshowkabine eines zwielichtigen Vorstadtetablissements. Harry sitzt Jane dort zwar gegenüber, jedoch durch eine verspiegelte Scheibe von ihr getrennt, durch die er sie zwar sehen kann – dem voyeuristischen Bedürfnis der Kundschaft des Lokals entsprechend –; sie als seine professionelle Dienstleisterin kann ihn jedoch nicht sehen oder würde ihn lediglich erst sehen, wenn sie ihre eigene Kabine verdunkelt, wie sie es im Verlauf der Szene tatsächlich tun wird, um Travis betrachten zu können. In der gewöhnlichen Ausleuchtung ihrer Kabine sieht sie allerdings stets nur ihr eigenes Spiegelbild (vgl. erste Abb., dritte Reihe von links). Man kann diese berühmte Nicht-Wiederbegegnung des einstigen Paares wiederum als eine versteckte Mise en abyme begreifen, wenn man die Wand, auf die beide von ihrer jeweiligen Seite der Kabine aus jeweils starren (Travis dreht sich zunächst zwar vom Spiegel weg, um mit Jane zu sprechen), ohne dass sie dabei eigentlich etwas anderes als sich selbst sehen, für die leere Leinwand des Kinos nehmen, vor der jeder mit sich selbst konfrontiert wird. Wir sitzen im Kino alle im selben Film, jeder von uns sieht jedoch etwas völlig anderes – diese Grunderfahrung von Kinogängern, die für zwei Stunden eine Leinwand miteinander teilen, doch jeweils nur wahrnehmen, was die Blackbox ihres Bewusstseins individuell mit und aus den Bildern macht, teilen auch Jane und Travis auf ihrer jeweiligen Seite der Peepshowkabine miteinander. Zwar blicken sie anders als andere Kinogänger auf die jeweils andere Seite der Leinwand, sitzen jedoch durch ihr gemeinsames Gespräch zumindest akustisch miteinander im selben Film. Ihre Situation ist lediglich verschärfter als die Situation von Zuschauern im gewöhnlichen Kinosaal: Die miteinander geteilte Wand trennt sie zugleich räumlich voneinander und hindert sie daran, sich gegenseitig wiederzuerkennen. Die Peepshow wird damit zum Emblem ihrer existenziellen Bedrägnis. Jane und Travis teilen eine Lebensgeschichte und ein Kind miteinander, bleiben jedoch voneinander isoliert; kein Weg führt für sie in die ursprüngliche Gemeinschaft, ins Einssein ihrer familiären Dreiergruppe zurück. Es ist kein Zufall, dass sich diese bizarre Wiederbegegnung wie letztlich der gesamte Film am Rand des amerikanischen Highways abspielt und dass dieser Highway immer entscheidende Stationen, Sprünge und Kulminationspunkte der Handlung markiert. Die Situation von Travis und Jane, die sich am Ende einer Highway-Odyssee in einer Peepshowkabine wieder‚sehen‘, ohne sich gegenseitig richtig erkennen zu können, ähnelt der Situation eines jeden Autobahnfahrers: Jeder benutzt dieselbe Fahrbahn, ohne dabei den Nachbarn, welchen er überholt oder von welchem er überholt wird, wirklich wahrzunehmen. Die Autobahn ist dem Kino vergleichbar, in welchem alle miteinander sitzen, ohne Notiz voneinander zu nehmen (vgl. zweite Abb., dritte Reihe von links). Der Ort, den Travis als undeutliches Foto in seiner Westentasche mit sich führt und den er verzweifelt zu finden hofft, jener Ort „Paris“ irgendwo in der texanischen

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Weite, wo sich seine Eltern kennengelernt haben wollen, liegt abseits des Highways, mehr noch: Es gibt ihn offenbar gar nicht oder gar nicht mehr. Jedenfalls wird er uns als tatsächlicher Ort vom Film selbst vorenthalten. Als äußerlich repräsentationsloser, ‚wüster‘, von Wenders nicht abgebildeter Ort existiert dieses „Paris“ lediglich als ‚etwas‘ in der Imagination seines Protagonisten Travis. „Paris“ ist vom Highway aus nicht zu erreichen. Die unscharfe Fotografie des Grundstücks, das Travis in „Paris“ per Post erworben haben will, zeigt ein Stück Niemandsland abseits jeglicher Verkehrsstraßen (vgl. dritte Abb., dritte Reihe von links). Das Paris, nach welchem Travis sucht, liegt nicht nur abseits jedes Highways, sondern zugleich abseits jeder Kinoleinwand. Als Ort, von dem er annimmt, dass seine Eltern ihn dort gezeugt haben, bleibt „Paris“ eine ihm verschlossene Utopie vom Ursprung, wohin ihn keine Schnellstraße zu führen vermag, nach dem er aber dennoch unterwegs sein wird, solange es ihn gibt. Diese Suggestion erreicht Wenders durch eine äußerst untypische, der Eigengesetzlichkeit des Mediums Film nach landläufigem Verständnis eigentlich widersprechende Geste – der Ort, der dem Film seinen Namen gibt, wird gar nicht gezeigt, sondern bleibt eine abbildlose Leerstelle. Paris, Texas endet stattdessen unter dem künstlichen Licht an der Ausfahrt eines identitätslosen Hotelneubaus irgendwo an den Schnellstraßen von Houston – der gesichtslose Hochgeschosser trägt übrigens den beziehungsreichen Namen „Meridian“, als würden ausgerechnet an diesem anonymen Nicht-Ort die Fäden der Geschichte geographisch zusammenlaufen –, in dessen oberen Etagen („Zimmer 1520“) Travis’ Sohn Hunter wieder mit seiner Mutter Jane zusammentrifft. Travis hingegen hat eine Botschaft auf Band für Hunter hinterlassen, sieht von unten zum Parkplatz hinauf und fährt dann in der Morgendämmerung auf dem Highway mit unbekanntem Ziel davon.

3 Paris, Texas, der der deutschen Emigrantin und Filmkritikerin Lotte Eisner gewidmet ist, die während Wenders’ Dreharbeiten im ‚richtigen‘, europäischen Paris verstarb, zeigt in der Schlussszene eine Vereinigung von Sohn und Mutter, der alle Merkmale eines wirklichen Happy Ending fehlen. Beide befinden sich in der Fremde ihrer eigenen Zivilisation, am anonymen Ort des Hotel Meridian, wie letztlich auch alle anderen Protagonisten des Films in einer Art von Fremde leben, da ihr jeweiliges Zuhause durch die Nähe des allgegenwärtigen Highways zu einem vorübergehenden Verweilpunkt am Rande von Flüchtigkeit und Transit destabilisiert ist. In einem neun Jahre vor den Dreharbeiten an Paris, Texas in Texas entstandenen Gedicht Rolf Dieter Brinkmanns, „Ein Skunk“, das sich dem Anblick eines auf dem Highway überfahrenen Skunks verdankt, heißt es am Schluss:

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Sie leben, hintereinander. […] […] Einige Jahre später ist der Ort verschwunden, und du blickst über die Gerüste, die unverständlich geworden sind, erinnerst dich dabei an den toten Skunk eines Morgens auf dem Highway, durchgeschüttelt vom Bus, Staaten, der Ort, wo ich geboren bin, ist ausgelöscht, erzählt die junge Lehrerin den Kindern, die sie fragen, wo kommst du her?8

In der Tatsache, dass Wim Wenders seinen Film Paris, Texas nennt und seinen Protagonisten von diesem Ort sprechen lässt, ohne dass er, bis auf die zerknitterte, unscharfe Fotografie Travis’, als Ort je auf der Leinwand erscheint, liegt die Provokation seines Streifens. Der Ursprung des Kinos liegt buchstäblich im Dunkeln – wie jener biografische Ursprung, dem Wenders’ Protagonist erfolglos nachjagt: „In my beginning is my end“,9 könnte Travis mit T. S. Eliot sagen – ohne dabei angeben zu können, wo Ende und Anfang tatsächlich liegen: an einem Ort jedenfalls, der weder am Highway liegt noch von einer Filmkamera einzufangen ist. Mit der von Paris, Texas illustrierten und illuminierten, mit Mollakkorden aus der Bluesgitarre von Ry Cooder sparsam untermalten Geschichte über den Ort, der eben nicht vom Highway aus zu erreichen ist, hat Wim Wenders paradoxerweise so etwas wie eine Utopie hinter den Bildern in Bilder umgesetzt, d. h. mit den Mitteln des Films eine Melancholie inszeniert, die einem Ort gilt, den der Film selbst weder zeigt noch zeigen kann: Denn alle Bilder wären überflüssig, gelangte man je an diesen Ort, von dem man herkommt und der für einen selbst notwendig im Dunkeln bleibt.  Kapitelendet

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Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek 1975, S. 37 f. T. S. Eliot: East Coker (Four Quartets), in: ders.: Gesammelte Gedichte. 1909–1962. Hg. und mit einem Nachwort von Eva Hesse. Frankfurt a. M. 1988, S. 290.

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Crash! J. G. Ballards Mythologie der Autobahn Eine vollständige Erfassung und Auswertung der Autobahnbezüge in der britischen Literatur seit den 1950er-Jahren ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Stattdessen möchte ich mich exemplarisch auf die Autobahn- und Verkehrsimagination desjenigen britischen Schriftstellers konzentrieren, der sich am intensivsten und eindringlichsten mit dem Thema Autobahn befasst hat: J. G. Ballard (1930–2009). Dennoch soll eingangs und abschließend ein kurzer Blick auf andere Autoren geworfen werden, um die Besonderheit und Radikalität von Ballards Autobahnund Verkehrsimagination und ihre literarischen Wirkungen zu konturieren. Das britische Autobahnnetz entstand im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ spät. Erst Ende der 50er-Jahre wurden die ersten Autobahnteilstücke dem Verkehr übergeben, darunter diverse Abschnitte der M1 (Motorway 1), die London mit den Midlands und den Industriestädten in Yorkshire verbindet, und die Autobahnumgehung um den Industrieort Preston im englischen Nordwesten, die heute Teil der M6 ist, einer wichtigen, von Birmingham nach Schottland verlaufenden Autobahnverbindung.1 Der rapide landesweite Ausbau des Autobahnnetzes in den 60er- und 70er-Jahren hat allerdings nur wenige Spuren in der zeitgenössischen Literatur hinterlassen, und die spärlichen Bezüge bei den Autoren, die man gemeinhin zum Kanon rechnet, verweisen auf die Kontinuität eines Denkmusters, das sich im Zuge der ersten Industrialisierungswelle im 19. Jahrhundert etablierte und in deren Rahmen die positiv besetzten Werte von Natur, Landschaft und Tradition gegen die nivellierenden Folgen von Modernisierung, Motorisierung und Mobilisierung ausgespielt bzw. verteidigt werden. Dass auch Dichter der modernen Generation, die sich vor und nach dem 2. Weltkrieg um die Erneuerung lyrischer Form und Diktion bemühten, diesem Muster folgen, belegen beispielsweise W. H. Audens (1907–1973) spätes Gedicht „Et in Arcadia Ego“ (1965), in dem es heißt: „Could I manage not to see // How the autobahn / Thwarts the landscape / In godless Roman arrogance“.2 1 2

Nähere Angaben in einer ausgezeichneten Kulturgeschichte des britischen Straßenwesens im 20. Jahrhundert: Joe Moran: On Roads. A Hidden History. London 2009, bes. Kap. 1, 2 und 7. W. H. Auden: Selected Poems. Hg. v. Edward Mendelson. London / Boston 1979, S. 250. Audens Wahl des deutschen Worts ‚autobahn‘ verdankt sich wohl der Tatsache, dass der Dichter seit Ende der 50er-Jahre wahlweise in Kirchstetten/Niederösterreich lebte, unweit der A1 bzw. Westautobahn, die Salzburg mit Wien verbindet, unmittelbar nach dem sog. Anschluss 1938 begonnen und zwischen 1954 und 1970 fertiggestellt wurde. Für den Hinweis auf die Gedichte von Auden, Davie und Larkin danke ich meinem Kollegen Prof. Dr. Chris Baldick.

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Der klassische Hintergrund kommt auch in den Autobahnbezügen des Poeta doctus Donald Davie (1922–1995) zum Ausdruck. In dem Gedicht „Warwickshire“ aus dem Band The Shires (1974) geht es u. a. um die Mitte der 60er-Jahre erbaute sog. Spaghetti Junction in Birmingham, einen architektonisch kühnen und großzügig gestalteten Verkehrsknotenpunkt, an dem die M6 und drei Fernverkehrsstraßen zusammentreffen: „And yet Spaghetti Junction on the M / 6 is, shall we say, / a comparable alternative solution / (to a problem of traffic flow / in several ways at once on several levels) / to the Piazza d’Aracoeli“, ein kühner Vergleich, den Davie anschließend so infrage stellt: „Shall we / say that much or in / the Shakespeare county can we? If the tongue / writhes on foreign syllables, it shows small relish for your balder registrations // intent, monocular, faithful“.3 Bei Davie wird der Vergleich mit der römischen Piazza nicht mit der Klage um den Verlust an Naturlandschaft, sondern mit der Frage nach der Nationalsprache und -kultur verbunden. Während die Gedichte von Auden und Davie klassische Topoi und moderne Wirklichkeit spannungsreich und ironisch gegeneinandersetzen, konstatiert Philip Larkin (1922–1985) in seinem Gedicht „Going, Going“ (1974) das Verschwinden des alten, traditionellen England und das Aufkommen eines neuen, individualistischen, an Mobilität und Konsum orientierten Lebensstils, wie er emblematisch im Blick auf die vorwiegend jungen Gäste in der Autobahnraststätte erscheint („The crowd / Is young in the M1 café“); das Gedicht endet mit der melancholischen Akzeptanz: „but all that remains / for us will be concrete and tyres“.4 In Larkins Gedicht fungiert die Autobahn als äußeres Zeichen eines tief greifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, in dem „concrete“ (Beton) und „tyres“ (Autoreifen) metonymisch für die Homogenität und Mobilität des modernen Zeitalters stehen, die das eher immobile, aber lokal differenzierte alte England zum Verschwinden bringen. Der immer wieder forcierte Gegensatz zwischen alt und neu, zwischen klassisch-antik oder englisch-landschaftlich konnotierter Vergangenheit einerseits und mobiler, ortloser Gegenwart andererseits, der sich diesen lyrischen Autobahnrefe­ renzen entnehmen lässt, zeugt sicherlich auch von einer defensiven oder zumindest ambivalenten Einstellung gegenüber tief greifenden Prozessen sozialen und kulturellen Wandels. Eine solche literarische Strategie des Abwehrens bzw. der Neutralisierung durch klassische Überformung ist bei J. G. Ballard kaum zu finden. Der aufschlussreichste Text für Ballards Autobahn- und Verkehrsimagination ist sein wohl bekanntester Roman Crash, der seit seinem Erscheinen 1973 und erneut seit David Cronenbergs Verfilmung 1996 kontrovers diskutiert wird und hier im Zentrum stehen soll. Wie im Vorgängertext, The Atrocity Exhibition (1970), und im 3 4

Donald Davie: The Shires. London 1974, o. S. – Details zu Planung, Konstruktion und Nachwirkung dieser ‚Spaghetti Junction‘ bei Moran, On Roads, S. 45–50. Philip Larkin: Collected Poems. Hg. v. Anthony Thwaite. London 2003, S. 133 f.

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Folgeroman, Concrete Island (1975), spielen der Autobahnverkehr, der Verkehrsunfall und die psychische und kognitive Verarbeitung dieser Phänomene eine he­rausragende Rolle.5 In der Atrocity Exhibition, einem eng dem wissenschaftlichen Diskurs angelegten und damit um so provokativeren Collage-Text, taucht in dem Abschnitt „Crash!“ (das Ausrufzeichen verweist auf die Comicsprache und die Pop-Art) die Figur des Psychologen Nathan Vaughan auf, der seinen Versuchs­ personen (und dem Leser) Bilder und Beschreibungen von Verkehrsopfern und ihren Verstümmelungen vorlegt, um ihre psychischen Reaktionen zu testen. Die Handlung in Ballards Roman Concrete Island beginnt mit einer Reifenpanne auf dem Westway, der als Hochstraße verlaufenden Stadtautobahn im Westen Londons; die Hauptfigur, der Architekt Richard Maitland, verliert die Kontrolle über seinen Jaguar, durchbricht die Leitplanke und landet im Niemandsland unterhalb der Trasse, das mit dichtem Gestrüpp bewachsen und auf allen Seiten von steilen Böschungen umgeben ist; erst nach mehreren Wochen gelingt ihm, der im Roman mehrfach als moderner Robinson Crusoe bezeichnet wird, die Rückkehr in die Gesellschaft. Ballards Roman kann als postmoderne Robinsonade gelten, in der die exotische Insel, der außerhalb der Zivilisation gelegene Ort, nun mitten in der modernen Metropole liegt und eine ‚Betoninsel‘ in der Autobahnlandschaft bildet. Der Westway, bei seiner Fertigstellung 1970 die längste Hochstraße Europas und ursprünglich als Teil des sog. Ringway 1, eines dann nie fertiggestellten Autobahnrings um die Londoner Innenstadt geplant, ist ein für London untypisches Bauwerk, das von Paddington aus durch die Stadtteile Notting Hill und Shepherds Bush führt und einen starken Kontrast zu der dort vorherrschenden klassischen bzw. viktorianischen Architektur bildet. Diese exzentrische Modernität ist wohl mit ein Grund dafür, dass der Westway zahlreiche Spuren in der britischen Populärkultur hinterlassen hat, so in der Punkmusik, wo er z. B. auf dem Cover von Alben von ‚The Jam‘ und ‚The Clash‘ zu sehen ist ( Joe Strummer bezeichnete die Musik von ‚The Clash‘ rundheraus als „the sound of the Westway“) und im unabhängigen britischen Film, z. B. in Stephen Frears Sammy and Rosie Get Laid (1987). Der Westway wurde also zu einem Ort, der Alternativen zum kulturellen und politischen Mainstream konnotiert.6 Für Ballard sind das Auto und die Autobahn nichts weniger als die zentralen Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts. Dem Autor zufolge hatte der rapide Ausbau des Autobahnnetzes ab Ende der 50er-Jahre „a much bigger influence on freedom and possibility“ als die gleichzeitig entstehende Literatur der ‚angry 5

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Die Autobahn spielt bereits eine herausragende Rolle in Ballards Kurzgeschichte The Subliminal Man (1963), einer in der nahen Zukunft spielenden Satire auf die totalitären Tendenzen der Konsumgesellschaft; J. G. Ballard: The Complete Stories. New York / London 2009, S. 413–425. Zum Westway vgl. Joe Moran: Reading the Everyday. London / New York 2005, S. 62–68, und Moran, On Roads, S. 200–203.

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young men‘.7 Solche mit dem Automobil verbundenen Möglichkeiten der physischen und mentalen Bewegungsfreiheit hatte Ballard als Kind und Jugendlicher in Schanghai erfahren. Als Kind britischer Diplomaten und Geschäftsleute dort geboren und aufgewachsen, genoss er einen modernen und dynamischen Lebensstil, zu dem amerikanische Limousinen mitsamt Chauffeuren wie auch die neuesten Hollywoodfilme gehörten. Als er kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Internatsschüler nach England kam, erlebte er die traditionelle Lebensweise und die rückwärtsgewandte Mentalität der Briten als tiefen Kulturschock. Ballard lebte 1960 in der westlich von London an der Themse gelegenen Vorstadt Shepperton, aber er nahm die rapide Transformation dieser auch als Thames Valley bezeichneten Subregion am Londoner Westrand in eine Verkehrs- und Transitlandschaft durch Schnellstraßen und Autobahnen (u. a. der heutigen M3, die an Shepperton vorbeiführt und London mit Southampton verbindet), vor allem aber durch die Erweiterung des Flughafens Heathrow und seine Integration in das Londoner Schnellverkehrsnetz durch die M4 als überaus positiv wahr: „The twentieth century at last arrived“, schreibt Ballard in einem Aufsatz, in dem sich Sarkasmus und Erleichterung die Waage halten, „and began to transform the Thames Valley into a pleasant replica of Los Angeles, with all the ambiguous but heady charms of alienation and anonymity.“8 Anfang der 90er-Jahre bezeichnete Ballard Shepperton denn auch als Vorstadt nicht Londons, sondern des Londoner Flughafens: „The triangle formed by the M3 and the M4, enclosing Heathrow and the River Thames, is our zone of possibility“; ein Terrain aus „dual carriageways, police cameras, science parks and executive housing, an uncentred realm bereft of civic identity, tradition or human values, a zone fit only for the alienated and footloose, those without past or future“.9 Absoluter Gegenwartsbezug, eine von physischen und psychischen Beschränkungen befreiende Mobilität und eine positive Form der Entfremdung – diese vermeintlich widersprüchlichen Werte sieht Ballard in einem weiteren Essay, der unter dem Titel The Car, the Future erstmals 1971 erschien, auf der Schnell- bzw. Fernverkehrsstraße realisiert: „the twentieth century reaches almost its purest expression on the highway. Here we see, all too clearly, the speed and violence of our age, its strange love affair with the machine, and, conceivably, with its own death and

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James Campbell: J. G. Ballard Interview. The Guardian, 14. Juni 2008. Zit. bei Joe Moran, On Roads, S. 42. J. G. Ballard: Shepperton Past and Present (1994). In: ders.: A User’s Guide to the Millennium. Essays and Reviews. London 1996, S. 183. J. G. Ballard: Welcome to the Virtual City. Tate Magazine. Zit. in: Iain Sinclair: London Orbital. A Walk around the M25. London / New York, S. 221f. Die Etikettierung Sheppertons als „suburb of London Airport“ greift Ballard in Shepperton Past and Present wieder auf, dort S. 183.

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destruction.“10 Ballards Statement bündelt in geradezu paradigmatischer Weise die diversen Codierungen, die mit dem Phänomen der Automobilität und des kreuzungsfreien Schnellverkehrs verbunden sind, stellt aber zugleich eine Spannung zwischen Beschleunigung und Geschwindigkeitsrausch einerseits und dem damit verbundenen Potenzial für Gewalt, Tod und (Selbst-)Zerstörung her. Ballards Wortwahl deutet außerdem an, dass sowohl das Lust- als auch das Todesprinzip an der Produktion des technischen Objekts ‚Auto‘ und den damit verbundenen menschlichen Wünschen und Fantasien beteiligt sind, wobei für Ballard im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse die psychische Wunschproduktion längst vom Individuum in den Bereich der Technologie und der Bildmedien abgewandert ist. Aber das Fatale an dieser technosexuellen Ding- und Wunschproduktion ist, dass sie auf Tod und Zerstörung hinarbeitet. Freuds Terminus ‚Todestrieb‘ lautet auf Englisch „death drive“, und es scheint, als nehme Ballard dies wörtlich, denn „drive“ verweist auch auf das Fahren. Bei diesen Mehrfachcodierungen von Auto und Schnellverkehr in Ballards ­Statements scheinen sich positive und negative Werte, befreiende und limitierende Aspekte die Waage zu halten. Auch bei Crash handelt es sich um einen Roman, zu dem sich sein Autor ambivalent verhalten hat. 1974, ein Jahr nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe, veröffentlichte Ballard ein Vorwort zur französischen Übersetzung, in dem er den Roman als moralische Anklage einer zunehmenden Enthumanisierung, eines „death of affect“ apostrophiert, Letzterer in seinen Augen „the most terrifying casualty of the twentieth century“.11 In diesem Vorwort hat Ballard seinen Roman auch als Warngeschichte verstanden: „Needless to say, the ultimate role of Crash is cautionary, a warning against the brutal, erotic and overlit realm that beckons more and more persuasively to us from the margins of the technological landscape“,12 diese Lesart dann andernorts jedoch auch wieder verneint: „Crash is not a cautionary tale. Crash is [...] a psychopathic hymn. But it is a psychopathic hymn which has a point.“13 Dieses Element des Psychopathischen allerdings lokalisiert Ballard nicht auf der individuellen, sondern auf 10 J. G. Ballard, A User’s Guide to the Millennium, S. 262. Der Essay erschien 1971 in der Zeit-

schrift Drive, dem Hausmagazin der Automobile Association, dem britischen Äquivalent des ADAC. Ballard war von der AA zu einer Oldtimer-Rallye von Bremerhaven nach Stuttgart eingeladen worden; Anlass war das 70-jährige Firmenjubiläum von Mercedes-Benz. Da die Teilnehmer ausschließlich Oldtimer benutzten, vermieden sie Autobahnen und fuhren über Landstraßen. Die Originalversion des Essays mitsamt einem schönen Foto Ballards am Steuer eines Renault Park Phaeton von 1904 findet sich in digitalisierter Form auf folgender Internetseite: www.jgballard.ca/deep_ends/drive_mag_article.html [Zugang 9.4.2013]. 11 Dieses Vorwort wurde in spätere britische Neuauflagen des Romans übernommen; Ballard: Introduction. In: ders.: Crash. London 2008, o. S. (S. I). 12 Ballard ebd. (S. III). 13 Will Self: Conversations: J. G. Ballard. In: ders.: Junk Mail. London 1996, S. 348.

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einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, wenn er davon spricht, dass in Crash eine Art darwinistischer Anpassungsprozess inszeniert werde, der von der zunehmend „psychotic landscape“ der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und der Massenmedien ausgelöst werde.14 Laut Ballard ruft die Ersetzung der ersten Natur durch eine zweite, künstliche einen derartigen Druck, sich an diese neue Umwelt anzupassen, hervor, dass psychotische Wahnvorstellungen, wie z. B. die Unfähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, fast zwangsläufig zur Norm werden. Diese Widersprüche und Spannungen in Ballards Aussagen zum Roman scheinen mir weniger auf einen wandelbaren oder gar koketten Autor zu verweisen als vielmehr im Roman und in der darin artikulierten Verkehrsimagination selbst angelegt zu sein. Crash ist ein Verkehrsroman, in dem es um den erwähnten fatalen Schulterschluss von Technik und Sexualität geht, auch wenn Ballard dies gelegentlich dementiert. Die Handlung des Romans findet hauptsächlich auf den Autobahnen und Schnellstraßen im Westen Londons, rund um den Flughafen Heathrow statt. Zu dem vom Roman demarkierten Verkehrsareal gehören außerdem Tankstellen, Parkhäuser, Hotels sowie Gewerbe- und Wohngebiete. Die weitgehend kreuzungsfreie Schnellverbindung zwischen Innenstadt und Flughafen wurde Anfang der 70er-Jahre fertiggestellt. Eine bereits existierende Ausfallstraße, die A4, auch als Great Western Road bekannt, wurde mehrspurig ausgebaut, wobei einzelne Abschnitte genau wie der Westway, der ebenfalls in Crash evoziert wird, als Hochstraße geführt ist; das bekannteste und wegen regelmäßiger Dauerstaus berüchtigtste Hochstraßen-Teilstück ist der sogenannte Hammersmith Flyover, wobei im Roman weniger die genaue Lokalität als die im englischen Wort „flyover“ enthaltene Konnotation des Fliegens wichtig wird, die Ballards Roman mehrmals aufgreift und auf die ich weiter unten eingehe. Diese mehrspurige Ausfallstraße, die etwas weiter westlich bei Chiswick ebenfalls auf Betonpfeilern ruht (dieses Hochstraßenstück wurde übrigens 1959 von der amerikanischen Filmschauspielerin Jayne Mansfield eröffnet), geht kurz darauf in die 1964 erbaute Autobahn M4 über, von der dann in Flughafennähe mehrspurige Ausfahrten und Stichstraßen zu den Terminalgebäuden führen. Auch die in Flughafennähe liegenden Ortschaften wie Ashford, Feltham und West Drayton, die im Roman mehrmals erwähnt werden, wurden durch mehrspurige Schnellstraßen angebunden. Diese Verkehrslandschaft und ihre Konstruktion werden im Roman häufig ästhetisiert, so durch den dauernden Vergleich mit der bildenden Kunst, wenn beispielsweise eine auf Betonpfeilern ruhende Überführung als „serene motion sculpture“

14 Ballard in einem Radiointerview mit David Gale. BBC Radio 3, 30. November 1998. Zit. bei

Ricarda Vidal, Death and Desire in Car Crash Culture. A Century of Romantic Futurisms. Oxford 2013, S. 140.

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bezeichnet wird15 – eine Etikettierung, die Ballard bereits in dem Essay The Car, the Future verwendete und den in den 60er-Jahren durchaus gängigen Vergleich von Autobahn und Raumskulptur aufgreift.16 Diese Verkehrslandschaft, die im Roman einmal als „super-real“ (C 49), als überoder hyperreal bezeichnet wird, bildet nicht nur den Hintergrund der Handlung, sondern beeinflusst sie auch. Das Figurenensemble von Crash umfasst einen Icherzähler namens James Ballard, der als Produzent von Werbefilmen in Shepperton, dem Wohnort des realen Autors Ballard, arbeitet (wo es bis heute ein weitläufiges Areal mit Filmstudios gibt); die Figur Ballard rekonvalesziert nach einem schweren Verkehrsunfall im Flughafen-Krankenhaus und begegnet dort dem Unfallfetischisten Vaughan (einem Wiedergänger aus der Atrocity Exhibition), der hier als „hoodlum scientist“ beschrieben wird (C 17) und ein ausgeprägt sexuelles Interesse an materiellen und körperlichen Unfallfolgen hat, dem er obsessiv nachgeht. Ballard und seine Frau Catherine geraten mehr und mehr in Vaughans Bann, fahren gemeinsam mit ihm stunden- und nächtelang auf den Flughafen- und Stadtautobahnen herum, dieser „zone of nightmare collisions“ (C 11), um Unfallorte aufzusuchen, von denen sie im Polizeiradio hören, bzw. auch selbst Unfälle kleinerer oder größerer Art zu verursachen. Vaughan veranstaltet auch Stockcar-Rennen und stellt berühmte Verkehrsunfälle wie die von James Dean oder Jayne Mansfield nach, in denen er gemeinsam mit seinem Stuntman Seagrave auch agiert. Wie sein Stuntman kommt Vaughan bei einem Autounfall ums Leben, den er als Frontalkollision mit der Limousine von Elizabeth Taylor minutiös geplant hat. Hier nimmt Ballard ein weiteres Motiv aus dem Vorgängerroman The Atrocity Exhibition auf, der sich bereits ausgiebig mit Sexual- und Gewaltfantasien zu Elizabeth Taylor und anderen Prominenten der 60er-Jahre befasst hatte. Bei Crash handelt es sich um einen Verkehrsroman auch in dem Sinne, dass die diversen Unfälle immer auch den sexuellen Verkehr anregen. Zwischen den Figuren bildet sich somit eine Art Schnitzler’scher Reigen, an dem auch Helen Remington beteiligt ist, die Beifahrerin in dem Wagen, mit dem Ballard kollidierte, die bei diesem Unfall ihren Mann verlor und nun als traumatisiertes und verkrüppeltes Unfall­ opfer ebenfalls in Vaughans Bann gerät. Jede dieser zahlreichen Kopulationsszenen ist auf eine real erlebte oder imaginativ antizipierte Unfallszene bezogen, wobei der gewaltsame Aufprall von zwei Autos mit dem der Körper und der Verkehrsunfall mit dem sexuellen Höhepunkt gleichgesetzt werden (z. B. C 22, 27 u. ö.). Ballards Roman scheint auf eine Neubestimmung von Sexualität und Körperlichkeit im unsichtbaren 15 Ballard: Crash. London 1975, S. 11, 166 u. ö. Alle weiteren Zitate aus dem Roman im Folgenden

in Klammern mit der Sigle C und Seitenzahl nachgewiesen.

16 Ballard, A User’s Guide, S. 262. Entsprechende Vergleiche finden sich bei dem Architekturkri-

tiker Sigfried Giedion und dem Stadtzosiologen Kevin Lynch; s. auch den Beitrag von Frank Seehausen in diesem Band.

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Kräftefeld der Technologie hinauszulaufen; alle Beziehungen des Romans, so sieht es der Erzähler an einer Stelle, seien „mediated by the automobile and its technological landscape“ (C 101). Ballards Roman beruht auf einem einfachen, aber effektiven Prinzip. Er bringt die zerstörerischen und gewalttätigen Aspekte des Autoverkehrs ausdrücklich und geradezu systematisch mit dem Diskurs der Sexualität in Verbindung. Ballard, dessen visuelle Imagination stark vom Surrealismus beeinflusst wurde, hat sich dabei eventuell von der Unfallszene aus Buñuel/Dalis Film Un Chien Andalou (1929) oder dem imaginierten Verkehrsunfall am Ende von Bretons Roman Nadja (1928) anregen lassen, die recht vordergründig sexuelles Verlangen in Szene setzen. Es scheint aber auch, als habe Ballard bei seiner Darstellung des Autounfalls als einer Erfüllung sexuellen Begehrens eine Bemerkung aus Freuds Traumdeutung (1900) beim Wort genommen, wonach „das Überfahrenwerden ein Symbol des Geschlechtsverkehres“ ist.17 Der Verkehrsunfall ist damit nicht mehr, wie noch in der Literatur der klassischen Moderne, ein kontingentes Ereignis oder gar Symbol menschlicher Sterblichkeit,18 sondern paradoxerweise das Telos des modernen Verkehrs, der in scheinbar endloser Wiederholung und permanentem Kreislauf auf den Schnellstraßen rund um den Flughafen zirkuliert und gelegentlich zum völligen Stillstand kommt. In dieser Sichtweise auf den modernen Verkehr und die Funktion des Verkehrsunfalls scheint mir auch ein Unterschied zu Marinetti und dem italienischen Futurismus zu liegen, dessen Gründungsmanifest aus dem Jahr 1909 ja eine rasante Autofahrt samt Unfall auf einer geraden, symbolisch in die Zukunft weisenden Straße inszeniert; als das auch hier bereits sexualisierte und fetischisierte Fahrzeug bei hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn abkommt und in einem Graben landet, führt dies nicht zum Tod, sondern zur symbolischen Geburt des Futurismus in Gestalt der dem Wrack entsteigenden neuen, revitalisierten Menschen, der Futuristen, die nun das ausgeprägt maskuline Programm einer Avantgarde-Ästhetik proklamieren, die auf eine Apotheose von Technik und Maschinenwelt und die Verherrlichung von Geschwindigkeit und Gewalt hinausläuft.19

17 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900). Ders.: Studienausgabe. Band II. Frankfurt a. M.

1972, S. 356.

18 S. hierzu beispielsweise Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne.

München 2003, bes. S. 192–199, und Reto Sorg u. Michael Angele: „Oh, my Ga-od! Oh, my Ga-od! Oh, my Ga-od! Oh, my Ga-od!” Automobil-Unfall und Apokalypse in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Compar(a)ison 2 (1996), S. 137–173. 19 Der Text des Manifests findet sich in: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Hg. v. Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders. Stuttgart / Weimar 1995, S. 3–7. Ein aufschlussreicher Kommentar zu diesem Manifest bei Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek 2009, S. 27–36.

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Mit der symbolischen Gleichsetzung von Verkehrsunfall und sexueller Erfüllung ist das metaphorische Prinzip benannt, nach dem Ballards Roman strukturiert ist. Aber damit ist nur ein Teil der rhetorischen Struktur des Romans erfasst. Ballard nimmt eine Verkehrung dieses metaphorischen Prinzips vor: Er behandelt diese symbolische Gleichsetzung nicht als bildliche, sondern als buchstäbliche, sodass der Roman immer wieder das phantasmatische Potenzial des Autos als eines dynamischen, erotischen Objekts gewissermaßen wörtlich nimmt, d. h. in die Sprache des Materiellen, Gegenständlichen und Körperlichen (zurück)übersetzt.20 Dieses Verfahren der Verkehrung bzw. Rückübersetzung hat im Roman eine wichtige Folge: Die symbolische Identifizierung mit dem Auto als Lustmaschine wird als materielles Begehren, als materielle Aneignung und Vereinigung aufgefasst. Das Auto ist nicht mehr Wunschbild des Begehrens, sondern seine tatsächliche Verkörperung. Dementsprechend präsentiert der Roman den Autounfall, d. h. die zahlreichen Karambolagen und Kollisionen mit anderen Autos und die mehr oder weniger großen Verletzungen für Fahrer und Passagiere, als ins Materielle gewendete Formen eines sich traditionellerweise in der Fantasie artikulierenden Begehrens. Damit zeigt Ballards Verkehrsroman das enorme Ausmaß, in dem die technische Dingwelt und der menschliche Umgang mit ihnen unwiderruflich im Zeichen von Tod, Zerstörung und Perversion stehen. Der Roman handelt also nicht nur von der perversen Erotik des Autounfalls, wie es an einer Stelle heißt (C 17), sondern macht die Perversion oder Verkehrung zu seinem strukturellen Prinzip. Ballards Figuren antworten auf die Veräußerlichung, die Materialisierung des automobilen Begehrens damit, dass sie die verführerische Wunschvorstellung nach Verschmelzung bzw. Vereinigung mit der Maschine bis zu ihrem logischen Ende, dem Tod, ausleben. Es ist den Romanfiguren unmöglich, diesen Schritt von der realen in die Fantasiewelt zu reflektieren bzw. rückgängig zu machen. Die Pointe von Ballards Verkehrsroman liegt möglicherweise in dieser strukturellen Verkehrung: auf der Erzählebene, vom Symbolischen ins Wörtliche, und auf der Figurenebene, vom Realen in die Fantasie. Das Prinzip der Verkehrung findet sich auf nahezu allen Textebenen. Ein Aspekt betrifft die Beziehung zwischen den Figuren und ihrer Umgebung, der exurbanen Verkehrslandschaft. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nimmt die Figur Ballard vom Balkon seiner modernen Eigentumswohnung in Flughafennähe aus die Landschaft in den Blick: On the first afternoon I barely recognized the endless landscape of concrete and structural steel that extended from the motorways to the south of the airport, across its vast runway to the new apartment systems along Western Avenue; […] shielded from the distant bulk of London

20 Ich beziehe mich hier auf Andrzej Gasiorek, der diese These zum Ausgangspunkt seiner Inter-

pretation von Crash macht; Andrzej Gasdiorek: J. G.Ballard. Manchester / New York 2005, S. 83.

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by an access spur of the northern circular motorway which flowed past us on its elegant concrete pillars […] I realized that the human inhabitants of this technological landscape no longer provided its sharpest pointers, its keys to the borderzones of identity (C 48 f.).

Der Figurenblick richtet sich auf eine künstliche Landschaft, die dieselben Eigenschaften der Landschaft aufweist, die Marc Augé als „Nicht-Orte“ bezeichnet hat, d. h. funktionale, von ihrer geografischen Umwelt abgekoppelte und auf unheimliche Weise immer gleiche Transitorte der kapitalistischen Welt, die der möglichst schnellen und reibungslosen Zirkulation von Menschen und Gütern dienen.21 In Crash gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, dass diese moderne Verkehrslandschaft jedoch auch andere Orte beherbergt – ein Kino, Film- und Fernsehproduktionsstätten, ein Unfallkrankenhaus und eine Haftanstalt –, die auf den engen Zusammenhang dieser vermeintlichen „Nicht-Orte“ der Verkehrsinfrastruktur mit massenmedialen Einrichtungen und Institutionen der sozialen Kontrolle verweisen. Entscheidender jedoch ist, dass die anonyme, stille und doch zirkulierende Verkehrslandschaft, in der sein Unfall stattfand, unter dem Blick der Figur Ballard zu einem Ort wird, der für ihn Bedeutung erhält. Nicht nur nimmt Ballard, wie das Zitat deutlich macht, diese Verkehrslandschaft nach seiner Entlassung überhaupt erst wahr, sondern er erhebt sie auf die Ebene der „Super-Realen“ und erfährt sie als „exciting“ und als „threatening“, als Faszinosum und zugleich als Bedrohung (C 49). Die geografische Imagination des Autors Ballard stellt hier, wie so häufig in seinem vom Surrealismus beeinflussten Werk, eine wichtige Wechselbeziehung zwischen der äußeren und der inneren Landschaft her, mit der Absicht, eben die „borderzones of identity“ und die in diesen Grenzbereichen aufscheinenden Möglichkeiten der Transformation zu konturieren. Kurz darauf erkennt die Figur, anders als etwa E. T. A. Hoffmanns Vetter am Eckfenster, dass es keine subjektive Sphäre mehr gibt, die sich im Blick auf die objektive Welt konstituieren könnte; sondern dass das Subjekt schon immer von einer durch und durch technisierten Welt bestimmt wird, die Ballard hier als Verkehrslandschaft wahrnimmt, als künstlichen Horizont, der ein System von Schnellstraßen und Knotenpunkten einfasst und dessen Brüstungen und Böschungen auch die Grenzen der Welt markieren: „Looking closely at this silent terrain, I realised that the entire zone which defined the landscape of my life was now bounded by a continuous artificial horizon, formed by the raised parapets and embankments of motorways and their access roads and interchanges.“ (C 53) Auch die psychischen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt und die Fixierungen des einen auf das andere werden vom Autor Ballard gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Die wichtigste Beziehung im Roman ist die zwischen dem Auto und dem Körper. Ballard verkehrt das Klischee vom durchgestylten Auto als erotischem 21 Marc Augé: Nicht-Orte. Übers. v. Michael Bischoff. München 2012; franz. Erstausgabe 1992.

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Objekt der Begierde, einmal treffend als „huge accumulation of fictions“ bezeichnet (C 60), in sein Gegenteil, denn es ist nicht das schöne, fabrikneue und technisch perfekte Auto, sondern das hässliche, zerbeulte, beschädigte Unfallfahrzeug, auf das sich das Begehren der Figuren richtet. Zugleich stehen Auto und menschlicher Körper in einer metonymischen Beziehung, wobei Ballard oft mit der Mehrfachbedeutung des Wortes „body“ spielt, das im Englischen u. a. die Autokarosserie bezeichnet. Die Bedienung eines fahrenden Autos entspricht der ‚Bedienung‘ eines menschlichen Körpers im Sexualakt; Auto- und Körperformen, technische Instrumente und erogene Zonen entsprechen einander, wie der Roman immer wieder nahelegt (z. B. C 12, 22, 27 u. v. a. m.). Dem anthropomorphen Blick auf das Auto mitsamt seinem „body“ entspricht ein mechanisch-technischer Blick auf den menschlichen Körper. Der Icherzähler Ballard imaginiert auf obsessive and aggressive Weise immer neue Konjunktionen bzw. Kollisionen zwischen Körper und Automobil, die im Roman als verkehrstechnische Kreuzung bezeichnet werden („a new junction between my own body and the automobile“, C 55). Wie die Crashautos sind auch die Körper der Figuren von den Unfallfolgen markiert, sind versehrt, deformiert, verwundet (wozu auch Vaughans Pockennarbigkeit gehört) und der Grad ihrer Versehrung ist direkt proportional zu ihrer sexuellen Attraktivität. Ballard orientiert sich hier nicht nur an einer für die literarische Moderne typischen Ästhetik des Hässlichen, sondern er reizt die Gleichsetzung des Autos mit dem Körper auch dahin gehend aus, dass beide – technischer Gegenstand und Mensch – der Abjektion unterliegen. In ihrer strukturellen und darstellerischen Gleichsetzung führen Unfall und Orgasmus wiederholt zum Auf- und Ausspritzen von Motor- und Körperflüssigkeiten, die der Erzähler mit deutlicher Lust an der Hybridisierung von Mensch und Maschine präsentiert. Nicht nur werden so, unter dem hochstilisierten Blick des Erzählers, die Grenzen zwischen beiden Bereichen verwischt, sondern der Blick richtet sich dann auch auf andere Abfallprodukte wie den Kot, das Erbrochene oder den toten menschlichen Körper (z. B. C 16). Solche immer wieder vorgenommenen perversen Koppelungen von Technophilie, Koprophilie und Nekrophilie erregen allerdings weder Ekel noch Abscheu, sondern dienen der sexuellen Stimulation und Befriedigung. Mehr noch: gerade Vaughan und Ballard scheinen sich nach einer gewissen Zeit kaum noch für die Genitalbereiche ihrer Partner zu interessieren, sondern sie lassen sich eher von der technischen Kunstlandschaft des Autoinneren anreizen, einer erogenen Topografie, in der ihre eigene sexuelle Aktivität und die Glieder und Körperteile ihrer Partner zu Tableaus stilisiert werden. Mit diesen Hinweisen auf das Abjekte und das Maschinelle der Auto-/Menschenkörpers ist einiges vom provokativen Potenzial von Crash umrissen, ohne dass ich so weit gehen würde wie Ricarda Vidal, die in der engen Kopplung von Maschinellem und Animalischem einen posthumanen Identitätsentwurf sieht.22

22 Vidal, Death and Desire in Car Crash Culture, S. 144.

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Nicht nur die Autos, auch die Verkehrslandschaft, in der sie zirkulieren, wird dynamisiert und sexualisiert. So erscheinen dem Erzähler die Ein- und Ausmündungen der Autobahn als „vents“ und als „cleavage“, also als ins riesenhaft vergrößerte Schlitze bzw. Schnittwunden und als das Dekolleté seiner Partnerin (C 56); einzelne zur Verkehrslandschaft gehörende Elemente wie Seitenstreifen (im Englischen „shoulder“), Haltebuchten und Fußgängerüberführungen oder auch die Gesamterscheinung der Kleeblattkreuzungen werden des Öfteren mit Teilen oder der Gesamtkontur des weiblichen Körpers verglichen (C 62, 73, 171 u. ö). Dass diese einerseits fragmentierte, andererseits ins Gigantische vergrößerte weibliche Landschaft die sexuelle Dimension des Autofahrens und des Unfalls konnotiert, macht die folgende Stelle deutlich: „The traffic multiplied, concrete lanes moving laterally across the landscape [... ] the flyovers overlaid one another like copulating giants, immense legs straddling each other’s backs.“ (C 76) Der Roman stellt auch immer wieder eine kausale Verbindung zwischen Fahrstil, Geschwindigkeit, Verkehrsdichte, Straßenbelägen usw. und der jeweils stattfindenden sexuellen Aktivität bzw. Unfallwahrscheinlichkeit her (z. B. C 142–144, C 171 f.). Die Unfähigkeit der Figuren, sich von den Wunschbildern des (wenn man so will) Auto-Sexuellen zu befreien, die aus der Wirklichkeit ein Phantasma machen, zeigt sich auch in der Rolle der technischen Bild- und Reproduktionsmedien, die im Roman überall zu finden und eng mit der Künstlichkeit der Verkehrslandschaft verbunden sind. Vaughan wird als obsessiver Fotograf und Filmemacher dargestellt, der sich ein umfassendes Bildarchiv aller Verkehrsunfälle angelegt hat und andauernd Unfälle in Szene setzt. Vaughan, von dem es einmal heißt, es sei „difficult to know where the centre of his personality is“ (C 115), kann nur das als real anerkennen, was sich aufnehmen oder fotografieren lässt. Es ist kein Zufall, dass er seinen eigenen tödlichen Unfall wie ein Filmemacher minutiös in Szene setzt und dass das Objekt seiner letzten Begierde eine Frontalkollision mit Elizabeth Taylor ist, die soeben in Shepperton, unmittelbar neben dem Fernsehstudio der Figur Ballard, einen Spielfilm dreht, der u. a. eine Autounfallszene enthält, die im Roman als Mise en Abyme fungiert. Vaughans Identität ist in zahlreichen Fotografien aus seiner Vergangenheit aufbewahrt, die er in seiner Wohnung in einer Mischung aus Narzissmus und Exhibitionismus zur Schau stellt; der Figur Ballard gelten diese Bilder jedoch als Zeichen aus einer „temporal no-zone“ und bezeugen Vaughans Bedürfnis „to fix his identity by marking it upon some external event“ (C 168). Auch die zahlreichen Verweise auf die mal klare, mal verschmutzte oder bespritzte Windschutzscheibe der Autos, in denen Vaughan und Ballard unterwegs sind, sind als Hinweis auf die technische Vermitteltheit der visuellen Wahrnehmung im Zeitalter der Automobilität zu lesen. Dabei findet sich die Figur Ballard immer wieder in der Rolle des „captive spectator“ (C 16), der Vaughan als Botschafter und Zeichenträger in der ohnehin auf Codierungen ausgerichteten Verkehrslandschaft wahrnimmt: „Somewhere in this [...] elaborately

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signalled landscape of traffic indicators and feeder roads, status and consumer goods, Vaughan moved like a messenger in his car“ (C 107). Die Autounfälle selbst finden im Rahmen einer ‚Gesellschaft des Spektakels‘ statt, wobei die Autobahnlandschaft als Bühne fungiert oder im Fall der von Vaughan inszenierten Stockcar-Rennen von vornherein der Zurschaustellung dient. Nicht nur sind Ballard und Vaughan immer wieder als Beobachter und Fotografen an den diversen Unfallstellen, jeder Unfall wird auch von zahlreichen Zuschauern beobachtet, die sich unmerklich, oft in unheimlicher Stille versammeln (z. B. C 21 f.); Gleiches gilt für die Mehrzahl der Kopulationsszenen, bei denen sich etwa Vaughan als fotografierender Voyeur zeigt (C 62) oder Passagiere eines vorbeifahrenden Busses oder eines im Landeanflug befindlichen Flugzeugs zu voyeuristischen Beobachtern einer Szene werden, die Ballard aus der Ich-Perspektive erzählt (z. B. C 55). Die Szenen im Institut für Unfallforschung, der neuen Arbeitsstelle von Dr. Helen Remington, deren Mann bei dem Frontalzusammenstoß mit Ballard ums Leben kam, zeigen diese Medialisierung des Unfallspektakels besonders deutlich. Hier finden unter Zuhilfenahme von verblüffend lebensechten Dummies, die Spitznamen wie Elvis oder James erhalten oder eine typische englische Kleinfamilie beim Sonntagsausflug darstellen sollen, Dreharbeiten zu einem Unfallverhütungsfilm statt, wobei Vaughan und seine Begleiter nicht nur von der Lebensechtheit der künstlichen Figuren, sondern auch den präzisen technischen Arrangements sexuell erregt werden; beim Ansehen eines Rohschnitts auf einem Kleinbildschirm (also der visuell reproduzierten Version des ohnehin simulierten Unfalls) versagt der Projektor, sodass die Zuschauer auf einen dunklen Bildschirm starren, auf dem lediglich ihre geisterhaften Gesichter zu sehen sind (C 122–128).23 Auch der im Roman fast ausschließlich im Wageninneren stattfindende Sex, wobei das Auto entweder in Bewegung ist oder stationär, sich auf dem Seitenstreifen oder in einem Parkhaus befindet, wird entweder von Vaughan fotografiert bzw. gefilmt oder aber von anderen Figuren (Ballard als Fahrer) bzw. sich versammelnden Zuschauern wahrgenommen, als sei er eigens für diesen voyeuristischen Blick inszeniert. Der sexuelle Verkehr, der sich mehr und mehr von den menschlichen Partnern auf die maschinelle Umgebung des Autoinneren und von den Genitalbereichen auf die Wunden und Narben zu verlagern scheint, schließt dabei, wie bereits angedeutet, vermeintliche Perversionen ein, aber er ist wie die Verkehrsunfälle, von denen er inspiriert ist, extrem stilisiert und ritualisiert. Auch hier wertet Ballard um bzw. verkehrt konventionelle Wertungen: Wunden und Narben sind Zeichen des Lebens, nicht des Todes, und der gewalttätige Akt zwischen Vaughan und Catherine, der ausgerechnet in einer Waschstraße stattfindet und den der Fahrer Ballard im Rückspiegel beobachtet, hat in dieser Hinsicht durchaus etwas Kathartisches. Der 23 Der Vergleich mit Mannequins und Dummies findet sich bereits in den Szenen von Ballards

Rehabilition im Unfallkrankenhaus (C 36–40).

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abschließende homosexuelle Akt zwischen Ballard und Vaughan, auf den ihre Doppelgängerbeziehung und die sexuelle Logik des Romans hinauslaufen, unterstreicht nochmals die im Wesentlichen narzisstische Sexualität der beiden, und das ‚male bonding‘ findet in und mithilfe der Wunschmaschine des Autos statt, wobei die Figur Ballard Vaughan und das Auto zu verwechseln scheint. Die zunehmende Ersetzbarkeit des einen durch den anderen und die deckungsgleiche Wunschprojektion wird auch dadurch hervorgehoben, dass Vaughan bei seiner Todesfahrt in Ballards Wagen unterwegs ist und man das Unfallopfer zuerst für Ballard hält. Aus der Unfähigkeit der Figuren, aus der Logik ihrer Wunschfantasien auszuscheren, ergibt sich eine weitere Verkehrung in Ballards Roman. Seinen Figuren ist mit einer klassischen psychoanalytischen Lesart nicht beizukommen. Freud hatte in Jenseits des Lustprinzips (1930) gerade am Beispiel von Unfallträumen die Bedeutung des Wiederholungszwangs herausgearbeitet. Auch in Ballards Roman gibt es zahlreiche Hinweise auf den Zusammenhang von Unfalltraum(a) und wie unter Zwang stattfindenden Wiederholungen. Nicht nur kreisen Ballard und seine jeweiligen Beifahrer immer wieder obsessiv auf den immer selben Schnellstraßen und Autobahnen in Flughafennähe, sondern Ballard und Helen kehren ständig an den Ort des Initialunfalls zurück, an dem sich auch immer Vaughan sehen lässt. Die Figur Ballard besteht weiterhin auf dem Kauf des gleichen Wagens wie des Unfallautos, wobei Modell, Baujahr, Farbe und Ausstattung identisch sein müssen. Ballard und Helen werfen immer wieder einen ebenso fixen wie fixierenden Blick auf den mal rollenden, mal ruhenden Straßenverkehr und ihre Sexualakte werden als wie unter Zwang stattfindende Rekapitulationen des Unfalltodes ihres Ehemanns beschrieben (z. B. C 82 f.). Als er seinen Firmenwagen gegen einen Mietwagen tauschen will, verfährt sich die Figur Ballard und landet auf dem Flughafenstrich (C 62), womit der Roman erneut die Analogie von Unfalltrauma und Sexualbegehren herausstellt. Ballards eigenes Verkehrsbegehren, auf schnelles Fahren und die dadurch höhere Unfallwahrscheinlichkeit angewiesen, wird des Öfteren durch Verkehrsstaus gehemmt, in denen er sich wiederfindet, angeblich ohne es beabsichtigt zu haben (C 105 u. ö.). Doch sind derartige Fehl-, Zwangs- und Wiederholungshandlungen in Ballards Roman nicht als Versuch zu verstehen, fehlende Angstbereitschaft nachzuholen oder das traumatisierte Individuum nachträglich zu heilen, sondern auf das systematische Unterfangen der Figuren bezogen, die Bedeutung der Verkehrsströme und der in ihnen enthaltenen potenziellen Unfälle zu begreifen, d. h. physisch-materiell zu erleben, anstatt nur intellektuell zu verstehen. Immer wieder sieht die Figur Ballard die Verkehrslandschaft als einen Code an, dessen Bedeutung sie nicht entziffern kann: „I was convinced that the key to this immense metallized landscape lay somewhere within these constant and unchanging traffic patterns.“ (C 65) Die pervertierte Art der Trauer- und Traumaarbeit am Verkehr und am Unfall in Ballards Roman dient damit nicht mehr, wie noch bei Freud, dem Verlust eines geliebten Menschen oder

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der nachträglichen Wappnung der individuellen Psyche, sondern verdeutlicht den strukturellen Wandel der Dingwelt unter dem entscheidenden Einfluss von Technologie und Medien. Walter Benjamin hat unter Bezug auf Freud und Simmel eine Parallele zwischen der Erfahrung des modernen Großstadtverkehrs und der Struktur des Films hergestellt; ihm zufolge basieren beide auf einer besonders tief greifenden Wahrnehmungsveränderung und entsprechen der modernen Situation der permanent „gesteigerten Lebensgefahr“, da sie als soziale und mediale Ausdrucks- und Erlebnisformen auf dem Bedürfnis beruhen, sich „Chockwirkungen“ und entsprechenden traumatischen Durcharbeitungen auszusetzen.24 Bei Ballard ist von dieser Parallelisierung von Verkehr und Medientechnik auf der Basis des Individualpsychologischen wenig zu spüren. Bei ihm steht der psychische Apparat von vornherein unter dem Einfluss der Verkehrs- und Medientechnologie; die zwanghaft wiederholten und ausgelebten Unfallfantasien steigern und beschleunigen die Erfahrung der permanenten, bis ins Extreme „gesteigerten Lebensgefahr“ dadurch, dass sie im Grunde aus nichts anderem als aus medialen Wunschbildern bestehen, die der Roman wiederum auf seine ‚verkehrte‘ Weise wörtlich nimmt. In Ballards Roman wird diese Situation dann als Suche nach einer „benevolent psychopathology“ (C 138) interpretiert, aber in einer weiteren Verkehrung der klassischen Psychoanalyse basiert diese Pathologie nicht auf dem Lust-, sondern dem Todestrieb. So ist an einer Stelle davon die Rede, dass die Autos so zu „devices for exploiting every pornographic and erotic possibility, every conceivable sex-death and mutilation“ (C 137). Aber auch diese Perversionen, die Kollision zwischen automobiler Hardware und psychischer Software, steht mit den nicht weniger zerstörerischen technischen und medialen Imperativen in Verbindung; im Roman durchdringen beide einander, ohne dass Ballard einem dieser Bereiche den Vorzug gäbe. Denn nicht nur Instrumententafel, Lenkradsäule und Gangschaltung hinterlassen beim Unfall in Form von Wunden und Narben ihre Inschrift auf dem menschlichen Körper, auch die technischen Reproduktionsmedien leisten dies: „I thought of being killed within this huge accumulation of fictions, finding my body marked with the imprint of a hundred television crime serials [...] which [...] would leave their last credit-lines in my skin.“ (C 60)25 Im Verkehrsunfall sieht der Roman also eine symbolische Kopulation aus Mensch, Maschine und Medien, wobei alle drei 24 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936).

In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg.v. Hermann Schweppenhäuser u. Rolf Tiedemann. Bd. I. Frankfurt a. M. 1973, S. 503. Vgl. auch ders.: Über einige Motive bei Baudelaire. Ebd. S. 613f., unter Anschluss an Freuds Theorie des Wiederholungstraums bei Kriegs- und Unfallneurosen. 25 An anderer Stelle werden physische Verwundungen bzw. Unfallfolgen als Teil einer semiotischen Übersetzung gedeutet, wodurch sich ein übergreifender gewalttätiger Zusammenhang ausdrücke („translation of wounds through the violence of aircraft and automobile crashes“, C 26 f.). Wunden werden zuweilen auch als fotografisches Abbild auf dem Körper beschrieben (C 38, 45), fungieren also als externalisierte Wunschbilder.

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vom Wunsch nach Zerstörung und Tod animiert werden. Das eigentümliche Unfallbegehren in Ballards Roman ist nicht mehr der Ausdruck eines irgendwie gearteten Mangels (Freud/Lacan), sondern geht eher in die Richtung von Deleuze/Guattaris Wunschmaschine, die Ballard wiederum eher buchstäblich aufzufassen scheint. Das Begehren wird hier als Assemblage aus Mensch, Maschine und Medien gezeigt, eine Assemblage, die heteronome Körper in ihren perversen Wunschmaschinen verkehren lässt bzw. sich im Falle des Unfalls als perverse Wunschmaschine in die gewalttätige Verkehrs- und Medientechnik einschreibt. Aber gerade in der Darstellung solcher Zeichen der Heteronomie nimmt Ballards Roman des Öfteren symbolische Überhöhungen vor, die auf den ersten Blick traditionell anmuten und daher in einer Spannung zu der ansonsten extrem stilisierten, emotionslosen Darstellung zu stehen scheinen. Ballard verwendet in seinem Roman auffallend viele religiöse Versatzstücke – die Autobahnunterführung und auch das Unfallkrankenhaus als Kathedrale (C 197, 26); das Unfallauto als Blut- bzw. Opferaltar; die Zuschauer des Unfallspektakels als eine sich in der Kirche versammelnde Gemeinde; Helen Remington als „demoted madonna“ (C 24) – und zwar mit so hoher Frequenz, dass sie mehr als Ironiesignale zu sein scheinen und eine Spannung zwischen dem Säkular-Faktischen und dem Transzendenten herstellen. In der Atrocity Exhibition hatte Ballard seiner Figur Vaughan Folgendes in den Mund gelegt: „In 20th-century terms, the crucifixion [...] would be re-enacted as a conceptual auto-­disaster.“26 In Crash werden die von den Unfällen verursachten Körperwunden zuweilen als Stigmata gedeutet, als sichtbare Zeichen eines neuen, jenseits der beschädigten Körper liegenden Sinns, den es zu entziffern gilt. Die Unfähigkeit der Figur Ballard, diese vermeintliche Geheimbotschaft zu entziffern, hat zur Folge, dass sich sein sexuelles Begehren gegen Ende des Romans auf die Unfallwunden und -narben anstatt die Genitalien richtet, so in der homosexuellen Szene mit Vaughan und explizit in der Szene mit der verkrüppelten Maschinenfrau Gabrielle, der Ehefrau des Stuntmans Seagrave, deren nach einem besonders folgenreichen Verkehrsunfall schwer lädierter Körper in einer grotesken Apparatur aus Prothesen und Metallzurüstungen steckt. Es scheint, als habe der Autor Ballard ein Diktum von Georges Bataille wörtlich genommen, der Genitalien als Wunden, die eitern, beschreibt.27 Bei dieser Verschiebung des sexuellen Begehrens geht es längst nicht mehr um menschliche Reproduktion, auch nicht um die surrealistische Lust an der Zersetzung, sondern eher um die endlose Wiederholung der Unfälle und das ebenso endlose, aber vergebliche Bemühen um die Entschlüsselung eines Sinns, der der Verkehrslandschaft und den in ihr stattfindenden zeichenhaften Ereignissen unterliegt, aber sich andauernd entzieht. Zuweilen allerdings scheinen die Wunden und ihre geheime Symbolik auf 26 J. G. Ballard: The Atrocity Exhibition. With Author’s Annotations. London 1993, S. 111. 27 Siehe hierzu Vidal, Death and Desire in Car Crash Culture, S. 148 und 153.

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so etwas wie Erlösung, auf das andere der technisch-medialen Welt zu verweisen. So wird die Wunde einmal als Öffnung beschrieben, die einen Blick auf die Hölle zulasse (C 192), ein anderes Mal als Leuchte, die den Weg ins Paradies weise (C 52). Auch die oft nekrophil anmutende Beschreibung der diversen Unfalltoten wird zuweilen symbolisch überhöht; vom Stuntman Seagrave heißt es etwa: „Seagrave’s slim and exhausted face was covered with shattered safety glass, as if his body were uneasily crystallizing, at last escaping this uneasy set of dimensions into a more beautiful universe.“ (C 185) Kurz darauf wird diese Auferstehungs- und Erlösungsfantasie ins Universale ausgedehnt: „In our wounds we celebrated the re-birth of those we had seen dying by the roadside and the imaginary wounds and postures of the millions yet to die.“ (C 203) Mit solchen Bildern und Stilisierungen bezieht sich der Roman auf die christliche Heilsgeschichte, um sie zu pervertieren. An derartig verkehrte Auferstehungs- und Himmelfahrtsfantasien bindet der Roman auch die Übergänge vom Auto- zum Flugverkehr, von der Straße in die Luft, der Horizontalen in die Vertikale. Ballards Beschreibung bzw. Vision der Szenerie kurz nach Vaughans Unfalltod scheint von einer pervertierten christlichen Rhetorik geprägt: „In the evening light the white concrete of the collision corridor below the flyover resembled a secret airstrip from which mysterious machines would take off into a metallized sky. Vaughan’s glass aeroplane flew somewhere above the heads of the bored spectators moving back to their cars“ (C 18). Es scheint, als bildeten der Flughafen mit seinen autobahnähnlichen Start- und Landebahnen und das Abheben vom Boden das geheime Zentrum der supermodernen Verkehrslandschaft. Die oben angesprochene „benevolent psychopathology“ scheint nicht nur im kollektiven Autoverkehr auf, sondern auch im Flugverkehr: „For the first time, a benevolent psychopathology beckoned towards us, enshrined in the tens of thou­ sands of vehicles moving down the highways, in the jetliners lifting over our heads“ (C 138). Das Umschwenken von der Horizontalen in die Vertikale, von der Straße in die Luft bedeutet auch ein Ausscheren aus dem wie unter Zwang verlaufenden permanenten Kreisen und Zirkulieren auf der Autobahn. Auch gegen Ende des Romans wird, wiederum aus der Perspektive des vom Balkon blickenden Ballard, eine Entsprechung zwischen den von der Startbahn aufsteigenden Flugzeugen und dem fließenden Verkehr auf den Autobahnen hergestellt, wobei die Erinnerung an vergangene Staus immer noch die Möglichkeit einer Transzendierung der technischen Verkehrswelt zu enthalten scheint: The memories of the beautiful vehicles I had seen soaring down the concrete lanes transformed these once-oppressive jams and tail-backs into an endless illuminated queue, patiently waiting for some invisible slip-road into the sky. From the balcony of my apartment I hazed across the landscape below, trying to find this paradisal incline, a mile-wide gradient supported on the shoulders of two archangelic figures, on to which all the traffic in the world might flow. (C 208)

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Hier verwandelt der Figurenblick die Autobahn in einen unsichtbaren Zubringer in den Himmel („invisible slip road into the sky“), imaginiert und visualisiert also das andere des ewig zirkulierenden Verkehrs. Aber diese ins Bild gesetzte Flug- und Erlösungsfantasie hat kaum etwas Transzendentes an sich, sondern ist eher eine Kontrafaktur von Transzendenz. Gegen Ende des Romans nimmt die Figur Ballard Vaughans Tod als Beginn eines Luftkarnevals wahr, in dem die Autos von den Fahrbahnen abzuheben und sich in die Luft zu schwingen scheinen (C 199). Während Bachtin den Karneval als eine sozial sanktionierte, spielerische, aber nur kurzfristige Umkehrung sozialer Machtverhältnisse begreift und in seiner Theorie des Karnevalesken auf die produktive Rolle der ‚verkehrten‘ Imagination bei der Erneuerung einer oft stagnierenden Kultur abhebt, ist bei Ballards Luftkarneval von sozialer Erneuerung durch produktive Verkehrung wenig zu spüren. Das Abheben, Auffliegen, auch schon auf dem „flyover“ der mehrspurigen Schnellstraße, hat etwas Fatales und Finales, ist eher ein Flug in den Tod, wie er von Vaughan, dem „nightmare angel of the expressways“ (C 84) und den in seinen Bann geratenen Figuren gesucht wird. Von Ferne wirkt hierbei sicherlich auch Freuds klassische Deutung von Flugträumen als Freisetzung sexueller Energie nach, aber wiederum ist Ballards literarisches Prinzip der ‚Realisierung‘ bzw. des verkehrten Beim-Wort-Nehmens solcher inneren Wunschbilder erkennbar. Zu den symbolischen Überschreibungen von Autobahn und Verkehr in Crash gehören auch, wie es in dem ein oder anderen Zitat bereits anklang, apokalyptische Visionen. Ballards Roman folgt darin einer Reihe literarischer Unfalltexte und -visionen der klassischen Moderne,28 aber die Bezüge zur Apokalypse sind hier anders funktionalisiert. Die Figur Ballard hat bei einem ihrer Blicke vom Balkon die Vision einer Apokalypse, eines „autogeddon“, eines „end of the world by automobile“, sodass die Landschaft als „disaster area“ erscheint, was aber dadurch konterkariert wird, dass er am Steuer eines Mietwagens Breughel und Bosch zu erkennen wähnt (C 49 f.). Ballard sucht Vaughans Rolle in einer polymorph-perversen Auto- und Unfallutopie wie folgt zu bestimmen: „In this overlit realm ruled by violence and technology he was now driving for ever at a hundred miles an hour along an empty motorway, past deserted filling stations on the edges of wide fields, waiting for a single oncoming car. In his mind Vaughan saw the whole world dying in a simultaneous automobile disaster, millions of vehicles hurled together in a terminal congress of spurting loins and engine coolant.“ (C 16) Aber diese Vision der Autobahn als infernalischer Höllenlandschaft wird gegen Ende von ihrem Gegenteil überformt: Einen massiven Verkehrsstau auf allen Autobahnen und Zubringern nimmt die Figur Ballard als Stille und Stillstand wahr; die Autobahnüberund -unterführungen erscheinen als riesige Kraterwände, die die insektenartigen Autos bedrohen, wobei der Icherzähler sich zum messianischen Erlöser stilisiert: 28 Vgl. den bereits oben erwähnen Aufsatz von Sorg und Angele, der sich u. a. auf Texte von

Brecht, Ehrenburg, Döblin, Fitzgerald, Hesse und Musil bezieht.

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I had the sudden impression that the world had stopped. The wounds on my knees and chest were beacons tuned to a series of beckoning transmitters, carrying the signals, unknown to myself, which would unlock this immense stasis and free these drivers for the real destinations set for their vehicles, the paradises of the electric highway. (C 53)29

Der Verkehrsstau erscheint hier als die säkularisierte Version eines mystischen nunc stans, als messianischer Augenblick, der einen Moment wenigstens eine andere Pers­ pektive auf die unter dem Zeichen des Todestriebs stehende technische Welt bietet. Mit dem Wort „beacon“ allerdings, das „Leuchtfeuer“ bedeutet, wird eine archaische, vormoderne Kommunikationstechnik zitiert, sodass sich Ballards surreale Nebeneinanderstellung von Archaischem und Modernem als Bild einer Verkehrsdialektik im Stillstand bezeichnen ließe. Ballards Roman ist von Grund auf und auf allen Ebenen vom „allseitigen Verkehr“ geprägt, um Marx’ griffige Formulierung von der strukturellen Besonderheit der kapitalistischen Moderne aufzugreifen.30 Dieser allseitige Verkehr zeigt sich in der symbolischen und rhetorischen Anlage des Romans – als Verkehrsroman, der den technischen, psychosexuellen und medialen Verkehr einer übermächtigen Dingwelt darstellt, in der die einzelnen Figuren enthumanisiert und affektlos erscheinen, einen allseitigen Verkehr, der scheinbar ausschließlich im Zeichen des ‚death drive‘ steht, des Todestriebs und der Todesfahrt. Ballards Mythologie des Verkehrs und der Autobahn scheint mir damit in einem etwas größeren Zusammenhang zu stehen als nur dem der literarischen Postmoderne, wie ihn zahlreiche Beobachter u. a. im Anschluss an Jean Baudrillards Interpretation von Crash abrufen.31 In Baudrillards Lesart erscheint Ballards Text als amoralischer und antipsychologischer Roman, der die traditionell individualistischen Parameter der Gattung dadurch überschreite, dass er das Prinzip der Hyperrealität illustriere, einer engen Verschlingung von Wirklichkeit und ihrer medientechnischen Simulation, die Baudrillard vor allem in Ballards Konzentration auf die Materialität von Auto, Körper, Verkehr und Tod und der daraus resultierenden Abwesenheit von psychologischen Phantasmen und Metaphern ausmacht. 29 In einer Parallelstelle wird der Stau als Energieverschwendung in geradezu kosmischem Aus-

maß beschrieben, ein Vergleich, der an Bataille erinnert (C 151). – Der Roman bringt zahlreiche weitere Vergeiche zwischen Auto(bahn) und naturgeschichtlichen Phänomenen. So werden einmal die Autos mit Insektenpanzern verglichen, die sich wie „the welcoming centaurs of some Arcadian land“ über die Autobahnen bewegen (C 166). An einer anderen Stelle erscheint die Verkehrslandschaft als archaische, von Meerestieren und Amphibien bevölkerte Naturlandschaft (C 196). Zum Verhältnis von Archaik und verkehrstechnischer Moderne vgl. auch Christophe Frickers Beitrag zu Ernst Jünger im vorliegenden Band. 30 Karl Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner 2002, S. 528. 31 Jean Baudrillard, Crash, in: ders., Simulacra and Simulations, übers. v. Sheila Faria Glaser, Ann Arbor: University of Michigan Press 1991, S. 111–129.

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Dagegen möchte ich den Vorschlag machen, mit Blick auf Crash die metaphorische Dimension von Verkehr, Unfall und Todestrieb nicht außer Acht zu lassen. Wie wir sahen, ergeht sich Ballard durchaus in bildlicher Sprache, verwendet rhetorische Tropen (im Wortsinne: Wendungen) und andere Mittel, um die Grundfigur der Verkehrung des Verkehrs zu unterstreichen. Mein Vorschlag läuft darauf hinaus, diese metaphorische Dimension mit ihren Anspielungen auf eine mögliche Transzendenz ernst zu nehmen, aber etwas anders zu konstruieren. Diese metaphorische Dimension scheint mir durchaus dialektisch angelegt zu sein. Wenn man die These akzeptiert, dass es in Crash nicht um Sex und Begehren, sondern um Tod, den ‚death-drive‘ geht, dann wird man die inhaltlichen und strukturellen Verkehrungen des Sex als einen untergeordneten Aspekt sehen müssen, als äußeres Zeichen einer fundamentalen Logik der Macht und der Unterdrückung, als Vorwand, dessen sich die technische Zivilisation bedient, um dem Einzelnen die Illusion der Freiheit zu vermitteln. Diese dann ideologiekritische Absicht (wie verhalten oder vermittelt auch immer) könnte man mit Ballards Mythologie der Autobahn, des Verkehrs in Verbindung bringen, wobei ich mit dem Stichwort „Mythologie“ bewusst auf die deutsche Frühromantik und den französischen Surrealismus anspiele.32 Hier wird Mythologie als eine progressive Antwort auf die Dynamik der philosophischen und gesellschaftlichen Moderne konzipiert, die dem abstrakten, um den Vernunftbegriff zentrierten Denken das Medium des bildlichen Denkens entgegensetzt. Friedrich Schlegel etwa spricht von Arabeske und Allegorie; Louis Aragon skizziert im Paysan de Paris (1926) die surrealistische Poetik des Wunderbaren, eine durch plötzlich aufscheinende Bilder produzierte Verschiebung oder Perversion der technisch und medial produzierten Alltagswelt, die diese als Vexierbild entziffern kann. In Ballards Mythologie der Autobahn, die sich dem Roman Crash und den eingangs zitierten Statements über Auto(bahn) und Verkehr ablesen lässt, steckt eine Art bildliches Denken der Autobahn als Emblem des 20. Jahrhunderts. Die rhetorischen und symbolischen Verkehrungen, die Ballards Verkehrsroman vornimmt, dienen nicht dazu, die Moderne vernünftig, mit rationalen Mitteln zu bewältigen, sondern sie unvernünftig, poetisch, durch eine ‚verkehrende‘ Bildproduktion zu unterlaufen. Das Bild vom universalen Unfalltod (C 203) ist ein irrationales, fantastisches Bild, mit dem Ballard einen ganz anderen Blick auf die vermeintlich vernünftige Welt und den Alleinherrschaftsanspruch der technischen Zivilisation werfen kann. 32 Die geistes- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge sind zu komplex, als dass sie sich

hier erörtern lassen; ich verweise lediglich auf Karlheinz Bohrer: Deutscher Surrealismus? In: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Friederike Reents. Berlin / New York 2009, S. 241–248. Auf Ballards Verhältnis zum Surrealismus, v. a. zur bildenden Kunst, wird immer wieder hingewiesen, zuletzt und auf gutem Niveau von Jeanette Baxter: J. G. Ballard’s Surrealist Imagination. Spectacular Authorship, Farnham 2009.

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Von Ballards eigenwilliger Mythologie der Autobahn aus den 70er-Jahren führt ein direkter Weg in die Autobahn- und Verkehrsimaginationen der britischen Gegenwartsliteratur. Diese Imaginationen sind nach wie vor von der Erfahrung einer tief greifenden Krise der technischen Zivilisation geprägt, aber sie konzentrieren sich auf zwei Aspekte, die bei Ballard angelegt waren, aber eher abseits lagen: die Autobahn als historisch-archäologischer Gegenstand, womit die Dynamik der Moderne bzw. Postmoderne in den Blick rückt, und die Autobahn als poetologische Metapher bzw. Movens. Der 1961 geborene Autor Will Self, der in einem Interview mit Ballard die „proleptic quality“ von dessen Werk aus den 60er- und frühen 70er-Jahren als „anticipation of England as a motorway-dominated culture“ bezeichnet hat,33 setzt sich mit dieser Kultur auf zweifache Weise auseinander. In seinen frühen, satirischen, von Swift herkommenden Romanen und Erzählungen ist die Autobahn bzw. das Fahren auf ihr Teil eines literarischen Verfahrens, mit dem der Autor immer wieder Raum und Zeit komprimiert, die vertraute englische Landschaft in eine ironische Beziehung zur motorisierten Gegenwart setzt und so die Konventionen des realistischen Romans unterläuft; in neueren Texten präsentiert sich Self als wandernder Topograf, der u. a. auch an Autobahnen entlangwandert, um auf diese Weise ein Gespür für die räumlichen Dimensionen und die Peripherien moderner Zivilisationslandschaften zu bekommen.34 Mit diesem Verzicht auf technische Automobilität steht er Iain Sinclair (geb. 1943) nahe, dessen Werk den situationistischen Dérive mit historischen Reflexionen zu kulturellen Orten verbindet. Sinclairs konzeptuelles Buch London Orbital (2002) enthält dokumentarische Aufzeichnungen von Expeditionen entlang der M25, der 200 km langen, in weitem Bogen um London herumführenden Ringautobahn. Sinclair entziffert das von der M25 markierte Gebiet als vielfach überschriebenes geokulturelles Palimpsest, als soziale Konflikt- und Grenzzone, die stellvertretend für die postindustrielle Conditio Britannica und die Abschottung Londons vom Rest des Landes steht.35 Neben diesen 33 Self, Junk Mail, S. 332. 34 Stellvertretend für die erste Tendenz: Will Self: Grey Area. London 1994, und ders.: Tough

Tough Toys for Tough, Tough Boys. London 1998; für die neuere Tendenz: ders.: Psychogeography. London 2007, und ders.: Walking to Hollywood. London / Berlin 2010. Vgl. auch Selfs Essay Mad About Motorways. In: ders., Junk Mail, S. 129–133; weitere Details unter Eingabe des Suchbegriffs „motorway“ auf der Internetseite des Autors: www.willself.com. 35 Zur Entstehung von London Orbital siehe Sinclairs Interview mit Simon Sellars, http://www. ballardian.com/iain-sinclair-when-in-doubt-quote-ballard [Zugang 10.04.2013]. Siehe auch den gleichnamigen Film, den Sinclair mit Chris Petit drehte (2004). Petit ist Regisseur eines beeindruckenden, von Wim Wenders produzierten britischen Roadmovie mit dem Titel Radio On (1979), in dem u. a. eine Autobahnfahrt von London am Flughafen Heathrow vorbei inszeniert wird. Von Ballard inspirierte Autobahnimaginationen finden sich bei dem Filmemacher und Autor Patrick Keiller (geb. 1950), v. a. in den Filmen Robinson in Space (1997) und Robinson in Ruins (2010), die sich mit den Veränderungen der englischen Stadt-, Industrie- und Naturlandschaften im Zeitalter der Globalisierung befassen.

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beiden Autoren, die sich unter explizitem Bezug auf Ballard intensiv mit der postautomobilen Autobahn befassen, gibt es eine weitere Tendenz, die vorwiegend von Poeten und bildenden Künstlern vertreten wird. Wie bei Self und Sinclair gilt die Autobahn als wichtiger Faktor einer veränderten Erfahrung von Raum und Zeit, aber sie erscheint diesen Dichtern als ein so noch nicht da gewesener wilder Ort an den Rändern der Gegenwart, an dem sich Natur und Zivilisation neu zusammensetzen und für den eine genaue Sprache erst zu finden ist.36 Mit diesen Tendenzen scheint die britische Gegenwartsliteratur, nach Ballards furioser und eigenwilliger Autobahnmythologie der 70er-Jahre, dann doch Anschluss an breitere Entwicklungen in den europäischen Literaturen gewonnen zu haben. Im Nachhinein kann man dies als Bestätigung einer Ansicht Ballards ansehen, der in einem Interview ausgerechnet zur Autobahnmetapher gegriffen hat, um den Status der britischen Kultur nach dem gescheiterten Aufbruch der 60er-Jahre zu beschreiben: „Now we are a northern turn-off, a slip-road off the northern end of the great European motorway.“37  Kapitelendet

36 Ein Beispiel hierfür ist ein neueres Buch der Poeten Paul Farley und Michael Symmons Roberts:

Edgelands. Journeys into England’s True Wilderness. London 2011. Vgl. auch den Bild-TextBand: In the Company of Ghosts. The Poetics of the Motorway. Hg. v. Edward Chell / Andrew Taylor / Alan Corkish. O. O. 2012, eine Kollaboration bildender Künstler und Schriftsteller, an der u. a. Iain Sinclair mitwirkte. 37 Will Self: Conversations: J. G. Ballard. In: ders., Junk Mail, S. 340.

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Die Autobahn als literarischer Spielplatz · Julio Cortázars und Carol Dunlops Autonauten auf der Kosmobahn

1 „Es war einmal ein Wolf und eine kleine Bärin, die auf einem Drachen ritten und einer Schlange folgten…“ So ließe sich der Plot der Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris–Marseille aus dem Jahr 1983 zwar höchst schematisch und in aller Kürze, aber durchaus mit dem Vokabular des Autorenpaares umreißen – des Argentiniers Julio Cortázar (1914–1984) und seiner zweiten Frau, der Kanadierin Carol Dunlop (1946–1982).1 Mit diesem ungewöhnlichen Anfang möchte ich das Spielerische als das prägendste Merkmal dieses schwer zu klassifizierenden Buchs hervorheben, das weder ein Abenteuer- noch ein Liebesroman, weder eine Geschichtensammlung noch ein Reisebericht im eigentlichen Sinne ist, sondern ein heterogenes, experimentelles Textmosaik,2 das doch Züge all dieser Textsorten trägt und zugleich als Ganzes etwas mehr leistet als die Summe der einzelnen Mosaiksteinchen.3 Die Autonauten auf der Kosmobahn ist – typisch für Cortázar,

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Das Paar lernte sich 1977 im Rahmen eines Schriftstellertreffens in Montreal kennen. Zu Cortázars Leben vgl. Mario Goloboff: Julio Cortázar. La biografía. Buenos Aires 1998. Konkret zu den fünf Jahren des Zusammenlebens in Paris, mit mehreren Reisen nach Lateinamerika wegen des starken politischen Engagements, insbesondere in Nicaragua, und zur schweren Zeit Cortázars nach Carols Tod vgl. Miguel Herráez: Julio Cortázar, una biografía revisada. Barcelona 2011, S. 296–321. Cortázar verwendet selbst diesen Begriff in einem während der Expedition an Guillermo Schavelzon adressierten Brief, er strebe ein „Mosaik mit Humor und Augenzwinkern in alle Richtungen“ an. In: Julio Cortázar: Cartas 1977–1984. Hg. von Aurora Bernárdez / Carles Álvarez Garriga ( Julio Cortázar. Cartas 5). Buenos Aires 2012, S. 487 (Übersetzung H. C.). In einem Brief an José Antonio Sánchez berichtet Cortázar von dem Plan, dass jeder für sich seine Texte schreibt, die später in einem Prozess von Abgleich, Kritik und Collage zu einem Buch montiert werden sollen (ebd. S. 482). Julio Cortázar / Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Eine zeitlose Reise Paris– Marseille. Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt a. M. 1996. Der Originaltitel lautet Los autonautas de la cosmopista. Un viaje atemporal Paris–Marsella in der spanischen, bei Muchnik erschienenen Ausgabe und Les autonautes de la cosmoroute ou un voyage intemporel Paris–Marseille in der parallel bei Gallimard erschienenen französischen Ausgabe.

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der sich selbst als homo ludens definiert4 und der laut Vargas Llosa wie kein anderer Schriftsteller vor ihm dem Spiel eine literarische Würde verliehen und es zum Werkzeug des poetischen Schaffens und Erkundens erhoben habe5 – ein Spiel mit literarischen Formen und Quellen, ein Spiel mit dem eigenen Werk und der eigenen Biografie, ein Spiel mit der Sprache und den Namen.6 Das literarische Spiel der Autonauten auf der Kosmobahn geht auf ein außerliterarisches zurück – das Spiel, das zwei Liebende auf der Autobahn und mit der Autobahn während einer „etwas verrückten und ziemlich surrealistischen Expedition“7 spielen: die gemeinsame Fahrt des Wolfes, alias Julio (Cortázar), und der kleinen Bärin,8 alias Carol (Dunlop),9 auf einem Drachen namens Fafnir, einem „rollende[n] Haus oder Schneckengehäuse, das meine hartnäckigen wagnerianischen Vorlieben als Drachen definiert haben, ein roter Volkswagen mit einem Wassertank und einer Sitzbank, aus der 4

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Cortázar selbst hat in mehreren Gesprächen betont, dass sein Kinderanteil groß und daher die Bedeutung des Spiels für sein Leben und sein literarisches Werk so groß sei, vgl. Ernesto González Bermejo: Revelaciones de un cronopio. Conversaciones con Cortázar. Montevideo 1986, S. 37 f. und S. 111 f. Vgl. dazu auch Saúl Yurkievich: Julio Cortázar: mundos y modos. Madrid 1994, S. 277. Vargas Llosa spricht sogar von einem vielfachen Spiel, „denn in Cortázars Büchern spielt der Autor, spielt der Erzähler, spielen die Figuren und spielt sogar der Leser, der von den teuflischen Fallen, die auf jeder unscheinbaren Seite lauern, selbst zum Spiel gezwungen wird“. Mario Vargas Llosa: La trompeta de Deyá. In: Julio Cortázar: Cuentos completos. 2 Bde. Madrid 2010, S. 13–24, hier S. 16 (Übersetzung H. C.). Die Metaliteratur und die Selbstreflexion sind ein wesentlicher Bestandteil der Faszination für die Person und den Autor Julio Cortázar, so tauchten 25 Jahren nach seinem Tod vier Selbstinterviews im Nachlass auf, zwei davon werden von den fiktiven Figuren Calac und Polanco geführt, die in Die Autonauten auf der Kosmobahn auftauchen (s. u.), vgl. Julio Cortázar: Papeles inesperados. Hg. von Aurora Bernárdez / Carles Álvarez Garriga. Madrid 2009, bes. S. 441–470. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 13. Bereits in einem während der Reise geschriebenen Brief an Eduardo Jonquières greift Cortázar auf diesen Begriff zurück, um diese Expedition zu beschreiben. Er erklärt dem Adressaten die Spielregeln, „damit Du uns zwar für verrückt hältst, aber wissenschaftlich verrückt und somit auch anerkennenswert“. In: Julio Cortázar (Anm. 2), S. 483 (Übersetzung H. C.). Wilfried Böhringer übersetzt die Bezeichnung „osita“ mit „Bärchen“, ich ziehe hier „kleine Bärin“ vor, um das feminine Genus beizubehalten, das mit dem Gebrauch des deutschen Diminutivsuffixes verloren geht. Die Identifikation zwischen den fiktiven Autoren (Wolf, kleine Bärin) und den realen Autoren ( Julio, Carol) sowie das Auftreten von Julio Cortázar im ‚Postskriptum‘ als Herausgeber, der die Materialien von Carol überarbeitet bzw. sortiert hat, bewirkt in diesem Buch ein durchgängiges Bewusstwerden des Schreibakts – als Spiel. Vgl. María Dolores Blanco Arnejo: La novela lúdica experimental de Julio Cortázar. Madrid 1996, S. 184ff. Die Autorin deutet Die Autonauten auf der Kosmobahn als Gegenbeispiel für das Verschwinden oder den Tod des Autors.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

ein Bett wird“,10 auf der „Strecke Paris-Marseille […], ohne ein einziges Mal die Autobahn zu verlassen“11 und alle „Rastplätze [zu] erforschen, und zwar jeweils zwei pro Tag“,12 zwischen dem 23. Mai und dem 23. Juni 1982. Die zunächst angebliche Protagonistin der Geschichte, die Autobahn Paris–Marseille, wird wiederholt von den Autonauten mit der Metapher der Schlange codiert. Im Fokus dieses Beitrags soll nicht so sehr das von der Cortázar-Forschung intensiv untersuchte Element des Spiels als Leitmotiv seines Œuvres stehen,13 sondern vielmehr die Konsequenzen dieser intensiven 32-tägigen Autobahn-Erfahrung und die Auswirkung dieses Spiels auf die veränderte Wahrnehmung der Autobahn und auf die Metaphorik der Autobahn. Nach dieser allgemeinen Einführung soll auf die Struktur und auf die besonderen Merkmale der Autonauten auf der Kosmobahn eingegangen werden (II), um dann ausführlich die aus der höchst eigenwilligen Fahrweise sich ergebende Metaphorik der Autobahn zu erläutern (III): Die Autonauten – Julio, Carol und ihr VW-Bus Fafnir – setzen das bekannte Verhältnis von Zeit und Raum außer Kraft und unterlaufen die Konventionen der Institution Autobahn dermaßen, dass sie ihre ursprüngliche Funktion verliert und dadurch eine neue Dimension erlangt, indem sie zum literarisierten Spielplatz der Liebe wird. Durch die Verschiebung des Raum-Zeit-Gefüges stellen die Autonauten in der von ihnen entworfenen Phänomenologie der französischen Autobahnen zwei Veränderungen fest, die der Autobahn selbst und die der Menschen auf der Autobahn. Darauf folgt ein kurzes Fazit (IV).

2 Der Anstoß für die Expedition lässt sich auf den Sommer 1978 datieren, als Carol Dunlop in der Provence schwer krank bzw. in der Terminologie der Autonauten von 10 Vgl. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 18 ff., hier S. 18. Ein berühmtes Beispiel für Cortázars

ausgefallene Namensgebung ist der Kater Theodor W. Adorno in der Reise um den Tag in 80 ­Welten, in der die Grenzen zwischen Fiktum und Faktum konsequent verwischt, literarische und ­musikalische Vorbilder gepriesen und poetologische Fragen aufgeworfen werden. Julio Cortázar: Reise um den Tag in 80 Welten / Letzte Runde. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Frankfurt a. M. 2004, hier S. 17ff. 11 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 36. 12 Ebd. 13 Dazu: Lo lúdico y lo fantástico en la obra de Cortázar. 2 Bde. Madrid 1986; Blanco Arnejo (Anm. 9), zu den Autonauten bes. 175–214; Jaime Alazraki: Cortázar. Annäherungen an sein Werk. Hg., a. d. Span. übersetzt und eingeleitet von Erik Hirsch. Frankfurt a. M. 2009, bes. S. 89–102. Alazraki erklärt Cortázars Konzeption des Spiels als „Bruch mit den alltäglichen Zwängen“ (ebd. S. 94) mithilfe des kulturwissenschaftlichen Modells Johan Huizingas (Homo ludens) und des soziologischen Modells von Roger Caillois (Les jeux et les hommes). Das Spiel ermögliche die für Die Autonauten auf der Kosmobahn prägende Umstellung der Zeit- und Raumwahrnehmung (ebd. S. 249–261).

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„Dämonen“ heimgesucht wurde14 – dabei handelte es sich um die chronische Krankheit, die in wenigen Jahren zu ihrem frühen Tod, noch vor der Veröffentlichung der Autonauten auf der Kosmobahn, führte.15 Als das Paar wieder einigermaßen gesund wurde und nach Paris zurückfuhr, ließ es sich dabei reichlich Zeit. Im Abschnitt ‚Wie geniale Ideen entstehen‘16 wird berichtet, wie die Protagonisten zu der Idee der Reise auf einem Rastplatz gekommen sind: „Ist das gemütlich hier“, sagte der Wolf und schlürfte seinen Whisky. „Wir könnten in diesem Rhythmus weiterfahren, wie die Reisenden in den Postkutschen.“ „Und an jedem Rastplatz einen langen Halt machen...“ „Wir könnten jeden Tag auf einem anderen Parkplatz wohnen, fernab der Welt, stell dir vor, und auf diesem Monstrum der Geschwindigkeit in aller Freiheit eine Erholungskreuzfahrt machen...“ „Und ohne Telephon!“ rief der Wolf aus, der bekanntlich an akuter Telephonphobie leidet. Niemand würde uns finden können. ([…] Auf der Autobahn […] würde auch jemand, der uns zufällig erkennt […] nie auf den Gedanken kommen, wir seien auf der Autobahn. Ganz im Gegenteil, er könnte unserer Sache dienen und alle Dämonen auf eine falsche Fährte schicken […]. Wer könnte denn vermuten, daß wir auf dem Weg nach nirgendwo sind?) „Ja“, sagte der Wolf, „aber man müßte das Ganze sehr wissenschaftlich angehen.“ „Ein Reisetagebuch. Wie früher die Forschungsreisenden.“ „Stell dir vor! Jeden Rastplatz beschreiben, die Abenteuer, die man dort erlebt, die Leute, die vorbeikommen.“ „Praktisch eine ganz andere Autobahn.“17 14 Vgl. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 25–29. Cortázar wurde ebenfalls im Spätsommer 1981 von

den „Dämonen“ heimgesucht, ebd. S. 40.

15 Die Idee, dieses Buch gemeinsam und in zwei Sprachen zu schreiben, entstand im August

1981. Cortázar berichtet Laure Guille-Bataillon in einem Brief vom 9. August 1981 von diesem Plan: „Die Idee scheint verrückt und dumm, aber wir stellen uns gerne vor, dass keiner wissen wird, wo wir uns aufhalten werden, und dass wir viel lesen und schreiben werden […]. Du darfst gerne lachen.“ In: Julio Cortázar (Anm. 2), S. 386 (Übersetzung H. C.). Die Arbeitstitel lauteten „Marseille-Paris par petits parkings“ bzw. „París-Marsella en pequeñas etapas“. Nach der Expedition im Juli 1982 war das Paar in Nicaragua mit Carols Sohn, der Zeichnungen für Die Autonauten auf der Kosmobahn beisteuerte. Die Reise musste abgebrochen werden, als Carol schwer erkrankte. Cortázars Briefe drücken ab September 1982 seine zunehmende Verzweiflung angesichts von Carols Krankheit aus (ebd., S. 506–525). Sie starb an einer Aplasie des Rückenmarks am 2. November. Nach ihrem Tod half ihm die Arbeit an den Fahnen und Korrekturen der Autonauten, um diese schwierige Zeit zu überstehen. Vgl. Herráez (Anm. 1), S. 313–319. In den Briefen nach Carols Tod stellt Cortázar die Arbeit an den Autonauten als therapeutische Maßnahme und den Plan, Carols Erzählungen ins Spanische zu übersetzen, als seine letzte Lebensaufgabe und zugleich als Hommage an seine Frau dar. Vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 539, 580f., 583, 586, 604, 616. 16 Vgl. Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 31–35. 17 Ebd. S. 32 f.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

Das hier aufgezeichnete Gespräch – diese Stelle ist für den humoristischen Ton und die Verschränkung von autobiografischem und fiktivem Schreiben in den Autonauten exemplarisch – beinhaltet bereits ein für Cortázars Poetik zentrales Moment, den Zwischenraum. In diesem Fall erfinden die Autonauten keinen neuen Raum, mit ihrem Spiel besetzen sie einen bereits existierenden neu und schaffen sich einen Zwischenraum, ein Interstitium.18 Erst in diesem Zwischenraum kann der Alltag ausgeblendet werden. Denn im Verlauf der Expedition wird immer deutlicher, dass weder der Ausgangs- noch der Zielpunkt (Paris und Marseille) von Bedeutung sind, sondern der Zwischenraum, die Autobahn. Ein Zwischenraum außerhalb der Zeit, ohne Post und ohne Telefon, der durch das enge Zusammenleben im „Schneckengehäuse“ des VW-Busses eine eindringliche Erfahrung der Freundschaft und der Liebe – und nicht zuletzt eine Flucht vor den Dämonen der Krankheit ermöglicht. Tatsächlich schwingt im ganzen Buch der biografische Hintergrund der schweren Krankheit Carols dermaßen mit, dass sich diese doppelte – faktische wie fiktionale – Reise als ein faszinierendes Zusammenspiel von Eros und Thanatos verstehen lässt.19 In den ersten Textstücken werden die logistischen Vorbereitungen für die Expedition geschildert: Proviant – neben Lebensmitteln brauchen die Autonauten Whisky und Wein „im Überfluß“20 – muss angeschafft und verstaut, das Arbeitsmaterial (neben der Kamera zwei Schreibmaschinen und zahlreiche Hefte), Bücher und Kassetten müssen ebenfalls für die Reise ausgewählt und sortiert werden. Außerdem sollen Freunde aus Paris bzw. aus der Provence die Autonauten jeweils ein Mal auf einem bestimmten Rastplatz besuchen, um sie mit frischen Produkten zu versorgen.21 An dieser Stelle wird erneut das ironische Spiel mit den literarischen Vorbildern manifest. Denn dieser Nachschub ist insofern wichtig, als aus der klassischen Reiseliteratur – Julio führt ein Zitat aus Cooks Tagebüchern an – bestens bekannt ist, dass auf auf einer so langen und gefährlichen Expedition in terra incognita Krankheiten wie Gelbfieber, Malaria und Skorbut lauern könnten.22 18 Vgl. die an Foucaults Diskursanalyse angelehnte Arbeit von Mary Mac-Millan: El intersticio

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como fundamento poético en la obra de Julio Cortázar (Hispano-Americana. Geschichte, Sprache, Literatur 36). Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005, bes. S. 138–146. Vgl. Omar Prego: Carol Dunlop – Julio Cortázar. Juegos para vivir y para soñar. In: Julio Cortázar al término del polvo y el sudor. Montevideo 1987, S. 232–241, bes. S. 237. Die Autonauten auf der Kosmobahn gewähren Einblicke in Cortázars Leben und Leidenschaften, wie Musik oder bildende Kunst, mit denen er laut eigenen Aussagen mehr Zeit verbrachte als mit der Literatur – er schreibe zwar gerne, die Literatur sei aber nur ein Teil seines Lebens, nicht mehr und nicht weniger, denn er verstehe sich als Amateur- und nicht als Profischriftsteller. Vgl. Omar Prego: La fascinación de las palabras. Conversaciones con Julio Cortázar. Barcelona 1985, S. 185ff. Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 45. Vgl. ebd., S. 37–41. Vgl. ebd., S. 43–46.

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Die Expeditionsteilnehmer einigen sich auf vier grundsätzliche Spielregeln – sie können jedoch nicht mit letzter Konsequenz vorhersehen, wie sich diese Regeln allmählich auf die Wahrnehmung der Autobahn auswirken werden. Die Auflistung der Spielregeln für die Expedition erinnert an charakteristische Elemente von Cortázars Werk, wie den berühmt-berüchtigten „Wegweiser“ von Rayuela.23 Die ersten beiden Regeln lauten: Die Autobahn darf nicht verlassen werden; man soll auf jedem Rastplatz haltmachen und auf jedem zweiten übernachten. Diese Spielregeln zu befolgen impliziert allerdings einen Verstoß gegen das Gesetz der Autobahn, nach dem man nicht länger als zwei Tage auf der Autobahn bleiben durfte – daher schickt Cortázar einen Brief an den Direktor der Autobahngesellschaft, um die Erlaubnis zu erbitten.24 Den Autonauten ist ihr Spiel derart bewusst, dass sie selbst über dessen spielerische Grundhaltung spaßen. An einer Stelle berichtet Julio von der Versuchung, gegen die Spielregeln zu verstoßen: Es war fast nicht zu glauben, aber in diesem langgezogenen, geschlossenen Mikrokosmos zwischen Paris und Marseille, in dieser endlosen Abfolge von achthundert Kilometern Drahtzäunen, Erdwällen, Schutzwänden, wehrhaften Hecken und anderen chinesischen Mauern französischer Herstellung, auf diesem praktisch uranfänglichen, jungfräulichen Rastplatz unserer Reise stand ich vor einem Tor, das mit Kette und Vorhängeschloß zugesperrt war, gleichzeitig aber, und das aus Gründen, die ich nie verstehen werde, einen Durchlaß bot, so etwas wie den Eingang eines Labyrinths, eine Aufforderung, hinüberzuklettern […]. Einmal mehr die Versuchung. Weder Baum noch Schlange, noch Apfel, sondern die Einladung den Durchlaß zu überspringen und, ohne daß es jemand erfährt, die Spielregel zu verletzen, einfach nur so, aus Spaß an der Freud, zehn oder zwanzig Meter vorzudringen und dann in unser Territorium zurückzukehren. Bescheißen um des Bescheißens willen.25

Diese Passage ist darüber hinaus interessant, weil hier die Opposition zwischen der mit menschenfeindlichen Attributen charakterisierten Autobahn, die zugleich als der Gipfel der Zivilisation und des technischen Fortschritts geschildert wird, und dem Rastplatz 23 Vgl. Julio Cortázar: Rayuela. Himmel-und-Hölle. Übersetzt von Fritz Rudolf Fries. Frankfurt

a. M. 1983, S. 7.

24 Diesen Brief hat Cortázar tatsächlich dem Direktor der Autobahngesellschaft vor der Reise

geschickt, vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 475 f. Der Brief, der das Buch eröffnet, bleibt allerdings unbeantwortet, sodass die Autonauten an den Mautstationen erklären müssen, sie haben die Mautscheine verloren, vgl. Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 13ff. Gegen Schluss werden im Kapitel „Wo die Forschungsreisenden das Vergnügen haben, eine Faksimilereproduktion der beiden Gebührentickets vorzulegen, die aus den dem Leser bereits bekannten Gründen beim Bezahlen als ‚verloren’ galten“ Kopien der Mautscheine zur Dokumentation der Forschungsergebnisse präsentiert (ebd. S. 348f.). Das Spiel und der ironische Kommentar des nicht beantworteten Briefs werden aber weiterbetrieben, als die Autonauten von einem Appell der Autobahngesellschaft an Künstler erfahren, die Autobahn zu verschönern (ebd. S. 313f.). 25 Ebd. S. 58.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

als Ort der Natur, der einen Ausweg aus diesem bedrohlichen Territorium der Autobahn bietet. Die Versuchung besteht zum einen darin, die Spielregeln um des Spaßes willen zu verletzen, ohne dass der Partner es mitbekommt, zum anderen, um aus diesem geschlossenen Kosmos zu fliehen – und in entgegengesetzter Richtung als Adam und Eva zurück ins Paradies der Fantasie, der Unschuld und der Kindheit zu gelangen. Zurück aber zu den grundsätzlichen Spielregeln. Dass dieses Spiel in ein zweites, literarisches Spiel münden soll, geht aus den beiden letzten Regeln hervor: „3. Auf jedem Rastplatz wissenschaftliche Erhebungen durchführen und die entsprechenden Beobachtungen aufzeichnen. 4. In Anlehnung an die Reiseberichte der großen Forscher der Vergangenheit ein Buch über die Expedition schreiben.“26 Die Autonauten streben anscheinend ein wissenschaftliche Ansprüche erfüllendes Reisetagebuch an, diese simulierte Wissenschaftlichkeit entlarvt sich jedoch als eine humoristische Komponente des literarischen Spiels und dient der Eröffnung einer parallelen Wirklichkeit, die nur im Spiel wahrnehmbar ist.27 Die einzelnen Textbausteine – ich möchte bewusst nicht von Kapiteln sprechen – werden häufig mit langen Überschriften versehen, die die klassische Reiseliteratur und den Abenteuerroman evozieren und sich über diese literarischen Vorbilder lustig machen, wie „Wo die Forscher in die Vergangenheit eintauchen und – als neue ­Dantes – auf Julius Cäsar, Eugène Sue und Vercingetorix treffen“28 oder „Von der entomolo­ gischen Fauna auf den Rastplätzen und andere ökologische Betrachtungen sowie von den (spärlichen) Möglichkeiten, ihre baumartige Flora kartographisch zu erfassen.“29 Die humoristische Wirkung, der Scherz, geht wiederum aus dem Ernst hervor, mit dem die angeblichen Schwierigkeiten und Gefahren der Expedition (wie Skorbut) geschildert werden und mit dem die Autobahn – oder, besser gesagt, die Rastplätze – als ein Ökosystem von höchstem naturwissenschaftlichem Interesse aufgefasst wird. Tatsächlich ist Die Autonauten auf der Kosmobahn weder eine rein autobiografische Schrift noch eine typische Erzählung Cortázars. Das Buch besitzt keine komplexe Erzählstruktur, der Aufbau der Handlung ist linear. Was die Komplexität – und den Reiz – der Autonauten auf der Kosmobahn ausmacht, ist die Mischung von Fiktion und Bericht, die 26 Ebd. S. 36. 27 In einem kurz vor Beginn der Reise verfassten Brief verrät Cortázar Guillermo Schavelzon die

Spielregeln der Expedition und seine Hoffnung, dass als Ergebnis davon ein Buch in Zusammenarbeit entstehe, das Wissenschaftlichkeit simulieren solle. Vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 478. Die fingierte Wissenschaftlichkeit wird in einem der letzten Textbausteine ad absurdum geführt – das Spiel, die Außerkraftsetzung der Autobahngesetze stellt eine parallele Wirklichkeit her, die zur humoristischen Infragestellung alle Realitäten führt: „Es ging darum, am Ende der Expedition die Existenz der Stadt Marseille nachzuweisen. […] Existiert Marseille? […] Marseille existiert […]. Aber es existiert nur, weil die Expedition seine Existenz nachgewiesen hat.“ (Cortázar / Dunlop [Anm. 3], S. 281ff.). 28 Ebd., S. 175. 29 Ebd., S. 114.

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dadurch verstärkt wird, dass unterschiedliche Textsorten kombiniert und mit Bildern angereichert werden. Eine wichtige Entscheidung, die den sympoetischen Charakter des Buchs und vor allem die Aufwertung des literarischen Spiels unterstreicht, ist es, die Autoren der einzelnen Textbausteine nicht zu kennzeichnen. Bei manchen Texten lässt sich problemlos erkennen, ob sie von Cortázar oder Dunlop stammen, und zwar nicht nur wegen des Geschlechts oder der Perspektive des Icherzählers – wobei dies wiederum eine ironische Spiegelung sein könnte –, sondern auch wegen der Wortwahl und Struktur.30 Cortázar gibt an einer Stelle an, die Texte der Nichtmuttersprachlerin Carol Dunlop nur geringfügig überarbeitet zu haben.31 Cortázars Texte sind sprachlich anspruchsvoller und greifen häufig Motive und Figuren seines Werkes auf, so treten beispielsweise die ­„Tataren“ oder Cronopien32 Calac und Polanco, Figuren aus dem Roman 62/Modellbaukasten (1968), an mehreren Stellen auf und unterhalten sich mit den Figuren Julio und Carol. Dadurch wird eine metaliterarische (Selbst-)Reflexionsebene eröffnet – der Autor Julio Cortázar, der diese Figuren geschaffen hat, kann sie nicht mehr kontrollieren.33 Der sarkastische Kommentar von Calac, Julio besitze „bestimmt mehrere Konten in Genf, wie alle diese Typen vom Boom“34, dient als prominentes Beispiel für die Cortázar typische Selbstreflexion, die stark an die romantische Ironie erinnert.35 Die häufig auftretenden 30 Zur Unterscheidung des jeweiligen Verfassers vgl. Blanco Arnejo (Anm. 9), S. 184ff. 31 Vgl. Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 103f. Er übersetzt die Texte von Carol ins Spanische, wäh-

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rend seine Texte von Laure Guille-Bataillon und Françoise Campo ins Französische für die Parallelausgabe übertragen werden. Die aus den Geschichten von Cronopien und Famen (1962) bekannten Cronopien stehen im Gegensatz zu den bürgerlichen, philiströsen Famen für Spontaneität, Fantasie, Spieltrieb und Künstlertum. Vgl. Wiltrud Imo: Julio Cortäzar, Poeta Camaleon. In: Iberoromania 22 (1985), S. 46–66, bes. S. 64f. Die seit ihrer Erscheinung ausgeübte Faszination der Cronopien gründet darauf, dass „sie die Wirklichkeit […] als provisorische, arbiträre Zeichen-Welt erfahren, als eine Welt mithin, deren scheinbare Objektivität nur im Hinblick auf die spezifischen Fähigkeiten der menschlichen Subjektivität zur Schaffung, Bewahrung und Veränderung von Zeichensystemen jedweder Art zu bestimmen ist.“ Walter Bruno Berg: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1991, S. 151–183, hier S. 153. Vgl. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 75–79, S. 126 f., S. 138 f., S. 286–290. Die Figuren Calac und Polanco haben in seinem ersten Auftritt in 62/Modellbaukasten die Funktion, die Sprachkonventionen zu untergraben, vgl. Björn Goldammer: Ptak, Honk, Bisbis. Die Invasion der Tataren. In: Rudolf Wittkopf (Hg.): Kaleidoskop: Beiträge zu Julio Cortázars Roman 62/Modellbaukasten. Frankfurt a. M. 1993, S. 113–117. Sie stehen für „de[n] Humor, de[n] Wahnsinn und das Absurde“ (Alazraki [Anm. 13], S. 216). Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 77. Ein weiterer Textbaustein mit einem starken selbstreflexiven Charakter sind die „Auszüge aus dem Handbuch der Wölfe“ (vgl. ebd. S. 337 ff.). Darin werden nicht nur die persönlichen Züge Julios auf ironische Weise thematisiert, der Text ist neben der Beschreibung des Charakters aber auch als eine Liste von Gebrauchsanweisungen konzipiert, wie die „kleine Bärin“ mit ihm umgehen solle.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

Apostrophen36 sollen eine Art Komplizenschaft mit dem Leser aufbauen und diesen zur Teilnahme am Spiel bewegen – der Leser müsse sich einen Platz in harter Konkurrenz gegen Calac und Polanco in Fafnir erkämpfen.37 Die erzählend-berichtenden Texte werden durch das sogenannte „Bordbuch“ durchbrochen. Darin werden Angaben zur Wetterlage, zu Fafnirs Orientierung beim Parken oder zu den jeweiligen Mahlzeiten gesammelt sowie eine kurze Beschreibung des Rastplatzes angeboten, um dadurch den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Vom restlichen Textkorpus durch die Maschinentypografie abgesetzt,38 sollen sie ein Gefühl von Wahrscheinlichkeit vermitteln.39 Allerdings entlarvt sich dieses Bestreben nach Wahrscheinlichkeit als ein weiteres Spiel, und zwar an einem auf den ersten Blick unscheinbaren Detail: Julio bricht einen Eintrag im Bordbuch – „[d]iese Notiz Carols ist unverständlich“40 – ab. Demnach wäre das Bordbuch handschriftlich und nicht mit den in Fafnir transportierten Schreibmaschinen geführt, und erst nach der Reise in der editorischen Überarbeitung eingetippt. Ein zusätzliches Element sind die von Carols vierzehnjährigem Sohn Stéphane Hébert ex post facto nach den Berichten und Skizzen der Expeditionsteilnehmer angefertigten Zeichnungen, die die prägenden Merkmale des jeweiligen Rastplatzes kennzeichnen.41 Diese skizzenhaften, ja kindisch anmutenden – aber zugleich präzisen – Zeichnungen unterstreichen den spielerischen Charakter des Buches. Eine gewichtigere Bedeutung als den Zeichnungen ist allerdings den Fotografien beizumessen, die den Verlauf der Expedition dokumentieren. Diese während der Reise aufgenommenen Bilder werden mit einer Bildunterschrift versehen, die ausnahmslos einen humoristisch-ironischen Kommentar beinhaltet. Anders als etwa in der Reise um den Tag in 80 Welten oder in Letzte Runde weisen die Bilder einen unmittelbaren Bezug zum 36 Hier nur einige Apostrophen: „bleicher, geneigter Leser“ (S. 25), „geneigter Leser“ (26), „blei-

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cher Leser“ (40), „skeptischer Leser“ (35), „geduldiger Begleiter dieser Seiten“ (41), „O Leser, der du schon unser Komplize bist“ (202) „komplizenhafter, geduldiger und bleicher Leser“ (257). Bereits die Widmung – „allen Bekloppten der Welt“ (5) – ist ein augenzwinkernder Appell an die Komplizenschaft der Rezipienten. Vgl. Prego (Anm. 19), S. 233. Zumindest in der Originalausgabe. Vgl. Julio Cortázar / Carol Dunlop: Los autonautas de la cosmopista. Un viaje atemporal Paris-Marsella. Madrid 1996, S. 53. Die Idee stammt allerdings vom Verleger Mario Muchnik, Cortázar äußert in einem Brief seine Begeisterung, da die Typografie dem Bordbuch eine große Spontaneität verleihe, vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 589. In der deutschen Ausgabe ist das Bordbuch typografisch nicht abgesetzt. Neben dem Bordbuch sollen weitere Elemente wie der Brief an den Direktor der Autobahngesellschaft, die Gebührentickets oder die Fotos der Besuche von Freunden, den Eindruck von Authentizität verstärken und die Brücke zwischen Fiktion und Faktum schlagen, vgl. Blanco Arnejo (Anm. 9), S. 179f. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 239. Vgl. ebd. S. 21.

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Text auf42 – auch wenn die Fotos nicht direkt neben der betreffenden Stelle platziert werden. Denn in Die Autonauten auf der Kosmobahn dienen die Bilder zwar als Initialzündung für die Cortázar typischen Assoziationsprozesse und „konstituieren […] eine eigenständige semiotische Ebene“,43 die humoristische und vor allem die Funktion der Authentizität stehen aber im Vordergrund: Die Fotografien dokumentieren und illustrieren die Expedition – ja, gemeinsam mit dem Bordbuch treten sie an die Stelle der Skizzen, Zeichnungen und Karten der traditionellen Reiseliteratur. Die Autonauten sind von selbstreflexiven Momenten durchzogen, wie die Bildunterschrift „Hier erlebt man, wie mit einem eindrucksvollen Aufgebot an Arbeitsmitteln die Seite entsteht, die Sie gerade lesen“44 für sich beansprucht – auch wenn das Bild kein überprüfbarer Beleg dafür und eher Teil des Spiels mit dem Leser ist. Denn das Buch, das der Leser in den Händen hält, ist das Ergebnis eines langen Montageprozesses, der allerdings eine spontane Schreibweise fingiert.45 Einen weiteren strukturierenden Bestandteil des Buchs bilden die ebenfalls verstreuten – und durchweg unmissverständlich fiktiven – Briefe von einer Mutter an ihren Sohn, in denen diese von banalen Familienangelegenheiten um die verstorbene Tante Heloise berichtet.46 Diese Briefe gewinnen jedoch eine für Cortázar charakteristische Valenz, als sich nach und nach herausstellt, dass die Tante ein aufregendes Doppelleben geführt hatte – Schein und Wirklichkeit treten wie so häufig bei Cortázar in Konflikt.47 Wegen dieser Familienangelegenheiten muss die Mutter mit 42 Seit der Reise um den Tag in 80 Welten aus dem Jahr 1967 baute Cortázar häufig Fotografien

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und Zeichnungen in seine Schriften ein, die in Kombination mit den Texten zu einem Kaleidoskop werden. Die Kombinatorik der Assoziationsprozesse führt neue Assoziationen herbei, die sich immer weiter von der ursprünglichen Textgrundlage entfernen: „Die Wechselwirkung von Fotografie und Literatur setzt im Sinne einer interstitiellen Ästhetik Assoziationsprozesse in Gang, die durch ihre imaginäre Kombinierbarkeit immer wieder neue Figuren ergeben.“ Vgl. grundlegend Wolfgang Bongers: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik. Tübingen 2000, hier S. 110f. Bongers geht allerdings nur punktuell auf Die Autonauten auf der Kosmobahn ein, vgl. ebd. S. 191f. Berg (Anm. 32), S. 348. Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 184. An dieser Stelle wird klar, dass die Erzählzeit und die erzählte Zeit nicht immer übereinstimmen. Vielmehr liegt hier der Akzent auf der Interaktion zwischen dem fiktiven Autor und dem impliziten Leser – jener schreibt gerade das, was der reale Leser in der Zukunft lesen wird. Vgl. Blanco Arnejo (Anm. 9), S. 189 f. An einer Stelle der Autonauten auf der Kosmobahn wird klar, dass die Texte nicht spontan verfasst werden, sondern dass die Eindrücke zunächst verarbeitet und reflektiert werden müssen: „Schreiben. Aber vielleicht nicht direkt: die Ereignisse brauchen ein bißchen Zeit, um Wort zu werden. Als müßten ihre Bedeutung und sogar ihre Form einen langen inneren Weg zurücklegen, bevor sie ihren Zusammenhang finden.“ (Cortázar / Dunlop [Anm. 3], S. 55). Cortázars Brief an Muchnik vom 1. Juli 1983 lässt vermuten, dass diese Briefe eine späte Ergänzung waren, nachdem das bereits fertige Manuskript vorlag. Vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 586 f. Vgl. Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 69–73, 97–101, 215–220, 226–230, 251–257.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

dem Vater häufig auf die Autobahn fahren und sieht auf einem Rastplatz zum ersten Mal das reisende Paar Julio und Carol: [H]inter der Tankstelle war einer von diesen Wohnlastern, wie man sie heute hat. Kein richtiger Laster, eher ein kleiner Lieferwagen, aber vollständig eingerichtet, um damit ins Wochenende zu fahren, mit einer Art Zelt, das man auf dem Dach hochzieht. Und da, direkt hinter der Tankstelle, hatte sich dieses Paar eingerichtet, als wären sie schon an dem Ort, wo sie ihre Ferien verbringen wollten. Er war sehr groß – gutaussehend, muß ich sagen, mit Bart, aber nicht zu vergleichen mit den Hippies oder solchen Leuten, ein wirklich stattlicher Mann und mit einem liebenswürdigen Ausdruck im Gesicht – und sie neben ihm so klein, also wenn man eine Neigung hätte, Schlechtes zu denken, müßte man sich wirklich fragen, wie sie gewisse Dinge machen... Zuerst nahm ich an, sie kämen von weit her und ruhten sich jetzt aus, nachdem sie Paris durchquert hätten, aber dann merkte ich, daß ihr Auto eine Pariser Nummer hatte (die 75er Nummernschilder kenne ich, weil Dein Vater, wenn er am Steuer sitzt, auf die immer schimpft und „Scheißpariser“ oder noch was Schlimmeres schreit). Meinst Du, daß sie in wilder Ehe leben? Was für ein Ort für diese Art von Abenteuern!48

Die Verteilung der Briefe führt zu einer verzögerten Aufnahme durch den Leser. Da in den Briefen der Mutter über Carol und Julio die Rede ist, wird die für die Autonauten prägende ironische Selbstreflexion erneut beschworen. Diese Briefe verleihen nicht nur dem Erzählstrang einen doppelten Boden, vielmehr deuten sie dem Leser an, dass die Normalität und die Alterität bzw. das scheinbar Exotische immer vom Blickwinkel, von der Perspektive des Betrachters abhängen49 – genauso wie die Wahrnehmung von Zeit und Raum vom jeweiligen Standpunkt bzw. Koordinatensystem (s. u.). In weiteren Briefen berichtet die Mutter mit steigender Überraschung, dass sie das Paar jedes Mal auf einem anderen Rastplatz sieht, der ein paar Kilometer entfernt vom Ort liegt, an dem sie sie das letzte Mal gesehen hat. Doch die von ihr aufgestellten Hypothesen, um das merkwürdige Verhalten des Paars zu erklären, werden immer ausgefallener – sie fragt ihren Sohn, ob sie die Polizei benachrichtigen solle, denn möglicherweise plane dieses Paar gar einen Einbruch. Sie wird für ihre Neugierde bestraft: Am hellen Nachmittag waren alle Vorhänge zugezogen. Vielleicht stimmt es ja, daß mir die Kriminalromane in den Kopf steigen, aber weißt Du, in meinem Alter tut ein bißchen Aufregung von Zeit zu Zeit ganz gut. Ganz vorsichtig näherte ich mich dem Wagen. Ach, Eusèbe, Du machst Dir keine Vorstellung, wie mir meine Indiskretion die Schamröte ins Gesicht trieb!

48 Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 72f. In der deutschen Ausgabe sind diese fiktiven Briefe kursiv

gesetzt.

49 Vgl. Prego (Anm. 19), S. 240.

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Was die da drin taten! Die sind mit Sicherheit nicht verheiratet, das kannst Du mir glauben! Meinst Du, daß sie auf der Flucht vor der Polizei sind und daß sie gemeint haben, die Autobahn wäre ein gutes Versteck?50

Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, dass die Liebe ein zentrales Motiv in Die Autonauten auf der Kosmobahn bildet.51 Die Reflexionsebene und die durch die Briefschreiberin herbeigeführte Distanz zu den Ereignissen heben darüber hinaus den spielerischen Charakter hervor, der sich in der Abwechslung von Bericht und fiktivem Erzählen, die sich aufeinander beziehen, niederschlägt. Die ebenfalls fiktive Erzählung „Verhalten auf den Rastplätzen“ fällt auch aus der Reihe der von den Autonauten verfassten Textbausteine.52 Diese eingeschobene, erotische Erzählung trägt die Signatur von Cortázars Schreiben, das mit den Erwartungen und Imaginationen des Lesers spielt: Der Leser erfährt erstens über eine Untreue in der Ichform, dann aber über die Entdeckung, dass der Icherzähler seinerseits betrogen wurde. Diese Erzählung fungiert m. E. als Warnung an die Leser, die Berichte der Autonauten mit aller Konsequenz ernst zu nehmen. Die Grenze zwischen Tatsachenbericht und Fiktion wird absichtlich nebulös gehalten, erst ihre Interaktion macht die Faszination von Die Autonauten auf der Kosmobahn aus.

3 Während im vorhergehenden Abschnitt die Spielregeln und die Vorgehensweise der Autonauten beleuchtet wurden, stellt sich nun die Frage, wie sich diese ausgesprochen skurrile Fahrweise auf die literarisierte Autobahn niederschlägt, wie über die veränderte Wahrnehmung reflektiert wird. Die von den Autonauten evozierten ­Bilder der Autobahn muten zunächst konventionell an – aber nur auf den ersten Blick. Denn vorerst wird der Eindruck beschrieben, den die Autobahn auf die Menschen macht – die scheinbare Beherrschung des Raums zwischen Ausgangs- und Zielpunkt der Reise durch die konstante Geschwindigkeit. Allerdings wird das Verhältnis zwischen Autobahn und Mensch umgekehrt: Bis zum Sommer 1978, o bleicher, furchtloser Leser, gehörten wir […] jener Rasse von Sterblichen an, die eine Autobahn für das halten, was sie zu sein scheint: ein modernes, höchst ausgeklügeltes Bauwerk, das es den in ihre vierrädrigen Kapseln eingeschlossenen Reisenden erlaubt, eine auf der Landkarte leicht nachzuweisende und in den meisten Fällen im voraus 50 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 218f. 51 Zwei Textbausteine, „Wo das Bärchen mit dem Wolf spricht und alles für immer gesagt ist“

(ebd. S. 293–297) und „Bärchen schläft“ (ebd. S. 333–335) lassen sich eindeutig als gegenseitige Liebeserklärungen von Carol respektive Julio lesen. 52 Ebd. S. 265–273.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

ausersehene Wegstrecke in einem Minimum an Zeit und mit einem Maximum an Sicherheit zurückzulegen. Die Ingenieure, die das, was man die Institution Autobahn nennen könnte, erdachten und ausarbeiteten, vollbrachten Großartiges, um dem Autofahren nicht nur jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, das die Geschwindigkeit mindern könnte […], sondern auch alles, was den Fahrer von seiner Konzentration auf das Asphaltband ablenken könnte, welches denjenigen, die ihm folgen, den […] trügerischen Eindruck einer stetigen Kontinuität zu vermitteln pflegt, einer Kontinuität, die nach dreißig, vierzig oder sechzig Minuten konstanter Geschwindigkeit nicht nur die Räder des Fahrzeuges einbezieht, das der Mensch am Steuer noch zu kontrollieren glaubt, sondern auch das Steuer des besagten Fahrzeuges und sogar die Hände und Reflexe des besagten Menschen, der sich so, bewußt oder unbewußt, in diese große unpersönliche Gesamtheit einfügt, nach der alle Religionen so sehr trachten.53

Den Autonauten nach führt die Autobahn als Inbegriff der menschlichen Ingenieurs­ kunst nach einer gewissen Zeit monotoner Fahrt zu einer Entfremdung der Fahrenden. Diese fixieren ihren Blick auf die nimmer endende Fahrbahn derart, dass sie die Umgebung vollständig ausblenden. Die Autobahn erwirkt durch die Täuschung der Kontinuität eine Entfremdung der Reisenden, ja eine Entmenschlichung. Aufgrund der konstant gehaltenen Geschwindigkeit, der Monotonie der Umgebung geben die Menschen ihr Menschsein auf. Diese Entfremdung führt zur Umkehrung des Verhältnisses zwischen Autobahn und Mensch, der nicht mehr Herrscher über die von ihm geplante und gebaute Straße ist, sondern die menschliche Erfindung – die Autobahn – ist diejenige, die den Menschen steuert. Der Fahrer ist nicht mehr Herr der Lage, er lenkt nicht mehr das Auto, vielmehr bemächtigt sich die Autobahn des Fahrzeugs und sogar des Menschen. Ich habe mich bewusst für den von Marx okkupierten Begriff Entfremdung entschieden, auch wenn der für die lateinamerikanische Linke engagierte Cortázar ihn nicht benutzt, weil in Die Autonauten auf der Kosmobahn eine latente Sozialkritik spürbar ist – dies lässt sich zunächst als Kritik an der Konsumgesellschaft lesen.54 Denn der Eindruck von der menschlichen Beherrschung der Autobahn ist nur scheinbar, er erweist sich als genauso trügerisch wie der Eindruck von der menschlichen Kontrolle über Markt und Kapital. Ohne Die Autonauten auf der Kosmobahn als politisches Buch lesen und vom Spiel als zen­trales Motiv absehen zu wollen, scheint mir die soziale Dimension nicht unbedeutend: Denn genauso wie die entfremdete Arbeit laut Marx zur Entfremdung des Menschen 53 Ebd. S. 22 f. 54 Siehe dazu die Fotos von nicht für die Fahrt nützlichen Produkten von fraglichem Geschmack,

die in den Autobahnraststätten angeboten werden, wie ein „Porzellanbuddha von einem Meter Höhe oder ein[] riesige[r] Teddybär“. Ebd. S. 166–171, hier S. 171. An einer anderen Stelle fragt sich Cortázar, wer sich wohl einen Fernseher in einem Autobahnladen kaufen würde, ebd. S. 57.

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von der menschlichen Natur führt,55 löst den Autonauten zufolge die Autobahn mit ihrer ausgesprochen unpersönlichen Funktionalität, mit ihren starren Mechanismen eine Entfremdung des Menschen aus. Zu dieser Beobachtung können die Autonauten jedoch nur aus einer externen Perspektive gelangen: eine Perspektive, die die tradierten Regeln der Autobahn – schnelle und konstante Fahrweise – spielerisch unterläuft, die die Kontrolle über Zeit und Raum als Illusion offenbart. Denn durch ihre schleichende Fahrt verändert sich die Sicht der Autonauten auf die Autobahn, sie verliert gänzlich ihre Funktion und Bedeutung: Vielleicht ist dies das Sonderbarste: Was die Hauptsache hätte sein sollen, nämlich ganz langsam die Autobahn nach Süden abzufahren, verlor schon am ersten Tag jegliche Bedeutung. Die Symptome der Autobahn – Monotonie, Zeit und Raum als Obsession, Ermüdung – existierten für uns nicht; kaum sind wir drauf, verlassen wir sie schon wieder, vergessen sie für fünf, zehn Stunden, für eine ganze Nacht. Welche Bedeutung kann sie für uns schon haben, wenn wir sie kaum sehen, wenn sie in über sechzig Teile zerstückelt ist, ein Schlangenspießchen statt einer vollständigen, zischenden Schlange?56

An dieser Stelle wird die zentrale Metapher der Autobahn – die Fahrbahn – als Schlange aufgegriffen. Dieses lange und unheimliche Tier verliert, wenn man nicht konstant fährt, sondern beinahe den ganzen Tag auf dem Rastplatz verbringt, seinen bedrohlichen Charakter. Die Autobahn wirkt aus der bewegungslosen Position der Autonauten auf dem Rastplatz, abseits der Fahrbahn, zahm und harmlos: Man fühlt sich sicher, behütet, geborgen im tiefen grünen Aquarium des Waldes; fern von uns windet sich zuckend die Schlange der Autobahn am Mittag dahin, ihre beweglichen Schuppen in Blau, Rot, Schwarz, Renault, Grau, Mercedes, Silbern, Grün, Talbot. Sie spielt keine wichtige Rolle, wir wissen bereits, daß die scheinbare Hauptfigur der Forschungsreise zur bedeutungslosen Statistin geworden ist, die wir nur ein paar Minuten am Tag sehen, auf zwei schnell verstreichenden Teilstrecken, die uns jedesmal wieder in die Tiefe des Waldes oder schlimmstenfalls auf den öden Parkplatz aus Zement und Metall schicken, wo Esso, Antar, Elf und andere Götzen mit ähnlich kryptischen Namen ihre armen Gläubigen zu immer wiederkehrenden übelriechenden Zeremonien erwarten.57

Die Autonauten sind externe Beobachter des als Tier figurierenden Ökosystems Autobahn, und zwar aus einer privilegierten Beobachterposition, denn sie befinden 55 Vgl. Eberhard Ritz: Entfremdung. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der

Philosophie. 13 Bde. Basel / Stuttgart 1971–2007, hier Bd. 2 (D–F), Sp. 509–525, bes. Sp. 518–521.

56 Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 106. 57 Ebd. S. 221.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

sich in der umgebenden Landschaft der Rastplätze. Es lässt sich – den Autonauten zufolge – nicht mehr zwischen der Autobahn als Fahrbahn und den Autos unterscheiden, die darauf fahren. Diese sind die Schuppen an der Haut der Riesenschlange der Autobahn. Der Größenunterschied zwischen den Menschen, die in den Schuppen der Schlange sitzen, und der Riesenschlange ist gewaltig. Die Schlangenmetapher verbindet die ständige und fließende Bewegung der Autobahn mit ihrem bedrohlichen Charakter ihrer für menschliche Dimensionen überwältigenden, erhabenen Größe. An dieser Stelle fällt über die Schlangenmetaphorik hinaus die Darstellung der religiösen Dimension der Autobahn auf: Sie zwingt den Menschen zu immer wiederkehrenden Handlungen – kurze Stopps, um zu essen, auf die Toilette zu gehen oder zu tanken –, die unbewusst zu Mechanismen, ja zu Ritualen werden. Der Mensch ordnet sich als Mitglied einer utilitaristischen Gesellschaft der Institution Autobahn unter. Die Autobahn wird wie selbstverständlich mit Geschwindigkeit assoziiert, einer Größe, die sich der klassischen Mechanik seit Galileo nach aus dem Verhältnis von Raum und Zeit zusammensetzt: Geschwindigkeit ist gleich Raum durch Zeit. Durch die schleichende Fahrweise der Expedition, durch die ungewohnt geringe Geschwindigkeit, ja durch den subversiven Stillstand verschiebt sich die Wahrnehmung der fundamentalen Größen Zeit und Raum. Die Autonauten befinden sich daher auf ihrer Fahrt außerhalb des bekannten Koordinatensystems von Zeit und Raum: Diese parallele Autobahn, die wir suchen, existiert vielleicht nur in der Phantasie derer, die von ihr träumen; doch wenn es sie gibt […], dann umfaßt sie nicht nur einen anderen physischen Raum, sondern auch eine andere Zeit. Was werden wir als Kosmonauten der Autobahn nach Art der interplanetarischen Reisenden, die aus der Ferne das schnelle Altern derer beobachten, die weiterhin den Gesetzmäßigkeiten der irdischen Zeit unterworfen sind, entdecken, wenn wir nach so vielen Reisen mit Flugzeug, U-Bahn und Zug in den Rhythmus von Kamelen verfallen? […] Autonauten der Kosmobahn, sagt Julio. Der andere Weg, der dennoch derselbe ist.58

Die Autonauten, so Cortázars Selbsttaufe, befinden sich aufgrund ihres Verstoßes gegen die Konventionen der Autobahn außerhalb des Raum-Zeit-Gefüges, eben auf der ‚Kosmobahn‘. Diese ungewöhnliche Weltraummetaphorik trägt dem fast absoluten Stillstand Rechnung – die Reisenden fahren nicht weiter als 15 Kilometer am Stück. Denn dieser Stillstand in einer Umgebung der Geschwindigkeit ähnelt dem Zustand der Schwerelosigkeit, die Astronauten innerhalb des Raumschiffs erlangen, das sich seinerseits aber mit großer Schnelligkeit im Weltraum bewegt. Wie bei Weltraumreisenden wird die Zeitwahrnehmung der Autonauten radikal umgewälzt. Die Verwischung der Grenzen von Raum und Zeit ist ein zentrales Motiv in Cortázars Poetik, das sich in mehreren Erzählungen wiederfinden lässt, in denen die 58 Ebd. S. 50.

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Figuren mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Diese, sei es die Pariser Metro oder der Bus in Buenos Aires, verleihen der Stadt ihre jeweilige Struktur und ermöglichen die Rekonstruktion ihrer Anatomie. Gerade die U-Bahn bewirkt eine Ersetzung des Raums, d. h. der Stationen, durch die zeitlichen Abstände zwischen ihnen, wie es in Der Verfolger heißt: „in der Metro zu fahren ist wie in einer Uhr stecken. Die Stationen sind die Minuten, […] das ist eure Zeit, die jetzige; aber ich weiß, daß es eine andere gibt.“59 Durch die langsame Fahrt untergraben die Autonauten die Gesetze der Autobahn. Für Julio und Carol verliert diese ihre Funktion als Schnellweg, ja die Autobahn fällt als solche, als Straße in die Bedeutungslosigkeit. Das Gefühl für Zeit und Raum gerät durcheinander. Der Rastplatz wird zum Ort des Lebens: Wie immer schickt die Praxis jede ihrer selbst zu sichere Theorie zum Teufel. Es war zu vermuten, daß das Befahren einer Autobahn, auf der praktisch jeder mit Höchstgeschwindigkeit dahinrast, und nur kurz anhält, um zu pinkeln, zu tanken oder bestenfalls auf einem anheimelnden Parkplatz ein Weilchen auszuruhen, sich stark von diesem unmerklichen Kriechen unterscheiden würde, bei dem sich alles umkehrt: Das Fahrzeug verliert seine Bedeutung, denn kaum hat es einen Rastplatz verlassen, muß es auch schon wieder auf dem nächsten vor Anker gehen; […] die Rastplätze werden unendlich viel wichtiger als das helle Band in einem Raum, der den Autofahrer verschlingt, während dieser ihn verschlingt. All diese Veränderungen waren vorhersehbar, als wir die Expedition vorbereiteten, doch keine theoretische Vorgabe konnte uns eine Vorstellung von ihrem Ausmaß und ihrem Reichtum vermitteln […]: schon kurz hinter Fontainebleau haben wir den Eindruck, sehr weit von Paris entfernt zu sein, so daß uns Marseille nicht ferner erscheint als unser Ausgangspunkt. Die Zeit ätzt sich in den Raum, verändert ihn; wir können uns schon jetzt keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen diesem Rastplatz und den letzten vorstellen, die uns einen Tag vor dem Ende der Expedition erwarten. Wichtiger als das: die fortschreitende Veränderung des gewohnten Begriffes der Autobahn, die Ablösung ihrer faden und fast abstrakten Funktionalität durch ein Erscheinungsbild voller Leben und Reichtum: die Leute, die Haltepausen, die Episoden auf ihren mehr oder minder 59 Vgl. Julio Cortázar: Der Verfolger. In: ders.: Die geheimen Waffen. Erzählungen. Aus dem Spa-

nischen von Rudolf Wittkopf. Frankfurt a. M. 1988, S. 115–183, hier S. 128. Mit diesen Worten versucht der drogenabhängige Johnny Carter, Alter Ego des legendären Jazzsaxofonisten Charlie Parker, die veränderte Zeitwahrnehmung im Bezug zur Musik dem Laien zu erklären. Denn „[e]s geht ihm vor allem um das Verhältnis zwischen meßbar ablaufender, physikalischer und erlebter, ‚psychologischer‘ Zeit“. Vgl. Hinrich Hudde: Schwarzer Faust des Jazz. Julio Cortázars El perseguidor als literarische Replik auf Thomas Manns Doktor Faustus. In: Iberoromania 26 (1987), S. 67–88, hier S. 76. Die Erzählungssammlung Die geheimen Waffen (1959) markiert eine Wende in Cortázars Werk, das immer mehr von „der existentiellen Erfahrung des Todes“ geprägt ist. Vgl. Berg (Anm. 32), S. 93–96, hier S. 94. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den Autonauten auf der Kosmobahn die Krankheit und vor allem der Tod durchgehende Motive sind, die die Diegese überschreiten.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

bewaldeten Bühnen, aufeinanderfolgende Akte eines Theaterstücks, das uns in seinen Bann zieht und dessen einzige Zuschauer wir sind.60

Für die Autonauten verliert der Begriff von Autobahn ihre ursprüngliche Bedeutung und gewinnt allmählich die des Welttheaters. Die veränderte Wahrnehmung stellt die gewohnte, tradierte Perspektive infrage. Da sich die meisten Menschen der unpersönlichen Umgebung der Autobahn anpassen, verlieren sie die Sensibilität für die Natur, die Vielfalt und das Leben neben der Autobahn, da „alles funktional und mechanisch erscheint, wenn man nur das sucht oder das ist.“61 In Wirklichkeit bietet die Autobahn, trotz der scheinbaren Monotonie, eine faszinierende Kulisse zur Beobachtung des menschlichen Handelns. Gerade die unerwarteten Einblicke in die Soziologie der Rastplätze stellen für die Autonauten, so Cortázar in einem Brief an Schavelzon, eine fesselnde Beschäftigung dar.62 Zwar handelt es sich um einen Nebeneffekt des Spiels, die Autonauten entwickeln aber eine Art phänomenologischer Soziologie der Autobahn aus der unmittelbaren Beobachtung des Gegenstands und ohne theoretischen Unterbau, die tatsächlich die Spezifik der französischen Autobahn mit ihrer Mischung aus Touristenverkehr Richtung Mittelmeer und Güterverkehr berücksichtigt. Die zweite von den Autonauten wahrgenommene Veränderung – nach der der Autobahn selbst – ist also die der Menschen, die sie befahren. Auf der Fahrbahn herrscht das Fahrzeug über den Menschen. Auf dem Rastplatz tritt die umgekehrte Situation ein: Der Mensch wird lebendig, das Fahrzeug leblos. Ob sich der Mensch auf dem Rastplatz dieser Entfremdung entziehen kann, bleibt zunächst offen: Zweite Metamorphose, die Autobähnler. Welche Vorstellung hatten wir von dieser mit kaum einmal durch einen Sandwich oder einen Sprint zum WC unterbrochener Höchstgeschwindigkeit dahinrasenden Fauna? […] Die Beobachtungen auf der Fahrt reduzieren auf wenig mehr als Null: Alles geschieht jetzt auf den Rastplätzen, in die Autos und Lastwagen langsam, fast zaghaft einfahren, um dann höchst behutsam nebeneinander zu parken. […] Die Dinge suchen ihren Platz, bleiben stehen, und aus den Dingen beginnen Menschen zu steigen, die bei dem gnadenlosen Rennen auf der Autobahn nur theoretisch anzunehmen waren. […] Aus diesem präpotenten Mercedes, der sicherlich nie die für Höchstgeschwindigkeiten reservierte linke Fahrbahn verläßt, taucht ein Paar auf, das der Wagen gleichzeitig aus den zwei vorderen Türen zu katapultieren scheint, wie eine sonderbare Hennenmutante, die in der Lage ist, gleichzeitig zwei Eier von ausgeprägt deutschem Aussehen zu legen. Die Dinge waren also tatsächlich bewohnt; die Rastplätze sind der Ort und die Stunde der Wahrheit, wo das Leben

60 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 90f. 61 Ebd. S. 241. 62 Vgl. Julio Cortázar (Anm. 2), S. 487.

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wieder zwei Beine und zwei Arme hat, während der Autobahnroboter in ihrem Schweigen und ihrer Ohnmacht regungslos, flügellahm, tot darniederliegen.63

Auch in Cortázars berühmter Erzählung Südliche Autobahn, die das Motiv der Bewegungslosigkeit im Zeit-Raum-Komplex vor der eigentlichen Kulisse der Geschwindigkeit, der Autobahn, thematisiert, werden die gewohnten Konventionen durchbrochen.64 Dort herrscht Stillstand aufgrund eines monumentalen Staus auf dem Weg nach Paris, die Figuren verbringen Tage, ja Wochen auf der Autobahn. Die Autos werden ihrer Funktion als Verkehrsmittel nicht mehr gerecht, sondern zu einem unnützen Gegenstand, der allerdings den Menschen einen Unterschlupf, ja einen Lebensmittelpunkt in einer bedrohlichen Umgebung gewährt. Die durch die Autobahn bewirkte Enthumanisierung ist insofern evident, als die Figuren keine Eigennamen erhalten, denn der Erzähler nennt sie entweder nach jeweiligem Beruf oder Namen des jeweiligen Autos. Die Figuren weisen daher kaum individuelle Züge auf. Dass Menschen mit Autonamen genannt werden, steht für die Anonymität und die Einsamkeit des modernen Menschen und verdeutlicht, dass das materielle Eigentum wichtiger als der Mensch selber ist. Im Verlauf der Handlung wird geschildert, wie sich die Figuren jedoch in einer prekären Lage arrangieren und einer menschenfeindlichen Umgebung anpassen, indem sie sich in Gruppen organisieren, um Wasser, Arzneimittel und Vorräte zu verwalten bzw. um neue zu besorgen. Das Leben geht trotz der Bewegungslosigkeit weiter: Ältere Reisende sterben, ein Kind wird gezeugt. Die Menschen fühlen sich in der zunächst fremden Immobilität der Autobahn immer wohler. Aber als der Stau sich endlich auflöst, die Autobahn ihre ursprüngliche Funktion als Schnellstraße wieder erfüllt und die Reisenden weiterfahren dürfen, verlieren sich die Menschen aus den Augen – das Anonyme, Unpersönliche und Entfremdende der Autobahn setzt sich durch und verdrängt die zwischen den Figuren aufgebauten Beziehungen, ihre primitive Gesellschaft.65 Anders als in Südliche Autobahn – darin wird die Unbeweglichkeit von einem Stau, einem exogenen Grund, verursacht – ist der Stillstand in Die Autonauten auf 63 Cortázar/Dunlop (Anm. 3), S. 91 ff. 64 Vgl. Eusebio Llácer: Relaciones espacio-temporales en tres cuentos de Cortázar. La autopista

del sur, Las babas del diablo, Cartas de mamá. In: Escritura XIX, 37–38 (1994), S. 51–59, bes. S. 53.

65 So überkommt den Ingenieur ein Gefühl der Entfremdung: „Nichts anderes konnte man tun, als

sich der Fahrt überlassen, mechanisch der Geschwindigkeit der Wagen ringsum anpassen, nicht denken. […] Absurderweise hielt er sich an die Vorstellung, daß um halb zehn die Nahrungsmittel verteilt würden, daß man die Kranken besuchen […]. Dann würde es Nacht, Dauphine käme schweigend in sein Auto, gäbe es Sterne oder Wolken, das Leben. Ja, so mußte es sein, es konnte nicht anders, nicht für immer zu Ende sein.“ Vgl. Julio Cortázar: Südliche Autobahn. In: Das Feuer aller Feuer: Erzählungen. Aus dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries. Frankfurt a. M. 1976, S. 7–37, hier S. 36.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

der Kosmobahn eine Konsequenz der eigenen Planung, ja er wird bewusst angestrebt. Die langsame Fahrweise setzt die Autobahn geradezu außer Kraft, gleichzeitig offenbart sie eine unvermutete parallele Welt, die Platz für Pflanzen und Tiere bietet und den Menschen eine unerwartete Geborgenheit gewährt.66 Diese Welt ist die Welt der Rastplätze, die ein eigentümliches Ökosystem bilden, das den Autonauten ermöglicht, frei von den Zwängen der Gesellschaft zu leben. In „Eine Vision von Parkingland“ heißt es: Schon acht Tage auf der Autobahn. Nein: gerade die Autobahn ist das, was fehlt, für uns ist sie weiter nichts als ein fernes Raunen, das durch die Gewöhnung von Tag zu Tag leiser wird […]. So ist unsere Expedition, wie immer klarer zutage tritt, vor allem ein Buchtenschippern in diesem Archipel der Parkplätze. Nie hätten wir das zuvor geglaubt, denn in der Erinnerung an die gewöhnlichen Reisen war die Autobahn Herrin und Heldin. Nach und nach kommen wir zu der angenehmen Überzeugung, daß unsere Expedition wie die des Kolumbus einem völlig anderen Ergebnis als dem erwarteten entgegendriftet. Der Admiral suchte Indien und wir Marseille; er fand die Antillen und wir Parkingland. Denn dies ist ein Land, dessen Provinzen wir im Takt von zwei pro Tag erobern, indem wir unser rotes Fafnirsches Banner aufpflanzen, die notwendige kartographische Erfassung vornehmen, die Flora und Fauna überprüfen […]. Für uns ist Parkingland ein Land der Freiheit.67

Diese Stelle thematisiert die Kluft zwischen den Erwartungen der Expeditionsteilnehmer vor der Reise und der von ihnen entdeckten und beobachteten Realität – des Zwischenraums. In einem Atemzug werden an dieser Stelle Topoi der Reiseliteratur beschworen und auf die eigene Expedition projiziert, um die überraschenden Erkenntnisse dieser unkonventionellen Expedition effektvoll und nicht ohne eine gewisse Ironie in Szene zu setzen. Nicht die Fahrbahn, die Autobahn an sich entdecken die Autonauten, sondern den großen Reichtum der Rastplätze, die sie wie einsame Inseln für sich erkunden.68 Mit uniformen Bestandteilen bieten die Rastplätze eine größere Vielfalt als angenommen, denn die festen Elemente (WC, Tische, Parkplätze, eventuell Tankstelle, Restaurant, Hotel usw.) weisen eine immer unterschiedliche Anordnung auf: „jeder einzelne stellt eine interessante Abwandlung des Einheitsschemas dar“.69 Diese Vielfalt wird durch die natürliche Umgebung angereichert: Der Rastplatz besitzt mehr oder weniger Bäume und dementsprechend mehr oder weniger 66 Vgl. Prego (Anm. 19), S. 235f. 67 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 130f. 68 Die Autonauten nehmen, belauernd wie „Sioux und Komantschen“, gleich bei der Ankunft

eine sorgfältige Erkundung des Rastplatzes vor, auf der Suche nach dem besten Stellplatz für Fafnir (weil ruhig oder schattig), vgl. ebd. S. 106–110, hier S. 106; S. 181ff. 69 Ebd. S. 107. Diese Variation wird in den schematischen Zeichnungen Stéphane Héberts wiedergegeben.

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Schattenplätze, das Grundstück ist größer oder kleiner, näher oder weiter weg von der Fahrbahn und ist dementsprechend ruhiger, enger, lauter oder leiser. In der künstlichen, naturfeindlichen Umgebung der Autobahn entdecken die Autonauten die Natur und stellen mit Überraschung fest, dass sie trotz des massiven menschlichen Eingriffes überall präsent ist. Dass die Rastplätze und vor allem die Natur in den Rastplätzen – Flora und Fauna – die wirkliche Entdeckung der Reise sind, wird durch die im Text verstreuten Fotos dokumentiert. Denn es gibt kaum Fotos von der Fahrbahn, die meisten haben die Rastplätze zum Gegenstand und viele bilden Naturmotive ab, von denen der Beobachter nicht erkennen, ja nicht erahnen kann, dass sie in unmittelbarer Nähe zur Autobahn aufgenommen wurden.70 Die Autonauten richten ihre Aufmerksamkeit auf die natürliche Vielfalt der Rastplätze. Sie versuchen sich dieser Umgebung anzupassen, eins mit ihr zu werden, indem sie in Kontakt zu den Bäumen, den Vögeln, den Schnecken oder den Käfern treten. Mitten in einer vom Menschen geschaffenen Umwelt finden die Autonauten eine vermeintlich unberührte Natur. Mitten in der sozialen Umgebung der Autobahnrastplätze finden die Autonauten „ein Land der Freiheit“, die Rastplätze oder einsamen Inseln bilden, so meine These, die Kulisse einer modernen Robinsonade, die mitten in einem vom Menschen geschaffenen und in einer durch die Aufhebung der Konventionen der Autobahn ermöglichten Distanz zu einer entfremdeten Gesellschaft – inmitten der vielen Menschen, die zwischen Paris und Marseille fahren, und nicht in einer Einöde – konsequent inszeniert wird. Diese Inszenierung ist nur dadurch möglich, dass die Autonauten die Funktionalität der Autobahn außer Kraft setzen bzw. ad absurdum führen.71 Die bereits thematisierte Sozialkritik weist weitere Facetten auf: Zum einem wird dieses neu entdeckte Parkingland als Land der Freiheit beschrieben, zum anderen wird das Verhalten der meisten Menschen verhöhnt. Um auf die offene Frage zurückzukehren, ob es den Menschen auf dem Rastplatz gelingt, sich von der während der Fahrt auf der Autobahn eingetretenen Entfremdung zu befreien – die Antwort lautet, das gilt zumindest für die Erwachsenen, nein: Sie pissen, essen (fast immer im Stehen, fast immer Sandwichs) und fliehen wieder, als wäre der Parkplatz voller Krokodile und Schlangen. Ob sie an der Parkinsonschen Krankheit leiden? Die einzigen anders Gearteten sind wie immer die Kinder und die Hunde: Sie schnellen aus den Autos wie bunte Sprungfedern, rennen zwischen den Bäumen herum, erkunden das neue Reich, erfreuen sich an den Blumen und Wiesen, bis ein gräßlicher Pfiff oder ein „Henri!“ die Luft zerschneidet und sie traurigerweise zu den Konservenbüchse zurückholt.72

70 Siehe etwa die Fotos ebd. S. 252–255, S. 320ff. 71 Vgl. Bongers (Anm. 42), S. 191f. 72 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 131.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

Diese Stelle lässt den Gegensatz zwischen dem Lebendigen – den Hunden oder den spielenden Kindern – und dem Leblosen – den Fahrzeugen und der Autobahn – deutlich werden. Denn allein die Kinder und die Hunde verhalten sich wie freie Wesen und ordnen sich nicht den leblosen Konventionen der Autobahn unter. Allein sie vermögen sich der Entfremdung durch die Autobahn zu entziehen. Daher treten Julio und Carol gerne in Kontakt zu ihnen und äußern sogar ihre Dankbarkeit für die [M]enschliche Dummheit. […] Denn […] wir sind die Nutznießer eines sonderbaren ungeschriebenen Gesetzes, nach dem Touristen, die mit ihrer Reise der städtischen Hölle, der Luftverschmutzung und dem Krach auf den Straßen entfliehen wollen, mit überwältigender Mehrheit dazu neigen, ihre Fahrzeuge so nah wie möglich an der Autobahn, praktisch an der Einfahrt oder Ausfahrt des Parkplatzes, abzustellen. Glücklich und entspannt, in Unterhemd und Shorts, stellen sie die Tischchen und Stühle (und das Radio und sogar den Fernseher) direkt neben ihre Autos, um sie aus der Nähe zu bewachen.73

Nicht nur in diesem Abschnitt – ‚Bräuche der Eingeborenen‘ – wird eine humoristische Parallele zur ethnografischen Feldforschung beschworen, indem die während der Datensammlung beobachteten Phänomene beschrieben werden. Die Autobahn wird dem Urwald gleichgesetzt, „die Franzosen [sind] die Indios dieser Autobahn“,74 sodass sich aus ihrem Verhalten und ihren „Götzen“ Rückschlüsse auf deren (primitive) Kultur ziehen lässt.75 Diese scherzhafte Herangehensweise evoziert über die klassische Reiseliteratur hinaus, auch wenn der Name nicht fällt, die Feldforschungen von Claude Lévi-Strauss im brasilianischen Amazonasgebiet. Das Leben auf der Autobahn spielt sich für die Autonauten im Grunde genommen außerhalb der Fahrbahn auf dem Rastplatz ab. Dort können sie beobachten, wie die Autobahn die Menschen um ihr Menschsein bringt. Die Autonauten selbst wissen sich nicht davon bedroht, denn sie lassen sich von der leblosen Funktionalität der Autobahn nicht beirren – sie entfremden sich nicht: „für uns besteht ja keine Gefahr mehr, denn wir haben begriffen, daß die wahre Autobahn nicht diese ist, sondern vielmehr die parallele, die wir seit Jahren vermuteten und jetzt endlich leben.“76 Diese parallele Autobahn bietet den Autonauten einen Zwischenraum, 73 Ebd. S. 136. 74 Ebd. S. 162. 75 Im Bezug auf die Suche nach dem angenehmsten Platz auf dem Rastplatz – diese erweist sich

i. d. R. als nicht besonders problematisch, da die meisten „Eingeborenen“ so nah wie möglich an der Fahrbahn bleiben wollen – schreibt Julio über die Mehrheit der Reisenden: „Ich meine […], daß sie schlicht und einfach bescheuert sind“ (ebd. S. 137). 76 Ebd., S. 124.

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weil wir im Grunde genauso außerhalb der Zeit wie außerhalb der Autobahn sind. Wir leben sie, aber sie ist nicht mehr der Feind mit Klingeln, Schellen und Stempeln, sie ist der Freund, der sich in einen Baum verwandelt, wenn wir im Schatten einen Schluck trinken oder lesen wollen, sie ist diese Art Nicht-Unterschied zwischen den Parkplätzen, alle sind ein Raum zum Leben, und das asphaltierte Band der Geschwindigkeit erscheint uns immer ferner und fremder. […] Die Parkplätze sind nämlich nichts anderes als Leere mit Dekor. Man muß sie zu füllen wissen.77

Der Rastplatz wird so zum Spielplatz, indem die Autonauten ihn durch ihre Performanz beseelen. Diese Performanz besteht aus Tätigkeiten des alltäglichen Lebens: Kochen, Essen, Schreiben, Schlafen, sich Lieben usw. In den Autonauten wird die Strecke zwischen Paris und Marseille als ein Leerraum beschrieben, der gefüllt werden muss. Und zwar durch ein Spiel. Das Spielerische präsentiert sich in diesem Buch in mehreren Facetten: erstens als tatsächliches Spiel eines sich liebenden Paars, das einen Monat auf der Autobahn verbringt. Die Autonauten berichten mit Faszination von der nächtlichen Umwandlung der Rastplätze durch die Lastfahrer, vom „willkürliche[n] Aufbau der Gespensterstadt“78 jede Nacht. Als die Autonauten Paare in die Lastwagen steigen sehen, idealisieren sie diese zum Ort der Sinnlichkeit. Und diese imaginierte Sinnlichkeit schlägt sich in den erotischen Begegnungen des Protagonistenpaares in Fafnirs Bauch nieder: Wir halten uns schon zu lange in diesem all men‘s land auf, als daß wir nicht seine sinnliche Aura gespürt hätten, die Klammer, die zu beiden Seiten den französischen Boden ausschließt, um diese Ader von achthundert Kilometern zu schaffen, dieses gewundene, zugleich männliche und weibliche Geschlecht, das sich zwischen Bergen und Ebenen auftut und hindurchgleitet, das in einem nicht einen einzigen Augenblick aussetzenden Hin und Her gibt und nimmt, ein endloser Orgasmus von der Porte d‘Orléans bis zur letzten Zuckung in einem aus phönizischen Liebschaften und hellenischen Raffinement geborenen Marseille, dem privilegierten Ort für die Krönung eines Genusses, der auf so vielen Rastplätzen, in so vielen Nächten begonnen hat.79

An dieser Stelle wird die Autobahn selbst erotisiert – als Ort der Sinnlichkeit, der eigentlich ein Zwischenraum ist, ja als Geschlechtsakt selbst. Die ganze Reise sei demnach nichts anderes als ein einziger Liebesakt.80 Das zweite Spiel besteht darin, dass die Autoren Julio Cortázar und Carol Dunlop dieses Spiel des Wolfes und der 77 78 79 80

Ebd., S. 138. Ebd., S. 244. Ebd. S. 241. An einer Stelle wird die Weltraummetaphorik über die Bedeutung von Fafnir als bewegungslose Kapsel in der Geschwindigkeitslandschaft der Autobahn hinaus auf den Liebesakt angewendet, als sich die Autonauten „[i]n diesem Zustand der Schwerelosigkeit […], wie in einem Kaleidoskop“ im Weltraumschiff Fafnir lieben. Ebd. S. 247f.

Die Autobahn als literarischer Spielplatz

kleinen Bärin zu einem literarischen Spiel verarbeiten. Und dieses literarische, das erste Spiel reflektierende Produkt ist an sich ein humoristisches Spiel mit literarischen Vorbildern und mit dem eigenen Werk. Dieses Spiel Cortázars und Dunlops ist eine Lebensbejahung. Oder mit Jaime Alazraki ein „Spielen als die höchste Form zu leben.“81 Dieses Spiel, diese Reise von Paris nach Marseille steht symbolisch für das Leben, das intradiegetisch mit der Ankunft in Marseille, extradiegetisch einige Monate später mit Carols Tod zu Ende geht.

4 In einem der letzten Textbausteine von Die Autonauten auf der Kosmobahn wird berichtet, wie die Freunde des Paars bei der Rückkehr in Paris eindringlich nach dem Sinn der Reise fragten, in der Vermutung, sie seien auf der Suche nach einem höheren Ziel, nach einem „Gral“. Julio und Carol erwiderten, sich keine solchen Gedanken im Voraus gemacht zu haben: „Es war ein Spiel für eine kleine Bärin und einen Wolf, und das war es dreiunddreißig wunderbare Tage lang. […] Entfaltung in Glück und Liebe […], diesen Monat außerhalb der Zeit, […] uneingeschränktes Glück.“82 Zwar folgen die Autonauten keiner anderen Intention, als einfach um des Spielens, der Liebe willen zu spielen. Aber mit diesem Spiel machen sie eine Reihe von Entdeckungen, indem sie durch das Spiel eine neue Beziehung zur Wirklichkeit begründen. Die suggestive Metapher der Autobahn als Schlange, die wegen ihrer Länge, ihrer sich schlängelnden Bewegung und der von ihr ausgehenden Bedrohung einleuchtend ist, wird allmählich durch die veränderte Wahrnehmung aus dem Stillstand entschärft: Sie sei ein „Schlangenspießchen“ und stelle für die Autonauten keine Bedrohung mehr dar. Indem sie gegen die Gesetze der Autobahn bewusst verstoßen und sich gegen eine schnelle und durchgeplante Fahrt entscheiden, um ein solches Spiel zu veranstalten, entlarven die Autonauten die absurde Funktionalität der Autobahn und zeigen ihre menschenfreundliche Seite – die immer da war, aber nicht wahrgenommen wird, weil die meisten Fahrenden sich, von der unpersönlichen Umgebung des künstlichen Bauwerkes und von den mechanischen Konventionen der Autobahn getrieben, entfremden. Indem man die Autobahn von ihrer Funktion löst, sie als Gegenstand einer humoristischen ethnografischen Feldforschung und vor allem als Kulisse einer Performanz, als Spielplatz benutzt, lässt sich die menschliche Seite der Autobahn aufdecken – die Autoren Julio Cortázar und Carol Dunlop führen uns vor Augen, wie die Autobahn zu einem Ort der Kunst werden kann. Indem sie dieses Spiel spielen und in der scheinbar menschenfeindlichen Umgebung der Autobahn ihr Menschsein 81 Alazraki (Anm. 13), S. 249. 82 Cortázar / Dunlop (Anm. 3), S. 356f.

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energisch bejahen und zugleich die menschliche Entfremdung aufzeigen, erfüllen sie Schillers Programm der ‚ästhetischen Erziehung‘, das auf der anthropologischen Dimension des Spiels basiert. Denn im durch das Spiel aufgedeckten Zwischenraum der Autobahn werden sie zu freien Menschen im ästhetischen und ethischen Sinne. Somit verwirklichen Die Autonauten auf der Kosmobahn Schillers Diktum: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“83  Kapitelendet

83 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.

In: Rolf-Peter Janz (Hg.): Friedrich Schiller. Theoretische Schriften. Frankfurt a. M. 1992, S. 556–676, hier S. 614.

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Kreis aus Kreisen · Automobile Bewegung im gegenwärtigen amerikanischen Kino: Lost Highway, Drive und Somewhere Über die große Bedeutung der automobilen Bewegung für den Bildraum und das Selbstverständnis des amerikanischen Kinos müssen keine großen Worte mehr verloren werden: Zu bekannt mag klingen, was man da zu sagen hat, zu selbstverständlich und beinahe abgegriffen. Im Land der Ideologie grenzenloser Mobilität und eines dazugehörigen Freiheitspathos, das sich schon durch den geringen Anstieg von Benzinpreisen nachhaltig angegriffen fühlt, ist für das symbolische Feld von Auto und Autobahn ein eigenes Filmgenre erfunden worden: das Roadmovie. Die filmischen Codes, Narrative und Gestaltungsprinzipien des Roadmovies haben sich dabei allerdings mittlerweile längst von ihrem engen Genreursprung emanzipiert und sind zum ‚Optisch-Unbewussten‘1 unserer westlichen Filmkultur im Ganzen geworden, das über alle Genregrenzen hinweg frei flottiert: freilich wiederum mit Ursprüngen auch im Bereich der Literatur, wenn man an Jack Kerouacs On the Road von 1957 denkt. Das idealtypische Inventar des Roadmovies ist begrenzt: zumeist ein (mal antagonistisches, mal komplementäres) Paar oder eine kleine Gemeinschaft, auf dem Weg zu einem weit entfernten räumlichen Zielpunkt, der im Laufe der Reise vom Zweck zum bloßen Anlass wird; der Fetisch des Fahrzeugs, der prothetischen Selbstbewegung, und des Weges selbst, der im Mittelpunkt steht; das Ineinander von Reise und Konfliktdramaturgie der Protagonisten, sowohl intern als auch in Relation zu äußeren Faktoren der Fahrtroute. Hinzu kommen die ebenfalls idealtypischen Elemente der Bildsprache und des filmischen Wahrnehmungsraumes: der Fokus auf dem In- und Gegeneinander von Kulturlandschaft und Natur, von Bewegung und Raum, Vorankommen und Stillstand; die besondere, am Roadmovie vornehmlich entwickelte und perfektionierte Symbiose von Filmbild und moderner Pop- und Rockmusik, die dem Musikvideo den Weg geebnet hat; die filmischen Codes der Vermessung von Landschaft aus der Bewegung heraus, d. h. die dynamischen technischen Erschließungsformationen von Natur- und Kulturraum, ihre eigentümliche Erhabenheit und Schönheit, unter der sinnlichen Wahrnehmungsbedingung der ständigen Ortsveränderung; sowie die Korrelation dieser räumlichen Codes zu 1

Damit greife ich einen Terminus Benjamins auf. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt a. M. 1991, S. 431–509, hier S. 461.

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psychologischen bzw. sozialen, individuellen wie kollektiven, mythischen wie säkularen Problemhorizonten menschlichen Daseins. Und schließlich die typischen semantischen Dispositive: Ausbruch aus gesellschaftlicher bzw. lebensgeschichtlicher Erstarrung in der symbolischen Form der Bewegung, die Codierung sozialer Freiheit als Dynamik räumlicher Kraft und Richtung, die Schule des Sehen-Lernens des In-der-Welt-Seins anhand der gerade in der Flüchtigkeit des bewegten Blicks hervortretenden Spuren und Konfigurationen der „Kulturlandschaft“; die glückliche Vermählung von Mensch und Technik dergestalt, dass das Auto zur Prothese der Selbstwerdung von Individuen wird; das individuelle Zu-sich-Kommen im Laufe der Reise als filmisches Äquivalent zum klassischen Bildungsroman. Alle diese Muster sind dem Filmzuschauer hochvertraut, eben auch deshalb, weil sie längst die Genregrenzen passiert haben und zu Meta-Elementen der sonst oft strengen Genrezugehörigkeiten im amerikanischen Film geworden sind. Kanonische Beispiele drängen sich auf, die so zahlreich sind, dass ihre Aufzählung fast unmöglich scheint und deshalb einige wenige stellvertretend zu nennen sind: Dennis Hoppers Easy Rider (1969) als Prototyp neben Arthur Penns Bonny and Clyde (1967), Michelangelo Antonionis Zabriskie Point (1970), Sam Peckinpahs The Getaway (1972), Terrence Malicks Badlands (1973), Steven Spielbergs Sugarland Express (1974), Barry Levinsons Rain Man (1988), Andrei Kontschalowskis Homer and Eddie (1989), David Lynchs Wild at Heart (1990), Ridley Scotts Thelma and Louise (1991) oder Jim Jarmuschs Broken Flowers (2005). Bemerkenswert dabei ist aber, dass das Roadmovie – wieder idealtypisch und verkürzend gesprochen – keineswegs, wie es die Stichwortliste seiner Elemente nahelegen könnte, vor allem so etwas wie die bloße ‚Verklärung des Gewöhnlichen‘ der amerikanischen Kultur und ihrer Dispositive von Freiheit und Individualität war und ist. Von Anfang an ist die Rückerinnerung an die räumliche Bewegung des ‚frontier spirit‘, die im Roadmovie lebendig ist, nämlich die räumliche Erschließungsbewegung als Vorstoß ins Offene und Unbekannte der eigenen Ichwerdung, mit der Doppelbedeutung des englischen Ausdrucks „to go west“ aufgeladen, wie er beispielhaft am Ende von James Joyce’ Erzählung „The Dead“ aus den Dubliners zu finden ist: „The time had come for him to set out on his journey westward.“2 Denn „to go West“ bedeutet schließlich auch im übertragenen Sinn zu sterben, verloren zu gehen oder zerstört zu werden.3 Demgemäß ist im Roadmovie von Anfang an – wie bspw. schon in Easy Rider deutlich zu sehen – die lebenserneuernde und lebenserschließende automobile Bewegung mit der erhöhten Gefahr der Vernichtung und Entleerung innig verknüpft. Die Doppelcodierung von Freiheit und Untergang, Glück und Scheitern im Roadmovie als das riskante, dezisionistische Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Lebensbedingungen im Ausbruch aus 2 3

James Joyce: Dubliners. London 1996, S. 255. Vgl. das Nachwort zur deutschen Ausgabe der Dubliners von Willi Erzgräber. In: James Joyce: Dubliners. Übers. von Harald Beck. Stuttgart 1995, S. 307–338, hier S. 337.

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     1  Bruce Springsteen, Atlantic City (1982) aus dem Album Nebraska (1982)

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der räumlichen und sozialen Gefangenschaft kann dabei sowohl – wenn auch eher selten – als konservative Warnung vor den Gefahren einer solchen Grenzüberschreitung als auch (wie zumeist) als Kritik am Verrat des amerikanischen Traums von Freiheit und dynamischer, offener, glücksversprechender Lebensentwürfe durch die Zwänge und Gewaltmechanismen von Kulturindustrie, Kapitalismus und Puritanismus gelesen werden. Spannend für das klassische Roadmovie ist stets dieser kritische wie sogar oftmals kulturpessimistische Zug, das tragische Gegeneinander der beinahe metaphysischen Freiheits- und Selbsterfüllungsdimensionen der Reise im Auto einerseits und der gegenstrebigen begrenzenden Bedingungen des sozialen Raums: Gewalt und Unterdrückung als Symptome sozialer Ungerechtigkeit, psychische und physische Verkümmerung von Menschen, sozialen Beziehungen und Kulturlandschaften als erstarrte Missstände der amerikanischen Gesellschaft. Zwei überdeutliche Beispiele, die dieses Grundmotiv des Roadmovies bereits symbolisch reflektieren, sollen das kurz und sehr schematisch, sozusagen als Embleme dieser Spannung, illustrieren. Beide sind gewissermaßen Musikvideos, obwohl das eine Beispiel aus dem Format des Spielfilms stammt, d. h. beide verdichten auf formaler Ebene den Zusammenhang von Roadmovie und Popmusik nochmals. Das ‚echte‘ Musikvideo ist Bruce Springsteens Atlantic City aus dem Album Nebraska (1982). Die Filmschnippsel des Videos reflektieren die Mythisierung der automobilen Bewegung im Roadmovie anhand der einfachsten Grundform seiner episodischen Struktur – Fahrt nach Atlantic City, Aufenthalt, Weiterfahrt ins Unsichere – und brechen zugleich in eine radikale Desillusionierung hinein. Springsteen erzählt auf der Tonspur von Geldnöten, einer verlorenen, erstarrten Liebesbeziehung, von Einsamkeit, Heimatlosigkeit und der alles beherrschenden Kriminalität, der sich auch das lyrische Ich am Ende unterwirft: Das Unterwegssein wird zur Metapher des gänzlichen Verlorenseins und der existenziellen Haltlosigkeit. Die Bilder unterlegen dies, indem sie das immer Gleiche des amerikanischen Kulturraums, seine erstarrten Ruinen des Offenen, die Bars, Motels, Parkplätze, Häusersiedlungen und Lichtreklamen als unendliche Kette einer einzigen im Grunde richtungslosen und leeren Bewegung hervorkehren. Die Einsamkeit der Großstädte spiegelt sich in der Trostlosigkeit der automobilen Bewegung und der Vereinzelung der Subjekte in ihren Automobilen, die nicht wie ihre Träger, sondern mehr wie ihre Käfige erscheinen. Die ständige Vorbeifahrt an den großen Werbeschildern der Highways illustriert das Leben in einem ständigen Glücksversprechen, das gebrochen wird. Der später wieder aufgehobene Zielpunkt der Fahrt, Atlantic City, erscheint trotz der Menschenmassen zugleich menschenleer, weil nirgends deutlich ein Gesicht zu sehen ist4 und die Allgegenwart der ökonomischen Interessen jede Entfaltung von Subjektwerdung unterdrückt. Die 4

Denn die Spieler und Personen stehen meist mit dem Rücken zur Kamera; außerdem verwischen die ständige Bewegung der Kamera sowie die Grobkörnigkeit der monochromen Fotografie jede Individualität.

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räumliche Bewegung offenbart ein hoffnungsloses Gleiten innerhalb eines durchfunktionalisierten Raums, der keinen Ausgang ins Offene mehr kennt,5 und das Automobil als Zelle der Vereinzelung, die allgegenwärtig ist. Nur in ganz kurzen Augenblicken, wie in dem Schlussbild eines menschenleeren nächtlichen Parkplatzes, blitzt vielleicht, allerdings im Gewand ihres Verlorenseins, eben die Schönheit des Moments auf, die der Fluchtpunkt der Hoffnung im Roadmovie ist. Das zweite Beispiel ist ungleich drastischer und realisiert die angesprochene dualistische Grundstruktur des Roadmovies im Medium der Körperlichkeit. Es stammt aus Rob Zombies Film The Devil’s Rejects (2005), genauer gesagt ist es dessen Schlussszene, als deutliche Reminiszenz an Arthur Penns Schlussszene aus Bonnie and Clyde. Die Reflexion des Roadmovie-Gegeneinanders von Freiheitshoffnung und Freiheitsverlust, gesteigerter Vitalität und Vernichtung wird hier sowohl durch deren radikale Zuspitzung in der expliziten Drastik ausgestellter Zerstörung menschlicher Körper erreicht wie auch dadurch, dass Rob Zombie den gesellschaftlichen Raum des Gegeneinanders von Freiheit und Unterdrückung als den einer umgreifenden Herrschaft von Gewalt dekliniert. Die Protagonisten der Freiheit sind hier nämlich eine Familie von Vergewaltigern, Massenmördern und Sadisten, in denen der antiautoritäre Freiheitsdrang des Roadmovies die Züge eben des Gewaltapparats angenommen und gesteigert hat, der ihnen in der Form staatlicher Autoritäten entgegentritt. Anders gesagt: Die spezifische Idee der Freiheit und Selbstfindung im automobilen Unterwegssein auf der Straße überlebt hier nur noch als soziale Perversion in der Form flüchtiger Psychopathen; eine Möglichkeit, die im ambivalenten Charakter der Kriminalität im Roadmovie immer schon angelegt war. Beinahe sarkastisch unterlegt vom emblematischen Song der Freiheitsideologie des Rock, Lynrd Skynrds „Free Bird“, kann deshalb die Lösung nur die einer völligen Vernichtung sein, in der der antagonistische Raum des Roadmovies implodiert. Die Protagonisten sterben im Kugelhagel der Polizei, auf die sie in ihrem Auto im vollen Bewusstsein ihres kommenden Endes schießend und schreiend zurasen: als konsequente Zuspitzung der irritierenden Weise, wie im automobilen Unterwegssein Selbstfindung und Selbstverlust, Freiheit und Vernichtung ineinanderfallen können. Was bleibt, ist ein langer, knapp oberhalb der gewöhnlichen Perspektive der Frontscheibe positionierter Kameraflug über den nun autofreien Highway, der den Fetischcharakter der Straße durch die Konzentration auf ihre ‚reine‘ menschenleere Gestalt und den Kult der automobilen Bewegung durch ihre Steigerung im rasenden Tiefflug der Kamera deutlich herauskehrt. 5

Vgl. Hölderlins Gedicht Der Gang aufs Land: „Komm! Ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute / Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein. / Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes / Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft. / Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ (Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992, S. 276.

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     2  The Devil’s Rejects (USA 2005)

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Ich will im Folgenden an drei Beispielen neuerer amerikanischer Spielfilme, die wesentliche Elemente des Roadmovies aufnehmen und reflektieren, aufzeigen, welche Möglichkeiten das amerikanische Kino durchspielt, um die aporetische Struktur des Roadmovies zwischen metaphysischem Freiheitspathos und sozialkritischem Pessimismus produktiv zu reflektieren. Beginnen möchte ich mit David Lynchs Lost Highway von 1997. Dabei ist es nicht mein Ziel, der überbordenden Interpretationsmaschinerie der weltweiten Lynch-Forschung einen weiteren Versuch hinzuzufügen. Lost Highway ist vielleicht Lynchs archetypischster Film: archetypisch in Bezug auf sein eigenes Werk und die Interpretationsfallen, die es permanent vor allem dadurch setzt, dass es über die Grenzen der Filme hinweg ein Arsenal von motivischen und filmsprachlichen Elementen kontextuell dreht und verschiebt. Er ist sicher auch Lynchs meistinterpretierter Film, um den sich beinahe eine eigene Wissenschaft aufgebaut hat, die mittlerweile wiederum ihre eigenen, kanonischen Deutungen wie die Slavoj Žižeks6 zu Meta-Gegenständen macht. Um mich also auf dieses Geflecht gar nicht erst einzulassen, auf die Frage nach seiner generellen Entschlüsselbarkeit, nach dem narrativen Grundmodell seiner Dramaturgie (Fiebertraum, Seelenwanderung, Halluzination aufgrund eines Traumas, moderne Faust-Variante etc.) oder nach der intra- und intertextuellen Kohärenz der Flut von Lynch-typischen Motiven, möchte ich ganz isoliert – und dem Film im Ganzen gegenüber sicher unangemessen – einzig die Frage nach der Verwandlung des Roadmovie-Grundmotivs fokussieren. Vergegenwärtigt man sich den Plot, kommt jede Nacherzählung schnell an ihre Grenzen: Ein eifersüchtiger Mann verwandelt sich scheinbar nach dem scheinbaren Mord an seiner Frau, der er Ehebruch unterstellt, im Gefängnis in einen anderen Mann, der ihm in vielem entgegengesetzt ist. Eine zweite Handlung setzt ein, die aber mit der Handlung vor der Verwandlung auf komplexe Weise durch Spiegelungen, Kontraste, Wiederaufnahmen, Parallelaktionen und Brechungen verknüpft ist, deren Figuren und Figurenkonstellationen variieren und so eine andere Version des Plots vor der Verwandlung darstellen, bis sich am Ende der Kreis derart schließt, dass das Ende der zweiten Handlung in den Anfang der ersten läuft. Die titelgebende und leitmotivisch durch den Film immer wieder auftauchende Fahrt auf dem Highway bei Nacht, mit der der Film in Vor- und Nachspann auch beginnt und endet, ist dabei mehr als nur ein Einzelmotiv aus Lynchs Arsenal mythopoetischer Bilder. Ohne sich in eine tiefer gehende Interpretation des Films zu verstricken, kann man doch dieses Motiv des Roadmovies als den symbolischen Reflexionsraum des gesamten Films begreifen. Pointiert gesprochen: In diesem Motiv verräumlicht Lynch die diffuse und zerstreute Zeitlichkeit des Ich, das immer unterwegs ist zu sich als 6

Slavoj Žižek: The art of the ridiculous sublime. On David Lynch’s Lost Highway. Washington 2000.

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anderes, und dabei eben manchmal in zwei Hälften zerbricht, sich also in einen anderen verwandelt – die maximale Entfremdung von sich selbst. Das metaphorische Unterwegssein zu sich im Roadmovie wird existenziell beim Wort genommen und zugleich dadurch dekonstruiert, dass der bloß symbolische oder funktionale Zusammenhang zwischen außen und innen, ihre säuberliche Trennung im Roadmovie zusammenbricht. Der offene, weite Landschaftsraum des Roadmovies, wo er in Lynchs Bildern antithetisch zu den engen, raumlosen Bildern des Highways bei Nacht zusammengedrückt wird, veräußerlicht die Diskontinuität des Ich, das in kaum mehr wiedererkennbare Stadien seiner selbst auseinanderfällt. Die automobile Bewegung ist selbst die stets traumatische Differenz eines Ich zu sich selbst, das auf dem Highway in das Dunkel seines eigenen zerbrochenen Zusammenhangs hi­neinrast. Damit wird die Bewegung des Roadmovies in das Offene der Landschaft hinein zu einer Kreisbewegung um den Abgrund der Identität des Ich, weil der progressive Zusammenhang der eigenen Identität keine Zielrichtung mehr kennt und ortlos wird. Lynchs Verstörungseffekt in Lost Highway liegt deshalb zu einem großen Teil genau darin, eine symbolische Transformation der inneren, fluiden Zeitlichkeit des Ich in den äußerlichen Verlust der substanziellen Selbstidentität räumlicher Personen vorzunehmen – eben jener Räumlichkeit, die als träge Selbst­ identität von Körpern und ihrer organischen Leib-Geist-Einheit den diffus-fluiden Raum der inneren, zeitlichen Konstitution von Subjektivität normalerweise auffängt und begrenzt. Das Tauschmotiv des Films wird so ausgedehnt: Wie bei Lynch Menschen oft seelenlos und tote Dinge dagegen belebt erscheinen, Innerliches und Äußerliches symbolisch und wörtlich die Plätze wechseln, so transformiert sich die innere Zeitlichkeit von Subjektivität in das Tableau räumlicher Anordnungen und äußerer Handlungen. Wo sich Menschen plötzlich körperlich in ein anderes Ich verwandeln, dessen räumlicher und materieller Zusammenhang mit seinem Ursprungskörper aufgekündigt ist und nur mehr unsichere, undeutliche symbolische Interferenzen zwischen beiden hin und her spielen, da ist die stabilisierende symbolische Interaktion von räumlicher Bewegung und innerlicher Veränderung des Ich aus dem Roadmovie radikal gegen sich selbst gekehrt. Lynch reflektiert in Lost Highway filmisch die Grundspannungen des Roadmovie zwischen räumlicher Bewegung und innerer Selbstwerdung, Freiheitspathos und unterdrückender Gewalt, indem er das zugrunde liegende kategoriale Muster der Korrelation von äußerer automobiler Bewegung im Raum und innerer Bewegung von Ichbildung in ihrem Unterschied destabilisiert. Das traumatisierte Subjekt fällt für sich in zwei unerkennbare Personen auseinander, die sich nur mühsam und nur bruchstückhaft ihres gemeinsamen Zusammenhangs zu entsinnen vermögen und so stets in denselben falschen, aporetischen Handlungen gefangen bleiben, ohne Chance auf Erinnerung und damit Fortentwicklung. Die Fahrt auf dem nächtlichen Highway, indem sie diese existenzielle Schizophrenie in das Symbolfeld des

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Roadmovies überträgt, kehrt so dessen Selbstfindungssemantik gegen sich selbst: Verloren ist, wer sich in der Geschwindigkeit der äußeren und inneren Fortbewegung den eigenen Fliehkräften hingibt. Wie wichtig dieses Muster für Lynch ist, zeigt dessen Wiederaufnahme in Mulholland Drive (2001), wieder mit dem Bezug auf die Fahrbahn im Titel und erneut dieses Problem der Identitätstransformation in zwei auseinanderdriftenden Filmhälften durchspielend. Drive von Nicholas Winding Refn (2011), basierend auf einem Roman von James Sallis,7 ist hingegen auf einen ersten Blick an einer solchen Dekonstruktion des kategorialen Grundmusters des Roadmovies nicht interessiert, im Gegenteil. Wie schon die Abstraktion der Pragmatik des Roadmovies überhaupt im Titel andeutet („drive“), überhöht der Film dessen Elemente und Motive sogar noch, indem er sie archetypisch noch weiter isoliert und zuspitzt. Refn hat in Interviews immer wieder betont, dass er mit diesem Film die Logik eines Märchens auf die Dramaturgie des Roadmovies übertragen wollte. Dementsprechend ist bspw. das Figurenarsenal auf die einfache märchentypische Grundsituation reduziert: ein Held, eine Art Prinzessin, der böse Gegenspieler des Helden und sein Komplize, eine Art böser Drache als Wächter zum Turm des Bösewichts. Los Angeles, der reale Ort der Handlung hingegen, existiert im Film eigentlich nur als ein permanentes, wenn auch motivisch ausdifferenziertes visuelles Hintergrundrauschen, in dem die Figuren isoliert von allen anderen Menschen auftreten – man sieht in der Tat keine anderen Charaktere im Film – und so ihre Funktionalität noch deutlicher heraustritt. Der Plot dreht sich um einen Stuntman („Driver“), der nachts nebenbei als Fluchtwagenfahrer bei Einbrüchen fungiert und sich in eine mittellose, junge Mutter (Irene) verliebt, deren krimineller Mann (Standard) gerade aus dem Gefängnis entlassen wird und so die aufkeimende Liebe der beiden unterbindet. Die bösen Gegenspieler wiederum sind ein Gangsterboss (Bernie) und sein Kompagnon (Nino), die den gerade erst aus dem Gefängnis entlassenen Standard zu einem Überfall zwingen, bei dem ihm der Driver beisteht und der fürchterlich schiefgeht. Standard wird dabei erschossen, Bernie und Nino sind nun hinter dem Geld aus dem Überfall und damit hinter dem Driver und Irene her; erst ein Showdown klärt hier die Verhältnisse zugunsten des Drivers. Die Handlung klingt unaufregend und ist es, derart abstrahiert, auch; was den Film so elektrisierend macht und sicherlich seinen großen Erfolg auch bei der Kritik bestimmt hat, ist die Art und Weise, wie Refn das irreale Märchensetting mit der Melancholie und dem Realismus von Roadmovie und Gangsterfilm verschmilzt. Damit gelingt ihm bspw. in den Straßenszenen eine Überhöhung und Veredelung der Motive des Roadmovies beinahe ins Transzendente: die Einsamkeit der Fahrt, das Einschwingen von Mensch und Maschine aufeinander, die überwältigende Resonanzerfahrung von Ich und Stadtlandschaft 7

James Sallis: Drive. Scottsdale 2005.

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im Miteinander der Bewegung als Feier des intensiven, überdeutlichen Augenblicks der Wahrnehmung und des eigenen Körpergefühls. Der Vorspann des Films, der erneut die Logik des Musikvideos reflektiert, das aus dem Roadmovie entsprungen ist, macht diese filmische Engführung der Erfahrungsdimensionen der automobilen Bewegung im Roadmovie, ihre reine Präparierung und Überhöhung, emblematisch deutlich: im Rhythmus einer gleichzeitigen Isolierung und Verschmelzung seiner archetypischen Gesten, Einstellungen, Blicke, Haltungen. Damit aber, so könnte man einwenden, ist doch der Mythos des Roadmovies nur spätmodern zugespitzt: Wo aber soll er sich filmisch wiederum reflektiert und gebrochen finden, sodass Drive in die Reihe der produktiven Problematisierungen der Spannungen und Aporien des Roadmovies gehört? Wieder pointiert gesprochen: Drive taugt als eine genuine filmische Auseinandersetzung mit den Bedeutungshorizonten des Roadmovies, weil der Film den existenziellen Ausstand, d. h. das Gefühl des Noch-nicht-angekommen-Seins verabsolutiert, indem er es in eine Logik des Supplementären übersetzt. Der Held des Films wird in Filmbesprechungen zumeist nur ‚Driver‘ genannt, weil er als Einziger namenlos bleibt: als Emblem dafür, dass er nicht nur der archetypische, unzerstörbare Held an sich, sondern zugleich geradezu die Verkörperung des Ersatzmannes ist, der auf etwas anderes, Eigentliches wartet oder es vertritt. Als solches ist er das Derrida’sche Supplement, das die Eigentlichkeit aufschiebt und vertritt, das nur deren Zeichen und Platzhalter ist.8 Der Film rückt diese Verkörperung des Ausstands und des Platzhalters entgegen dessen Logik, ein eigentliches Zentrum nur zu vertreten, selbst ins Zentrum des Geschehens. Zugleich verknüpft er diese Figur aber über ihre Funktion als Fahrer und über die Personen- und Bilddramaturgie des Roadmovies mit dem Bedeutungsfeld des Unterwegsseins zwischen Freiheit und Repression. Dabei wird die regulative Teleologie des Roadmovies aufgesprengt: Wo der Held die Verkörperung des unendlichen Aufschubs und des Ausstands von Eigentlichkeit ist, da wird die Bewegung des Roadmovies vollends zur leeren Kreisbewegung. Denn auch, wenn im klassischen Roadmovie die Reise selbst, verstanden als Bildungs- und Bewusstseinsweg, das Ziel ist, so heißt das doch, dass sich zumindest logisch Weg und Ziel, Mittel und Zweck an der Bewegung selbst unterscheiden lassen. Eine solche Bewegung, deren Ziel in ihrem eigenen Vollzug liegt, hatte schon Aristoteles als „energeia“ von der „kinesis“ der „poiesis“ unterschieden: „Energeia“ ist eine gerichtete Kraft, deren Ziel nicht wie bei der „poiesis“ extrinsisch ist, sondern in ihr selbst als Bewegung liegt. Sie ist damit in jedem Augenblick bereits vollendet, ohne beendbar zu sein; poietische Bewegungen hingegen gehen in ihrem Zielpunkt,

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Zum Derrida’schen Begriff des Supplements vgl. übersichtlich Jacques Derrida: Die différance. In: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte. Hg. von Peter Engelmann. Stuttgart 2004, S. 9–50.

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     3  Drive (USA 2011)

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dem Produkt, unter und werden durch dieses definitiv aufgehoben.9 Wo demnach die klassische Raumbewegung des Roadmovies eine solche „energeia“ ist, da verliert hingegen für den Driver die Unterscheidung von Weg und Ziel auch an der Bewegung selbst ihren Sinn: Als Verkörperung des Supplementären wird das eine Moment der „energeia“, der Ausstand und der Mangel in jeder Bewegung, derart verabsolutiert und auf unendlich gestellt, dass sein komplementäres Moment der Erfüllung in ihm verloren geht. Folgerichtig ist der Driver in ein ganzes Netz von Ersatzfunktionen eingespannt, die unbeendbar und unerfüllt erscheinen: Als Stuntfahrer beim Film ist er der Ersatz des Schauspielers, unter dessen Maske verborgen; als verhinderter Liebhaber ist er nur der Ersatz des Ehemanns von Irene; als Protagonist im zentralen Konflikt ist er nur der Stellvertreter eines Helden, der erkennbar weder dessen Ethos noch expressives Rollenverständnis einnehmen kann, weil er immer wieder durch seine eigenen Pathologien, bspw. einen latenten Sadismus, nur dessen unzureichender Ersatz bleibt; als zugespitztester Archetyp des ganzen Films ist er nur Supplement einer heroischen Individualität, durch die er erst Anrecht auf das ihm dauerhaft versagte Glück nehmen könnte; als Filmfigur ist er nur das Gerüst archetypischer Gesten und filmhistorischer Zitate von Taxi Driver bis Heat. Diese Hölle der Vorläufigkeit für den Driver übersetzt der Film immer wieder in Bildfolgen des Roadmovies, d. h. in eine ziellose, aber nun ihre Ziellosigkeit immer stärker markierende Raumbewegung. Folgerichtig ist dieses Fahren des Drivers keine landschafts- und icherschließende Bewegung in ein Offenes hinein, sondern ein Auf-der-Stelle-Fahren, ein Kreisen in den leeren Straßen von L. A., das die Leere nicht wie im klassischen Roadmovie füllt, sondern fühlbar macht, und geradezu ein Unsichtbarwerden des Drivers, ein Verschwinden in dieser Bewegung (beide Bewegungen führt bereits die Exposition des Films anhand eines Überfalls durch). Das Ende des Films setzt diese Logik dramatisch in Szene: Selbst der gewonnene Endkampf mit dem Gangsterboss Bernie, als eigentlicher Zielpunkt der teleologischen Märchendramaturgie, vermag diese 9

Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z)–XIV (N). Hg. von Horst Seidl. Hamburg 31991, S. 117–119 [Buch IX, Kap. 6f, 1048b]. Aristoteles unterscheidet in der Nikomachischen Ethik (I 1, 1094a3–6) zwei verschiedene Arten von Zielen, mit deren Hilfe sich ontologisch verschiedene Arten der Bewegung beschreiben lassen: auf der einen Seite das „Werk“ (ergon), auf der anderen Seite das „Tätigsein“ (energeia). Das „Werk“ impliziert dabei eine Bewegung, deren Ziel extrinsisch ist, also in einem außerhalb ihrer selbst gelegenen Gegenstand sich befindet. Als definierter Endzustand ist dieses Ziel wie die Bewegung in sich abgeschlossen. Diese Bewegung (kinesis) des „Herstellens“ (poiesis) ist damit von anderer Art als die Bewegung des „Tätigseins“ (enérgeia), bei welcher das Ziel die Bewegung selbst ist, weshalb diese in keinem außerhalb ihrer gelegenen Endprodukt ankommen kann und folglich sowohl ›unendlich‹ (denn sie findet kein letztes Ende) als auch ›vollendet‹ (denn sie ist in jedem Punkt ihres gelungenen Vollzuges erfüllt) ist (vgl. Nikomachische Ethik, VI 2, 1139a35–1139b3, VI 6, 1140b6–7, Metaphysik, IX 6, 1048b18–35).

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entleerte Vorläufigkeit nicht aufzuheben. Dem Driver bleibt das Happy End, das ihn zum Helden erklären würde, versagt. Ihn hält die leere Bewegung der Straße weiter gefangen, während Irene, deren Anerkennung als ihr Prinz es bedürfte, um ihn zum Helden der Geschichte zu erklären, die Wohnung des Drivers verlassen findet: Nun sind also beide im ewigen Ausstand gefangen. Mein letztes Beispiel ist Sofia Coppolas Somewhere von 2010, ein Drama über eine problematische Vater-Tochter-Beziehung mit allen klassischen Zutaten des Roadmovies: ein schwieriges, sich aber im Laufe des Films entwickelndes zwischenmenschliches Verhältnis zwischen dem gelangweilten Filmstar Johnny Marco und seiner von ihm getrennt lebenden pubertierenden Tochter Cleo; und der gemeinsame Bildungsprozess im Raum des Unterwegsseins, das Abarbeiten der gegenseitigen Enttäuschungen und das gemeinsame Bewältigen der je eigenen Existenzzweifel. Coppolas Film verlegt wie Drive den Rahmen der gemeinsamen Reise in den Raum der Großstadt Los Angeles zurück: So wie wir ständig Johnnys Ferrari in den sonnenüberfluteten Straßen des Sunset Boulevard kreisen sehen, gefangen wie Rilkes Panther hinter den Gitterstäben seiner Existenz als Filmstar, so transformiert der Plot die Geradlinigkeit der Roadmovie-Bewegung in eine ständige Kreisbewegung zwischen den ziellos wirkenden Fahrten in L. A. und dem berühmten Star-Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard, selbst ein Ort hochgradigen Transits und Übergangs. Die beiden Ausbrüche aus dieser Kreisbewegung in eine geradlinige Reisebewegung, nämlich eine Promotiontour von Vater und Tochter nach Rom sowie die Fahrt zu Cleos Summer Camp, ordnen sich im Ganzen diesem Kreisen ein. Bereits die Pre-Credit-Scene verdeutlicht diese dramaturgische Bewegungslogik, indem sie Johnny Marcos innere Rat- und Ziellosigkeit sowohl in der leeren Kreisbewegung des Rennfahrens als auch in der räumlichen Leere der Wüstenszenerie, in der das Auto kreist, spiegelt. Dieses Kreisen als Motiv könnte nun leicht als bloßes Symbolfeld existenzieller Leere und zurückgehaltener Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz verstanden werden, und tatsächlich durchzieht die Figur Marcos eine solche Psychologie des Untergangs, die aber nur an ganz wenigen Punkten, und dann auch nur sehr dezent, hervorbricht. Doch das Besondere an Coppolas impressionistischem Stil der Inszenierung ist es gerade, die großen Konflikte und Entscheidungssituationen, das Pathos überwältigender Verzweiflung und des Kampfes um innere Freiheit und Selbstbestimmung auszublenden, und sich stattdessen auf das Remedium des Alltäglichen einzulassen. Die existenzielle Müdigkeit und gegenseitige Enttäuschung ihrer beiden Hauptfiguren wird nicht in eine Dramaturgie von Konfliktsituationen übersetzt: Ein stiller, zugleich nur vorsichtig wütender wie enttäuschter Blick von Cleo zu ihrem Vater, als dieser wieder einmal eine nächtliche Eroberung am Frühstückstisch präsentiert, ist bereits das Maximum der Auseinandersetzung. Kritiker haben Coppola das zuweilen als Desinteresse an Figurengestaltung vorgehalten oder gleich

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     4  Somewhere (USA 2010)

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den ganzen Film als Ennui-Dekadenz gelesen, in der nur mehr innere Erstarrung die Figuren regiere. Doch das Gegenteil ist der Fall, und die Pointe von Coppolas Aktualisierung des Bildungsgedankens des Roadmovies geht derart verloren. Denn der Film ist weit davon entfernt, die Logik seiner Kreisbewegungen, sowohl auf der Ebene der Figurenpsychologie als auch ihres Ausdrucks im Raum, als ein Gegeneinander von leerer, planloser und zielloser Kreisbewegung und planvoller, progressiver und sinnvoller Linearbewegung zu definieren: Vielmehr ist es seine Pointe, dieses Gegeneinander dort zu überschreiten, wo Drive deren Unübersetzbarkeit ineinander vorführt. Wiederum aristotelisch könnte man sagen: Die energetische Tendenz einer in sich zurückkehrenden Bewegung wird beim Wort genommen. Coppolas Film kreist um die Idee einer Ethik des Miteinander-Zeit-Füllens als Zeit eines erfüllten Vollzuges: und nicht des definitiven Problemlösens oder absoluten Sinn-Machens, sondern der gegenseitigen Nachsicht gerade dort, wo man die Abgründe des anderen nicht abschaffen kann. Die Skepsis darüber, ob sich die großen Lebensprobleme überhaupt lösen lassen, verbindet sich dabei mit einer „Ethik der Zurückhaltung“, die vor allem Nachsicht gegenüber dem anderen übt, um ihm in diesem Freiraum die Chance einzuräumen, bei sich im anderen zu sein. Wie sich im Laufe der vermeintlichen leeren Kreisbewegungen ihrer Reisen Vater und Tochter derart aufeinander einlassen, einen Rhythmus miteinander finden, dass sie sich gegenseitig nichts vorwerfen oder erklären müssen und doch zugleich ihre Abgründe einander einsichtig machen; wie sie derart handelnd füreinander Verständnis und Verantwortung entwickeln, ohne sich mit der Zudringlichkeit von definitiven ‚Lösungen‘ für die Probleme ihrer inneren Gefangenschaften zu verletzen, macht das Zentrum des Films aus. Coppolas Film überschreitet damit die Konflikt- und Gewaltdramaturgie des Roadmovies, ohne jedoch dessen Bildungsgedanken aus den Augen zu verlieren: Er wird nur quasi-stoisch reformuliert, indem sichtbar wird, wie in der scheinbaren Vergeblichkeit des Unterwegsseins zu sich Potenziale des Gelingens von echter Nähe und Beisichsein überdauern. Denn was dabei wieder in den Blick kommen soll, ist eben jener Begriff eines „Offenen“ als Verwirklichungsraum sinnvollen Lebens, den das klassische Roadmovie in den automobil erschlossenen Landschaften imaginiert und zugleich in seinen antagonistischen Spannungen als verloren gegangen betrauert. Das Ende von Somewhere wiederum findet für die Hoffnung auf Wiedergewinnung dieses „Offenen“ eine beinahe definitive filmsprachliche Entsprechung: nämlich das Ende des Films selbst, dessen markierte Leerstelle zugleich zum Symbolraum des erfüllten Offenen wird. Indem Johnny Marco am Ende inmitten einer Wüstenlandschaft, welche den Ort der Anfangsszene wieder aufnimmt, das Auto verlässt – aber nicht ratlos wie zu Beginn, wo er ohne erkennbare innere Anteilnahme reglos neben seinem Auto verharrt, ebenso stillgestellt wie dieses, sondern nun in der bewussten Entscheidung, sich zum Subjekt seiner Lebensreise zu machen – setzt er die erfüllte Ziellosigkeit

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Jan Urbich

    

    

    

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der eigentlichen Selbstbewegung des eigenen Körpers an die Stelle des nur scheinbar „automobilen“ Fortkommens im Auto. Sein kaum merkliches Lächeln, mit dem der Film endet, zeigt eben jenen Moment der existenziellen Entscheidung an: wie jemand sich zum Autor seines eigenen Lebens und seiner eigenen inneren wie äußeren Bewegung macht, ohne damit eben den metaphysischen Ganzheitshoffnungen nach Freiheit nachzuhängen, die sich im Roadmovie an das Auto und eben jene räumliche Weite gebunden haben, in welcher der Film beginnt und endet. Das Ende im Film wiederum vertritt und ermöglicht in seiner Abblende, mit der es Johnny Marco mitten in der Bewegung zurücklässt, den Anfang des Offenen, indem es auf die Bebilderung dieser Selbstbildung verzichtet: als Erfüllung des Endes mit dem Geist des Anfangens.

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Das Fotoprojekt Snelweg · Highways in the Netherlands Thema von Snelweg/Highways in the Netherlands ist die kulturelle Bedeutung der Autobahn. Eine Autobahn ist mehr als eine Verbindung zwischen zwei Orten, sie ist selbst ein Ort. Dieser Gedanke des amerikanischen Landschaftshistorikers J. B. Jackson ist Ausgangspunkt des Buchs. Das Erscheinungsbild der kleinen, dicht besiedelten Niederlande hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Anlegen eines feinmaschigen Autobahnnetzes entscheidend gewandelt. Diese Entwicklung führte unter anderem dazu, dass Arbeitnehmer nicht mehr in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu wohnen brauchten. Die einst leeren Niederlande mit kleinen historischen Städten wurden entlang den Auf- und Abfahrten der Autobahnen mit Wohn- und Gewerbegebieten gefüllt. Die Niederlande können monatelang von der Wiedereröffnung des Rijksmuseum in Amsterdam 2013 schwärmen. Endlich, nach zehn Jahren, können wir Rembrandt und Ruysdael wieder mit eigenen Augen unmittelbar betrachten, jene Großmeister, die die Pracht des wohlhabenden Bürgertums und der arkadischen Landschaft abgebildet haben. Der Hochkultur setzen wir uns gerne aus, vielleicht ganz besonders in Zeiten der Stagnation und Unsicherheit. Der Blick auf die Gebrauchslandschaft, zu der die Niederlande geworden sind, fällt uns schwerer. Für meine Fotografie-Kollegin Cary Markerink und mich war dies ein Grund, sich auf die vergessene Landschaft von Asphalt und Tankstellen zu konzentrieren. Diesem Vorhaben wurde zu Beginn mit der entsprechenden Skepsis begegnet. Das Projekt wurde von Anfang an als Buch konzipiert. Der Plan war nicht, zunächst viele Fotos zu machen und das Ergebnis anschließend zu bündeln, sondern die Präsentationsform war von Anfang an ausschlaggebend. Bei der Grafikerin lagen ein Jahr lang Prints auf dem Fußboden, die den Aufbau des Buchs repräsentierten. Nach einer Besprechung begaben wir uns mit einer Liste für ergänzendes Material wieder auf die Autobahn. Die neuen Fotos bekamen dann wieder einen Platz in der Reihe auf dem Fußboden, sodass andere Bilder manchmal wegfielen oder neue Ideen entstanden. Die Bilderserie sollte als Reise empfunden werden. Grundsätzlich sollte jede Doppelseite einen anderen Aspekt des Phänomens zeigen. Ausgerüstet mit einem Notizblock hielten wir die Namen der Raststätten fest, die in den Niederlanden alle nach einem nahe gelegenen topografischen Ort benannt sind (häufig der Name eines Bauernhofs, der für die Autobahn abgerissen wurde, oder der Name des Waldes, in dem sich die Raststätte befindet). Der Produktvorrat, den ein Tankstellenbetreiber den Autofahrern anbietet, wurde über ein Foto von Lebensmitteln

Theo Baart

gelegt, die auf den Autofahrer warten. Die Namen- oder Produktreihen wurden mit typografischen Mitteln als Bild, also wie ein Foto im Buch, präsentiert. Mit Erscheinen des Buchs fand in der Kunsthal in Rotterdam eine gleichnamige Ausstellung statt. Auf einer Wand befand sich eine Collage von Fotos unterschiedlicher Formate, auf der gegenüberliegenden Wand standen die topografischen Namen von Tankstellen. An verschiedenen Orten wie der Pinakothek in München oder dem George Eastman House in Rochester, NY war die Installation zu sehen. Eine Auswahl der Fotos wurde vom Rijksmuseum Amsterdam angekauft. Ins Bild gesetzt und vielleicht sublimiert, ist die Autobahn nun Bestandteil der Hochkultur geworden.

Konzept und Fotografie: Cary Markerink & Theo Baart Gestaltung: Typography & Other Serious Matters Text: Tracy Metz Verlag: Ideas on Paper/Architecture & Natura, Amsterdam Aus dem Niederländischen von Ulrike Sawicki  Kapitelendet

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1–32  Theo Baart: Snelweg / Highways in the Nederlands (1996)





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Willem van Toorn

Welche Autobahn? Im Jahr 2007 habe ich zusammen mit Theo Baart eine Art „politisches“ Pamphlet unter dem Titel Project Nederland veröffentlicht, in dem wir, kurz gesagt, versucht haben darzustellen, wie sich der aus dem Ruder gelaufene freie Markt auf die niederländische Landschaft auswirkt. Eines der Phänomene, das wir beleuchtet haben, ist das ungebremste Wachstum von Gewerbegebieten entlang der Autobahnen und dort insbesondere an den Auffahrten und Ausfahrten. Die niederländischen Autobahnen haben viele Ausfahrten. Wir sind nun mal ein kleines, dicht besiedeltes Land und außerdem so demokratisch, dass alle Dörfer gleich gut erreichbar sein müssen. An vielen Orten versperren Gewerbegebiete vollständig die Sicht auf die dahinterliegende Landschaft, und als Autofahrer fährt man kilometerlang an (auch noch leer stehenden, da für die Spekulation gebauten) pseudo-klassizistischen Bürogebäuden und abstrakten Kartons vorbei oder zwischen Schallschutzwänden hindurch. Unser Pamphlet erregte relativ große Aufmerksamkeit und ich fand mich (wie es bei Theo war, weiß ich nicht genau) an allerlei unerwarteten Orten im Land wieder, um zu diskutieren, ob wir recht hätten oder nicht. Mit Politikern, Städteplanern, Behörden, Studierenden der Landschaftsarchitektur. Auf einem dieser Treffen sagte ein Student, nachdem er mir eine Weile zugehört hatte: „Aber die Autobahnen werden doch nicht angelegt, um die Landschaft sehen zu können?“ Diese Frage – oder kritische Anmerkung, je nachdem, wie man es sehen möchte – sagt meiner Meinung nach viel über unser kollektives Gedächtnis, wenn es um Landschaft geht, in diesem Fall insbesondere um die Autobahn. Denn stellt man sich selbst eine Bildgeschichte aus alten Autoatlanten für Europa oder die USA zusammen, wird deutlich, dass man sich früher darüber bewusst war, dass die Autobahn durch eine Landschaft verlief und dass dieses neue Phänomen fantastische, weite Ausblicke in die Landschaft ermöglichte. Stärker noch, man braucht sich nur die Umschläge der Autoatlanten anzusehen, um festzustellen, wie pittoresk sich die neuen Autostraßen durch die italienische Hügellandschaft schlängelten, durch deutsche Wälder oder niederländische Flussgebiete. Oder als Parkway durch die neue Bronx in New York. Übrigens auch durch die gesamten Vereinigten Staaten, wenn man sich Clasons 1925’26 Touring Atlas of the United States ansieht. In den Niederlanden wurden schon vor dem Zweiten Weltkrieg solche Atlanten von der King Pfefferminzfabrik herausgegeben; auf einem der schönsten, noch aus dem Jahr 1950, ist eine wunderbare, stilisierte Brücke mit einer leeren Schnellstraße über einen stilisierten Fluss abgebildet, auf dem Fluss fährt gerade ein Binnenschiff mit fröhlich flatternder Flagge am Heck vorbei. Schönheit allüberall. Wie bewusst die Autobahn in ihrer Anfangszeit in die Landschaft hinein entworfen

Willem van Toorn

wurde, wird in der historischen Beschreibung des Bronx River Parkway, der 1925 fertiggestellt wurde, besonders deutlich: „It combines beauty, safety and efficiency by […] surrounding motorists in a broad swath of landscaped greenery.“ Natürlich sah der Autofahrer die Landschaft von der Autobahn aus. Unter anderem fuhr er auch deshalb über die Autobahn. Schließlich war das Auto das Verkehrsmittel einer kleinen Elite, die sich schon bald in vornehmen „Automobilclubs“ zusammenschloss: der Königlich-Niederländische Automobilclub, Automobile Club Italien usw. Autofahren war ein Sport, genauso aufregend wie Cricket oder die Fuchsjagd. Aber das Auto blieb nicht in Exklusivbesitz der Elite und die Autobahn auch nicht. Ich erinnere mich an zwei Erfahrungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, in denen das Auto und die Autobahn eine Schlüsselrolle spielten. Die erste Erfahrung hatte mit der Demokratisierung des Autobesitzes zu tun. Die Wohlstandsexplosion in den Niederlanden der frühen Sechzigerjahre führte dazu, dass plötzlich eine große Zahl Menschen mit bisher kleinen Einkommen Autobesitzer werden konnten. Selbst der arme Dorfschullehrer, der ich war, konnte sich plötzlich einen Deux Chevaux kaufen und mit der jungen Familie Europa erkunden. Was taten wir? Wir entdeckten Landschaften. Die Autobahn war damals überhaupt noch nicht das Mittel, um möglichst schnell einem Ziel entgegenzurasen, sondern sie war eine der vielen Linien, die man auf der Karte entlangspazieren konnte, die man verlassen konnte, um ein französisches Dorf zu besuchen oder einen dänischen Hafenort, die Künstlerkolonie Worpswede oder den Olymp. Die Autobahn gehörte noch uns und war schön. Das Auto war übrigens auch noch schön. Das zeigte zum Beispiel die zweite Erfahrung aus dieser Zeit: Entlang der Autobahn sah man durch das Seitenfenster entspannte Menschen am Autobahnrand sitzen. Mit Picknicktischen und -stühlen, mit Sonnenschirmen, manchmal im Bikini. Bermtoeristen, Straßenrandtouristen hießen diese Leute in den Niederlanden. Sie genossen nicht nur die Sonne, sondern auch die vorbeifahrenden Autos und die herrliche, moderne Autobahn selbst. Niemand hatte meinem kritischen Studenten während seiner Ausbildung erzählt, dass damals die Autobahn selbst als Teil der Landschaft schön gefunden werden konnte. Im Internet habe ich ein Foto aus den frühen Sechzigerjahren gefunden, das mir heute, ein halbes Jahrhundert später, aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheint – allerdings aus meinem persönlichen 19. Jahrhundert – und das mich rührt und mit einem Gefühl davon erfüllt, wie anders wir Menschen damals noch waren. Wir sehen eine richtige Autobahn, mit Mittel- und Seitenstreifen. Sie ist ziemlich leer, es nähert sich allerdings ein großer Lkw. Etwas weiter stehen ein paar Autos in der Böschung und direkt vor uns vier Campingstühle, darin leicht versunken offensichtlich Oma und Opa und ein jüngeres Ehepaar. Der junge Mann wendet sich gemütlich dem sich nähernden Lkw zu, die anderen scheinen in den Ort selbst vertieft, ganz für sich. Sogar ihr Hund schnüffelt lustvoll an einem Leitpfosten. Ein in diesen Jahren junger, debütierender Dichter, Bernlef, schrieb darüber ein Gedicht, das so endet:

Welche Autobahn?

Pa genießt die Geschwindigkeit. Später wieder der Asphalt der weiße Streifen heimwärts aber nun noch ausgiebig genießen mit einem Taschenmesser gekerbt in den Baum unter dem wir gesessen die ganzen Namen damit wir es wissen.

Eine weitere Erscheinungsform des sozialen Raumes Autobahn damals: die Massen junger Leute, die per Anhalter durch Europa zogen. Ich erinnere mich an den Fahrer eines Fischtransportunternehmens aus Ijmuiden, der ein komplettes inoffizielles Reisebüro für junge Leute eingerichtet hatte und sie für ein paar Zehner in Marseille oder Perpignan absetzte. Cees Nooteboom war damals auch schon seiner Zeit voraus; in seinem ersten kleinen Roman Philip en de anderen beschreibt er die Welt dieser Jugendlichen, die „entlang der Asphaltbänder und Straßenpflaster Europas“ per Anhalter reisen, um mit einem belgischen Kritiker zu sprechen. Im Nachhinein, in der heutigen Zeit des umfassenden Zweifels, kann man sich nur noch darüber wundern – aber in den fernen Sechzigerjahren wussten „wir“ genau, wie die Zukunft aussehen würde. „Wir“, das war die kleine Vorhut von Künstlern, Denkern, Wissenschaftlern, die glaubte, in unserer aller Namen sprechen zu dürfen. Wenn man sie heute noch einmal liest, die Texte aus ihrer Feder in Kultur- und Wissenschaftszeitschriften, hat ihr Glaube, in seiner absoluten Überzeugung von der Machbarkeit von allem, einschließlich des neuen Menschen und der Gesellschaft, fast etwas Rührendes. Wenn ich versuche, diesen Glauben für mich selbst zusammenzufassen, stellt sich „Freiheit“ als Schlüsselbegriff heraus. Die rasend schnellen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik sollten den Menschen vom Joch der Arbeit befreien sowie aus seiner Gefangenschaft innerhalb sozialer Strukturen und Orte. Die fast unbegrenzte Freizeit, die er erlangen würde, würde ihn endlich zu einem wahren homo ludens machen. Damals arbeitete ich als Lehrer und wir bekamen fast täglich von Experten und Politikern zu hören, dass die Schule nicht mehr auf Kenntnisse und Fähigkeiten für die spätere Arbeit ausgerichtet sein sollte (denn die Arbeit würde von Maschinen übernommen werden), sondern auf die Entwicklung des spielerischen Talents. Dazu brauchte es einen Künstler, um diesen Traum in Wort und Bild zu gestalten. Dies übernahm in mitreißender Weise der niederländische bildende Künstler Constant. Er schuf 1962 im Stedelijk Museum in Amsterdam sein „antikapitalistisches“ Projekt New Babylon, Zukunftsvision einer Gesellschaft, in der nur noch zum Spaß gearbeitet wird, da Maschinen automatisch alle Konsumgüter gratis produzierten. Der Mensch ließ sich spielend durch die neue Welt treiben. Das Projekt bestand aus einer großen Sammlung abstrakter, häufig durchsichtiger Modelle städteähnlicher

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Komplexe, aus Skizzen, Fotos und Texten. Es hieß ursprünglich „Deriville“, in etwa „Streunerstadt“, „Drift City“. In einem der Texte heißt es: „New Babylon ist ein einziges unermessliches Labyrinth. Jeder Raum ist vergänglich, nichts wird erkannt, alles ist eine Entdeckung, nichts kann der Orientierung dienen.“ Eine Landschaft ohne Gedächtnis, aber im positiven Sinn, verwandt mit dem Europa, in dem Nootebooms junger Held umherstreift. Die Wirklichkeit wurde, wie wir wissen, anders. Statt des großen Verlierers ist der liberale Kapitalismus der große Sieger geworden. Arbeit beherrscht das Leben der meisten Menschen, Arbeitslosigkeit ist erneut das große Gespenst der Gesellschaft. Von wegen, sorglos umherstreifen. Dreißig Jahre nach New Babylon habe ich einen Roman mit dem Titel Leeg Landschap, „Leere Landschaft“ geschrieben, in dem es eine Szene auf einer deutschen Autobahn gibt, die so aussah: Eine halbe Stunde hinter Würzburg war er [Erik, der Protagonist], lange Teil einer träge vorwärts kriechenden Raupe beschneiter Autos gewesen, die an einem Unfallort vorbeigelotst wurden: viele blaue und gelbe Blinklichter im fortwährend fallenden Schnee, Polizisten mit harten, weißen Gesichtern im dunklen Mittagslicht, eine bizarre Kette zerbeulter und teilweise ausgebrannter Wracks entlang der Leitplanke. Minutenlang herrschte eine merkwürdige Vertrautheit mit einer blonden Frau in einem Porsche auf der Spur neben ihm, die eine Zigarette rauchte, sich mit derselben Hand ein Telefon ans Ohr hielt und ihn anstarrte, während sie in das Gerät sprach. Sie warf im Vorbeifahren einen einzigen kühlen Blick auf das Unglück, zündete sich eine neue Zigarette an und schenkte Erik plötzlich ein strahlendes Lächeln, als schicke sie ihm eine unmögliche Einladung.

Eine andere Autobahn, andere Menschen – die „unmögliche Einladung“ spricht Bände, wenn man sie mit den zahllosen Begegnungen in Philip en de anderen vergleicht. Die Autobahn ist inzwischen zum Ort geworden, an dem man ist und gleichzeitig nicht ist. Was einmal ein Gebiet grenzenloser Freiheit war, ein Gebiet, in dem man vom Campingstuhl aus sogar die Freiheit der anderen genießen konnte, ruft heute eher ein Gefühl der Gefangenschaft hervor. In jedem Fall aber das Gefühl, dass man sich beeilen muss, dass das Unterwegssein nicht mehr wichtiger ist als das Ankommen (wie in Zen and the Art of Motorcycle Maintenance), dass ein Ziel erreicht werden muss. Wenn man sich nicht beeilt, wird man links und rechts gleichzeitig überholt. Der französische Anthropologe Marc Augé hält die Autobahn für einen non-lieu, ein Begriff, den er für Orte ohne Gedächtnis verwendet, an denen sich der Mensch ausschließlich aus Nützlichkeitserwägungen heraus und aufgrund einer Vereinbarung mit dem Eigentümer befindet: das Mautticket für die Autobahn, das Flugticket, die Zugkarte. Hier ein Ausschnitt aus seinen Ausführungen zu den französischen Autobahnen:

Welche Autobahn?

Die französischen Autobahnen sind gut gestaltet und bieten Aussichten auf manchmal kaum aus der Luft sichtbare Landschaften, die sich von denen, die der Reisende auf den sekundären oder tertiären Wegen sieht, in allem unterscheiden. Der Unterschied ist etwa so, wie der Unterschied zwischen dem intimistischen Film und dem weiten Horizont des Westerns. Aber es sind die Texte entlang des Weges, die die Landschaft benennen und die verborgenen Schönheiten enthüllen. Man fährt nicht mehr durch Städte und Dörfer, die Sehenswürdigkeiten werden auf Schildern mit Erklärungen angezeigt. Der Reisende braucht nicht mehr anzuhalten oder zu schauen. So wird er auf der Autoroute du Sud eingeladen, kurz seine Aufmerksamkeit auf dieses befestigte Dorf aus dem 13. Jahrhundert oder jenes berühmte Weingut zu lenken, auf Vezelay, colline eternelle, oder auch auf die Landschaft um Avallon oder von Cezanne selbst (Kultur, die in eine Natur zurückgekehrt ist, die verschwunden ist, aber noch kommentiert wird). Die Landschaft bleibt auf Abstand und ihre architektonischen oder natürlichen Details sind Thema eines Textes, manchmal unterstützt durch schematische Zeichnungen an Stellen, an denen sich zeigt, dass der Reisende die Sehenswürdigkeit, auf die er aufmerksam gemacht wird, gar nicht sehen kann und darauf angewiesen ist, sein Vergnügen aus dem Wissen zu ziehen, dass sie sich in der Nähe befindet. Die Autobahnstrecke ist daher in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Sie vermeidet aus funktionalen Überlegungen alle Sehenswürdigkeiten, in deren Nähe sie uns bringt, kommentiert sie allerdings in Texten. Die Tankstellen tragen ihren Teil zu diesen Informationen bei und übernehmen immer mehr den Auftritt regionaler Kulturzentren, indem sie ein paar lokale Produkte anbieten sowie Karten und Reiseführer, die für einen längeren Aufenthalt hilfreich sein können. Aber der Großteil der Leute, die hier vorbeikommen, machen keinen richtigen Halt, sie kommen wohl manchmal zurück, jeden Sommer oder ein paar Mal im Jahr, sodass der abstrakte Raum, den sie früher schon regelmäßig lesen statt wirklich sehen mussten, eine merkwürdige Vertrautheit für sie erhält, wie für andere, besser begüterte Reisende der Orchideenverkäufer am Flughafen Bangkok oder die Duty-Free-Läden von Roissy I.

Die Autobahn ist für Augé einer jener non-lieux, denen er sein gleichlautendes Buch widmet, Orte ohne Geschichte, an denen auch der Besucher seine eigene Geschichte verliert, auf den Konsumenten reduziert wird oder sogar auf den Pin-Code seiner Geld- oder Kreditkarte. Der Flughafen, der TGV, der Supermarkt. So schreibt er beispielsweise über die grandes surfaces, die riesigen französischen Einkaufszentren an den Rändern von Städten und größeren Dörfern: Ein anderes Beispiel des Eindringens von Text in den Raum: die grandes surfaces, in denen der Kunde schweigend umher läuft, Etiketten liest, sein Obst oder Gemüse auf einem Gerät wiegt, das ihm Gewicht und Preis nennt, woraufhin er seine Bankkarte einer ebenso schweigsamen oder wortkargen jungen Frau übergibt, die jeden Artikel der Kontrolle eines Gerätes unterzieht, das die Codes liest, bevor sie die Gültigkeit der Bankkarte verifiziert.

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Augés anthropologische Sichtweise hat etwas Mitreißendes, Definitives. Man denkt, wenn man seine häufig sehr geistreichen Wahrnehmungen von Flughäfen und Flugzeugen, Hochgeschwindigkeitsstrecken, Autobahnen und Supermärkten liest, dass er tatsächlich eine unvermeidliche Wirklichkeit beschreibt. Wird man jedoch selbst häufig mit seinen non-lieux konfrontiert, schleichen sich bald Zweifel an der Gültigkeit seines Bildes ein. Ich betrachte mich selbst als eine Art Experten im Bereich Autobahnen und insbesondere der französischen Autoroutes. Ich wohne hauptsächlich in Zentralfrankreich, fahre aber seit Jahren schon fast jeden Monat mit dem Auto nach Amsterdam und zurück und häufig nach Südfrankreich oder Italien, um Freunde zu besuchen. Und ich erkenne viele der Elemente, die Augé beschreibt, wieder: die Schilder, die die Landschaft erklären, die aires mit Tankstelle und Restaurant mit lokalen Produkten im Angebot. Aber ich sehe auch die Menschen, die in Scharen diese Orte nutzen, und dann beschleicht mich regelmäßig das Gefühl, dass Augés Konzept das Konzept eines Intellektuellen in seinem Studierzimmer ist, der nicht ohne Heimweh nach einer geborgeneren Welt formuliert, was er als Entfremdung in dieser neuen, von Technik und Design beherrschten Wirklichkeit erfährt. Ich glaube, ich habe das Recht so zu reden, da ich dieses Heimweh auch kenne und unter anderem in dem genannten Roman Een leeg landschap untersucht habe. Aber ich sehe große Gruppen von Menschen, die unter diesem Heimweh nicht zu leiden scheinen, für die die Autobahn Alltagswelt ist, wenn sie dort (oder daran) arbeiten: das Personal in der Tankstelle, dem Restaurant oder Laden, die Gestalter von Grünanlagen und Terrassen. Und ich sehe Menschen, die mit ihrer gesamten Familie vom Land zum Essen kommen, Taufe und Hochzeit feiern oder im Restaurant eine Konferenz abhalten. Ich sehe die Lkw-Fahrer, die, in Reminiszenz an die alten Straßenrandtouristen, einen Klapptisch und Stühle im Grünstreifen zwischen ihren Wagen aufgestellt haben und gemeinsam die Ruhezeit am Wochenende verbringen, essend, trinkend und nicht selten, wenn sie aus Osteuropa sind, rauchend und Schach spielend. Ich sehe die schnellen Jungs, oft eindeutig aus dem Maghreb, die sich auf dem Parkplatz oder im Hotel treffen und Geschäfte machen. Auch dies alles ist die Autobahn, und für alle diese Menschen ist sie dann ein ganz normaler Ort, von wegen non-lieu. Und wenn ich nun doch schon von vermeintlichen non-lieux spreche, erlaube ich mir einen kleinen Abstecher, um Ihnen ein Erlebnis in einem der großen Supermärkte bei mir in der Nähe nicht vorzuenthalten. Die französischen Supermärkte bieten häufig eine verblüffend gute Qualität, verkaufen den regionalen Wein und das Fleisch aus der Umgebung und bieten auch Artikel an, die in den Niederlanden unüblich sind, wie Samen für den Kräutergarten oder Hühnerfutter. Meiner Erfahrung nach sind die längst nicht immer so jungen Damen gar nicht so schweigsam, wie Augé meint (aber ich bin auch kein französischer Intellektueller), und die meisten Käufer scheinen die Orte nicht als entfremdend zu erleben. Vor ein paar Monaten besuchten meine Frau und ich einen der größten Super-Us in der Nähe und verfolgten heimlich minutenlang das Treiben

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eines bäuerlichen Ehepaares, eines riesigen Kerls und seiner untersetzten, fröhlichen Frau, die in der Metzgereiabteilung nach einem ihnen offensichtlich bekannten Metzger fragten. Dieser tauchte aus der unsichtbaren Metzgerei mit ihrer zuvor aufgegebenen Bestellung auf einem flachen Wagen auf: zwei Hälften eines riesigen, längs geteilten Schweins. Vielleicht hatten sie ihr eigenes Schwein schlachten lassen, dachten wir. Die mehr als mannshohen Fleischkolosse wurden in Plastik gewickelt und aufrecht in den Einkaufswagen gestellt. Das Ehepaar schüttelte dem Metzger die Hand, wie man das in Frankreich macht, und begab sich zur Kasse, so gemächlich, als hätten sie ein Brot und ein Paket Zucker gekauft. Ich glaube, Marc Augé hat ein etwas städtischeres Bild der grandes surfaces im Kopf. In den späten Fünfzigerjahren veröffentlichte ein Psychiater aus Leiden, J. H. van den Berg, ein aufsehenerregendes und inzwischen so gut wie vergessenes Buch mit dem Titel Metabletica oder Lehre der Veränderungen. 1960 erschien es auch auf Deutsch. Ich kann es Ihnen allen nur empfehlen, seine Sicht auf den Menschen in Beziehung zu seiner Umgebung ist sehr originell. Van den Berg hat beispielsweise früher als Philippe Ariès (in L’enfant sous l’ancien régime) auf den veränderten Umgang Erwachsener mit Kindern im Vergleich zu früheren Generationen hingewiesen. Van den Bergs Ausführungen laufen, kurz gesagt, darauf hinaus, dass der Mensch im Lauf der Geschichte keine unveränderliche Tatsache darstellt, sondern dass er sich im Wesen verändert. Unser Leben ist keine „Variation eines bekannten Themas“ (nämlich des Lebens, das Menschen früher lebten), sondern im Kern anders. Ich glaube, darum habe ich vorhin gesagt, dass ich in meinem Roman Een leeg landschap andere Menschen beschrieben habe, in einer anderen Landschaft, auf einer anderen Autobahn. Wenn Sie jetzt das Gefühl haben, mein Vortrag beinhalte einen Widerspruch, vielleicht sogar eine Art Zerrissenheit, so haben Sie recht. Ich schaue mir häufig mit Verwunderung den in grenzenlosem Wohlstand aufgewachsenen westlichen Konsummenschen an, der mit der größten Selbstverständlichkeit mehrmals im Jahr an abstrakte Ferienorte fliegt, an denen ich nicht begraben sein möchte, der den ganzen Tag lang über sogenannte soziale Netzwerke Null-Botschaften verschickt und erhält, der die Abflughalle des Flughafens und die Autobahn als Teile des ständigen Supermarkts begreift, in dem sein Leben sich abspielt – und dann denke ich, dass Van den Berg mit seinem veränderten Menschen recht hat. Aber ich sehe manchmal auch mit Wut und ein bisschen Heimweh, wie die Tabula-rasa-Mentalität dieses neoliberalen neuen Menschen an vielen Orten das Gedächtnis der Landschaft mit gedankenlosen Megaprojekten auslöscht. Und dann lasse ich mich von einem dörflichen Ehepaar mit zwei halben Schweinen überraschen, Menschen, in denen die Generation meiner Großeltern noch unverändert weiterzuleben scheint. Ich werde wohl mit diesen zwei Wirklichkeiten leben müssen. Ich vermute, dass ich, um mit den Worten des niederländischen Dichters Rutger Kopland zu sprechen, besser mit Fragen zurechtkomme als mit Antworten.

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Gedichte über die Autobahn habe ich selten geschrieben. An eines erinnere ich mich, das aber so lange her ist, dass ich es nicht mehr so gerne herzeigen möchte. Außerdem handelte es von einer dänischen Autobahn, das ist wieder etwas ganz anderes. Ich habe aber ein Gedicht über einen anderen non-lieu geschrieben, nämlich über so ein designtes Kaffeehaus in einem niederländischen Einkaufszentrum, das Theo Baart und ich gut kennen, wo alles ausgedacht ist und entworfen wurde, und wo versucht wird, eine neue Authentizität zu schaffen, indem es aussehen soll wie eine typische Amsterdamer nikotingefärbte Kneipe. Ich finde, dass das Gedicht das bisher Gesagte gut zusammenfasst. Die Autobahn vor der Tür können Sie sich hoffentlich dazu vorstellen. Zentrum Alles ist hier ausgedacht. Man sieht den Kopf eifrig still über dem Zeichentisch des Designers, als hier noch Wassergräben die Rübenfelder begrenzten. Nun sitzen wir in dem, was sein schlauer Kopf als intimes Herz der Stadt für das neue Zentrum entworfen hat – Wasserspiel, Straßenmöbel, Caféterrasse. Im Grand Café (drinnen wegen Regen) sind auch wir im Entwurf skizziert, Umriss mit hie und da Andeutungen eines schraffierten Inneren. Du hebst fragend die Hand Richtung Serviererin außerhalb des Bildes. Und in meinem noch leeren Kopf steht plötzlich ein Reiher an einem Wassergraben neben dem Klebeband, das die Zeichnung bewahrt vor dem schrägen Abgleiten an der Wand hinter der Bar mit vergrößerten Fotos von alten Innenstädten.

Aus dem Niederländischen von Ulrike Sawicki

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Carsten Rohde

Fahren und Sehen · Zur traffikalen Inszenierung in der Landschaftsdarstellung nach 1945 (Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Hans-Christian Schink, Peter Bialobrzeski)

1 Phantasmatische Valenzen Jede symbolisch-semantische Ordnung – Grundlage unserer ‚gedeuteten Welt‘ (Rilke) – setzt sich zusammen aus unzähligen begrifflichen und nichtbegrifflichen, z. B. bildlichen Symbolen mit jeweils mehr oder weniger vieldeutigen, strahlungskräftigen Bedeutungs- und Assoziationshöfen. Sie liefern den mythischen Mehrwert, versorgen eine Gesellschaft und Kultur also mit mythischen, d. h. besonders kraftvollen, bedeutungsträchtigen Sinnnarrativen. Der Mehrwert ergibt sich unter anderem aus den phantasmatischen Valenzen, die dem jeweiligen Begriff innewohnen. Das Phantasmatische eines Begriffs ist das, was ihm an Vorstellungen, Einbildungen, ‚Scheinhaftem‘ eingeschrieben ist und eine phantasmatische Aura produziert, die sich eindeutiger begrifflich-diskursiver Festschreibung entzieht. Im Falle der Autobahn als einem zentralen kulturellen, genauer gesagt: einem geo- und landschaftsästhetischen Symbol des 20. und 21. Jahrhunderts möchte ich zwei wesentliche phantasmatische Valenzen vorschlagen, die zugleich als Vektoren zu verstehen sind, indem sie im Inneren des Begriffs eine bestimmte Energie erzeugen und ihn in eine bestimmte Richtung lenken.1 Es ist dies 1.) ein kinetischer Vektor, ein kinetisches Phantasma, das sich am treffendsten mit einem Wort des ‚Dromologen‘, also Geschwindigkeits- und Bewegungsforschers, Paul Virilio überschreiben lässt: „Fahren, fahren, fahren...“.2 Und es ist dies 2.) ein visueller Vektor, ein visuelles Phantasma, das sich wahrnehmungs- und 1

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Vgl. allgemein zu den kulturellen und phantasmatisch-imaginativen Implikationen von Verkehr in der Moderne auch: Johannes Roskothen, Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne. München 2003, dessen Untersuchung sich zeitlich hauptsächlich auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts erstreckt und Moderne unter verkehrlichen Gesichtspunkten als „universale Dynamisierung“ (S. 321) ausweist. Vgl. Paul Virilio: Fahren, fahren, fahren... Aus dem Französischen übers. v. Ulrich Raulf. Berlin 1978 (der Titel des vier Essays umfassenden Bändchens verdankt sich der Refrainzeile – „Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn“ – aus dem Song Autobahn (1974) der Elektropopband Kraftwerk, der auf der Umschlagrückseite des Buchs in Teilen abgedruckt ist).

Carsten Rohde

ästhetikgeschichtlich einreihen lässt in die Tradition einer mobilen, panoramatischen Bild- und Blick-Ästhetik, wie sie im 19. Jahrhundert im Zuge des Eisenbahnbaus entstanden ist und somit auch verkehrsinfrastrukturell induziert ist.3 Die phantasmatische Valenz des kinetischen Vektors führt zwangsläufig nach Amerika, als jenem Ort, an dem der moderne Progressivitäts- und Mobilitätsmythos fester Bestandteil des nationalkulturellen Imaginären ist. Progressivität hat in Nordamerika tatsächlich auch eine ganz konkrete kinetische Dimension: Gemäß dem Frontier-Mythos führt der Weg ideell gesehen in unendlicher Progression nach Westen. Das Ideal stößt freilich an reale Begrenzungen, und so vollführt der kinetische Vektor notwendigerweise inverse Ausweichmanöver, sprich: er sublimiert und verlagert sich auf andere Ebenen, die gleichermaßen das phantasmatische Versprechen unendlicher Freiheit bereithalten. Denn darum geht es im Kern, darum geht es z. B. auch in Jack Kerouacs On the Road, einer subkulturellen Version des American Dream: um das Versprechen von Freiheit in Verbindung mit einer – symbolisch verstanden – unendlichen Mobilität. Automobilität wäre somit zu denken als eine Form von Autonomie, geleitet vom Phantasma der absoluten, unendlichen und unendlich freien Selbstbewegung. Der kinetische wie auch der visuelle Vektor, die das kulturelle Symbol der Autobahn durchdringen und die moderne Verkehrszivilisation insgesamt betreffen, zielen beide im Kern auf ein urromantisches Anliegen: auf die Einlösung von Freiheit. Im kinetischen Vektor äußert sich dieses Freiheitsversprechen im unendlichen Unterwegssein, On-the-Road-Sein. Der visuelle Vektor enthält ebenfalls ein Freiheitsversprechen. Denn auch der Tradition des panoramatischen Sehens, in das er sich einfügt, liegt ein Freiheitsimpuls, ein Freiheitsbedürfnis des modernen Subjekts zugrunde: dass dieses der Landschaft ganz innewird und sich frei und ganz in dieser aufzuheben vermag. Ein panoramatisches Durchqueren der Landschaft, mit dem Zug oder mit dem Automobil, ist per definitionem eine Fahrt durch das Ganze, das auf das Subjekt zurückbezogen wird. Das Versprechen, das hier mithin zur Rede steht, ist das Versprechen der Totalität in aestheticis, also einer besonders mannigfaltigen, reichhaltigen, intensiven, ganzheitlichen ästhetischen Erfahrung. Für den Fahrenden oder Reisenden aber ist Teil dieser intensiven ästhetischen Erfahrung das Erlebnis von Geschwindigkeit. Somit besteht in der ästhetischen Erlebnisperspektive des Einzelnen eine komplexe Spannung zwischen der visuellen und der kinetischen Komponente der Autobahnerfahrung: Die Totalität der panoramatischen Sicht wird de facto hintertrieben von der beschleunigten Fortbewegung, die eine solche ganzheitliche Sicht unmöglich macht. Das Ergebnis ist eine von Kurztaktigkeit, Diskontinuität und Fragmentarität geprägte aisthetisch-ästhetische Landschaftserfahrung, 3

Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München / Wien 1977, S. 51ff. (Kap. 4 „Das panoramatische Reisen“).

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wie sie im Bereich des Eisenbahnverkehrs etwa Rolf Dieter Brinkmann in seinem Italienbuch Rom, Blicke fotografisch-literarisch festgehalten hat, bildlich in Gestalt von verwischten Aufnahmen aus dem Zug mit der mitgeführten Instamatic-Kamera,4 aber auch in Worten: „Die Fahrt ohne Aufenthalt war recht anstrengend. [...] und am Schluß kam es mir vor wie ein Delirium, denn die Landschaften vermengten sich andauernd, die einzelnen Eindrücke reihten sich in mir immer weiter auf.“5 Und kurz darauf resümiert der Reisende lakonisch: „Die Landschaft zerfetzt, öde, kaputt.“6

2 Rolf Dieter Brinkmann Die Verkehrsinszenierungen im 1972/73 entstandenen Materialalbum Rom, Blicke betreffen bereits die Spätphase im Schaffen Rolf Dieter Brinkmanns. Die Arbeiten der späten 1960er-Jahre hingegen stehen noch unter anderen Vorzeichen, die auch auf die Inszenierungen und Imaginationen von Verkehr abfärben. In einer bestimmten Phase des 20. Jahrhunderts – sie reicht vom Beginn des Jahrhunderts bis ungefähr in die 1970er-Jahre – finden sich Gesellschaft und Teile der Kultur vereint in der gemeinsamen Vision von einer gleichermaßen technizistischen wie wahrhaft humanistischen Zukunft. Nicht immer verbinden sich diese technofuturistischen Utopien mit gesamtgesellschaftlichen kybernetischen Steuerungsprogrammen, in denen dann etwa auch der Verkehrsfluss eine Art technoides Äquivalent darstellt zur unendlichen Produktivität der Natur (Natura naturans). Doch es herrscht in Teilen der Künstlerschaft – in jenen, die sich aufgeschlossen zeigen gegenüber den popkulturellen Verheißungen – ein Grundvertrauen in die Poetizität der Objektivationen der technisch-industriellen, der massenkonsumistischen Lebenswelten der spätmodernen Zivilisation. Darin im Kern besteht das popästhetische Programm auch des Rolf Dieter Brinkmann der späten 1960er-Jahre: die Dinge der Zivilisation, des Alltags als Materialfundus zu gebrauchen und sie auf ihren poetischen Mehrwert hin zu untersuchen bzw. zuallererst poetisch zu verfremden. Das Gewöhnliche, 4

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Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek 1979, im Folgenden abgekürzt: RB, hier RB S. 11ff.; ähnliche Aufnahmen in: R. D. B.: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin. Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, im Folgenden abgekürzt: Erk, hier Erk S. 377, 381 f., 390ff. RB S. 9. RB S. 13. Ein Äquivalent hierzu – zumindest, was die Ausschnitthaftigkeit und Flüchtigkeit der Eindrücke anbelangt – mit Bezug auf eine Autobahnfahrt findet sich in den Erkundungen, wo Brinkmann eine winterliche Autobahnfahrt mit Freunden schildert: „Gegenwart: durch eine dreckige Windschutzscheibe gesehen. [Absatz] Weiß überstäubte Felder, schwarze Waldstücke. [Abs.] Treibende, wehende Schmutzschleier ziehen die Wagen hinter sich her. [...] Die Autobahn wird glatt. Mammuthafte Lastwagen, verwischte, schwere Ungetüme, die schwerfällig sich durch die Dunkelheit bewegen, bleiben zurück schattenhafte starre Maschinen, die brummen.“ (Erk S. 336).

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kurz gesagt, wird popästhetisch recodiert. Und dem liegt wiederum ein Kernbedürfnis moderner Subjektivität zugrunde, nämlich jenes nach ästhetischer Freiheit bzw. befreiter Sinnlichkeit, nach einer erweiterten, gesteigerten Sensibilität.7 Kennzeichnend für Rolf Dieter Brinkmanns Werke der späten Sechzigerjahre ist mithin ein überwiegend affirmatives, teils euphorisches Verhältnis zu den Objektivationen und Manifestationen der spätmodernen Zivilisation, zu den technischen und medialen Apparaturen, die die massenkonsumistischen Lebenswelten beeinflussen und prägen. Poetologisch-ästhetische Essays aus dieser Zeit postulieren denn auch „das vorbehaltlose Sicheinlassen auf Leben, Umwelt, Dinge, Bewegung“ in der popkulturellen, „elektrifizierte[n], durch Elektronik veränderte[n] Großzivilisation“.8 Das Gedicht habe sich in radikaler Weise der Gegenwart zuzuwenden und werde im Idealfalle zum „Teil des Verkehrslärms“,9 d. h. es verschmilzt mit den ästhetischen Valenzen der allgemeinen und alltäglichen zivilisatorischen Erscheinungen wie Verkehr, Werbung, Medien, Konsum usw.10 Brinkmann vertritt hier eine prononcierte Ästhetik ‚nach der Natur‘, eine Ästhetik der Künstlichkeit, die die Natur als leitende ästhetische und semantische Norm verabschiedet hat und stattdessen die Zeichen der Zivilisation im popästhetischen Sinne neu codiert: „Alle Bilder und Landschaften sind künstliche Bilder und Landschaften, das Material ist die Dutzendware. Es kommt darauf an, wie es gebraucht wird.“11„Die alltäglichen Dinge werden vielmehr aus ihrem miesen, muffigen Kontext herausgenommen, sie werden der gängigen Interpretation entzogen, und plötzlich sehen wir, wie schön sie sind...“12 Was verkehrliche Inszenierungen von Autobahnen, Schnellstraßen usw. betrifft, die einen wesentlichen Teil der modernen Lebenswelt konstituieren, so spielen diese, soweit ich das überblicke, in den Werken der 1960er-Jahre allenfalls am Rande eine Rolle. Signifikant in Erscheinung treten im lyrischen Œuvre dieser Zeit einzig aeronautische Motive. Besonders der Gedichtband Die Piloten von 1968 verweist schon Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität [1969]. In: Literaturmagazin 36. Sonderheft: Rolf Dieter Brinkmann. Hg. von Maleen Brinkmann. Reinbek 1995, S. 147–155. Vgl. auch R. D. B.: Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. Fotos. Collagen. 1965–1974. Reinbek 1982, im Folgenden abgekürzt: FiW, hier FiW S. 225, 227, 241, wo eine „physiologische Befreiung“ und „erweiterte Sinnlichkeit“ postuliert wird. 8 FiW S. 213, 225. 9 FiW S. 213. 10 Vgl. auch Rolf Dieter Brinkmann: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter [1968]. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 65–77, hier S. 71f. über die Kulturrevolution durch „POP“ seit Anfang der 1960er-Jahre: „Der jetzt erreichte Stand technisierter Umwelt wurde als ‚natürliche‘ Umwelt genommen, Kinoplakate, Filmbilder, die täglichen Schlagzeilen, Apparate, Autounfälle[!], Comics, Schlager, vorliegende Romane, Illustriertenberichte.“ 11 FiW S. 263. 12 FiW S. 251. 7

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im Titel und im Motto („Ich werde aufblitzen in / meinem Pilotenanzug // Mike Silverstone, Kork“)13 auf dieses Motiv und enthält darüber hinaus einige Gedichte, in denen aeronautische bzw. welträumlich-spatial-expansive Bewegungsmomente von Bedeutung sind.14 Ähnlich wie in der amerikanischen Mythologie, wo das Weltraumdispositiv als eine nach oben gelenkte, inverse Ersatzbewegung der Progressivitätsmobilität zu verstehen ist, fungieren Weltraum und Flug hier als Metaphern für die Freiheit des Subjekts: Das lyrische Ich ist so etwa im Gedicht Auge „ein Kosmonaut / eingetaucht in / die endlose / Ausdehnung des / Raums.“15 Im Rahmen einer futuristischen, linksprogressiven Science-Fiction-Ästhetik – und gleichsam auch in einer Gegenbewegung zur ideologischen Instrumentalisierung dieses Genres in der Kulturindustrie – wird der Kosmonaut bzw. Pilot mit seinen entdeckungsfreudigen Fahrten durch den Weltraum so zu einer popkulturellen Vorbild- und Identifikationsfigur, die den geschichtsphilosophischen Optimismus, den Aufbruchsgeist der kulturellen Liberalisierung der 1960er-Jahre symbolisiert und dabei für eine weitere inverse Bewegung steht: Die Eroberung des exoterischen, äußeren Weltraums ist auch als Metapher zu verstehen für „die Eroberung des inneren Raumes“, also für Bewusstseinserweiterung.16 Dieser Optimismus verkehrt sich um 1970 mehr und mehr in sein Gegenteil. Charakteristisch für Brinkmanns Verkehrsinszenierungen in seiner Lyrik und in den Materialalben der frühen 1970er-Jahre ist eine zivilisationskritische, ja teils apokalyptische Stoßrichtung. So begegnen etwa in den Materialcollagen immer 13 Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek 1980, im Folgenden: St,

hier St S. 183.

14 Vgl. St S. 202, 226 f., 232, 255, 276f., vgl. auch im Nachfolgeband Standphotos von 1969, ebd.

S. 289f., 295.

15 St S. 227. 16 Vgl. Leslie A. Fiedler: Die neuen Mutanten. In: Acid. Neue amerikanische Szene. Hg. v. Rolf

Dieter Brinkmann / Ralf-Rainer Rygulla. Reinbek 1983 [1969], S. 16–31, bes. S. 30f.; aus diesem Essay entnimmt Brinkmann zum Teil wörtliche Passagen für seinen Monopol-Aufsatz, u. a. ist hier wie dort von „Kosmonauten des Innern“ die Rede, vom „Abenteuer des Geistes“ und der „Eroberung des inneren Raumes“ bzw. der „Erweiterung der psychischen Möglichkeiten“ (Angriff aufs Monopol, Anm. 10, S. 76). „Für dieses Abenteuer“, so dann wiederum Fiedler exklusiv, „sind die Vorstöße in den Weltraum – Mondflüge und Marsexpeditionen – unbewußte Metaphern“ (S. 31). Als „Poeta laureatus dieses neuen Zeitalters“ wird sodann William Burroughs ausgerufen und mit den Worten zitiert: „Dieser Krieg wird in der Luft gewonnen werden. In der stillen Luft mit Bilder-Strahlen. Du warst Pilot weißt du noch? Leuchtspurkugeln zersägten den rechten Flügel du warst frei im Raum ein paar Sekunden davor im blauen Raum zwischen Augen. [...] Die nackten Astronauten waren frei im Raum...“ (ebd.) Ein anderes Vorbild für diese Eroberungsfahrten ist der „Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die ‚Mensch‘ heißt“ (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bden. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a. 1988. Bd. 2, S. 21) – Nietzsche, vgl. Erk S. 215, wo dieser als „Our First Man in Space!!!“ bezeichnet wird.

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wieder apokalyptische Unfallszenarien17, in denen das persönliche, heillose Verstricktsein in „das Allgemeine einer mörderischen, verwüstenden Zivilisation und Technik“18 dystopisch gipfelt. Besonders den automobilen Massenverkehr inszeniert Brinkmann mit grimmiger Vehemenz als Teil jenes allgemeinen Des­ truktivitätszusammenhangs, der in seiner Sicht die gesamte abendländische Zivilisation bestimmt. Legion sind die Verfluchungen des Autoverkehrs in Rom, Blicke, der hier zugleich sinnbildlich für den destruierten Italien- bzw. Rommythos steht: „Überall Autos, nix Amore, umgekippter Müll plus Pizzas“.19 Dass Brinkmann dann schließlich selbst bei einem Verkehrsunfall auf der Straße den Tod findet, entbehrt nicht einer tragisch-ironischen Logik. Gemäß dieser negativen Logik wird so auch die amerikanische Variante der Autobahn, der Highway, mit dem Brinkmann während eines USA-Aufenthalts 1974 Bekanntschaft macht, in einem Gedicht im Band Westwärts 1 & 2 in erster Linie als Raum inszeniert, in dem mythologische Versprechen von Weite und Freiheit in krasser Weise mit der realen Unfreiheit und Inhumanität kontrastieren.20 Die texanische Highwaylandschaft ist angefüllt mit Zeichen des Verfalls und des Todes, angefangen beim titelgebenden toten „Skunk“ bis hin zur ‚Auslöschung‘ des Ortes selbst, die das Gedicht am Ende metaphorisch umkreist.21 17 Vgl. z. B. RB S. 6, 10; Erk S. 37, 50ff.; FiW S. 125, 150; sowie Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte.

Reinbek 1988, im Folgenden: Schnitte, hier Schnitte S. 58.

18 RB S. 184. 19 RB S. 30, vgl. etwa auch RB S. 71 über Eindrücke auf einem römischen Stadtspaziergang: „Stin-

kender, bleierner Lärm, & quietschende Autoreifen, ödes Hupgewimmel, Trüffel-Unterhaltungen, Banco di Santo Spirito – sehr bezeichnend! – in grünem Neonlicht, ausdüstendes Zischen grüner Busse am Platz Argentino, Starre im Nacken, Zivilisation.“ Oder auch Rolf Dieter Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975). In: R. D. B.: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Erw. Neuausgabe. Reinbek 2005, S. 256–330, hier S. 300f.: „Da geht nun der Passant [...] inmitten des immer mehr anwachsenden, durch keine Rationalisierungen und Erklärungen mehr bei Seite zu schiebenden Gefühls der Sinnlosigkeit von Arbeit innerhalb dieser sinnlose Waren produzierenden Gesellschaft, des unaufhörlichen Verkehrs (worin der einzelne verschwindet), keine Stimmen mehr auf der Straße zu hören, keine Schrittgeräusche, lediglich das gleichbleibende breite Geräuschband diffus grauer Monotonie, eine Abwesenheit von Tageslicht über den Straßen.“ 20 Teilweise leisten bereits der Titel bzw. die Titelgedichte Westwärts und Westwärts, Teil 2, die den Weg des Autors in die USA und die Rückreise nach Europa u. a. auch kinetisch-verkehrlich nachzeichnen, diese Entmythologisierung, indem sie traditionelle Konnotationen hinterfragen: „die Mythologie der vier Himmels/Richtungen bricht zusammen“ (Brinkmann, Westwärts 1 & 2, Anm. 19, S. 68), oder auch: „westwärts [...] die Mythologien kriegst du als Ramsch im nächsten // Kaufhaus“ (ebd. S. 84). 21 Vgl. ebd. S. 64f.; vgl. auch Martin Kagel: Ein Skunk. In: Jan Röhnert / Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. 2 Bde. Berlin / Boston 2012. Bd. 2, S. 751–757.

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Grundsätzlich jedoch hält Rolf Dieter Brinkmann auch in der späten, von Zivilisationskritik und Negativität geprägten Werk- und Lebensphase an der Utopie emphatischer Gegenwärtigkeit und befreiter Sinnlichkeit fest. Die Zivilisation, einschließlich ihrer verkehrlich-infrastrukturellen Anlagen, zeigt so gewissermaßen nach vorne hin ihre hässliche Fratze: nämlich jene einer Zivilisation, in welcher der Einzelne von seiner Umwelt sinnlich-ästhetisch entfremdet ist, ja terrorisiert wird von einem Zerstörungszusammenhang aus fehlgeleiteten Trieben, aus ‚Sex, Geld & Tod‘ 22, in den auch und nicht zuletzt die moderne Autozivilisation einzuordnen ist: „Das war also die tote Bahnstation dieses Planeten: denn alles war zusammen, Sex, Geld, Tod, Autos, Reparaturwerkstätten, Nacht und erloschene Reklameschilder.“23 Auf der Rückseite dieser Negativität aber schlummern Potenziale befreiter Sinnlichkeit; die Orte und Räume der modernen Zivilisation können potenziell auch Orte sein einer alternativen Ästhetik, die dem Destruktivitäts- und Negativitätsprinzip entgegenarbeitet, mit alternativen Inhalten wie Langsamkeit, Stille, Zärtlichkeit, Tagträumerei, befreiter Sinnlichkeit, befreiter Imagination. So antworten auf die fotografisch kenntlich gemachte, leitmotivische Besetzung des Himmels durch Kampfflugzeuge in Rom, Blicke24 gegen Ende des Albums die Wolfenflugfantasien in Olevano, als Freiraum für ästhetische Erfahrung und Imagination.25 Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten imaginiert kontrastiv zu einer Stadtlandschaft, in welcher sich die Bewohner zunehmend ihrer maschinellen Zivilisation angleichen, einen urbanen Freiraum für Sinnlichkeit und Fantasie: „Ich stelle mir eine Stadt vor, ohne die miesen Namen in Neonschriften an den Hauswänden, ich stelle mir eine Stadt vor, ohne daß die Seitenstraßen mit Wagen vollgestellt sind. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Verkehr [...] Ich stelle mir eine Stadt mit schattigen Bäumen und stillen Boulevards vor. Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor, Wandzeitungen mit Gedichten, Gedichte, die an Haltestellen morgens verteilt werden statt der Schmierzeitungen, sie hätte eine andere Wirkung, fantastische Verwirrungen und Unterhaltungen statt der täglich reingeschobenen Todesbilder und Schrecknachrichten. [...] ich stelle mir eine Stadt mit Rock’n’Rollkonzerten auf entspannten Plätzen vor, warme, lässige 22 Vgl. RB S. 234f., 246, 250, 290 ff. 23 RB S. 234. Vgl. auch RB S. 46: „Auch sind vor lauter Leuten und ist vor lauter Verkehr und

einem permanenten Achten auf die Straßensituation kaum möglich, etwas in sich aufzunehmen und auf sich wirken zu lassen.“ Und Erk, S. 250: „Beobachtung (Stadt, Köln, Gegenwart): daß ich draußen gar nicht mehr richtig durchzuatmen wage, keine schwingenden, gleichmäßigen Rhythmen einhalten kann, die Straßen sind träge, stinkende Blechflüsse, Körperbewegungen sind nicht mehr möglich beim Gehen, es fehlt am gewöhnlichsten Raum, das Bombardement häßlicher Bilder und Eindrücke.“ 24 Vgl. die Abbildungen in RB S. 77, 152, 174, 219, 221, 315, Schnitte S. 148; vgl. auch RB S. 255: „Zivilisation: hier auf der Postkarte hast Du sie – da fliegen Jagdbomber, Militärmaschinen der Sonne entgegen!“ 25 Vgl. RB S. 390 ff.

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Sommerabende, an denen die Gesichter entspannt sind.“26 Das Zitat unterstreicht indes auch die Problematik dieses ästhetischen Ansatzes: Nur in radikaler Abkehr von der modernen Zivilisation und ihren Manifestationen ist eine solche alternative Ästhetik überhaupt denkbar, eine popästhetische Umcodierung dieser Zivilisation erscheint Brinkmann nicht mehr möglich.

3 Peter Handke Der kinetische und der visuelle Vektor, Mobilität und ästhetische Erfahrung: Sie führen in das Zentrum der Prosa Peter Handkes seit den späten 1970er-Jahren. Zahllos sind die teils hymnischen Einlassungen auf das Gehen in seiner Prosa, die teils fantastischen Ausschmückungen dieser alternativen Fortbewegungsart in einer ubiquitären Autozivilisation.27 Das kinetische Element, das Unterwegssein – sinnfällig sich widerspiegelnd im Titel der Notizsammlung von 2002: Gestern unterwegs – ist dabei unauflöslich mit visuell-wahrnehmungsästhetischen Elementen verbunden. Dem Unterwegssein wohnt ein visueller bzw. allgemeiner: ein aisthetisch-ästhetischer Vektor inne. Das langsame Gehen potenziert zum einen die Möglichkeiten der sinnlich-aisthetischen Wahrnehmung, sodass der Blick offen wird für mikroaisthetische Phänomene, etwa für die Baumrindenlandschaften, die Handke einmal in einer Notiz in Gestern unterwegs als sinnbildliches Beispiel für das Große, das Erstaunliche im Kleinen, im Unscheinbaren feiert: „Meine Ländereien: die Baumrinden (etwa der Platanen)“.28 Das Gehen gewährt darüber hinaus Raum für ästhetische Erfahrung in einem umfassenden, poetisch emphatischen Sinne: indem sich nämlich die realistische Szenerie verschränkt mit Mythos und Fantasie, also mit einem poietischen, schöpferischen Ego bzw. mit der mythopoetischen Tiefe des jeweiligen Ortes. In ihrer kinetisch-visuellen Gesamtbewegung hält somit aber auch Handkes Raumprosa im Kern auf das zentrale Ziel von moderner Ästhetik überhaupt zu: Freiheit. Freiheit der Expression und Imagination, Freiheit des Ausdrucks, die jedoch nicht allein eine Künstlerische meint, sondern in umfassenderer Weise eine ästhetisch-aisthetisch Vollgültige, indem sie ja immer wieder in der auch verkehrstechnisch hier und jetzt stattfindenden Lebenswelt platziert ist, in der hoch technisierten, modern-neuzeitlichen Großstadtzivilisation. Die Verschränkung von Mobilität und ästhetischer Erfahrung ist Teil der seit Langsame Heimkehr (1979) vollzogenen geopoetischen Wende im Werk Peter Handkes; in ihr spielen topografische Elemente eine zentrale, struktur- und bedeutungskonstitutive 26 Brinkmann, Ein unkontrolliertes Nachwort (Anm. 19), S. 268. 27 Vgl. etwa Peter Handke: Die Abwesenheit. Ein Märchen. Frankfurt a. M. 1987, S. 116f.; oder:

P. H.: Die morawische Nacht. Erzählung. Frankfurt a. M. 2008, S. 415ff.

28 Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 – Juli 1990. Salzburg /

Wien 32005, S. 401.

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Rolle.29 Die Abfolge der Schauplätze bildet nun zumeist das dramaturgische Gerüst der Prosawerke, zugleich sind Orte und Räumlichkeiten auch in einem semantischen Sinne von zentraler Bedeutung. Die poetologisch-ästhetischen Reflexionen in Handkes Notizsammlungen halten diesen geopoetischen ‚Turn‘ in zahllosen Formulierungen fest: „Mein einziger Glaube ist wohl der an die Kraft der Orte“, heißt es etwa in einer dieser Aufzeichnungen.30 Langsame Heimkehr ist auch darin symptomatisch und exemplarisch für das Werk Peter Handkes seit den späten 1970er-Jahren, das in dieser Erzählung Natur und Zivilisation, Land und Stadt gleichermaßen die Topografie bestimmen. Der erste Teil des Buchs spielt in der archaischen Naturlandschaft Alaskas, der zweite Teil an der kalifornischen Westküste der USA, der dritte Teil dann in der Metropole New York. Beide Räumlichkeiten, Land und Stadt, werden nicht in einem mimetisch-realistischen Sinne abgebildet, sondern mythisch-märchenhaft inszeniert. Darin besteht das genuin Poietische, im Wortsinne Schöpferische dieser Prosa: dass sie sich realer, zum Teil prosaischer Orte annimmt – bis hin zum höchst prosaischen ‚stillen Ort‘, vulgo: WC, in Peter Handkes jüngstem Versuch31 –, dass diese realen Räume aber derart aufgeladen werden mit Imaginiertem und Erträumtem, mit Mythos und Fantasie, dass sie sich verwandeln in höchst komplexe, gleichermaßen realitätshaltige wie neoromantisch-wunderbare Topografien. Die schon im Titel anklingende Topografie des Opus magnum Mein Jahr in der Niemandsbucht etwa – um hier nur ein Beispiel zu nennen – ist einerseits realistisch zu verorten in die südwestliche Vorstadtgegend des urbanen Großraums Paris. Andererseits wird diese prosaische, mit allen Phänomenen und Insignien der modernen Zivilisation angefüllte Örtlichkeit derart poetisch verfremdet, dass sie sich transformiert in einen mythischen Märchenraum, und genau auf dieses Ineinander von Prosa und Poesie verweist auch bereits der Untertitel des Werks: Ein Märchen aus den neuen Zeiten, denn ‚neue Zeiten‘, damit ist selbstverständlich auch die Neuzeit bzw. die neuzeitliche Zivilisation gemeint. Die Lebenswelt dieser neuzeitlichen, modernen Zivilisation gerade auch in ihren traffikal-spatialen Dimensionen und Aspekten ist integraler Bestandteil von Handkes geopoetischer Prosa seit Langsame Heimkehr. Teil der geopoetischen Inszenierung sind dabei immer auch poetisch verfremdete Verkehrsinszenierungen, Verkehrsimaginationen. Ihr Zentrum haben diese Inszenierungen genau dort, wo auch das Buch, der Roman, die Autobiografie Mein Jahr in der Niemandsbucht sowie zahlreiche weitere Bücher oder Passagen in Handkes Œuvre angesiedelt sind: am Stadtrand, also genau an 29 Vgl. Carsten Rohde: „Träumen und Gehen“. Peter Handkes geopoetische Prosa seit Langsame

Heimkehr. Hannover 2007.

30 Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg / Wien

1998, S. 364; weitere Zitate zur geopoetischen Ästhetik versammelt Rohde, „Träumen und Gehen“ (Anm. 29), S. 17f. 31 Peter Handke, Versuch über den Stillen Ort. Berlin 2012.

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der Nahtstelle von Natur und Zivilisation, am Übergang von Stadt und Land.32 Und deshalb gilt auch für die Verkehrsinszenierungen und -imaginationen, dass sie Natur und Zivilisation zusammenführen, dass sich in ihnen Naturraum und Kulturraum auf märchenhaft-komplexe Weise überlagern. In einer genuin romantischen bzw. neoromantischen Operation schlägt dabei das vermeintlich Prosaische, der neuzeitliche Zivilisationsraum um ins Märchenhaft-Romantische. Wie in Eichendorffs berühmten Wünschelrute-Versen schläft ein Lied in allen Dingen, die da prosaisch-tot in der neuzeitlich-industriellen Zivilisation begegnen, nicht zuletzt in den Verkehrshöllen der urbanen und suburbanen Großstadtregionen. Aber auch und gerade sie bergen ein Poetisches, und auch und gerade diese ‚Welt hebt an zu singen‘, sofern der Dichter das richtige, das ‚Zauberwort‘ findet, sprich: seine ästhetische Rezeptivität schärft und für das Wahrgenommene eine dichterische Sprache findet.33 Charakteristisch sowohl für die Romantik wie auch für Handkes Neoromantik sind besonders Unmittelbarkeit und Plötzlichkeit des Umschlagens: vom prosaischen Alltag gelangt man mit einem Mal in ein Zauberreich der Fantasie. Und dieses Zauberreich liegt keineswegs in märchenhafter Ferne, hinter den sieben Bergen, sondern hier und jetzt ist es zu finden, in der vermeintlichen Ödnis der Vorstadt – es bedarf eben nur eines bestimmten, magischen Zugangscodes, eines bestimmten romantischen Blicks auf die Dinge der Welt, um diese andere Dimension des Daseins zu erreichen, um das zu entbergen, was Handke in der Niemandsbucht die „Neue Welt“34 nennt, in welcher die ‚neue Zeit‘, sprich: die neuzeitliche Zivilisation poetisch aufgehoben, transformiert ist in eine neue Welt voller Staunen, Poesie und Geheimnis. Die Komplexität dieses erzählerischen Arrangements bringt es mit sich, dass sich die einzelnen Elemente nur auf Kosten ihres poetischen Mehrwerts isolieren lassen; umgekehrt: Gerade was das Zusammenspiel von Moderne und Romantik betrifft, entfaltet diese Prosa ihre poetische Kraft vor allem im Zusammenhang. Vorbehaltlich dieser Einschränkungen sei im Folgenden dennoch der Frage nachgegangen: Wie werden moderne Verkehrsinfrastrukturen von Handke konkret inszeniert? Kommen dabei auch Autobahnen und Schnellstraßen in den Blick? Zum einen lässt sich festhalten, dass der Autor sich in einem Gespräch mit Herbert Gamper expressis verbis zur Schönheit von Autobahnen bekennt. Zunächst erhebt er Einspruch gegen eine Sicht, die einseitig die negativen, destruktiven Facetten des Zivilisationsprozesses in den Blick bringt: „Ich weiß nicht, ob nicht 32 Dazu ausführlicher: Rohde, „Träumen und Gehen“ (Anm. 29), S. 50. 33 Vgl. Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 1. Gedichte, Versepen. Hg. v. Hartwig Schultz. Frank-

furt a. M. 1987, S. 328: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ 34 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M. 21994, S. 35f. u. ö.

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doch die Zerstörung so ein leichtfertiger Slogan geworden ist. [...] Vieles ist ja auch wirklich Zerstörung, also Unwiederbringlichkeit, aber vieles ist Zerstörung und Veränderung und Verwandlung und läßt dann die Landschaft oft ganz anders sehen. [...] ich kenn ein paar französische Autobahnen ... die da von Saarbrücken in Richtung Reims geht, da hab ich ein Gefühl von Schönheit, auch dadurch natürlich, daß die nicht so befahren sind. Auch von Stille.“35 In der Lehre der Sainte-Victoire, die eingangs programmatisch konstatiert: „Naturwelt und Menschenwerk, eins durch das andere, bereiteten mir einen Beseeligungsmoment“,36 findet sich denn auch ein Passus, der in ebenfalls programmatischer Weise beide Seiten, die Naturwelt, den Naturraum und das Menschenwerk, die moderne Großstadtzivilisation gegeneinanderspiegelt: Der Erzähler zieht sich gedanklich für einen Moment zurück aus der Provence, erinnert an einen Stadtspaziergang in Paris und beschließt diesen mit einem bemerkenswerten Bekenntnis: „Am Abend schaute ich dann von einer Straßenbrücke am Stadtrand auf die Peripherie-Autobahn hinunter, die sich in beweglichen Goldfarben zeigte; und es kommt mir auch hier noch vernünftig vor, was ich damals dachte: daß jemand wie Goethe mich beneiden müßte, weil ich jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, lebte.“37 Autobahnen, moderne Verkehrsinfrastrukturen wie insgesamt die Lebenswelt der neuzeitlichen Zivilisation werden von Handke gleichsam als Phänomene genommen, die potenziell und d. h. genau besehen, poetisch betrachtet die ästhetische Komplexität der Welt erhöhen. Wunderbar, d. h. erstaunlich, geheimnisvoll, ästhetisch komplex ist nicht nur die Natur, wunderbar, erstaunlich und komplex ist gleichermaßen auch die Zivilisation, sind Autobahnen und Verkehrsinfrastrukturen, vorausgesetzt, sie werden poetisch betrachtet, in ihren poetischen Potenzialen entborgen. Ob Autobahnen und Schnellstraßen, Eisenbahnen oder Hubschrauber, Busse, U-Bahnen, 35 Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert

Gamper. Zürich 1987, S. 160. Zur akustischen Dimension des (Auto-)Verkehrs bei Handke vgl. andererseits Peter Handke: Der Große Fall. Erzählung. Berlin 2011, S. 48f. über die Hauptfigur, den sog. „Schauspieler“: „Auf seinem Gang querwaldein begegnete er lange Zeit niemandem, erstaunlich bei der Großstadtnähe, und er freute sich an dieser Menschenleere. Es war dabei recht, in der Ferne die Autobahnen zu hören und nah im Himmel nicht wenige Kleinflugzeuge und Hubschrauber. Einmal ein unvermuteter Durchblick auf die Stadtrandwolkenkratzer weit weg hinter den Bäumen, auch wie tief unten.“ Demonstriert diese Passage einmal mehr en minature das Ineinander von Natur und Zivilisation in Handkes geopoetischer Prosa, so enthält sie zugleich den Hinweis auf die sowohl visuelle als auch akustische Dimension dieser ästhetischen Erfahrung; vgl. zu Letzterer bes. Peter Handke: Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt a. M. 1983 – und auch hier durchdringen sich immer wieder leitmotivisch-programmatisch Natur und Technik, sinnfällig auf den Begriff gebracht in der Wendung „Windsausen und Obusschnurren“ (S. 178). 36 Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M. 1980, S. 9. 37 Ebd. S. 86 f.

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Fahrräder und andere Fahrwerke (siehe etwa Die Fahrt im Einbaum von 1999), ob Eisenbahnhöfe, Busbahnhöfe oder auch Flugplätze: In nahezu sämtlichen Werken Handkes begegnen poetisch-märchenhaft verfremdete Verkehrsinszenierungen, die auf dieses urromantische Potenzial hinweisen. Exemplarisch und zugleich besonders plastisch geschieht dies zu Beginn des Romans In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus von 1997. Ausgangsund Endpunkt des Romans ist der österreichische Ort Taxham: ein von einem „Transportliniendreieck“ aus „Fernzuglinie“, „Autobahn“ und „Flughafen“38 eingefasstes Eiland in der Nähe von Salzburg. Der Held des Romans, der sogenannte Apotheker von Taxham, begibt sich eines Tages auf eine Reise, die ihn in handketypischer Manier an zahlreiche realistisch verankerte, aber doch poetisch verfremdete Orte in Europa führt. Zur Charakterisierung der allgemeinen und auch spezifisch verkehrstechnischen Topografie platziert der Roman gleich zu Beginn einen eigentümlichen Begriff, nämlich das Wort vom „Zwickel“ 39 bzw. von der „Zwickelwelt“40, das bildhaft-metaphorisch hindeutet auf den allgemeinen Stand der Dinge in den Lebenswelten der westlichen Zivilisation: Wir alle leben, so der semantische Subtext, räumlich-geografisch wie auch verkehrstechnisch in einer „Zwickelwelt“. Was meint Handke damit? Beim Zwickel – berühmtestes Beispiel: die vier Eckzwickel auf dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo – handelt es sich um eine dreieckige Fläche, genauer gesagt um die beiden dreieckigen Flächen, die entstehen, wenn ein Bogen rechteckig eingerahmt wird. Ähnlich wie an anderer Stelle den Bogen oder auch Dachkonstruktionen41 transformiert Handke diese architektonische Form in seine Raumprosa und erhebt sie zum allgemeinen Symbol für ästhetische und lebensweltliche Erfahrung: „Was gleichwelchen Orten heute mehr und mehr zustößt, das kennzeichnete es [sc. Taxham] von Anfang an: abgetrennt oder zumindest schwer erreichbar zu sein von seiner Umgebung und von den Nachbarorten durch alle möglichen Verkehrslinien, insbesondere in die Ferne; zu Fuß wie zu Rad unüberwindlich. Im Gegensatz zu den Ortschaften jetzt, erst mit der Zeit in solch eine Zwickelwelt gezwängt, abgeschnitten und eingeengt von den allseits sich mehrenden Tangenten, war Taxham gleich schon innerhalb solcher Barrieren entstanden.“42 Taxham ist also gleichsam ein Zwischenraum, ein Leer- und Freiraum inmitten eines Netzes von funktionalistischen Geraden, von Verkehrslinien, ein Dreieck zwar, aber bezeichnenderweise ein unregelmäßiges, an 38 Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Roman. Frankfurt 39 40 41 42

a. M. 1997, im Folgenden abgekürzt: DN, hier DN S. 11. DN S. 12. DN S. 10. Vgl. Rohde, „Träumen und Gehen“ (Anm. 29), S. 77ff., 87f. DN S. 10.

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einer Seite bogenartig, fantasiereich ausschwingend.43 Wobei der Ort auch in sich aus lauter Zwickeln besteht, koexistierend mit den übrigen dicht besiedelten, funktionalistischen Räumen. Und Taxham, die „Enklave“44, die „’Verlorene Insel’“45 in einem Meer von zweckrationaler Linearität und Funktionalität, steht nicht allein, später begegnet dem Helden auf seiner Reise die „Zwickelwelt“, einschließlich zwickelartiger „Zwischenbezirke“,46 auch im spanischen Zaragoza, auch sie eingeschlossen von Verkehrslinien und -anlagen. Doch hier wie im österreichischen Taxham sind die Zwickelräume nicht nur von der Verkehrszivilisation bedrohte Rest- und Randflächen, sie sind vielmehr Orte des Wunderbaren und ästhetisch Abenteuerlichen, in Spanien z. B. trifft der Apotheker „auf diesen Savanneninselchen“ allerlei Tiervolk, „Hasen“, „Fuchs“ und „Wiesel“ koexistieren in ihnen (vielleicht allzu sinnfällig paradiesisch-irenisch) miteinander, nur einen Fußbreit entfernt von den sie umtosenden Verkehrsflüssen.47 Berücksichtigt man zudem, dass auch die Verkehrslinien keineswegs nur funktionalistische Geraden sind, dass vielmehr auch in ihnen Schwingungsmomente begegnen – die Handke an anderer Stelle seiner raumsensiblen Prosa kunstvoll inszeniert, nämlich in Gestalt des Bogens, der sich bei der Fahrt mit einem Pariser Vorortzug im Versuch über den geglückten Tag epiphanisch auftut und eben jenes titelgebende Glück spatial nachbildet48 –, dann lässt sich insgesamt festhalten: Der Zwickel mit seinen zwei Geraden und dem frei ausschwingenden Bogen stellt das emblematische Abbild dar für ein realistisches und dennoch poetisches Raum- und Verkehrsverständnis, in dem ein komplexes Nebeneinander von Funktionalität und Fantasie, von Zivilisation und Poesie herrscht. Die „Zwickelwelt“ ist eine Welt, in welcher das linear-funktionale Geschäft der Zivilisation ihren Platz hat, ebenso aber die abschweifend-schrullige, abenteuerliche Tätigkeit des Apothekers, welche – bogenförmig – in die Ferne führt 43 Und bereits die Niemandsbucht hatte diesen Lebensraum als Überlebensraum umrissen: „Leben

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ist nur noch in der Zwickelwelt zwischen Zuggleisen, Flugpiste und Autobahn.“ Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 34), S. 617. DN S. 11. DN S. 33. Vgl. DN S. 270 ff. Vgl. auch Handke: Der Große Fall (Anm. 35), S. 193ff.: der Protagonist überquert bei seiner Wanderung von der Vorstadt in die Innenstadt einen Autobahnring, indem er zunächst – in einer für Handke typischen, poetisch-verfremdenden Wendung – „rückwärts“ die Autobahnböschung hinaufklettert, oben dann feststellt, dass das Gesträuch voller Tiere steckt („Hasen“, „Raben“, „wilde Hunde“, „ein einzelner Fuchs“), sodann die Böschung hinabsteigt, bei laufendem Verkehr die Autobahn überquert und die „Gegenböschung“ erreicht: „Am anderen Ufer hielt er nicht inne, sondern stieg gleich weiter, nur kein Blick zurück, den Hang hinauf, wo wieder andere Hasen, Raben und Hunde Spalier standen.“ Peter Handke: Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum. Frankfurt a. M. 1991, S. 7f.

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und doch oder gerade dadurch Heimat schafft, in der Poesie, im Abenteuer. Die realen wie poetisch verfremdeten Verkehrsinszenierungen bei Handke bilden aber genau dieses Ineinander von Begrenzung und Freiheit ab, indem sie am realistisch Gegebenen festhalten – Handkes erzählte Welt ist keine fantastische – und diese doch immer wieder transzendieren, ins Poetische verfremden.

4 Verkehrslandschaften in der zeitgenössischen Landschaftsfotografie Da es sich um bildliche Artefakte handelt, kommt in den Inszenierungen von Verkehr, von Autobahnen und Schnellstraßen in der zeitgenössischen Landschaftsfotografie vornehmlich der visuelle Vektor zur Geltung. Die ästhetische Erfahrung, die sie vermitteln, ist ambivalent: Zum einen reproduzieren diese Fotografien vielfach das moderne Entfremdungsnarrativ; der Betrachter wird konfrontiert mit einer ihm fremden Außenwelt; die Verkehrsanlagen der metropolitanen oder ländlichen Zivilisationen lassen keinen Raum für freiheitliche ästhetische Subjektivität, ja sie erdrücken, sie erschlagen das Subjekt in Gestalt einer übermächtigen Technikzivilisation. Zugleich jedoch und dem Entfremdungsnarrativ entgegenarbeitend entfalten viele dieser Fotografien eine ganz eigene Form von surrealer, bizarrer Schönheit. Das Moment reichhaltiger ästhetischer Erfahrung, das auf der Ebene der visuellen Valenzen des kulturellen Symbols Autobahn eine wichtige Rolle spielt, kehrt hier somit auf einer bildlich-kontemplativen Rezeptionsebene wieder: Viele Bilder von Autobahn- und Schnellstraßenlandschaften sind auch schön. Und diese Ästhetisierungstendenz gilt gleichermaßen für die künstlerische wie für die nichtkünstlerische Landschaftsfotografie, mithin auch für die auf Dokumentation und Information bedachte Fotografie zumeist staatlicher Behörden, die besonders in der Frühzeit des Autobahnbaus entsprechende Bildmaterialien hergestellt haben.49 Ja, mehr noch: Gerade in der Anfangszeit des Autobahnbaus war man, wie einschlägige Quellen und Untersuchungen belegen, darauf bedacht, Technik und Ästhetik, menschengemachte Autobahn und naturlandschaftliche Schönheit miteinander zu versöhnen. „Eine Straße ist ein Kunstwerk in der Landschaft“, behauptet und propagiert etwa der Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt, im Jahre 1935.50 Modernere, zeitgenössische Landschaftsinszenierungen, wie jene 49 Vgl. Bernhard Stumpfhaus: Bemerkungen zur Autobahnfotografie. Ihre Ästhetik, ihr Gebrauch,

ihre Bedeutung. In: Kulturlandschaft Autobahn. Die Fotosammlung des Landesamtes für Straßenwesen Baden-Württemberg. Bearb. v. B. S. Stuttgart 2011, S. 40–59. 50 Zit. n. ebd. S. 47; zu den ideologischen Implikationen dieses ästhetischen Programms, insbes. im Hinblick auf die „Linienführung der Autobahn“ auch Benjamin Steininger: Raum-Maschine Reichsautobahn. Zur Dynamik eines bekannt/unbekannten Bauwerks. Berlin 2005, S. 85 ff.; ferner Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990. Frankfurt a. M. / New York 2002, S. 49ff.

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von Hans-Christian Schink51 und Peter Bialobrzeski52, unterscheiden sich darin dezidiert von dieser Tradition, dass sie das Moment der Versöhnung mit der Natur ausklammern und stattdessen ausschließlich die Schönheit der nicht natürlichen, der technisch-industriell-urbanen Lebenswelt und Verkehrswege in den Blick bringen bzw. genauer gesagt: dass sie diese zuallererst herstellen, indem sie sie in spezifischer Weise und mit bestimmten ästhetischen Mitteln inszenieren, stilisieren, ausstellen. Hans-Christian Schink etwa arbeitet in seinen Aufnahmen von ostdeutschen Verkehrsprojekten der deutschen Einheit (Autobahn, Straßen- und Brückenbau, zum Teil auch Eisenbahn) stets mit dem von Bernd und Hilla Becher entlehnten, bedeckten Himmel und einer menschenlosen Szenerie, die zusammengenommen die surreale Wirkung dieser Räume unterstreichen. Gleichzeitig, und auch hier besteht eine Parallele zur Ästhetik der Bechers, gewinnen die verbliebenen Gegenstände dadurch eine eigenartige Monumentalität. Die Schönheit dieser Verkehrslandschaften resultiert aus einer verfremdeten, surreal-metaphysischen Dinghaftigkeit. Peter Bialobrzeskis Fotografien von asiatischen Megacitys und deren gigantischen Verkehrsanlagen arbeiten viel mit dem Licht, genauer gesagt: mit künstlichem Neonlicht. Sie nehmen die gegebenen illuminativen Verhältnisse auf und formen sie mit fotografischen Mitteln weiter, ebenfalls mit dem Ergebnis einer surreal-fantastischen, einer magisch-somnambulischen Wirkung auf den Betrachter. Indem jedoch sowohl Schink wie Bialobrzeski implizit auch die Fremdheit und Ohnmacht des einzelnen Menschen gegenüber einer ins Gigantomanische gewachsenen, technisch-industriell-verkehrlichen Objektkultur aus Beton, Asphalt, Eisen, Stahl, Kunststoffen usw. zum Gegenstand ihrer Fotografie machen, stehen sie exem­ plarisch für einen wesentlichen Befund in der traffikalen Inszenierung von Landschaft nach 1945: Wo Verkehrsanlagen, Schnellstraßen, Autobahnen in der Literatur und Kunst dieser Zeit in den Blick kommen, fungieren sie einerseits als negative Ikonen der modernen Zivilisation; sie führen die aisthetisch-ästhetische Entfremdung des Menschen in der spätmodernen Zivilisation vor Augen. Auf der anderen Seite – und dies gilt für Schink und Bialobrzeski wie auch für Handke, zum Teil für Brinkmann – enthalten sie auch ein Schönheitsversprechen, ein verborgenes Potenzial nicht entfremdeter ästhetischer Erfahrung, das dann zur Entfaltung kommt bzw. freigelegt wird, wenn der Blick des Produzenten wie auch der des Betrachters in verfremdender Weise die normalzivilisatorisch gültigen Bild- und Bedeutungsordnungen depotenziert und ein Neues, ein Offenes kenntlich macht.

51 Hans-Christian Schink: Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Traffic Projects German Unity.

Ostfildern 2004.

52 Peter Bialobrzeski: Neontigers. Photographs of Asian Megacities. Ostfildern 2004; P. B.: Lost

in Transition. Ostfildern 2007; P. B.: The Raw and the Cooked. Ostfildern 2011.

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Fahren im Futurum (in)exaktum · Autobahnwahrnehmung bei Jürgen Becker

1 Peter Handke, programmatischer Fußgänger und Busreisender, hat sich bei Gelegenheit einer Laudatio auf Jürgen Becker einmal in die Rolle des Kollegenkritikers versetzt: In Beckers Büchern, so Handke kritisch, werde „entschieden zu wenig gegangen und zu viel gefahren“; wenn die Protagonisten schon einmal zu Fuß unterwegs seien, dann allenfalls zum Auto oder über die Straße „zu dem oder jenem Gasthaus“.1 Betrachtet man Beckers Werk von den experimentellen Anfängen der 1960er-Jahre bis heute, dann fällt freilich auf, dass auch in diesem Œuvre das Auto als aktiv genutztes Fortbewegungsmittel des poetischen Subjekts eine durchaus verspätete Option darstellt.2 Von außen, als Gegenstand der passiven lyrischen Verkehrsteilnahme, erscheint der Autoverkehr hingegen bereits in den Gedichten der 1970er-Jahre. Beide Modi, der Modus des Verkehrsteilnehmers und der Modus des Verkehrsbetrachters, sind auf die sich überlagernden Wahrnehmungen von Landschaft und Geschichte ausgerichtet.3 Das Integral dieser Wahrnehmungen erschließt sich als Panorama dem Gehenden freilich ebenso wenig wie dem Fahrenden, sehr wohl aber erschließt es sich dem Stehenden, dem Blick des Malers oder Fotografen. In dessen panoramatischer Sicht hat auch die Autobahn ihren Ort und lässt sich als Element einer ästhetisch zugleich affizierten und befremdeten Erfahrung festhalten. In den „Vorbemerkungen“ Jürgen Beckers zur Anthologie Aus der Kölner Bucht von 2009, die Becker-Gedichte aus vier Jahrzehnten zusammenführt, erscheint auch die Autobahn im Verbund mit anderen Phänomenen der Landschafts-Überformung als Teil einer zeitgenössischen niederrheinischen Weltlandschaft: Wo der Rhein, im Rücken die weithin sichtbare Silhouette des Siebengebirges, aus seiner sich durchs Rheinische Schiefergebirge windenden Schlucht hinausströmt, beginnt eine tischflache Ebene, die nach Norden sich ausdehnt, bis in die Niederlande hinein, bis zur atlantischen Küste, ans Meer. Es ist das Niederrheinische Tiefland. Um Köln herum, zwischen Bonn, 1 2 3

Peter Handke: „Gurken und Kiefern, Äpfel und Schnee. Zu Jürgen Becker.“ In: Sinn und Form 58, 2006, 6, S. 800–807, hier S. 801. Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Brandt im vorliegenden Band. Mit Landschaft und Geschichte überschrieb denn auch Walter Hinck seine Laudatio auf Jürgen Becker zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises (in: Sinn und Form 54, 2002,1, S. 125–129).

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Leverkusen und sicher auch noch Düsseldorf, ist es die Kölner Bucht. Im Westen geht sie über in die Ausläufer der Eifel, ins Vorgebirge, die Ville; im Osten steigt sie zu den Hügelreihen des Bergischen Landes. Von dort aus schaut der Verfasser gelegentlich hinab auf die Ebene, über der ein riesiger Himmel liegt. Wenn nicht die Wolkendecke eines atlantischen Tiefdruckgebietes die Landschaft verdüstert, selbst wenn der Himmel einmal klar ist, sieht man im Land mächtige Wolkengebilde stehen, weiße, bei Windstille unbewegte Skulpturen aus Dampf, der aus den Kühltürmen der Elektrizitätswerke, aus den Schloten der aneinandergereihten Industrieanlagen steigt. Oder es sind die endlosen, kreuz und quer verlaufenden Kondensstreifen des Flugverkehrs, die sich irgendwann auflösen und flüchtige Wolkengespinste bilden. Ein Himmel für Bomberverbände, sagt dann die Erinnerung an den Luftkrieg, aber es ist die Gegenwart des Flugbetriebs, der den Luftraum über der Kölner Bucht in Flugschneisen zerlegt, ganz hohe für die interkontinentalen Linien und tiefgestaffelte für die Anflüge zum Airport auf der Wahner Heide. Wann ist der Himmel über der Landschaft einmal ein leerer Himmel … eine leere Landschaft gibt es jedenfalls nicht: Im Territorium zwischen den Städten verläuft ein permanenter Verkehrsstrom, der über Autobahnen und Autobahnkreuze, Bundesstraßen, Landstraßen und Eisenbahnlinien fließt. Es gibt keine Stille mehr, selbst in den Nächten nicht. Fortwährend durchzieht ein Geräuschfilm die Luft.4

Das literarische Tableau ruft durchgängig Assoziationen zu Anfang und Blütezeit der Landschaftsmalereitradition auf, zu der sich Jürgen Becker spätestens mit den Publikationen Ideale Landschaft (Prosatexte, 1968) und Das Ende der Landschaftsmalerei (Gedichte, 1974), im Grunde genommen aber bereits mit seinen frühen, formal noch radikaleren Veröffentlichungen Felder (1964) und Ränder (1968) ästhetisch positioniert hat. Wie in den Weltlandschaften der niederländischen Barockmalerei die Mythologie, so scheint hier die Geschichte auf den ersten Blick nur eine Art beiläufige Staffage im Gesamtpanorama zu sein; zugleich aber prägt und durchdringt sie dieses Panorama in jedem Detail. Der Autobahn kommt dabei zunächst keine privilegierte Rolle zu. Sie ist ein Landschaftszeichen unter vielen, die einerseits geografisch/synchron, andererseits historisch/ diachron orientiert sind. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, wie sich das Autobahnmotiv bei Jürgen Becker allmählich entfaltet: als Autobahn-Anblick, -Augenblick oder -Ausblick.5

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Jürgen Becker: Aus der Kölner Bucht. Gedichte. Frankfurt a. M. 2009, S. 7–8. Die berücksichtigten Gedichte und Prosatexte stammen aus jenen vier Jahrzehnten, die in der Anthologie Aus der Kölner Bucht versammelt sind. Das experimentelle Frühwerk Jürgen Beckers tritt also in der Betrachtung zurück.

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Spuren einer solchen Motivdifferenzierung zu suchen, stellt freilich in gewisser Weise ein Gegen-den-Strich-Lesen des Becker’schen Œuvres dar, zumindest dann, wenn man es an der von Becker selbst proklamierten poetischen Einheit dieses Werkes misst. In der oben zitierten „Vorbemerkung“ bemerkt dieser abschließend, dem Leser könne wohl auffallen, dass sich die Schreibweise des Verfassers kaum verändert habe, „ganz gleich, wo sich der Ort des Schreibens befindet, in einem Atelier in Berlin, in einem Hotel in Ostende, in einem Hochhaus im Kölner Süden, in einem bergischen Gehöft“; was dabei „an Wirklichkeit ins Selbstgespräch des Gedichts eingegangen“ sei, spreche immer „selbst mit ihm, indem sie [die Wirklichkeit, Anm. JP] Spuren legt, denen die Wörter, die Sätze folgen“.6 Darin, so Becker, finde er seine Motive, sein Material, das sich notwendig wiederholen müsse, nicht, weil dem Verfasser nichts Neues mehr einfalle, sondern „weil alles Material, jedes Motiv, es mag noch so erschöpft erscheinen, etwas übrigläßt, etwas Verborgenes, Nochnichtentdecktes, etwas Sichveränderndes, einen Rest, einen riesigen Rest von nichterzählter Geschichte, von verlorener Erinnerung, die man wiederzufinden hofft“.7 In dieser Tektonik von Jürgen Beckers unruhigen Weltlandschaften mit ihren verborgenen Residuen der Geschichte und der Erinnerung ist die Autobahn durch ihre erwähnte Ambivalenz (als Motiv passiver und aktiver Wahrnehmung) von besonderer Bedeutung. Die Art und Weise, wie dabei „Nochnichtentdecktes“ in Erscheinung tritt, hängt eben doch wesentlich davon ab, in welchem Verhältnis sich das (entweder verkehrsaktive oder verkehrspassive) Individuum zum System der Autobahn befindet. Ist doch die Autobahn für das zeitgenössische Individuum in den seltensten Fällen ein ästhetisches Phänomen, oft genug aber eine Selbstverständlichkeit oder Notwendigkeit. In diesem Sinne könnte man sie als ein Dispositiv in dem erweiterten Sinne verstehen, den Giorgio Agamben vorgeschlagen hat, nämlich als etwas, das – wie die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, der Computer oder das Mobiltelefon – imstande ist, „die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern“.8 Die These, die meinen nachfolgenden Ausführungen zugrunde liegt, ist, dass bei Jürgen Becker auch im Modus der aktiven Verkehrsteilnahme die passive Wahrnehmungsweise als kritisches Korrektiv aktiviert wird, ein Verfahren, das als Kennzeichen seiner Poetik insgesamt betrachtet werden kann.

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Becker: Aus der Kölner Bucht, S. 10. Ebd.; zur Poetik dieses Verfahrens der Spuren, die auf noch Unerschlossenes verweisen, vgl. die Überlegungen von Jan Röhnert: Die offene Spur der Wirklichkeit. Jürgen Beckers poetischer Impuls. In: Poesie und Praxis. Sechs Dichter im Jahr der Wissenschaft. Jena 2009, S. 81. Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Berlin / Zürich 2008, S. 26.

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2 Wie schon angedeutet, steht in Beckers Gedichten der 1970er-Jahre die aktive Teilnahme der lyrischen Ichs am Autobahngeschehen zunächst noch hinter der Wahrnehmung der Autobahn von einem Standort jenseits des Autobahndispositivs zurück, so schon in der Publikation Erzähl mir nichts vom Krieg von 1977: Wiedersehen nach längerer Zeit In diesem Dorf, in diesem Vorort geht es gut weiter. Die zweite Anbindung an die Autobahn hat die Hauptstraße entlastet; Platz für die Mofas der Kinder. Der letzte Bauer verkauft nacheinander seine Parzellen; über den Quadratmeterpreis wird nur gemunkelt auf der Bachaue jetzt ein Sportpark mit Kegelbahn, Tennishalle und Diskothek. Der Pfarrer kämpft gegen den Unternehmer, der sein Mietshaus genau auf die Grenze zum Kirchgarten gesetzt hat; wie es passieren konnte, versteht keiner, der nicht die Beziehungen des Unternehmers kennt. Einige leerstehende Häuschen, vorgesehen zum Abbruch, mit den verwilderten Gärten drumherum das Gelände für den dritten Selbstbedienungsmarkt. In der Luft immer das Geräusch der Autobahn; mit ihrer haushohen Trasse umgibt sie den Ort wie ein Wall, wie ein Damm gegen Feinde und Katastrophen. Immer noch, von morgens bis abends, sitzen hinter der großen Frontscheibe des Altenheims alte Frauen. Einige Frauen schlafen; eine schüttelt den Kopf; einige warten auf Sonntag und Besuch; eine winkt, auch wenn niemand vorbeikommt.9

Ein Vorortszenario in sozialkritischer Kolorierung wie aus einem ins Rheinländische transponierten Fassbinderfilm. Aus heutiger Sicht zugleich ein Gedicht, das Phänomene noch im Status des Entstehens und Aushandelns dokumentiert, die in der Zwischenzeit längst schon zu betonierten Fakten einer von der Koalition aus 9

Jürgen Becker: Gedichte 1965–1980. Frankfurt a. M. 1981, S. 204.

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Partikularinteressen und schlechtem Geschmack korrumpierten lokalpolitischen Rationalität geworden sind. Grammatisches Tempus dieser Bestandsaufnahme ist ein nüchternes Präsens, das jedoch mit klandestinen Indizes der Vergangenheit und der Zukunft versehen ist. Der resultative Hinweis auf die zweite Anbindung des Ortes an die Autobahn steht unter dem manipulativ zukunftsoffenen Diktum des Eingangssatzes: Hier „geht es gut weiter“. Eine Zukunft, die ihre Bonitätsprüfung im Zeichen der Infrastrukturerweiterung erhält, von der jedoch die Generation der Älteren bereits ausgeschlossen ist: Die Erwartungen dieser Generation haben nur noch eng umrissene Horizonte („einige warten auf Sonntag und Besuch“) oder sind ins (auch temporal) Imaginäre gerichtet: „eine winkt, auch wenn niemand vorbeikommt“. Wenn dabei die Autobahntrasse einen Damm gegen mögliche Katastrophen bildet, dann wird auch die Parole des Gut-Weiterkommens vollends zur plakativen Floskel, das „Wiedersehen nach längerer Zeit“ der Überschrift zugleich zu einer düsteren Prognose: ein Zuwinken, das an die unsichtbare Zukunft adressiert ist, in der all diese Gesten bereits gewesen sein werden, während die Trasse unverwüstlich Bestand hat. Ähnliches gilt für das Gedicht „Erwartungsland“ aus dem zwei Jahre später erschienenen Band In der verbleibenden Zeit: Erwartungsland Grünes Wogen in den Kiefern; überall rauscht die Autobahn. An einem Tag wirst du nicht weit genug gehen können; wo einst begann das wilde Gelände. Oben Wolken und lesend sitzen Leute in der Luft; Vancouver nebenan, nachmittags Antillen. Hier eine Bitte um Erhalt des Fachwerks; die Bäume wehren sich umsonst.10

Das Gedicht hat keinen fixierbaren Blickpunkt und lässt sich – vielleicht entgegen dem ersten Eindruck – auch nicht auf eine politische eindeutige (zum Beispiel frühökologische) Tendenz festlegen.11 Die gleichsam enharmonische Umdeutung des Naturgeräuschs der Kiefern ins Grundrauschen des Autobahnverkehrs hebt im Grunde den Gegensatz Natur versus Technik ebenso auf wie der globale Verkehr die diskreten Lokalzeiten relativiert. ‚Erwartung‘ ist zu einer Einstellung geworden, deren 10 Ebd. S. 290. 11 Das von Christof Siemes auf Becker gemünzte Verdikt ökologischer Betroffenheitslyrik (ders.:

Das Testament gestürzter Tannen. Das lyrische Werk Peter Huchels. Freiburg i. Br. 1996, S. 16) weist Andreas Wirthensohn in seinem Beitrag Die Natur in Jürgen Beckers Poetik der Vorläufigkeit m. E. zu Recht zurück (in: Jürgen Becker. Text + Kritik 159, S. 111–112).

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zeitliche Ausrichtung verloren gegangen ist. In diesem Sinne hat der Erfahrungsraum von Natur und Infrastruktur bei Becker nahezu durchgängig einen doppelten temporalen Index. Im Gedicht „Erzählung“ (im Abschnitt „Die gemachten Geräusche“ der Gedichte, 1981) tritt das lyrische Ich dann auch als aktiver Verkehrsteilnehmer auf: Erzählung Der helle Abend im Rückspiegel, die Nähe der belgischen Landflächen, Atlantik, Autobahnstau. Wir rauchen und haben Zeit für Blicke, Baggerlöcher, die Pappeln. Gestern, vorgestern, Tempo 160, sahen wir nichts. Jetzt die Ambulanzen und Kinder auf Feldern mit Drachen, Fliegen auf den Hügeln der toten Kaninchen; die Krisen, später, daheim, nichts erzählen.12

Der Autobahnstau ermöglicht hier eine Umleitung der Gedanken; die Erfahrung einer krisenerschütterten Gegenwart (der Blick voraus) verweist auf die Kindheit mit ihren Ritualen des Verschweigens, des Nichterzählens. Diese sind nichts anderes als das Echo der Geschichts-Verschweigungen und -Verdrängungen, die sich performativ im Gedicht fortschreiben: „später, daheim, nichts erzählen“.

3 Jürgen Beckers Prosaarbeiten lassen sich gleichfalls als unablässige Arbeit an den und gegen die Rituale des Verschweigens begreifen, und zwar als Arbeit, die ganz wesentlich in einer bewussten Zerrüttung der Consecutio Temporum besteht. So auch der Prosaband Erzählen bis Ostende von 1981,13 den man nachgerade als Anschlusstext zum Gedicht „Erzählung“ lesen kann und aus dem knapp 20 Jahre später wiederum in einer Art Knospung der Roman Aus der Geschichte der Trennungen hervorgeht.14 In Erzählen bis Ostende initiiert die Wahl des Verkehrsmittels, die in diesem wie in zahlreichen anderen Fällen der deutschen Nachkriegsliteratur gegen das Auto ausfällt,15 eine auf den ersten Blick konventionell anmutende Erzählkonstruktion, nämlich das Modell eines Erzählens im Zug, beginnend am Nullpunkt der Narration im leer und kalt am Bahnhof bereitgestellten Abteilwaggon. Diesem Nullpunkt vorgeschaltet ist 12 13 14 15

Ebd. S. 338. Jürgen Becker: Erzählen bis Ostende. Frankfurt a. M. 1981. Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen. Frankfurt a. M. 1999. Vgl. Norbert Hummelt: Bahnfahren. In: Text + Kritik 159, S. 7–14.

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jedoch ganz zu Beginn eine Imaginationsklausel: „Stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof“,16 eine Klausel, die es verhindert, die Erzählkonstruktion einfach als einen traditionellen Rahmen für das Erzählen zu begreifen. Dementsprechend führt der Narrator sein Erzählen dann zunächst auch im Präsens fort: „Stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof. Vorher machst du ein paar Türen auf und wieder zu. Es gibt einen Menschen, der dich sofort begreift: das ist der Mann hinter der Scheibe des Fahrkartenschalters. Leer läuft der Zug auf dem Bahnsteig ein, und es vergeht Zeit bis zur Abfahrt […] Du weißt, daß ungefähr drei Stunden Fahrt vor dir liegen, Richtung westliche Küste, nach Ostende.“17 Der hier gefundene, nunmehr eher an Wim Wenders als an Fassbinder anklingende Tonfall bleibt im Text erhalten, der narrative Raum ist in der Zeitdimension einerseits abgeschlossen (drei Stunden Zugfahrt laut Fahrplan), zugleich aber auch offen: Für das Erzählen gibt es gerade kein Ende, weder räumlich – in östlicher oder irgend anderer Richtung – noch zeitlich, auch jenseits aller denkbaren Verspätungen. Im 93. Abschnitt mit der Überschrift „Vorläufiges Verschwinden“, dem letzten Glied in der Reihe der mitgeteilten reisebegleitenden Abschweifungen, die von New York über die Kölner Bucht bis ins Bergische Land führen, beginnt daher die Reise im Grunde noch einmal von vorne, vielmehr: Sie führt als Mise en abyme in den Nicht-Grund des Erzählens. Erzählen bis Ostende enthält nun wiederum mehrere Abschnitte, die jeweils mit der Überschrift „Aus der Geschichte einer Trennung“ versehen sind, einer Überschrift, die im fast 20 Jahre später erschienenen, bereits erwähnten Roman Aus der Geschichte der Trennungen (1999) reaktiviert wird. Verkehrsmittel der Wahl in Aus der Geschichte der Trennungen ist nun nicht mehr der Zug, sondern das Auto (Handkes Becker-Kritik scheint sich genau darauf zu beziehen); dabei wird dem Roman keine „Stell dir vor“-Klausel vorausgeschickt, sondern im Gegenteil die scheinbar objektivierende (Becker-Lesern freilich vertraute) Inthronisierung einer Erzähler/Protagonist-Dyade: „Es war der Sommer, als ich Jörn wiedersah“, so lautet der erste Satz. Und doch handelt es sich auch hier, wie der Leser bald schon feststellt, um eine höchst unsichere Gewährleistung, da der Erzähler, der hier sein Auftreten andeutet, nur eine introspektive Bezugsperson ist, die nie greifbar wird außer in der Verdoppelung von Bierkrügen und Schnapsgläsern, die immer paarweise bestellt werden; der Narrator ist der geheime Beifahrer des Narratus Jörn, der wiederum als autobiografisches Spiegelbild des Autors zu erkennen ist. Und in der Tat wird auch hier das Erzählen auf Verkehrswegen initiiert, nun jedoch im Auto, das keinem narrativ instrumentalisierbaren Fahrplanregime unterworfen ist. Die Autofahrt kennt weder eine Destination noch eine festgelegte Ankunftszeit, klare Konturen hat die Fortbewegung nur retrospektiv, mit Blick auf Ausgangspunkt und Verlauf der Fahrt: 16 Becker, Erzählen bis Ostende, S. 7. 17 Ebd.

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In der Frühe des Sonntagmorgens strich ein sanfter Südostwind über die Getreidefelder, die sich zwischen der Chausee und den Kiefernwäldern hinzogen, und mit dem Wind schoben sich riesige Wolken über das ebene, zum Horizont hin leicht wellige Land. Um diese Zeit war die schnurgerade, mitunter in langgezogenen Kurven verlaufende Chaussee fast leer; nur in den weit auseinanderliegenden Dörfern und Städtchen, wo die vor wenigen Jahren neugezogene Asphaltdecke ins rumplig alte Kopfsteinpflaster wechselte, tauchten vereinzelt Fahrräder, Autos, ein Motorrad mit Beiwagen, ein Traktor auf. […] Noch in der Nacht war Jörn im Rheinland losgefahren; nach Stunden ohne einen Stau hatte er die Autobahn in Ziersar verlassen und die Landstraße genommen, die über Belzig, Treuenbrietzen und Jüterbog in die Landschaft des Niederen Fläming führt.18

Erzähllogisch eine – Hysteron-Proteron-Konstruktion, verkehrslogisch eine Entschleunigung: Die vorausgehende Autobahnfahrt wird von der Landstraße aus nacherzählt, sie bleibt ein Faktum der Vorgeschichte, keines der erzählten Handlung. Und eine Rückkehr auf die bundesrepublikanisch wiedervereinigte (d. h. ins westdeutsche Verkehrswegedispositiv eingegliederte) Autobahn wird es auf der Gegenwartsebene des Romans von da an auch nicht geben. Der Erzähler und sein unsichtbares alter ego begeben sich im Zustand des retardierenden Fahrens auf die Spur eines Todesfalls: Jörns Mutter ist kurz nach Kriegsende in einem brandenburgischen See ertrunken. Dieser Vorfall ist so etwas wie der Aufschlagpunkt eines in die Vergangenheit geworfenen Steins, um den herum sich die Wellen des Erinnerns ausbreiten und die Kriegsund Nachkriegszeit lebendig werden lassen. Und im Resonanzraum des Erinnerns ist es nun erneut eine Autobahnfahrt, durch die der Leser in diese Vergangenheit geleitet wird. Jörn erinnert sich dabei an den kriegsbedingten Umzug der Familie vom Rheinland nach Thüringen, beginnend mit dem Abschied: Durchs Seitenfenster sah er […] die Großmutter, die Tanten den Vater stumm umarmen, während die Mutter fröhlich die Windschutzscheibe wienerte und aus der Seitentasche der offenstehenden Tür den neuen Continental-Atlas zog.19

Es handelt sich nicht nur um eine Initiationsfahrt für die Reisenden, sondern auch für das Fahrzeug. Auf der Weiterfahrt steht zunächst der Kontrast im Charakter der Eltern im Vordergrund, der sich auch als Unterschied in den Verkehrsplanungsintentionen äußert: Der Vater, der meist in diesen Sommerwochen ein ernstes Gesicht machte, sah noch ernster aus, als er wieder am Steuer saß, und es dauerte eine Weile, bis es der Mutter […] gelungen

18 Becker, Aus der Geschichte der Trennungen, S. 7. 19 Ebd., S. 24.

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war, das Gesicht ihres Mannes aufzuhellen. Zwischendurch kündigte sie immer wieder die Namen der kommenden Orte an, wie sie der Autoatlas auf ihren Knien angab, und nur wenn sie meinte, diese oder jene Nebenstrecke führe doch durch besondere landschaftliche Schönheiten, wurde der Vater wieder unwirsch; er hatte seit Tagen […] die Route festgelegt. Und dazu gehörte ein ganzes Stück Reichsautobahn, eine dieser gerade freigegebenen Teilstrecken, die einen von der Pflasterstraße wegholten und auf das weiße leere Betonband übernahmen … ein Kunstwerk der Ingenieure, so hörte der Junge den Vater es sagen, modern und elegant, wie das sich durch unsere schöne weite Landschaft schwingt … Jetzt rumpelte das Auto nicht mehr; jetzt rollte es dahin im Takt der Plattenfugen, die immer rascher auf­einanderfolgten und schließlich sich ins Unmerkliche auflösten, als der Vater, alle Einfahrregeln nicht länger bedenkend, das neue Auto beschleunigte, bis es seine Höchstgeschwindigkeit fast erreicht hatte. Jetzt brummte der Motor nicht mehr; jetzt heulte er hoch, gleichmäßig und fein in der Tonlage, die wunderbar der Leichtigkeit entsprach, mit welcher der Wagen dahinfloß, davonglitt. Dörfer und Städte waren weit zurückgewichen; Waldküsten traten heran und entfernten sich wieder hinter den gelben Flächen des Getreidemeers; Schluchten, Flüßchen, Täler blieben unter hochgewölbten Brückenbauten liegen, und ganz hoch schwebten Segelflieger zwischen den weißen wandernden Wolken.20

Die Grundidee einer kartografisch verstellten landschaftlichen Wirklichkeit, die Beckers Gedichten der 1970er- bis 1980er-Jahre zugrunde liegt, erhält hier eine konkrete historische Tiefendimension; hinter dem Versprechen der freien Fahrt lassen sich unschwer die Propagandabilder des Reichsautobahnbaus wiedererkennen – die ökologische Verbrämung des Projektes, die Landschaftsästhetik und das Ingenieurs­ pathos. „Mythen und Fakten“, so schreiben Erhard Schütz und Eckart Gruber, seien im sogenannten Reichsautobahnbau unauflösbar vermengt gewesen, eben weil die Mythen von Anfang an mitgeplant wurden; und damit gehörten „die propagierten Mythen auf einer tieferen Ebene zu den Fakten über die Autobahnen“;21 genau dieser faktisch-mythische Komplex wird im familiären Szenario Beckers gespiegelt. Und das Erleben des Kinds wird dabei in einer religiösen Assoziation fixiert, die freilich erneut nur als versäumte Erfahrung ex post aufgerufen wird: „Jörn saß aufrecht, der kleine Oberkörper kerzengerade; er fühlte sich eingenommen wie von einer langanhaltenden Andacht. Seine Augen schnellten hin und her zwischen der huschenden Landschaft und dem Tachometer, dessen Nadel zitternd auf der Ziffer Neunzig stand […] Der Vater schien ganz erleichtert zu sein, als nach dieser Rennfahrt zwischen Hersfeld und Eisenach die nächste Baustelle begann und er sein Auto wieder zahm unter Birnbäumen dahinlenkte, die Landstraße nach Thüringen hinein. Das Grüne 20 Ebd., S. 26–27. 21 Erhard Schütz / Eckart Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen

des Führers“. 1933–1941. Berlin 1996, S. 7–14.

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Herz Deutschlands, trällerte die Mutter und klappte den Autoatlas zu, als bald schon Gotha näher kam. Hast du die Wartburg gesehen? Wo? Die Wartburg, hoch über Eisenach, ein feste Burg ist unser Gott …“22 Die Stimme des Reformators dringt durch die Maske der mütterlichen Unbekümmertheit. Bemerkenswert ist dabei, dass sich in diese Erinnerung eine Art retrospektive Geschwindigkeitsüberhöhung eingeschrieben hat; zwar schwebt auf der Autobahnkarte von 1939 (Abb. 1) in der Tat die Wartburg als trutzfeste Ikone über der Strecke; aber die Karte verrät auch, dass die kindliche Erinnerung an dieser Stelle nur dann mit der Geschichte des Autobahnbaus in Einklang zu bringen ist, wenn man die Realbiografie Jürgen Beckers als einen Faktor der literaturkritischen Rekonstruktion der Ereignisse ignoriert. Denn zur Zeit von Jürgen Beckers Umzug als 7-Jähriger im Jahr 1939 war, wie auf der Karte zu erkennen, der Streckenabschnitt Hersfeld–Eisenach noch im Bau. Noch 1940 war er nur einspurig befahrbar. Und natürlich ist auch die Ästhetik von „hochgewölbten Brückenbauten“ vom Auto aus gar nicht in dieser Form wahrnehmbar. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine geschwindigkeitshyperbolische Simulation der Erinnerung, die gerade kein festes Fundament hat. Die Geschichte der Trennungen ist somit auch eine Geschichte der retrospektiven Täuschungen, die sich bis in die Geschichte der deutschen Teilung und Vereinigung fortschreiben. Auch die Ergründungsreise zum See, in dem die Mutter umgekommen ist, bleibt diesem Täuschungszusammenhang verfallen; das Projekt stößt letztlich auf keinen festen Grund und das Schwindelgefühl der Täuschungen wird nur durch Gesprächssituationen aufgefangen, die der Erzähler und sein Double immer wieder suchen: mit einem einheimischen Wirt (daher das Leitmotiv der Biergläser) oder mit Personen, die gerade nicht einheimisch sind, deren Wahrnehmungen aber durch die Fähigkeit zur poetischen Analogie beglaubigt werden. So taucht zum Beispiel im Erzählbericht eine dänische Dichterin auf, die den Vornamen Inger trägt und somit leicht als eine literarische Spiegelung der großen dänischen Lyrikerin Inger Christensen (1935–2009) erkannt werden kann. Mit ihr scheint der Erzähler bei allen Unterschieden der Geschichte eine spezifische Wahrnehmungsweise zu teilen: „sie sagte, die Gegend hier bringe ihr die Kindheit zurück, ihr komme alles wie damals vor, die Seltenheit der Autos, die Stille, die Gärten, die Sehnsucht nach der Ferne.“23 Wie bei Inger Christensen ist die Natur auch bei Becker kein Refugium. Die Sehnsucht nach einer Stille der Welt jenseits der Autobahnen schließt in bewusster Paradoxie die Erinnerung an eine Sehnsucht ein, dieser Wirklichkeit vor der allgemeinen Mobilität zu entkommen, die Sehnsucht nach der Ferne – und erst später stellen sich die Versäumnisse beziehungsweise Verlust heraus. Dieser gewollten 22 Becker, Aus der Geschichte der Trennungen, S. 27–28. 23 Ebd. S. 176.

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Paradoxie wird man wohl nicht gerecht, wenn man die Autobahn allein als zwingendes und entindividualisierendes Dispositiv versteht, das unsere Verhaltensweisen in eine Richtung zwingt.

4 Den Rückkoppelungseffekt der Zeit, die spezifische Eigenständigkeit der poetologischen Consecutio Temporum bei Jürgen Becker, macht auch ein Gedicht aus dem 2012 erschienenen Band Scheunen im Gelände deutlich, in dem sich viele der bisher erwähnten Motive bündeln: Umleitung Soltau-Ost Was man liegen läßt, im Vorbeigehen, später stellt sich heraus,

es war ein Versäumnis,

vielleicht.

Sicher kann man sich nie sein, 5

auch wenn Zivilisten aussehen wie Zivilisten. Der Eimer liegt in der Brombeerhecke. Das Reh hebt den Kopf.

Was ist los …

Drei Stunden im Stau. 10

Als der Mittelstreifen brannte,

wurden wir aufgefordert, die Fenster zu schließen und den Wagen nicht zu verlassen. Hilflos, sagt der Reporter, stehe ich und bleibe vor Ort. 15

Du weißt und bist bereit zu sagen,

wie es weiterging?

So heiß war der Dünensand,

daß man barfuß nicht zum Wasser kam. Abends war der Sand wieder kühl, und wir trafen uns 20 zum Picknick.

Damals, die alten Eliten, heute

sind es die neuen. Was geschah

mit den alten?

Nichts, sie sitzen hier noch herum, nur sind es 25 keine Eliten mehr,

nur ein paar verwischte Spuren.

Ilex und Ginster im Sperrgebiet; Namenschilder

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diskret unterm Efeu; nach so vielen Sommern kommen nur noch Touristen, die Erdbeeren kaufen und 30 den Sonnenuntergang fotografieren.

Im Vorbeigehen

fällt dir nichts auf, und was sich später herausstellt, hängt vom Verlauf der Wegbiegung ab, oder man hat sich im Datum vertan. 35

Wie es weiterging,

Du weißt schon. Die Wälder brennen und brennen, und die Pflaumen auf unseren Wiesen sind noch nicht reif.24

Soltau-Ost ist eine seit 1959 bestehende Autobahnausfahrt der A7 in der Nähe der Stadt Soltau in der Lüneburger Heide. Der Leser kann also mit Fug und Recht ein Autobahngedicht erwarten, wenn man die Existenz eines solchen Genres einmal postulieren will. Beginnt man, über die Überschrift hinaus zu lesen, dann dämpft jedoch schon der erste Satz diese Erwartung: Hier herrscht kein Tunnelblick, der einer Vorwärtsbewegung des Autos vorauseilt, sondern ein ständiges Hin und Her zwischen Wahrnehmung und Reflexion, mithin ein Modus des Weltbezugs, den der Autofahrer sich am allerwenigsten leisten kann: „Was man liegen läßt, im Vorbeigehen, später / stellt sich heraus, / es war ein Versäumnis, / vielleicht.“ Liegenlassen und Vorbeigehen sind ja in der Tat keine Handlungen, die mit dem Zustand des Fahrens auf der Autobahn kompatibel sind; und auch in den Folgesätzen: „Sicher kann man sich nie sein, / auch wenn Zivilisten aussehen wie Zivilisten. / Der Eimer liegt in der Brombeerhecke. / Das Reh hebt den Kopf“ werden offenbar Erfahrungen aufgerufen, die in den Ereignisraum Autobahn und seine spezifischen Wahrnehmungsmodi nicht integriert werden können, selbst dann, wenn dort alle Bewegung zum Stillstand gekommen ist und die Autobahnumgebung, die Ränder, wieder in Erscheinung treten, wie dies hier der Fall zu sein scheint und wie es bereits das Gedicht „Erzählung“ als Differenz vermerkt hatte. Die vorliegende Zeitform des lyrischen Sprechens, das Präsens, ist dabei der übergreifende Indikator einer Wahrnehmung, die der Standardwahrnehmung der schnellen Autobahnfahrt widerspricht: Die Autobahnausfahrt (Soltau-Ost so gut wie jede andere) ist für den Fahrer stets entweder Zukunft (als sich nähernde nächste Ausfahrt) oder schon Vergangenheit (als verpasste Ausfahrt), niemals Gegenwart, zu der sie erst dann wird, wenn man über den Ausfahrtstreifen das System Autobahn verlässt. Erst die Zeile „Was ist los …“ mag dann dezidiert die Wahrnehmung eines aktuellen Autobahngeschehens aufrufen, das sogleich auch mit dem Stoßseufzer 24 Jürgen Becker: Scheunen im Gelände. Gedichte mit Collagen von Rango Bohne. Mit einem

Nachwort von Michael Krüger. München 2012, S. 62f.

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„Drei Stunden im Stau“ bestätigt und als ein gleichermaßen individueller wie kollektiver Zustand benannt wird. Dieser kollektive Stillstand wird nun in den folgenden Zeilen im Präteritum mitgeteilt, und zwar in der ersten Person Plural, die offen lässt, wie groß das Kollektiv ist, das darunter begriffen werden soll: „Als der Mittelstreifen brannte, / wurden wir aufgefordert, die Fenster zu schließen / und den Wagen nicht zu verlassen“. Das „wir“ kann hier ja einerseits auf die Gemeinschaft der im Stau Stehenden beziehen, aber auch auf eine unbestimmte, jedenfalls aber überschaubare Anzahl Mitreisender im automobilen Innenraum. Der Stau hebt offenbar die Abkapselung der Auto-Monaden auf, weshalb auch das lyrische Subjekt die Redehoheit an die Stimme des Radiosprechers abgeben kann, der für alle spricht. Der Verkehrsfunk bestimmt den Status des Autobahnsubjektes in Raum und Zeit. Diese mediale Ersetzung der Präsenz, die Verschiebung und Entäußerung des lyrischen Subjekts in die Prosopopöie des Autoradios, generiert nun auch einen intertextuellen Verweis: In der Parole des Radioreporters „Hilflos stehe ich und bleibe vor Ort“ spricht erneut der Reformator Luther „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Dieser Intertext gerät in die Nähe einer populären Intertextualität, zum Beispiel von Werbeästhetik; die Radiostimme wird dann auch sogleich abgewürgt und der implizite Fahrer zieht monologisierend selbst wieder die Herrschaft über die Rede an sich. Er tut dies mit einer rhetorischen Frage, die im Gefüge des Gedichts einen angedeuteten Rahmen stiftet: „Du weißt und bist bereit zu sagen, / wie es weiterging?“ Das lyrische Subjekt wird damit vom Bann des Autobahnstaus freigesprochen; und in der Art und Weise, wie dies geschieht, zeigt sich die Eigenart des Lyrikers Becker besonders deutlich. Konventionelle Lyrik würde nun vom Stillstand aus eine erlebte Vergangenheit aufrufen; bei Becker hingegen ist es eine Zukunft, die grammatisch als Vergangenheit verkleidet ist, eben der Zeitraum, in dem sich das abspielt, „wie es weiterging“. Das futurum exactum, das damit in der Tiefenstruktur des Gedichts aufgerufen wird, ist nun aber in jeder Hinsicht vieldeutig, nichtexakt, in keiner Weise eine sprachlogische Gewährleistung des Transzendenten, wie sie Robert Spaemann diesem Modus des Sprechens aufbürdet.25 Das Sagen, wie es weiterging, ist für Becker alles andere als ein theologisch heilsgewisses Sprechen. Man wird davon ausgehen können, dass damit die nachfolgend mitgeteilten Eindrücke gemeint sind: „So heiß war der Dünensand, / daß man barfuß nicht zum Wasser kam. / Abends war der Sand wieder kühl, und wir trafen uns / zum Picknick.“ Die Mitteilungen weisen vage darauf hin, dass der oder die Reisende in Ostdeutschland Urlaub machen werden, wodurch sich rekursiv auch der Assoziationsraum der ersten Zeilen des Gedichts zu konkretisieren scheint – man fährt in ein Land, in dem für 25 Vgl. Robert Spaemann: Der letzte Gottesbeweis. Mit einer Einführung in die großen Gottes-

beweise und einem Kommentar zum Gottesbeweis Robert Spaemanns von Rolf Schönberger. München 2007.

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den Besucher aus dem Westen die Zivilisten stets noch klandestine Nichtzivilisten sind. Oder beziehen sich die einleitenden Verse auf die weiter zurückreichende Vergangenheit der Weltkriegszeit? Das bleibt zunächst offen. „Damals, die alten Eliten, heute / sind es die neuen. Was geschah / mit den alten? / Nichts, sie sitzen hier noch herum, nur sind es / keine Eliten mehr, / nur ein paar verwischte Spuren.“ Der Wahrnehmungsraum verschiebt – und konkretisiert – sich dann zur ehemaligen innerdeutschen Grenze: „Ilex und Ginster im Sperrgebiet“; „Touristen, die Erdbeeren kaufen“ sowie ein lyrisches Subjekt, das sich im Ungewissen über die Datierungen befindet, in einem Zustand der temporalen Unschärfe, die das Gedicht insgesamt strukturiert: was ist hier früher, was später? Die Verwirrung der Consecutio Temporum ist auch hier eine notwendige Verwirrung, deren Erkenntnispotenzial bereits in den ersten Zeilen des Gedichtes formuliert und zugleich mit dem Vorbehalt „vielleicht“ markiert wurde: „Was man liegen läßt, im Vorbeigehen, später / stellt sich heraus, / es war ein Versäumnis, vielleicht“. Und auch dann, wenn der poetisch produktive Zauber des Vorbeigehens nun am Ende des Gedichtes wieder aufgerufen wird, bedeutet dies nicht, dass das „Vielleicht“ des Gedichtanfangs damit aufgehoben würde. Das wechselweise Hysteron Proteron von Wahrnehmung und Reflexion kommt zu keinem Abschluss, vielmehr tritt schließlich noch ein weiterer Zukunftshorizont hinzu – oder ist es erneut eine weitere Vergangenheitslinie? – „Wie es weiterging, / Du weißt schon. Die Wälder brennen und brennen, und / die Pflaumen auf unseren Wiesen sind noch nicht reif.“ Das Futurum ist aus der Vergangenheit ins Präsens mit all seiner Unsicherheit, seiner universellen Unreife, zurückgekehrt. In einer ersten Deutungsannäherung könnte man sagen: Der Zustand des Subjekts auf der Autobahn wird hier als ein abhängiger Zustand erkennbar, abhängig nämlich vom Verkehrszustand, vom Zustand des Systems Autobahn. Der Stau hebt einerseits die Individualisierung der Autofahrer auf, zugleich aber wird der Freiheitsspielraum des lyrischen Subjekts eingeschränkt bis zu dem Punkt, an dem es die Redehoheit an den Verkehrsfunk abtritt. Private, persönliche Erlebnisse und historische bzw. zeitgeschichtliche Kontexte werden auf diese Weise amalgamiert. Indem der Leser auf dergleichen sich überlagernde und sich ineinanderschiebende Denk- und Erlebnisräume immer wieder trifft, lernt er, sie zu unterscheiden und zuzuordnen, auch wenn sie oft nur andeutungsweise in Erscheinung treten. Sie sind Elemente jener fortgesetzten Suche nach dem Verborgenen, noch nicht Entdeckten, sich Verändernden, nach dem „riesigen Rest von nichterzählter Geschichte“, von der in der Einleitung zum Band Aus der Kölner Bucht die Rede ist. Die Szenarien verbinden dabei die subjektnahe Region des Bergischen Landes (die Region der familiären Wurzeln), gleichsam den lyrischen Grundbesitz des Autors mit seinen Obstwiesen, dem Fachwerkhäuser-Ensemble und der dazugehörigen Dorflandschaft samt Tankstelle, mit der geografischen und historischen Welt, den von der Geschichte, der eigenen und der politischen Geschichte, tangierten Regionen, die im Modus des Reisens, der Fortbewegung zugänglich sind,

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zum Teil auch bewohnt werden. Die Verkehrswege und Verkehrsmittel stehen dem Subjekt einerseits zur Verfügung, sofern es sich darin und damit bewegt, sie sind aber zugleich auch Erscheinungsformen einer zur kulturellen Natur gewordenen Umwelt, die von Hochleitungstrassen und Einflugschneisen geprägt ist.

5 Auch in der digital vernetzten, globalen Welt der Gegenwart lässt sich diese Form der poetischen Welterzeugung nicht ein- oder überholen. Wenn man bei Google die Suchbegriffe „Waldbrand Soltau-Ost“ eingibt, lässt sich in Sekundenschnelle jenes Szenario auf den Tag und die Minute genau zurückrufen, von dem das Soltau-Gedicht zu sprechen scheint: auf den „27.07.2010 um ca. 11.47“ datiert es die Website „www. Feuerwehr.info“. Aber wie sollte sich ein Gedicht datieren lassen, das die Nichtfixierbarkeit, die Undatierbarkeit all unserer Erfahrungen zum Gegenstand hat? Stellt sich nicht heute heraus, dass es vielmehr gerade andersherum war: Die Lyrik Jürgen Beckers präfiguriert jene irritierende Nachbarschaft von privater und politischer Welt in den Dispositiven des Digitalen? Weist auf diese prekäre Nachbarschaft nicht bereits ein (zunächst vielleicht etwas moralisierend wirkendes) Gedicht wie Erdbeben im Rheinland hin, das abermals eine Ex-post-Wahrnehmung an den Anfang setzt: Erdbeben im Rheinland Erst am nächsten Tag … Wir gingen durch alle Zimmer, suchten nach einem Riß, nach Spuren der Vibration. Einige hatten etwas gespürt, dieses unmerkliche Zittern. Und die Katze war plötzlich verschwunden gewesen. Auf den Dächern die Morgensonne. Nach Süden zieht ein Kondensstreifen ab. Das Spendenkonto auf dem Bildschirm hat sechs Zahlen; am Ostkap verhungern ein paar Leute mehr. Am nächsten Tag heißt es, keinerlei Schäden, Richterskala vier.26

Eine „heile“, unzerrüttete Welt jenseits der Autobahnen und Flugrouten gibt es bei Becker jedenfalls nicht; das wird deutlich, wenn man sich entsprechende Szenarien des Abseits dieser Dispositive vergegenwärtigt, die sein Œuvre kennt. In der Gedichtsammlung Dorfrand mit Tankstelle von 2007 gibt es insgesamt drei Texte, die ihrerseits die Überschrift Dorfrand mit Tankstelle tragen. Alle drei rufen Szenen und Topografien 26 Jürgen Becker, Aus der Kölner Bucht, S. 90.

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der Langsamkeit auf, einen Nahverkehr der Wahrnehmungen und Bezüge. Der Tankwart, der in den Gedichten als wiederkehrende Bezugsperson auftritt, „schaut auf die Straße und hebt den Arm, als der Traktor vorbeikommt und der Fahrer den Arm hebt“;27 der Traktorfahrer wiederum „hält und holt sich ein paar Pflaumen vom Baum. Die Wiese läßt er liegen. Die Wiese verdorrt“ (so im zweiten der Tankstellengedichte); und in der Zeitlupe der Wahrnehmung verwandelt sich auch noch die Instabilität der globalen ökonomischen Verhältnisse – zum Beispiel des Benzinpreises – in ein Stillleben, sodass das Weltgeschehen gleichsam naturgeschichtlich wird, die Tafeln mit dem Benzinpreis zu Emblemen: „Morgen ist Dienstag. Bis dahin bleiben die Ziffern stabil.“28 Dass es aber auch hier kein Außerhalb gibt, wird im dritten der Gedichte mit der Überschrift Dorfrand mit Tankstelle deutlich, in dem es heißt: „Der Nebel reicht bis zum Dorfrand, und sieht man / die Straße nicht mehr, dann sieht man, / sagt Moritz der Tankwart, das Nichts.“29 Moritz der Tankwart, so könnte man sagen, ist der Grenzposten eines Systems, das weit über die Autobahn hinausreicht und doch kein Außerhalb kennt, nur eben das Nichts.  Kapitelendet

27 Jürgen Becker: Dorfrand mit Tankstelle. Gedichte. Frankfurt a. M. 2007, S. 64. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 84.

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Heinrich Popp

Wortsegel Zwei junge Milane üben lautlos das Gleiten am Südhang in der Thermik meiner Erinnerungen. Sechzig Jahre schon. Im Frühsommer. Wir wollten das Unendliche ermessen, und die Geschichte vom fliegenden Robert machte uns traurig. Wir lagen lange wach. Tagsüber, beim Viehhüten, war der Horizont ein großes Geheimnis. Maulwurfshügel, das Gesicht auf die Erde gepresst, durch das Gras betrachtet, ruhten wie wuchtige braune Berge hinter grünen schlanken Bäumen vor dem blauen Himmel, und der Frosch, der ein Holzschiffchen durch den angestauten Tümpel zog, war ein strampelndes Ungeheuer in einem großen Meer mit Steilküste. Marco Polo, John Mandeville und das Reich des Priesters Johannes mit seinen fantastischen Geschöpfen tauchten erst viel später auf. Der alte Schulatlas war Ivans ganz große Welt. Darauf bereiste er alle Kontinente, und seinen Schiffskapitänen waren alle Häfen vertraut. Die Schrecken des Eises konnten ihm nichts anhaben, und in der Finsternis bewegte er sich mit traumwandlerischer Sicherheit. Wie Heinrich der Seefahrer kannte er alle Meere und hatte doch immer festen Boden unter den Füßen. Seine Begeisterung kam aus der Distanz, die bekanntlich die größte Nähe schafft. Seine Nähe zur Ferne. 1  Wortsegel – Denkmal für Poesie Weil man seine Füße festgenagelt hat, schon früh, sind seine Sinne Nomaden geworden; flatterhaft, wie Nachtfalter. Mit dem Guineastrom aus Südwest wälzt sich die Autobahn, nun für immer, durch unsere Auwiesen, über den geduldeten Rastplatz für Zigeuner und Landfahrer der Nachkriegszeit am „Heidenborn“ vor dem Dorf, nach Nordwest. En passant: der Betonchristus am Schaumbergkreuz, vom Sockel geholt bei der vorletzten Renovierung des Turmes und in eine unvorteilhafte Perspektive gestellt; kopflastig. Die Quellen, in denen wir unsere überhitzten Gesichter nach unserer Rückkehr aus den

Heinrich Popp

Tropen, auf dem Bauch liegend, kühlten und den Durst löschten nach den Gerüchten (unglaublich) aus der Fremdenlegion, wurden ordentlich verrohrt und entwässern nun unsichtbar vorschriftsmäßig. Jetzt, nach vielen Jahren (in den einschlägigen Kneipen der St. Johanner „Kappengasse“ werden schon seit Langem keine vom Fernweh geplagten, naiven Dorfbuben mehr für die Fremdenlegion rekrutiert), fließen die Wasser der Erinnerung immer noch klar und glitzernd mit mannigfaltigen Schwebstoffen, die, ans Tageslicht gebracht, zu Wörtern werden, Rückenwind bekommen (auch Kreuzen vor dem Wind ist möglich), und zu erzählen beginnen. – Wortsegel –  Kapitelendet

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Irmgard und Benno Rech

Wie die Autobahn bei Johannes Kühn ins Gedicht kommt Wenn ein Lyriker sich im Gedicht zur Autobahn äußert, muss er in Ton und Inhalt seinen Lesern anderes sagen als ein Verkehrspolitiker vor einer Riege von Straßenbauingenieuren. Zwischen ihnen geht es um die Streckenführung, um technische Fragen, um Materialien und Kosten, der Dichter bringt sein persönliches Erleben der Autobahn in Assoziationen und Bildern zum Ausdruck. Für ihn zählen Erlebnisse, Gemütsregungen, Sinneseindrücke, Stimmungen. Vor der Autobahn verliert sein Spaziergang jede Berücksichtigung. Sie zerschneidet ihm die Wanderwege. Für Mensch und Tier setzt sie eine unüberwindliche Grenze gegen die Weite. Sie schafft Beengung, zerstört die Stille. Anwohner wie die Wanderer klagen: „Hier hatte der Weg doch Pappeln / und stieg hinan mit einer leichten Anhöh / zum Blau des Sommers …“ Diese Eindrücke sind durch Erfahrungen gestützt, die Johannes Kühn beim Bau der Autobahn vorbei am Dorfrand von Hasborn gemacht hat. Sein Fazit: „du hast zu begreifen, / daß dein Schritt, / dein Gemüt hier nicht zählen.“ Andererseits sind unendlich viele Menschen in den Augen von Johannes Kühn froh, den Vorteil der Autobahn täglich nutzen zu können. Im Gasthaus Huth erfährt er es, wo er die Gespräche der von der nahen Autobahn zur Rast eingekehrten Autofahrer hört. Im Auto setzen dem Fahrer die Enge des „Blechhauses“ und das Motorengeräusch zu. Die Schnelligkeit bedingt seine ungenaue Wahrnehmung, sie stört die Geduld, Langeweile plagt ihn. Er ist angespannt, nur der Beifahrer kann den Blick schweifen lassen. In der ersten Strophe seines Gedichtes Fernfahrer heißt es dann auch im Irrealis: „Tafelei / wär es mir, / mit den Augen Tafelei / an den Leckerbissen schimmernder Bilder, / eilig wechselnd, der Langeweile stinkender Schwanz / rührte mir nicht ins Gesicht!“ Dann geht es im Indikativ weiter: „Aber ich bin / über dem Lenkrad / an der Straßen Tücken gekettet, / und die Kurven / schlingere ich nach, / durch die Lichtschneisen nachts / nach Sicherheit strebend / mit Hand und Sinn.“ Darüber hinaus gibt es auf der Autobahn häufig den Stau, der andauernd Aggressionen weckt. Zum Schritt des Fußgängers jedoch mit seiner „Blume im Knopfloch“ „lässt sichs noch singen“. Das Treiben auf der Autobahn weckt Rivalität. Überlegenheitsgefühle, Unterlegenheitskomplexe stoßen die Fahrer aus dem Gleichgewicht. Es kommt zur Raserei. „Uns schreckt nichts. / Wir wollen schnell in der Stadt sein.“ Die Folge sind Unfälle. In dem Gedicht Autobahn I finden wir eine der ganz wenigen sarkastischen Stellen

Irmgard und Benno Rech

in Kühns Gedichten: „Holz steht noch genug da zum Sarg / und Kirchen genug / zur Aufbahrung.“ Autobahn II beginnt drastisch, ja kriegerisch: „Fast von Geschossen / scheint die Eil zu sein, / mit der auf grauer Autobahn / die Wagen sausen: Hintereinander, / gegenläufig /wie sichs seltsam ansieht / auf vier Spuren: Blechlärm / und Motorbrummen strömen / ins Land“. Für den Dichter eine entfesselte, schwer beherrschbare Situation, die Angst macht. Die Hetze im Straßenverkehr hat unser Dichter hautnah erfahren. In den Semesterferien war er über Monate Beifahrer in einem Lastwagen, der Dosenfleisch durch die Bundesrepublik und das ans Saarland grenzende Frankreich transportiert hat. Insbesondere hat er als Hilfsarbeiter in der Tiefbaufirma seiner Brüder zehn Jahre lang Rohre meist entlang von Straßen verlegt. Johannes Kühn lebt mit der nahen Autobahn, aber er ist nicht wie wir in den Sog des Autos geraten. Er ist ein Gehender geblieben, dieweil wir eilig Fahrende geworden sind.  Kapitelendet

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Johannes Kühn

Gedichte

Die Fahrt Die Uhr am Lenkradbrett, wie langsam, die Räder in den Achsen, wie schnell! – Ich füge meinem Singen ein Murmeln nach, denn ich fahr alleine. Kein Mensch, der neben mir Gespräche zu führen hätt, mit mir die Langweilkette einer ungeheuerlichen Rollbahn. Und an den Seiten, etwas entfernt, wohl Städte, wohl Dörfer, sie kümmern mich schon weniger. Ich will aus unserm Land ins andre Land zu Ferienlüsten ans Meer und trete auf das Gaspedal, ja vorsichtig und sicher, mir soll kein Verhängnis werden an solch schönem Sommertag. 11.5.13 / 31.5.13

Johannes Kühn

Aus der Luft gesehen Aus der Luft gesehen, welch lange Schlangen von Fahrzeugen durchs Land, miteinander, gegeneinander fahrend, alle tief in Fieber der Raserei, gut, gut! Jeder, der auf ihr fährt, hat ein Ziel und soll es auch erreichen. Autobahn, mit Erfolgen und Wagnissen. Jahre hat es gedauert, bis der Mensch sie freigab, nun wird gefahren und gerast. Bei der Eröffnung hat der Minister ein Band zerschnitten, man zechte und man jubelte. Was solls, was heißts! Hier liegt die Bahn. Jetzt wird gerast. 11.5.13 / 12.5.13 / 31.5.13

Gedichte

Autobahn I Du bist durch die Autobahn mit einem gut fahrenden Auto eigentlich immer schnell mit deinem Onkel verbunden, nicht ganz wie durchs Telefon. Wir fahren die Autobahn, uns winken Bäume und Türme von Kirchen seitlich her. Holz steht noch genug da zum Sarg und Kirchen genug zur Aufbahrung. Uns schreckt nichts. Wir wollen schnell in der Stadt sein, schneller als der Zug, schneller als die anderen Autos und lebend, glücklich, als seien wir eben erst aus dem Bett aufgestanden. Da rauschen, da sausen die Räder. 12.1.95 / 30.01.95 / 31.5.13

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Johannes Kühn

Autobahn II Fast von Geschossen scheint die Eil zu sein, mit der auf grauer Autobahn die Wagen sausen: Hintereinander, gegenläufig, wie sichs seltsam ansieht, auf vier Spuren: Blechlärm und Motorenbrummen strömen ins Land, zu Dörfern und zu Städten in Wäldern und in Wiesen, Tal und Gebirg. Nicht Freierei, nicht Hochzeit beschäftigen den jungen Mann, die heile Fahrt grad tausend Kilometer am Steuerrad sind sein Erlebnis durch Stunden. Licht, Luft und Wetter zerschneidet er auf Rädern wohnend und besucht die Mutter in Berlin. Ich sehe seinen Wagen, den mächtigen Mercedes, und vor ihm viele Fahrer und hinter ihm – ein Fernsehtraum, ein Film! 18.10.01 / 31.5.13

Gedichte

Rastplatz Hier reist man an, in Scharen die Autobahn verlassend. Der Motorradstand ist stark besetzt durch die Kolonne, die aus Frankreich kam. Autos, Autos, als wären hier Fabriken, stehn reglos, rasten. Bunt die Wagen, fahren an und fahren ab. Ist das ein Labyrinth, sinds Zirkuswege, ists ein Hafen? Raststättenklima ist erregtes Gehen von Durstigen und Hungrigen. verlieren wollen diese Plagen die Kinder, Fraun und Männer. Man geht und schwärmt von reich gedeckten Tischen, man prüft an aufgehängten Karten vor den Wänden, wie weit es ist bis zum gesetzten Ziel. Auf schnellen Füßen geht’s zu den Aborten. Als sei hier immer Fest, als seis ein Kirmesplatz, so sieht es aus. 30.6.03 / 1.7.03 / 16.8.03 / 31.5.13

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Johannes Kühn

Morgenröte Wieviele Lippenstifte hat die Morgenröte wohl verwendet, ich will sie nicht zählen, so rot ist ihr Mund, sie flüstert in Erregungen voll Liebe. Der Autofahrer tankt und will erleben, wenn von den Himmelslippen die Röte Flammen in die Gegend haucht, den Kuß ins Land. Er fährt durch seine Schönheit. Er wird im Gasthaus heut Abend davon schwärmen. 13.08.09 / 17.8.10

Gedichte

Autobahn in der Ferne Hinter den Wäldern, fern und gefährlich, steigt der Rauch der Abgase auf von den rasenden Wagen, die dazu einen Brummton versenden, als sammelten sich dort Bienenschwärme zum rauschenden Sommerflug. Herr erbarm dich derer, deren Wagen zerschellt, segnen kann ich schon selber all jene, die sicher zu ihrem Ziel mit heilen Sinnen und Gliedern landen. Wie es auch sei, gute und ungefährliche Reise wünsche ich allen. 15.05.2013

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Johannes Kühn

Regen auf der Autobahn Der Scheibenwischer wischt und brummt und quietscht. Des Regenwetters Dunkelheit zu brechen schalten sich die Lampen an und in der glatten Bahn, wie rechts und links Verhänge sind, die Tropfen tanzen wie ein weißes unbändig wildes Klickerspiel. Gradaus die Räder, gradaus! Sie sind gut zu halten. Es gibt schon einmal einen Stau, doch fahr ich wohl, mag ich auch fast dem Schiffer gleichen, und trocken bleib ich wie sonst am Sommertag in Blau, bin mit meiner Laune wie im Glück zu Haus, denn dicht hält all mein Blech um mich. – Und in der nächsten Ausfahrt schere ich nach rechts und komme an mein Ziel. Ich besuche in der Stadt ein lustiges Theaterspiel, bin gar nicht naß, bin gar nicht müde, mir brennt nur Neugier im Gemüte. 11.05.2013 / 12.05.2013

Gedichte

Bekenntnis Es dampft die Autobahn, es glänzt die Autobahn, sie ist in Nebeln weiß und grün umwölkt von Wäldern, doch liegt sie starr und unbekümmert unter meinem rasenden Gefährt. Unfälle sind ihr zuzuschreiben, zu viele, ach, so viele! Ich bin besessen von den Strecken, hier wagt man Eile, die man braucht, um schnell von Stadt zu Stadt zu kommen. Sie erlaubt sie immerzu. Die Jahre, da die Räder rollen, erlebt sie tugendsam, sie sind wie Wasser, das einen Bach hinunterrutscht und schädigen sie kaum. Bis jetzt kam ich noch ohne Schaden bei jeder Reise durch das Land über ihren lobenswerten schwarzen Teer davon. 20.05.2013 / 21.05.2013

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Am Himbeerhang Am Himbeerhang geh ich mit einem Kessel und pflücke rote Beeren, überreife. Nicht weit von mir im Tal das Brummen von der Autobahn, das Singen und das Tosen, über ihnen fliegt kein Bussard, schwenken sie herein, erreicht sie es, so drehn sie ab, beleidigt. Der Autos Reiselust in sommerlichen Temperaturen, sie gleicht Ameisenläufen und ein Ruß wölkt hin. Da, ihr Vögel, habt ihrs schwer, gesund zu fliegen, ihr habt es schwer zu atmen, selbst ich inmitten grüner Sträucher. So ists, so bleibts das ganze Jahr, wohin die Menschen reisen, wer weiß. Schnee im Winter, wenn er übermäßig fällt, stoppt, versagt der Räumdienst, schon die Raserei. Da kann man erstaunen, das ist Sensation der Sensationen. 14.05.2013 / 15.05.2013

Gedichte

Über den Rhein fahrend Über die Brücke mit einem sicheren Fahrer neig ich mich den Lauf herauf, neig ich mich den Lauf herab, nach rechtshin die Augen, nach linkshin die Augen, als hätt ich sie zu füllen randvoll mit diesem Bild. Und ich seh dich, mächtiger Strom, überlegner Landläufer hell im Sonnenschein, so hell wie Eis, wie Schnee. Schiffe will ich mir ansehn, den Fluß herauf, hinab. – Da verlassen wir schon wieder die Brücke. Aber in mich kam ein staunendes Atmen. Ja, das war der Rhein, flüstern der Fahrer und ich. Fließ weiterhin ohne Deutschtümelei! Diese machen wir, Lieder zu deinen Wassern und Ufern singend eine Weile auf der Weiterfahrt, zwar linkisch, doch erfreut. 30.06.2013

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Autorenverzeichnis THEO BAART, geb. 1965 in Amsterdam, lebt in einem Vorort von Amsterdam nahe dem

Flughafen Schiphol. Zählt zu den wichtigsten Gegenwartsfotografen der Niederlande. Zahlreiche nationale und internationale Ausstellungen und Kataloge. Arbeitet an einem Fotobuch über die Transformationen der Landschaften in Nähe eines Flughafens. Letzte Veröffentlichung: Eiland 7. Tales from Suburbia. Rotterdam 2008. JAN BRANDT, M. A., geb. 1974 in Leer (Ostfriesland), studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Arbeitet als Journalist für die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Literaturwissenschaftliche Forschungsschwerpunkte: Zeitungen im Dritten Reich, Junge Autoren in der Weimarer Republik, Gegenwartsliteratur. Sein Debütroman Gegen die Welt (Köln 2011) stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. 2014 gab er eine Ausgabe der Neuen Rundschau zum Thema Manifeste für eine Literatur der Zukunft heraus. HÉCTOR CANAL PARDO, Dr. des., geb. 1980 in Oviedo (Spanien), lebt in Hannover und Weimar. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der TU Braunschweig, seit Sommer 2014 Mitarbeiter am GSA Weimar / Klassik Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Philologie und Übersetzung um 1800, Übersetzungstheorie und -praxis, Spanien-Rezeption in der deutschen Literatur. Publikationen: (Mit-Hg.:) Das Heilige (in) der Moderne. Bielefeld: Transcript 2013. Spanische Übersetzungen (Auswahl): W. H. Wackenroder L. Tieck: Efluvios cordiales de un monje amante del arte. Oviedo 2008. BENEDIKT EINERT, M. A., geb. 1987 in Hildesheim, lebt bei Hildesheim. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der TU Braunschweig, Abteilung Geschichte und Geschichtsdidaktik. Forschungsschwerpunkt: Geschichte der innerdeutschen Grenze und der Grenzsicherung West, speziell des Bundesgrenzschutzes. MICHAEL PLOENUS, Dr. phil., geboren 1972 in Sondershausen, lebt in Braunschweig und arbeitet am Historischen Seminar der dortigen Technischen Universität. Lehr- und Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der innerdeutschen Grenze, besonders des sogenannten Zonenrandes. CHRISTOPHE FRICKER, Dr. phil., geboren 1978 in Wiesbaden, lebt in Bristol. Marie Curie Research Fellow an der School of Modern Languages der University of Bristol, daneben Sprecher der Stefan-George-Forschungsgruppe am Hanse-Wissenschaftskolleg und Geschäftsführender Gesellschafter des Leipziger Wissensdienstleisters NIMIRUM. Sein Buch Stefan George: Gedichte für Dich (Berlin 2011) stand

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auf Platz 2 der NDR-/SZ-Sachbuchbestenliste. Forschungen derzeit vor allem zu Ernst Jünger, zu Praktiken und Modellen von Begegnung und zum Thema Humor. RÜDIGER HEINZE, Dr. phil., geb. 1972 in Xanten, lebt in Braunschweig, Prof. für Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Braunschweig. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: US-amerikanische Migrationsliteratur, Kulturelle Narratologie, und Transmedialität. Ein Buch zu Kindern von Einwanderern in der US-amerikanischen Literatur und Kultur ist in Vorbereitung. Neueste Herausgeberschaft (mit Jan Alber): Unnatural Narratives, Unnatural Narratology. Berlin 2011. ANDREAS KRAMER, Dr. phil., geb. 1963 in Dülmen, Reader in German and Comparative Literature, Goldsmiths College, University of London. Promotion 1991 mit einer Arbeit über Gertrude Stein, danach DAAD-Lektor in Oxford und seitdem als Germanist und Komparatist in London tätig. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Literatur der Moderne, v. a. Expressionismus und Dadaismus; literarische Avantgarden im europäischen Kontext; Literatur und Film. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Regionalismus und Moderne. Studien zur deutschen Literatur 1900–1933. Berlin 2006; Die endlose Ausdehnung von Zelluloid. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht. Hg. mit Jan Röhnert. Dresden 2009; Carl Einstein und die europäischen Avantgarden. Hg. mit Nicola Creighton. Berlin/New York 2012; in Vorbereitung: Inventing Maps. Geographies of the European Avantgarde. Edinburgh 2015. JOHANNES KÜHN, geb. 1934 in Tholey/Bergweiler, lebt seit dem 2. Lebensjahr in Tholey/Hasborn (Saarland). Vielfach preisgekrönter Lyriker. In seinen jungen Jahren hat er neben Gedichten zahlreiche Theaterstücke geschrieben (meist Einakter). Letzte Bücher: Und hab am Gras mein Leben gemessen. München 2014; Zu Ende ist die Schicht. Saarbrücken 2013. IRMGARD und BENNO RECH sind die Herausgeber des Werks von Johannes Kühn. Benno Rech ist außerdem Mitherausgeber der Gesammelten Werke von Ludwig Harig im Hanser Verlag. MARIO MARINO, Dr. phil., geb. 1971 in Soveria Simeri (Italien), lebt in Berlin. Gegenwärtige Tätigkeiten: Lehraufträge für Kulturwissenschaften an der Universität „Adam Mickiewicz“ Poznań bzw. für Wissenschaftsgeschichte an der TU Cottbus. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Rassentheorien, italienisch-deutscher Kulturtransfer, Ästhetik der Moderne und Kinokunst, J. G. Herder, A. Gehlen, P. Levi. Bücher: (Hg. mit Th. Bach): Naturforschung und menschliche Geschichte Heidelberg 2011; Da Gehlen a Herder. Origine del linguaggio e ricezione di Herder nel pensiero antropologico tedesco. Bologna 2008. JÖRG PAULUS, geb. 1961, Privatdozent und wiss. Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Technischen Universität Braunschweig und wiss. Mitarbeiter am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Schwerpunkte: Literatur um 1800 und um 1900, Briefforschung und Medialität der Kommunikation; Theoretische Philologie; Publikationen u. a.: Philologie der Intimität. Liebeskorrespondenz

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im Jean-Paul-Kreis. Berlin / Boston 2013; SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. mit Renate Stauf. Berlin / Boston 2013; Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. Berlin 1998; Mhg. der Blätter der Rilke-Gesellschaft. HEINRICH POPP, geb. 1944 in Sotzweiler/Saar, lebt und arbeitet in Saarbrücken. Von 1979–2009 Prof. für Grundlagen der Visuellen Kommunikation, seit 1989 bis zur Emeritierung an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Basis-Institut (Kunst, Design, Kunsterziehung). Zu seinen aktuellen Arbeiten siehe auch unter www. wortsegel.de und www.heinrichpopp.de. STEFFEN RICHTER, Dr. phil., geb. 1969 in Freiberg, lebt in Berlin, Literaturkritiker (NZZ, Welt, Tagesspiegel u. a.), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik/Literaturwissenschaft der TU Braunschweig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Literatur und Technik; Raumtheorie; Literaturbetrieb und Literaturkritik; Kriminalroman. Buchpublikationen: Trauerarbeit der Moderne. Autorenpoetiken in der Gegenwartsliteratur. Zu Jean-Luc Benoziglio, Bodo Morshäuser und Daniele Del Giudice, Wiesbaden 2003; Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt 2011. CARSTEN ROHDE, PD Dr. phil., geb. 1971 in Bremen, lebt in Berlin. Dozent an der New York University Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur vom 18. bis 21. Jahrhundert. Monografien: Doppelte Vernunft. Lessing und die reflexive Moderne. Hannover 2013; Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2011; Herausgeberschaften: (zusammen mit Annette Simonis): Das kulturelle Imaginäre (Sonderheft der Zeitschrift Comparatio, 1/2014); (zusammen mit Thorsten Valk): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin / Boston 2013. JAN RÖHNERT, Dr. habil., geb. 1976 in Gera, lebt in Braunschweig. Heyne-Juniorprofessor für neuere und neueste Literatur in der technisch-wissenschaftlichen Welt am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur; Autobiografie; Reiseliteratur; Lyrik; Internationale Kultur- und Literaturgeschichte seit 1800; Literatur und Film. Letzte Monografien: „Springende Gedanken und flackernde Bilder.“ Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars Ashbery Brinkmann. Göttingen 2007; „Nord liegt so nah wie West.“ Kleine Poetik der Himmelsrichtungen. Göttingen 2014; Herausgeberschaften: (zusammen mit Gunter Geduldig) Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Berlin / Boston 2012; (zusammen mit Andreas Kramer): Literatur – Universalie und Kulturenspezifikum. Göttingen 2011. FRANK SEEHAUSEN, Dr. Dipl.-Ing. Architekt, lebt in Berlin, unterrichtet in Berlin und Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Mobilität und Raum. Automobilität und Architektur. Wahrnehmungspsychologie und Urbanität. Unternehmensarchitektur und Corporate Identity. Arbeitsschwerpunkte: Architekt und

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Architekturhistoriker.
Entwerfen im Kontext.
Methodenfragen der Interdiszi­ plinarität. Letzte Veröffentlichungen: Bunker Gottes – Betonkirchen als Rückzug und Aufbruch. In: EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, Marburg und Thomas Erne (Hg.): KBI 05 | Beton Idee und Material im Kirchenbau. Marburg: Jonas 2013; Wege zum Heil. Betrachterlenkung durch Skulptur, Architektur und Ausmalung im Panteón de los Reyes in León. In: Kunsttexte 12/2009. WILLEM VAN TOORN, geb. 1935 in Amsterdam, lebt in Le Petit Jouhet im Berry in Frankreich. Vielfach preisgekrönter niederländischer Schriftsteller / Dichter / Übersetzer (Deutsch, Italienisch, Englisch, Französisch). Die Landschaft spielt in Prosa und Poesie für ihn stets eine zentrale Rolle. Jüngste Veröffentlichungen: Het grote landschapsboek (Das grosse Landschaftsbuch). Essays. Amsterdam 2011; Bezweringen (Beschwörungen). Gedichte. Amsterdam 2013; Verborgen stad/Hidden City. Gedichte zu Fotos von Jan Theun van Rees. Amsterdam 2013; Engel van Lucht/ Angel de aria. Gedichte von Franco Loi in niederl. Übersetzung. Landgraaf 2013. In Europa. Essays. Amsterdam 2014. Arbeitet an der Biografie von Emanuel Querido, Verleger, Stifter des Querido(Exil)-Verlags 1933–1940. JAN URBICH, Dr. phil., geb. 1978 in Gera, Literaturwissenschaftler und Philosoph an der TU Braunschweig. Promotion 2010 mit einer Arbeit zur Erkenntnis- und Darstellungstheorie Walter Benjamins. Wichtige Veröffentlichungen: Darstellung bei Walter Benjamin. Die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin 2011; Literarische Ästhetik. Wien / Köln / Weimar 2011; Hg. mit Alexander Löck: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Berlin 2010; demnächst: Hg. mit Helmut Hühn und Uwe Steiner: Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Berlin 2015. Forschungsschwerpunkte: Verbindungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und Erkenntnis; Theorie der Darstellung; Deutscher Idealismus; Kritische Theorie; Frühromantik; Hölderlin.   Kapitelendet

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Abbildungsnachweise

Röhnert, Die endlose Ausdehnung 1 Hermsdorfer Kreuz (2013). Foto: Jan Röhnert 2 Hermsdorfer Kreuz (2013). Foto: Jan Röhnert 3 Wolfgang Mattheuer, Hinter den sieben Bergen (1973). Leipzig: MBK. 4 Foto: Jan Röhnert (1950) 5 Teufelstalbrücke (2013). Foto: Jan Röhnert 6 Teufelstalbrücke (2013). Foto: Jan Röhnert 7 Teufelstalbrücke (2013). Foto: Jan Röhnert Seehausen, Zur Rhetorik 1 Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture, Harvard 1946, Titelillustration. (Quelle: Sammlung Autor) 2 Handschriftlicher Brief von Henrik Bakema vom Dezember 1962 zur Ausführung des Rathauses in Marl als Gruppe von drei Hängehäusern (Ausschnitt) (Quelle: Netherland Architecture Institute, Rotterdam. Aus: Museum Folkwang (Hg.): Urbanität gestalten. Stadtbaukultur in Essen und im Ruhr- gebiete 1900 bis 2000. Essen 2010, S. 204–205) 3 Oswald Meichsner (genannt Oswin), Zeichnung der Stadt von Morgen. Panorama einer durchgrünten Wohn- und Verkehrslandschaft. Publiziert in der 1959 erschienenen Publikation zur Ausstellung „Die Stadt von Morgen“ und in Hans Bernhard Reichows Buch „Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959“ (Quelle: Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959, S. 62) 4 Hans Bernhard Reichow: „Verkehrsstruktur der Sennestadt mit Farbanordnung der Straßenbeleuchtung.“ Die Verkehrsentflechtung und Verkehrsdifferenzierung in der von Reichow geplanten Stadterweiterung setzte sich von den Straßenprofilen bis in die Farbigkeit der Beleuchtung fort, hier am Beispiel der von Reichow umgesetzten Sennestadt bei Bielefeld (Quelle: Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg 1959, S. 25) 5 Kollektivplan Berlin 1945–46 vom Planungskollektiv erarbeitet. Zeichnung. Planzeichnung Maßstab 1:10.000, 95 x 195 cm (Quelle: Akademie der Künste, Baukunstarchiv. Aus: Harald Bodenschatz; Jörn Düwel; Niel Gutschow; Hans Stimmann: Berlin und seine Bauten Teil 1: Städtebau. Berlin 2009, S. 145) 6 Stadtautobahn und AVUS-Knoten. Zeichnung 1955 (Quelle: Landesarchiv Berlin, Signatur: Akte B Rep. 009, Nr. 88) 7 Walther-Rathenau-Platz. Luftbild 1958. Unbezeichnetes Fundstück aus dem Nachlass des Stadtplanungsamts (Quelle: Archiv Alexander Hoff, Berlin)

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8 Postkarte Rathenauplatz, um 1960 (Quelle: Sammlung Autor, Berlin) 9 Anschlussstelle Stadtautobahn – AVUS, Luftbild um 1957. Veröffentlichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970 (Quelle: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968, Essen 1970, S. 31) 10 Luftbild der Anschlussstelle „The Pretzel“ in New York 1937. Aus: Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture, 1946, S. 557 (Quelle: Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture, Harvard 1946, S. 557) 11–12 Perspektivzeichnungen von Anschlussbauwerken der Berliner Stadtautobahn (Quelle: Landesarchiv Berlin, Signatur: Akte B Rep. 009, Nr. 88) 13 Das Anschlussbauwerk im Mannheimer Schlosspark. 22 Brückenbauwerke sorgen für eine kreuzungsfreie Überlagerung von Straße, Rad- und Gehwegen. Luftbild 1968. Veröffentlichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970 (Quelle: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968, Essen 1970, S. 379) 14 Die Stadtautobahn in Saarbrücken. Luftbild um 1968 (Ausschnitt). Veröffent­ lichung in der Publikation Deutscher Städtebau 1968 von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung 1970 (Quelle: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968, Essen 1970, S. 362) 15 Die Berliner Promenade in Saarbrücken gegenüber der Autobahn. Postkarte 1969 (Quelle: Sammlung Autor) 16 Die innerstädtische Schnellstraße in Marburg mit angrenzenden Post- und Universitätsbauten. Das von Johannes Möhrle entworfene Postamt Marburg von 1976. Fotografie von Gabriele Peé-Seidel. (Quelle: Johannes Möhrle: Postbauten. Stuttgart/ Zürich 1985, S. 76-77) 17 Notationen von Donald Appleyard, Kevin Lynch und John R. Myer zum visuellen Erleben von Boston durch die Stadtautobahnen, aus: The View from the Road, 1964 (Quelle: Donald Appleyard, Kevin Lynch und John R. Myer: The View from the Road. Cambridge Massachusetts 1964, S. 50–51) 18 Die Rudolf-Wissel-Brücke (Nordbogenbrücke). Zeichnung der Vogelschau um 1957 (Quelle: Landesarchiv Berlin, Signatur: Akte B Rep. 009, Nr. 88) 19 Vorfahrt 1974 (Quelle: Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Archiv gmp) 20 Querschnitt des Terminals A, um 1972 (Quelle: Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Archiv gmp) 21 Softline-Fenster zum Flugsteig. Architektonische Thematisierung des intermodalen Wechsels (Quelle: Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Archiv gmp) 22 Das Internationale Congress Centrum (ICC) Berlin. Blick aus Norden von der Autobahn. Fotografie von Frank Seehausen 2012

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23 Das Internationale Congress Centrum (ICC) Berlin. Grundrisse aus der Publikation in der Bauwelt. Verkehrseinbindung und Grundriss Autogeschoss, Erdgeschoss mit Boulevard (Quelle: Bauwelt 17, 4. Mai 1979, S. 682-685) 24 Das Internationale Congress Centrum (ICC) Berlin. Innenraumperspektive von Reinhard Boes, um 1974. Fotografie von Frank Seehausen (Quelle: Architektursammlung Berlinische Galerie, Archiv Ralf Schüler / Ursulina Schüler-Witte) 25 Raststätte Dreilinden von Gerhard Rainer Rümmler als Markierung des Stadt­ eingangs von Westberlin. Fotograf unbekannt. (Quelle: Archiv Autor) 26 Der Verkehrsknotenpunkt Schloßstraße mit Turmrestaurant. Luftaufnahme von Horst Siegmann im August 1977 (Quelle: Landesarchiv Berlin, Signatur 4 LuA C9 206) 27 Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin-Wilmersdorf (Quelle: Anna Teut: Architekten heute – Portrait Georg Heinrichs. Berlin 1984, S. 120–121) 28 Paul Rudolphs Studie einer Überbauung des nicht realisierten Lower Manhattan Expressway. Abschnitt zum Holland-Tunnel. Kolorierte Schnittzeichnung um 1970 aus „The Evolving City“ (Quelle: Peter M. Wolf: The Evolving City: Urban Design Proposals by Ulrich Franzen and Paul Rudolph. New York 1974, S. 71) 29 Hauptverkehrsbänder mit zusätzlichen tertiären Schwerpunkten. Zeichnung Stadtplanungsamt Düsseldorf (Quelle: Deutsche Akademie für Städtebau und Landes­ planung (Hg.): Deutscher Städtebau 1968. Essen 1970, S. 136) 30 Fotografische Inszenierung von Hochstraße und Hochhaus, um 1966. Fotografie: Bleckmann (Quelle: Stadtarchiv Düsseldorf, Signatur: 039-200-023) 31 1:1-Modell der Hochstraße auf dem städtischen Bauhof zur Überprüfung der Untersicht, um 1960. Fotografie von Georg Weise. (Quelle: Stadtarchiv Düsseldorf, Signatur: 025-450-005)

Einert / Ploenus, Grenze und Autobahn 1 Grenzmarkierung an der GÜSt Marienborn (Quelle: Günter Mach, Helmstedt – Grenzübergang Helmstedt-Marienborn im Dezember 1989, Sammlungsbestand der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn) Heinze, Off the Road 1 The Hills Have Eyes, USA, 2006. Alejandre Aja, Dune Entertainment 2 The Texas Chainsaw Massacre, USA, 2003. Marcus Nispel, New Line Cinema 3 The Cabin in the Woods, USA, 2012. Drew Goddard, Lionsgate Röhnert, Melancholie 1–9 Filmstills aus Wim Wenders Paris, Texas. Deutschland / USA 1983.

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Urbich, Kreis aus Kreisen 1 Bruce Springsteen, Atlantic City (1982) aus dem Album Nebraska (1982). Directed by Arnold Levine. 2 The Devil’s Rejects (USA 2005). Directed by Rob Zombie. Lionsgate Entertainment. 3 Drive (USA 2011). Directed by Nicolas Winding Refn. FilmDistrict. 4 Somewhere (USA 2010). Directed by Sofia Coppola. Focus Features. 5 Somewhere (USA 2010). Directed by Sofia Coppola. Focus Features. Baart, Das Fotoprojekt 1 Theo Baart: Snelweg / Highways in the Netherlands (1996) Popp, Wortsegel 1 Wortsegel – Denkmal für Poesie (Quelle: Heinrich Popp, Wortsegel bei Tholey, 2005)  Kapitelendet

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Personenverzeichnis

A Adams, Douglas 108 Agamben, Giorgio 283 Alazraki, Jaime 199, 219 Amelio, Gianni 145 Ancona, Ugo 131 Anders, Günther 23 Antonioni, Michelangelo 222 Appleyard, Donald 57, 58, 71, 318 Aragon, Louis 194 Ariès, Philippe 263 Audens, W. H. 175 Augé, Marc 13, 20, 118, 150, 184, 260 – 263 Auster, Paul 107, 149, 158 B Baart, Theo 19, 240, 257, 264 Bachtin, Michail 192 Bakema, Jacob Berend 37 Ballard, James Graham 19, 107, 175 – 185, 187 – 196 Bataille, Georges 190, 193 Baudelaire, Charles 168 Baudrillard, Jean 193 Becher, Bernd 279 Becher, Hilla 279 Becker, Jürgen 20, 21, 281 – 284, 286, 287, 289 – 291, 293, 295 Becker, Thorsten 77, 111 Behrens, Peter 40 Benjamin, Walter 10, 168, 189, 221 Bernano, Georges 101 Bernlef, J. 258 Bett, Doris 107 Betz, Johannes W. 113

Bialobrzeski, Peter 279 Bloom, Harold 154 Born, Nicolas 106, 109 Börsch-Supan, Helmut 63 Bradbury, Ray 107 Breton, André 182 Brinkmann, Rolf Dieter 9, 20, 106, 109, 173, 267 – 272, 279 Buchanan, Colin 74 Buñuel, Luis 182 Bunyan, John 148 C Cain, James 137, 139, 140 Camerini, Mario 131, 132, 134 – 138 Capote, Truman 149 Cézanne, Paul 261 Chenal, Pierre 139, 140 Childress, Mark 107, 149 Christensen, Inger 290 Comencini, Luigi 143, 144 Constant eigentl. Constant Anton Nieuwenhuys 259 Cooder, Ry 174 Cook, James 201 Coppola, Sofia 233, 235 Cortázar, Julio 13, 19, 143, 144, 197 – 199, 201 – 204, 206, 208, 209, 211, 213, 214, 218, 219 D Davie, Donald 176 Dean, James 181 Deleuze, Gilles 190 Delius, Friedrich Christian 81, 109, 110, 114

Personenverzeichnis

De Santis, Guiseppe 137 de Sica, Vittorio 132 Dickinson, Emily 148, 152 Dix, Arthur 29 Dominik, Hans 26 Dönhoff, Marion Gräfin 84 Doßmann, Axel 13, 83 Dunlop, Carol 197 – 199, 204, 218, 219 Dunn, Katherine 107 Düttmann, Werner 48, 59, 69 E Ebert, Wils 42 Eichendorff, Joseph von 274 Eisner, Lotte 173 Eliot, T. S. 174 Emerson, Ralph Waldo 148, 149, 152, 153 Eyth, Max 26 F Fassbinder, Rainer Werner 287 Fauser, Jörg 20, 106 Foucault, Michel 9, 150 Freud, Sigmund 179, 182, 188, 190, 192 Friedrich, Peter 42, 43 Frost, Robert 149, 153, 154 Fürlinger, Friedrich 52 G Galilei, Galileo 211 Gamper, Herbert 274 Ganz, Bruno 167 Gerkan, Meinhard von 59, 60 Giedion, Sigfried 35 – 37, 48, 51, 58, 181 Ginsberg, Allen 156 Godard, Jean-Luc 142, 166 Gruber, Eckart 289 Guattari, Félix 190

H Hacke, Axel 81 Handke, Peter 20, 272 – 279, 281, 287 Hauser, Heinrich 108 Hawthorne, Nathaniel 151, 159 Heinrichs, Georg 65 Hemphill, Paul 107 Hering, Ernst 29 Herrndorf, Wolfgang 115, 120, 124 Herzenstein, Ludmilla 42 Hesse, Hermann 108 Hilbersheimer, Ludwig 40 Hinssen, Felix 47 Hitler, Adolf 10, 11, 17, 29, 108, 110, 121, 122 Hoffmann, E. T. A. 184 Hoffmann, Heinz 84 Hofstadter, Richard 159 Hogarth, William 20 Honecker, Erich 81 Hopper, Dennis 222 J Jackson, J. B. 239 Jacobs, Jane 67 Jarmusch, Jim 222 Jefferson, Thomas 159 Joyce, James 222 Jünger, Ernst 17, 87 – 103, 193 Jünger, Friedrich Georg 99 K Kaczynski, Ted 152 Kapp, Ernst 24, 25, 31 Kennedy, John F. 81, 148 Kennedy, Pagan 107 Kerouac, Jack 107, 115, 149, 155, 156, 221, 266

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Personenverzeichnis

Kerouacs, Jack 112 Klupp, Thomas 115, 124 Kontschalowski, Andrei 222 Kopland, Rutger 263 Kracauer, Siegfried 169 Kracht, Christian 106 Krebs, Dieter 65 Kühn, Johannes 21, 299, 300 Kurzeck, Peter 111, 112

McCarthy, Cormac 114, 149 Meichsner, Oswald 38, 39, 317 Mendelsohn, Erich 40 Michelangelo 276 Micheli, Sergio 133 Mies van der Rohe, Ludwig 48 Moritz, Karl Philipp 167 Moses, Robert 35, 66 Myer, John R. 57, 58, 71, 318

L Lacan, Jaques 190 Larkin, Philip 176 Laßwitz, Kurd 26 Le Corbusier 39, 40 Leonhard, Fritz 72 Levinson, Barry 222 Lévi-Strauss, Claude 217 Lewis, Sinclair 107 Lingner, Reinhold 42 List, Friedrich 25 Lübke, Heinrich 81 Lynch, David 18, 222, 227 – 229 Lynch, Kevin 57, 58, 71, 318

N Nabokov, Vladimir 107 Nooteboom, Cees 259, 260

M Malick, Terrence 222 Mandeville, John 297 Mansfield, Jayne 180, 181 Marcic, Blanka 95 Marcic, René 95 Marg, Volkwin 59, 60 Marinetti, Filippo Tommaso 182 Markerink, Cary 239, 240 Marx, Karl 193, 209 Massart, Emile 41 Mattheuer, Wolfgang 13 Maus, Stephan 116, 117, 119, 120, 122 – 124 Mazzacurati, Carlo 145

O Oedmann, Georg A. 108 Oehm, Frank 63 Olmstedt, Frederick Law 51 O’Nan, Steward 107, 149 Otto, Karl 37 P Pausewang, Gudrun 111, 114 Peckinpah, Sam 222 Penn, Arthur 222, 225 Pessoa, Fernando 168 Pleschinski, Hans 78, 80, 81, 83, 85 Polo, Marco 297 Popp, Heinrich 21 Puricelli, Piero 26, 130 R Ratzel, Friedrich 29, 31 Reichow, Hans-Bernhard 40, 41, 317 Rembrandt van Rijn 239 Riehl, Wilhelm Heinrich 24, 25 Rilke, Rainer Maria 233, 265 Risi, Dino 142 Rudolph, Paul 66, 68, 69, 319

Personenverzeichnis

Rümmler, Gerhard Rainer 64, 65, 318 Ruysdael, Salomon 239 S Sabrow, Martin 77, 85 Sallis, James 229 Scharoun, Hans 42, 43 Schavelzon, Guillermo 197, 203, 213 Schink, Hans-Christian 279 Schlegel, Friedrich 122, 194 Schlögel, Karl 77, 80 Schmid, Carlo 95 Schmid, Raimund 95 Schmodde, Hans 108 Schüler, Ralf 62 Schüler-Witte, Ursulina 62 Schütz, Erhard 10, 289 Schwedler, Rolf 52 Scott, Ridley 222 Sebald, W. G. 106 Seidel, Heinrich 26 Seitz, Luise 42 Self, Will 195, 196 Selmanagic, Selman 42 Simmel, Georg 25, 189 Sinclair, Iain 107, 195, 196 Smith, Joseph 154 Soldini, Silvio 142 Sommer, Theo 84 Spaemann, Robert 293 Speer, Albert 71 Spielberg, Steven 162, 222 Springsteen, Bruce 224 Steinbeck, John 107, 148 Swift, Jonathan 195 T Tamms, Friedrich 56, 71, 72, 74 Taylor, Elizabeth 181, 186

Thauß, Arno 108 Thoreau, Henry David 148, 152, 153 Todt, Fritz 29, 278 Trischler, Helmuth 82 Tucholsky, Kurt 28 Turner, Frederick Jackson 158 Turner, Victor 150 U Ulbricht, Walter 81 Utermann, Wilhelm 108 V van den Berg, J. H. 263 van Laak, Dirk 27, 30 Vargas Llosa, Mario 198 Verdone, Carlo 141 Vesper, Bernward 106 Virilio, Paul 265 Visconti, Luchino 132, 137 – 139, 140, 142 Vogel, Jürgen 166 W Wallenborn, Jan Kim 42 Walser, Martin 106 Weber, Max 25 Weber, Max Maria von 26 Wehner, Bruno 38 Weinberger, Herben 42 Whitman, Walt 148, 149, 152 Winding Refn, Nicolas 229 Wolle, Stefan 84 Wuttig, Heinz Oskar 108 Z Zeller, Thomas 10, 51 Zischler, Hanns 166 Žižek, Slavoj 227 Zombie, Rob 225

THOMAS GEIGER, NORBERT MILLER, JOACHIM SARTORIUS (HG.)

SPRACHE IM TECHNISCHEN ZEITALTER 210 (2014)

„Geld regiert die Welt“ war das Thema des diesjahrigen Autorenspecials des Literarischen Colloquiums Berlin auf der Leipziger Buchmesse: Sechs europäische Autoren haben sich dazu Gedanken gemacht: Sergej Lebedew, (Russland), Jonas Lüscher (Schweiz), Tim Parks (Großbritannien/ Italien), Ricardo Menéndez Salmón (Spanien) und Szczepan Twardoch (Polen) verfassten einen Essay – und Ulrike Draesner (Deutschland) steuerte eine Erzählung bei. Weiterhin versammelt das Heft Texte und Romanauszüge von Gert Loschütz, Thomas Hettche und dem diesjährigen Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse Saša Stanišić sowie Gedichte von Tadeusz Dąbrowski. In Auf Tritt die Poesie stellt Volker Sielaff den kroatischen Dichter Branko Čegec vor. Lothar Müller würdigt Hans Joachim Schädlich, dem am 26. Februar der Berliner Literaturpreis verliehen wurde. 2014. 139–253 S. 11 S/W-ABB. BR. 150 X 225 MM. | ISBN 978-3-412-22348-9

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

MÓNIKA DÓZSAI, ALFRUN KLIEMS, DARINA POLÁKOVÁ (HG.)

UNTER DER STADT SUBVERSIVE ÄSTHETIKEN IN OSTMITTELEUROPA

Subversion und Urbanität sind zentrale Topoi der Moderne, die einander bedingen. Dies gilt nicht auch, sondern gerade in Ostmitteleuropa. Von der Romantik aufgebracht, im autoritären Staatssozialismus zur Blüte getrieben und mit der Postmoderne der Nachwendezeit keineswegs verschwunden, erweist sich der »Underground« als ein ebenso vielgestaltiges wie zählebiges ästhetisches Phänomen. »Unter der Stadt« liegt eine poetologische Zentralchiffre für jede Kunst-, Kultur- und Gesellschaftsanalyse zwischen Budapest und Berlin, Bratislava und Prag. Der Band schlägt einen Bogen von E. T. A. Hoffmann und Božena Němcová über die Bestsellerautoren Jáchym Topol, Serhij Žadan und Andrzej Stasiuk

zur ungarischen Neoavantgarde. Er berücksichtigt auf den ersten Blick undergroundunverdächtige Autoren wie Péter Nádas und Wolfgang Hilbig. So spürt er auf mannigfache Weise von der romantischen Kondition über die Theorie der heterotopischen Orte bis in das Zeitalter einer nur vermeintlichen Beliebigkeit dem Skandal nach, der die Moderne grundiert: »Oben« steht gegen »Unten«.

2014. 263 S. FRANZ. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22139-3

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