Die metahistoriographische Revolution: Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur [1 ed.] 9783412521776, 9783412521752

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Die metahistoriographische Revolution: Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur [1 ed.]
 9783412521776, 9783412521752

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Clemens Günther

Die metahistoriographische Revolution Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur

BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)

Band 93

Die metahistoriographische Revolution Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur von

Clemens Günther

BÖ H LA U V E R L A G W I E N KÖLN WEIM AR

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Pavel Otdel’nov: TZ #1, 2015, Öl auf Leinwand, 180 × 260 cm, Privatkollektion. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52177-6

Meinen Eltern gewidmet

Inhalt

Danksagung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Anmerkung zur Transliteration und Übersetzung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Einleitung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 Der lange Abschied von der Zukunft – Metahistoriographie im Spätsozialismus 

....................................... 

41

1. .Die Revision der Historiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1.1 . Die Ausweitung der Geschichte – Metahistoriographische Phantastik im Frühwerk Andrej Sinjavskijs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1.2 . Gescheiterte Geschichte – Historische Ordnungsverluste bei Jurij Trifonov und Vladimir Tendrjakov  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1.3. Historiographische Universalpoesie – Mauvistische Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

47 48 64 85

2. .Die Peripherie der Metahistoriographie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 2.1 . Die Schrumpfung der Geschichte – Die Historiographie der Dorfprosa  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104 2.2 . Von der Welt- zur Provinzanschauung – Mark Charitonovs Linii sud’by und Aleksandr Ivančenkos Monogramma  . . . . . . . . . . . . .  117 2.3 . Geschichte als Übersetzungsproblem – Semen Lipkins Dekada  .. . .  137 3. .Verortungen I  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  163 3.1 . Die Wiederkehr des Historischen im Spätsozialismus  .. . . . . . . . . . . . .  163 3.2 . Von Lukács zu Lotman – Aspekte einer literaturtheoretischen Verortung spätsowjetischer Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173 3.3 . Jenseits des binären Sozialismus – Historisches Erzählen und die Ausdifferenzierung der spätsowjetischen Gesellschaft  . . . . . . . . .  189

8Inhalt

Die Vergegenwärtigung der Geschichte – Metahistoriographie im Interregnum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 4.  Die Artefaktualität der Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 4.1 .Stimmen und Spuren des Dokuments – Metahistoriographische Transformationen bei Svetlana Aleksievič  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210 4.2 .Aus zweiter Hand – Manuskriptfiktion und Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225 4.3 .Fußnoten der Geschichte – T ­ ypotopologien des textuellen Untergrunds  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  239 5.. Die Topographie der Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255 5.1 . „Und wenn man eine Auskunft braucht?“ – Archivologische Operationsweisen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  256 5.2 . Auferstanden aus Ruinen – Metaphysik im Museum des Interregnums  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273 5.3 . Vom Sprachverlust zum Geschichtsgewinn – Geschichtsschreibung im Irrenhaus  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  292 6..Verortungen II  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  311 6.1 . Vom Market-Making zur Macht des Marktes – Zur Rezeption historischen Erzählens im Interregnum  . . . . . . . . . . . .  311 6.2 . Von Ost nach West nach Ost – Literarische (Wieder-)Aneignungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  327 6.3 . Reflexion, Reintegration, Restauration – Zur gesellschaftlichen Stellung historischer Literatur  . . . . . . . . . . . . . .  339 Die Mobilmachung der Geschichte – Metahistoriographie in der Metamoderne 

..................................... 

353

7. .Die Popularität der Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  359 7.1 . End-Täuschung in Serie – Boris Akunins Kriminalfiktionen  . . . . .  360 7.2 . Metahistoriographische Mysterien – Alan Čerčesovs Villa Bel’-Letra und Marija Elifërovas Smert’ avtora  .. . . . . . . . . . . . . . . .  377 7.3. Kinemagiographien – Politiken und Poetiken der Peripherie in der russischen Gegenwartsliteratur  . . . . . . . . . . . . . . .  390

Inhalt9

8. .Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  413 8.1 . Gestörte Geschichte – Die Katastrophe in Tat’jana Tolstajas Kys’  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  414 8.2. Die Ähnlichkeit der Geschichte – Evgenij Vodolazkins nichtgeschichtliche Romane  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  427 8.3. Idologische Inversionen – 19:17h – 1991 – 2017  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  443 9. .Verortungen III  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  461 9.1 . Parahistorisierungen – Zum medialen Wandel der Metahistoriographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  461 9.2 . Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ – Die Rückkehr der Großen Erzählungen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  471 9.3 . Jenseits der Metahistoriographie? Refunktionalisierungen historischen Erzählens  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  481 Die Intransitivität der Geschichte 

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

489

Literaturverzeichnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  501

Danksagung Das vorliegende Buch basiert auf meiner im März 2020 an der Freien Universität Berlin verteidigten Dissertation. An erster Stelle gilt mein Dank Prof. Georg Witte, ohne dessen sachkundige Beratung, intellektuelle Interessiertheit und persönliche Vorbildwirkung die Arbeit nicht die bestehende Form angenommen hätte. Seine inspirierende Forschungstätigkeit und akademische Neugier haben das Arbeitsumfeld am Osteuropa-Institut und Peter-Szondi-Institut der FU Berlin wesentlich zu dem anregenden Ort des Austauschs gemacht, von dem die Arbeit in allen Stadien profitiert hat. Prof. Susanne Frank war eine ebenso wertvolle persönliche und intellektuelle Gesprächspartnerin, die mir als personifizierter Genius Loci des Slavistischen Instituts der HU Berlin den Zugang zu den mannigfaltigen Forschungsaktivitäten dort eröffnet hat. Danken möchte ich allen Teilnehmern an den Doktorandenkolloquien an der FU und HU  Berlin, deren beharrliche und kritische Nachfragen die Entwicklung sowohl einzelner Kapitel als auch der Gesamtarchitektur der Arbeit maßgeblich beeinflusst haben. Danken möchte ich auch den Slavistischen Instituten der Universitäten München und Konstanz, in deren Kolloquien ich Teile der Arbeit vorstellen durfte. Danken möchte ich schließlich den Studierenden in meinen Seminaren, die mir durch ihre wissbegierige Art die Möglichkeit gaben, Themen und Werke innerhalb sowie außerhalb des Korpus der Dissertation zu diskutieren. Für die Lektüre der Arbeit und den intellektuellen Dialog danke ich Oleksandr Chertenko, Agatha Frischmuth, Ina Hartmann, Heinrich Kirschbaum, Philipp Kohl, Roland Marti, Barbara Martin, Torben Philipp, Willi Reinecke, Matthias Schwartz, Svetlana Sirotinina, Susanne Strätling, Adrian Stadnicki und Barbara Wurm. Roland Marti, Peter Thiergen, Ludger Udolph und Bodo Zelinsky danke ich für die Aufnahme der Monographie in die Reihe „Bausteine zur Slavischen Philologie und Kultur­geschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen“.

Anmerkung zur Transliteration und Übersetzung Längere Zitate aus dem Russischen werden im Fließtext in Kyrilliza zitiert. Kürzere Passagen, einzelne Ausdrücke und fremdsprachige Angaben der Primär- und Sekundärliteratur werden in der für alle wissenschaftlichen Texte üblichen Transliteration aufgeführt. Städtenamen und geographische Bezeichnungen werden aus stilistischen Gründen in der im Deutschen üblichen Form aufgeführt (z. B. Moskau statt Moskva). Alle Übersetzungen aus dem Russischen stammen, sofern nicht weiter angegeben, vom Verfasser. Existierende Übersetzungen werden gegebenenfalls in Klammern präzisiert und kommentiert. Zitatangaben finden sich jeweils in den Fußnoten. Fortlaufende Seitenangaben im Fließtext beziehen sich jeweils auf die letzte Zitatangabe in der Fußnote.

Einleitung Denkt man an revolutionäre Perioden der russischen Kulturgeschichte, so kommen neben der Oktoberrevolution und der stalinistischen Kulturrevolution zunächst wohl die Perestrojka und der anschließende Systemzerfall in den Sinn. Die Zeit zwischen dem Ende des Tauwetters und der Regierungszeit Michail Gorbačëvs wird hingegen in der Fachliteratur wie in der russischen Bevölkerung gemeinhin mit Stabilität assoziiert und gilt als antirevolutionäre Epoche schlechthin. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass die regelmäßig vor einer Revolution warnende Machtadministration Vladimir Putins rhetorisch gerne an die sogenannte Stagnationsperiode anknüpft. In jüngerer Zeit macht sich dies vor allem am Boom aufwändig produzierter, in der Zeit des Spätsozialismus spielender Serien wie Ottepel’ (Tauwetter, 2013) oder Optimisty (Optimisten, 2017) bemerkbar. Das Verdikt der Stagnation wird hier ins Positive gewendet, der Spätsozialismus zu einer Retroutopie 1 verklärt, hinter deren Idealisierung alle Proteste und Revolutionen der Zerfallszeit als historischer Irrweg erscheinen. Bereitwillig schließt die gegenwärtige Regierung an die Ideale des Spätsozialismus an und beansprucht, die damaligen Glücksversprechen in der Gegenwart zu aktualisieren. Die vorliegende Arbeit entwirft eine alternative Genealogie der russischen Gegenwart. Sie behauptet, dass in der vermeintlichen Stagnationszeit ein Wandel ästhetischer Weltbezüge und Zeitregime einsetzt, dessen Nachwirkungen bis in die heutige Zeit gesellschaftliche Prozesse beeinflussen. Sie orientiert sich in ihrem veränderten Blick auf diese Umbruchszeit an jüngeren Forschungen zur westeuropäischen Periode Nach dem Boom 2. Diese komplementieren die lange Zeit vorherrschende und kulturgeschichtlich dominierte Chiffre „1968“ durch eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive, die insbesondere die drei Jahrzehnte von 1970 bis 2000 fokussiert.3 Spricht man hier von Revolution, so sind weniger eindeutige politische Zäsuren gemeint als „Bedeutungsverschiebungen oder Bezeichnungsrevolutionen, mithin konzeptuelle Umbrüche und semantische Neuvermessungen, die auf eine epistemische Wendezeit hindeuten könnten“.4 Die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts wird somit lesbar „als eine kohärente 1 Bauman 2017. 2 Doering-Manteuffel/Raphael 2008. 3 Vgl. hierfür Raphael 2019. Vgl. für den amerikanischen Kontext der 1980er Jahre Rogers 2011. Vgl. für eine globalgeschichtliche Perspektive Borstelmanns 2012. 4 Leendertz/Meteling 2016, S. 13. Zu den geschichtskulturellen Verschiebungen in d ­ iesem Zeitraum, die im Rahmen dieses Forschungsparadigmas interpretiert wurden, vgl. den

16Einleitung

Phase vielfältiger Übergänge in unsere Gegenwart“, von denen „eine der grundlegenden Veränderungen das Zeit- und Geschichtsdenken“ betrifft.5 An diese Diagnose bis heute prägender Veränderungen im Geschichtsdenken des ausgehenden 20. Jahrhunderts soll hier angeknüpft werden. Die Leithypothese der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass sich soziale Wandlungsprozesse in einer prägnanten Form in einem veränderten literarischen Umgang mit Geschichte äußern. Sie fundiert diesen veränderten Umgang im Leitbegriff der Metahistoriographie und versteht darunter, dass Beobachtungen zweiter Ordnung etabliert werden, die sich in einem reflexiven Verhältnis zum Gegenstand ihrer Untersuchung befinden. Solche Reflexionen häufen sich in der spätsowjetischen Literatur, so z. B. im Nachdenken über die Voraussetzungen der Verschriftlichung von Geschichte in den Romanen Jurij Trifonovs, in der Reflexion über die Möglichkeit literarischer Modellierung transhumaner Temporalität bei Andrej Sinjavskij oder in der Fundamentalkritik existierender Zeitverständnisse bei Saša Sokolov. Interessant erscheinen an diesen Autoren, die hier stellvertretend für das Korpus der vorliegenden Arbeit genannt werden, weniger Neubewertungen einzelner historischer Ereignisse oder deren Verhältnis zur Doktrin des Sozialistischen Realismus bzw. zur zeitgleich im Westen ausgerufenen Postmoderne. Stattdessen wird die grundsätzliche Frage gestellt, was passiert, wenn man histo­ risches Erzählen auf seine epistemischen Voraussetzungen hin befragt. Hierin liegt ein roter Faden der vorliegenden Arbeit, mit dem sich historisch heterogene Phäno­mene und Diskurse verknüpfen lassen. Das Ziel dieser Verknüpfung ist eine Neubetrachtung des Verhältnisses von ästhetischer und sozialer Periodisierung für eine Geschichte der russischen Gegenwartsgesellschaft. Ausgehend von problemorientierten Fallanalysen soll so Einsicht in die epistemologischen Voraussetzungen gesellschaftlichen Wandels im Spannungsfeld von Systemzerfall und Systembildung erlangt werden.

Was ist Metahistoriographie Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht der Begriff der metahistoriographischen Fiktion. Metahistoriographische Fiktionen sind epistemologische Fiktio­nen, die mit Thomas Klinkert ihre Bedeutsamkeit durch die Interferenzen zwischen Literatur und Wissenschaft gewinnen. Band Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom (Esposito 2018). 5 Esposito 2018, S. 7.

Was ist Metahistoriographie17 Diese Texte haben einen prinzipiellen Doppelcharakter: Sie sind immer zugleich literarische Form und Reflexion, Darstellung, aber auch Infragestellung von Wissen. Insofern ist das, was hier auf dem Spiel steht, nichts weniger als die Entdeckung und Vermessung der Grenzen der Literatur im Zeitalter funktionaler Ausdifferenzierung.6

Epistemologische Fiktionen sind von gesellschaftstheoretischem Interesse, weil sie Grenzbereiche zwischen Funktionssystemen, in diesem Fall zwischen Kunst und Wissenschaft, markieren und gleichzeitig problematisieren. Jerome de Groot hat versucht, diese epistemologische Position für historische Fiktionen zu konkretisieren. Er spricht von zwei Effekten: First, they contribute to the historical imaginary, having an almost pedagogical aspect in allowing a culture to “understand” past moments. Second […] they allow reflection upon the representational process of “history”. They provide a means to critique, conceptualize, engage with, and reject the processes of representation or narrativization. These works provide the audience with a historiographical toolkit that allows them to remark upon the discourse of “making history”.7

Hieran anknüpfend kann Metahistoriographie als die literarische Reflexion der Bedingungen historischer Erkenntnisbildung definiert werden. Dieses reflexive Verhältnis kann von zweierlei Art sein. Mit einer in einem anderen Kontext geprägten Unterscheidung von Gerhard Plumpe kann zwischen umwelt- und selbstreferentieller Metahistoriographie differenziert werden.8 Erstere wird verstanden als Problematisierung der kunstexternen Bedingungen der Möglichkeit historischer Erkenntnisbildung. Diese bezieht sich etwa auf soziale (u. a. Stellung des Autors, Organisationsstruktur der Gesellschaft [Nation, Imperium u. a.]), institutionelle (u. a. das Archiv oder das Museum) und ideologische Voraussetzungen. Letztere verweist auf kunstinterne Bedingungen. Sie adressiert etwa Fragen der Textorganisation und formalen Strukturierung, der Gattungspoetik, der Erzählstrukturen und der Medialität. Beide Optionen – umweltreferentielle und selbstreferentielle Metahistoriographie – restringieren sich wechselseitig und können somit nicht immer trennscharf voneinander unterschieden werden. Dennoch ergeben sich aus ihrer heuristischen Trennung Vorteile, k­ omplementiert 6 Klinkert 2010, S. 4. 7 De Groot 2015, S. 10. 8 Plumpe definiert folgendermaßen: „Nach Vollzug und konsequenter Reflexion ihrer Ausdifferenzierung hat die Literatur der Moderne zunächst zwei prinzipielle Optionen, die aus ihren Referenzen folgen: sie kann – auf der Basis operativer Geschlossenheit – umweltreferentiell operieren, d. h. ihre Umwelt als Medium für Formen nutzen […]. Die andere prinzipielle Option moderner Literatur liegt in der ‚Selbstreferenz‘, d. h. in der strukturell vorgeprägten Möglichkeit, das System – die Literatur – selbst als Medium für Formgewinn zu nutzen“ (Plumpe 1995, S. 61).

18Einleitung

diese doch sowohl einseitig umweltreferentiell orientierte Analysen 9 als auch vom Paradigma der Postmoderne bestimmte, primär selbstreferentiell orientierte Untersuchungen. Metahistoriographie ist in der vorliegenden Arbeit erstens ein evolutionärer Orientierungsbegriff, der mit Verschiebungen des Geschichtsbewusstseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts korreliert. Systematisch 10 und literatur­ geschichtlich orientierte Analysen 11 setzen hier einen mehr oder minder deutlichen Epochenbruch, der auch für die vorliegende Arbeit – bei allen diachronen Vorbehalten – orientierunggebend ist. Metahistoriographie wird aber weniger als Gattungsbegriff verstanden denn als heuristischer Ausgangspunkt der Perspektivierung des Materials, der „epistemologische, methodische und darstellungstechnische Probleme“ 12 der literarischen Historiographie in den Mittelpunkt rückt. Metahistoriographie ist zweitens Gegenbegriff zu einem Gattungsverständnis des historischen Romans, das wesentlich an der Erzähltradition des beginnenden 19. Jahrhunderts und hier zuvörderst an Walter Scott orientiert ist und von Georg Lukács theoretisch popularisiert wurde. Lukács’ normative Merkmalsmatrix des historischen Romans mit ihrer Orientierung an der Ästhetik des Sozialistischen Realismus 13 ist für die vorliegende Arbeit nicht nur gattungspoetischer Gegenpol, sondern in Bezug auf die stark kodifizierten Formen historischen Erzählens in der Sowjetunion auch realer Abgrenzungspunkt der Gattungsentwicklung ab Mitte der 1960er Jahre. Dies bedeutet in keinem Fall, Kontinuitätslinien zwischen der älteren Gattungstradition und jüngeren Entwicklungen zu verleugnen oder der historischen Prosa des 19. Jahrhunderts ihr reflexives Potential abzusprechen.14 Diese Abgrenzung heißt auch nicht, Metahistoriographie sofort

9 10 11 12 13 14

Z. B. Ziolkowski 1998; Jones 2013. Vgl. Nünning 1995a. Geppert 2009. Nünning 2002, S. 547. Vgl. hierzu Kap. 3.1. Für eine Diskussion metahistoriographischer Elemente bei Lev Tolstoj, der in dieser Hinsicht der wahrscheinlich avancierteste und für den russisch-sowjetischen Kontext sicherlich wichtigste Vorläufer ist, vgl. Unterkapitel 6.2. Über Tolstoj hinaus lassen sich auch andere Vertreter der Gattungstradition des historischen Romans im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter metahistoriographischen Gesichtspunkten diskutieren. Zu verweisen wäre hier auf die romantische Tradition (vgl. Schmid 2007) und den symbolistischen historischen Roman (vgl. Ungurianu 2007, Kap.7). Für die frühsowjetische Zeit sei verwiesen auf das Werk von Konstantin Vaginov (Šindina 2002; Pavlov 2011) und auf den formalistischen historischen Roman, insbesondere auf das Werk Jurij Tynjanovs.

Was ist Metahistoriographie19

mit postmodernen Erzählverfahren gleichzusetzen. Der schillernde Begriff der Postmoderne impliziert ein ganzes Bündel an formalen, politischen und periodischen Eigenschaften, die ihn für viele der hier untersuchten Werke problematisch erscheinen lassen.15 Metahistoriographie versteht sich drittens als Abkehr von gegenwärtigen Blickwinkeln auf das Verhältnis von Geschichte und Literatur, im Besonderen von den Paradigmen Erinnerung und Trauma. Nicht nur in der deutschsprachigen Slavistik ist in den vergangenen Jahren eine Reihe von Studien erschienen, die sich mit Fragen des literarischen Gedächtnisses und der ­Erinnerungskultur beschäftigen. Im Zentrum stehen die Bezugnahme auf konkrete historische Ereignisse und ihre Bedeutung für Prozesse der Identitätsbildung – u. a. die Erinnerung an die Russische Revolution, den Zweiten Weltkrieg 16, die Leningrader Blockade, den Stalinismus 17 oder den Gulag 18. Eng verknüpft mit den hier verhandelten Fragen des Nachlebens und der gegenwärtigen Bedeutung von Geschichte sind Ansätze, die sich der individuellen und kollektiven Verarbeitung erlittener Traumata widmen. Stilbildend für dieses Paradigma sind die Arbeiten Aleksandr Ėtkinds, die sich der literarischen Trauerarbeit stalinistischer Gewalt- und Repressionserfahrungen widmen.19 Sie sind von mehreren Forschern aufgegriffen und erweitert worden.20 Im Postmemory 21-Boom, der mittlerweile auch die russistische Forschung ergriffen hat,22 liegt hierbei deren jüngste Aktualisierung. 15 Besonders in den 1990er Jahren wurde Metahistoriographie unter Verweis auf die Postmodernisierung der russischen Literatur betrachtet (vgl. 6.3). Diese Konvergenz von Meta- und Postsemantiken, die auch Carsten Vielhaber in seiner Untersuchung zu den Präfixen der Postmoderne präsupponiert, wenn er behauptet, dass „‚post‘ und ‚meta‘ nicht voneinander zu trennen“ (Vielhaber 2001, S. 57) seien, möchte ich in historischer und konzeptioneller Hinsicht in Frage stellen. 16 Fedor/Kangaspuro/Lassila/Zhurzhenko 2017. 17 Jones 2013. 18 Frieß 2016. 19 Etkind 2013. 20 Goscilo 2015; Noordenbos 2016, der auch kurz auf historiographic metafiction eingeht, vgl. S. 30 f. 21 Der Begriff Postmemory geht zurück auf Marianne Hirsch, die ihn folgendermaßen bestimmt: „Postmemory describes the relationship of the second generation to powerful, often traumatic, experiences that preceded their births but that were nevertheless transmitted to them so deeply as to seem to constitute memories in their own right“ (Hirsch 2008, S. 103). 22 Vgl. hierzu den Konferenzband Trauma – Generationen – Erzählen. Transgenerationale Narrative in der Gegenwartsliteratur zum ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Raum

20Einleitung

Erinnerung und Trauma sind für die vorliegende Untersuchung keine Leitbegriffe. Problematisch erscheint die psychologische und psychoanalytische Prägung dieser Begrifflichkeiten, die Aspekte der individuellen und kollektiven Identitätsbildung privilegiert. Sie implizieren außerdem oftmals idiosynkratische Pathologisierungen von Autoren und/oder Erzählerfiguren, die insbesondere für weit zurückreichende Perioden wenig plausibel erscheinen. Vor allem in der Postmemory besteht dabei die Gefahr, die für die Analyse literarischer Texte wichtige Grenze zwischen Autor und Erzähler einzureißen und einen biographistischen Auslegemodus zu etablieren. Weiterhin ist die Dominanz inhaltlich bezogener Fragestellungen problematisch, denen es um die Bedeutung der Vergegenwärtigung konkreter Ereignisse, Objekte und Personen geht. Damit verbunden ist eine normativ gefärbte Politisierung und Kritik literarischer Bezugnahmen auf Vergangenes, für die künstlerische Werke vorrangig als Manifestation gesellschaftlicher Konfliktlagen von Interesse sind. Historisch orientierte Fiktionen, denen es merklich nicht um eine solche Vergegenwärtigung des real Erlebten geht, fallen hier zwangsläufig aus dem Raster. Letzteres betrifft auch poetologische Fragestellungen im Bereich historischen Erzählens, wie sie im Rahmen dieser Arbeit beispielsweise im Umgang mit Manuskripten (4.2) oder Fußnoten (4.3) adressiert werden.23 Diese Kritikpunkte bedeuten freilich nicht, dass Fragen der Erinnerungsund Geschichtskultur für die vorliegende Arbeit irrelevant wären. Vielmehr sind sie integrativer Bestandteil der Argumentationsführung, die sie allerdings vorrangig auf einer allgemeineren Ebene behandelt. So ist z. B. in den Unterkapiteln zu Museen und Archiven weniger die konkrete Ausstellungspraxis in Bezug auf einzelne Ereignisse von Belang, sondern eher die Frage, welche epistemologischen Implikationen eine Orientierung des Erzählens an den Insti­tutionen des Archivs oder Museums bereithält. Und im Unterkapitel zum Revolutionsjubiläum 2017 interessiert weniger dessen geschichtskulturelle Sinngebung als der veränderte Umgang mit der geschichtsphilosophischen Kategorie der Revolution.

(Drosihn/Jandl/Kowollik 2020). 23 Vgl. zu weiterführenden Überlegungen zu dieser Abgrenzung auch die Ausführungen im Schlussteil.

Blickwinkel und blinde Flecken21

Blickwinkel und blinde Flecken Der Startpunkt der Arbeit führt an die Epochenschwelle zwischen Tauwetter und Spätsozialismus. Möchte man die mit ihr verbundenen historiographischen „Kontinentalverschiebungen“ 24 datieren, bietet sich die Mitte der 1960er Jahre an (vgl. 3.1). Am Beispiel des Frühwerks von Andrej Sinjavskij wird zunächst gezeigt, wie phantastische Elemente eine Transgression der Historiographie des Sozialistischen Realismus in Gang setzen. Anschließend steht mit Jurij Trifonov ein Autor im Fokus, bei dem die historische Arbeit in geschichtstheoretische Aporien mündet. Mit dem Mauvismus wird in Unterkapitel 1.3 schließlich eine literarische Strömung besprochen, die in Anknüpfung an avantgardistische Formexperimente Sujetstrukturen historischen Erzählens parodisiert und problematisiert. Das zweite Leitparadigma der spätsozialistischen Epoche, dem sich die vorliegende Arbeit widmet, ist die Peripherie. Im Zentrum stehen hier mit der „Dinggeschichte“ der Dorfprosa, der Provinzhistoriographie Mark Charitonovs und Aleksandr Ivančenkos sowie Semen Lipkins auf Problematiken der Übersetzung konzentriertem Roman Dekada Phänomene, die periphere Standpunkte zur Grundlage politisch und geschichtsphilosophisch alternativer Geschichtsentwürfe machen. Im folgenden Kapitel, das der Verortung der analysierten Primär­texte dient, werden diese mit dem Historical Turn 25 des Spätsozialismus sowie mit literaturtheoretischen und gesellschaftsstrukturellen Verschiebungen in Verbindung gesetzt. Mit den rasanten Veränderungen der Perestrojka setzt um das Jahr 1986 eine neue Periode des Geschichtsdenkens ein, die im Dienst der „Vergegenwärtigung der Geschichte“ steht. Sie wird hier zeitlich über den Staatszerfall 1991 bis zum Ende der 1990er Jahre gedehnt und mit Antonio Gramscis Begriff des Inter­ regnum bezeichnet. Die beiden Leitparadigmen, anhand derer die historiographischen Implikationen dieser Umbruchszeit sichtbar gemacht werden sollen, lauten Artefaktualität und Topologie. Der erste Begriff, der von Jacques ­Derrida entlehnt wird, verweist auf Abgrenzungskämpfe zwischen Faktualität und Fiktio­nalität, die diese Zeit wesentlich prägen. Hier wird es zuerst um das Werk der Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksievič gehen und ihre literarische Transformation historischer Spuren und Stimmen. Anschließend soll anhand einer diachronen Analyse der Wandel literarischer Manuskriptfiktionen fokussiert werden. Im Zentrum stehen hier mit Michail Kuraev und Vjačeslav K ­ uprijanov zwei Exponenten, die dieses etablierte Erzählverfahren umprägen. Ich schließe mit der Frage des 24 Assmann 2013, S. 13. 25 Kozlov 2001.

22Einleitung

literarischen Umgangs mit Fußnoten, die auf Interferenzen zwischen Literatur und Wissenschaft verweist und am Beispiel jeweils eines Romans von Evgenij Popov und Dmitrij Galkovskij untersucht werden soll. Das Paradigma der Topographie widmet sich dem Wandel historiographischer Ortslogiken am Beispiel des Archivs, des Museums und des Irrenhauses. Orientiert an der „Verräumlichung des historischen Narrativs“ 26 soll über kontrastive Lektüren von Vadim Zakharov und Ljudmila Ulickaja sowie Filmanalysen von Aleksandr Sokurov und Konstantin Lopušanskij gezeigt werden, wie künstlerische Werke historische Erkenntnisräume wie das Archiv oder das Museum recodieren. Wie das Irrenhaus zum Ort historiographischer Erkenntnissuche werden kann, untersuche ich anschließend bei Vladimir Šarov und Jurij Bujda. Im zweiten verortenden Kapitel werden diese Ästhetiken der Vergegenwärtigung mit ökonomischen, rezeptionsästhetischen und funktionslogischen Verschiebungen in Verbindung gebracht und als Resultat umstrittener gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen interpretiert. Im dritten Teil steht die Periode zwischen der Millenniumswende und dem Revolutionsjubiläum 2017 im Fokus, die als Zeit der „Mobilmachung der Geschichte“ bezeichnet wird. Unter dem Paradigma des Populären werden mit literarischen Adaptionen serieller Erzählfiguren bei Boris Akunin, kriminalpoetischen Innovationen bei Alan Čerčezov und Marija Elifërova und kinemagiographischen Erzählverfahren bei Aleksej Ivanov und Guzel’ Jachina drei Komplexe verhandelt, in denen das Populäre zum Generator historiographischer Unbestimmtheiten wird. Abschließend steht der Topos der Ereignishaftigkeit im Mittelpunkt. Anhand einer Analyse von Tat’jana Tolstajas Kys’ werden Verschiebungen im historiographischen Umgang mit Störungen und Katastrophen herausgearbeitet. Anschließend begibt sich Evgenij Vodolazkin auf die Suche nach einer ‚ereignislosen‘ Geschichte, für die er die Epistemik mittelalter­licher Gesellschaftsordnungen aktualisiert. Schließlich zeige ich anhand zweier Erzählungen von Alisa Ganieva und von Aleksandr Titov, wie geschichtsphilosophische Traditionen der Metahistorisierung der Revolution im Umfeld des ­Jubiläums 2017 reflektiert und negiert werden. Kapitel 9 verbindet die diskutierten Phäno­mene mit parahistorischen Verschiebungen ebenso wie mit der Rückkehr der Metanarrative. Um die jeweiligen Übergänge vom Spätsozialismus in die Gegenwart zu plausibilisieren, sind weite Blickwinkel vonnöten. So greift die Arbeit auf ein breites Materialkorpus zurück, das eine Vielzahl heterogener Autoren aus ­verschiedenen

26 Soja zit. nach Weigel 2002, S. 154.

Erkenntnisinteressen23

Stilformationen vergleicht. Der Blick überschreitet mitunter die Grenzen des sowjetisch-russischen Untersuchungsfeldes und erfasst globale Entwicklungen, in die sich viele Phänomene einordnen lassen. Die Weitung der Winkel impliziert auch den Blick in den Rückspiegel, auf historische Vorläufer und deren literarische Rezeption. Obgleich die Bahnen der Geschichte weitgehend chronologisch abgefahren werden, sind manchmal Umleitungen und Rückwege eingeplant. Vielleicht stellt sich am Ende gar heraus, dass man im Kreis gefahren ist. Die einzelnen Unterkapitel sind so konzipiert, dass sie separat gelesen werden können und Fragestellungen aufgreifen, die auch für nicht slavistisch interessierte Leser von Interesse sind. Sie widmen sich einzelnen literarischen Werken, Autoren oder Strömungen und sind vergleichend angelegt. Bei der Autorenauswahl wurden sowohl bereits kanonisierte als auch bislang weniger beachtete Vertreter berücksichtigt, wobei nicht zu vermeiden ist, dass die Interpretation einzelner Werke an manchen Stellen verkürzt erscheinen mag.27 Die vorliegende Arbeit enthält ein Unterkapitel, das sich Beispielen filmischer Metahistoriographie widmet (6.2), und rekurriert auch ansonsten immer wieder auf filmische Beispiele, bei deren Behandlung allerdings thematische Zugriffe dominieren und die Frage nach den spezifischen metahistoriographischen Möglichkeiten des Medium Films nicht systematisch erörtert wird.

Erkenntnisinteressen Drei Untersuchungsdimensionen sind für die Arbeit zentral. Auf der poetologischen Ebene werden literarische Verfahren und narrative Strategien historischer Erkenntnisbildung fokussiert. Hierbei geht es um Erzählstrategien und -strukturen, um die Semantisierung von Dingen, Räumen und Ereignissen sowie um Formen und Fiktionen metafiktionaler Reflexivitätssignale. Ebenfalls von poetologischem Interesse sind Fragen der Intertextualität und I­ ntermedialität sowie Schnittstellen mit anderen Gattungstraditionen, z. B. dem Kriminalroman oder 27 Dies trifft sicherlich auf Autoren wie Andrej Bitov und Dmitrij Prigov zu, aber auch auf Romane wie Saša Sokolovs Palisandrija (1985) oder Jurij Davydovs Bestseller (1998). Nicht Gegenstand der Arbeit sind die Werke von Vladimir Nabokov, auf die lediglich sporadisch verwiesen wird (vgl. 4.3, 6.2) und Andreï Makine (vgl. hierzu Duffy 2018), die zwar metahistoriographisch sehr relevant sind, jedoch aufgrund ihres unterschiedlichen sprachlichen und diskursiven Kontexts in anderen Zusammenhängen stehen. Separaten Studien, wie sie beispielsweise für den Umgang mit Geschichte im Konzeptualismus und Mauvismus angebracht wären, kann die Arbeit nicht vorgreifen. Sie bleiben ein Desiderat ebenso wie umfassendere Studien zur Metahistoriographie in Film und Lyrik.

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dem dokumentarischen Roman. Insgesamt soll es um die paradigmatische Identifikation werk- und zeittypischer Erzählmodi und deren Funktionspotentiale, weniger um eine systematische narratologische Analyse einzelner Werke gehen. Auf der literaturgeschichtlichen Ebene werden die jeweils adressierten Phäno­ mene zeitlich eingeordnet und verortet. Dies betrifft zuvörderst gattungspoetische Transformationen historischen Erzählens im Allgemeinen und einzelne erzählerische Aspekte im Besonderen. Zudem soll nach dem ideengeschichtlichen und diskursiven Ort der Literatur gefragt werden. Hierzu zählen werkbiographische Entwicklungen oder Traditionslinien spezifisch sowjetischer literarischer Strömungen (u. a. Dorfprosa, Mauvismus) im national-/imperial-literarischen und internationalen Kontext. Von literaturhistorischem Interesse sind weiterhin rezeptionsgeschichtliche Fragen der (Wieder-)Aneignung literarischer und theoretischer Traditionslinien. Schließlich geht es um den globalen Ort der russisch-sowjetischen Literatur, der an ausgewählten Stellen markiert werden soll, ohne dies jedoch in systematischer Hinsicht leisten zu können. Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene wird nach den Formen und Funktionen von Literatur als Medium gesellschaftlicher Selbstbeschreibung gefragt. Der Begriff der Selbstbeschreibung stammt aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns und bezeichnet Einheitsprojektionen zweiter Ordnung, „die es ermöglichen, in der Gesellschaft […] über die Gesellschaft zu kommunizieren“.28 In funktional differenzierten Gesellschaften stellen die einzelnen Subsysteme Selbstbeschreibungen her, mit deren Hilfe sich „das System […] selbst zum Thema macht, es behauptet eine eigene Identität“.29 Kunst spielt dabei laut Luhmann eine herausgehobene Rolle für die Produktion gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, da sie paradigmatisch den Gedanken verkörpere, dass die moderne Gesellschaft nur noch polykontextural 30 beschrieben werden könne.31 Mit dem Ende der Sowjetunion verschwindet das bis dato hegemoniale Selbstbeschreibungsmuster und wird ersetzt durch eine Pluralität konkurrierender 28 Luhmann 1998, S. 867, Hervorhebung im Original. 29 Luhmann 1995, S. 399. 30 Den Begriff der Polykontexturalität entnimmt Luhmann der Logik Gotthard Günthers, die auf eine Revision der klassischen Logik und ihrer Axiome zielt. „Wenn er [Luhmann] die moderne abendländische Gesellschaft als ‚polykontextural‘ bezeichnet, dann bringt er den güntherschen Begriff in die Nähe seines Konzeptes der Beobachtung […]. Damit will Luhmann ausdrücken, dass es in der modernen Gesellschaft keine hervorgehobene, ‚richtige‘ Beobachtungsposition mehr gibt, sondern durch eine Beobachtung zweiter Ordnung immer der jeweilige Standpunkt sichtbar gemacht werden kann, von dem aus eine Beobachtung erster Ordnung angestellt wird“ (Ort 2012, S. 283). 31 Luhmann 1995, S. 494.

Erkenntnisinteressen25

Selbstbeschreibungen zunehmend autonomer Funktionssysteme. Die vorliegende Arbeit folgt der Hypothese, dass Geschichte ein privilegiertes Untersuchungsfeld ist, um die Dynamiken und Kämpfe dieser Ausdifferenzierung darzustellen. Die Systemtheorie erscheint hierfür theoretisch aufgrund ihrer besonderen Sensibilität für reflexive Beobachtungspositionen zweiter Ordnung prädestiniert. Da ihre Anwendung in der Literaturwissenschaft umstritten und sie im slavistischen Kontext bislang nur wenig adaptiert worden ist,32 soll sie keine Interpretationsbarriere bilden, weshalb ich auf längere theoretische Abhandlungen und systemtheoretisches Spezialvokabular weitgehend verzichte. Von besonderem Interesse ist die evolutionäre Frage, welche Rolle Metahistorio­ graphie unter den Spezialbedingungen verzögerter funktionaler Ausdifferenzierung in der Sowjetunion spielt. Hier befasst sich die vorliegende Arbeit mit der Rolle von Literatur und Literaturkritik als Triebkräften der Ausdifferenzierung (3. und 6.), aber auch mit Anachronismen (2.1, 8.2). In Bezug auf die Frage gesellschaftlicher Selbstbeschreibung lenkt der systemtheoretische Ansatz den Blick auf die Prozessierung von Paradoxien im systeminternen Kontext. Hier wird u. a. erörtert, wie literarische Fiktionen mit geschichtstheoretisch schwer bzw. nicht konzeptionalisierbaren Elementen wie Störungen und Revolutionen umgehen. Eine wichtige Rolle nehmen außerdem Invisibilisierungen von Aussage- und Beobachterpositionen ein,33 die sich in spezifischen Dingsemantiken, Stimmkonzepten, aber auch in institutionellen Kontexten finden. Systemtheoretische Erklärungsansätze geraten allerdings bei der Erklärung der jüngsten literarischen Prozesse, die ich im dritten Teil analysiere, an eine Grenze. Seit Beginn der 2000er Jahre lässt sich von einer politisch forcierten Entdifferenzierung sprechen, die die Logiken der einzelnen Funktionssysteme erneut unter das Primat der Politik stellt. Die Diagnose der Entdifferenzierung 34 beruht dabei nicht nur auf politischen Übergriffen in kulturelle, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Sphären, die so wahrscheinlich überall beobachtbar sind, 32 Die wichtigste Ausnahme stellt Dirk Kretzschmars Studie Identität statt Differenz: Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im 18. und 19. Jahrhundert (2002) dar, die für diese Arbeit sehr einflussreich ist. Ebenfalls der Romantik gewidmet ist Alfred Galls Studie Hermetische Romantik. Die religiöse Lyrik und Versepik F. N. Glinkas aus systemtheoretischer Sicht (2001). Zu soziologischen systemtheoretischen Analysen der postsowjetischen Gesellschaft vgl. u. a. Amelina 2006; Hayoz 2007. 33 Zu Invisibilisierungen vgl. Luhmann 1998, S. 1109 – 1128. 34 Um zu dieser Diagnose zu gelangen, werden im dritten Teil in ihren poetischen Ansprüchen und Qualitäten teils sehr unterschiedliche Texte gegenübergestellt, was diese nicht neutralisieren oder gleichsetzen soll, sondern im Dienst der Plausibilisierung der These von der Entdifferenzierung steht.

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sondern auch auf einem wandelnden Selbstverständnis der Funktion von Literatur und Kunst unter Kulturschaffenden in Russland. Dabei stellt sich die Frage, ob solche Prozesse der Entdifferenzierung ein Spezifikum des Untersuchungsfeldes sind oder ob sie gar als Konstante literaturgeschichtlicher Prozesse in den Blick genommen werden müssen.

Forschungsstand Wie situiert sich die vorliegende Arbeit zu existierender Forschung im Bereich historischen Erzählens in der spät- und postsowjetischen Literatur?35 Während für das 19. Jahrhundert,36 die 1920er und 1930er Jahre 37 und mit Abstrichen für die stalinistische Periode 38 Gattungsgeschichten des historischen Romans vorliegen, fehlen solche weitgehend für spätere Perioden 39. Die sowjetischen 40 und jüngere russische Arbeiten zur historischen Poetik 41 widmen sich vorrangig Werken des 19. Jahrhunderts und adressieren keine metahistoriographischen Fragestellungen, weshalb sie für diese Arbeit vernachlässigt werden können. Eine spezifische, gleichwohl jedoch hochrelevante russische Gattungstradition adressiert Andrew Wachtel in seiner Studie An Obsession with History. Russian Writers Confront the Past (1994),42 wo er sich mit der intergenerischen Tradition des gleichzeitigen Verfassens literarischer und geschichtswissenschaftlicher Werke zum selben Thema, 35 Aufgrund des umfangreichen Korpus der Arbeit ist es wenig zielführend, an dieser Stelle den Forschungsstand zum Schaffen einzelner Autoren wiederzugeben. Ebenso verzichtet wird auf eine Besprechung literaturgeschichtlicher Konzeptionalisierungen einzelner Epochen. Beides findet sich in den Unterkapiteln bzw. einleitenden Einführungen und abschließenden Ausführungen. 36 Ungurianu 2007; Penskaja 2012. 37 Nikolaev 2006. 38 Platt/Brandenberger 2006; Lenz 2015. 39 Kevin Platts Überblicksdarstellung zum postsowjetischen historischen Roman (Platt 2015) kann allenfalls eine einführende Rolle beanspruchen und verfolgt keine gattungspoetisch-systematischen Ziele. Volodymyr Chumachenkos 2008 als Dissertation eingereichte Arbeit Literary Dimensions of National Identity. The Historical Novel of the Late Soviet Period (1960s–1980s) fokussiert russisch-ukrainische Untersuchungsfragen und konzentriert sich vorrangig auf thematische Aspekte (Neubewertung des Mittelalters, Othering bei Valentin Pikul’, Kosakendarstellungen). Sie vermag die im Titel transportierte Erwartungshaltung in gattungsgeschichtlicher Sicht nicht einzulösen. 40 Serebrjanskij 1936; Petrov 1958; Aleksandrova 1971; Aleksandrova 1986. 41 Titkov 2005; Piskunova 2013. 42 Wachtel 1994.

Forschungsstand27

das sich von Nikolaj Karamzin über Aleksandr Puškin und Jurij Tynjanov bis zu Aleksandr Solženicyn erstreckt, auseinandersetzt.43 Metahistoriographische Fiktion ist bereits mehrfach (Teil-) Gegenstand russistischer Untersuchungen geworden. Dabei lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe bilden Arbeiten, die sich einzelnen herausragenden Vertretern widmen. Hierzu zählt Dunja Karys 1999 veröffentlichte Dissertation Postmoderne metahistoriographische Fiktion und Andrej Bitovs Puškinskij dom,44 die sich umfassend mit Bitovs postmodernem Roman beschäftigt. Mit Georgij Vladimovs General i ego armija (Der General und seine Armee), Michail ­Kuraevs Kapitan Dikštejn und Mark Charitonovs Linii sud’by (Linien des Schicksals) beschäftigt sich Amy Isaac Obrist in ihrer 2005 fertiggestellten Dissertation The Russian Metahistorical Imagination and Russian Fiction of Perestroika.45 Jenne Powers 2009 eingereichte Dissertation Novel Histories: Repudiation of Soviet Historiography in the Works of Iurii Trifonov, Vladimir Makanin, and Liudmila Ulitskaia 46 arbeitet Abweichungen zur stalinistischen Historiographie heraus und zeigt, wie die von ihr untersuchten Autoren ihre teleologische Geschichtsphilosophie unterminieren. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich in mehreren Punkten von diesen Ansätzen. Deren impliziter Angelpunkt liegt in der Abgrenzung von der Doktrin des Sozialistischen Realismus bzw. vom stalinistischen Geschichtsbild, wie es im Kratkij kurs istorii VKP (Kurze Geschichte der Kommunistischen Partei, 1938) kodifiziert wurde. Dieser Nachweis gelingt zwar, kettet die einzelnen Werke aber an einen literaturpolitischen Diskurs, dessen historische Bedeutung für den Spätsozialismus tendenziell überschätzt wird. Die jeweilige Konzentration auf einzelne Autoren bzw. Romane – über deren Zuordnung zum Korpus (z. B. bei Vladimov) sich auch streiten ließe – liefert zwar eine schlüssige Interpretation einzelner Werke, vernachlässigt aber diskursgeschichtliche Zusammenhänge und literaturgeschichtliche Fragestellungen. In Abgrenzung zu solchen einseitig auf Abweichungen gegenüber der bolschewistischen Ideologie orientierten Analysen betrachte ich Metahistoriographie als privilegiertes Mittel gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und möchte es in evolutionstheoretischer Sicht unter dem Blickwinkel funktionaler Ausdifferenzierung scharfstellen. Theoretisch 43 Eine ausführlichere Rekapitulation der Argumentation Wachtels folgt an späterer Stelle, da dieses Phänomen in der jüngsten Literaturgeschichte bei Boris Akunin und Aleksej Ivanov ein Revival erfahren hat, vgl. 7.1, 7.3 und 9.2. 44 Kary 1999. 45 Obrist 2005. 46 Powers 2009.

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­orientieren sich die Autorinnen am Begriff der Postmoderne und beschäftigen sich daher nur mit einem kleinen Ausschnitt metahistoriographischer Fiktion, deren Gattungsverständnis samt dazugehöriger theoretischer Traditionslinien in der vorliegenden Arbeit deutlich breiter gefasst wird. Zur zweiten Gruppe zählen Werke, die sich dem Thema metahistoriographischer Fiktion aus einer stärker diskursgeschichtlich orientierten Perspektive nähern. Als erste Vertreterin ist hier Dar’ja Markova mit ihrer 2004 eingereichten Dissertation Postmodernistskij istoričeskij diskurs russkoj literatury rubeža XX –XXI vekov i ego istoki (Der postmoderne historische Diskurs der russischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts und seine Quellen) zu nennen. Sie widmet sich Werken Jurij Trifonovs, Mark Aldanovs, Tat’jana Tolstajas und Sergej Anufrievs/Pavel Pepperštejns. In Bezug auf Trifonov fokussiert sie Abweichungen zur offiziellen sowjetischen Literatur,47 während für die Literatur der 1990er Jahre ein spielerischer, experimentellerer Umgang mit Geschichte konstatiert wird. Ein deutlich breiteres Materialkorpus adressiert schließlich Rosalind Marsh in ihrer – 2007 als überarbeitete Version eines früheren Werkes 48 erschienenen – Abhandlung Literature, History and Identity in Post-Soviet Russia, 1991 – 2006.49 Marsh widmet sich nicht nur institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten im Zuge der Neukonstitution des literarischen Feldes nach dem Ende der Sowjetunion, sondern gibt auch einen umfassenden motivgeschichtlichen und thematischen Einblick, u. a. in die Gattung der Antiutopie oder die Darstellung Stalins. Neuere Entwicklungen werden in starker Anlehnung an Theorien des Postmodernen und des Poststrukturalismus herausgearbeitet. Die vorliegende Arbeit entnimmt diesen Werken wertvolle Anregungen, erstreckt sich allerdings auf ein breiteres Korpus, wodurch diese Studien insbesondere in der gleichberechtigten Beschäftigung mit der spät- und postsowje­ tischen Literatur zeitlich erweitert werden. Sie ist von der Überzeugung getragen, dass die Spezifik der spät- und postsowjetischen Entwicklung nur im Zusammenspiel der einzelnen Zeitperioden verstanden werden kann. Sie ist zwar keine Geschichte des spät- und postsowjetischen historischen Romans, kann in Form kontextualisierender Abschnitte aber Vorarbeiten zu einer solchen leisten. Im Gegensatz zu Marsh sind dabei weniger Fragen der Identitätsbildung von Inte­ resse als formale Wandlungsprozesse und deren epistemologische Implikationen. Letztere werden breiter als im Rahmen der für beide Studien leitenden Postmodernetheorien verortet. 47 Markova 2004. 48 Marsh 1995. 49 Marsh 2007.

Forschungsstand29

Wichtige Aspekte, die in meiner Dissertation eine bedeutende Rolle spielen, sind in der bisherigen Forschungsliteratur kaum berücksichtigt worden, z. B. die Aufnahme metahistoriographischer Literatur beim Leser, die Rolle literatur­ geschichtlicher Vorläufer oder begriffsgeschichtliche Fragen. Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt in der systematischen Berücksichtigung formaler Aspekte historischen Erzählens, z. B. im Umgang mit Fußnoten. Ebenfalls keine Rolle haben bislang Untersuchungen zur Entwicklung einzelner Erzählverfahren gespielt, wie sie beispielsweise das Unterkapitel zur Manuskriptfiktion analysiert. Motivgeschichtlich möchte ich vor allem auf die konstitutive Verknüpfung der Genese neuer Raumverständnisse und Zeitverhältnisse hinweisen, die mich sowohl in Bezug auf den Ort historiographischer Produktion (2.) als auch auf die institutionellen Voraussetzungen historischer Erkenntnisbildung interessieren (5.). Eine wichtige Inspirationsquelle für die vorliegende Arbeit stellen Arbeiten zur Evolution metahistoriographischer Fiktion in anderen nationalliterarischen Kontexten dar,50 insbesondere die Studien von Ansgar Nünning zum englischen historischen Roman 51 und Eva Kowolliks Dissertation zu metahistoriographischen Fiktionalisierungsstrategien in der zeitgenössischen serbischen Literatur 52. Von theoretischer Bedeutung für die Arbeit sind außerdem Studien, die sich mit Metafiktion und Metasprachlichkeit in der sowjetischen und russischen Literatur beschäftigen.53 Schließlich möchte ich auf einige Werke hinweisen, deren Materialzugriff den Aufbau und die Fragestellung meiner Arbeit inspiriert hat, die sich aber mit anderen Phänomenen der sowjetischen und russischen Literaturgeschichte beschäftigen. Mark Lipoveckijs Paralogii: transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920 – 2000-ch godov (Paralogien. Transformationen des (post-) modernen Diskurses in der russischen Kultur der 1920er bis 2000er Jahre, 2008) war im Hinblick auf die Evolution metafiktionaler und moderner Erzählverfahren ebenso inspirierend wie Il’ja Kukulins Mašiny zašumevšego vremeni. Kak sovetskij montaž stal metodom neoficial’noj kul’tury (Maschinen einer lärmenden Zeit. Wie die sowjetische Montage zur Methode der inoffiziellen Kultur wurde, 2015). Matthias Schwartz’ Studie Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit (2014) widmet sich der Evolution der Gattung der A ­ benteuerliteratur. 50 Vgl. hierzu auch den Band von Engler 1994 für den amerikanisch-kanadischen Kontext, Carrard 2014 für den französischen Kontext. 51 Nünning 1995b. 52 Kowollik 2013. 53 Shepherd 1992; Bohnet 1998; Kolesnikoff 2011; Ghilarducci 2019.

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Sie beschäftigt sich mit einem großen Korpus und hat die vorliegende Arbeit in ihrer Verschränkung von Einzelanalysen und kontextualisierenden Abschnitten ebenso inspiriert wie durch ihren Ansatz, historisch-gesellschaftliche Verschiebungen mit gattungspoetischen Entwicklungen in Beziehung zu setzen. Oliver Readys Studie Persisting in Folly. Russian Writers in Search of Wisdom, 1963 – 2013 (2017) fokussiert einen ähnlichen zeitlichen Rahmen und widmet sich einem Problemkomplex, für den verschiedene Weisen der Weltwahrnehmung und die daraus resultierenden Spannungsmomente ebenfalls zentral sind.

Die Epistemologie der Geschichte – Traditionslinien und Theorien Dass der Umgang mit Geschichte einen der archimedischen Punkte darstellt, an dem sich die epistemologische Dynamik seit den 1960er Jahren konzentriert, ist eine der Grundannahmen der vorliegenden Arbeit. Sie folgt dabei Auffassungen, die die Art und Weise des Vergangenheitsbezugs als entscheidenden Einflussfaktor für künstlerische Selbstbeschreibungsforme(l)n betrachten. So heißt es etwa in Niklas Luhmanns Kunst der Gesellschaft: Die moderne Selbstbeschreibungsgeschichte des Kunstsystems von der Romantik über die Avantgarde bis zur Postmoderne läßt sich unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen – als Variation zu einem Thema. Es geht in all diesen Fällen um die Behandlung der Vergangenheit in einem autonom gewordenen Kunstsystem und damit in allen Fällen um die Frage, wie Vergangenheit mit Zukunft, wie Gedächtnis mit Freiheit zum Seitenwechsel in allen Unterscheidungen vermittelt werden kann.54

Insbesondere im Umfeld der einschlägigen Postmodernediagnosen ist diese Grundannahme noch einmal radikalisiert und in der Kritik ihrer ‚Historizität‘ als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Krisenbeschreibung konkretisiert worden. Mit Frederic Jameson und Jean-François Lyotard assoziieren ihre wichtigsten Stichwortgeber diese Epochenbezeichnung mit einem veränderten Bezug zum Historischen. Bei Jameson heißt es: The crisis in historicity now dictates a return, in a new way, to the question of temporal organization in general in the postmodern force field, and indeed, to the problem of the form that time, temporality, and the syntagmatic will be able to take in a culture increasingly dominated by space and spatial logic.55

54 Luhmann 1995, S. 489. 55 Jameson 1991.

Die Epistemologie der Geschichte – Traditionslinien und Theorien31

Auch in Lyotards Abhandlung La condition postmoderne (Das postmoderne Wissen, 1979) spielt der Status der Geschichtlichkeit eine entscheidende Rolle. In einer berühmt gewordenen Formulierung heißt es: „In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postindustriellen Gesellschaft, stellt sich die Frage der Legitimierung des Wissens in anderer Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.“ 56 Die Diagnosen Luhmanns, Jamesons und Lyotards weisen theoriegeschichtlich in zwei Richtungen. Sie deuten erstens auf die konstruktivistische Tendenz kulturund literaturtheoretischer Debatten hin, die sich – so die erste Hypothese – in Bezug auf die Geschichte in einer ersten Theoriewelle seit Mitte der 1960er Jahre äußert. Hierfür sind die Arbeiten Hayden Whites zentral. Im Hinblick auf den schillernden Begriff der Postmoderne scheint – in einer zweiten Theoriewelle seit Mitte der 1980er Jahre – jedoch ein privilegierter theoretischer Bezugspunkt zu liegen, dessen diagnostisches Umfeld einer gesonderten Darstellung bedarf. Hier wird insbesondere von Ansgar Nünning in systematischer Hinsicht ein narratologisches Vokabular entwickelt, das auch für die vorliegende Arbeit zentral ist. Das zunehmend prekär werdende Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst/ Literatur dient als Ausgangspukt von Hayden Whites Metahistory, dessen Publikation 1973 die sogenannte Narrativitätsdebatte auslöst. Diese Theoriewelle, zu der auch Arbeiten Roland Barthes’ und Michel de Certeaus gehören, möchte ich als ‚metageschichtliche‘57 bezeichnen, der es auf die Extrapolation eines Bedingungsfelds historischer Erkenntnisbildung ankommt, das diese konditioniert. Roland Barthes stellt in seinem 1967 veröffentlichten Essay zum Discours de l’histoire (Der Diskurs der Geschichte) die Frage, ob und wie „sich die Schilderung vergangenen Geschehens […] durch irgendeinen spezifischen Zug, durch irgendeine unbezweifelbare Relevanz von der imaginären Erzählung, wie man sie im Epos, im Roman oder im Drama antreffen kann“,58 unterscheide. Er ­arbeitet anhand der historiographischen Werke von Herodot, Niccolò ­Machiavelli, 56 Lyotard 2012, S. 99; Mehr hierzu unter 9.2. 57 ‚Metahistorie“ hat dabei auch eine russische Vorgeschichte. Dan Ungurianu weist auf eine interessante frühere Verwendung des Begriffs beim russischen Kritiker Petr Bicilli (1879 – 1953) hin, der Metahistorie mit dem „delirium of empirical history“ kontrastiert (vgl. Ungurianu 2007, S. 301). „Metaistorija“ kommt außerdem beim russischen Religionsphilosophen Sergej Bulgakov vor und bezeichnet dort die noumenale Seite der Geschichte. Daniil Andreev übernimmt den Begriff von Bulgakov und konturiert ihn in einem mythopoetischen Sinne als Austragungsfeld des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse, vgl. hierfür Müller 1998, S. 95. 58 Barthes 2005, S. 149.

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Jacques Bossuet und Jules Michelet heraus, wie diese eine Reihe von Verschiebungen vornehmen, die „dem Historiker eine Möglichkeit zum Ausdruck seiner ‚Subjektivität‘ […] verschaffen“ (152), die Barthes in der Zergliederung und Rekombination des Materials erkennt. Barthes spricht als Resultat dieses Prozesses von einem „Wirklichkeitseffekt“, der dafür sorge, dass „in der ‚objektiven‘ Geschichte […] das ‚Wirkliche‘ immer nur ein unformuliertes, hinter der scheinbaren Allmacht des Referenten verschanztes Signifikat“ (161) sei. Der Signifikatsbezug des historischen Diskurses, sein Objektivitätsanspruch, erweise sich somit als Täuschung, die Versicherung „‚das hat sich zugetragen‘“ sei nichts anderes „als die bedeutete Kehrseite jeder historischen Erzählung“ (162). Die anfänglich gestellte Frage in dem Essay wird folglich negativ beschieden. Michel de Certeau knüpft in seinem Aufsatz L’opération historique (Die historiographische Operation, 1974) an dieses „erwachende[] erkenntnistheoretische[] Problembewußtsein“ 59 an und begreift Geschichte „als die Beziehung zwischen einem Ort (einer Rekrutierung, einem Milieu, einem Beruf usw.), analytischen Verfahren (einer Disziplin) und der Konstruktion eines Textes (einer Literatur)“ (73, Hervorhebungen im Original). Er erweitert Barthes narratologischen Zugriff um eine soziokulturelle Komponente und betont, „daß jede historische Operation von einem Bezugssystem abhängt“ (74), also vom sozialen und institutionellen Ort des Historikers und „völlig von der Struktur der Gesellschaft abhängig“ (84) sei. In der Folge konkretisiert de Certeau die von Barthes bereits bemerkten Verschiebungen als Übersetzungsprozesse einer historiographischen Praxis, mit der natürlichen Bereichen entnommene Elemente in Kultur überführt würden (vgl. 92). De Certeau macht einen Funktionswandel des historischen Denkens in der Gegenwart aus, in der die sinnstiftende und totalisierende Funktion der Geschichtsschreibung durch eine „Arbeit an den Grenzen“ (108) substituiert werde. Diese Arbeit zwinge die Geschichte in eine Auseinandersetzung mit ihren epistemischen Grundannahmen, ihre Lehre bestehe nicht länger in der Erkenntnis des Objekts, sondern in der Reflexion des Erkenntnisprozesses selbst (vgl. 112). De Certeau weist hiermit auf etwas hin, was man im Anschluss an Bruno Latour als „circulating reference“ 60 beschreiben könnte, als konstante performative Modifikation des Erkenntnisobjekts durch bedeutungsverschiebende Operationen wie Narrativisierung und Semantisierung, mit denen abstrakte Data im Modus eines fortwährenden Schwankens „zwischen ‚Geschichte konstruieren‘ und ‚Geschichte erzählen‘“ 61 in wissenschaftliche Texte überführt würden. 59 De Certeau 1991, S. 72. 60 Latour 1999. 61 De Certeau 1991, S. 132.

Die Epistemologie der Geschichte – Traditionslinien und Theorien33

Barthes und de Certeau unterstreichen den Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung, indem sie deren sozialen, institutionellen, textlichen und skripturalen Ort umreißen. Geschichtsschreibung bedient sich verschiedener Wirklichkeitseffekte, durch die sie ihren Gegenstand in einer Reihe subtiler Verschiebungen und Modifizierungen herstellt. Insbesondere de Certeau sensibilisiert für eine soziale und mediale Verortung historischer Sinnzusammenhänge, die die „metageschichtliche Grundlage jeder historischen Darstellung“ 62 darstelle und die auch das Zentrum von Hayden Whites ähnlich gelagertem Vorhaben bildet. Whites 1973 veröffentlichte Studie zur „Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft“ (9) rückt den Begriff der Erzählung in den Mittelpunkt der Theorie der Historiographie: „Ich betrachte […] das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung“ (13). Er grenzt sich deutlich von einem historiographischen Denken ab, das „die ‚Geschichte‘ als eine besondere Existenzweise, die ‚historische Erkenntnis‘ als ein markantes Denkverfahren und das ‚historische Wissen‘ als eine autonome Sphäre im Universum der Natur- und Humanwissenschaften“ (15) versteht. Er beansprucht, anhand einer Analyse zentraler geschichtswissenschaftlicher Werke des 19. Jahrhunderts (von Jules Michelet, Leopold von Ranke, Alexis de Tocqueville, Jacob Burckhardt) zu zeigen, wie Historiographie mit archetypischen Erzählweisen korreliert, die auf eine „insgeheime Geschichtsphilosophie“ (12) verweisen. Diesen Zusammenhang bezeichnet White als Metahistory, als literarisch-philosophisches Form- und Sinnsubstrat, das jeder historischen Darstellung eigen sei. Schlüsselmomente, an denen White dies im Anschluss an Northrop Fryes Anatomy of Criticism (1957) aufzeigt, seien die Art der Erzählstruktur (romantisch, tragisch, komisch, satirisch), die Art der Argumentation (formativistisch, mechanistisch, organizistisch, kontextualistisch), die Art der ideologischen Implikation (anarchistisch, radikal, konservativ, liberal) und der dominante Tropus (darstellende Metapher, reduktionistische Metonymie, integrative Synekdoche, negatorische Ironie).63 In späteren Schriften hat White seine Kritik in Auseinandersetzung mit Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts geschärft und sein Verständnis von Geschichtlichkeit präzisiert. In der analytischen angloamerikanischen Schule, bei Vertretern der Annales-Schule, den Strukturalisten, den Hermeneutikern 62 White 1991, S. 12. 63 In etwa zur selben Zeit entsteht auch Alexander Demandts Studie zu Metaphern für Geschichte (1978), die sich zwar nur auf einen Tropus konzentriert und eher historisch als kritisch angelegt ist, in der Ausgangsfrage nach den narrativen Voraussetzungen und Implikationen von Geschichtsschreibung allerdings vergleichbar ist.

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und den Traditionalisten sieht White einen Dualismus zwischen den Positionen, „entweder die narrative Geschichte für die „Wissenschaft“ zu retten oder sie auf die Kategorie einer „Ideologie“ zu reduzieren“.64 Für White sind diese Positionen unproduktiv, bauten sie doch auf der Unterscheidung zwischen Wissenschaftlichkeit und Ideologie auf, die für ihn ins Leere läuft. Er tritt einen Schritt zurück und verweist auf ein „Netz der Ambiguität“ (73), das im Doppelsinn des Wortes Geschichte zu finden sei, die immer gleichzeitig Verweis auf Vergangenes und dessen ästhetische Modellierung meine. In diesem Bezugsrahmen ist die Frage nach der Wahrheit nicht zu beantworten, weshalb Geschichte nicht länger als Forschungsobjekt, sondern als eine Form des In-der-Welt-Seins begriffen werden solle, deren Legitimität eher existentieller denn epistemischer Natur sei: „Es ist der Erfolg der Erzählung bei der Offenlegung von Sinn, Kohärenz oder Signifikanz von Ereignissen, der ihre Legitimität als historiographische Praxis bekräftigt“ (72). Diese Verknüpfung des epistemologischen und ontologischen Stellenwerts historischer Erkenntnisbildung bindet White an das Denken Paul Ricœurs an, der in seinem Werk Temps et récit. Tome I: L’intrigue et le récit historique (Zeit und historische Erzählung, 1983) eben diese Zusammenschau angemahnt und entfaltet hat.65 Ricœurs Methode bezieht sich nicht „auf eine[] Methodologie der historischen Wissenschaften, sondern auf eine[] Reflexion zweiten Grades über die letzten Bedingungen der Sinnstruktur einer Disziplin“ (137), eine Reflexion, deren Wahl der Beobachterperspektive den reflexiven Kern ihres Vorhabens offenbart. Ricœurs historischen Ausgangspunkt bildet die Beobachtung eines „Schwindens der Erzählform“ (141) in der französischen Historiographie, insbesondere in der Annales-Schule und der analytischen angelsächsischen Philosophie, denen es beiden darum ging, Historiographie als nomologische Wissenschaft zu begründen. Die Erzählung schien diesem „Anspruch der Wissenschaftlichkeit“ (181) zu fern, weshalb man sich von ihr distanzierte. Whites Verdienst ist es laut Ricœur, auf die literarische Strukturblindheit dieses Vorhabens hinzuweisen (vgl. 243), indem er eine „Theorie des historiographischen Stils“ (251) zum Zentrum seiner Argumentation mache. Ricœur stellt sich gegen einen narrativistischen Reduktionismus, für den sich die Historiographie in der Erzählung erschöpfe, und plädiert stattdessen für eine „neuartige[] Dialektik zwischen historischer Forschung und narrativer Kompetenz“ (267), die Letztere nicht als Makel, sondern als konstitutiven Bestandteil historiographischer Aushandlungen von Objektivität, Entität und Zeitbewusstsein betrachte. Dabei rehabilitiert er die Differenz zwischen Narrativität und Geschichtswissenschaft, woran die vorliegende Arbeit 64 White 1990, S. 56. 65 Vgl. Ricœur 2007, S. 140; zum Verhältnis von White und Ricœur vgl. Stückrath 1997.

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anschließt: „Zwischen der narrativen und der historischen Erklärung bleibt ein Abstand bestehen, und zwar die Forschung selbst. Dieser Abstand schließt es aus, daß die Geschichtswissenschaft […] als eine Art von ‚story‘ gelten kann“ (269, Hervorhebung im Original). Die Beiträge Hayden Whites und Paul Ricœurs weisen auf unterschiedliche Voraussetzungen historischer Erkenntnisbildung hin. Während Whites Metahistory hierbei auf geschichtsphilosophische und ideologische Implikationen abzielt, die aus der Art und Weise der literarischen Organisation des Sujets resultieren, das die Fabel determiniert, verortet Ricœur die epistemischen Voraussetzungen historischer Sinnstrukturen in Anknüpfung an die phänomenologische Tradition in einer das Zeitbewusstsein formierenden „historische[n] Intentionalität“ (263). Beide Interventionen setzten eine breite Debatte in Philosophie und Geschichtsschreibung in Gang,66 die dazu führte, „dass sich die geschichtstheoretische Debatte in den 1970er und 1980er Jahren auf Fiktionalität historiographischer Texte fokussierte“.67 Sie bereitete somit das Feld für literaturwissenschaftliche Arbeiten, die diese Positionen zum Ausgangspunkt einer gattungspoetischen Neubestimmung des historischen Romans nahmen und zur literaturgeschichtlichen Epochendiagnose weiterentwickelten. Ihnen möchte ich mich nun zuwenden. Bereits der Titel von Linda Hutcheons Abhandlung A Poetics of Postmodernism 68 (1988) signalisiert einen epochalen Deutungsanspruch.69 Mit dem Aufgreifen des Signalworts Postmodernism schreibt sie sich in eine Debatte ein, die einen philosophischen und gesellschaftstheoretischen Anspruch verfolgt, den sie literaturwissenschaftlich zu erweitern und zu untermauern sucht. Im Zentrum der Abhandlung steht weniger eine narratologisch umfassende Extrapolation metahistoriographischer Verfahren als vielmehr der Versuch der Ausarbeitung einer gesellschaftstheoretisch ambitionierten Gattungstheorie. Wesentlich für 66 Die Darstellung der einzelnen Positionen dieser Debatte würde den Rahmen dieses Abschnitts sprengen und vom literaturwissenschaftlichen Gegenstand der Arbeit wegführen, deshalb sei an dieser Stelle u. a. verwiesen auf Burke 1991; Nünning 1995a, S. 129 – 172; Ankersmit 2001; Rüsen 2002, S. 99 – 124; Haas 2014, Fulda 2017. 67 Haas 2014, S. 525. 68 Hutcheon 1988. 69 Hutcheon war allerdings nicht die Erste, die Postmodernismus mit einem neuen Bezug zum Historischen in Verbindung brachte, so finden sich ähnliche Argumente bereits in Brian McHales Postmodernist Fiction (1987). McHale fokussiert auf den veränderten und freieren Umgang mit historischen Realemen in der Postmoderne, auf apokryphe inhaltliche Revisionen und die Transformation der Konventionen und Normen historischen Erzählens hin zu einem kreativen, häufig phantastisch grundierten Spiel mit Anachronismen.

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Hutcheons Verständnis von Postmodernismus ist der historische Charakter der Epoche.70 In allen Formen der Gegenwartskunst und -analyse durchdringen sich Vergangenheit und Gegenwart, am deutlichsten aber in einer Romanform, die Hutcheon als historiographic metafiction bezeichnet: „By this I mean those wellknown and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages“ (5). Die Postmoderne ist laut Hutcheon durch eine Repopularisierung und Problematisierung historischer Diskurse gekennzeichnet, die im Gegensatz zum hermetischen und ahistorischen Formalismus und Ästhetizismus der Moderne stehe (88). Zentral für Hutcheon ist im Anschluss an Paul de Man (113) die Auflösung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion: „Historiographic metafiction challenges […] any naive realist concept of representation but also any equally naive textualist or formalist assertions of the total separation of art from the world“ (125). Hauptverfahren dieser Problematisierung sind Parodie 71 und das Spiel mit Intertextualität, die sie u. a. bei Thomas Pynchon und E. L. Doctorow herausarbeitet. Dadurch entstehen in zeitlicher und genrepoetischer Hinsicht Hybride, die etablierte Wahrheitsverständnisse und Hierarchien destabilisieren und hierin ein kritisches Potential realisieren. In Abgrenzung zu Georg Lukács’ Studie zum historischen Roman betont die Autorin den spielerischen Umgang mit historischen Realia in der Postmoderne und den Verzicht auf Verfahren der Authentifizierung des Vergangenen (114). In systematisch-narratologischer Hinsicht wurde der Ansatz Hutcheons von Ansgar Nünning in seiner Studie zur Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (1995) weiterentwickelt. In Anknüpfung an Paul Ricœur, Wolfgang Isers Fiktionstheorie und Jürgen Links Interdiskurstheorie plädiert er für eine Neubetrachtung der Gattungstradition, die sich von engen und normativen Bestimmungen zugunsten eines weiten Gattungsverständnisses zu lösen habe. Nünning betrachtet als konstitutives Merkmal des historischen Romans dessen doppelten Zeitbezug 72 und charakterisiert den „historischen Roman […] als ein fiktionales Medium narrativer Sinnbildung über Zeiterfahrung“ (109). Er arbeitet in kritischer Auseinandersetzung mit Hayden White Asymmetrien und Differenzen zwischen Historiographie und literarischen Texten heraus (145 – 152)73 und entwirft ein neues, auf fünf Kriterien beruhendes Klassifikationsmuster für 70 Hutcheon 1988, S. 4. 71 Hutcheon hat sich der Parodie bereits in einem Vorgängerwerk gewidmet, in dem sie ähnliche funktionstheoretische Überlegungen entfaltet, vgl. hierzu Hutcheon 1985. 72 Nünning 1995a, vgl. S. 106. 73 U. a. verweist Nünning darauf, dass historiographische Quellen im Gegensatz zu literarischen intersubjektiv überprüfbar sind, sich die Historiographie im Gegensatz zur

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die Gattung 74. Der Vorteil dieses Ansatzes im Vergleich zu Hutcheon liegt darin, dass er metahistoriographische Erzählweisen von den normativen Implikationen der Postmodernedebatte löst und ihre historische Reichweite über den engeren Kontext des ausgehenden 20. Jahrhunderts hinaus erhöht. Nünning unterscheidet dabei heuristisch zwischen fünf Typen des historischen Romans: dem dokumentarischen, dem realistischen, dem revisionistischen, dem metahistorischen Roman und historiographischer Metafiktion. Die von ihm herausgearbeiteten Merkmalsmatrizen insbesondere der letzten beiden Formen sind dabei eine unverzichtbare heuristische Orientierung für diese Arbeit, indem sie das terminologische Rüstzeug für die Analyse zur Verfügung stellen und die Grundlage für Überlegungen zum Funktionspotential metahistoriographischer Fiktion bilden. Diese kurze Zusammenfassung ausgewählter Traditionslinien der epistemologischen Problematisierung historischer Erkenntnisbildung seit den 1960er Jahren offenbart die Vielschichtigkeit intergenerischer, gesellschaftlicher und gattungspoetischer Bezugspunkte, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff der Metahistoriographie gefasst werden sollen. Wie gesehen nimmt die Debattendynamik ihren Ausgang von einer Neubewertung des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Literatur. Diese umfasste einerseits ein stärkeres Problembewusstsein für Fragen der Narrativierung der Geschichte und der literarischen Dimensionen ihrer Erzählkonventionen, ließ andererseits aber auch eine Sensibilität für die, um mit einem Begriff von Michel Foucault zu sprechen, dispositiven Konstitutionsbedingungen des historischen Erkenntnisakts erkennen. Letzteres signalisiert den gesellschaftlichen Deutungsanspruch, den die Debatte um die Formen und Funktionen historischen Erzählens transportierte. Ein veränderter Umgang mit Geschichte, den Hutcheon vor allem im Aufkommen innovativer Formen historischen Erzählens ausmacht, wird für sie zum Signum der Postmoderne, in dem sich epistemologische Neuorientierungen in nuce zeigen. Diese Neuorientierungen umfassen, um an eine klassische Merkmalsmatrix Ihab Hassans anzuschließen, insbesondere Unbestimmtheit, Fragmentarisierung, Hybridisierung, Karnevalisierung und eine Reflexion des Konstruktcharakters historischer Erkenntnis.75 Literatur vom Bezug auf die Ebene des tatsächlich Geschehenen nicht emanzipieren kann und beide Modi unterschiedliche Erwartungen beim Rezipienten wecken. 74 Die Kriterien lauten Selektionsstruktur, Relationierung und Gestaltung der Erzähl­ebenen, dominanter Zeitbezug und Vermittlungsformen, Verhältnis fiktionales Geschichtsmodell – Historiographie, Wirkungs- und Illusionspotential. 75 Vgl. Hassan 1994.

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Nünning wiederum nimmt beide Debattenstränge zum Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Gattung des historischen Romans, der es um eine sinnvolle typologische Einordnung innovativer Formen historischen Erzählens in eine bis dato eher anarchisch organisierte Gattungsdiskussion geht. In einem späteren Aufsatz beschreibt Nünning die Veränderungen des historischen Romans „schlagwortartig als ein[en] Wandel von fiktionalisierter Historie zur metahistoriographischen Fiktion“.76 Während sich fiktionalisierte Historie auf historisch belegte Ereignisse beziehe, folge metahistoriographische Fiktion einer autoreferentiellen Selektionsstruktur, im Rahmen derer fiktionale Elemente dominierten, wodurch der „Akzent von der Darstellung eines vergangenen historischen Geschehens auf die Metaebene der historiographischen Rekonstruktion“ (547) verlagert werde. Die vorliegende Arbeit folgt der Auffassung, dass literarische Darstellungsweisen eine wichtige Rolle für die Aushandlung historischer Wissensordnungen spielen. Sie adressieren dabei das grundlegende Spannungsverhältnis, in dem künstlerische Fiktionen und wissenschaftliche Objektivitätsansprüche stehen und das sich sowohl als Komplementär- als auch als Konkurrenzverhältnis äußert. Schon in der Poetik des Aristoteles wird Literatur von Geschichtsschreibung abgegrenzt und behauptet, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte. […] Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter […] unterscheiden sich […] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere was geschehen könnte.77

„Die produktive Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs“,78 die Aristoteles markiert, ist nach Hans Vilmar Geppert konstitutiv für den historischen Roman als Ganzes. Diese Spannung lässt sich aber auch, wie es White tut, innerhalb der Geschichtswissenschaft selbst lokalisieren, die Geltungsansprüche anmeldet, für die die Frage der Objektivität – positiv wie negativ – zentral ist. Es interessieren also die Spannungsmomente, an denen geschichtliche Erkenntnisbildung als Resultat dieser Differenz prekär wird. Hier rücken Formen der literarischen Aneignung und narrativen Inszenierung von Geschichte ins Blickfeld, die Sinnstiftungsprobleme des historischen Erzählens fokussieren. Diese Formen können sich äußern, um wiederum Ansgar Nünning zu paraphrasieren, in der Semantisierung von Räumen, Erinnerungsprozessen und Zeitstrukturen, 76 Nünning 2002, S. 547. 77 Aristoteles 1982, 1451b; Zur Historisierung dieses Konflikts zwischen Geschichtswissen­ schaft und Kunst seit der Aristoteles-Rezeption der Renaissance vgl. auch die Ausführungen in Unterkapitel 4.2. 78 Geppert 2009, S. 3.

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in intertextuellen Bezugssystemen, in Erzählstrukturen (u. a. analytischen Erzählstrukturen, multiperspektivischen Erzählverfahren) und Erzählelementen, vor allem metafiktionaler und selbstreflexiver Natur.79 Die binäre Unterscheidung zwischen einem modernen historischen Roman und einem postmodernen historischen Roman wird zurückgewiesen, indem auf alternative Traditionslinien der Problematisierung historischer Erkenntnis hingewiesen wird und diachrone Betrachtungsweisen in die Arbeit integriert werden.80 Im Gegensatz zu Hutcheons Verständnis von historiographic metafiction steht außerdem die allgemeinere Frage der Historiographie und ihrer distinkten Erkenntnisbedingungen und -formen im Mittelpunkt, die nicht lediglich als Spielart der Metafiktion betrachtet wird. Historiographie wird dabei als Textpraxis und nicht als wissenschaftliche Disziplin verstanden, die – sofern von ihr die Rede ist – im Rahmen der Arbeit als Geschichtswissenschaft bezeichnet wird. Unter dem Begriff der Geschichte wird dabei die medialisierte und rekonstruierte Form der Darstellung der Vergangenheit verstanden.

79 Vgl. Nünning 2002, S. 554. 80 Vgl. hierfür u. a. Kapitel 6.

Der lange Abschied von der Zukunft – Metahistoriographie im Spätsozialismus

Die kulturgeschichtliche Verortung der späten Sowjetunion ist umstritten. Weitgehender Konsens besteht in der Diagnose eines Einschnitts durch den Tod Stalins und die Geheimrede Nikita Chruščëvs 1956,1 in der er die Exzesse seines Vorgängers geißelt. Inwiefern die Zeit zwischen 1953 und 1991 zusätzlich unterteilt werden soll, bleibt kontrovers. Während einige Forscher für eine Gesamtperspektive auf diesen Zeitraum plädieren,2 mahnen andere Binnenperiodisierungen an 3 und schlagen Unterteilungen vor, die sich an Machtwechseln und einschneidenden politischen Ereignissen orientieren. Hier rücken die Jahre 1964,4 1968,5 1975,6 19797 und 1986 als mögliche Bruchstellen in den Fokus. Andere orientieren sich an Dekaden.8 Eine ebensolche Vielfalt wie in der zeitlichen Unterteilung herrscht in der terminologischen Bestimmung dieser Jahre. Eine politisierte Unterteilung folgt den Leitbegriffen Tauwetter (Ottepel’), Stagnation (Zastoj) und Perestrojka, die mit der Herrschaftszeit der Staatschefs Chruščëv, Leonid Brežnev und Michail Gorbačëv korrespondieren.9 Alternativ findet sich in vielen jüngeren Publikationen die Bezeichnung Spätsozialismus (late socialism, pozdnij socializm), die 1 Vgl. dazu jüngst Smith 2017. Dass zwischen dem Stalinismus und der spätsowjetischen Zeit unterschieden wird, erscheint heute selbstverständlich, was es im Kontext damals vorherrschender Totalitarismustheorien beim Blick auf die Sowjetunion allerdings nicht war. 2 Einflussreich hier u. a. Kozlov 2001; Lejderman/Lipoveckij 2006; Kolář 2016. 3 Vgl. Belge/Deuerlein 2014, S. 15 ff., die eine Reihe möglicher Einschnitte diskutieren (1968, 1973, 1975, 1977, 1979), jedoch in Bezug auf eine Periodisierung letztendlich unentschieden bleiben. 4 Klumbyte/Sharafutdinova 2012. 5 Rogov u. a. 1998, S. 9, 13. 6 Brown 1993; eine Erörterung, warum gerade 1975 als Einschnitt zu betrachten sei, fehlt leider in Browns Werk. 7 Im Jahre 1979 (Stalin wurde eigentlich 1878 geboren, datierte seine Geburt allerdings in den 1920er Jahren ein Jahr nach vorne) wird der Versuch unternommen, anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Geburt Stalins den Diktator offiziell zu rehabilitieren. Der Einmarsch in Afghanistan beendet außerdem eine gut 30-jährige Periode des Friedens; zur globalen Dimension des Einschnitts 1979 vgl. jüngst Bösch 2019. 8 V. a. Shneidman 1979; Shneidman 1989; Genis 2013. Auf russischer Seite zählt dazu auch die Rede von den ‚langen 1970ern‘, u. a. bei Razuvalova 2015. Dass eine Orientierung an Dekaden in der vorliegenden Arbeit nicht befriedigend sein kann, ist naheliegend. Hier hält es die Arbeit mit Gerhard Plumpe: „Die annalistischen Bezeichnungen sind Schwundstufen vollmundigerer Epochenbegriffe; sie kapitulieren vor den Problemen semantischer Füllung und ziehen sich auf das unbestreitbare Faktum zurück, daß um 1900 Literatur produziert wurde“ (Plumpe 1995, S. 8). 9 Eine Variante dieser politischen Unterteilungen ist der Vorschlag Pavel Kolářs, den Zeitraum zwischen 1953 und 1991 als Epoche des Poststalinismus zu klassifizieren.

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Der lange Abschied von der Zukunft

wesentlich auf Alexei Yurchak zurückgeht. Er versteht darunter den Zeitraum zwischen Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre, als das System noch als ewig wahrgenommen wurde.10 Die vorliegende Arbeit schließt sich diesem Periodisierungsvorschlag an. Die Orientierung am Paradigma des Spätsozialismus bringt den Vorteil mit sich, auf scharfe Einschnitte in Form von Jahreszahlen verzichten zu können. Sie impliziert außerdem eine Analogie zu Frederic Jamesons einflussreichem Werk über die kulturelle Logik des Spätkapitalismus,11 die für vergleichende Perspektiven auf die späte Geschichte des Kalten Krieges fruchtbar gemacht werden könnte.12 Mit diesen terminologischen Neuakzentuierungen geht eine Reevaluation des Untersuchungszeitraums einher. Entscheidend hierfür ist die Infragestellung des Stagnationsverdikts, das durch neue, globalgeschichtlich orientierte Untersuchungen zur sowjetischen Konsumkultur oder zur Wissensgeschichte komplementiert wird. Sie werden in Unterkapitel 3.3 ausführlicher betrachtet. Die Literaturgeschichtsschreibung hat diese Neubetrachtung in Bezug auf die spätsowjetische Literatur erst in Ansätzen nachvollzogen. In jüngerer Zeit sind Untersuchungen zur nonkonformen und dissidentischen Kultur des Untergrunds erschienen, die die binäre Trennung zwischen offizieller und inoffizieller Kultur in Frage stellen. Es wird konzediert, dass der Spätsozialismus und dessen Gegenkulturen als interagierende Diskursfelder betrachtet werden sollten,13 in denen sich öffentliche und private Sphären vermischten.14 Die rigide Trennung der sowjetischen Literaturlandschaft in eine offizielle und inoffizielle Kultur wird so revidiert: „Die verschiedenen literarischen Prozesse in der Sowjetepoche (offizielle, nicht­ offizielle und dissidentische Literatur, Exil-Literatur u. a.) erweisen sich aus heutiger Sicht als direkt oder indirekt aufeinander bezogene Teilbereiche.“ 15 Eine Neu­ betrachtung offizieller, d. h. publizierter Literatur steht hingegen ebenso wie eine konsequente Globalisierung sowjetischer Entwicklungen noch weitgehend aus.16 10 Yurchak 2005, S. 4. 11 Jameson 1991. 12 Vgl. für einen solchen Ansatz Buck-Morrs 2002. Außerdem wird ein Geltungsanspruch suggeriert, der über eine Beschreibung der sowjetischen Verhältnisse hinausgeht und sich mindestens bis auf die Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts bezieht, wenn nicht gar auf andere sozialistische Länder wie China oder Kuba. 13 Lipovetsky/Smola 2018, S. 2; vgl. für die Orientierung am Untergrund auch Smolas Forschung zur spätsowjetischen jüdischen literarischen Kultur (Smola 2019). 14 Komaromi 2012, S. 71. 15 Engel 2011, S. 355. 16 Welche Konsequenzen hieraus für die literaturgeschichtliche Konzeptionalisierung des Zeitraums folgen, diskutiere ich in Unterkapitel 3.3.

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Eine wichtige Ausnahme stellt Polly Jones’ Studie Revolution Rekindled: The Writers and Readers of Late Soviet Biography dar, in der sie sich der Serie Plamennye revoljucionery (Die leidenschaftlichen Revolutionäre) widmet. Dieses vom mächtigen Politizdat-Verlag als Kollaborationsprojekt mit führenden Schriftstellern der Zeit wie Vasilij Aksënov, Anatolij Gladilin, Jurij Trifonov, Bulat Okudžava oder Vladimir Vojnovič ins Leben gerufene Vorhaben umfasste 156 Bände, in denen revolutionäre Gestalten der sowjetischen und ausländischen Geschichte porträtiert wurden. Trotz des staatsnahen Entstehungskontexts wurde die Serie zu einem historiographischen Experimentierfeld, das innovative und subversive Werke enthielt.17 Dieser „microcosm of the complex and dynamic late Soviet literary scene“ (24) stellt die strikte Trennung zwischen offizieller und inoffizieller, dissidentischer und systemtreuer Literatur in Frage und entwickelt ein nuanciertes Verständnis spätsozialistischer Propaganda und Zensur. Jones konzentriert sich überwiegend auf den literaturpolitischen und literaturgeschichtlichen Kontext und fokussiert in ihren literarischen Analysen äsopische, allegorische und psychologische Lesarten. Obwohl die Studie epistemische und evolutionäre Fragestellungen weitgehend ausklammert, liefert sie doch einen unverzichtbaren Beitrag für eine Neuperspektivierung der spätsozialistischen historischen Fiktion, dem die vorliegende Arbeit viel verdankt. Die folgenden Analysen orientieren sich ebenfalls nicht an der kunstexternen Leitunterscheidung offizieller und inoffizieller Literatur. Ideologische Vorgaben spielen zwar durchgehend eine Rolle, sie dürfen allerdings nicht als Doktrin mit klaren formalen Vorgaben missverstanden werden. In Bezug auf die literaturtheore­tische Entwicklung führe ich in Abschnitt 3.2 aus, wie sich ab Beginn der 1960er Jahre ein neues Grundverständnis herauskristallisiert, das in Distanz zum 1934 kodifizierten Sozialistischen Realismus steht. An die Stelle eines kulturpolitischen Zugriffs, der staatliche Vorgaben ins Zentrum rückt, setze ich einen wissenspoetischen Zugriff, der epistemologische Verschiebungen innerhalb des literarischen Prozesses aufzeigt. Dies betrifft beispielsweise die Neubetrachtung von Mikro-Makro-Konstellationen (2.1), die Infragestellung etablierter Gattungspoetiken (1.3) oder Experimente mit neuen ­Erzählerfahren und Perspektivierungsmustern. Diese Entwicklungen stehen in einem globalen Kontext, der auch in der Sowjetunion von großer Bedeutung ist und vom Boom der Mikrogeschichte über die Rezeption des Magischen Realismus bis zum Aufkommen von Pastiche-Ästhetiken reicht. Die Herausbildung neuer Zeitverständnisse deutet dabei an, dass auch der Spätsozialismus eine Abkehr vom

17 Jones 2019, S. 6.

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Der lange Abschied von der Zukunft

„Zeitregime der Moderne“ (Aleida Assmann) einläutet. Dessen Zukunfts- und Fortschrittoptimismus weicht einer Aufwertung der Vergangenheit, die zum Signum der Epoche wird. Der Wandel dieser Zeitorientierung ist titelgebend für diesen Abschnitt und wird zum langen Abschied von der Zukunft, der die Fundamente des sowjetischen Gesellschaftsprojekts erschüttert.

1.  Die Revision der Historiographie Revisionismus bietet sich aus mehreren Gründen als Ausgangspunkt der Untersuchung an. Zuvörderst verweist der Begriff auf eine sich in den 1970er Jahren formierende einflussreiche Bewegung junger Historiker in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die sich gegen die damals dominierende Totalitarismustheorie positionierten. Sie plädierten dafür, top-down-orientierte Deutungsansätze zugunsten eines Quellenstudiums zu ersetzen, das stärker Perspektiven von unten berücksichtigte und die Vorstellung einer monolithischen bolschewistischen Terrorherrschaft seit der Revolution differenzierte.1 Obgleich sich die revisionistische Strömung zunächst auf die Geschichtswissenschaft bezog, inspirierte sie auch literaturwissenschaftliche Untersuchungen, die Konzentration auf die Regelpoetik des Sozialistischen Realismus zugunsten differenzierterer Analysen abzuschwächen.2 Zuvor hatte es bereits in der Sowjetunion eine Diskussion um den sogenannten Revisionismus gegeben. In den 1950er Jahren hatte sich in der sowjetischen Geschichtswissenschaft eine reformistische Strömung breitgemacht, für die Personen wie Aleksandr Nekrič und Roj Medvedev standen, die sich vorsichtig für eine kritische Neubewertung der stalinistischen Herrschaftszeit und des Zweiten Weltkriegs ausgesprochen hatten.3 Hier meinte der Vorwurf des Revisionismus eine Abweichung vom bolschewistischen Dogma und dessen herrschender Geschichtssicht, was auf die Verurteilung sozialistischer Revisionismen in der Revisionismusdebatte der deutschen Sozialdemokratie im späten 19. Jahrhundert zurückverweist. Die sowjetische Führung sprach sich als Reaktion auf diese Bestrebungen zwar gegen offenen Revisionismus im historischen Feld (59) aus und repressierte wenig später einige der widerständigen Historiker, konnte das Vordringen ihrer Ideen in kritische Kreise und ins Ausland, in dem insbesondere Roj Medvedevs Publikationen starke Wirkungen entfalteten, allerdings nicht verhindern. Revisionismus bezeichnet schließlich in der Gattungspoetik Nünnings eine in den 1960er Jahren entwickelte Unterform historischen Erzählens, „die sich kritisch 1 Zur geschichtswissenschaftlichen Bewegung des Revisionismus vgl. Fitzpatrick 2007 und – stärker biographisch gefärbt – Fitzpatrick 2008. 2 Vgl. für ein solches Beispiel Witte 1989. 3 Das Standardwerk hierzu ist Roger Markwicks Rewriting History in Soviet Russia. The Politics of Revisionist Historiography, 1956 – 1974. Vgl. außerdem Martin 2019, S. 53 – 59; mehr zur geschichtswissenschaftlichen Entwicklung in 3.1.

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Die Revision der Historiographie

mit der Vergangenheit und dem kulturellen Erbe auseinandersetz[t]“.4 Revisionismus wird hierbei sowohl inhaltlich als auch formal verstanden, als Bruch mit etablierten Deutungs- und Kompositionsmustern von Geschichte. Revisionistische historische Romane nutzen die „Privilegien der Fiktion“ (269), vermischen Vergangenheits- und Gegenwartsbezüge (vgl. 270), experimentieren mit alternativen Geschichtsverläufen und thematisieren marginalisierte Perspek­tiven (vgl. 273). Solche kritischen, den Kanon revidierenden Geschichtsentwürfe sollen nun im Fokus stehen. In der Analyse von Sinjavskijs/Terc’ Ljubimov lege ich dar, wie auf Basis einer theoretischen Zurückweisung des Sozialistischen Realismus eine literarische Kritik utopischer Geschichtstheorien exerziert wird. Die Analyse des Werks von Jurij Trifonov zeigt, wie polyphone Erzählverfahren und mediologische Selbstreflexionen die Herausbildung einer alternativen Geschichtstheorie begünstigen. In der Untersuchung zum Mauvismus und zum Werk Valentin Kataevs argumentiere ich schließlich, dass eine radikale Kritik von Zeit-, Romanund Autorschaftskonzepten zum Wegbereiter metahistoriographischer Innovationen wird, die sich in künstlerisch hochambitionierten Werken wie denen Andrej Bitovs und Saša Sokolovs zeigen. Im späteren Argumentationsverlauf des Kapitels 3 nehme ich die beiden ersten hier gesponnenen Fäden zum angloameri­ kanischen und sowjetischen Revisionismus wieder auf und kontextualisiere sie.

1.1  Die Ausweitung der Geschichte – Metahistoriographische Phantastik im Frühwerk Andrej Sinjavskijs Als Andrej Sinjavskij 1966 in Moskau der Prozess gemacht wird, der in einer ­langen Haftstrafe endet, spielt auch die unter dem Pseudonym Abram Terc veröffentlichte Povest’ Ljubimov (1963) eine wichtige Rolle. Die Geschichte über die phantastische, mit magnetischen Wunderkräften bewerkstelligte Machtergreifung des Fahrradmechanikers Lenja Tichomirov im Provinzstädtchen ­Ljubimov empört die Behörden als antisowjetische Satire. Die Staatsanwaltschaft wirft Sinjavskij vor, revisionistische Positionen zu vertreten, da er die Rolle der Partei ironisiere und die Freiheit der Kunst in der Sowjetunion in Frage stelle.5 ­Zweifelsohne enthält Ljubimov, ebenso wie fast das gesamte Frühwerk von 4 Nünning 1995a, S. 269. 5 Ginzburg 1967, S. 237. Diese Interpretation folgt der ersten westlichen Aufnahme des im Tamizdat veröffentlichten Werkes, das eben ob seiner satirischen Schilderungen der Sowjetunion Interesse geweckt hatte.

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Sinjavskij/­Terc, eine Vielzahl satirischer Anspielungen auf den real existierenden Sozialismus und seine rhetorischen Maskierungen.6 Sinjavskijs „künstlerisches Interesse greift jedoch viel tiefer“, wie Ulrich Schmid richtig bemerkt: „Er will den paradigmatischen Ort literarischer Wahrheit erkunden.“ 7 Das Unterkapitel möchte diesen epistemisch orientierten Analyseansatz – der an Deutungsmuster anschließt, die in Sinjavskij einen frühen Repräsentanten einer postmodernen Epistemologie sehen 8 – aufnehmen und hinsichtlich eines bislang kaum untersuchten Bezugsfelds konkretisieren: Sinjavskijs Proble­ matisierung historischer Erkenntnisbildung. Es folgt dabei Catharine Th ­ eimer ­Nepomnyashchy, der zufolge das Bedürfnis nach einer Neudefinition von (russischer) Geschichte außerhalb des Marxismus zentral für das Schaffen des Autors sei.9 Ich konzentriere mich auf seine Erzählung Ljubimov, deren Analyse mit Exkursen zur Erzählung Gololedica (Glatteis, 1961) und zur Publizistik des Autors komplementiert wird. Das Unterkapitel widmet sich dem bisher wenig untersuchten Verhältnis von Phantastik und (Meta-)Historiographie und beabsichtigt, epistemologische Aspekte in der Deutung des Werks Sinjavskijs stärker als bisher zu gewichten. Bereits in seinem Essay Čto takoe socialističeskij realizm? (Was heißt sozialistischer Realismus?),10 der Terc’ Ruhm begründet, vermischt sich die Kritik des Sozialistischen Realismus – dessen unangemessene Zielgerichtetheit, dessen missverstandener Klassizismus und dessen ideologische und psychologische Beschränktheit aufs Korn genommen werden – mit der Forderung nach einer Revision stalinistischer Zeit- und Gesellschaftskonzepte. Im Rahmen der Legitimationsdiskurse des Hochstalinismus, so lässt sich hier kontextualisierend ergänzen, ist der historische Roman Teil eines allgemeinen politisch-ästhetischen Projekts, in dem die Kenntnis historischer Fakten ersetzt wird durch die Zustimmung zu deren politisierter Variante.11 Der Schriftsteller muss hier „alle Geschehnisse der Vergangenheit kennen, jedoch nicht so, wie sie bisher dargestellt wurden, sondern so, wie sie durch die Lehre von Marx, Lenin, Stalin ­beleuchtet […] werden“.12 Für 6 7 8 9 10

Vgl. u. a. Düring 1994. Schmid 2002, S. 533. Vgl. hierfür v. a. Genis 1994; Ėpštejn 2005, S. 328 – 369. Nepomnyashchy 1984, S. 141. Geschrieben 1957, erstmals veröffentlicht 1959 auf Französisch. Die russische Erstpublikation findet sich in Mosty 2 (1959), S. 269 – 302, allerdings nach einer Übersetzung. Hier wird nach dem Originaltext zitiert, erstmals publiziert in Terc 1967. Die Übersetzungen folgen Sinjawskij 2002. 11 Vgl. hierzu Dobrenko 2000. 12 Gor’kij 1973, S. 84.

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diese Sichtweise wird ab 1938 der von Stalin projektierte Kratkij kurs istorii VKP verbindlich, mit welchem laut Boris Groys das „Urteil über die gesamte Menschheitskultur […] gesprochen“ 13 werde. Terc interpretiert den Stalinismus als religiöse Denkform, die „unvereinbar mit dem Historizismus“ 14 und historischem Denken sei. Die Unvereinbarkeit liege darin, dass die Zeitlogik des Stalinismus zu einer Synthetisierung aller Zeitebenen strebe: „Изображая настоящее, он [der sozialistische Realist] слышит ход истории, заглядывает в будущее.“ 15 Im Rahmen dieser Zeitkonzeption ist der Sinn des Geschriebenen immer schon bekannt. So entsteht eine amputierte Geschichte, die vollständig in der stalinistischen Dogmatik gefangen bleibt. Ästhetisch bleibt dieses Wissen an einen leblosen, an die Odentradition des 18. Jahrhunderts erinnernden Klassizismus gebunden, der sich der Geschichte allein nach Maßgabe bestimmter Glaubenssätze nähert. Freiheit im Umgang mit der Geschichte kann es hier nicht geben. Das Hauptziel der historiographischen Anklage des Essays stellt das Prinzip der Teleologie dar, das einzelnen Ereignissen einen prädeterminierten Sinn auferlegt. Mit dieser Geschichtssicht korreliert die Vorstellung einer einzigen historischen Entwicklungsachse, auf der sich die Geschichte der Menschheit abspiele und die kommunistische Gesellschaft fortschreite. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung steht Terc’ Forderung nach Toleranz gegenüber historischen Nebenwegen, Abweichungen und Rückschritten. Er plädiert für eine Rückholung von Konflikten und Differenzen in Gesellschaft und Geschichte und wünscht sich räumliche und zeitliche „Weite“ („širota“).16 Terc’ Essay kulminiert in der Forderung nach einer phantasmagorischen Literatur „mit Hypothesen statt Ziel und der Groteske statt Sittenschilderung“.17 Die aus dieser Forderung folgenden literarischen Transgressionen sollen nun herausgearbeitet werden.

13 Groys 1988, S. 55. 14 Sinjavskij 2002, S. 479; „несовместима […] с историзмом“ (Terc 1967, S. 407). 15 Terc 1967, S. 402. „Indem er die Gegenwart schildert, lauscht er dem Gang der Geschichte und schaut in die Zukunft“ (Sinjavskij 2002, S. 474). 16 Terc 1967, S. 424. 17 Sinjavskij 2002, S. 524; „с гипотезами вместо цели и гротеском взамен бытописания“ (Terc 1967, S. 446). Diese Formulierung ist abzugrenzen vom Begriff des phantastischen Realismus, den Sinjavskij erstmals 1975 anführte, wie Erika Haber bemerkt (Haber 1998, S. 266).

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Autonomieverlust durch Auffächerung Die Untersuchungsrichter im Prozess gegen Sinjavskij machten sich keine literaturwissenschaftliche Mühe und setzen kurzerhand den Autor Sinjavskij mit dem Erzähler seiner Werke gleich. Nicht nur Sinjavskij,18 sondern auch die Literaturwissenschaftler, die sich mit der Rolle der Erzählhaltung im Roman beschäftigen, weisen diese Gleichsetzung zurück. Erika Habers und Martine Artz’19 Analysen führen darüber hinaus zu dem Schluss, dass die Varianz der Erzählhaltungen in Ljubimov eine zweite, phantastische Bedeutungsebene generiert und den Leser zur zentralen Interpretationsinstanz aufwertet. Diese Pluralisierung der Bedeutungsebenen entsteht durch das Spannungsverhältnis dreier Erzählergestalten, die gleichzeitig auch als Historiker fungieren. Die Povest’ setzt ein mit den Schilderungen des Provinzchronisten Savelij Kuz’mič Proferansov, der in der örtlichen Bibliothek arbeitet und als Historiker Ruhm erlangen möchte. Bei seinen anfänglich unbeholfenen Versuchen wird er angeleitet von Samson Samsonovič Proferansov, der denselben Nachnamen trägt und zu Beginn in Gestalt eines Professors auftritt, den seine Forschung in die Stadt Ljubimov verschlagen hat. Nachdem Tichomirov in der Kleinstadt die Macht erlangt hat, bieten sich beide als Historiker des neuen Staates an. Savelij Kuz’mič wird offiziell fungierender Chefhistoriograph und Samson Samsonovič zur subtil den Erzählprozess lenkenden Instanz. Beide Figuren stehen dabei für unterschiedliche historiographische Typen: Savelij Kuz’mič für den des unbedarften Provinzhistorikers ohne fachliche Ausbildung, Samson Samsonovič für die literarisch elaboriertere, moralisch aber umso zynischere Gestalt des Historikers aus dem Zentrum. Während Savelij den mündlichen skaz-Stil und umgangssprachliches Vokabular bevorzugt, findet sich in den Passagen Samsons ein elaborierter Satzbau, der mit Fremdwörtern durchsetzt ist. Politisch steht Savelij dem Usurpator Tichomirov näher, während Samson eine distanziertere Haltung zum Geschehen bewahrt. Die einzelnen Kapitel der Povest’ sind dabei in Stil und Lexik höchst unterschiedlich, die beiden Erzählerfiguren wechseln sich mit einer neutralen dritten Erzählinstanz ab. Die Zuordnung der einzelnen Passagen zu den jeweiligen Historikergestalten ist dabei Aufgabe des Lesers und in vielen Fällen kaum möglich, was den Fokus auf die narrative Modellierung von Geschichte lenkt.

18 Sinjavskij äußert im Prozess: „В ‚Любимове‘ нет авторской речи“ (zitiert nach ­Ginzburg 1967, S. 231). 19 Haber 2000; Artz 2003.

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Der Text problematisiert in politischer und mediologischer Hinsicht das Ideal der Autonomie des historiographischen Textes, dessen Verfasser sich von einem externen Standpunkt außerhalb des Geschehens sine ira et studio den Begebenheiten widmet. Savelij Kuz’mič wird durch direkte Ansprachen und Aufforderungen immer wieder – auch gegen seinen Willen – in die Handlung hineingezogen und muss sich in konkreten Situationen positionieren, so u. a. beim mysteriösen Tod eines freigelassenen Sträflings. Er kann somit nicht politisch unschuldig bleiben, er hat Teil an den manipulativen Machenschaften des Usurpators. Spannend ist, dass diese Komplizenschaft nicht nur auf Druck des Herrschers 20 sichergestellt wird. Als Savelij sich dem Geschehen entziehen möchte, wird nämlich die Stimme Samsons deutlich vernehmbar: „А ты куда, Савелий Кузьмич? Назад! Воротись немедленно! Твое место здесь“.21 Die Pflicht des Chefhistoriographen kann nicht so einfach abgewälzt werden, Macht und Geschichtsschreibung sind miteinander verknüpft. Hier manifestiert sich im Wechsel der Perspektiven auch die Vorstellung einer zutiefst agonalen Geschichtswissenschaft. Das Berichten über historische Ereignisse ist keine Sache akkurater Methodik und geteilter Ideale, sondern ein fortwährender Kampf um Deutungshoheit. Savelij ist vom naiv verstandenen Ideal einer auf Quellen und eigenen Erfahrungen aufbauenden Geschichtsschreibung geleitet, dessen Unmöglichkeit sich in der literarischen Praxis zeigt. Ihn beschleichen sogleich Zweifel, sobald er erste Worte auf Papier gebracht hat: „Господи! Да что же это такое? Нету в этом деле моего прямого участия! Может, как и весь этот милый заколдованный город, я только пущен в ход чьей-то незримой рукой?“ 22 Dieser Kontrollverlust kulminiert wenig später in der Vorstellung, von einer unsichtbaren Hand geleitet zu werden:

20 Am deutlichsten in dieser Stelle: „Тем более тебе, Проферансов, не пристало бегать, как маленькому, за вином и за водкой. Пора отвыкать. Твоя задача писателя, городского историографа – неустанно изучать действительность в ее неуклонном развитии и давать каждому факту правдивое отражение“ (Terc 1964, S. 77). „Umso weniger hat es sich für dich geschickt, Proferanßow, wie ein kleiner Junge hinter Wein und Wodka herzulaufen. Es ist Zeit, daß du dir das abgewöhnst. Deine Aufgabe als Geschichtsschreiber unserer Stadt ist es, unermüdlich die Wirklichkeit in ihrer ständigen Entwicklung zu studieren und alle Fakten wahrheitsgetreu aufzuzeichnen“ (Terz 1966, S. 98). Der letzte Satz ist eine ironische Anspielung auf die kanonische Definition des Sozialistischen Realismus. 21 Terc 1964, S. 76. „Und wohin willst du, Sawelij Kusmitsch? Zurück! Sofort kehrst du um! Dein Platz ist hier“ (Terz 1966, S. 96). 22 Terc 1964, S. 27. „Mein Gott! Aber was ist das? Ich war doch an dieser Angelegenheit nicht unmittelbar beteiligt. Könnte es nicht so sein, daß ich, wie diese ganze liebe, verzauberte Stadt, von einer unsichtbaren Hand getrieben worden bin?“ (Terz 1966, S. 16)

Die Ausweitung der Geschichte53 Пишешь и не понимаешь, что с тобой происходит и откуда берутся все эти слова, которых ты и не слыхивал никогда и не думал их написать, а они сами вдруг вынырнули из-под пера и поплыли, поплыли гуськом по бумаге, как какие-нибудь утки, как какие-нибудь гуси, как какие-нибудь чернокрылые австралийские лебеди …23

Die Idee der selbstschreibenden Hand erinnert ironisch gebrochen an das ortho­doxe Verständnis geschriebener, nicht von Hand geschaffener Ikonen, die als unmittelbare Darstellung des Gotteswortes gelten.24 Psychoanalytisch ließe sich jene Passage als Durchbruch des Unbewussten deuten, als Artikulation verdrängter Vorstellungen und Wünsche, was insbesondere die Phrase „ne dumal ich napisat’“ suggeriert. Unmittelbar vor dieser ersten Schreibszene bekommt Savelij Besuch von einem Unbekannten, wonach „alles seinen Anfang“ 25 nimmt. Jene Formulierung bleibt kryptisch, lässt sich allerdings in Anbetracht des späteren Handlungsverlaufs als Besuch Samsons dechiffrieren, der verkleidet auftritt – ein Hinweis auf seine teuflischen Fähigkeiten – und Savelij zum Schreiben animiert. Das Konfliktpotential, das aus der Multiplikation der Erzählinstanzen resultiert, äußert sich wohl am deutlichsten im Einsatz der Fußnoten, der am Ende des Vorworts eingeführt wird: Чтобы не распыляться, в исторических книгах и летописях (так уж заведено) устраиваются особые сноски […]. Каждый читатель может туда спуститься и, немного передохнув, узнать о подробностях или еще о чем. А кто не желает, или некогда, или ему надо побыстрее понять главное содержание, тот пусть эти второстепенные сносочки спокойненько пропускает и шпарит дальше, без передышки, сколько влезет.26 23 Terc 1964, S. 27. „Du schreibst und begreifst nicht, wie dir geschieht, woher dir alle diese Worte zufliegen, die du zuvor nicht einmal gehört hast und die niederzuschreiben du nie die Absicht hattest; sie tauchen plötzlich von selbst auf, sie schwammen mit dem Federkiel aufs Papier, als ob sie Entchen, Gänse oder australische Schwäne mit schwarzen Flügeln wären …“ (Terz 1966, S. 15 f.). 24 Eine Anspielung auf Adam Smith, dessen Idee der invisible hand hier sofort assoziiert wird, ist eher unwahrscheinlich. Auffallend ist aber, dass auch hier die Metaphorik der unsichtbaren Hand einen religiösen Hintergrund besitzt, vgl. Luterbacher-Maineri 2008, v. a. S. 328 – 364. 25 Terz 1966, S. 15; „все и началось“ (Terc 1964, S. 26). 26 Terc 1964, S. 28. „Um sich nicht zu verzetteln, ist es der Brauch, historischen Büchern und Chroniken Fußnoten beizugeben […]. Jeder Leser kann sich die Mühe machen, bei ihnen ein wenig zu verweilen, sich über Details oder anderes zu informieren. Aber wer das nicht tun mag – sei es, daß er es überhaupt nicht wissen will, sei es, daß er schneller den Hauptinhalt durchlesen möchte –, der möge diese nebensächlichen Fußnötchen seelenruhig unter den Tisch fallen lassen und, ohne zu verschnaufen, weiterlesen, soviel er aufnehmen kann“ (Terz 1966, S. 17 f.).

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Fußnoten, die in historiographischen Texten in der Regel der Verifizierung dienen,27 werden hier als Orientierungsleistung für den Autor („Čtoby ne r­ aspyljat’sja“) legitimiert. Wird vom Leser hier noch eine komplementierende Funktion in Bezug auf den Inhalt vermutet, so zeigt sich schnell, dass diese eher konfligierender Natur sind. In den Fußnoten spielt sich ein Kampf zwischen den beiden Historikern ab, den diese dazu nutzen, ihre alternative Meinung kundzutun. Am deutlichsten wird dies in einer Fußnote im dritten Kapitel, in der es heißt: Все пьют, все пьяные. А разве ж я – не человек?* * Враки! Не было этого! Я сам не захотел. И потом – почему обо мне, на моем же месте говорится неуважительно – “он”? Разве я не человек?28

Neben einer parodistischen Wirkung erfüllen solche Fußnoten die Funktion einer grundlegenderen Problematisierung des Schreibprozesses. Ihr Einsatz ist mit der den ganzen Roman durchziehenden Debatte um Koautorschaft verknüpft, wenn Samson Savelij vorwirft, er vergrabe die eigentlichen Fakten in den Fußnoten: „Вот вы сами то и дело прибегаете к сноскам, к отступлениям, роете норы, погреба для сохранения фактов.“ 29 Reflektiert man die epistemische Konsequenz dieser historiographischen Praxis, so zeigt sich, dass darauf hingewiesen werden soll, dass die Kommentierung durch den Autor und der Einschluss außertextueller Informationen eine wesentliche Rolle für ein adäquates Verständnis und eine Beurteilung der Gesamtsituation einnimmt. Fußnoten besitzen eine prekäre Informationsfunktion, etwa wenn bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Erzählung das Projekt der Umformung der Bewohner der Stadt zum Scheitern erklärt wird: И переделанный человек добровольно двинется по пути к совершенству, да еще за всю науку будет вам благодарен, и Леня Тихомиров это понял и рассчитал.1 1 Плохо он рассчитал.30 27 Vgl. hierzu ausführlich Unterkapitel 4.3. 28 Terc 1964, S. 76; „Alle trinken, alle sind sie schon angeheitert. Bin ich denn vielleicht kein Mensch?* * Was für ein Geschwätz. So war es ja gar nicht! Ich wollte selbst nicht. Und überhaupt, warum hat jemand, der nicht ich selbst war, so geringschätzig per ‚er‘ von mir berichtet? Bin ich vielleicht kein Mensch?“ (Terz 1966, S. 97). 29 Terc 1964, S. 56; „Sie haben ja selbst Ihre Zuflucht zu Fußnoten genommen, zu Abschweifungen; Sie heben Löcher aus, in denen Sie sicherheitshalber gewisse Tatsachen begraben“ (Terz 1966, S. 63). 30 Terc 1964, S. 43; „Und der erneuerte Mensch schlägt freiwillig den Weg zur Vollkommenheit ein, für alle Wissenschaft wird er dankbar sein, und Ljonja Tichomirow begriff das und rechnete damit.1 1  Aber er verrechnete sich“ (Terz 1966, S. 42).

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Als im sechsten Kapitel ein Flugzeugangriff auf Ljubimov beschrieben wird, findet sich in den Fußnoten die Fortsetzung der Sätze des Haupttexts. Lässt man sie an dieser Stelle weg, entsteht ein grotesker Inhalt.31 Die Grenze zwischen Fußnote und Text verschwindet hier und die Bestimmung der Fußnote als Paratext wird problematisch. Das vermeintlich Sekundäre wird zum Primären: Fiktion wird zur Wahrheit, der Fußnotentext zum Haupttext. So entstehen Dopplungen und Widersprüche, die Objektivitäts- und Wahrheitsansprüche unterlaufen. Die Auffächerung der Erzählperspektiven trägt dazu bei, dass die Idee einer den historischen Prozess synthetisierenden Instanz verworfen wird. Die einzelnen historischen Inhalte stehen häufig unvermittelt nebeneinander und können nicht verifiziert werden. Die Erzählkonstellation motiviert somit die Unabgeschlossenheit des Erzählprozesses. Bleiben Differenzen zwischen verschiedenen Autoren und Sichtweisen bestehen, so lässt sich am Ende keine Auflösung der Konflikte zelebrieren – ein Aspekt, den Terc in seinem Essay zum Sozialistischen Realismus an diesem besonders nachdrücklich kritisiert hatte. Es bleibt eine historiographische Aporie, die wesentlich aus der Polyphonie des Erzählens resultiert.32

Historiographie als Hyperbolisierung Gegen Ende seines Essays zum Sozialistischen Realismus streift Terc kurz die Frage des Umgangs mit dem Erbe Stalins. Er bedauert die „Halbwahrheiten und Halbmaßnahmen“ 33 der halbherzigen Aufarbeitung der sowjetischen Halbtheokratie und schlägt eine andere Antwortstrategie vor: „Stalin […] war ein Spezialfall für die Hyperbolisierung, die seiner harrte.“ 34 Hyberbolisierung, die groteske Umformung der zur Groteske gewordenen politischen Realität, ist die historiographische Antwort, die Sinjavskij in seinen Werken selbst exerziert. Die stalinistische Verfremdung des Historischen im Dienst der Diktatur wird nicht mittels faktenbasierter Historisierung, sondern durch die Konfrontation mit ebenbürtigen historischen Verfremdungen exorziert. Diese greifen dabei in eine Zeitdimension aus, die jenseits des Historischen und Biographischen liegt. 31 Indirekt wird durch den Einsatz der Fußnoten das Weglassen entscheidender Textstellen und Informationen in offiziellen kommunistischen Schriften kritisiert, deren Einschluss zu einer vollkommen anderen Textbotschaft führt. 32 Markesinis (2010) liest diese Polyphonie als Perversion des Bachtin’schen Romanideals, vgl. S. 97. 33 Sinjawskij 2002, S. 522. 34 Sinjawskij 2002, S. 522.

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Bei der vorherigen Analyse der ersten Schreibexperimente Savelij Kuz’mičs ist der Inhalt des Niedergeschriebenen unberücksichtigt geblieben. Was bei seinen Bemühungen zu Tage tritt, sind Enten, Gänse, (schwarzflügelige) Schwäne und wenig später noch prähistorische Pterodaktylen.35 Die Aufzählung dieser Tiere knüpft hierbei an den zweiten Absatz der Povest’ an, in welchem ebenfalls eine Reihe alltäglicher und archaischer Tiere aufgezählt wird: Правда, подальше, за Мокрой Горой, сосредоточена знаменитая утка, годная для стрельбы, и говорят, в старину эту утку возами возили и за еду не считали. Но чтобы в нашем краю водились бизоны, или тапиры, или какие-нибудь жирафы со змеевидными шеями, так это уже и старики не помнят. И хотя доктор Линде продолжает всем доказывать, что однажды на вечерней заре повстречался ему вместо тетерева доисторический птеродактиль, все это вымысел, брехня и нету у нас ничего похожего.36

Zieht man in Betracht, dass Savelij Kuz’mič bei seiner ersten Schreibszene sehr überrascht über das Auftauchen dieser ihm unbekannten Wörter gewesen war, so liegt die Annahme nahe, dass dieser einleitende Absatz kaum von derselben Erzählergestalt geschrieben sein kann. Erzählt wird hier von einer Zeit jenseits des Erinnerbaren, das sich auf nicht rationalisierbare Art und Weise in den Text drängt. Sichtbar wird hier eine vorhistorische, nichtveränderbare Dimension, die für die Chronik Ljubimovs durch zweifache Wiederholung primäre Bedeutung besitzt. Die erzählerische Erklärung, dass es sich hierbei um bloß Ausgedachtes („ėto vymysel“) handle, greift ob dieser Wiederholung zu kurz. Die Aufzählung der Tiere ließe sich als grotesk-verfremdendes Moment in der Tradition Gogol’s deuten, interessanter erscheint aber eine evolutionsbiologische Lesart. Im Spätstalinismus hatte die alternative Genetik Trofim Lysenkos eine 35 „Ну вот опять! Откуда залетело сюда чуждое нам слово? Я его и произносить-то не умею, птеродактиля этого, и говорил ведь – не водится в наших краях ничего такого. Кыш, ты! Кыш! Лети прочь, гадина!“ (Terc 1964, S. 27) „Halt! Da haben wir’s wieder! Woher kam dies fremde Wort uns zugeflogen? Ich kann es ja kaum aussprechen – ‚Pterodaktylus‘ –, und doch habe ich von ihm geredet, dabei gibt es ihn gar nicht in unserer Gegend. Kusch, du, kusch! Weg mit dir, Natter!“ (Terz 1966, S. 17) 36 Terc 1964, S. 21. „In einiger Entfernung, hinter dem Feuchten Berg, ist freilich eine berühmte Entenart daheim, die zur Jagd taugt, obgleich es heißt, in der guten alten Zeit habe man diese Enten mit Leiterwagen weggeschafft und sie als Speise nicht geschätzt. Daß aber in unserer Gegend Büffel, Tapire oder irgendwelche Giraffen mit schlangenartigen Hälsen gelebt hätten, daran können sich nicht einmal die Alten erinnern. Und wenn auch der Doktor Linde nicht müde wird zu versichern, daß ihm einstmals bei Sonnenuntergang statt eines Birkhahns ein prähistorischer Pterodaktylus über den Weg gelaufen sei, so ist das alles Erfindung und Geschwätz, und es gibt nichts Dergleichen bei uns“ (Terz 1966, S. 7 f.).

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wichtige Bedeutung erlangt, die wesentliche Grundannahmen der Darwin’schen Evolutionstheorie in Frage stellte und stattdessen eine von Menschenhand gestaltbare, den Gesetzen der Philosophie des Historischen Materialismus folgende organische Entwicklung propagiert hatte. Das mehrfache, narrativ nicht erklärbare Auftreten der Pterodaktylen und Tapire lässt sich als Veto der Vorhistorie lesen, die die Annahme des ersten Absatzes Lügen straft, die Pfade der Evolution hätten um Ljubimov einen Bogen gemacht.37 Die Nennung der Urzeitwesen gleich zu Beginn sensibilisiert außerdem für eine Deutung des Kommenden als Anachronismus und plötzlichen Durchbruch transhumaner Kräfte. Die tierische Natur dieser Kräfte wird spätestens dann deutlich, als sich Tichomirov in seinem ersten Auftritt als Führer in verschiedene Jagd- und Raubtiere verwandelt. Diese Episode verweist auf eine zweite Quelle alternativer Historizität in der Povest’, die ebenfalls quer zu Versuchen traditioneller, kausal argumentierender Historisierung steht. Sie repräsentiert, wie Markesinis darlegt, eine Form spiritualistischer Volksgeschichte, die mit Elementen der traditionellen russischen Folklore durchsetzt ist: Liubimov is a celebration of the past, a past denied and destroyed by the Soviet system. […] The past lives on in their [des Volkes] beliefs, superstitions and traditions that represent a continuing Russian identity and culture.38

Die der Machtergreifung folgenden Ereignisse werden auf unterschiedliche Art und Weise historisiert, wobei hier wiederum die unterschiedlichen historiographischen Betrachtungsweisen Savelij Kuz’mič und Samsons zu Tage treten. Savelij Kuz’mič ist ein Mann aus dem Volk, der die revolutionären Ereignisse im Anschluss an die Mythen der Bylinen historisiert. Diese Historisierung ist durchsetzt mit Metamorphosen und Mutationen aller Art und arbeitet mit karne­valesken Verfremdungen. Getragen wird diese Form der Erzählung von den Erinnerungen der alten Menschen, die den Umsturz in Form an Fabeln anknüpfender archetypischer Tierkonstellationen verarbeiten. Lenja und der frühere Parteichef befinden sich, vom Volk aufgestachelt, in einem Kampf auf Leben und Tod, in dem bereits die blutrünstigen Züge des späteren Diktators aufscheinen. Diese Form alternativer Historisierung wird durch einen metafiktio­ nalen Einschub unterbrochen: 37 Terc 1964, S. 7: „Но обошли нашу местность пути развития.“ Sie stellen damit das nichthumane Pendant zu den Steinen des alten Klosters dar, die trotz aller Versuche der staatlichen Zerstörung an ihrem Platz bleiben. Sie erfüllen laut Markesinis die Funktion von „living repositories of human history and culture which withstand political and social storms as stoically as they face the elements“ (Markesinis 2010, S. 91). 38 Markesinis 2010, S. 91.

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Die Revision der Historiographie Однако мы не будем продолжать эту погоню, потому что она, как сказано выше, не подкреплялась фактами, а была результатом народного вымысла и может рассматриваться наравне с мифом об Илье Муромце, олицетворяющем борьбу человека с природой.39

Der bruchstückhafte und sprunghafte mündliche Erzählstil wird in der Folge ersetzt durch ein akademisches Räsonieren, das auf der Faktengebundenheit des Erzählaktes beharrt, was auf die Anleitung Samsons aus dem Vorwort zurückweist. Die karnevaleske Darstellung des Umsturzes weicht einer mit politischen Floskeln geschmückten Erzählung, die durch ihre Verweise auf antike Triumphzüge und auf Puškin leicht als stalinistischer Modus der Historisierung der Revolution identifiziert werden kann. Vergleicht man die erzählerische Wirkung der beiden Modi der Historisierung, so erweist sich die folkloristische Geschichtsschreibung als angemessenerer Stil. Sie ist – mit ihrer Offenheit für Phantastisches und Groteskes – geeignet, die magischen Manipulationspraktiken des Usurpators begreiflich zu machen, während das sinnentleerte Pathos politischer Rhetorik eben dies nicht vermag. Expliziter noch als in Ljubimov wird in Sinjavskijs etwa zur selben Zeit entstandener Erzählung Gololedica Geschichte menschlichen Maßstäben entzogen. Die Erzählung handelt von einem Helden, dem die Fähigkeit gegeben ist, durch einen Blick in die Gesichter anderer Menschen deren Vergangenheit und Zukunft zu erschauen. Seine übermenschlichen Fähigkeiten führen ihn bis in die Karbonzeit und das 24. Jahrhundert und motivieren ihn zu Spekulationen über Prädetermination und Seelenwanderung. Die einzelnen Rück- und Vorblicke werden dabei von einer bedrohlichen Wettermetaphorik gerahmt, die die katastrophischen Inhalte des Erinnerten anzeigen – den „Pfad der sinnlosen Vernichtung“.40 Durch seine magische Fähigkeit weiß der Held auch um eine Gefahr, die das Leben seiner Verlobten bedroht. Er versucht verzweifelt, sie zu warnen, kann allerdings den Gang des Schicksals nicht ändern, durch den sie schließlich von einem herabfallenden Eiszapfen getötet wird.41 39 Terc 1964, S. 37. „Wir werden diese Verfolgung indessen nicht fortsetzen, weil sie, wie an anderer Stelle dargetan, nicht durch Fakten untermauert ist. Sie war vielmehr das Resultat einer vom Volk erfundene Geschichte, die mit der Sage von Ilja Muromjez verglichen werden kann, der den Kampf des Menschen mit der Natur verkörpert“ (Terz 1966, S. 32 f.). 40 Sinjavskij 2002, S. 289; „в свою очередь предаются бессмысленному уничтожению“ (Sinjavskij 1992, S. 230). 41 Diese ungewöhnliche Todesursache könnte auf den Tod Lev Trockijs verweisen, der mit einem Eispickel erschlagen wurde.

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Deutlich verweist die erzählte Zeit auf den Stalinismus. Die Schreckensahnung einer neuen Eiszeit, die den Helden umtreibt, deutet sich bereits im Jahr 1928 in Form sommerlichen Schneetreibens als „ein böses Vorzeichen“ 42 an, was auf den Beginn des Ersten Fünfjahresplans und die endgültige Festigung der Diktatur anspielt. Eine zweite zeitliche Markierung wird gegen Ende der Erzählung mit dem Jahr 1953 gesetzt, dem Tode Stalins, in dem der Held seine Gabe verliert. Diese erweist sich somit als diagnostisches Mittel zur Deutung einer zivilisatorischen Eiszeit, die sich nur mit übernatürlichen Fähigkeiten adäquat beschreiben lässt. Die Figur des Oberst Tarasov, dessen gigantomanischen Plänen zur Erlangung der Weltherrschaft der Held durch seine Fähigkeiten den Weg bereitet, ist eine weitere Allusion auf die Diktatur. Tarasovs Seelenschau eröffnet eine bedrohliche genealogische Reihe über Tamerlan, Peter den Großen und Nietzsche hin zu gegenwärtigen Polizisten, Gefängniswärtern und Aufsehern, die „in das Dunkel der ältesten Kulturen“ 43 zurückverweist. Seine Beschreibung kulminiert in der Vorstellung eines gigantischen Eiszapfens, zu dem sich Tarasov auswächst, der von einer globalen Eiszeit kündet. Erneut wird in dieser Beschreibung die Deutung des Stalinismus als archaischer Anachronismus evoziert. In polemischer Abgrenzung zum historischen Materialismus wird in Gololedica eine alternative Geschichtssicht entwickelt, deren Leitprinzipien Chaos und Vielschichtigkeit lauten. Die Geschichten, die der Held über Visionen erfährt, sind „zusammenhangslos, ließen keinerlei System erkennen und es wollte mir [dem Verfasser und Helden der Erzählung] nicht gelingen, das eine meiner Leben von den anderen zu trennen, um sie alle in die richtige Ordnung in aufsteigender Linie zu bringen“.44 Geschichte erscheint als ein unzusammenhängendes RaumZeit-Kontinuum, als ein stetiges Fallen 45 ohne identitären und zivilisatorischen Halt. Der Mensch wird zum Substrat des Evolutionsprozesses, in dem sich von Fischen über Amphibien und Affen alle Etappen der anorganischen und organischen Evolution materialisieren. Diese Vorstellung ist unvereinbar mit der Idee der Individualität, sie ist eine „Fehlleistung unseres Sehens“.46 An deren Platz tritt die Idee des Menschen als synthetisches Produkt zivilisatorischer Mängel. 42 Sinjawskij 2002, S. 222; „дурная примета“ (Sinjavskij 1992, S. 181). 43 Sinjawskij 2002, S. 275; „во мглу древнейших культур“ (Sinjavskij 1992, S. 220). 44 Sinjawskij 2002, S. 244; „отрывочны, бессистемны, и мне никак не удавалось отделить одну мою жизнь от другой и расположить их в должном порядке, по восходящей линии“ (Sinjavskij 1992, S. 197). 45 Sinjavskij 1992, S. 223. 46 Sinjawskij 2002, S. 238; „опечатка нашего зрения“ (Sinjavskij 1992, S. 193).

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Die Revision der Historiographie

In den Vorbemerkungen und im Epilog wird die Funktion der Aufzeichnung einer solchen Geschichte dargestellt. Sie wird modelliert als Flaschenpost eines „Schiffbrüchige[n], der von dem ihm zugestoßenen Unglück berichtet“.47 Das hier angesprochene Unglück lässt sich lesen als Anspielung auf den Stalinismus, das Übertragungsmedium der Flaschenpost als Hinweis auf den prekären und machtfernen Überlieferungsstatus dieser Geschichte. Im Epilog wird die Literatur als privilegierte Instanz zur Bewältigung einer solchen katastrophalen Geschichte beschworen: Что делать? Как с этим бороться? Вот тут и приходит на помощь всемирная литература. Я уверен: большая часть книг – это письма, брошенные в будущее с напоминанием о случившемся.48

In Auseinandersetzung mit der berühmten Forderung Nikolaj Fedorovs, die Toten wieder auferstehen zu lassen, trägt der Epilog schließlich der Nachwelt eine alternative Aufgabe auf: die Erinnerung an die Toten, die Unterstützung der Sterbenden „in dieser letzten endgültigen Erniedrigung“.49

Archäologien des Untergrunds Neben der Evolutionsgeschichte bildet das Metaphernfeld der Archäologie in Ljubimov – laut Markesinis „the central metaphor on which the story turns“ 50 – eine weitere Quelle alternativer Historiographie. Es verweist auf nicht an der Oberfläche sichtbare historische Schichten und stellt einen distinkten historiographischen Auslegemodus dar. Letzterer kann mit Knut Ebeling als „radikale Repräsentationskritik“ 51 verstanden werden, die die „Auffassung [vertritt], daß eine Sprache nur dann adäquat betrachtet wird, wenn man das von ihr Ungedachte, Verdrängte, Ausgeschlossene mitbetrachtet“ (132). Der Archäologe hat nicht mit dem Realen, dessen Wahrheitswert in der nachmetaphysischen Kondition ohnehin nicht mehr gegeben ist (134), sondern mit dem Imaginären zu tun (136), einer „substrahierende[n] Ergänzung dessen, was präsent ist durch 47 Sinjawskij 2002, S. 219. „Я пишу эту повесть, как потерпевший кораблекрушение сообщает о своей беде“ (Sinjavskij 1992, S. 179). 48 Sinjavskij 1992, S. 230. „Was soll man tun? Wie kann man dagegen angehen? Da kommt uns zu Hilfe – die Weltliteratur. Ich bin überzeugt: Der größte Teil der Bücher sind Briefe, als Mahnung an das Geschehene in die Zukunft geworfen“ (Sinjawskij 2002, S. 289). 49 Sinjawskij 2002, S. 293. „Нельзя бросать человека в этакой нищете, в этаком последнем и окончательном унижении“ (Sinjavskij 1992, S. 232 f ). 50 Markesinis 2010, S. 89. 51 Ebeling 2000, S. 130

Die Ausweitung der Geschichte61

das, was abwesend ist“ (136). In den vorangegangenen Paragraphen sind wir bei der Erörterung der Fußnoten bereits auf eine solche Form der Umkehrung von Wahrheitswerten gestoßen, in der die Idee einer die Wahrheit garantierenden, quasigöttlichen Erzählerinstanz durch Pluralisierung zurückgewiesen wird.52 Archäologie ist die erste historiographische Praxis, die im Vorwort der Povest’ erörtert wird. Die kommunistischen Machthaber schicken eine archäologische Expedition in die kleine Stadt, um in den Ruinen eines ehemaligen Klosters nach einem Goldschatz zu graben. Trotz erheblichen Aufwands findet man nur das Skelett eines alten Mönchs mit Zähnen wie ein Eber – ein grotesk-ironisches Symbol des Verlachens der Bemühungen der Kommunisten. Aus seiner archäologischen Praxis heraus entwickelt der Professor danach die Leitsätze einer faktenbasierten, methodisch angeleiteten und chronologisch argumentierenden Historiographie, deren Scheitern in der Erzählung exerziert wird. An einer späteren, semantisch hochaufgeladenen Stelle wird die Ruine als Symbol vorrevolutionärer Kultur zu einem historischen Mahnmal, das sich der Zerstörung widersetzt: А монастырская руина, напротив, воспламеняется жестокой фантазией и способна с угрюмой твердостью сносить увечья. Она еще издали машет и голосит: «Путник, помысли подле меня над загадками мироздания!» И вот мы из кресла перелетаем к руине …53

Anschließend an diese Sequenz setzt eine Invektive gegen die Kommunisten ein, die zu einer Anklage im Dienst der Bäume und Steine gegen die revolutionäre Hybris der Menschen wird. Ihres Funktionskontextes beraubt, wird die Ruine zu einem Möglichkeitsraum des Imaginären, zu einer Projektionsfläche des Phantastischen, wodurch sich kritische Potentiale ergeben. Die Phantastik wird zu einem wichtigen Faktor historiographischer Resilienz, die sich der Umwandlung des Vergangenen widersetzt. Aus der Vielschichtigkeit des historischen Prozesses resultiert schließlich auch eine bestimmte Methodologie, die sich von der anfangs etablierten traditionellen Praxis unterscheidet. Samson revidiert seine erste Anleitung und plädiert nun für ein „schichtweises“ Schreiben der Geschichte: 52 In seinem späteren Werk V teni Gogolja (Im Schatten Gogols, 1975) rechtfertigt Terc diesen Hang zu Fußnoten ebenfalls durch eine archäologische Metaphorik: „Меня тянет под землю – в скобки и в сноски“ (Terc 1981, S. 418). „Mich zieht es unter die Erde – hinter die Klammer und in die Fußnote“ (Terz 1979, S. 305). 53 Terc 1964, S. 108. „Die Ruine des Klosters hingegen wird von einer gewaltigen Fantasie durchglüht und vermag deswegen mit düsterer Härte die Verstümmelung zu ertragen. Schon von weitem winkt sie und ruft: Wanderer, ich gemahne dich an die Rätsel des Weltalls! Da verlassen wir den Sessel und fliegen zur Ruine hinüber…“ (Terz 1966, S. 147 f.)

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Die Revision der Historiographie Фокусы русской истории требуют гибкости, многослойного письма. Помните – на раскопках, в монастыре, один исторический пласт обнажается за другим: подметки от 18-го века, битые горшки от 16-го? Так и тут. Нельзя же все копать на одном уровне.54

Sofort fallen die verschiedenen ironischen Anspielungen auf kommunistische Praktiken ins Auge – die Verfremdung des Schlüsselwortes gibkost’ aus Lenins Dialektik,55 die spätere Anspielung auf die Zensur, deren Wünsche nach Korrektur erfüllt werden müssen, sowie die Hinweise auf Praktiken kollektiver Autorschaft kommunistischen Schreibens, wie man sie in der Entstehungsgeschichte berühmter Romane findet 56. An die Stelle der Homogenisierung der Geschichte tritt die Idee einer heterogenen Geschichte in Form eines Palimpsests verschiedener textueller 57 und materieller Schichten, die sich gegenseitig überlagern. Diese Überlagerung sorgt nicht für eine harmonische Synthetisierung der Zeitschichten, sondern für eine irritierende Überlagerung disparater Elemente, die sich nur mit den Mitteln der Phantastik einfangen lässt. Am deutlichsten wird dies in den Personenpalimpsesten in Gololedica, die sich nicht mit den etablierten Mitteln idiosynkratischer Charakterstudien, sondern nur mit erzählerischen Elementen (z. B. Tiervergleichen) aus der phantastischen Tradition erklären lassen. Wie ein späterer Essay Terc’ zeigt, liegt dieser Idee, über das Phantastische zur Wirklichkeit zu gelangen, die philosophische – und weit über den sowjetischen Kontext hinausreichende – Überzeugung zugrunde, es gebe ein ontologisches Primat der Kunst: На мой субъективный взгляд, всё это объясняется тем единственно, что в начало мироздания, природы, истории, общества и любого существа – заложено искусство. В начале было искусство, а потом уже наступила действительность.58 54 Terc 1964, S. 55 f. „Die Brennpunkte der russischen Geschichte erfordern Wendigkeit und eine vielschichtige Darstellung. Erinnern Sie sich, bei den Ausgrabungen im Kloster wurde eine historische Schicht nach der anderen freigelegt: Die Sohle stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Scherben vielleicht aus dem sechzehnten? So ist es auch hier. Man darf nicht nur auf einer Ebene graben“ (Terz 1966, S. 63). 55 Vgl. zu diesem Konzept Goerdt 1962. 56 Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicher die Entstehungsgeschichte von Michail ­Šolochovs Tichij don (Der stille Don, 1928 – 1940), vgl. hierzu die bahnbrechenden Arbeiten von Bar-Sella 1990/1991. 57 Hierin impliziert ist auch ein offensives Bekenntnis zu Intertextualität und zum Rückbezug auf klassische Texte der russischen Literatur. Ljubimov ist als intertextuelles Palimpsest komponiert und enthält eine Vielzahl solcher Bezüge. Artz (2003, S. 26) gibt einen Überblick. 58 Terc 1978, S. 118. „Meiner subjektiven Ansicht nach erklärt sich all dies einzig dadurch, dass am Beginn der Weltschöpfung, der Natur, der Geschichte, der Gesellschaft und jeder Existenz die Kunst liegt. Am Anfang war die Kunst und erst dann begann die Wirklichkeit.“

Die Ausweitung der Geschichte63

In dieser idealistischen Haltung gilt die Kunst als Basis und die Wirklichkeit dient als Überbau („nadstrojka“, 119) – in der Kunst lässt sich die marxistische Ordnung der Dinge also umkehren, so die radikale Konsequenz der archäologischen Metaphorik.

Von Sinjavskij zu Vojnovič – Ausweitungen und Einengungen phantastischer Historiographie im Spätsozialismus Die historiographische Logik von Andrej Sinjavskijs Phantastik ist transgressiver Natur. Sie revidiert nicht nur bis dato gültige historiographische Konventionen, sondern erweitert die Kategorientafel des historischen Erkenntnisprozesses. Konfrontiert mit einem Erbe, das sich in den Kategorien des Historismus nicht adäquat beschreiben lässt, experimentiert sie mit alternativen Erzählformen, deren Hauptmoment in einer Erweiterung bestehender Sinn- und Realitätsformen besteht. Sie erscheint diesbezüglich primär für die spätsowjetische Renaissance der Phantastik, die 1966 mit der verspäteten Veröffentlichung von Michail Bulgakovs Master i Margarita (Der Meister und Margarita) an Dynamik gewinnt und in den kommenden Jahren Schriftsteller wie Saša Sokolov oder Vladimir Vojnovič animiert, die ebenfalls in ihren Werken Phantastik und Historie verbinden.59 Insbesondere ein Vergleich mit Vojnovič zeigt dabei das spezifische metahistoriographische Potential von Sinjavskijs Frühwerk, kommt es bei Ersterem doch zu einer Überlagerung des Phantastischen durch das Satirische. Sein bekanntester Roman Moskva 2042 (Moskau 2042, 1986) ist eine Antiutopie, die den Leser auf eine phantastische Reise ins Moskau des Titeljahres führt. Der Schriftstellerheld Vitalij Karcev findet sich in einem grotesk deformierten, an den Stalinismus erinnernden Horrorstaat wieder, der von einem ominösen Genialissimus beherrscht wird, dessen Errungenschaften er in einem Reisebericht preisen soll. Als man von ihm verlangt, seinen künftigen Reisebericht umzuarbeiten, wendet sich das Blatt und er wird zum Staatsfeind. Ursache des Streits ist der Umgang mit dem großen Widersacher des Genialissimus, dem Schriftsteller Sim Simyč Karnavalov und seiner Anhänger. Diese an Solženicyn angelehnte Figur 60 hatte Karcev im Vorfeld der Reise instruiert, im Moskau

59 Mehr hierzu in Unterkapitel 1.3. Vgl. für eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung Peterson 1997 und Marsh 2007, S. 172 – 175. 60 Vgl. zu dieser – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sehr kontroversen – Parodie des Nobelpreisträgers Ryan-Hayes 1994.

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der Zukunft seine Schriften zu verbreiten. Obgleich er diesen Auftrag ignoriert, weigert er sich, Karnavalov aus seinen Aufzeichnungen zu tilgen, was zum Konflikt mit dem Genialissimus führt. In der Polemik mit dem Exilschriftsteller Karnavalov zeigt sich die kritische Stoßrichtung des Romans, wenn dessen mit moralischer Monstranz vorgetragener Kampf gegen den Kommunismus als Heuchelei entlarvt wird, die den gleichen autoritären, undemokratischen und größenwahnsinnigen Idealen verhaftet bleibt wie die Kommunisten. Moskva 2042 ist eine Absage an das ganzheitliche, naiv einer historischen Wahrheit verpflichtete Projekt Solženicyns sowie an das die Sowjetunion und das stalinistische Erbe verkörpernde literarische Projekt des Genialissimus. Das Problem der adäquaten Schilderung historischer Ereignisse schrumpft im Roman jedoch auf die bloße Haltungsfrage zusammen, wie man sich am besten einer totalitären Freund-Feind-Philosophie entzieht, die zwangsweise die offene Manipulation der Vergangenheit zur Folge hätte. Es wird nicht – wie bei Sinjavskij – zu einem epistemischen Problem. Unter Absage an das mimetische Ideal heißt es bei Terc am Ende seines Essays über den Sozialistischen Realismus: „думать, строить догадки, предполагать“. Dem entgegengesetzt steht die faktophile Äußerung des Erzählers bei Vojnovič im Schlussdialog mit Karnavalov: „Это заглотчики думают, что кого хочешь можно в историю вписывать, а кого хочешь – выписывать. А я-то знаю, что это никак невозможно.“ 61 Vojnovičs Roman bleibt in seiner moralisierenden Historiographie(kritik) einem Kunstverständnis verpflichtet, das gegenüber dem spezifisch literarischen Umgang mit der Wirklichkeit blind bleibt, nämlich eine Alternative nicht nur gegen das Bestehende, sondern jenseits des Bestehenden zu entwerfen. Revisionistisch ist diese Prosa nur im politischen Sinne, nicht aber in einem ästhetischen.

1.2  Gescheiterte Geschichte – Historische Ordnungsverluste bei Jurij Trifonov und Vladimir Tendrjakov Während das Werk Jurij Trifonovs zu seinen Lebzeiten und denen des sowjetischen Staates zu den meistdiskutierten zählte,62 ebbte das Interesse an ihm mit dem Ende der Sowjetunion ab. Der Autor gehörte nun zu den 61 Vojnovič 1987, S. 337. „Diese Höllenhunde glauben, man könnte in die Geschichte nach Belieben jemanden hineinschreiben oder wieder streichen. Ich aber weiß, daß das ganz und gar unmöglich ist“ (Woinowitsch 1989, S. 436). 62 In Bezug auf historische Problematiken war die Kritik dominiert von äsopischen Les­ arten, was sich insbesondere in der Beschäftigung mit seinem zu Lebzeiten bekanntesten

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­Repräsentanten eines alten Realismus, dessen ästhetische Kraft aufgebraucht zu sein schien.63 Verglichen mit der publizierten sowjetischen Literatur schien Trifonovs Prosa ambitioniert, im Vergleich mit neuen, postmodernen Erzählverfahren und kühnen inhaltlichen Revisionen allerdings altmodisch. Im Zuge der Neubetrachtung der spätsozialistischen Epoche haben sich mittlerweile neue Forschungsansätze herausgebildet. Biographisch untermauert haben sie die Themenpalette um Aspekte wie Konsum 64 oder Architekturund Stadtgeschichte 65 erweitert, verbleiben dabei allerdings innerhalb eines Untersuchungskontexts, der den Spätsozialismus vor allem als abgeschlossene ­historische Epoche betrachtet. In Differenz hierzu nimmt dieses Unterkapitel eine epistemologisch orientierte Analyselinie auf, die Raoul Eshelman bereits in den 1990er Jahren skizziert hat. Eshelman vertritt die These, dass „die unscheinbare, offiziell zugelassene oder geduldete Literatur der Chruščev- und Brežnevzeit […] die ersten epochentypischen Innovationen [erbrachte], die von der Neoavantgarde später programmatisch ausformuliert und künstlerisch zugespitzt wurden“.66 Welche Innovationen dies sind, soll am Beispiel des historiograpischen Realismus der späten Sowjetunion aufgezeigt werden. Leitbegriff der Analyse ist das Scheitern. Scheitern kann mit Matthias Junge als „temporäre oder dauerhafte Unverfügbarkeit“ 67 verstanden werden. Scheitern ist ein „Grenzbegriff, vor dem sich Ordnung und die Auflösung von Ordnung rekonstruieren lassen“ (21). Im vorliegenden Fall steht das Scheitern historischer Erkenntnisbildung im Fokus. Scheitern wird dabei praxeologisch als Erfolglosigkeit bestimmter historiographischer Handlungen (Forschen, Schreiben) verstanden, aber auch als Scheitern allgemeiner Erkenntnis- und Erfolgsversprechen. Es kann differenziert werden als Scheitern an der, in der und der Gesellschaft. Während die ersten beiden Aspekte im Verhältnis von Alltag und Geschichte im Fokus stehen, adressiert die Auflösung chronologischer Ordnungsmuster und hierarchisch gegliederter Aussagepositionen ein Scheitern gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, das sich in der Prosa Trifonovs andeutet. Die Aporie der

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Roman Dom na naberežnoj (Das Haus an der Uferstraße, 1976) zeigt, vgl. Seifried 1990. Die Kritiker sahen in Trifonov einen Schriftsteller, dem es vorrangig auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit bei der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen ankam, vgl. hierzu auch Russell 1988. Lipovetsky 2000, S. 140 – 146. Sutcliffe 2019. Leving 2005. Eshelman 1995, S. 283. Junge 2004, S. 23.

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Theoretisierung von Geschichte weist somit schließlich hin auf die Aporie der Versuche, die spätsowjetische Gesellschaft zu (be-)schreiben.68 Der innovative Charakter des Werks Trifonovs lässt sich abgrenzen von einem tendenziell restaurativen Realismus, der im Anschluss an die Klassiker des 19. Jahrhunderts einen epistemologisch und ästhetisch traditionalistischen Kurs einschlug. Vertreter jener Entwicklungslinie sind Autoren wie Vasilij Grossman, Anatolij Rybakov und Aleksandr Solženicyn. Ihre (verzögert publizierten) Werke erreichten während der Perestrojka große öffentliche Aufmerksamkeit, sind aus metahistoriographischen Gesichtspunkten aber weitgehend uninteressant. Das Werk Trifonovs repräsentiert hingegen einen innovativen Wandel in der inhaltlichen und formalen Gestaltung historischer Stoffe. Spätestens mit seinen Moskauer Novellen wird die Beschäftigung mit Geschichte zu einem der bestimmenden Themen seiner Prosa.69 In diesen Werken entfaltet der Autor die Grundthemen seines historischen Schaffens: das Verhältnis von Erinnerung und Geschichte, die Unmöglichkeit des Zu-EndeSchreibens von Geschichte(n), die kritische Beschäftigung mit umstrittenen Perioden der (vor-)revolutionären Geschichte, die Verknüpfung von Alltag und Geschichte sowie die Kritik des Kausalitätsprinzips. Innerhalb des späteren Werks ist eine Verschiebung hin von einer impliziten Thematisierung metahistoriographischer Aspekte über die Handlungsstruktur, Metaphern und die formale Gestaltung der Erzählebenen hin zu einer immer stärker explizit werdenden Metahistoriographie zu beobachten. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer Hinwendung zur sowjetischen Geschichte. Während sich die Historiker in den früheren Werken meist noch mit der vorrevolutionären Zeit beschäftigen, rücken in den späteren Werken immer stärker die revolutionäre Zeit und die stalinistische Periode in den Vordergrund.70 Sowohl in ihrer inhaltlichen Kritik als auch in Bezug auf formale und sprachliche Aspekte stellt der Roman Vremja 68 In Unterkapitel 3.1 beschreibe ich diese Hinwendung zum Scheitern als Resultat der Desillusionierung des beendeten Tauwetters, die sich bei vielen Vertreten der sogenannten Šestidesjatniki findet. 69 So heißt es bei Lejderman/Lipoveckij (2006, S. 226): „Человек и История – эта связь стала центральной проблемой во всем последующем творчестве Трифонова до конца жизни.“ „Der Mensch und die Geschichte – dieses Verhältnis wurde zum zentralen Problem im Spätwerk Trifonovs bis zum Ende seines Lebens.“ Zu Trifonov als Historiker gibt es einige Vorarbeiten (Witheridge 1987; Brown 1988), die allerdings primär inhaltlich orientiert sind und weitestgehend die Handlungsverläufe der Erzählungen rekapitulieren. 70 Dominierend wird dieser Aspekt schließlich in dem unvollendet gebliebenen Roman Isčeznovenie (Das Verschwinden, 1987).

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i mesto (Zeit und Ort, 1980) innerhalb seines Schaffens den Schlussstein dar und bildet den Schwerpunkt der Analyse. Flankiert wird diese durch einen Blick auf Vladimir Tendrjakovs Roman Pokušenie na miraži (Anschlag auf Visionen, 1984, posthum veröffentlicht 1987).

Scheitern im und am Alltag Trifonov gilt als wichtiger Vertreter der sogenannten Byt-Prosa,71 und in der Tat ist die Alltagsproblematik mit ihren Sorgen wie der Suche nach einer neuen Wohnung, dem Beantragen einer Aufenthaltsgenehmigung oder Eheproblemen kaum von der Beschäftigung mit Geschichte zu trennen. Der Historiker Griša Rebrov, der im Zentrum der Erzählung Dolgoe proščanie (Langer Abschied, 1971) steht, kann sich kaum auf seine Nachforschungen über das 19. Jahrhundert konzentrieren, da ihm entweder die Schwiegermutter in den Ohren liegt, er Geld auftreiben muss oder mit Behördengängen beschäftigt ist. Sergej Troickijs histo­ rische Arbeit in Drugaja žizn’ (Das andere Leben, 1975) ist wesentlich geprägt vom Kampf um die Fertigstellung seiner Dissertation an einem von Intrigen geplagten Historischen Institut. Pavel Letunov, der im Roman Starik (Der Alte, 1978) auf seine alten Tage beginnt, die Geschichte des verkannten Bürgerkriegshelden Migulin neu zu schreiben, wird von familiären Streitigkeiten und dem drohenden Verlust seiner Datscha geplagt, während Saša Antipov in Vremja i mesto immer wieder von seiner Frau und seinen Freunden gedrängt wird, bei der Organisation der Neujahrsfeierlichkeiten zu helfen und zwischen den verfeindeten Gruppen der Moskauer Intelligenzija zu vermitteln. Hierbei handelt es sich nur auf den ersten Blick um banale Alltagssorgen. So unterstreichen viele der genannten Aspekte die enge Beziehung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und politisch-gesellschaftlichen Verpflichtungen. Sie verdeutlichen, dass Geschichtswissenschaft ein harter Broterwerb ist, in dem die Autoren zu (vor allem politischen) Kompromissen gezwungen werden. Gleichzeitig fragmentieren die alltäglichen Sorgen den Forschungs- und Schreibprozess. Kontinuierliche Arbeit an einzelnen Themen scheint unmöglich, ohne dass die Gegenwart ihre Ansprüche anmeldet. Diese können stimulierend wirken, wie der Brief, den seine einstige Liebe Asja Letunov in Starik schickt und der ihn zu 71 Trifonov hat sich in einigen Interviews auch selbst mit diesem während der Zeit oft pejorativ gefärbten Begriff identifiziert, vgl. für eine literaturgeschichtliche Einordnung im Rahmen der Literatur der 1970er Jahre Shneidman 1979, S. 25. Für eine Deutung der Byt-Problematik speziell bei Trifonov vgl. Woll 1991, S. 101 – 118.

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seinen Nachforschungen über den russischen Bürgerkrieg motiviert. Sie können aber auch lähmend wirken, wie die praktischen Herausforderungen, mit denen Rebrov in Dolgoe proščanie konfrontiert ist, die ihn schließlich dazu bewegen, seine historische Arbeit an den Nagel zu hängen. So impliziert die deutliche Betonung der Gegenwart für die Arbeit am Vergangenen die Konsequenz, dass eine Beschäftigung mit der Vergangenheit wesentlich von der Gegenwart und ihren Erfordernissen – seien diese nun privater, politischer oder erkenntnistheoretischer Natur – bestimmt wird. Die Lehre, dass alles mit allem zusammenhängt, die in Vremja i mesto im Mittelpunkt steht, lässt sich daher auch auf die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit und die Durchdringung von profanem Alltag und wissenschaftlicher Arbeit beziehen. Die Lasten des Alltags und hier insbesondere die Beziehungskrisen, in denen fast alle Helden Trifonovs sich verfangen, tragen zum Scheitern der historiographischen Projekte bei.72 Impliziter Angelpunkt aller Werke ist dabei die Frage, wie die Ideen der Revolution in den Stalinismus und die stumpfe Existenz der spätsowjetischen Zeit degenerieren konnten. Stets vermischen sich in Trifonovs Texten die Zeitebenen, das Heute wird vom Gestern dominiert und durchdrungen. Die Vergangenheit aufzuarbeiten und dann endgültig mit ihr abzuschließen, ist unmöglich.73 Dies lässt sich am Beispiel Letunovs in Starik zeigen, der unter Stalin repressiert und ins Lager geschickt wurde. Seine obsessive Beschäftigung mit dem Bürgerkriegshelden Migulin, dessen Rehabilitation er betreibt, spiegelt diese biographische Erfahrung, schuldlos politisches Opfer geworden zu sein, wider.74 Der Sinngebungsprozess der jeweiligen biographischen Erfahrung über diesen historischen Umweg gelingt jedoch nur teilweise. Zwar veröffentlicht der Romanheld 72 Die Beschäftigung der (männlichen) Helden Trifonovs mit Geschichte kann dabei auch als Flucht aus diesem Alltag in die Geschichte gelesen werden. Die Beschäftigung mit historischen Stoffen galt vielen Intellektuellen der Zeit als möglicher Fluchtraum, in welchem indirekt politische Kritik geäußert werden konnte, ohne sich öffentlich als Dissident positionieren zu müssen (zum äsopischen Schreiben bei Trifonov vgl. Seifried 1990; deutlich wird dies in Trifonovs historischem Roman Neterpenie (Ungeduld, 1973), in dem die Beschäftigung mit den Narodvol’cy die historische Folie der Auseinandersetzung mit den Sinnkrisen des Spätsozialismus bildet). 73 Nicht einmal Letunovs Tod in Starik führt zu einem Ende der Nachforschungen über das Schicksal Migulins, denn ein junger Historiker wird die von ihm begonnene Forschung weiterführen, wie wir gegen Ende des Romans erfahren. 74 Auf Trifonovs Vorschlag hin wendet sich auch Roj Medvedev in etwa zur selben Zeit der Biographie Filip Mironovs zu, des historischen Vorbilds Migulins (vgl. Martin 2019, S. 103). Dies unterstreicht, wie fließend die Grenzen zwischen einem reüssierenden Schriftsteller wie Trifonov und einem Vertreter dissidenter Historiographie, dessen Werk der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, waren.

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Letunov einen Artikel, der Migulins Verdienste würdigt, der große historische Wurf, der in der Veröffentlichung einer längeren Arbeit über die Umstände der Arbeit Migulins an der Südfront während des russischen Bürgerkriegs läge, wird jedoch nicht zum Abschluss gebracht. Wie wir erst auf der letzten Seite des Buches erfahren, steht dem vor allem die persönliche Mitschuld Letunovs am Tode Migulins entgegen: Истина в том, что добрейший Павел Евграфович в двадцать первом на вопрос следователя, допускает ли он возможность участия Мигулина в контрреволюционном восстании, ответил искренне: “Допускаю”, но, конечно, забыл об этом, ничего удивительного, тогда так думали все или почти все, бывают времена, когда истина и вера сплавляются нерасторжимо, слитком, трудно разобраться, где что, но мы разберемся.75

Seine Schuld liegt letztendlich darin, Teil eines totalitären Systems gewesen zu sein, innerhalb dessen man nicht persönlich integer bleiben konnte. Hierbei wendet sich Trifonov auch gegen die dominante Diskursposition, nach der es zwar persönliche Ungerechtigkeiten und politische Fehler gegeben habe, dies jedoch nicht zur Diskreditierung der allgemeinen Entwicklung des Landes führen dürfte. Dieser Form der Sinngebung persönlichen Leids und erlittener Ungerechtigkeit verweigert sich Letunov. Diese spezifische Form der ‚Alltagsgeschichte‘ reflektiert die verbreitete generationale Erfahrung der Zerteilung der Biographie durch politische Repression, erzwungene Ortswechsel und existentielle Krisenerfahrungen. Die manische Beschäftigung seiner Helden mit der Geschichte spiegelt Trifonovs eigenes Interesse wider, mehr über die (Hinter-)Gründe der sowjetischen Entwicklung zu erfahren.

Polyphone Punktierungen Während die frühen Romane Trifonovs und auch sein späterer historischer Roman Neterpenie (Ungeduld, 1973) chronologisch aufgebaut sind, experimentiert er in Vremja i mesto mit einer horizontalen Sujetlogik, die auf eine Hierar­ chisierung einzelner Zeit- und Raumelemente sowie auf einen teleologischen 75 Trifonov 1986c, S. 605 f. „Die Wahrheit ist, dass der gute Pawel Jewgrafowitsch im Jahre einundzwanzig auf die Frage des Untersuchungsrichters, ob er eine Teilnahme ­Migulins an einem konterrevolutionären Aufstand für möglich halte, aufrichtig geantwortet hatte: „Ich schließe es nicht aus“, doch das hatte er natürlich vergessen, kein Wunder, damals dachten alle oder fast alle so, es gibt Zeiten, in denen Wahrheit und Glauben unauflösbar verschmelzen, zu einem Block, und es ist schwer herauszubekommen, wo das eine anfängt und das andere aufhört“ (Trifonow 1984, S. 239).

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Abschluss verzichtet.76 Die Vielzahl unterschiedlicher Chronotopoi, die Trifonov dem Leser präsentiert, kreiert eine fast rhizomatisch anmutende Struktur,77 in der alles mit allem verbunden ist. In einem Interview hat Trifonov das folgendermaßen beschrieben: Jedes Kapitel des Romans Zeit und Ort ist eine Novelle, die auch einzeln, autonom existieren kann, zugleich aber gehören auch alle Kapitel zusammen. Sie werden nicht nur durch die Romangestalten, sondern auch durch die Kette der Zeit vereint.78

Für diese Form des Sujetaufbaus hat Trifonov im Anschluss an Andrej Bitov die Bezeichnung roman punktir gewählt. Dieses Genre zeichnet sich laut S­ chuchart durch eine montageartige Anordnung einzelner Episoden aus, die lose miteinander verbunden werden, deren Gesamtsinn aber unbestimmt bleibt.79 Verbindungen können durch räumliche und zeitliche Parallelen, durch ähnliche moralische Fragen oder durch formale Äquivalenzen erzeugt werden. Auf diese Weise entsteht bei der Lektüre eine Spannung zwischen dem konkreten Einzelereignis, der jeweils behandelten autonomen Erfahrung und der gegenseitigen Verbindung der Einzelereignisse.80 76 Vgl. auch Leiderman/Lipoveckij 2006, S.  258. „В своих последних работах Трифонов, убеждаясь в иллюзорности вертикальных связей (прошлое – настоящее, Большая История – быт, власть народ и т. п.), настойчиво возвращается к связям горизонтальным.“ „In seinen letzten Arbeiten kehrt Trifonov, überzeugt von der Illusionshaftigkeit vertikaler Verbindungen (von Vergangenheit und Gegenwart, Großer Geschichte und Alltag, Macht und Volk usw.), zu horizontalen Erklärungsmustern zurück.“ Auffallend ist hier der Kontrast zu Sinjavskij. Während bei diesem eine vertikale Metaphorik (v. a. Archäologie) zum Medium der Metahistoriographie wird, ist die Problematisierung historischer Erkenntnis bei Trifonov Effekt horizontaler Pluralisierung. 77 Die Analogie zum Rhizombegriff von Deleuze und Guattari zieht u. a. Eshelman 1997, S. 159 – 163. Allerdings lässt sich diese Analogie auch kritisch reflektieren. Denn das durchaus auszumachende prozessuale, rhizomatische Moment des roman punktir bei Trifonov, das vor allem durch die gegenseitige Durchdringung der Ebenen und Hierarchien (zwischen Figuren, zwischen Ereignissen, zwischen epistemischen Paradigmen) erzeugt wird, tritt letztendlich zurück zugunsten eines resultativen Moments, das in der Verbindung der Einzelereignisse eine allumfassende Totalität generiert, die eine Art „genetische[r] Achse[] oder Tiefenstruktur“ (Deleuze/Guattari 1977, S. 20) darstellt, deren Fehlen gerade die Charakteristik des Rhizoms ist. 78 Schröder 1981a, S. 152, Hervorhebung im Original. 79 Vgl. hierzu den konzisen Überblick zum Genre mit einer Verknüpfung zur Dialogizitätstheorie Bachtins bei Schuchart 2004, S. 16 – 20. Zu einer ausführlichen Analyse der Komposition von Trifonovs Roman vgl. Scheffler 1998. 80 Die Idee der punktierten Linie steht dabei in einer Spannung zur Leitmetaphorik der slitnost’ (Verschlungenheit) bei Trifonov. Denn während die Idee des roman punktir auf

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Rahmungssequenzen nehmen im Werk Trifonovs eine entscheidende Rolle ein.81 Außerhalb der geschilderten Haupthandlung angesiedelt, setzen sie den Ton des Werkes bzw. Kapitels und erzeugen metaphysische Tiefe. So kreieren die kurzen Rahmensequenzen in Dolgoe proščanie eine nostalgische Grundatmosphäre, die sich durch den ganzen Roman zieht.82 Durch die Auffächerung der Rahmensequenzen, wie sie in Vremja i mesto praktiziert wird, wird die Dezentrierung der Haupthandlung betrieben und die Aufmerksamkeit des Lesers auf Prozesse der Rahmung und Narration gelenkt. Am deutlichsten geschieht dies im Kapitel Das Ende des Winters am Trubnaja-Platz. In der kunstvollen Verknüpfung von Stalins Begräbnis und der Geschichte einer Abtreibung, die Antipovs Frau Tanja wegen eines nicht akzeptierten Manuskripts Antipovs vornehmen zu lassen beschließt, aber schlussendlich doch verweigert, entwirft Trifonov ein Tableau, das durch den zyklischen Übergang der Naturkräfte bestimmt wird. Dem Ende eines Zyklus, das durch die Begräbnisfeierlichkeiten und die dortige Massenhysterie versinnbildlicht wird, setzt das Kapitel die Ankunft eines neuen Lebens entgegen. Den Rahmen des Kapitels bildet die Geschichte des Hauses, in dem die Episode spielt. Als Beobachterin zweiter Ordnung fungiert eine alte Bewohnerin, die die über 140 Jahre alte Geschichte des Hauses verkörpert und die dem Lauf der Geschichte nur ihre Tränen entgegensetzen kann. Der Held tritt hier nicht länger als Gestalter der Geschichte auf, sondern befindet sich ihr gegenüber in einem passiven Verhältnis ohne Handlungsmacht. Solche Rahmungen üben im Roman verschiedene Funktionen aus: Sie dienen als Mittel der Perspektivierung,83 als kontrapunktische Gegenüberstellung verschiedener Zeitregime 84 oder als metafiktionale Kommentierung.85

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den fragmentierten Charakter der vergangenen Geschichte verweist, spielt der Begriff slitnost’ auf einen Prozess des Fließens und auf eine mythische Einheit des Seins an. Sally Dalton-Brown bemerkt hierzu: „The typical Trifonov text of the mature period, with the exception of Neterpenie (“Impatience”, 1973), has a siuzhet which is therefore constructed in the form of a swift-paced retrospective interspersed with episodes from the contemporary time scale. […] Such preambles, in which the vocabulary chosen also emphasizes the pervading presence of time, set the exhausted, nostalgic tone which leads into the character’s attempt to discover what has caused him to end up like this“ (Dalton-Brown 1993, S. 711). Vgl. hierfür meine Analyse dieser Rahmensequenz in Günther 2018a. Im Kapitel Zentral-Park, das mit einer perspektivischen, subjektiv dominierten Situationsbeschreibung beginnt. V. a. im Kapitel Das Ende des Winters am Trubnaja-Platz. Im Anfangskapitel Strände der dreißiger Jahre.

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Die montageartige Anordnung des roman punktir und die zentrale Rolle von Binnenrahmungsverfahren werden durch eine polyphone Erzählweise unterstützt, die ebenfalls den Text pluralisiert.86 Diese Entwicklung kulminiert in Vremja i mesto, in welchem die Durchdringung der einzelnen Ebenen und der rasche Wechsel der Erzählstimmen ihren Höhepunkt erreichen. Die einzelnen Episoden im Leben Antipovs erhalten eine jeweils eigene Stimme und Logik. Die vergangenen Lebensabschnitte sind nicht wie in einem klassischen Bildungsroman auf die Entwicklung und geistige Reifung des Haupthelden gerichtet, sondern stehen für sich. Im eben diskutierten Romankapitel entsteht Polyphonie durch den Kontrast von historischem Ereignis (Stalins Beerdigung) und privater Dramatik. Die private Erfahrung befindet sich dabei nicht im Schatten der historischen Entwicklung, sondern folgt jeweils eigenen Emotionen und Schwerpunktsetzungen. Ebenfalls zum polyphonen Eindruck trägt die Schilderung der Vielzahl kaum korrespondierender Perspektiven in Antipovs Kommunalka ein. Wenn in einer Szenerie höchster Anspannung durch den Tod Stalins und einer bevorstehenden Abtreibung der Fokus plötzlich auf eine Frau gerichtet wird, die Fleisch durch den Fleischwolf dreht, oder die Geschichte der Vormieter eines Zimmers erzählt wird, wirkt dies möglicherweise als Digression. Diese Abschweifungen stehen aber im Dienst der Gegenüberstellung von Alltag und Geschichte, zwischen deren Logiken Trifonovs Helden changieren.

Scheitern am Schreiben Trifonovs Helden Rebrov, Troickij und Antipov verbringen viel Zeit in Archiven und sammeln eine große Menge historischer Materialien, scheitern aber alle daran, ihre gesammelten Erkenntnisse in schriftliche Form zu gießen. Am deutlichsten wird dies bei Troickij in Drugaja žizn’, dem es einfach nicht gelingen will, seine Dissertation abzuschließen. Neben institutionellen Hindernissen, mit denen der Protagonist zu kämpfen hat, liegen diesem Umstand tiefere Probleme zugrunde. Das Sammeln von Materialien wird zur Manie, mit denen die Historiker versuchen, ihre jeweilige Perspektivität bei der Betrachtung der historischen Ereignisse zu überwinden. Doch ihr Ziel einer vollständigen, objektiven Sichtung und Zusammenfassung aller historischer Fakten erweist sich als unerreichbar. 86 Insbesondere Ralf Schröder hat in seinen Analysen zu Trifonovs Spätwerk den polyphonen Bewusstseinsroman als entscheidende Prägung der Erzählweise Trifonovs heraus­ gearbeitet und gegenüber der stalinistischen Tradition abgegrenzt (Schröder 1981b).

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Für Außenstehende ist dieses Dilemma kaum nachvollziehbar. Troickijs Gattin Ol’ga fragt sich: Почему нельзя посидеть усердно в архивах месяц, два, три, пять, сколько нужно, вытащить из гигантской очереди все, что касается московской охранки накануне Февраля, и добросовестно это вытащенное обработать? […] Сережа сидел в архивах с утра до вечера. Заполнил выписками тридцать шесть толстых общих тетрадей. Тридцать шесть! […] И все-таки чего-то ему не хватало – какого-то последнего знания, последнего опыта.87

Freilich gilt dieses Dilemma nicht für alle Historiker. Troickijs Konkurrenten gelingt es spielend, ihre Studien zu veröffentlichen. Trifonovs Helden suchen jedoch nach etwas anderem, nach einem letzten Wissen, einer letzten Erfahrung, einem letzten, alles verbindenden Prinzip. Über Troickij heißt es beispielsweise: „Он искал нити, соединявшие прошлое с еще более далеким прошлым и с будущим.“ 88 Gerade diese Fäden wollen nicht zusammenlaufen. Das letzte ­Wissen, das für die Entstehung eines historiographischen Gewebes nötig wäre, kann nicht erworben werden. Dies gilt auch für Personen, die sich über ihre Erinnerung historiographischen Fragen nähern. Als Asja im Roman Starik ihre gesammelten Erinnerungen über Migulin Letunov überlässt, überlegt dieser lange, wie er ihr in seinem Dankesbrief die Bedeutung dieser Dokumente für seine Arbeit erklären könne: Благодарю тебя за присланные содержательные воспоминания. В них я почерпнул очень много интересного, раскрывающего … Тут он надолго задумался, какое применить выражение: «всю историю», или «весь ход», или же просто «события». Однако, призадумавшись покрепче, решил написать «некоторые подробности».89

87 Trifonov 1986b, S. 297. „Warum kann man nicht konzentriert, zwei, drei, fünf, oder so viele Monate wie auch immer in den Archiven sitzen, alles, was man für die Arbeit an der Geschichte der Moskauer Ochrana [zaristische Geheimpolizei] am Vorabend der Oktoberrevolution braucht, aus dem gigantischen Quellenkorpus exzerpieren und dann guten Gewissens mit diesen Exzerpten arbeiten? […] Serjoscha saß von früh bis spät in den Archiven. Er füllte mit seinen Anmerkungen 36 dicke Hefte. 36! […] Aber dennoch fehlte ihm irgendetwas, irgend ein letztes Wissen, eine letzte Erfahrung“ (Trifonow 1976a, S. 119). 88 Trifonov 1986b, S. 300. „Er suche nach den Fäden, die das Vergangene mit dem noch ferner Vergangenen sowie dem Kommenden verbanden“ (Trifonow 1976a, S. 122). 89 Trifonov 1986c, S. 565. „Dank dir für die Übersendung deiner reichhaltigen Erinnerungen. In diesen habe ich viele interessante Sachen entdeckt, die die … zeigen … An dieser Stelle dachte er lange nach, welchen Ausdruck er benutzen solle: ‚die ganze Geschichte‘, oder ‚die ganze Sache‘, oder einfach ‚die Ereignisse‘. Als er jedoch intensiver nachdachte, entschloss er sich zu schreiben: ‚einige Ergänzungen‘“ (Trifonow 1984, S. 192).

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An die Stelle eines historischen Gesamtbildes tritt ein fragmentiertes Geschehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind so eng miteinander verschränkt, dass die Einzelbetrachtung einer Ebene nicht mehr möglich ist. Wenn alles mit allem unentwirrbar zusammenhängt, lässt sich auch nicht mehr sinnvoll von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen sprechen, die von einer Hierarchie der Einzelereignisse und der Urteilsfähigkeit der Historiker abhängen. In Vremja i mesto widmet Trifonov der Niederschrift der Geschichte besondere Aufmerksamkeit, wenn er diese Frage in den Mittelpunkt des längsten Kapitels des Romans Das neue Leben am Stadtrand rückt. Es handelt von Antipovs schriftstellerischem Hauptprojekt, einem Roman über das Schaffen des Schriftstellers Nikiforov. Die Episode ist als Mise en abyme komponiert: „Но дело в том, что ‚Синдром Никифорова‘ не просто роман о писателе, а роман о писателе, пишущем роман о писателе, и даже более того.“ 90 Bereits der Titel des Romanprojekts verweist auf dessen pathologischen Charakter. Das Aufschreiben der Geschichte Nikiforovs, die gleichzeitig die Geschichte Antipovs und Trifonovs selbst darstellt, gelingt nicht. Dies liegt – wie auch in den ähnlich gelagerten Fällen der anderen Historikergestalten in Trifonovs Œuvre – nicht an fehlendem Material oder fehlender schriftstellerischer Kompetenz. Es geht nicht um eine allgemeine Schreibblockade, sondern um eine spezifische Blockade, die beim Aufschreiben von Geschichte entsteht. So oft Antipov anhebt, am Roman zu schreiben, bricht seine Kreativität ab und seine Versuche enden in der Aporie dreier Punkte. Auf den ersten Blick scheint das vor allem mit der biographischen Grundierung des Erzählstoffs zu tun zu haben. Antipov schreibt seine eigene Geschichte nieder, die sich nicht zusammenfügen und zusammenschreiben lässt (nesočinivšejsja žizni).91 Das zentrale historiographische Problem liegt jedoch jenseits dieser subjektiven Identitätskrise. Denn jedes Aufschreiben von Geschichte ist mit einem Akt des Auslöschens von Bedeutung verbunden. Die unerschöpfliche Fülle historischer Materialien, die unsagbare Komplexität der Reflexion über Perspektivierungen und die unbeendbare Suche nach einem Ort geschichtlicher Wahrheit blockieren jedes Schreiben von Geschichte. Dieses Auslöschen von Bedeutung ist gemeint, wenn vom todbringenden Papier („smertonosnaja bumaga“)92 die Rede ist, das alle Kreativität abtötet. Schreiben über Geschichte macht krank 90 Trifonov 1987b, S. 469. „Aber ‚Das Nikiforow-Syndrom‘ war nicht einfach ein Roman über einen Schriftsteller, sondern ein Roman über einen Schriftsteller, der einen Roman über einen Schriftsteller schriebt, der auch …“ (Trifonow 1983, S. 343). 91 Trifonov 1987b, S. 468, Hervorhebung im Original. 92 Trifonov 1987b, S. 468.

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und kann – wie im Extremfall Sergej Troickijs im Roman Drugaja žizn’ – sogar tödlich verlaufen. Paradoxerweise sind alle historisch arbeitenden Protagonisten dennoch nicht in der Lage, ihre historische Arbeit aufzugeben. Denn das Schreiben über Erinnerung und Geschichte verleiht auch magische Kräfte 93 und ist schlussendlich gleichbedeutend mit Leben: Надо ли вспоминать? Бог ты мой, так же глупо, как: надо ли жить? Ведь вспоминать и жить – это цельно, слитно, не уничтожаемо одно без другого и составляет вместе некий глагол, которому названия нет.94

Antipov ist nicht der Einzige, der im Roman zwischen dem Zwang zum Schreiben und der Unmöglichkeit des Niederschreibens des Vergangenen hin- und hergerissen ist. Im zweiten Kapitel wird die Biographie Stanislavs erzählt, der sich intensiv mit der Geschichte des Moskauer Zentralparks auseinandergesetzt hat. Er ist von dessen Geheimnissen fasziniert, wird aber von seinen Zeitgenossen nicht verstanden: Никто не желал вникать в его писания, считая их вздором безумца, да, может, они таковы и были, а когда он собирал свои книги в портфель и уходил куда-то с важным видом, мы с Левкой хихикали.95

Am Ende des Kapitels erfährt der Leser, dass Stanislav kurz darauf in ein Irrenhaus 96 eingeliefert wird und schließlich im Krieg stirbt. Alles, was von ihm bleibt, ist ein unvollendetes Manuskript: В конце рукописи, писанной чернилами, была странная запись карандашом большими неровными буквами: «Но нет прекраснейшего, чем …» – и дальше следовали пустые страницы и полная неизвестность.97 93 „Никифоров знал магическую силу пи сани я, которое притягивает к себе жизнь“ (Trifonov 1987b, S. 485). „Nikiforow kannte die magische Kraft des Schreibens, das das Leben an sich zieht“ (Trifonow 1983, S. 368, kursiv im Original). 94 Trifonov 1987b, S. 260. „Muß man sich erinnern? Du lieber Gott, ebenso dumm ist die Frage: Muß man leben? Denn Erinnern und Leben ist untrennbar verbunden, das eine läßt sich nicht ohne das andere zerstören, und beides zusammen bildet einen Begriff, für den es keinen Namen gibt“ (Trifonow 1983, S. 18). 95 Trifonov 1987b, S. 268 f. „Niemand mochte sich mit seinen Schreibereien befassen, denn sie wurden als Unsinn eines Geistesgestörten angesehen, vielleicht waren sie das auch“ (Trifonow 1983, S. 31). 96 Das Irrenhaus als Ort historiographischer Produktion nimmt im postsowjetischen Russland eine Schlüsselrolle ein und bildet einen Chronotopos, der in seiner konstitutiven Bedeutung für das postsowjetische Geschichtsverständnis eigens untersucht werden wird, vgl. Unterkapitel 4.3. 97 Trifonov 1987b, S. 273. „Am Ende des mit Tinte geschriebenen Manuskripts stand eine sonderbare Eintragung mit Bleistift in großen, unregelmäßigen Buchstaben: „Doch es

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Die Struktur des Werkes erlaubt es, das Scheitern als autoreferentiellen Kommentar des Romans auf seine Beschäftigung mit der Geschichte zu beziehen. Stanislavs Aufzeichnungen enden genau an dem Punkt, an dem die ästhetische Verarbeitung von Geschichte ihre Grenze findet: das Vergangene lässt sich nicht benennen, es hat keinen Namen („glagol, kotoromu nazvanija net“) und bleibt deshalb unbekannt. Wer sich in den Strudel historiographischer Forschung verstrickt, verstrickt sich in einen historiographischen Agnostizismus und scheitert als Mensch und als Literat. Frieden findet nur, wer die Vergangenheit ruhen lassen kann. Werkbiographisch ist diese Entwicklung bemerkenswert. Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht Trifonov den Text Otblesk Kostra (Der Widerschein des Feuers), der wesentlich der Rehabilitation seines unter Stalin ermordeten Vaters gewidmet ist. In diesem Fall ist das Aufschreiben einer berichtigten Geschichte noch ganz der Wiederanknüpfung an die Wiedergewinnung der Revolution und ihrer Ideale geknüpft. Die Idee historischer Wahrheit, die durch das Aufschreiben von Geschichte gewonnen werden kann, ist hier noch intakt. In Starik wird ein ähnliches Projekt verfolgt, wenn Letunov einen in Ungnade gefallenen Bürgerkriegshelden rehabilitieren möchte. Doch diese Unternehmung ist schon weitaus problematischer. Letunov schließt sein Projekt zwar nicht ab, der Roman endet aber optimistisch, da ein Historiker sich Letunovs Aufzeichnungen aneignet und das Buch wohl vollenden wird. Das Aufschreiben historischer Wahrheit wird hier prekär, scheint aber nicht unmöglich. In Vremja i mesto scheitert schlussendlich die Beschäftigung mit Geschichte. Die Idee des Aufschreibens historischer Wahrheit wird verworfen: „Теперь правды не откопать. Сколько лет прошло.“ 98 Selbst bei großer Anstrengung – worauf die Verwendung des Wortes „otkopat’“ hindeutet – ist die Rekonstruktion der Wahrheit nicht mehr möglich. Der Leser weiß, dass die Neufassung des Romans, die Antipov zum Ende des Kapitels in Angriff nimmt, auch nicht gelingen wird.

Aporien der Ausdifferenzierung Eremina und Piskunov unterscheiden drei Dimensionen der Zeit bei Trifonov: die alltägliche Zeit, die historiographische Zeit und die existentiale Zeit.99 Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, wie Trifonov diese verschiedenen ­Zeitebenen gibt nichts Schöneres als …“ – und es folgten leere Seiten und absolute Ungewißheit“ (Trifonow 1983, S. 38). 98 Trifonov 1987b, S. 265. „Jetzt ist die Wahrheit nicht mehr auszugraben. So viele Jahre sind vergangen“ (Trifonow 1983, S. 26). 99 Eremina/Piskunov 1982, vgl. S. 45.

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auffächert und in einen Dialog bringt. Hinter der Kritik an der Historiographie steht dabei eine metaphysische Vorstellung von Geschichte als Schicksal und Vorsehung, die der menschlichen Erkenntnis und Beschreibung prinzipiell entzogen ist. Die metaphysische Totalität der Geschichte bricht in die Realität ein und entzieht sich dann wieder: Антипов смотрел вниз и не видел или, может быть, не понимал того, что видит. Что-то случилось с глазами: они выхватывали и отмечали все в отдельности, но не соединяли в картину. Сердце Антипова колотилось. Вдруг он стал догадываться; то, что открылось внезапно из окна, было вовсе не тысячною толпой, не бульваром, не криком раздавленных, не сумерками с холодным ветром, а – оползающим временем. Это время громоподобно катилось вниз, к Трубной. То, чего оползающим никогда увидеть нельзя. И время было нечеловеческим воем.100

Diese Formulierung ist kein Einzelfall, sondern kommt in variierter Form als einbrechender Gletscher (329), mächtiger Orkan (474) oder Polyp mit mächtigen Schlingpflanzen (484 f.) mehrfach im Roman vor. Für den Betrachter ist Geschichte dabei Labyrinth (470), Dschungel (261) und Nebel (514), ein Erkennen ist ausgeschlossen („nikogda uvidet’ nel’zja“).101 Diese Metaphoriken versinnbildlichen die Unverfügbarkeit der Geschichte, die als Naturkraft menschlicher Erkenntnis entzogen ist. Der Rückgriff auf Natur- und Wettermetaphern legt eine Deutung von Geschichte als Schicksalskraft nahe, die metaphysischer Natur ist. Auch Trifonovs Leitmetaphorik der slitnost’102 lässt sich metaphysisch lesen. Plausibel wird dies, wenn man eine oft angeführte Schlüsselstelle in Dolgoe proščanie betrachtet: „Правда во времени – это слитность, все вместе: […] Ах, если бы изобразить на сцене это течение времени, несущее всех, всё!“ 103 100 Trifonov 1987b, S. 424. „Antipov blickte hinunter, aber er bemerkte nicht oder begriff nicht, was er erblickte. Mit seinen Augen war etwas geschehen: sie erfaßten und sahen lauter Einzelheiten, verbanden sie jedoch nicht zu einem Bild. Sein Herz hämmerte. Plötzlich erriet er: Das, was sich ihm unvermutet vom Fenster aus darbot, war keineswegs die tausendköpfige Masse, war nicht der Boulevard, nicht das Geschrei der Erdrückten, nicht die Abenddämmerung mit kaltem Wind, sondern – die verrinnende Zeit. Es war die Zeit, die sich donnergrollend zum Trubnaja-Platz wälzte. Das was man niemals sehen konnte. Und die Zeit gab ein unmenschliches Geheul von sich“ (Trifonow 1983, S. 270). 101 Zur Interpretation der Naturmetaphorik Trifonovs in Bezug auf sein Zeitverständnis vgl. Weitensteiner 2004, S. 19 – 25. 102 Die von vielen Beobachtern als Schlüsselmoment seiner Geschichtstheorie interpretiert worden ist, so u. a. bei Lejderman/Lipoveckij 2006; Eshelman 1997 und Gillespie 1992. 103 Trifonov 1986a, S. 196: „die Wahrheit über die Zeit ist: sie ist ein Fluß, in dem alles zusammenkommt […] Ach, könnte man doch diesen Strom der Zeit, der alle und alles trägt, auf die Bühne bringen“ (Trifonow 1976b, S. 104).

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Auch hier zeigt sich eine der Erkenntnis verschlossene Totalität der Zeit als metaphysische Kontrastfolie zum menschlichen Zeitverständnis. Aufschlussreich ist es, diese Semantiken im Hinblick auf ihre Vorstellungen gesellschaftsstruktureller Einheit und Differenz zu lesen. Gezeigt werden soll dies anhand einer Episode aus dem Kapitel Twerskoi-Boulevard 4, in der A ­ ntipov mit der Abfassung eines Gutachtens in einem Plagiatsfall betraut wird. Der anfänglich eindeutig scheinende Fall wird zu einem unlösbaren Dilemma. Es erweist sich als unmöglich, die historische Wahrheit, eine gültige Bewertung des Falls zu liefern. Darüber hinaus verstrickt sich Antipov in einem Netz privater Abhängigkeiten. Beide Seiten des Prozesses versuchen auf ihn einzuwirken, ihn von ihrer Wahrheit zu überzeugen. Einerseits zeigt sich hier die Unmöglichkeit, ob der engen Verknüpfung der persönlichen Position des Schriftstellers mit seiner historiographischen Arbeit geschichtliche Wahrheit zu erkennen. Die historiographische Operation findet immer an einem sozialen Ort statt, sie hängt von einem Bezugssystem ab, von institutioneller Eigenlogik, persönlichen Überzeugungen und gesellschaftlichen Strukturen.104 Der literarische Zugang ist dabei nur einer von vielen möglichen Ansätzen. Немного обеспокоило Антипова вот что: рассуждения его были правильны с точки зрения большой литературы и истинной науки, а с точки зрения судейских крючков? Вдруг, подойдя буквоедски, можно все же определить, что плагиат налицо? На это, разумеется, можно сказать, что книжечки тридцать шестого тоже наверняка несамостоятельны и переписаны с какого-то еще более раннего серого. Но тут нужны раскопки. То, что казалось простым и ясным, стало слегка заволакиваться, чего-то главного не хватало, для того чтобы решительно заявить: плагиата нет.105

Die Konkurrenz verschieden gelagerter Geltungsansprüche im Bereich der Historischen ist nie endgültig zu entscheiden. Literarische, juristische oder geschichtswissenschaftliche Bearbeitungen und Sinngebungen des H ­ istorischen 104 Insbesondere Michel de Certeau hat diese vielfältigen Einschränkungen und Voraussetzungen einer jeden historiographischen Operation in seinem Werk Das Schreiben der Geschichte (de Certeau 1991) thematisiert, vgl. hierzu die Ausführungen in der Einleitung. 105 Trifonov 1987b, S. 389, Hervorhebung im Original. „Ein wenig beunruhigte ihn nur, ob seine Darlegungen, die vom Standpunkt der großen Literatur und der wahren Wissenschaft richtig waren, sich auch als juristisch hieb- und stichfest erweisen würden. Wenn nun eine haarspalterische Betrachtung ergäbe, daß es sich doch um ein Plagiat handelte? Darauf könnte er natürlich antworten, die Bücher von 36 seien wahrscheinlich ebenfalls nicht originär, sondern von etwas noch älterem Grauem abgeschrieben. Aber dazu mußte er Nachforschungen anstellen. Er brauchte Beweise. Das, was einfach und klar erschienen war, hüllte sich in leichten Nebel, etwas Wichtiges fehlte, um klarsehen und mit Entschiedenheit erklären zu können, es sei kein Plagiat“ (Trifonow 1983, S. 214).

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erzeugen spezifische Endprodukte, die nicht miteinander in Einklang gebracht werden können. Antipov löst dieses Problem, indem er die eigene moralische Überzeugung zur Richtschnur seines Gutachtens macht. Der Fall wird entschieden, aber es bleibt klar, dass die Lösung prekär ist und keinen Wahrheitsanspruch reklamieren darf. Grund dieses Autoritätsverlusts des Erzählers ist die konstitutive Polykontexturalität der Geschichte. Ein Schriftsteller kann lediglich bestimmte Aspekte des Vergangenen thematisieren, ein ganzheitliches Bild kann er nicht zeichnen. Die hier herausgearbeiteten metahistoriographischen Aspekte in Trifonovs Werk lassen sich demzufolge als reflexive Momente einer erzählerischen Verweige­ rungshaltung interpretieren, als narrativer Einspruch gegen die Anmaßung der Forderung nach einer dialektischen Synthese, in der das Vergangene mit seinem Leid und seiner Ungerechtigkeit hegelianisch aufgehoben werden soll.

Vladimir Tendrjakovs Pokušenie na miraži Wie Ralf Schröder berichtet, soll Vladimir Tendrjakov auf der Beerdigung Jurij Trifonovs gesagt haben, nun sei es an ihm, dessen Anliegen fortzuführen, und ihm daraufhin die Endfassung seines Romans Pokušenie na miraži überreicht haben.106 Tendrjakov und Trifonov hatten in der Spätphase des Stalinismus am Gor’kij-Literaturinstitut studiert und galten als kritische, aber nicht dissidentische Intellektuelle, die sich in ihrem Spätwerk auch thematisch annäherten. So finden sich in dem zu Tendrjakovs Lebzeiten nicht veröffentlichten Geschichtsroman 107 die gleichen Leitfragen wieder, die auch Trifonov beschäftigten: die Fragen nach dem Verhältnis von Alltag und Geschichte, dem Stellenwert der Religion in der spätsowjetischen Gesellschaft sowie nach den Möglichkeiten eines aus einem moralisch-didaktischen Selbstverständnis heraus operierenden Realismus als Mittel der Problematisierung der empfundenen Fehlentwicklungen der spätsowjetischen Gesellschaft. Die Einbettung der Handlung in ein konkretes historiographisches Setting schärft wie bei Trifonov den Blick für epistemische Fragen der wissenschaftlichen Beschreibbarkeit von Geschichte, ist dabei jedoch weniger biographisch inspiriert und verlagert durch die starke Bezugnahme auf die kybernetische Beschäftigung mit Geschichte den Fokus der Kritik von philosophisch-epistemischen Fragen hin zu wissenschaftstheoretischen Problemlagen. 106 Schröder 1989, S. 280. 107 Die auch hier zitierte Fassung erschien 1987 erstmals in der Sowjetunion; alle Übersetzungen nach Tendrjakow 1989.

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Obgleich Tendrjakovs Roman epistemisch weniger radikale Konsequenzen zeitigt und das Werk auch kompositorisch durch seine deutlich vernehmbare Autorenstimme Differenzen zu der polyphonen Prosa Trifonovs aufweist, lohnt sich ein Blick auf dieses bislang in der Forschung nur wenig beachtete Werk.108 Es stellt ein wichtiges Beispiel der Gattung der Metautopie dar, die eine Scharnierfunktion für die kritische Auseinandersetzung mit dem herrschenden Geschichtsverständnis ausübt und den Grundstein für die florierenden (Anti-)Utopien der postsowjetischen Zeit darstellt.109 Des Weiteren fügt sich Pokušenie na miraži ein in die – vor allem im Rahmen der Phantastik – florierende Diskussion um die Programmierbarkeit der Geschichte, deren wichtigstes populärkulturelles Zeugnis sicherlich Leonid Gajdajs Kultfilm Ivan Vasil’evič menjaet professiju (Ivan Vasil’evič wechselt den Beruf, 1973) darstellt.110 Eng damit verbunden ist die Frage 108 Die umfangreichste, allerdings in ihrer Ausrichtung für eine historiographische Analyse nur wenig ergiebige Studie, findet sich bei Šaumann 1990. Sally Dalton-Brown zieht in ihrer Analyse (Dalton-Brown 1995) im Hinblick auf das Sujet des Romans eine Parallele zu Tendrjakovs früheren literarischen Beschäftigungen mit Utopien in Putešestvie dlinoj v vek (Eine ein Jahrhundert lange Reise, 1963) und zu Tri meška sornoj pšenicy (Drei Sack Abfallweizen, 1977). 109 Metautopie wird hier verstanden im Anschluss an die Definition von Clowes 1993, S. 10, Hervorhebungen im Original: „What distinguishes meta-utopias from other alternative writing is their dual character as both ‚didactic‘ and ‚ludic‘ art. […] If a dystopian novel, such as We, envisions ‚utopia‘ as a single, exclusivist ideological system, which one either accepts or rejects, meta-utopian fiction entertains a number of possibilities that could be called ‚Utopian thinking‘. That is, it envisions Utopia in the plural as ‚Utopias‘. Moreover, in contrast to the dystopian ‚either/or‘, that is, either tyranny or anarchy, it countenances and challenges all kinds of authoritarian ideologies, each with its own vision of the ideal society, that insist on their own versions of tightness, justice, and truthfulness to the exclusion of all others. […] In short, metautopian writing has a much more complex and ambiguous view of Utopia than its dystopian counterparts.“ 110 Diese phantastisch anmutenden Sujets hatten eine reale Grundlage in der mathematischen Kybernetik der Zeit. Seit Beginn der 1960er Jahre hatten sich sowjetische Historiker intensiv mit dem Einsatz mathematischer Modelle in der Geschichtswissenschaft beschäftigt, um große Datenmengen verarbeiten zu können (Prudenko 2018, S. 79). Zu den möglichen Anwendungsbereichen zählten dabei neben der Dechiffrierung visueller und schriftlicher Daten auch die Modellierung historischer Prozesse. Hierzu erschien 1976 im Fachjournal Voprosy istorii ein programmatischer Aufsatz mit dem Titel Opyt imitacionnogo modelirovanija istoriko-social’nogo processa (Ustnikov/ Kuziščin/ Pavlovskij/­Gusejnova 1976), in dem eine detaillierte achtschrittige methodologische Anleitung für die historische Modellierung gegeben wurde. Hierfür sei ein folgenreiches Ereignis vonnöten, für das es genügend Daten geben musste, das am Beispiel eines ‚Systems‘, d. h. eines Staates untersucht werden konnte und dessen Zivilisation ein gewisses Niveau erreicht haben musste (vgl. S. 94). Als paradigmatisches Untersuchungsobjekt

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kontrafaktischer Geschichtsschreibung, deren Frühformen bereits in der spätsowjetischen Prosa beobachtet werden können. Pokušenie na miraži handelt vom Historiker Grebin, der mit seiner Frau in Moskau wohnt und an einem physikalischen Forschungsinstitut arbeitet. Nach der Lektüre eines evolutionsbiologischen Artikels über die Entwicklung der Wirbeltiere wird er dazu inspiriert, der Frage nachzugehen, wie sich die Geschichte der Menschheit ohne Jesus Christus entwickelt hätte. Hierfür versammelt er ein kleines Forschungsteam und programmiert mithilfe eines Computers eine neue Version der Weltgeschichte ohne Jesus.111 Der anfängliche Enthusiasmus des Teams wird im Laufe der Handlung immer stärker von ihren Alltagssorgen in der Familie, am Institut und mit ihrer eigenen Vergangenheit getrübt. Als Grebins Sohn Seva vom Militärdienst heimkehrt, sich als Utilitarist erweist und durch sein Verhalten einen Freund Grebins beleidigt, kommen diesem zunehmend Selbstzweifel, ob er seinem Leben den richtigen Sinn gegeben hat. Der Roman endet schließlich mit dem Tod von Grebins Mentor Golenkov, dessen Mahnungen auf dem Totenbett Grebin zum Umdenken zu bewegen scheinen. Das Experiment endet ohne klares Ergebnis.112 Tendrjakovs Roman zeichnet ein negatives Bild der sowjetischen Realität, die von geistiger Leere geprägt ist. Die Beschäftigung mit Geschichte wird hier zur schlussendlich ebenfalls vergeblichen Flucht aus dem Alltag, zum Versuch, der eigenen Biographie einen Sinn zu geben. Das Computerprojekt kann einerseits als philosophische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rolle wichtiger Persönlichkeiten in der Geschichte und mit der marxistischen Geschichtsphilosophie gelesen werden. Andererseits lässt sich seine Fragestellung aber auch als Suche nach den Ursachen der Degeneration des sowjetischen Projekts lesen, als implizite Auseinandersetzung mit der Rolle Stalins durch den Fokus auf die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten in wurde schließlich die griechische Sklavenhaltergesellschaft während des Peloponnesischen Kriegs ausgewählt. Es darf angenommen werden, dass Tendrjakov den Text kannte und die Idee des Sujets des Romans in Auseinandersetzung mit ihm konkretisierte. 111 Der Computer kreiert als Resultat fünf historische Legenden, die jeweils eine alternative Version der Geschichte liefern. So wird Christus von einem fanatischen Mob ermordet, Diogenes erklärt Aristoteles, warum das Übel der Menschheit mit dem fleißigen Ackerbauern begonnen habe, und Paulus nimmt nach seinem Erweckungserlebnis die Rolle von Christus ein. Weiter wird erzählt, wie ein römischer Gutsbesitzer scheitert, seine Sklaven menschenwürdig zu behandeln, bevor in einer letzten Legende geschildert wird, wie Campanella bei einem Besuch seines Sonnenstaates verhaftet wird und im Kerker stirbt. 112 Ralf Schröder berichtet, dass in der ursprünglichen Fassung ein versöhnliches Ende geplant gewesen sei, auf das Tendrjakov jedoch in der Druckfassung verzichtete.

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der Geschichte und als kritische Distanzierung zu den vermeintlichen historischen Entwicklungsgesetzen des Marxismus. Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Geschichte ist die Frage, ob sich die historische Entwicklung nach Gesetzen vollziehe, die experimentell erkannt werden könnten oder nicht. В других науках свои гадательные предположения ученые проверяют экспериментом. История же экспериментированию не поддается. Сама по себе она наиболее динамический процесс в природе. Историческая же наука, увы, едва ли не самая статичная из всех наук.113

Grebin hofft, diesen dynamischen Prozess mathematisch modellieren zu können: „Будут конкретные результаты, никак не гадательные. Оказывается, с неподвластно-величавой историей тоже можно проводить эксперименты.“ 114 Dieser anfängliche Optimismus wird jedoch schnell enttäuscht, da sich herausstellt, dass die Forscher auf diesem Wege nicht vom Fleck kommen. Miša, der im Forschungsteam die Alltagsvernunft verkörpert,115 bemerkt dies als Erster: „Буксует наше колесо, друг бесценный, не двигаемся с места. Гоняла, гоняла машину – и ни с места!“ 116 Was ist die Ursache jenes Scheiterns? Einer der Gründe ist die Rolle von Schmetterlingseffekten, deren Wirkung vom Forscher nicht vorhergesehen werden kann. Für solche kleinen Ereignisse verwendet Tendrjakov die Metapher des Tropfens, der sich – wie im Verlauf des Werkes mehrfach aufgegriffen – zu einem reißenden Strom entwickeln kann: Сноровистый земледелец, вырастивший вола, приспособивший его к сохе, – незаметное событие в истории. Столь же незаметное, как в огромной плотине, запрудившей большую реку, просочившаяся первая капля. Но за этой первой каплей, проложившей себе путь, пойдет вторая, третья, капля за каплей, и вот уже с­ лабенькая

113 Tendrjakov 1987a, S. 76. „In anderen Wissenschaften überprüfen die Gelehrten ihre Hypothesen durch Experimente. Mit der Geschichte aber läßt sich nicht experimentieren. Eigentlich ist sie der dynamischste Prozeß in der Natur. Die historische Wissenschaft jedoch ist leider fast die statischste aller Wissenschaften“ (Tendrjakow 1989, S. 38). 114 Tendrjakov 1987a, S. 77. „Statt Mutmaßungen werden wir konkrete Resultate erhalten. Es stellt sich also heraus, daß sich auch mit der unbotmäßigen erhabenen Geschichte experimentieren läßt“ (Tendrjakow 1989, S. 40). 115 Der junge Forscher Tolja steht für den klugen und gut ausgebildeten, moralisch aber orientierungslosen Repräsentanten der jungen Generation, Irina arbeitet als Ökonomin und steht für die Tendenz einer „aus charakterlichem Eigendünkel“ („charakter, podstegnutyj samomneniem“; 1987a, S. 90) betriebenen Ökonomisierung. 116 Tendrjakov 1987b, S. 93. „Wir haben uns festgefahren, mein Teurer, kommen nicht vom Fleck.“ „Du fütterst und fütterst den Computer und es geht trotzdem nicht vom Fleck!“ (Tendrjakow 1989, S. 129)

Gescheiterte Geschichte83 струйка, жалкий ручеек, который крепнет, ширится, превращается в большой поток, прорывающий плотину.117

Eine weitere Ursache für das Scheitern ist der Zufall: „История загромождена фатальными случайностями. […] Если случай фатален, то чего стоят закономерности, которые мы пытаемся улавливать в окружающем мире?“ 118 Dem Forscherteam ist es nicht möglich, sich überhaupt über den Gegenstand der Programmierung einig zu werden, täglich gibt es Streit um inhaltliche Bewertung und Selektionskriterien. Gelingt es schließlich doch einmal, sich einig zu werden, so endet jeder Versuch doch zwangsläufig in einer schematischen Vereinfachung: Карта – тоже своего рода модель прошлого, но крайне схематичная застывшая. Мы намерены создать модель действующую, которая должна развиваться по образу и подобию существовавшего мира. Но как ни схематична карта, мы и ее не в силах использовать целиком.119

Der Vergleich mit der Karte an dieser Stelle verweist auf ein grundsätzliches epistemologisches Problem über die Historiographie hinaus. Kein wissenschaftliches Modell ist in der Lage, die Komplexität der Welt abzubilden. Im Falle der Historiographie haben wir es sogar überhaupt nicht mehr mit einer wissenschaftlichen Operation zu tun. Denn was der Computer letztendlich generiert, sind Legenden. Diese Legenden sind aber gerade keine wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern literarische Zeugnisse und Mythen, die nur unter einem moralischen Gesichtspunkt relevant sind. Die Tendenz zur Mythisierung ist im Roman dabei 117 Tendrjakov 1987a, S. 87. „Der findige Ackerbauer, der einen Ochsen gezüchtet und vor den Hakenpflug gespannt hat, ist ein unauffälliges Ereignis in der Geschichte. Ebenso unauffällig wie der erste durchgesickerte Wassertropfen in einem gewaltigen Deich, der einen großen Fluß eindämmt. Aber diesem ersten Tropfen, der sich einen Weg gebahnt hat, folgt ein zweiter, folgt ein dritter, folgt Tropfen um Tropfen, und schon ist ein schwacher Wasserstrahl entstanden, ein kümmerliches Bächlein, das erstarkt, sich verbreitert, sich in einen großen Strom verwandelt, der den Deich durchbricht“ (Tendrjakow 1989, S. 61). 118 Tendrjakov 1987a, S. 87. „Die Geschichte ist voller schicksalshafter Zufälligkeiten. […] Wenn der Zufall schicksalshaft ist, was zählen dann die Gesetzmäßigkeiten, die wir in der Welt um uns herum aufzudecken versuchen?“ (Tendrjakow 1989, S. 61) Nicht ganz zufällig wird in dieser Passage auch Tolstoj erwähnt, der diese Geschichtsphilosophie in Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1865 – 1869) vertritt. 119 Tendrjakov 1987a, S. 106. „Die Karte ist eine Art Modell der Vergangenheit, wenn auch ein sehr schematisches, erstarrtes. Wir wollten ein lebendiges Modell schaffen, das sich nach dem Vorbild und dem Ebenbild der damaligen Welt entwickeln sollte“ (­ Tendrjakow 1989, S. 99).

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vor allem ein negatives Kennzeichen des Zeitalters, ein Resultat wissenschaftlicher Hybris, der sich vor allem die Physik schuldig gemacht hat: Наш XX век падок на сенсации, склонен к мифотворчеству. Физика, пожалуй, грешит этим больше других наук. В ней подчас даже невозможно отличить, что бредовый вымысел, а что серьезная научная гипотеза, то и другое выглядит одинаково невероятно.120

Diese Angriffe gelten, wie an einigen Stellen des Romans klar wird, der Entwicklung der Atombombe und der darin für den Erzähler symbolisierten Überschreitung des menschlichen Maßes. Es liegt nahe, auch das historiographische Projekt im Roman als Akt einer solchen Hybris zu lesen, denn auch der Forschungsleiter Grebin ist Physiker.121 Aus Grebins erfolgloser Programmierung entwickelt der Roman eine Moral der Selbstbeschränkung, die ihr Ideal in Grebins Frau findet, die sich für andere Menschen aufopfert, vor allem für ihren missratenen Sohn Seva. Grebins Tendenz zur Abstraktion, die ihm von seiner Frau in einem Dialog vorgeworfen wird,122 findet ihr Gegenbild in der tätigen Liebe der Ehefrau.123 Geschichtstheoretisch mündet der Roman in die Erkenntnis Grebins, dass letztendlich nicht Menschen die Geschichte programmieren können, sondern deren Objekte sind: Историю делают люди? … Но ведь история сама кует людей, как гигантов, так и пигмеев, героев и обывателей. Мы не созидатели всеохватного человеческого процесса, лишь участники его.124 120 Tendrjakov 1987a, S. 93. „Unser 20. Jahrhundert ist süchtig nach Sensationen und neigt zur Mythenbildung. Die Physik frevelt in der Beziehung wohl mehr als andere Wissenschaften. In der Physik ist es manchmal geradezu unmöglich, ein Hirngespinst von einer ernsthaften wissenschaftlichen Hypothese zu unterscheiden. Das eine wie das andere mutet gleichermaßen unwahrscheinlich an“ (Tendrjakow 1989, S. 73). 121 Die konkreten Bezüge bleiben dabei jedoch unklar. Welche Mythen Tendrjakov hier meint, wird nicht deutlich. Warum sollten die Atombombe oder die Wasserstoffbombe ein Mythos sein? 122 „Ты из тех, у кого большая голова и маленькое сердце. Ты отравлен абстрактной любовью …“ (Tendrjakov 1987a, S. 102). „Du gehörst zu den Menschen, die viel Verstand, aber wenig Herz haben. Du bist vergiftet von einer abstrakten Liebe“ (Tendrjakow 1989, S. 91). 123 Diese moralische Empfehlung ist eng an die Romane Dostoevskijs angelehnt, der ebenfalls kritisch mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Paradigmen umgeht und stattdessen die praktische Konkretheit tätiger Liebe propagiert. Dostoevskij ist freilich auch einer der wichtigsten Vorläufer für die Darstellung des Scheiterns gesellschaftlicher Gestaltungsideen und der Biographien ihrer Träger in der russischen Literaturgeschichte, der in der spätsowjetischen Zeit ein Revival erlebt. 124 Tendrjakov 1987b, S. 121. „Die Geschichte wird von Menschen gemacht? Aber die Geschichte selbst schmiedet doch die Menschen, Giganten und Pygmäen, Helden und

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Diese Auffassung erinnert an die historische Doktrin Tolstojs, spielt aber auch auf den Faust-Mythos an. Grebin entpuppt sich, wie er spöttisch mehrfach selbst bemerkt, als Terrorist, dessen hochtrabende Pläne letztendlich scheitern müssen. Sein Anschlag auf die Illusionen der Geschichte, der im Titel anklingt, wendet sich zuletzt gegen ihn selbst. Sein wissenschaftliches Ziel ist ein Trugbild und steht stellvertretend für die Ziele seiner Generation 125 und die Degeneration des Bolschewismus in der späten Stagnationszeit. Über diese Ebene hinaus spannt der Roman den Bogen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit utopischen Projekten im Allgemeinen. Insbesondere in der Episode mit Campanella – in der deutlich Dostoevskijs Legende vom Großinquisitor anklingt – weitet sich der Blick des Romans in Richtung einer generellen Utopiekritik. Utopische Entwürfe tendieren dazu, den Menschen zu verdinglichen und der Pedanterie vermeintlich intelligenterer, rationaler Planung zu unterwerfen. Der Roman wird hier zu einer Parabel der Aporien des menschlichen Fortschritts, dem Tendrjakov ein Plädoyer für humanistisches Verhalten und religiösen Glauben entgegensetzt. In Abgrenzung zu dieser Form moralistischer Kompensation, in der mit Georg Witte die „‚polyphone‘ Standpunktvielfalt der Texte […] als demonstrierte Relativität der ‚Abweichungen‘ gegenüber der ‚Übereinstimmung‘ im Prozeß des Textes vernehmbar gemachten moralischen Axiom[s]“ 126 fungiert, führt Trifonov in Vremja i mesto die Aporien einer verbindlichen Moralistik vor, einer Moralistik, der sich der Roman Tendrjakovs noch deutlich stärker verpflichtet sieht.

1.3  Historiographische Universalpoesie – Mauvistische Metahistoriographie Parodistische Erzählverfahren zählen zu den wichtigsten Wegbereitern metahistoriographischer Fiktion. Theoriegeschichtlich steht hierfür vor allem der Name Linda Hutcheons, die vor ihrer Poetik des Postmodernismus eine Theorie der Parodie vorlegt. Sie spricht dort von der Ubiquität der Parodie in allen Künsten des 20. Jahrhunderts 127 und widmet sich dem historischen Roman als einem ihrer Paradebeispiele. Hutcheon deutet die Hinwendung zur historischen Philister. Wir sind nicht Schöpfer des allumfassenden menschlichen Prozesses, sondern nur daran Beteiligte“ (Tendrjakow 1989, S. 190). 125 Dies kann man durchaus auch als Selbstkritik Tendrjakovs lesen, da die Identifikation des Autors mit dem Helden Grebin im Roman deutlich hervortritt. 126 Witte 1989, S. 170 127 Hutcheon 1985, S. 1 f.

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Parodie als Krise des modernen Subjektbegriffs (4 f.), der nicht länger auf eine fraglos gegebene Vergangenheit aufbauen könne, und sieht eine Analogie zu „views of certain contemporary historiographers: it offers a sense of the presence of the past, but a past that can be known only from its texts, its traces – be they literary or historical“.128 Parodie ist für Hutcheon „Wiederholung mit kritischer Distanz“,129 ein ironisches Spiel mit etablierten Konventionen, ein Modus der „Trans-Kontextualisierung“, mit dessen Hilfe sich Künstler mit der Vergangenheit auseinandersetzen (102). Die eher spielerisch orientierte Parodie grenzt sie von der Satire ab, die moralisch und sozial orientiert ist und eine Verbesserung von Zuständen anstrebt (16). Dies bedeutet nicht, dass die Parodie unpolitisch oder gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen unkritisch wäre. Der Modus der Kritik ist jedoch ein anderer und lässt sich heuristisch mit einer Unterscheidung Hutcheons als intramurale Parodie und extramurale Satire beschreiben (62). Während die Parodie innerhalb des Referenzsystems Literatur operiert und sich vorrangig mit Fragen wie der Gattungstradition, der Souveränität des Autors und der Geltung etablierter Handlungsstrukturen beschäftigt, erhebt die Satire einen normativen Geltungsanspruch jenseits der Grenzen des Literatursystems. Hutcheon ist nicht die Einzige, die diesen Nexus von parodistischen und reflexiven historischen Erzählverfahren bemerkt.130 Diese Diagnosen stehen im größeren Kontext einer Konjunktur der Theorie der Parodie im Untersuchungszeitraum der 1970er und 1980er Jahre,131 die im Fahrwasser der Diskussionen um Intertextualität Fahrt aufnimmt. Weniger affirmativ als Hutcheon widmet sich etwa zur selben Zeit Frederic Jameson parodistischen Erzählverfahren. In this situation parody finds itself without a vocation; it has lived, and that strange new thing pastiche slowly comes to take its place. Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar or unique, idiosyncratic style, the wearing of a linguistic mask, speech in a dead language. But it is a neutral practice of such mimicry, without any of parody’s ulterior motives, amputated of the satiric impulse, devoid of laughter and of any conviction that alongside the abnormal tongue you have momentarily borrowed, some healthy linguistic normality still exists. Pastiche is thus blank parody, a statue with blind eyeballs.132

128 Hutcheon 1989, S. 125. 129 Hutcheon 1985, S. 6. 130 So behauptet Elisabeth Wesseling: „Parody looms large in postmodernist historical fiction“ (Wesseling 1991, S. 178). Und Martin Kuester widmet ein ganzes Werk parodistischen Strukturen in englisch-kanadischen historischen Romanen (Kuester 1992). 131 Eine nichtrepräsentative Auswahl von Werken, die sich im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum der Parodie widmen, könnte u.a enthalten: Karrer 1977; Rose 1979; Freund 1981; Genette 1993; Hutcheon 1985. 132 Jameson 1991, S. 16.

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Pastiche ist defizitäre Parodie ohne kritischen Impuls, eine bloße Ansammlung von Zitaten, aus einer zum Stereotyp geronnenen Vergangenheit entnommen, gebunden an die Mode der Zeit ohne die Möglichkeit, die eigene Zeitgenossenschaft zur Zeitdiagnose emporzuheben. Die Differenz ist prinzipieller Natur. Während Parodie für Hutcheon eine adäquate Antwort auf die Krise des modernen Subjektbegriffs darstellt, ist für Jameson Pastiche Ausdruck einer historischen Amnesie,133 deren Überwindung in spätkapitalistischen Zeiten ferner denn je liegt. Hutcheons und Jamesons Untersuchungen lassen sich auch für sowjetische literarische Werke fruchtbar machen. Insbesondere im Tamizdat erscheint in den Jahren nach Stalins Tod eine nahezu unüberblickbare Anzahl von Satiren und Parodien der realsozialistischen Wirklichkeit, zu denen auch das bereits analysierte Werk Sinjavskijs zählt.134 Hier überwiegt meist ein sozialkritischer Impuls, Literatur dient der Kritik der politischen Autorität, da die öffentliche Kritik in Form eines freien und kritischen Journalismus blockiert ist. Diese Kritik­funktion wird in publizierten Werken mit elaborierten Formen äsopischen Sprechens ausgeübt, außerhalb der Grenzen des offiziellen Literaturbetriebs mit offeneren satirischen Spitzen und kühneren ästhetischen Verfahren. Ihren wichtigsten Ausdruck finden diese Verfahren im Umfeld des ­Mauvismus (frz. mauvais, schlecht). Der Kunstbegriff geht auf Valentin Kataev, seinen wichtigsten Vertreter, zurück. Der Begriff war zunächst als ironische Reaktion auf Vorwürfe der Literaturkritik gedacht, die Autoren in der von ihm geführten Zeitschrift Junost’ lieferten qualitativ minderwertige Erzeugnisse. Mit der Veröffentlichung von Kataevs Svjatoj kolodec (Der heilige Brunnen, 1965) wird der Mauvismus auch als ästhetisches Programm fruchtbar gemacht. Richard Borden, der wichtigste Theoretiker des Mauvismus, hat drei bestimmende Tendenzen dieser Ästhetik extrapoliert: Solipsismus, Graphomanie und Selbstfiktionalisierung.135 Dieses ästhetisch-epistemische Programm äußert sich in revolutionären stilistischen und kompositorischen Tendenzen: „structural chaos, narrative obfuscation, verbal congestion, repetitiveness, deliberate bad taste, violations of national myth and taboo, extreme diffusiveness, generic confusion, and authorial or narratorial egomania“ (7). Die Beschäftigung mit Geschichte ist hierbei eines der zentralen Themen. Kataev selbst legt eine Vielzahl stilistisch und thematisch innovativer ­Memoiren vor, Vasilij Aksënov veröffentlicht ab den 1970er Jahren sowohl klassische als auch experimentelle historische Romane. Andrej Bitovs Puškinskij dom (Das 133 Vgl. Jameson 1998, S. 20. 134 Vgl. hierzu Ryan-Hayes 1995; Tucker 2002. 135 Borden 1999, S. 2.

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Puschkinhaus, 1978) stellt den Prototypen sowjetischer historiographic metafiction dar und steht in seiner Bedeutung in einer Reihe mit Saša Sokolovs 1985 im Tamizdat publizierten historischen Roman Palisandrija. Im Umfeld unserer Fragestellung sollen diese Werke anhand der Identifikation paradigmatischer stilistischer Verfahren und ästhetischer Problemstellungen untersucht werden. Sie eint dabei eine sublim epistemologische Stoßrichtung,136 die sowohl im Hinblick auf die spätsowjetische Metahistoriographie als auch als Vorstufe postsowjetischer Entwicklungen 137 relevant ist. Der real existierende Sozialismus als Objekt der Parodie verliert an Bedeutung, stattdessen dominieren zusehends Formen literatursystemisch immanenter Parodie. Dies soll anhand der Extrapolation von Krisenmomenten im Zeit-, Roman- und Autorschaftsverständnis gezeigt werden.

Wir erkennen die Zeit nicht an Die Mauvisten haben ein Problem mit der Zeit. In Kubik schreibt Kataev, die Zeit sei der Hauptfeind des Künstlers,138 weshalb er ihr prinzipiell die Anerkennung versagt.139 Ein ähnliches Problem hat auch der Erzähler in Sokolovs Škola dlja durakov (Die Schule der Dummen, 1976), der keinen Zeitbegriff kennt, den er nicht bezweifeln würde,140 und sich auch deswegen nicht traut, über irgendetwas zu urteilen, was mit der Zeit zusammenhängt.141 Das Bedürfnis nach Freiheit von der literarischen Konvention 142 impliziert die Zurückweisung zeitlicher Ordnung als konstitutiven Moment erzählerischer Darstellung und provoziert die spielerische Ausarbeitung alternativer zeitlicher Ordnungen – zyklische Zeitmodelle, eine rückwärts verlaufende Zeit,143 spiralförmige Formationen. Gemein ist allen alternativen Zeitordnungen eine dynamische Komponente, „weil die landläufige 136 Borden 1999, S. 110. 137 Cynthia Simmons liest die Werke einiger oben genannter Autoren als wichtigen Einfluss für die experimentelle Prosa von Valerija Narbikova oder Vladimir Sorokin und bezeichnet die Mauvisten als die „Stimme der Väter“. Vgl. Simmons 1993, S. 3 f. 138 Kataev 1969, S. 81: „время – главный враг художника“. 139 Vgl. Kataev 1978, S. 59: „в принципе я и не признаю существования времени“. 140 Sokolov 1976, S. 24: „как не знаете и такого определения времени, в истинности которого я бы не усомнился“. 141 Sokolov 1976, S. 23; Sperrung im Original: „до сих пор не могу с точностью и определенно судить ни о чем таком, что хоть в малейшей степени связано с понятием вр емя“. 142 Borden schreibt: „Kataev explicitly stated that mauvism is freedom from literary convention“ (23). 143 Bitov datiert sein Puschkinhaus auf der letzten Seite des Romans 1971 – 1964.

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formale Messung der Zeit – Jahre, Tage, Stunden, Minuten, Jahrhunderte – lediglich eine relative, verzerrte Vorstellung der wahren Zeit vermittelt“.144 Sobald man den Bereich der Bestimmung der Zeit berührt, zerfällt das Urteilsvermögen. Die literarische Darstellung zeitlicher Abläufe wird hier zu einem hochgradig autoreferentiellen Unternehmen. Obwohl weiterhin heterotextuelle Bezüge in Form bekannter Namen, Orte oder Mythologeme existieren, spielen diese doch nur eine untergeordnete Rolle. Die auftretenden historischen Charaktere in Sokolovs Palisandrija beispielsweise werden von den mit ihnen verbundenen Ereignissen und Handlungen entkoppelt. Allenfalls schaffen sie einen historisch konnotierten Imaginationsraum, dessen konkrete Formation jedoch keine Rolle spielt. Im Sinne der Mauvisten wäre es allerdings falsch, hier von Verzerrung zu sprechen – schon allein aus dem Grund, weil man sich nicht auf eine referentielle Grundlage dessen, was verzerrt wird, einigen könnte. In Kataevs Almaznyj moj venec (Meine Diamantenkrone, 1978) heißt es in die Paradoxie gesteigert: „Это свободный полет моей фантазии, основанный на истинных происшествиях, быть может, и не совсем точно сохранившихся в моей памяти.“ 145 Sokolov erweitert in Palisandrija diese hinlänglich bekannte Spannung zwischen Fakt und Fiktion ins Philosophische. Geschichte wird zu einem kantischen Ding an sich, das sich menschlicher Erkenntnis entzieht: И все-таки в целом история есть типичная кантовская вещь в себе. Если не замечать известной апокалиптичности ее интонаций, если не апоплексичности их, то прежде всего отмечаешь тот неслучайный, быть может, факт, что она преисполнена скрупулезно датированных, но незнакомых и непознаваемых происшествий. Взятые по отдельности, они озадачивают; вкупе – обескураживают. В результате не знаешь, что и подумать.146

Entscheidend ist, welche Konsequenz diese fatalistische Sichtweise auf die Erkennbarkeit historischer Entwicklungen zeitigt. Die Fragwürdigkeit h ­ istorischer 144 Katajew 1979b, S. 302; „потому что формальное измерение времени, искусственно отор-ванного от пространства, общепринятое у людей – годы, сутки, часы, минуты, столетия, – дает лишь условное, искаженное представление о подлинном времени“ (Kataev 1967, S. 58). 145 Kataev 1978, S. 44; „das hier ist frei erfunden und basiert auf wirklichen Ereignissen, die ich womöglich nicht mehr ganz exakt im Gedächtnis habe“ (Katajew 1982, S. 93). 146 Sokolov 1985, S. 20. „Ungeachtet dessen ist Geschichte im Großen und Ganzen ein typisches kantisches Ding an sich. Wenn man die bekannte Apokalyptik, um nicht zu sagen Apoplexie ihrer Intonation nicht zur Kenntnis nimmt, dann bemerkt man, vielleicht, den nicht ganz zufälligen Umstand, dass sie voller akribisch datierter, aber unbekannter und nicht erkennbarer Ereignisse steckt. Einzeln betrachtet verblüffen sie, zusammen genommen entmutigen sie. Am Ende weiß man nicht, was man denken soll.“

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­ akten ist im Roman kein kompensationsbedürftiger Zustand, dem nur mit der F Restitution der historischen Wahrheit begegnet werden könne. Sokolov exerziert stattdessen einen historischen Fatalismus ohne Tragik; Zeit und Geschichte werden zu literarischen Spielformen. Die Verschiebung von Trifonovs Roman mit der Geschichte 147 zu Palisanders Romanze mit der Geschichte markiert einen Wechsel der Register vom Tragischen ins Komödiantische. Der existentielle, mitunter tödliche Ernst der Geschichtsschreibung bei Trifonov entsteht dadurch, dass versucht wird, eine Grenze zu restituieren, die epistemologisch bereits überschritten wurde. Demgegenüber bewegt sich die Inszenierung Sokolovs jenseits dieser Grenze und entwickelt – mit der Vergangenheit gegen die Vergangenheit – ein Modell für den Prozess der Übertragung und Reorganisation der Geschichte. Auch auf funktioneller Ebene werden die Register gewechselt, weg von einer moralisch-didaktischen und satirischen Stoßrichtung, wie wir sie bereits untersucht haben, hin zu einer spielerisch-ironischen Gattungs-, Text- und Autorschaftspraxis.

Das Ende des Romans Katerina Clarks Konzept eines sozrealistischen Masterplots hat zur weitverbreiteten Auffassung einer hochkonventionalisierten sowjetischen Literatur geführt. Dies mag in dieser Allgemeinheit bezweifelt werden,148 scheint jedoch für den historischen Roman mit seiner typisierten Figurenkonstellation, Sujetkomposition und geschichtsphilosophischen Verortung plausibel. Solche Konventionen provozieren einen Überdruss am Roman, der sich bei den Mauvisten besonders deutlich artikuliert. So heißt es bei Kataev: „Решительно слово «роман» уже не определяет книги, которые мы пишем. Я хотел бы дать им другое название.“ 149 In seinem Werk Almaznyj moj venec fühlt er sich bemüßigt klarzustellen: „Но, во-первых, это не роман. Роман – это компот. Я же предпочитаю есть фрукты свежими, прямо с дерева, разумеется выплевывая косточки.“ 150 147 So der Titel eines Gesprächs Trifonovs mit Ralf Schröder (Schröder 1981a). 148 So fasst Oksana Bulgakova beispielsweise die stalinistische Zeit als Epoche hybrider Genres ohne feste Grenzen auf, vgl. Bulgakova 2013. 149 Kataev 1966, S. 85; „Der Ausdruck ‚Roman‘ bezeichnet entschieden nicht mehr die Bücher, die wir schreiben. Ich brauche eine neue Benennung dafür …“ (Katajew 1979a, S. 492). 150 Kataev 1978, S. 117. „Aber erstens ist dies kein Roman. Ein Roman ist Kompott. Ich esse Obst aber lieber frisch, direkt vom Baum, wobei ich die Kerne selbstverständlich ausspucke“ (Katajew 1982, S. 245).

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Der Roman erscheint hier als tote, leblose literarische Gattung, die durch neue Verfahren ersetzt werden muss. Radikal wird diese Forderung in Kubik formuliert, wenn der Erzähler behauptet: „Мне хочется писать без всякой формы, не согласуясь ни с какими литературными приемами.“ 151 Die Kritik des Romans war ein global registrierbares Phänomen in den 1960er Jahren. In Frankreich forderten die Vertreter des Nouveau Roman um Alain Robbe-Grillet einen neuen Roman, der sich um die Erzählung von Dingen und kleinen Begebenheiten drehen sollte und skeptisch gegenüber allen Formen der Moralisierung und Modellierung war.152 In den Vereinigten Staaten waren es u. a. die Vertreter des New Journalism, die neue Wege abseits des Romans suchten. Tom Wolfe sprach von einer Statuskrise des alten Romans und seiner Vertreter, auf den seine Konzeption journalistisch-dokumentarischen Schreibens die Antwort sein sollte.153 In Deutschland hielt Reinhard Baumgart 1967 in Frankfurt eine damals vielbeachtete Poetikvorlesung, in der er Aussichten des Romans diskutierte und konstatierte, dass sich die Tradition realistischen Erzählens zu erschöpfen beginne und durch dokumentarische und ‚engagiertere‘ Formen des Schreibens ersetzt werde.154 Die Krise des Romans erfasste in den 1960er Jahren auch die Sowjetunion, wie die Konjunktur kleiner und dokumentarischer Genres wie Tagebücher, Skizzen, Reiseberichte oder Memoiren zeigt.155 Am radikalsten wurde der Roman wahrscheinlich von Varlam Šalamov in O proze (1965) in Frage gestellt, wo er auf der ersten Seite kurzerhand den Tod des Romans konstatierte: „Роман умер“.156 Damit war das Ergebnis erreicht, das Vertreter der Avantgarde bereits in den 1920er Jahren vorhergesagt hatten. So reflektierte Osip Mandel’štam bereits 1922 über das Ende des Romans, das er auf eine Krise der modernen Biographie und den Verlust eines integrierenden Zeitgefühls zurückführte: Дальнейшая судьба романа будет не чем иным, как историей распыления биографии как формы личного существования, даже больше чем распыления – катастрофической гибелью биографии.157

151 Kataev 1969, S. 64. „Ich möchte ohne jede Form schreiben, ohne jede Rücksicht auf irgendwelche Kunstgriffe“ (Katajew 2005, S. 15). 152 Robbe-Grillet 1965. 153 Wolfe 1973, S. 35. 154 Baumgart 1968. 155 Pinsky 2014, S. 809 – 813. 156 Šalamov 2013b, S. 144. 157 Mandel’štam 1993, S. 274. „Das weitere Schicksal des Romans wird nichts anderes sein als die Geschichte der Zerpulverung der Biographie als einer Form der persönlichen

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Die Biographie als Form einer selbstbestimmen Lebenskunst („žiznetvorčestvo“) wird hier abgelöst, der Mensch aus der eigenen Biographie herausgeschleudert („vybrošeny“), wie Mandel’štam formuliert. Kataevs eigene Schreibbiographie lässt sich – man beachte das exzessive Neuschreiben der eigenen Biographie, um das das Spätwerk kreist – auch auf diese von Mandel’štam beschriebene Erfahrung beziehen. Wie sieht das Schreiben ohne Formen bei Kataev aus, der stilbildend für die Mauvisten werden wird? Kataevs Werke sind hochgradig fragmentiert, sie verzichten weitgehend auf gliedernde Elemente wie Kapitelüberschriften und Absätze. Diese Strukturierung changiert zwischen der selbsterhobenen Forderung nach radikaler Einfachheit 158 und einer komplexen, v. a. leitmotivisch gegliederten textuellen Struktur, die diese Forderung zu konterkarieren scheint und einzig einem – für den Leser nicht immer zugänglichen – „Assoziationszusammenhang“ 159 folgt. Die Leitbegriffe dieser Prosa sind „Zerstückelung, Dissonanz, Vielstimmigkeit, Kontrapunkt“.160 Hier lässt sich eine für den Mauvismus charakteristische Spannung erkennen: zwischen ästhetischem Solipsismus 161 und radikaler Polyphonie und Dissonanz. Ihre Lösung liegt darin, dass im Subjekt die Stimmen wiederum vervielfältigt werden, wenn die einzelnen Helden zu mehrfach gespaltenen Subjekten werden. Durch das Eingeständnis, dass jede historische Darstellung an diese defizitäre Form persönlicher Erinnerung und subjektiver Darstellung gebunden sei, wird eine Delegitimierung generalisierender Schilderungen historischen Geschehens in Gang gesetzt, die den Leser zu einem historischen Skeptizismus leitet.162 Drei Modi der Grenzüberschreitung werden hier exerziert: zuerst die Spaltung im Helden durch Schizophrenie, die in den Werken Kataevs, Bitovs, Sokolovs

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Existenz, sogar mehr als eine Zerpulverung: ein katastrophaler Untergang der Biographie“ (Mandelstam 2015, S. 97). Kataev 1978, S. 106. „Впрочем, мовизм – это и есть простота, но не просто простота, а именно неслыханная …“ „Übrigens bedeutet Mauvismus auch Einfachheit, ja mehr als das – enorme Einfachheit“ (Katajew 1982, S. 221). Kataev 1978, S. 139: „Замена связи хронологической связью ассоциативной.“ „Der Ersatz des chronologischen Zusammenhangs durch den Assoziationszusammenhang“ (Katajew 1982, S. 292). Katajew 2005, S. 73; „разнобой, разлад, многоголосие, контрапункт …“ (Kataev 1969, S. 64). Borden 1999, S. 53. Vgl. Borden 1999, S. 110. „Such subjectivity, of course, stands in diametric opposition to the supposed objectivity of collective experience expressed in the epic tradition of Socialist Realism.“

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und Venedikt Erofeevs allgegenwärtig ist. Eingerissen wird des Weiteren die Grenze zwischen Ich und Du, zwischen Held und Leser. Bei Sokolov geschieht dies vor allem mittels Imperativen, die einen steten Wechsel der Erzählstimmen anregen und damit ihre „Phobie vor der dritten Person“ 163 kompensieren. In Bitovs Puškinskij dom ist es der Sprung in die erste Person Plural, die in den reflektierenden Passagen des Romans die Grenzen zwischen Held und Leser in Frage stellt. Schließlich fällt auch die Grenze zwischen Autor und Held. Im Anhang zum dritten Teil von Puškinskij dom heißt es: Однако проверим и это. Поступим в литературе халтурно, как в жизни, окончательно разрушив дистанцию герой – автор. Допустим очную ставку с героем и распробуем эту беспринципную со стороны автора встречу – на литературный вкус …164

Das explizite Benennen der Überschreitung der Grenzen des guten Geschmacks qualifiziert dieses Verfahren als mauvistisches. Im Akt der Überschreitung wird die Grenze zwischen Autor und Held dabei nicht ausgelöscht, sondern vielmehr restituiert. Die Illusion der authentischen Erfahrung wird durchbrochen, das Schicksal des Helden wird als fiktives erkennbar. Valentin Kataev wird dafür von Rezensenten scharf kritisiert, werden seine Memoiren doch unter den Kriterien der Authentizität, denen sie nicht gerecht werden wollen, rezipiert und kritisiert. Im Sinne des Mauvismus erweist sich diese Rezeptionspraxis allerdings als autosuggestiver Akt, als Ausdruck einer Sehnsucht nach einer angeblichen Wahrhaftigkeit der Autobiographie, deren Enttäuschung umso stärker ausfällt, je ausgeprägter der Wunsch nach einem Vorstoß ins Reich der historischen Wahrheit ist.165 Die Genres, an denen diese Konflikte exerziert werden, sind die autobiographische Literatur und die Memoirenliteratur. Hier kann man von einer autobiographischen Obsession sprechen, die einerseits Teil einer größeren ­sowjetischen Bewegung jener Zeit ist,166 sich andererseits von dieser ­Bewegung 163 Witte 2007, S. 455. 164 Bitov 1978, S. 401. „Aber prüfen wir auch das noch. Pfuschen wir in der Literatur wie im Leben, und zerstören wir endgültig die Distanz zwischen Held und Autor. Lassen wir eine Begegnung von Aug zu Aug mit dem Helden zu und verkosten wir diese seitens des Autors prinzipienlose Begegnung – auf ihren literarischen Geschmack hin …“ (Bitow 1988, S. 445). 165 Dieser Satz gilt mit einem kleinen Einspruch. In Kataevs Idee eines Anwesenheitseffekts als Kern der modernen Dichtung („«Эффект присутствия» – вот сокровенная суть подлинно современной поэзии“; Kataev 1969, S. 64) lassen sich nämlich noch Rückstände der Vorstellung, die Literatur könne eine Wahrheit des geschichtlichen Seins evozieren, aufspüren. 166 Der poststalinistische Reigen der Memoirenliteratur hebt an mit der ersten Veröffentlichung des auf sieben Bände angelegten Werkes Ljudi, gody, žizn’ (Menschen, Jahre,

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aber p­ arodistisch distanziert. Am deutlichsten wird diese Tendenz zur mockmemoir 167 bei Sokolov: Мысль о новаторстве – первая, что приходит на ум, перечитывая настоящие воспоминания,– писал я в анонимном предисловии.– Все дышит в них дерзостным обновлением. Взять композицию. Пусть, выстраивая ее, Палисандр Александрович опирается на опыт предшественников – неистовых модернистов древности.168 Leben) Ilja Ėrenburgs 1960, in denen der vielgestaltige Schriftsteller auf die sowjetische Zeit zurückblickt. 1962 folgt die Erstpublikation der sechsbändigen Erinnerungen Konstantin Paustovskijs Povest’ o žizni (Erzählungen vom Leben), die ebenfalls Furore machen. Die Reihe dieser Werke könnte leicht ergänzt werden. Brown nennt in ihrer Studie noch die Memoiren von Nadežda Mandel’štam, Nina Berberova, Konstantin Simonov, Natal’ja Rappaport und Lidija Čukovskaja (vgl. Brown 1993, S. 63 f.). Borden erwähnt darüber hinaus u. a. noch Lev Kopelev, Evgenija Ginzburg, Venjamin Kaverin, Viktor Šklovskij, Ol’ga Berggol’c, Vladimir Solouchin und Jurij Oleša (Borden 1999, S. 137). Das Interesse an Memoiren wurde auch in zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Debatten reflektiert. So organisierte die Zeitschrift Voprosy Literatury einen Runden Tisch, an dem sich führende Kritiker und Schriftsteller (u. a. Anatolij Gladilin) über Inhalt und Form des Biographischen in der sowjetischen Literatur austauschten (Voprosy Literatury 1973). Das Interesse an Memoiren äußerte sich auch in politischer Literatur. Ende der 1960er Jahre erschienen die Aufzeichnungen führender sowjetischer Militärs (u. a. Georgij Žukov, Aleksandr Vasilievskij, Sergej Štemenko) in hohen Auflagen (vgl. Dubin 2015, S. 98). Insgesamt erschienen bis zum Ende der 1970er Jahre mehr als 1100 Memoirenpublikationen über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg (vgl. hierzu Giertz/Schramm 1981, S. 163). Den Gipfel erreichte jene politische Memoirenkultur mit dem Druck der dreibändigen Erinnerungen Leonid Brežnevs 1979, für die der Generalsekretär der KPdSU sogar den staatlichen Leninpreis erhielt – für viele Literaten ein Affront und Zeichen eines vollkommen deformierten Literaturverständnisses. Das Interesse des Publikums an diesen Erzeugnissen war hoch. Viele dieser Werke wurden enthusiastisch aufgenommen, wie die Memoiren Ėrenburgs, auf deren Veröffentlichung eine hitzige und kontroverse Diskussion folgte, oder die Aufzeichnungen der Militärs, die einem patriotischen Geschichtsverständnis Vorschub leisteten. Das Publikum erhoffte sich aus den persönlichen Erinnerungen führender Vertreter aus Kunst und Politik Einsichten und Erkenntnisse, die ihnen die offizielle Geschichtsschreibung nicht vermitteln konnte. „Hier konnten einzelne Geschichtsfälschungen korrigiert und bestimmte Personen rehabilitiert werden, ohne daß Folgerungen für das System und seine gegenwärtige Ausprägung gezogen werden mußten“ (Kasack 1980, S. 25). Das Interesse an Memoiren und persönlichen Aufzeichnungen blieb bis in die frühen 1990er Jahre hoch, bis es gemeinsam mit der Hoffnung auf durch persönliche Erinnerungen zu Tage gebrachte Sensationen abzuflauen begann (mehr zur Bedeutung der Memoirenliteratur während der Perestrojka bei Marsh 2007, S. 190 ff.). 167 Matich 1986, S. 416. 168 Sokolov 1985, S. 234. „Der Gedanke an Innovation ist das Erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man die nun folgenden Memoiren liest, schrieb ich in meinem a­ nonymen

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Das vermeintlich Neue und noch nie Dagewesene entpuppt sich als Variation von Vorgängertexten. Palisandrija parodiert die Attitüde des Skandalösen, die mit der Veröffentlichung von Memoiren verbunden ist. Um das Interesse an seinen Memoiren zu erhöhen, wird im Roman aus der unverfänglichen „Lebensgeschichte eines Großneffen“ der reißerische Titel „Inzest eines Kreml-Graphomanen“,169 mit dem es den Memoiren Palisanders gelingt, sogar noch den Erfolg der Hitler-Tagebücher zu übertreffen. Es wäre zu kurz gegriffen, würde man hier allein eine Satire auf das florierende spätsowjetische Memoirenbusiness sehen. Vielmehr geht es um eine reflection on the ethical and aesthetic situation engendered by the disappearance of the historical referent. It demonstrates how Soviet history became an abject, expelled and manipulated through incarnation/verbalization. It also reminds us that, in fact, there is nothing outside this verbalization.170

Die Memoiren der Mauvisten lassen sich lesen als Einspruch gegen die spätsowjetische Illusion, mittels einer detailfixierten, faktographischen Überkompensation ließen sich die Aporien einer defizitären Geschichtsdarstellung lösen. Das Anschreiben gegen die Anmaßungen historischer Gattungen im Mauvismus darf man sich allerdings nicht als konfliktfreie, rein spielerische Form eines Autorsouveräns vorstellen. Deutlich wird dies am Fall Vasilij Aksënov. Dessen Suche nach der Gattung (V poiskach žanra, 1972) endet in einer Rückkehr zum traditionellen historischen Familienroman des 19. Jahrhunderts, als er kurz nach dem Ende der Sowjetunion seine dreibändige Moskovskaja saga vorlegt. Dies muss nicht zwangsläufig als Regression gewertet werden. Der Verzicht auf die stabilisierende sinnkonstituierende Dimension historischen Erzählens, die mit den Gattungsparodien der Mauvisten häufig einhergeht, erweist sich in diesem Fall für den Autor als zu hoher Preis.

Vorwort. Alles in diesen atmet den Geist wagemutiger Erneuerung. Man schaue nur die Komposition an. Sicherlich stützt sich Palisander Alexandrowitsch, während er sie schrieb, auf die Erfahrung von Vorgängern – diese leidenschaftlichen Modernisten der Antike.“ 169 „Однако, соболезнуя нездоровому интересу читающей публики к интригующим и фривольным названиям, мы вынесли на обложку одно из них: ‚Инцест кремлевского графомана‘“ (Sokolov 1985, S. 288). 170 Kravchenko 2013, S. 122. Kravchenko bezieht sich hier auf Julia Kristeva, die unter dem Begriff des Abjekts etwas, das Identität, Systematizität und Ordnung unterminiert, versteht, vgl. Kravchenko 2013, S.12.

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Emplotment-Experimente Hayden White hat in seinem Werk Metahistory darauf hingewiesen, dass geschichtswissenschaftliche Werke stets bestimmten Mustern narrativer Modellierung und Strukturierung (White verwendet den Begriff Emplotment) folgten. Diese Muster versteht White im Anschluss an Northrop Frye als archetypische Erzählformen, denen jede Darstellung eines historischen Stoffs unterworfen sei. Geppert scheint Whites Behauptung zu stützen, wenn er schreibt: „Der historische Fokus scheint als Funktion fiktionalen Erzählens Fabelbildungen gerade zu erzwingen.“ 171 Die Mauvisten schreiben gegen diesen vermeintlichen Zwang narrativer Modellierung an. So distanzieren sich die Erzähler in Kataevs Spätwerk wiederholt von der Erwartung einer chronologischen Strukturierung des historischen Materials.172 White unterscheidet zwischen zwei Stufen historischer Narration, dem Emplotment und der formalen Schlussfolgerung, einer Stufe „auf der er [der Historiker] ‚den Sinn des Ganzen‘, sein ‚Ziel‘ zu erläutern unternimmt“.173 Wie Geppert richtig bemerkt, bedeutet die Negation bestimmter Verfahren und Erwartungen des Emplotment nicht automatisch das Fehlen jeder narrativen Modellierung.174 So gibt es bei Kataev, wie auch bei anderen Mauvisten, Leitmotive und Metaphern, die die einzelnen Erzählstränge zu einem Plot verbinden. Die von White ins Spiel gebrachte zweite Stufe der Erklärung durch formale Schlussfolgerung markiert jedoch eine Leerstelle in Kataevs Werk. Es gibt keine „Gesetze der historischen Exegese“ 175 mehr, keine Kombinationsprinzipien zur Entschlüsselung eines historischen Sinns. 171 Geppert 2009, S. 173. 172 Folgende Auswahl an Äußerungen könnte als Beleg angeführt werden: „Я хотел бы, чтобы сама структура была другой, чтобы эта книга носила характер мемуаров одного лица, написанного другим …“ (Kataev 1966, S. 85). „Das Fehlen einer durchgehenden Handlung befriedigt mich nicht. Selbst die Struktur, die Form soll anders sein, gewissermaßen die Memoiren einer Person, geschrieben von einer anderen …“ (Katajew 1979a, S. 492). „Так как это мое сочинение – или, вернее, лекция – не имеет ни определенной формы, ни хронологической структуры, которую я не признаю“ (Kataev 1978, S. 96). „Mein Werk, genauer gesagt, mein Vortrag – besitzt keine bestimmt[e] Form oder chronologische Struktur, die ich sowieso nicht anerkenne (Katajew 1982, S. 200). „Замена связи хронологической связью ассоциативной“ (Kataev 1978, S. 139). „Der Ersatz des chronologischen Zusammenhangs durch den Assoziationszusammenhang“ (Katajew 1982, S. 292); „так как хронология, по-моему, только вредит настоящему искусству“ (Kataev 1969, S. 81); „die Chronologie kann, meiner Meinung nach, der wirklichen Kunst nur schaden (Katajew 2005, S. 70). 173 White 1991, S. 25. 174 Vgl. Geppert 2009, S. 173. 175 White 1991, S. 25.

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Im Unterkapitel zu Trifonov sind wir schon auf die von Bitov entwickelte Struktur des roman punktir gestoßen, durch die der Gesamtsinn des erzählten Geschehens unbestimmt und unabgeschlossen bleibt. Das Experimentieren mit alternativen Modellierungsverfahren erweitert Bitov in Puškinskij dom. Bitov fügt jedem der drei Kapitel eine Version und Variante betitelte Sektion bei, in denen er alternative Handlungsverläufe schildert und diskutiert.176 Dunja Kary hat auf die Parallelen zwischen Bitovs offengehaltenen Kapitelstrukturen und ähnlich operierenden westlichen Werken jener Zeit wie John Fowles The French Lieutenant’s Woman (1969) hingewiesen.177 Ein weiteres von Bitov eingeführtes Verfahren ist die Kombination literarischer und literaturtheoretischer bzw. essayis­tischer Teile. Die einzelnen Kapitel erhalten jeweils Anhänge über das Wesen der Prosa, den Beruf des Helden und die Beziehung zwischen Held und Autor. Zieht man in Betracht, dass Bitov Auszüge dieser Anhänge in Literaturzeitschriften veröffentlichte, dann zeigt sich, dass es hier um die Problematisierung der Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft im Allgemeinen und der zwischen Literatur und Geschichtsschreibung im Besonderen geht. Literarturgeschichte wird in Gegenwartsgeschichte überführt (233). Der Autor wird so in den Anhängen zum Kommentator seines eigenen historischen Werks – zu einem Metahistoriographen im wörtlichen Sinne. Hierauf hat Igor Smirnov verwiesen: Der Held des heutigen philosophischen Romans, sei es Andrej Bitows „Puschkinhaus“ oder Peter Sloterdijks „Zauberbaum“, ist unfähig, in irgendeiner der von ihm erprobten Betätigungsformen Identität zu erlangen, mit Ausnahme derjenigen, die ihn in eine Metaposition bezüglich der geistigen Praxis bringt.178

Man sollte sich allerdings keine höhere historische Erkenntnis von dieser Form der Selbstkommentierung erhoffen. Die Anhänge enden allesamt in einer Aporie: „Мы совпадаем с ним во времени – и не ведаем о нем больше НИ-ЧЕ-ГО.“ 179 176 Trotz der damit evozierten Vieldeutigkeit bilden sich bei Bitov zwischen den möglichen Varianten Parallelen aus. So heißt es: „Существует несколько легенд, по-разному акцентированных, по которым можно предполагать, как умер Модест Одоевцев. Однако во всех версиях, при полной противоречивости, наблюдается общий словесный ряд“ (Bitov 1978, S. 103). „Es existieren etliche, unterschiedlich akzentuierte Legenden darüber, wie Modest Odojewzew gestorben ist. Jedoch läßt sich trotz aller Widersprüchlichkeit in allen Versionen eine gemeinsame Wortreihe feststellen“ (Bitow 1988, S. 116). So enden alle Varianten schließlich am gleichen Punkt der Geschichte – dem Tod. 177 Kary 1999, v. a. S. 74 – 90. 178 Smirnov 1997 S. 111. 179 Bitov 1978, S. 408, Hervorhebung im Original. „Wir sind zeitlich mit ihm kongruent – und wissen weiter von ihm nichts“ (Bitow 1988, S. 453).

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Atmet die Problematisierung narrativer Strukturen bei Bitov manchmal den Geist tödlichen und existentiellen Ernsts, dominieren in Palisandrija spielerische Formen. Im Ton des Schelmenromans gehalten ist der Roman eine Revolution gegen den Plot, gegen den traditionellen realistischen Roman, gegen die Idee einer linearen narrativen Zeit an sich.180 Palisandr schert sich nicht um Genrekonventionen – er ist ein Chronograph sui generis: Я – хроникер текущего времени, Петр Федорович. Хронограф. И дабы запротоколировать его, не пренебрегаю никакими условностями. Вернее – искусствами. Сочиняю, рисую, слегка музицирую. Не чужд и хореографии. Словом – артист, Петр Федорович, артист.181

Der Künstler kann sich die Freiheit nehmen, die Konventionen biographischen Erzählens zu sprengen. So versteckt sich die Handlung (wenn man davon überhaupt sprechen möchte) im Schlussteil des Romans, in dem sich die Ereignisse plötzlich überschlagen. Palisandr entpuppt sich als Hermaphrodit, macht Karriere als Botschafter queerer Lebensformen und zieht schließlich triumphal in Moskau ein. Zuvor dominiert ein „allgemeiner linguistischer Exzess“,182 der sich – trotz anderslautender Versicherungen des Erzählers 183 – nicht in eine Ordnung bringen lässt. Der antistrukturelle Impetus des Werkes verweigert jede Form chronologischer Ordnung, die narrative Chronologie wird zu einer leeren und hoffnungslosen Selbstparodie, wie Beraha argumentiert.184 In einem solchen Bruch mit den Handlungskonventionen historischen Erzählens geht es jedoch nicht um eine Negation der Vergangenheit. „To parody is not to destroy the past; in fact to parody is both to enshrine the past and to question it“.185 Sujetbildung und historische Sinnbildung korrelieren. Das Experimentieren mit alternativen Sujetprinzipien wird zur Voraussetzung alternativer Geschichtserzählung.

180 Beraha 1993, S. 212. 181 Sokolov 1985, S. 228. „Ich bin ein Chronist der fließenden Zeit, Pjotr Fjodorowitsch. Ein Chronograph. Und um diese zu protokollieren, verachte ich keinerlei Formsachen. Ich halte es deshalb mit allen Künsten: ich schreibe, ich zeichne, ich musiziere sogar ein wenig. Auch die Choreographie ist mir nicht fremd. Kurzum, ich bin ein Künstler, Pjotr Fjodorowitsch, ein Künstler.“ 182 Borden 1999, S. 335. 183 Sokolov 1985, S. 77. 184 Beraha 1993, S. 212. 185 Hutcheon 1989, S. 126.

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Der Autor ist tot – Es lebe der Autor Literaturgeschichtlich wird die Frage der Autorschaft im Mauvismus an zwei Folien scharf gestellt. Die erste Folie repräsentiert die klassische Tradition der russischen Literaturgeschichte – von Puškin bis Bunin, von Lermontov bis ­Majakovskij. Ihre Namen und Zitate sind allgegenwärtig und Teil eines intertextuellen Exzesses. Bitovs Puškinskij dom steckt voller expliziter und impliziter Anspielungen auf die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts. Als Museumsroman eingeführt, geht es mitnichten um eine Reverenz vor deren literarischer Größe, sondern „um eine Art Mimikry-Funktion“,186 die in der ironischen ­Anlehnung an die Tradition die symbolische Ordnung literaturgeschichtlicher Hierarchien unterläuft. Ganz deutlich ist dies bei Kataev, der ironisch Puškin und Dostoevskij als Kronzeugen des Mauvismus heranzieht.187 Der Bruch mit der Tradition, der von den Mauvisten zelebriert wird, wird unter Verweis auf die Tradition vollzogen. Jener Bezug auf die Tradition ist dem Jameson’schen Pastiche nahestehend, eine bloße Allusion ohne historische Tiefe. Die zweite Folie, auf die sich die Mauvisten beziehen, ist die zeitgenössische Stilisierung von Autorschaft. Parodiert werden hier neben den Memoiristen der 1950er und 1960er Jahre die Vertreter eines emphatischen Verständnisses 186 Meyer-Fraatz 2007, S. 468. 187 Für Puškin: „Но прежде хочется привести кусочек из письма Пушкина Вяземскому 1823 года из Одессы в Москву. Может быть, это прольет некоторый свет на мовизм, а также на литературный стиль моих сочинений последних десятилетий. Вот что писал Пушкин: «… Я желал бы оставить русскому языку некоторую библейскую похабность. Я не люблю видеть в первобытном нашем языке утонченности. Грубость и простота более ему пристали. Проповедую из внутреннего убеждения, но по привычке пишу иначе …»“ (Kataev 1978, S. 96). „Zuvor möchte ich jedoch noch ein paar Zeilen aus einem Brief Puschkins, den er 1823 aus Odessa an Wjasemski nach Moskau schrieb, zitieren. Vielleicht wirft dieses Zitat ein wenig Licht auf den Mauvismus und den literarischen Stil meiner Arbeiten der letzten Jahrzehnte. Puschkin schrieb: ‚… ich würde der russischen Sprache gern eine gewisse biblische Schamlosigkeit belassen.‘ Verfeinerung hat in unserer ursprünglichen Sprache nichts zu suchen Grobheit und Schlichtheit passen besser zu ihr. Ich predige das aus innerer Überzeugung, schreibe aber aus Gewohnheit anders …“ (Katajew 1982, S. 200 f.). Für Dostoevskij: „Кстати: рассуждая о женщинах, старик Карамазов тонко заметил: «Не презирайте мовешек», или: «Не пренебрегайте мовешками» – что-то в этом роде, уже не помню …‘“ (Kataev 1969, S. 77). „Übrigens macht der alte Karamasow in seinen Betrachtungen über die Frauen eine sehr feine Bemerkung: ‚Verschmäht mir die Mauvaischiki nicht!‘ oder ‚verachtet die Mauvaischiki nicht‘ – oder irgend etwas Ähnliches, ich kann mich nicht mehr erinnern“ (Katajew 2005, S. 59).

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aufrichtiger Autorschaft, insbesondere Solženicyn. Die Mauvisten spotten aber auch über sich selbst – so werden bei Sokolov Aksënov und Limonov zu Objekten der Parodie.188 Auf diese Art und Weise werden die dissidentischen Selbststilisierungen sub- und gegenkultureller Autorschaftskonzepte ins Extreme und damit Lächerliche gesteigert, verfremdet und bloßgelegt.189 All dies bedingt ein hohes Maß an Selbstironie und Selbstreflexivität, was eine autothematische Anlage der Texte begünstigt. Andrea Meyer-Fraatz hat dies für Bitov nachgewiesen,190 es lässt sich aber auch leicht auf einen Autor wie Sokolov übertragen. Der Erzähler wendet sich in Palisandrija wiederholt an den Biographen und weist diesen an, wie er das künftige Werk zu schreiben hat. So heißt es: Проставляйте не имена и не инициалы даже, но палочки, галочки, крестики, нолики, разные закорючки. А будучи спрошены, что означают сии пометы и отчего их так много, скажите: считаю в небе ворон, и вот их много. Сам я использовал такой иероглиф, как запятая.191

Die Thematisierung der Entstehung des eigenen Texts dient hier nicht der Propädeutik, sondern der (Selbst-)Mystifikation. Die verwendeten Zeichen sollen und können sich gar nicht auf eine historische Referenzebene beziehen. Alles ist rein hypothetisch: „Да и вообще – что о Вас мне известно? Не скрою, сведения чисто гипотетические.“ 192 Orte und Praktiken historiographischer Validierung sind nicht referenzfähig, die Grenze zwischen Wissenschaft und Text verschwindet. In ihrer hybriden Komposition, die die kategorialen Grenzen historischer Erkenntnisbildung überschreitet, zeigt sich im Mauvismus ein demiurgisches Autorverständnis. Dieses vollzieht sich im Modus der Ironie und in Differenz zur demiurgischen Autorschaftskonzeption des Stalinismus. Insbesondere bei Sokolov zeigt sich der Bezug zum stalinistischen Projekt, das er in Form einer ritualisierten Remythologisierung bloßlegt. Ähnliche Praktiken finden sich zeitgleich im Konzeptualismus, in seinem virtuosen Spiel mit den Versatzstücken 188 Vgl. Matich 1986, S. 416. 189 Dies geschieht – durchaus selbstironisch – auch in Paratexten zu den eigenen Werken. So behauptet Sokolov: „Palisandre – C’est moi“ (Sokolov 1987). 190 Meyer-Fraatz 2000, S. 360. 191 Sokolov 1985, S. 114. „Schreibt keine Namen und Initialen auf, sondern verwendet Striche, Sternchen, Kreuzchen und Kreischen, Schnörkel aller Art. Und wenn ihr gefragt werden werdet, was diese Zeichen denn bedeuten sollen und warum es so viele sind, sag einfach: ich zähle die Raben im Himmel, deshalb so viele. Ich selbst habe auch eine solche Hieroglyphe wie das Komma benutzt.“ 192 Sokolov 1985, S. 41 f. „Was weiß ich denn überhaupt über Sie? Ich verberge nichts, die Daten sind rein hypothetisch.“

Historiographische Universalpoesie101

sowjetischer Ideologie.193 Was bedeuten diese Praktiken aber für die Historiographie? Boris Groys argumentiert: Sich dieses Rituals bewußt zu werden bedeutet, sich der Unausweichlichkeit der Geschichte, des historischen Narrativs zu stellen. Sie ist weder durch den einmaligen, endgültigen Übertritt über die Grenzen des Historischen in den Raum der außerhisto­ rischen Wahrheit noch durch die Zeitlosigkeit des Pluralismus zu überwinden: die ‚histo­ rische‘ Geschichte‚ ist die Geschichte der Versuche ihrer Überwindung.194

Es gibt keine außerhistoriographische Schutzzone, wie sie beispielsweise die Dorfprosaisten in der Verklärung der vorrevolutionären Provinz herbeischreiben wollten. Geschichte – und Groys meint hier das repressive totalitäre Geschichtsverständnis – lässt sich nur mittels (einer anderen Form von) Historiographie überwinden. Dies lässt sich nun – unter Berücksichtigung der Frage der Autorschaft – in zwei Richtungen deuten. Kulturologisch gewendet ließe sich zitieren: „Die Mystifikation und das in Frage gestellte Original bestimmt das russische Selbstverständnis.“ 195 Die Mauvisten schreiben sich in eine Spiralbewegung mystifikatorischer Projekte in der russischen Kulturgeschichte ein und parodieren diese gleichzeitig. Dieses Projekt gewinnt seine metahistoriographische Qualität dadurch, dass es sich freimütig als Simulation zu erkennen gibt. Alternativ ließe sich das mauvistische Projekt auch in der romantischen Universalpoesie verorten. So liest Meyer-Fraatz Bitovs Rückgriff auf Bitov als Akt „von grundsätzlicher Bedeutung […]: mit ihm wird über das Ende der Sowjetunion hinaus die Autonomie der Kunst und die Unabhängigkeit des literarischen Schaffens von jedweden außerliterarischen Bedingungen bestätigt“.196 Nur wer die Allmacht des Autors über die Geschichte zelebriert, kann zeigen, dass diese Allmacht künstlerischer und nicht geschichtswissenschaftlicher Natur ist. Erst durch die Überschreitung der Grenze zwischen Literatur und Geschichte wird diese sichtbar.

193 Ebenso wie im Mauvismus lässt sich auch für den Konzeptualismus ein Fortleben romantischer Kunstverständnisse beobachten, vgl. hierzu den Beitrag von Groys 2002. 194 Groys 1988, S. 116. 195 Frank u. a. 2001, S. 16. 196 Meyer-Fraatz 2000, S. 362.

2.  Die Peripherie der Metahistoriographie In seinem einflussreichen Aufsatz „Vnutrennjaja postkolonizacija“. Formirovanie postkolonial’nogo soznanija v russkoj literature 1970 – 2000 godov („Innere Postkolonialisierung“. Zur Formierung des postkolonialen Bewusstseins in der russischen Literatur der 1970er–2000er Jahre) spricht Il’ja Kukulin von der Erosion des Ideologems der Akkulturalisierung. Im Spätsozialismus wird die Verlustseite des kommunistischen Aufbauprojekts sichtbar: kulturelle Assimilation, der Verlust lokaler Traditionen, die gewalttätige, traumatisierende Neuordnung territorialer Einheiten.1 Hier nimmt, folgt man Natalia Borisova, ein „Prozess der Differenzierung und Spaltung der nationalen Kulturen seinen Anfang“, der in den Perestrojka-Jahren schließlich „zu der großen und sichtbaren ‚Explosion der Souveränitäten‘“ 2 geführt habe. Diese Verlusterfahrung hat auch eine historiographische Dimension. Seit der Oktoberrevolution war die Historiographie von Regionen, Provinzen und Republiken Gegenstand vom Zentrum vorangetriebener Akkulturalisierung gewesen. Dies betraf einerseits inhaltliche Aspekte peripherer Geschichten vom Standpunkt des – in unterschiedlichen Graden imperial gefilterten – historischen Materialismus. Dies betraf andererseits aber auch die literarischen Modi dieser Neuschreibung, deren formale Strukturen Gegenstand von Aneignungen (das bekannteste Beispiel hierfür ist die Panegyrik, mehr dazu in Unterkapitel 2.3) und Umformungen wurden. Mit dem Spätsozialismus wandeln sich die Rahmenbedingungen peripherer Geschichtsschreibung. Das Dorf, die Provinz, die Region und die Nation werden als distinkte historiographische Bezugspunkte wirkmächtig und entwickeln eigene Formen der Geschichtsschreibung. Metahistoriographisch von Interesse sind diese Tendenzen weniger im Sinne formal-ästhetischer Neuorientierungen und Weiterentwicklungen, wie wir sie in Kapitel 1 untersucht haben, als vielmehr in ihren thematischen Zugriffspunkten wie etwa in den Paradigmen des Mikro­ historischen und der Übersetzung. Dorf, Provinz und Nation vereint dabei eine Rückbesinnung auf Lebenswelten, deren Spezifik in kritischer Distanz zu akkulturierenden Ideologemen reformuliert wird. Einen besonderen Akzent 1 Kukulin 2013, S. 165. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist der Wandel in der filmischen Darstellung von Grenzregionen, den Oksana Sarkisova untersucht hat, vgl. Sarkisova 2003. 2 Borisova 2013, S. 97. Borisova analysiert diesen „Prozess kultureller Neuverortung“ (98) am Beispiel des Liebesdiskurses zwischen Zentren und Peripherien in den 1960er und 1970er Jahren.

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lege ich in der Analyse auf die globale Verortung dieser historiographischen ­ rscheinungsformen. Dabei geht es weniger um rezeptionsästhetische EinflussE forschung als um das Schlagen interpretativer Schneisen, durch die die globale Gleichzeitigkeit dieser Formen der sowjetischen Literatur in den Blick gerückt werden soll. Sie legt den Grundstein für Gedanken, die im Kapitel 3 wiederaufgenommen und an späterer Stelle (v. a. 7.3) weitergeführt werden sollen.

2.1  Die Schrumpfung der Geschichte – Die Historiographie der Dorfprosa 1972 veröffentlicht Aleksandr Jakovlev, der später zu einem der Architekten der Perestrojka werden wird, in der Literaturnaja gazeta einen aufsehenerregenden Artikel mit dem Titel Protiv antiistorizma (Gegen den Antihistorismus). In diesem polemisiert der Autor gegen eine ‚reaktionäre Romantik‘, die er in der Sowjetunion aufkommen sieht. Hauptträger dieser Tendenz sind für ihn die Repräsentanten der Dorfprosa, denen er die Verfälschung historischer Fakten zugunsten einer subjektiven und nationalistischen Geschichtskonzeption vorwirft.3 Jakovlevs Kritik trägt später kulturpolitische Früchte. 1979 kommt es nach der Veröffentlichung von Valentin Pikul’s Roman U poslednej čerty (An der letzten Linie) zu einer Welle der Kritik, die von politischer Seite zum Anlass genommen wird, gegen national(istisch)e und religiöse Tendenzen in der Dorfprosa vorzugehen.4 In Pikul’s Roman kulminiert eine antisemitische und nationalistische politische Haltung in der Dorfprosa, deren Ausprägung gut erforscht ist. Ebenso nicht rekapituliert werden müssen ihre Nostalgie, ihr zyklisches Geschichtsbild und ihre Bedeutung für eine historisch-religiöse Fundierung des spätsowjetischen Nationalismus.5 Die Frage der historischen Episteme dieser wirkmächtigen Bewegung ist bislang jedoch unterbeleuchtet geblieben, weshalb sie hier umrissen und 3 Vgl. Jakovlev 1972, S. 5. Romantik ist in diesem Kontext durchaus als pejorativer Begriff zu sehen. Ob die Dorfprosaiker sich jedoch selbst als Romantiker verstanden, ist zweifel­ haft. So grenzt sich Valentin Rasputin, einer ihrer bekanntesten Vertreter, explizit gegen das Romantikverdikt ab, wenn er das erste Kapitel seines Sibirienbuches Sibirien ohne Romantik betitelt (vgl. Rasputin 1994). 4 Vgl. Lass 2001, S. 352. Ursprünglich hatte das Werk bereits 1974 erscheinen sollen, wurde allerdings aufgrund einer Welle negativer Reaktionen von Historikern zurückgehalten und in veränderter Form dann 1979 publiziert, vgl. hierzu Brudny 1998, S. 292. 5 Vgl. u. a. Gillespie 1986, Parthe 1992; Razuvalova 2015. Zur Nostalgie bei Abramov und Šukšin vgl. auch meine Ausführungen in Günther 2018a.

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i­nternational verortet werden soll. Den Fokus der Untersuchung liefert dabei die Beobachtung, dass die sowjetische Dorfprosa eine Hinwendung zum Kleinen kennzeichnet. Obwohl man seit den 1920er Jahren versucht hatte, durch die Entfesselung eines War Against the Peasantry 6 die historischen Spuren der verhassten Bauernwelt zu tilgen, erweisen sich deren historische Rückstände als beharrlich und treten als solche in ihrer spezifischen Prägung ab Mitte der 1950er Jahre wieder zu Tage, zunächst literarisch, dann verstärkt auch in zivilgesellschaftlichen Initiativen.7 Die Dorfprosa avanciert in der Folge zu einer der Hauptströmungen eines alternativen historiographischen Diskurses, dessen Ausprägungen mit dem polemischen Vorwurf des Antihistorismus unzureichend beschrieben sind. Vielmehr ergeben sich überraschende Parallelen zu zeitgleichen westlichen Versuchen im Umfeld der italienischen Microstoria und der britischen Cultural Studies, die sich ebenso auf die Fahnen geschrieben hatten, die Geschichte(n) gesellschaftlicher Randgruppen zu erzählen.

Microstoria sovietica Der Chronotopos der Dorfprosa ist begrenzt. Wie die – bis heute trotz ihrer pejorativen Untertöne übrigens kaum umstrittene – Genrebezeichnung nahelegt, ist ihr Hauptschauplatz das Dorf. Fëdor Abramovs Tetralogie Prjasliny (Die Prjaslins, 1958 – 1978) erzählt z. B. die Geschichte des Dorfs Pekašino, Solženicyns Matrënin dvor (Matrjonas Hof, 1963) spielt fast gänzlich im kleinen Tal’novo, Valentin Rasputins Proščanie s Matëroj (Abschied von Matjora, 1976) kreist um das gleichnamige Dorf. Dörfer fungieren nicht als austauschbare Kulisse für die Darstellung einer größeren Entwicklung, sondern erhalten ein spezifisches Gepräge. Die einzelnen Bezugsgrößen werden voneinander abgegrenzt, wobei eine normative Präferenz kleinräumlicher Strukturen erkennbar ist. Deutlich wird dies etwa zu Beginn von Vladimir Solouchins Reiseerzählung Vladimirskie prosëlky (Streifzüge durch die Oblast Vladimir, 1957): Любимым занятием моим с этих пор стало сидение над картой. Сначала это была большая карта Советского Союза. Но Владимирская область на большой карте занимала пространство, которое можно было бы закрыть пятикопеечной монетой. И сколько я ни крутился на таком пятачке, ничего не могла рассказать мне карта. […]

6 Viola u. a. 2005. 7 Erinnert sei etwa an den Aufruf Beregite svjatynju našu! (Passt auf unser Heiligtum auf ! ), der 1965 in der Molodaja gvardija veröffentlicht wird und von vielen Repräsentanten der Dorfprosa getragen wird.

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Вскоре удалось раздобыть подробную карту области, на которой в каждый сантиметр укладывалось всего лишь пять километров земли.8

Der sowjetische Großraum wird dem begrenzten regionalen Raum gegenübergestellt. Zum Sprechen gebracht werden kann die große Karte dabei nicht, sie bleibt stumm. Dies steht im Gegensatz zu den Diskursen der Erschließung und Kartographierung der 1920er und 1930er Jahre, in denen es darum geht, kleinere periphere Räume durch deren Eintragung auf der Karte überhaupt erst zur Erscheinung zu bringen.9 Kartographierung und Historisierung gehen hier Hand in Hand, Geschichte beginnt ab dem Zeitpunkt der Erfassung durch das Zentrum, der Zeitraum zuvor bleibt ahistorisch. Katerina Clark hat darauf hingewiesen, dass ab den 1930er Jahren ein „modellhafter provinzieller Mikrokosmos“ 10 den literarischen Hauptschauplatz des Stalinismus darstelle. In räumlicher Hinsicht repräsentiert der begrenzte Mikrokosmos, in dem sich die Handlung abspielt, sei es eine Kolchose oder eine Baustelle, in nuce die Transformation der sowjetischen Gesellschaft. Er versinnbildlicht die sowjetische Aufbauleistung. In zeitlicher Hinsicht geht es – vor allem in der Zeit nach dem Ersten Fünfjahresplan – um eine Harmonisierung der teleologischen Fortschrittszeit des sowjetischen Modernisierungsprojekts mit der zyklischen Zeit der Natur. Werden die Regionen hier durch die sowjetische Karte erst sichtbar,11 muss im Falle der Oblast’ Vladimir hinter die sowjetische Beschreibung zurückgegangen werden, um das eigentlich Wichtige sichtbar zu machen, im Falle Solouchins ihre eminente nationale Bedeutung. Besonders deutlich wird dieser Unterschied in der Kartographierung bei einem Vergleich mit Nikolaj Michajlovs Nad kartoj rodiny (Reise über die Karte der Sowjetunion, 1947). Dieses Werk erhielt 1947 den Stalinpreis und nähert sich der Karte der Sowjetunion vom Moskauer Zentrum aus. Es beginnt mit dem Moskauer Kreml als dem Zentrum des Imperiums und blickt anschließend von dort auf das Land: 8 Solouchin 1957a, S. 84. „Seit dieser Zeit wurde es zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen, über der Karte zu sitzen. Am Anfang war es eine große Karte der Sowjetunion. Aber die Oblast’ Vladimir nahm auf dieser Karte nur eine Fläche ein von der Größe eines Fünf­ kopekenstücks. Und solange ich auch diesen Fleck betrachtete, die Karte konnte mir doch nichts erzählen. […] Bald gelang es mir, eine ausführlichere Karte der Oblast’ zu erlangen, auf der ein Zentimeter auf der Karte lediglich 5 Kilometer in Wirklichkeit entsprach.“ 9 Vgl. hierfür mit einer Fülle von v. a. filmischen Beispielen Widdis 2003. 10 Clark 1980, S. 109. 11 Zu denken wäre hier an die filmische Darstellung der Anbindung eines georgischen Bergdorfs in Sol’ Svanetii (Das Salz Svanetiens, Regie Michail Kalatozov, 1930) oder an die kartographische Erfassung der kasachischen Steppe in Turksib (Regie Viktor Turin, 1929), wo der Prozess der imperialen Kartographierung vielleicht am deutlichsten ist.

Die Schrumpfung der Geschichte107 Doch bevor wir die einzelnen Gebiete der Sowjetunion aufsuchen, wollen wir einen Blick auf die Karte der UdSSR werfen. Das erfordert geraume Zeit, aber es macht nichts: lernen wir zu Anfang das Land in seiner Gesamtheit kennen so gibt uns das in der Folge die Möglichkeit, seine einzelnen Teile besser zu verstehen.12

Die Gesamtperspektive auf die Sowjetunion ist hier Bedingung der Möglichkeit ihrer kartographischen Erfassung. Solouchin invertiert diese Rangordnung, nur auf der kleinen Karte ist etwas zu erkennen, die große Karte ist wertlos. Betont Michajlov die Konvergenz im Imperium, so rückt die Mikrogeschichte der Dorfprosa zeitliche und räumliche Differenz in den Vordergrund. Der Mikrokosmos der Dorfprosa repräsentiert in Abgrenzung zur stalinistischen Vorstellung nicht das sowjetische Ganze, sondern steht in lokaler, regionaler oder nationaler Differenz zu ihm. An die Stelle eines gesichtslosen, vom Zentrum neu kartographierten und neu benannten Raums tritt eine Struktur, die sich mittels persönlicher und mythologischer Netzwerke konstituiert. Die Repräsentanten der Dorfprosa setzen der hegemonialen und imperialen sowjetischen Chronotopik drei alternative Raumordnungen gegenüber: das Dorf, die Region und die Nation. Die ursprüngliche Naturlandschaft ist für die Dorfprosa zentral und kann als Ausdruck eines essentialistisch-nationalistischen (neo)počvenničestvo gelesen werden. Sie kann aber auch gelesen werden als früher Ausdruck eines sowjetischen ökologischen Bewusstseins, der Notwendigkeit einer Versöhnung von Kultur und Natur für das Überleben der Menschheit.13 Dieser konservative, zuweilen auch reaktionäre, „archaische Ökologismus“ 14 ist dabei rückgebunden an ein naturphilosophisches Primat zyklischer Zeitvorstellungen und an eine relativ statische geokulturelle 15 Semantik. Räumliche Selbstbeschränkung korreliert mit zeitlicher Entgrenzung. Anhand eines begrenzten und bekannten Raums wird die Gültigkeit und Überlegenheit metaphysischer Zeit gegenüber dem sowjetischen Modernisierungsnarrativ literarisch exerziert. Um die Bedeutsamkeit dieser Inversion herauszustreichen, lohnt an dieser Stelle eine Erweiterung der Perspektive. Bereits Lev Tolstoj hatte in Vojna i mir (Krieg und Frieden) die Unvereinbarkeit von Mikro- und Makrogeschichte 12 Michailow/Pokschischewskij 1947, S. 47. 13 Vgl. u. a. Bahro 1986; Razuvalova gibt eine Fülle an russischen Untersuchungen zu ökologischen Aspekten der Dorfprosa in ihrem Werk, vgl. v. a. S. 274, Fn. 1. 14 Vgl. Razuvalova, die von einer Archaisierung der Ökologie („Archaizirujuščaja ėkologija“, S. 288) spricht. 15 Zum Begriff der Geokulturologie vgl. Frank 2010.

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t­ hematisiert und dem mikroskopischen Blick auf einzelne Ereignisse den Vorrang gegenüber geschichtswissenschaftlichen Großdeutungen zugesprochen.16 Auf Tolstoj rekurriert auch Siegfried Kracauer, dessen Schrift Geschichte – vor den letzten Dingen (posthum, engl. Erstausgabe 1969) eine der Wurzeln des mikrogeschichtlichen Diskurses ist.17 Kracauer sieht Mikro- und Makrogeschichte in einem Wechsel- und Spannungsverhältnis zweier historiographischer Desiderate. Auf der einen Seite steht der Wunsch nach Detailtreue und Wiedergabe von Subjektivität, die den Historiker auf mikrohistorisches Terrain führt, auf der anderen Seite der Wunsch nach der Erkenntnis und Durchdringung größerer Einheiten, die zu makroskopischen Darstellungen leitet. Kracauer löst diese Spannung nicht auf, sondern fokussiert auf die „einschneidenden Beschränkungen“ im „Verkehr zwischen der Mikro- und Makro-Dimension“. Die Vereinbarung von Vogel- und Fliegenperspektive, wie sie Arnold Toynbee gefordert habe, sei unerfüllbar.18 In Bruch mit der hegemonialen – vor allem von der Annales-Schule verkörperten – Tradition der Privilegierung der Vogelperspektive formiert sich in der Konsequenz in den späten 1970er Jahren ausgehend von Italien eine mikrohistorische „Gegenbewegung gegen eine Historiographie, die den großen Gang der Dinge und die wesentliche Struktur vergangener Gesellschaften immer schon zu kennen meint“.19 Auch hier bezieht man sich auf Tolstoj, so z. B. bei Carlo Ginzburg, der sein bekanntes Werk Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del ’500 (Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 1976) als „das verzerrte Minimalergebnis aus Tolstois gewaltigem, per se unrealisierbarem Projekt betrachtet“.20 In bekannten Werken wie dem eben erwähnten Ginzburgs oder Natalie Davis’ The Return of Martin Guerre (1983) stehen die „Lebenserfahrungen von Individuen aus ärmlichen Verhältnissen im Vordergrund, die auf eine nicht selbstgewählte soziale Situation aktiv reagierten“.21 Obgleich die Rezeption der Schriften Ginzburgs und anderer Vertreter der Microstoria in Russland erst in den 1990er Jahren einsetzt, findet sich in der Tradition der Dorfprosa ein zeitgeschichtliches Pendant, dessen Ähnlichkeiten zur westlichen Microstoria hier nachgegangen werden soll.

16 Vgl. Witte 2017, der in seinem Aufsatz analysiert, wie Tolstoj die Geschichte verkleinert. 17 Die Theoretisierung der Mikrogeschichte erwächst bei Kracauer dabei aus seiner Beschäftigung mit dem Film und dessen darstellerischen Möglichkeiten kleiner Sinneinheiten (Close-up). 18 Vgl. Kracauer 2009, S. 141. 19 Schlumbohm 1998, S. 19. 20 Ginzburg 2013, S. 102. 21 Iggers/Wang/Mukherjee 2013, S. 255.

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Die Mikrogeschichte setzt an kleinräumlichen Strukturen an und versucht ausgehend davon einen neuen Blick auf Geschichte zu werfen, der sich gegen positivistische, strukturfixierte Ansätze wendet, wie sie beispielsweise die AnnalesSchule repräsentiert. Giovanni Levi, einer der Hauptvertreter der italienischen Microstoria, fasst rückblickend zusammen: „,Mikro‘ ist das Auge, die Linse, mit denen man die Realität liest, der reduzierte Maßstab, mit dem man arbeitet, nicht der Gegenstand!“ 22 Mikrogeschichte definiert sich also nicht allein durch ihren Gegenstand, die Hinwendung zum Marginal(isiert)en erfordert auch eine andere Perspektivierung. Ins Blickfeld geraten Fäden, Fährten und Spuren, so die Metaphorologie Carlo Ginzburgs,23 deren Lesbarmachung eine andere Form der Historiographie erfordert. Sie ist literarischer Natur, an die mündlichen Erzählformen ihrer Protagonisten gebunden. Hier erfährt das „szenische Erzählen gegenüber den Distanznahmen der sozialwissenschaftlichen Orientierung an Strukturen eine Wertschätzung“.24 Das verschriftlichte Erbe tritt gegenüber mündlichen und materiellen Spuren zurück, was eine Neukonstitution der historiographischen Gegenstände mit sich bringt. Metahistoriographisch bedeutsam ist diese Konstellation insofern, als sie Fragen der Repräsentation des auf bisherigem Wege nicht Repräsentierbarem aufwirft. Der Dorfgeschichtlicher tritt als „Fürsprecher dessen auf, was sich selbst nicht zu repräsentieren vermag“ (487). Diese Fürsprache kann er nicht entwickeln, indem er etablierte Formen der Geschichtsschreibung auf einen neuen Gegenstand bezieht, sondern nur in der Entwicklung eines „poetologische[n] Kalkül[s] […], das die deskriptive Sensibilisierung für den Eigensinn peripherer Kulturen oder Gemeinschaften als Voraussetzung ihrer adäquaten Überführung in eine neue Konfiguration von Zentrum und Peripherie“ (492) begreift. Fünf Aspekte mikrogeschichtlicher Darstellungen sind auch im Hinblick auf die russische Dorfprosa interessant: zunächst die bereits besprochene Umwertung der Hierarchie von Mikro- und Makrogeschichte (I): die Rückkehr zum Kleinformat, zur Geschichte einzelner Individuen und Familien oder kleiner Städte. Mit der Hinwendung zum Mikrokontext korrespondiert die Zuwendung zu einer Geschichte von unten (II ). Die Helden der Microstoria sind Dorfbewohner, marginalisierte Gruppen oder Verrückte. Die Dorfprosa erzählt nicht die bekannte Geschichte von Schlachten, Feldzügen und historischen 22 Levi 2017, S. 116. 23 Ginzburg 2013. 24 Neumann/Twellmann 2014, S. 479.

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­ ersönlichkeiten, s­ ondern bindet einfache Bauern in eine Geschichtsschreibung P ein, von der sie die meiste Zeit ignoriert worden waren.25 Mit der Würdigung marginalisierter Gruppen korrespondiert eine Hinwendung zum historischen Alltag.26 Eine besondere Rolle spielen auch Fragen der Agency und Handlungsmacht subalterner Gruppen (III ). Während in zeitgenössischen sowjetischen historischen Romanen häufig die Helden der Revolutionszeit und des Zweiten Weltkriegs im Zentrum stehen, widmet sich die Dorfprosa einzelnen Figuren, deren Verhalten oft wenig Heldenhaftes an sich hat. Die Vielzahl einzigartiger, aber dennoch als normal präsentierter Charaktere ist in der russischen Dorfprosa einschlägig – von Vasilij Belovs Ivan Afrikanovič bis zu Valentin Rasputins Bogodul. Sie stehen Ginzburgs Menocchio oder Levis Exorzisten Chiesa in nichts nach. Interessant ist hierbei die Geschlechtertrennung in der russischen Dorfprosa. Während die männlichen Helden durch eigene Entscheidungen Ortswechsel vornehmen und tätig werden, repräsentieren die weiblichen Heldinnen ein ewiges Prinzip. Sie sind an ihre Scholle gebunden,27 quasi mit der Erde verschmolzen und kommen deshalb als historische Akteurinnen nicht in Betracht. Sie garantieren die unveränderliche Naturzeit und sind damit von der männlich codierten ereigniszentrierten, apokalyptischen Zeit getrennt. Diese Darstellung korrespondiert mit einer weiteren Tendenz der Mikrogeschichte, der zur Kulturalisierung (IV ). So nimmt „Ginzburg die Existenz einer uralten mediterranen bäuerlichen Kultur an, von der Menocchio seinen erdverhafteten Religionsbegriff ererbt hat“.28 Die Handlungsräume in ihren Werken sind von sprachlichen und mythologischen Eigenheiten durchzogen, die nur innerhalb des jeweiligen Mikrokontexts, sei dieser das Dorf oder die Region, sinnhaft erscheinen. Die Mikroebene ist für Besucher von außen, die aus einer anderen sozialen Schicht kommen und die Mythen der Bewohner nicht kennen und teilen, unzugänglich. Am stärksten verkörpern jene Ebene wie auch bei Ginzburg Jurodivyj-Gestalten, z. B. die Figur des Bogodul (Herrgottsschmer) bei Rasputin. Als letzte Parallele ist auf die Rückkehr der Narration in der Mikrogeschichte hinzuweisen (V). Die Mikrogeschichte ist ein wichtiger Impulsgeber für das 25 Vgl. Parthe 1992, S. 51. 26 Dies zeigt sich z. B. im ersten Teil von Abramovs Tetralogie Prjasliny, aber auch in vielen Kurzgeschichten Vasilij Šukšins, in denen das Globale dem Lokalen gegenübergestellt wird und durch dessen Alltagsschilderung dezentriert wird. 27 Z. B. in Solženicyns Matrënin dvor oder in Rasputins Proščanie s Matëroj. 28 Iggers/Wang/Mukherjee 2013, S. 255. Dies erinnert an das bereits oben genannte (neo) počvenničestvo der Dorfprosa.

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­ evival der narrativen Geschichtsschreibung in den 1970er Jahren.29 Im ­Gegensatz R zur nach dem Zweiten Weltkrieg dominierenden Analytischen Geschichte und Sozialgeschichte beginnt die Geschichtswissenschaft nun wieder zu erzählen. Erinnern wir uns an den obigen Ausschnitt bei Solouchin, in dem kritisiert wird, dass die Karte nichts erzählen könne: Eine bloß geographische oder statistische Verortung reicht nicht mehr aus. Die wichtigste Differenz zur Mikrogeschichte, die hier abschließend nicht verschwiegen werden darf, liegt darin, dass es dieser darum ging, durch mikrogeschichtliche Analysen historische Großerzählungen ins Wanken zu bringen. Das politische Anliegen der Vertreter der Dorfprosa steht dieser Agenda denkbar fern und ist im Anschluss an Svetlana Boym als „restaurative Nostalgie“ 30 zu charakterisieren, die der sowjetischen Modernisierungsgeschichte eine alternative (vor-)revolutionäre Geschichte entgegensetzen möchte. Es geht nicht um einen Bruch mit den großen historischen Erzählungen, sondern um deren Ersatz. Insofern verwundert es nicht, dass viele Repräsentanten der Dorfprosa später einem aggressiven russischen Nationalismus nahestehen.

Ding- und Symbolgeschichten Als weitere mikrologische Tendenz der Dorfprosa ist die Hinwendung zum Dinglichen zu charakterisieren. Dieses wirkt in seiner Ding- und Symbolhaftigkeit als historisches Medium. Deutlich wird seine Hybridstellung zwischen Natur und Artefakt im Prolog zu Abramovs Tetralogie Prjasliny. Als der Held in sein Heimatdorf zurückkehrt, entdeckt er dort einen alten Tisch, nachdem er vom Luftzug des nahen Flusses auf die richtige Fährte gelockt wurde.31 „А стол – то, стол! – осел, еще глубже зарылся своими лапами в землю“.32 Der Tisch als Artefakt fungiert als Verbindungsglied zwischen Dorf- und Erdgeschichte. Die Semantik des Vertiefens 33 steht im Kontext des (neo)počvenničestvo und verleiht 29 Stone 1979. 30 Boym 2001. 31 Flüsse nehmen in der Dorfprosa eine herausgehobene Stellung ein und repräsentieren häufig den überzeitlichen ‚Fluss der Zeit‘. 32 Abramov 1974, S. 3. „Ach, und der Tisch! Der hat sich mit seinen dicken Pranken noch tiefer in den Boden eingefühlt“ (dt. Übersetzung nach: Abramow 1976, S. 5). 33 „И медленно, по мере того как я все больше и больше вчитывался в эту деревянную книгу, передо мной начали оживать мои далекие земляки“ (4). „Und je tiefer ich ins Entziffern des hölzernen Buchs eindrang, um so lebendiger sah ich die Menschen meiner Heimat aus der Tiefe verflossener Jahre vor mir stehen“ (Abramow 1976, S. 6).

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der Gegenwart diachronische Tiefe.34 Der Tisch ist ein historisches Speichermedium maximaler Reichweite, er ist ein lückenloses Dokument („samyj pol’nyj dokument“). Die Materie wird zum Text: Aus dem Tisch wird ein hölzernes Buch („derevjannuju knigu“), zum Schluss des Prologs gar ein hölzernes Geschichtsbuch („v ėtoj derevjannoj letopisi“).35 Der Tisch ist ein historisches Palimpsest, auf dem die Spuren der Natur und der Menschen gleichzeitig sichtbar werden: „Припав к столу, я долго разглядывал эти старые узоры, выдувал травяные семена, набившиеся в прорези знаков и букв … Да ведь это же целая летопись Пекашина!“ 36 Die Vollständigkeit erhält der Tisch als historisches Dokument dadurch, dass auf und in ihm auch Spuren jenseits schriftlicher Überlieferung sichtbar werden. Dies gilt für die Spuren der Natur, es gilt aber auch für die Spuren der nicht alphabetisierten Bewohner Pekašinos, die sich ebenfalls dort finden. Nicht zur Geschichte des Dorfes gehören allerdings die Frauen: „Ни одной женской надписи не нашел я на столе.“ 37 Das Palimpsest entziffern kann nur, wer mit der Geschichte des Dorfes und seiner Bewohner bereits vor der Lektüre vertraut ist. Die einzelnen Buchstaben und Jahreszahlen erlangen Bedeutung nur für denjenigen, der diese isolierten Zeugnisse mit der Persönlichkeit der Vorfahren in Verbindung bringen kann. Die kulturellen Voraussetzungen, die durchaus Anklänge an eine Blut-und- Boden-Rhetorik transportieren, müssen gegeben sein, um Geschichte erzähl- und lesbar zu machen. Die Eingangssequenz transportiert dabei den Wunsch nach einer alternativen Semiotik, einem alternativen geschichtlichen Überlieferungssystem, durch das Spuren lesbar werden, die in der offiziellen, verschriftlichten Chronik fehlen. 34 „Рыжие, суковатые, в расщелинах, плахи стола сплошь изрезаны, изрублены. Так уж повелось исстари“ (Abramov 1974, S. 3). „Die rötlichen, gespaltenen astreichen Tischplanken waren von Einschnitten und Kratzern zerfurcht. So war es schon vor uralten Zeiten gewesen“ (Abramow 1976, S. 6). 35 Abramov 1974, S. 3. 36 Abramov 1974, S. 4. „Tief auf die Platte geneigt, untersuchte ich lange die Ornamente aus vergangenen Zeiten, pustete Grassamen aus den tiefen Ritzen der Zeichen und Buchstaben. Aber da lag doch eine komplette Geschichtsschreibung des Dorfes Pekaschino von mir!“ (Abramow 1976, S. 6) 37 Abramov 1974, S. 4. „Keine einzige Inschrift von Frauenhand fand ich auf der Tischplatte“ (Abramow 1976, S. 7). Diese Äußerung verrät weniger den konkreten Prozess der Entzifferung – da man als Leser gerne die Kriterien erfahren würde, mit denen einzelne Einritzungen und Buchstaben einer Frauen- oder Männerhand zugeordnet werden können –, sondern ist als programmatische Äußerung zu verstehen. Eine weibliche schriftliche Überlieferung ist nicht vorgesehen, Frauen als historische Subjekte kommen nicht vor und gehen in der Naturgeschichte auf.

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Die Haupthandlung wird in dieser Eingangssequenz als Manuskriptfiktion inszeniert: „И мне захотелось хоть одну страничку приоткрыть в этой деревянной летописи Пекашина …“ 38 Dieser historiographische Kunstgriff verleiht der anschließenden Erzählung die Weihe materieller Evidenz. Diese ist zu Beginn nicht unmittelbarer Natur, wiederholt wird der durative Aspekt der Entzifferung hervorgehoben. Im Laufe des Entzifferungsprozesses erlangt die Deutung der Zeichen aber stärkere Unmittelbarkeit, was auch damit zu tun hat, dass der Tischhistoriker nun vertraute Namen identifizieren kann. Je mehr Übung der Kryptoanalytiker hat und je näher er an seine eigene Lebenszeit rührt, desto unmittelbarer und emotiver wird sein Verstehen. Geschichtserkenntnis wird dadurch an die Lebenswelt des Dorfhistorikers rückgebunden, die sich durch Vertrautheit und Routinen auszeichnet. Zwar mögen die letztendlich zum Klingen gebrachten Geschichten konventionell sein, der Modus ihrer Erweckung ist es nicht. Im Symbol des Tischs findet das (freilich nur vermeintlich) selbstverständlich Gegebene seinen Ausdruck. Dass hier zum Symbolischen Zuflucht genommen wird, überrascht aufgrund des von Hans Blumenberg bereits erkannten „konstitutiven Mangel[s] an Ausdrücklichkeit, an Prädikativität“ der Lebenswelt nicht.39 Das Primat des Symbolischen in der Historiographie der Dorfprosa wird getragen von der Hoffnung, zu einer Geschichtsschreibung ohne Geschichtswissenschaft zurückfinden zu können: „Das bedeutet nicht ihre Sprachlosigkeit. Sie hat ihre Geschichten, die Nachdenklichkeit stiften mögen, aber Denken als ein Bedingungsverhältnis von Frage und Antwort überflüssig machen“ (67). Der Prozess der Entzifferung hat nichts mit einem methodischen Prozess zu tun, stattdessen geht es darum, möglichst tief einzutauchen, sich affizieren zu lassen, Assoziationsräume zu eröffnen. Das Symbolische soll den Riss der Zeit kitten, der durch die Modernisierung entstanden ist und von den Vertretern der Dorfprosa hellsichtig beschrieben wird. Die Öffnung der Zeitschere (Blumenberg) zwischen Lebenszeit und Weltzeit soll rückgängig gemacht werden, indem der unheimliche Weltbegriff auf dörfliches Maß zurückgeschrumpft wird. Die gesamte Geschichte 40 soll wieder erzählbar werden, wie es im Rückgriff auf die Buchmetapher heißt, die die Idee der Lesbarkeit der Welt aufruft.

38 Abramov 1974, S. 4. „Und da verspürte ich Lust und Bedürfnis, wenigstens eines der vielen Blätter des hölzernen Geschichtsbuchs von Pekaschino aufzuschlagen“ (Abramow 1976, S. 7). 39 Blumenberg 1986, S. 67. 40 Mehrfach wird in der Einleitung eine Semantik der Vollständigkeit aufgerufen.

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Materielle Objekte als Speichermedien von Geschichte spielen auch in Oles’ Hončars Roman Sobor 41 (Der Dom von Satschipljanka, 1968) eine wichtige Rolle. Er erweitert die gerade analysierte Semantik um eine architektonische Komponente. Im Zentrum dieses ukrainischen Romans steht ein klassischer sozrealistischer Topos, die Bewusstwerdung eines Dorfmädchens, das nach der ­Überwindung einiger Hindernisse ihre Liebe und Bestimmung findet. Eigentlicher Held ist allerdings der Dom, der von den Dorfbewohnern vor der Zerstörung gerettet wird. Ebenso wie der Tisch bei Abramov ist der Dom bei Hončar Verbindungsglied zwischen Tradition und Gegenwart, Hybrid zwischen Natur und Artefakt. Der Dom garantiert, dass sich „Satschipljanka […] nicht von der Erde lossagt“.42 Wie die Erde ist er „beständig und vielgestaltig, so ewig wie der Wechsel“.43 Erneut erkennt man den charakteristischen Chronotopos der Dorfprosa: Der Raum wird begrenzt, er schrumpft auf eine symbolische Größe zusammen, während die temporale Achse zum Unendlichkeitsfluchtpunkt der Ewigkeit strebt. Im Text fungiert der Dom als Speicher materieller, naturgebundener und verschriftlichter, kulturgebundener Geschichte. Als die Tafel des Doms abhandenkommt, beginnen die Bewohner Začipljankas zu revoltieren. Durch den Verlust der Tafel scheint ihnen ihr kulturelles Erbe bedroht, denn der Dom ist Symbol ukrainischer Nationalkultur, die bis zur Gründung durch Saporoger Kosaken zurückreicht.44 Der Dom verbindet ihre Repräsentanten wie den Dichter Taras Ševčenko, den Historiker Dmitro Javornic’kij und den Anarchistenführer Nestor Machno. Für die Bewahrung und Weitergabe dieses Erbes hat der Schullehrer im Gulag gelitten. Neuer Träger dieses Nationalbewusstseins ist der Student Mykola Bahlaj, der dessen Bedeutung folgendermaßen zusammenfasst: Сьогоднi люди помiтили свiй собор. Для них вiн не пiдляга є знесенню, бо вiн прийнятий ними у цiнностi життя так само, як вiд народження прийнята синява Днiпра, i багряна велич нiчного неба над заводами, i постать чавунного революцiйного Титана, що для юних поколiнь прийшов десь уже нiби з вiчностi.45 41 Der Roman erregte bei seiner Veröffentlichung viel Aufsehen, wurde später allerdings von den Behörden aufgrund seines angeblich nationalistischen Charakters verurteilt und verboten, mehr zu diesen Hintergründen bei Zhuk 2013, S. 85 f. 42 Hontschar 1970, S. 63; „землі не цурається“ (Hončar 1968, S. 54). 43 Hontschar 1970, S. 107; „як образ нескiнченностi, все височить на майданi ця сива скеля вiкiв. Собор завжди несе в собi певний настрiй“ (Hončar 1968, S. 89). 44 Hončar 1968, S. 119; vgl. für die nationale Bedeutung auch den Monolog Javornic’kijs auf S. 213 f., der gegen die russische Zarin und Potemkin polemisiert. 45 Hončar 1968, S. 122. „Heute haben diese Menschen ihren Dom entdeckt. Für sie kommt kein Abbruch in Frage, denn sie haben ihn in die Werte des Lebens aufgenommen – genauso wie seit ihrer Geburt die Bläue des Dnjepr und die purpurne Majestät des

Die Schrumpfung der Geschichte115

Das nationale und das chthonische Moment werden hier verknüpft. Fluss und Himmel werden als nationale Symbole gekennzeichnet und semantisch mit dem Dom verschränkt. Im Gegensatz zum Tisch bei Abramov repräsentiert der Dom hier allerdings ein eindeutig referentialisierbares Symbol. Der Dom kann einem real existierenden Bau, der Dreifaltigkeitskathedrale in ­Novomoskovsk, zugeordnet werden. Hier geht es nicht um eine Ablösung verschriftlichter Geschichte durch ein rein materielles Zeichensystem. Vielmehr ist der Dom ein historischer Aktant im Sinne Latours, der nur in der Verschmelzung von Materialität und Personalität historisch wirksam werden kann. Die Materialität des Doms repräsentiert eine Vetomacht, deren unmittelbare Evidenz zu gesellschaftlichem Handeln, d. h. zu Protest führt. Jener Protest artikuliert sich nicht gegen die Geschichtswissenschaft. Diese ist im Gegenteil – in Gestalt des Historikers J­avornyc’kyj und der Tafel am Dom – Garant der Erhaltung des Symbolwerts des Doms. Natur- und Kulturzeit stehen hier nicht länger im Gegensatz, sondern sollen miteinander versöhnt werden. Dass sich Geschichte anhand ebensolcher Ordnungsstrukturen der Dingwelt erzählen lässt, ist eine der globalen historiographischen Tendenzen seit den 1960er Jahren. Die Impulse für diese Betrachtung kamen dabei zunächst aus der Ethnologie, hier vor allem vom Werk Claude Levi-Strauss’ und seiner strukturalen Anthropologie, die eine Grammatik der Artefakte als Teil einer größeren Analyse kultureller Kommunikationssysteme zu liefern beanspruchte.46 Im Umfeld der britischen Cultural Studies war Raymond Williams einer der Ersten, der in seinen historischen Arbeiten Materialität eine zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche Reproduktion zuschrieb.47 Ebenso einflussreich erwiesen sich später soziologische Ansätze und hier insbesondere das Werk Pierre Bourdieus, in dessen Rahmen „Dinge und ihre Produktion als strukturbestimmende Merkmale der Industriegesellschaft sowie als Objektivationen von langfristigen Entwicklungsprozessen moderner Gesellschaften interpretiert werden“.48 Bourdieus Ziel war es, ausgehend von einer Untersuchung materieller Wertverständnisse gesellschaftliche Strukturen abzubilden. Schließlich nimmt sich auch Michel Foucault etwa zur selben Zeit der Ordnung der Dinge an und beklagt die seit der Aufklärung vorherrschende Privilegierung sprachlichen Wissens gegenüber Nachthimmels über unseren Fabriken und die gußeiserne Gestalt des revolutionären Titans dazugehören, der in den Augen junger Generationen ja auch schon von jeher dagewesen zu sein scheint“ (Hontschar 1970, S. 151). 46 Reckwitz 2010, S. 184. 47 Göttlich 2009. 48 Ludwig 2011.

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der „prosaischen Welt“ der Dinge.49 Dinge sind hier keine stummen Objekte menschlichen Handelns, sondern Teil eines größeren Dispositivs, das sie wesentlich mitkonstituieren. Was diese disparaten Ansätze vereint, ist die Kritik an einer von der großen Erzählung der Aufklärung dominierten Geschichtssicht, in der sprachliche Strukturen bedeutsamer als materielle angesehen werden. Ebenso wichtig ist der Hinweis auf die Bedeutsamkeit des einzelnen Artefakts als Teil einer kulturell geprägten Kommunikationsstruktur – in der der Schwerpunkt entweder auf sozialen Aspekten oder auf subjektiv grundierten Zuschreibungen von Bedeutsamkeit liegen kann. Die Dorfprosa lässt Ähnlichkeiten zu diesen Diskurssträngen erkennen. Wir haben in unserer Analyse von Abramov gesehen, wie Dinggeschichte als Resultat einer spezifischen kulturellen Einbettung erzählbar wird. Bei Hončar fungiert Dinggeschichte als Substitut für Nationalgeschichte, in der die Dinge selbst zu Aktanten werden. Vor allem bei Abramov lässt sich auf epistemischer Ebene eine Tendenz zur Unterminierung bislang privilegierter, von der Schrift dominierter Geschichtserzählungen konstatieren. Materialität und Schrift stehen für viele Repräsentanten der Dorfprosa in einem supplementären Verhältnis. Geschichtsschreibung ohne Bezug auf die materialisierten Formen der Überlieferung ist defizitär. Dinge wirken als Authentizitätsgaranten, die das Versprechen der unmittel­baren Evidenz einer als ursprünglich imaginierten Lebenswelt transportieren. Die Historiographie der Dorfprosa ist im Gegensatz zu den eben genannten Theorien allerdings auf starke metaphysische Vorannahmen angewiesen. Die Mikrogeschichten der Dorfprosa werden erzählt vor dem Hintergrund einer als ewig imaginierten nationalen, religiösen oder naturphilosophischen Idee. Dem liegt durchaus eine antihistorische Tendenz zugrunde, die in Abwandlung von Jakovlevs Verdikt der reaktionären Romantik als restaurative Romantik bezeichnet werden könnte. Möchte man diese im Umfeld der Postmodernediskussionen situieren, wie es u. a. Raoul Eshelman vorgeschlagen hat,50 dann bietet sich eine vorsichtige Verortung im Umfeld der konservativen Postmoderne (Zima) an. Die Absage an die Totalität des Marxismus führt dort nicht zu einem Lob des Polytheismus,51 sondern dazu, „im Rahmen eines dualistischen, monologischen und von mythischen Aktanten dominierten Diskurses die Romantik gegen die Aufklärung aus[zuspielen]“.52 Dieses Verdikt lässt sich auch auf die Repräsentanten der Dorfprosa übertragen. 49 50 51 52

Foucault 1971, S. 46. Vgl. Eshelman 1997. Marquard 1981. Zima 2016, S. 82.

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2.2  Von der Welt- zur Provinzanschauung – Mark Charitonovs Linii sud’by und Aleksandr Ivančenkos Monogramma Inwiefern Geschichte aus der Perspektive der Provinz anders erscheint als aus der Perspektive des Zentrums, haben wir bereits in der Analyse von Terc’ L ­ jubimov gesehen, wo die Revolution zum Staatsstreich einer manipulativen Elite umerzählt wird. Dass sich auf diese Weise geographische Differenzen in Historiographien einschreiben, mag dem Leser als Gemeinplatz gelten. Er sollte für die Betrachtung der russischen Historiographie aber hervorgehoben werden, vertraten doch Autoritäten des geschichtswissenschaftlichen Feldes, folgt man Sarah Badcock, lange die These, „that study of the provinces was pointless, because ‚when the bell tolls in Petersburg, the bell tolls all over Russia‘“. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer verbreiteten Fehlwahrnehmung Russlands, nach der die Ereignisse in der Provinz einfach dem Lauf der Dinge in den Hauptstädten folgten.53 Jüngere Forschungen haben diese Auffassung Lügen gestraft 54 und provinzielle Spezifika herausgearbeitet. Über solche primär inhaltlich orientierten Neubetrachtungen hinaus tritt die Provinz im Spätsozialismus als eigenständiger historiographischer Ort in Erscheinung. Hier geht es nicht nur um einen neuen Blick auf die Provinz, sondern auch um einen neuen Blick aus der Provinz. Die Provinz stellt dabei mitnichten einen neuen Forschungsgegenstand dar, wie die vielen Arbeiten zu den russischen Provinzdiskursen des 19. Jahrhunderts belegen.55 Für die Provinzdiskurse des Spätsozialismus und der Perestrojka lässt sich jedoch eine Leerstelle ausmachen, die für die Analyse ihrer Historiographie ebenso gilt. Dieses Unterkapitel widmet sich deshalb auf der Basis zweier Werke, Mark Charitonovs Linii sud’by (Linien des Schicksals) und Aleksandr Ivančenkos Monogramma, der Thematik der Provinzhistoriographie. Zeitlich sind beide Werke zwischen der Periode des Spätsozialismus und der Perestrojka angesiedelt.56 Sie sind bedeutsam, da sie die Provinz als eine distinkte Existenzweise 53 Badcock 2007, S. 2. 54 Vgl. für einen Überblick zur Forschungslandschaft Raleigh 2001; Badcock 2008; ­Novikova 2015. 55 Vgl. v. a. die Sondernummer der Zeitschrift Russian Literature LIII (2003) und Lounsbery 2005, instruktiv außerdem Krivonos 2001; Avrekh 2013. 56 Charitonov hatte sein Werk bereits 1985 beendet, erstmals publiziert wurde es allerdings im Jahr 1992 (vgl. Weinstein 1996, S. 38). Es ist das Schlusswerk einer Provinztrilogie, die noch die Werke Prochor Men’šutin (1971) und Provincial’naja Filosofija

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begreifen, aus der eine historiographische Praxis sui generis resultiert. Diese ist dezidiert antisystematisch, fragmentarisch und experimentiert mit alternativen Aufschreibesystemen. Mit der Oktoberrevolution kommt es zunächst zu einer Aufwertung des provinziellen Pols. Die nachrevolutionäre Dekade strebt eine horizontale Integra­ tion des Imperiums an. So führt Vladimir Papernyj aus: „ценности периферии становятся выше ценностей центра. И сознание людей, и сами эти люди устремляются в горизонтальном направлении от центра“.57 Dieser Diskurs – in den auch der Auf- und Abstieg der einflussreichen kraevedenie der 1920er Jahre fällt – dreht gegen Ende der 1920er Jahre. Die Lebensweise der Provinz wird nun zum Angriffsziel vom Zentrum gesteuerter Zivilisierungsmissionen, ­(Provinzphilosophie, 1977) umfasst. Zu einer Interpretation des Werks im Rahmen der Trilogie vgl. Weinstein 1996. Monogramma wird 1988 veröffentlicht und steht werkbiographisch in Verwandtschaft zu früheren Arbeiten Ivančenkos, v. a. zu seinem Roman Avtoportret s dogom (Selbstporträt mit Dogge), der 1982 beendet wird und 1990 erscheint. Insbesondere Charitonovs Roman ist bereits mehrfach Gegenstand der Forschung geworden. Die umfangreichste Interpretation hat Amy Isaac Obrist in ihrer Dissertation The Russian Metahistorical Imagination and Russian Fiction of Perestroika vorgelegt. Sie interpretiert die Geschichtskonzeption Charitonovs im Anschluss an Tolstojs Geschichtsbild und identifiziert eine Reihe semantischer und struktureller Verfahren, die dazu dienen, historiographische Narrativierungen zu markieren und die prinzipielle Unerkennbarkeit historischer Wahrheiten zu propagieren. Gerichtet ist der Roman ihrer Ansicht nach gegen ein utopisches Denken, das sie vor allem in der Provinzphilosophie Milaševičs zu erkennen glaubt. Lizavins Rekonstruktionsbemühungen der Aufzeichnungen Milaševičs liest sie als Detektivgeschichte, die dazu dient, sich Schritt für Schritt von Milaševičs fantiki-Mystifikationen zu emanzipieren und diesen eine möglichst akkurate Deutung der Vergangenheit entgegenzusetzen: „the central thesis of the novel is the author’s attempt to reestablish a correct understanding of history“ (Obrist 2005, S. 328). Die These dieses Unterkapitels läuft dieser Behauptung diametral entgegen und folgt der Deutung Marc Weinsteins, der zufolge Provinz bei Charitonov als enigmatische Oberfläche imaginiert werde, deren chaotischer und fragmentarischer Charakter sich systematisch hermeneutischen Zugängen verschließe. Weinstein rückt Charitonov in die Nähe Prousts, wobei er bei Proust das Moment der Ankunft und der erfolgreichen Sinnsuche betont, während Charitonovs Werke als ewige Suche ohne Hoffnung auf eine „conclusion satisfaisante“ (Weinstein 1996, S. 53) interpretiert werden. Zu Ivančenko existiert bislang nur wenig Forschung (eine Ausnahme stellt Romanova 2005 dar, die sich mit der Komposition und Strukturierung des Romans auseinandersetzt). 57 Papernyj 1996, S. 20. „Die Werte der Peripherie rangieren höher als die des Zentrums. Sowohl das Bewusstsein der Leute als auch sie selbst streben in horizontaler Richtung vom Zentrum weg“. Für einen exzellenten Überblick über die Diskurse der 1920er Jahre und deren Entwicklung hin zur stalinistischen Raumauffassung, der auch der Hinweis auf dieses Zitat entnommen ist, vgl. Kuljapin/Skubač 2013.

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die sich nicht nur die lebensweltliche, sondern auch die semantische Tilgung der verachteten Provinz auf die Fahnen schreibt: В результате такой идеологической установки слово «провинция» практически исчезло из официального, в частности газетного обихода. Оно было объявлено устаревшим, и не просто устаревшим – неприличным.58

Das Ende des Stalinismus bringt dann eine Rückkehr und Aufwertung der Provinz mit sich. Zwei Tendenzen dieser Aufwertung müssen hier unterschieden werden. Auf der einen Seite steht die eben beschriebene holistische Tendenz der Dorfprosa, in der die provinzielle Lebensweise als abgeschlossener Mikrokosmos behandelt wird. Die jeweiligen Lebenswelten sind hier grundverschieden, dörfliche Provinz und urbanisiertes Zentrum verkörpern jeweils eigene, voneinander unabhängige Existenzweisen. Einem holistischen Verständnis ist auch die Popularität der Lokalgeschichte in der spätsowjetischen Geschichtswissenschaft verpflichtet: „During the so-called period of stagnation associated with the L. I. Brezhnev era (1964 – 1982), academic historians produced a flood of monographs and document and memoir collections on local history“.59 In dieser Sichtweise leben stalinistische Mikrokosmosmodelle fort, in denen sich im Provinziellen und Lokalen in nuce und idealtypisch die historische Gesamtentwicklung des Sowjetstaats verkörpert. Davon abzugrenzen ist eine Tendenz spätsowjetischer Peripheriediskurse, die einem relationalen Verständnis verpflichtet ist. Für diese Tendenz steht vor allem die Raumtheorie Jurij Lotmans. Sein Modell der Semiosphäre wertet periphere Räume auf und hebt, vielleicht in etwas apodiktischer Weise, deren Dynamik und Gestaltungskraft gegen das Zentrum hervor: Die strukturelle Ungleichartigkeit der Bestandteile des semiotischen Raums bietet Reserven für dynamische Prozesse und ist einer der Mechanismen für die Schaffung neuer Informationen innerhalb der Sphäre. In den peripheren Bereichen, die weniger streng organisiert sind und über elastische, ‚flüchtige‘ Konstruktionen verfügen, erfahren die dynamischen Prozesse weniger Widerstand und entwickeln sich folglich schneller.60

Lotman überträgt dieses modifizierte Verständnis von Zentrum-PeripherieDynamiken auf eine Reihe kulturgeschichtlicher und literarischer Beispiele.61 Bemerkenswert ist hier die Inversion der Zeitordnung zwischen Zentrum und 58 Spivak 2004, S. 504. „Als Resultat dieser ideologischen Ausrichtung verschwand das Wort ‚Provinz‘ praktisch aus der offiziellen und publizistischen Öffentlichkeit. Es galt als veraltet, wenn nicht sogar anstößig.“ 59 Raleigh 2001, S. 3. 60 Lotman 1990, S. 294 f. 61 Vgl. Lotman 2010a, insbesondere Kapitel 2 über die Semiosphäre. Albrecht Koschorke hat im Anschluss an Lotman auf die Übertragbarkeit seiner Semiosphäremodelle auf die

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Peripherie. Während in den Provinzdiskursen des 19. Jahrhunderts und der Dorfprosa die Peripherie als Speicher eines bedrohten Kulturerbes imaginiert wird, folglich also von einer rückwärtsgerichteten, häufig nostalgisch geprägten Zeitstruktur dominiert wird, schreibt Lotman Entwicklungen in der Peripherie ein progressives Potential zu. Dort zeigen sich Veränderungen früher als im Zentrum, die Vektoren gesellschaftlichen Wandels verlaufen in umgekehrter Richtung. Bei Lotman besteht ein intrinsisches Wechselverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Stets finden Prozesse der Übersetzung und Übertragung statt, semiotisch isolierte Räume existieren nicht. Konstitutiv für jede Semiosphäre ist eine Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, das Zusammentreffen „verschiedene[r] widerstreitende[r] Strukturen, […] aber auch Qualitäten“.62 Auch wenn Lotmans Peripherie nicht mit Provinz gleichgesetzt werden kann, so ergibt sich doch bei ihm eine Akzentverschiebung weg vom Zentrum, die auch für Provinzdiskurse bedeutsam erscheint. Diese relationale Betrachtung des Provinztopos ist auch einschlägig für jüngere germanistische Untersuchungsperspektiven, die „nicht Provinz oder Metropole, sondern Provinz und Metropole, d. h. nicht die literarische Reflexion des einen oder des anderen Lebens- und Kulturraums, sondern diejenige des Gegensatzes zwischen ihnen“ 63 in den Blick nehmen. Was aber ist in der Folge nun mit dem Begriff Provinz gemeint? Hier soll die These vertreten werden, dass sich der Begriff der Provinz durch das Zusammenspiel seiner geographischen, semiotischen und erkenntnistheoretisch relationalen Komponenten auszeichnet. Damit verbunden ist sowohl die Abgrenzung zu Provinzauffassungen, die in einer maximal weiten Form alles außerhalb der Hauptstädte Moskau und St. Petersburg verstehen,64 als auch zu Untersuchungen, die Dorf, Region oder Peripherie für das Provinzparadigma vereinnahmen. Die Begriffe des Dorfs und der Region besitzen zwar auch eine spezifische semiotische Struktur, aktualisieren diese jedoch vor dem Hintergrund eines holistischen, binär strukturierten Verständnisses von Raum und Zeit.65 Die Kenntnis „Raumgrammatik gegenwärtiger Machttheorien“, insbesondere im imperialen Kontext, hingewiesen (vgl. Koschorke 2012, S. 125 ff.). 62 Lotman 2010a, S. 174. 63 Burdorf/Matuschek 2008, S. 10, Hervorhebung im Original. 64 Vgl. Parts 2015, S. 509: „Geographically (and most simply) speaking, the provinces compose the whole of Russia’s space beyond the capital“; ähnlich Kasper 2008 oder Kuzmin 2001, der für die Provinzliteratur den Begriff nestoličnaja literatura (Nichthauptstadtliteratur) wählt. 65 Der Begriff der Peripherie ist hingegen im Russischen eher technisch konnotiert: „Периферия ассоциировалась с идеей распределения (например, на работу) или снабжение (например, колбасой), и с изменением социокультурной ситуации слово

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der s­ pätsozialistischen Provinzdiskurse ist dabei auch von Bedeutung für ein Verständnis der „renaissance of the cultural myth of the provinces, and their idealization in mass culture“,66 die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einsetzt.

Provinzexistenzweisen Charakteristisch für die hier im Fokus stehenden Provinzdiskurse ist, dass Provinz nicht allein „als geographische Bezeichnung, sondern als eine Geisteskategorie und Existenzweise“ 67 aufgefasst wird. Провинция есть и в многомиллионных городах, и в душе каждого человека; провинциальным может быть скромное государство, и многие даже великие умы в разгар эпохальных страстей недаром радовались своему непритязательному, без надрыва, подданству.68

Diesem Provinzverständnis liegt die Vorstellung einer Pluralität von Existenzmodi zugrunde, die eine jeweils eigene Seinsweise, ein eigenes Verhältnis zur Welt implizieren. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zur Vorstellung einer fortwährend stabilisierend wirkenden Lebenswelt, wie sie für die Dorfprosa charakteristisch ist. Die Provinzprotagonisten Charitonovs und Ivančenkos können sich nicht mehr in einen solchen Schutzbereich zurückziehen, sondern bewegen sich in vielgestaltigen Erfahrungswelten, die aus der Kontingenz ihrer biographischen Erfahrung resultieren. постепенно деактуализировалось. Способствовало этому и то обстоятельство, что отрицательные коннотации к концу ХХ в. стали преобладать. Провинция, напротив, возвращается, так как теперь это слово связывается с памятью культуры, отсылает к дореволюционной истории“ (Achapkina 2004, S. 11). „Peripherie wird mit Ideen der Verteilung (z. B. der Arbeit) oder Versorgung (z. B. mit Wurst) assoziiert. Mit der Veränderung der soziokulturellen Situation verliert das Wort allmählich an Aktua­ lität. Dadurch wird auch der Umstand begünstigt, dass die negativen Konnotationen zum Ende des 20. Jahrhunderts zu überwiegen scheinen. Das Wort Provinz hingegen kehrt zurück, weil es vermehrt mit dem Gedächtnis der Kultur in Verbindung gebracht wird und auf die vorrevolutionäre Geschichte anspielt.“ 66 Parts 2015, S. 517. 67 Charitonov 1992a, S. 45: „это не географическое понятие, это категория духовная, способ существования и отношения к жизни“; dieses Zitat führte Charitonov auch in Interviews zu seinem Werk an, vgl. Charitonov 1992c, S. 3. 68 Charitonov 1993, S. 12. „Provinz ist sowohl in Millionenstädten, als auch in der Seele jedes Einzelnen. Provinziell kann ein schlanker Staat sein und viele, sogar große Geister, freuen sich beim Aufflammen epochaler Leidenschaften nicht ohne Grund an ihrer selbstgenügsamen, unangestrengten Auffassung von Staatsbürgerlichkeit.“

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Diese Welten werden dabei weder topographisch noch geopoetisch semantisiert. Es geht weniger um das Entwerfen konkreter Orte und Landschaften, um ein Eingreifen „in die Vorstellung einer homogenen, von politischen Einteilungen […] geprägten Kartographie“ 69 als um die Konturierung des Provinziellen als Lebensmodell. Die insgesamt schwach ausgeprägte (stadt-)landschaftliche Charakterisierung dient vorrangig einer topologischen Charakterisierung als liminalem Raum, dessen Spezifik gerade in der Zwischenstellung zwischen Metro­ pole und Dorf liegt. Stolbenec, einer der beiden Handlungsorte in Charitonovs Linii sud’by, wird explizit als Zentrum urbaner Zivilisation eingeführt mit einem Theater, einem Kino und moderner Industrie.70 Auch der andere Handlungsort, Nečajsk, ist eine moderne Stadt, in der fünfstöckige chruščёvki stehen, ein Kinotheater in moderner Betonarchitektur errichtet wurde, sich alle nach der neuen Moskauer Mode kleiden, Fernsehen schauen und auf Motorrädern durch die Stadt jagen.71 Eine ähnliche Charakterisierung gilt auch für die Stadt U., den Handlungsort in Ivančenkos Monogramma, der ebenfalls als Industriestandort eingeführt wird, hier allerdings bereits mit deutlich dystopischen Untertönen. Он [die Stadt U.] разбредается окраинами по отвалам, подступаясь к заброшенным карьерам, железнодорожным путям, чахлому изможденному леску. […] Астматически задыхаясь, пыхтит на западе бумажный заводик. В заброшенных угольных разрезах У. ловят на уду уклейку, варят уху. В карьерах, по весне, на отравленную воду садятся утки. Усталый, улитой ползает по путям паровозик. Убыль. Уход. Укоризна.72

Provinz ist hier nicht länger – wie noch in der Dorfprosa – Gegenpol zur technisch-urbanen Zivilisation, sondern zeichnet sich durch etwas anderes aus. Michail Ėpštejn hat etwa zur selben Zeit Provinzialität als „besonderen dritten Weltzustand, der weder mit Zivilisation, noch mit Barbarei identifiziert werden kann“, beschrieben.73 Diesen Gedanken teilt auch Charitonov. Aus einer spezifischen 69 Frank 2010, S. 22. 70 Vgl. Charitonov 1992a, S. 46. 71 Vgl. Charitonov 1993, S. 9; „стояли пятиэтажные дома, кинотеатр «Спутник» был вполне современной бетонной архитектуры, здесь одевались, кто умел, почти по московской моде, смотрели телевизор, гоняли на мотоциклах по улицам“. 72 Ivančenko 2005, S. 4. „An seinen Rändern wird sie auseinandergezogen in Halden, sie drängt zu den vernachlässigten Gruben, zu Eisenbahnschienen, zu einem welken und erschöpften Wald. […] Asthmatisch hustend qualmt im Westen der Stadt die kleine Papierfabrik. In den ehemaligen Fördergruben von U. wird nach Weißfisch geangelt, man kocht Fischsuppe. In den Gruben setzen sich im Frühling auf das vergiftete Wasser die Enten. Müde kriecht die Dampflok auf den Gleisen wie eine Schnecke. Ausfall. Ausgang. Anklage.“ 73 Ėpštejn 1998, S. 28. „Провинциальность – особое, третье состояние мира, которое нельзя отождествлять ни с цивилизацией, ни с варварством.“

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­Provinzstruktur, die in ironischer Abgrenzung zu den stereotypen gesichtslosen Provinzstädten der literarischen Tradition mit dem abgekürzten Namen N. bestimmt wird,74 wird in seiner Provinztrilogie die Idee der Provinz als Lebensmodell entfaltet. Антон Лизавин думал, что, в сущности, на маленьком пространстве Нечайска модель жизни та же, что и на просторах всемирно-исторических, со своей экономикой, политикой, философией.75

Die Provinz ist in der Lage, eine alternative Weltanschauung der Epoche („mirooščuščenie veka“) zu antizipieren und zu repräsentieren. Die Verwendung des Wortes Antizipieren („predvoschitila“)76 qualifiziert diese Weltanschauung dabei als überlegen. Diese Überlegenheit gegenüber dem Zentrum wird bei Charitonov und Ivančenko besonders auf historischem Terrain ausgespielt. Während man in der Hauptstadt versucht, „die Komplexität des Lebens durch bewusst vereinfachte Formeln zu reduzieren“,77 wofür in Linii sud’by die Figur des Historikers Nikol’skij steht, ist der Provinzphilosophie Milaševičs jedwede Systematisierung fremd:78 „в нем провинциальное чувство, которое, не нуждаясь в несомненной истории, сгущает жизнь из фантиков и памятники из идеи“.79 Dieser Auffassung wird bei Charitonov ein erkenntnistheoretischer Vorsprung eingeräumt: Мне кажется, Милашевич раньше и лучше многих почувствовал близость времен, когда эти прежние, стихийные механизмы себя изживут. Станут непосильными. В этом смысле наша цивилизация действительно ощутила тупик прежнего, то есть исторического развития (99).80

74 Die Wahl des Ortsnamens erinnert an Gogol’s ‚Stadt N.‘, spielt aber auch auf das russische Wort nečajannyj an, was sowohl unverhofft als auch unbeabsichtigt bedeuten kann (vgl. hierzu auch Weinstein 1996, S. 38). 75 Charitonov 1993, S. 11; Anton Lizavin dachte, dass im Grunde genommen in der kleinen Stadt Nečajsk ein ganzes Lebensmodell stecke, wie es auch in den weltgeschichtlichen Weiten existiere, mit einer eigenen Wirtschaft, Politik und Philosophie. 76 Charitonov 1992a, S. 47. 77 Charitonov 1992b, S. 95: „который сложность жизни сводит к нарочито упрощенным формулам“. 78 Charitonov 1992a, S. 45: „чужда всяким системам и не нуждается в доказательствах“. 79 Charitonov 1992b, S. 120; „in ihr ist ein provinzielles Gefühl davon, dass es keine Geschichte ohne Zweifel braucht und man das Leben aus fantiki und Denkmäler aus Ideen destillieren kann“. 80 „Mir scheint es, dass Milaševič früher und besser als viele andere das Herankommen einer Zeit spürte, in der diese früheren, elementaren Mechanismen obsolet werden. Sie haben sich erschöpft. In diesem Sinne erahnte unsere Zivilisation in der Tat das Ende der vorherigen, das heißt der historischen Entwicklung.“

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Solche Passagen lassen sich einerseits auf eine der Handlungszeiten des Romans in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg, andererseits aber auch auf die Entstehungszeit des Romans, die frühen 1980er Jahre beziehen. Ein ähnlicher historiographischer Erkenntnisvorsprung des Provinziellen vor dem Zentrum findet sich auch bei Ivančenko. In einer Sequenz des Romans Avtoportret s dogom führt die aus der Provinz stammende Saša durch Moskau. Sie offenbart trotz ihrer biographischen Unvertrautheit mit der Moskauer Stadtlandschaft ein beeindruckendes Wissen insbesondere der vorrevolutionären Moskauer Geschichte. Eingeführt als „echte Provinzlerin“ fungiert Saša in dieser Sequenz als Speicherfigur historischen Wissens und zeichnet sich durch eine gute Beobachtungsgabe aus, die im Roman als „Provinzlereigenschaft“ („provincial’naja čerta“)81 bezeichnet wird. Die Repräsentanten der Provinz beobachten präziser und sind in der Lage, ihr profunderes Wissen, das vor allem aus einer größeren historischen Tiefe besteht, im Alltag anzuwenden. Sie wissen mit organisatorischer Komplexität umzugehen und legen eine erkenntnistheoretische Flexibilität an den Tag, die sich einfachen Formalisierungen und Systematisierungen verweigert. Zu lesen sind diese Differenzen zwischen Zentrum und Peripherie auch als Ausdruck politischer Widerständigkeit. Die vom Zentrum betriebene Politik der Nivellierung der Existenzweisen zwischen Zentrum und Provinz (Stichwort smyčka) wird unterlaufen. Die Provinz und ihre Bewohner lassen sich weder zeitlich noch räumlich kontrollieren. In der Provinz befindet man sich in einem liminalen Raum, der sich der Abgrenzbarkeit und Abschließbarkeit entzieht. Zu Beginn von Monogramma heißt es: В маленьком заснеженном городке, в маленьком и заснеженном – городке У. Смотрите: на этой самой запредельной букве русского алфавита (звук «у», уводящий в бесконечность, в тоску), вечно незавершенной, несмотря на свое вопиющее излишество, нахлобучены шапки снега – городок У.82

Auch bei Charitonov ist die Provinz das ewig Unvollendete („вечно незавершенной“), das sich zeitlich nicht fixieren lässt: „Все мы, говорят, временные, но временность-то у всех особая.“ 83 Während in der Dorfprosa die h ­ istoriographische 81 Iwantschenko 1993, S. 224; Ivančenko 1990, S. 179. 82 Ivančenko 2005, S. 3 f. „In einem kleinen verschneiten Städtchen, im kleinen und verschneiten Städtchen U. Schauen Sie: Auf diesem transzendentesten Buchstaben des russischen Alphabets (der Laut ‚u‘, hinführend in die Grenzlosigkeit, in die Sehnsucht), ewig unvollendet, trotz seines skandalösen Überflusses, sind Schneemützen aufgesetzt – das Städtchen U.“ 83 Charitonov 1992b, S. 133. „Wir sind, so kann man sagen, zeitliche Wesen, aber jeder von uns hat dabei eine bestimmte Zeitlichkeit“. Welche Antwortmöglichkeiten die

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Widerständigkeit aus einer Verwurzelung an einem – häufig essentialistisch aufgeladenen – Heimatort (Stichwort počvenničestvo) resultiert, gewinnt die Provinz in den hier behandelten Beispielen ihre Widerständigkeit aus ihrer Anpassungsfähigkeit und räumlichen Flexibilität. Die Helden migrieren fortwährend, sind nicht an einem einzelnen Ort verwurzelt, sondern in einer bestimmten Haltung, einem bestimmten Weltgefühl. Das Plädoyer für das Weltgefühl („mirooščuščenie“) an Stelle der Weltanschauung („mirovozzrenie“) markiert dabei die erkenntnistheoretische Differenz. Der Versuch der Wiedereinholung einer verlorengegangenen Totalität wird zurückgewiesen und ersetzt durch ein emotional strukturiertes Weltverhältnis, das an keine bestimmte Ideologie oder Ortslogik gebunden ist.

Provinzfragmente Diese antisystematische Spitze der Provinzphilosophie lässt sich als Erzähl- und Ausweichstrategie angesichts materieller und ideeller Prekarität lesen. Linii sud’by ist in 18 Kapitel unterteilt, die selbst wiederum in kleinere Unterkapitel gegliedert sind. Entscheidend ist dabei, dass die Fragmentarität des erzählten Geschehens aus einer spezifischen Medialität historischer Überlieferung resultiert. Anton Lizavin, der Held von Linii sud’by, findet im Zuge seiner Nachforschungen zum Leben des Provinzphilosophen Milaševič in einem Provinzarchiv eine Truhe, die eine ungeordnete Sammlung von fantiki 84 enthält, deren Rückseiten als wichtigstes Medium der Aufzeichnungen Milaševičs dienen.85 Der Leser wird in der Folge in die Prozesse des Anordnens, Gruppierens und Deutens des historischen Materials eingebunden.86 Die fantiki sind nämlich nicht chronologisch geordnet, einzelne Aussageelemente sind auf verschiedene fantiki aufgeteilt. Das Fehlen einer zeitlichen und inhaltlichen Einheit des Materials ist dabei kein Epiphänomen des Überlieferungsprozesses, sondern Ausdruck einer eigenen F ­ unktionslogik, Provinzhistoriographie bereithält, sollte eine Fixierung repressiv erzwungen werden, werden wir noch sehen. 84 Als fantiki werden im russischen Kontext Verpackungspapiere für Bonbons (konfety) bezeichnet. Diese Darstellungsweise, wie auch die gesamte Idee des fantiki-Archivs, hat eine gewisse Verwandtschaft zu Vasilij Rozanovs Philosophie, insbesondere zu seinen Opavšye list’ja (Abgefallene Blätter, 1913). Von fantiki als alternativem Speichermedium ist auch bei Konstantin Vaginov in seiner Garpagoniada (1933) die Rede. 85 Die Inszenierung der historischen Handlung in Form dieser sehr elaborierten Form der Manuskriptfiktion habe ich an anderer Stelle interpretiert, vgl. Günther 2019b. 86 Hierbei kann die Auffassung vertreten werden, dass sich der Roman durch seine stark fragmentierte Untergliederung in Hunderte Unterkapitel selbst an die Fragmentarität der fantiki anlehnt.

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die sich nicht in den etablierten Kategorien historiographischer Operationen fassen lässt.87 So steht am Ende des Romans auch keine fertige Interpretation der Biographie Milaševičs, sondern lediglich eine Deutungshypothese, deren Reichweite dezidiert eingeschränkt wird. Die fantiki sind bereits auf der materiellen Ebene doppelt codiert. Nicht nur die Aufzeichnungen Milaševičs sind bedeutungstragend, sondern auch die Verpackungen selbst: Эти бумажки занимали его как феномен провинциальной культуры, как средство просвещения и воздействия на умы. Кроме рисунка (в два-три цвета) и названия на них печатались полезные советы, сельскохозяйственные рекомендации, мудрые изречения, приметы погоды и предсказания на год.88

Die Verpackungspapierchen werden hier in einen konkreten historischen Verweisungszusammenhang eingebunden. Sie informieren über die spezifischen Entstehungsbedingungen im provinziellen Raum der 1920er Jahre, spielen aber auch ironisch auf die Papierknappheit der Zeit an und weisen in ihren kryptischen Inhalten auf die äsopischen Schreibweisen der Stalin-Zeit hin. Die doppelte Codierung der Verpackungen nimmt dabei die multiple Codierung der einzelnen Botschaften vorweg. Nur in der provinziellen Regellosigkeit können die fantiki dabei als historische Quelle (und als solche werden sie im Roman durch den Fund in einem Archiv eingeführt) überhaupt gefunden und lesbar gemacht werden. An dieser Stelle drängt sich ein Exkurs zu Varlam Šalamov auf, der in dem Erinnerungsband Četvertaja Vologda (Das vierte Wologda, 1968 – 1971) ebenfalls prominent auf die Leitmetaphorik der fantiki rekurriert: В это время [in der Kindheit], кроме быстрого чтения, я открыл в себе еще одну способность, о которой не знали и не подозревали ни отец, ни мать, ни сестры. Лет примерно с восьми с помощью так называемых фантиков – сложенных в конвертики конфетных обложек – легко проигрывал для себя содержание прочитанных мною романов, рассказов, исторических работ, а впоследствии и своих собственных рассказов и романов, которые не дошли до бумаги и не предполагалось, что дойдут. Это оказалось в высшей степени увлекательным занятием в виде литературного 87 Der paradoxe Charakter der fantiki, die sich einerseits jeder Systematisierung verweigern und andererseits doch Ausdruck einer bestimmten Entstehungslogik sind, wird an vielen Stellen des Romans explizit thematisiert, so z. B. in Charitonov 1992a, S. 66 f; Charitonov 1992b, S. 107. 88 Charitonov 1992a, S. 48 f.: „Diese Papiere faszinierten ihn als Phänomen der Provinzkultur, als Mittel der Aufklärung und Beeinflussung des Geistes. Außer Zeichnungen (in 2 – 3 Farben) und dem Namen waren auf ihnen auch nützliche Ratschläge, landwirtschaftliche Empfehlungen, Sinnsprüche, Wettervorhersagen und Vorhersagen für das Jahr abgedruckt.“

Von der Welt- zur Provinzanschauung127 пасьянса. Я играл в эти фантики сам с собой несколько лет – тюрьма Бутырская, кажется, остановила эту игру. Мы жили очень тесно. Мое место было последним, а мир фантиков был моим собственным миром, миром видений, которые я мог создавать в любое время. Сестры, да и мать думали, что я таким способом зубрю или учу уроки. Но никаких уроков с помощью этих фантиков я не учил. Я увез коробку фантиков в Москву, и только после моего первого ареста сестра, уничтожая всю мою жизнь – все мои архивы, – сожгла и эту драгоценную коробку вместе с моими дневниками и письмами. Так вот, отключаться в этот мир мне было очень легко, и, в сущности, все читанные мною книги я с помощью фантиков повторил.89

Schon im Alter von acht Jahren wird Šalamov zum Schöpfer einer eigenen fantikiWelt und baut sich einen Rückzugsraum, den er zu jeder Zeit errichten kann. Der leidenschaftliche Leser fasst auf den Verpackungspapieren Erzählungen und historische Arbeiten zusammen, wobei diese Art der Zusammenfassung und Archivierung als Kunst erscheint, die eine Fähigkeit („sposobnost’“) verlangt, die ihn von seiner Umgebung unterscheidet. In ihrem fantiki des Lebens betitelten Nachwort zum Erinnerungsband erklärt Franziska Thun-Hohenstein den Umgang mit den fantiki zu einer Leitmetapher des Schaffens Šalamovs: „Vor diesem Hintergrund kann man die Dialoge, die Schalamow in seine autobiographischen Texte einstreut, als eine Art poetologisch gewendeten Nachklangs dieses fantiki-Spiels lesen.“ 90 An Šalamovs fantiki-Spiel lassen sich dabei zentrale Aspekte seines literarischen Schaffens aufzeigen. Die Episode verweist auf die widrigen Entstehungsbedingungen seiner Literatur, auf seine Fähigkeit, in einer feindlichen 89 Šalamov 2013a, S. 61 f. „Zu dieser Zeit entdeckte ich neben dem schnellen Lesen noch eine weitere Fähigkeit, von der weder Vater noch Mutter noch die Schwester etwas ahnten. Etwa mit acht Jahren habe ich mithilfe der sogenannten fantiki – zu kleinen Umschlägen gefalteten Bonbonpapieren – mit Leichtigkeit für mich den Inhalt der gelesenen Romane, Erzählungen und historischen Arbeiten in Szene gesetzt, und später auch den meiner eigenen Erzählungen und Romane, die es nicht aufs Papier geschafft hatten und das auch nicht tun würden. Das erwies sich als höchst spannende Beschäftigung in Gestalt einer literarischen Patience. Ich spielte dieses fantiki-Spiel einige Jahre lang mit mir selbst – das Butyrka Gefängnis, glaube ich, hat dieses Spiel beendet. Wir wohnten sehr beengt. Mein Platz war der letzte, doch die Welt der fantiki war meine eigene Welt, eine Welt der Visionen, die ich zu beliebiger Zeit schaffen konnte. Meine Schwester und auch die Mutter dachten, dass ich mir so die Schullektionen einpauke oder anlerne. Aber das waren keine Lektionen, die ich mithilfe dieser fantiki lernte. Ich habe die fantiki-Schachtel mit mir nach Moskau genommen, und erst nach meiner ersten Verhaftung hat meine Schwester, die mein ganzes Leben vernichtete, all meine Archive, auch diese kostbare Schachtel, zusammen mit meinen Tagebüchern und Briefen verbrannt. Mich in diese Welt zu absentieren fiel mir sehr leicht, und im Grunde spielte ich alle von mir gelesenen Bücher mithilfe dieser fantiki nach“ (Schalamow 2013, S. 89 f.; Hervorhebungen im Original). 90 Schalamow 2013, S. 424.

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Umgebung Bereiche ästhetischer und moralischer Autonomie zu verteidigen. Gleichzeitig verweisen die fantiki aber auch auf den prekären Charakter dieser literarischen Refugien, auf die stete Bedrohung jener Archive, die schließlich zusammen mit seinen Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen im Feuer aufgehen. Hier ergeben sich Parallelen zu Charitonov. Auch dort verschwindet ein großer Teil des geschichtlichen Erbes durch ein Feuer, auch dort fungiert das fantiki-Archiv als Refugium persönlicher Autonomie in Zeiten politischer Wirren, auch dort muss das eigene Leben später mühevoll rekonstruiert werden, weil zwischen vor-/frührevolutionärem Leben und der Möglichkeit spätsowjetischer Rekonstruktion ein Abgrund klafft, dessen Überbrückung eine erzählerische Herausforderung darstellt. Beide Schriftsteller treibt somit die gleiche Frage um – die Möglichkeit von „Literatur nach der Katastrophe“ („Literatura posle katastrofy“), um mit einem Aufsatztitel Charitonovs 91 zu sprechen. Als subalternes Aufschreibesystem, das ohne Druckpapier auskommen und im Verborgenen in einer mehrdeutigen Sprache geschrieben werden muss, die es vor der Zensur und Vernichtung durch ungebetene Entdecker schützt, unterläuft das fantiki-Archiv die historiographische Logik des Zentrums. Es wird zur Leitmetapher eines provinziell geprägten alternativen historiographisch-philosophischen Systems. Bei Charitonov heißt es: „Да, в фантиках можно было увидеть не просто философские пробы, они были сами философией“.92 Fantiki erscheinen „als Verfahren, die Welt als ewiges Arrangement von Augenblicken, kleinsten aus der Zeit herausgenommenen Details, vorzustellen und zu denken“.93 Bei den fantiki handelt es sich folglich um die Grundbausteine einer atomistischen Ontologie. Geschichte besteht hier aus einer unendlichen Anzahl von Dokumenten und Schriftstücken, ohne inhärente Logik und ohne erkennbaren Zusammenhang, aus denen Realität gebaut und Geschichte rekonstruiert wird. Wirklichkeit ist nicht gegeben, sondern wird erzeugt durch die selbstständige und spontane Bewegung der Worte: „слова сами по себе шевелились, складывались. […] В разраставшемся из частиц мироздании все было связано со всем“.94 Dies

91 Charitonov 1990. 92 Charitonov 1992b, S. 109. „Ja, in den fantiki konnte man nicht nur philosophische Versatzstücke sehen, sondern sie repräsentierten selbst eine Art Philosophie.“ 93 Charitonov 1992a, S. 113: „способом мыслить и представлять мир как вечный набор мгновений, измельченных, изъятый из времени“. 94 Charitonov 1992b, S. 107; „die Wörter bewegten sich von selbst, setzten sich von selbst zusammen. […] In dieser sich aus Einzelpartikeln selbst formierenden Weltschöpfung war alles mit allem verbunden.“

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liegt auch daran, dass die fantiki selbst Realität durch P ­ erformativität erzeugen. So heißt es: „Лизавин помнил, как держал в руке именно этот фантик, когда с ним что-то произошло.“ 95 Die fantiki sind keine passiven Dokumente, sondern drängen sich dem Forscher buchstäblich auf: „Этот странный и, прямо сказать, беспокойный фантик выскочил на пути опять, как заноза, требуя разобраться.“ 96 Die fantiki evozieren eine Ökonomie historischer Transformation, deren Leitbegriffe Instabilität und Spontaneität lauten. Diese Ökonomie changiert, und das lässt sich besonders gut an der Metaphorik der Architektur 97 zeigen, zwischen Ordnung und Chaos. Während das Weltall („mirozdanie“)98 allein als regulative Idee präsent bleibt, tritt die Wirklichkeit in Form von Splittern und Fragmenten in Erscheinung, die sich nicht zu einem Gebäude, sondern nur zu einem chaotischen Haufen („voroch“)99 zusammenfügen. Alle Bausteine dieses Haufens sind recodiert und recodierbar: „[…] все делалось из переосмысленных ошметков старья“.100 Wie die Vergangenheit wieder lesbar gemacht werden kann, ist die große Frage des Romans. Keine nachträgliche Rekonstruktion kann ohne „Verschweigen und Vertauschen, Selbsttäuschung, Vereinfachung und Unwahrheit“ 101 auskommen. Jede Präsupposition und damit jede vorschnelle Grenzziehung der Unterscheidung von Realität und Fiktion muss unter den gegebenen Voraussetzungen der Romanwelt scheitern. Die fantiki werden zu Brücken zwischen Text und Handlung, Vergangenheit und Gegenwart. Sie sind Mystifikationen, angesiedelt zwischen Realität und Fiktion:102 „А главным было нараставшее чувство, что фантичный ворох все-таки связан одновременно с миром реальным и с миром, который творил Милашевич“.103 95 Charitonov 1992a, S. 97. „Lizavin erinnerte sich, dass er genau dieses fantik in der Hand hielt, als etwas mit ihm selbst geschah.“ 96 Charitonov 1992a, S. 108. „Dieses merkwürdige und offen gesagt ziemlich unruhige Fantik, sprang erneut hervor wie ein Splitter und erzwang gewissermaßen, dass man sich mit ihm beschäftigte.“ 97 Ein anderes Metaphernfeld des Romans, an dem sich die Argumentation ebenso entfalten ließe, ist das der Meteorologie. 98 Charitonov 1992b, S. 107. Im russischen Wort mirozdanie schwingt im Wort zdanie (Gebäude) die architektonische Metaphorik mit. 99 Charitonov 1992a, S. 94. 100 Charitonov 1992b, S. 107; „alles war gemacht aus recodierten Fetzen des Alten“. 101 Charitonov 1992a, S. 105; „умолчаний, подмен, самообмана, упрощений, неправды“. 102 Vgl. hierzu Frank u. a. 2001, S. 8. 103 Charitonov 1992a, S. 94. „Und das wichtigste war das anwachsende Gefühl, dass der Fantikihaufen trotz allem einerseits mit der realen Welt verbunden war und andererseits mit einer Welt, die Milaševič geschaffen hatte.“

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Auch Ivančenkos Monogramma operiert mittels einer alternativen Medialität historischer Fabelbildung. Der Roman zerfällt in drei Erzählstränge. Den historischen Teil bildet eine Familiengeschichte, die mittels eines überlassenen Fotoalbums entfaltet wird. Einen gleichberechtigten Nebenstrang der Erzählhandlung repräsentieren buddhistische Meditationsanleitungen der Hauptprotagonistin Lida. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Polen stellen Aufzeichnungen Lidas dar, in denen zwischen Geschichte und Meditation vermittelt wird, sowie kleinere kommentierende Passagen eines auktorialen Erzählers. Während ich auf die Funktion der Meditationsanleitungen später zu sprechen kommen werde, will ich mich hier zunächst auf das Fotoalbum konzentrieren. Dieses besteht aus mit den Zahlen 1 – 104 nummerierten sowie einigen unnummerierten Fotographien. Alle Fotographien beziehen sich auf Lidas Verwandte und Freunde mit Ausnahme der Nummer 1, eine Reproduktion der berühmten Abbildung Lenin i Stalin v Gorkach (Lenin und Stalin in Gorki, 1922). Es fehlen die Nummern 61 – 85, 87 – 89, 95, 101 – 103. Wie auch Charitonov bedient sich Ivančenko der Sujetbildung mittels einer alternativen Manuskriptfiktion. Das Fotoalbum steckt wie die fantiki Milaševičs in einer Truhe und steht stellvertretend für eine Archivologie, im Rahmen derer Geschichte mittels persönlicher Dokumente und Erinnerungen rekonstruiert werden muss. Die Fotographien setzen eine Erzählung in Gang, die um lang tabuisierte Themen wie die Deportationen im Zuge der Kollektivierung, der Inhaftierung in Straflagern sowie einer Vielzahl staatlich erzwungener Migrationserfahrungen kreist. Lejderman und Lipoveckij haben darauf hingewiesen, dass die Werke von Charitonov und Ivančenko – die sie unter der Bezeichnung Postrealismus fassen – in einem zeittypischen Kontext der Inversion des traditionellen Bildungsromans stehen: Интересно, что фактически у всех русских «постреалистов» так же, как и в американском «актуализме», оживает жанровый архетип романа воспитания, традиционно сосредоточенный на сопряжении ограниченного личного опыта со множеством истин «другого» человека.104

Die persönliche Reife muss in diesen Texten gegen den Hintergrund der größeren Geschichte errungen werden. Für die Persönlichkeitsbildung stehen nicht nur keine Versatzstücke aus einer größeren Geschichte zur Verfügung, sondern auch keine Erzähl- und Gattungskonventionen. Familienfotographien sind 104 Lejderman/Lipoveckij 2006, S. 595.; „Es ist interessant, dass bei fast allen russischen „Postrealisten“, ebenso wie bei den amerikanischen „Aktualisten“, die traditionellen Muster des Bildungsromans wiederbelebt werden, dessen Konzentration traditionell darauf lag, die begrenzte persönliche Erfahrung mit der Mehrheit der Wahrheit eines „anderen“ Menschen zu verbinden.“

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­fundamental für das Erzählen einer Geschichte von der Geschichtswissenschaft ignorierter Personen und Ereignisse. Sie werden während des Interregnums zu einem wichtigen Medium alternativer Geschichtserzählungen und spielen, wie wir in Unterkapitel 9.1 noch sehen werden, auch in zeitgenössischen Werken der Postmemory eine wichtige Rolle. Ebenso wie die fantiki in Charitonovs Roman stellen sie ein alternatives Überlieferungsmedium dar mit einer prekären Überlieferungsgeschichte. Sie erzeugen keine chronologisch abgeschlossene Erzählung, sondern müssen mit Leerstellen kämpfen, worauf vor allem die fehlenden Fotographien in Monogramma hinweisen. Dass in einem solchen Fall auch Mythenbildung als literarisch-philosophischer Kompensationsmechanismus attraktiv erscheint, werden wir später auch bei Semen Lipkin sehen. Hier kann sich der Einzelne in eine alternative Welterzählung eingliedern, kann auf die Erfahrungen seiner Vorfahren zurückgreifen, wodurch die eigene fragmentierte Biographie sinnhaft erscheint.105 Der Bezug auf solche alternativen Formen ist jedoch nicht unkritisch, was sich angesichts des hohen Reflexionsgrads über methodische und wissenschaftstheoretische Fragen aufzeigen lässt. Ins Auge fällt insbesondere bei Charitonov die hohe Streubreite metafiktionaler Kommentare zum Status der Quellen und zur Reichweite der Interpretationen im Rahmen von Lizavins geschichtswissenschaftlichem Wiederaneignungsprozess. Беда в том, что надежных документов о Милашевиче почти не дошло. О целых периодах его жизни можно судить лишь по косвенным отголоскам. Взять то же следственное дело. Вот, казалось бы, документ – но много ли извлечешь из него положительного? Не больше, чем из рассказа.106

Solche Passagen sind immer auch autoreferentiell auf Charitonovs Romantext und seine Entstehungsbedingungen zu beziehen. Was kann und soll Literatur im Hinblick auf die Neubetrachtung der Geschichte leisten? Von der Warte der Provinz aus kann dem Zentrum keine gleichwertige archiv- und quellenbasierte Version entgegengesetzt werden. Damit verschieben sich auch die G ­ eltungsansprüche: „[E]s geht nicht um die Wahrheit“.107 105 Genau dies ist bei Charitonov das anfängliche (und später zum Scheitern verurteilte) Ziel des Hauptprotagonisten, der den Verlust des Sinnhorizonts im erlebten Zastoj durch die Projektion auf das vorrevolutionäre Vorbild Milaševič kompensieren möchte. 106 Charitonov 1992a, S. 43. „Das Problem ist, dass wir fast keine verlässlichen Dokumente zu Milaševič haben. Über ganze Abschnitte seines Lebens kann man nur über Umwege urteilen. Nehmen wir z. B. seine Kriminalakte. Das, so könnte es Ihnen erscheinen, ist doch ein Dokument – aber wie viele nützliche Daten kann man daraus gewinnen? Nicht mehr als aus einer Erzählung.“ 107 Charitonov 1992b, S. 100; „Речь не идёт об истине“.

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Provinzutopien Inke Arns hat in ihrer Untersuchung zur russischen und jugoslawischen Avantgarde von einer retroutopischen Tendenz spätsozialistischer Diskurse gesprochen und diese folgendermaßen bestimmt: Retroutopische Projekte wenden sich, bildlich gesprochen, im Unterschied zum neoutopischen, ausschließlich auf die Zukunft gerichteten radikalen Impuls zuerst in die Vergangenheit, um dann aus den dort geborgenen historischen Fundstücken die in diesen angelegten, oft nicht realisierten Ideen in die Zukunft zu extrapolieren.108

Obgleich Arns den russischen Provinzdiskurs in ihrer Untersuchung ausklammert, lässt sich diese retroutopische Tendenz auch hier ausmachen. Kulturgeschichtlich hat die Provinz häufig als Speicher fungiert, mit dessen Vorräten der Schrecken der Geschichte retroutopisch kompensiert werden soll. Paradigmatisch verkörpert wird diese Tendenz von der russischen Dorfprosa. Die Frage, ob sich die überlebte kommunistische Utopie durch eine neue Mythologie ersetzen lasse, treibt in den Umbruchsjahren allerdings auch postmoderne Kräfte um. Vjačeslav Kuricyn sieht genau in diesem Vorhaben eine der Kerntendenzen postmodernen literarischen Schaffens: „[…] наши писатели, работающие в постмодернистской технике, пытаются построить некую мифологию, новую мифологию на месте разрушенной“.109 Dass die Provinz ein geeignetes Terrain ist, um diese Tendenzen auszuleben, wird in Linii sud’by explizit gemacht: „Провинциальная почва питательна для утопии“.110 Hieraus resultiert jedoch keine Apotheose utopischen Denkens, sondern eine skeptische Haltung gegenüber dessen Möglichkeiten und ein Wissen um dessen Gefahren. Obgleich sich der Roman nicht direkt an der kommunistischen Utopie abarbeitet, bildet diese dennoch die wichtigste Kontrastfolie für die Erörterung utopischer Entwürfe im Roman: „Soviet utopian ideology and literary models serve as a backdrop to the plot, establishing a baseline for false utopian ideology and a historical foil for the other utopias in the novel.“ 111 Innovativ an der Utopiekritik des Romans ist weniger diese Ebene als die Kritik einer zweiten, bereits geläuterten Form utopischen Denkens, die Milaševič verkörpert: „Милашевич делает вывод: всеобщее счастье не только невозможно, оно не 108 Arns 2004, S. 254, Hervorhebungen im Original. 109 Kuricyn 1999. „Unsere Schriftsteller, die nach der postmodernen Technik arbeiten, versuchen eine gewisse Mythologie aufzubauen, eine neue Mythologie an Stelle der zerstörten.“ 110 Charitonov 1992a, S. 116. „Der Provinzboden ist für Utopien fruchtbar.“ 111 Obrist 2009, S. 318.

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нужно и опасно.“ 112 Dennoch verzichtet er nicht vollständig auf eine Utopie, sondern versucht, im begrenzten Raum der Provinz seine eigene persönliche Utopie zu verwirklichen: „In his philosophy, Milashevich elevates the everyday, uneventful life (in Tolstoyan fashion) in the provinces for its harmonious balance into an ideal.“ 113 Scheint der Forscher Lizavin zu Beginn seiner Arbeit über Milaševič noch stark dessen Philosophie zugeneigt, so zeigt sich der Forschungsprozess doch als graduelle Ernüchterung im Hinblick auf die sinngebende Kraft von Milaševičs Provinzutopismus. In einem mühevollen Interpretationsprozess rekonstruiert Lizavin die Lebensumstände Milaševičs und muss erkennen, dass die Verwirklichung dessen persönlicher Utopie auf Kosten seiner Mitmenschen ging. Milaševič scheint sich außerdem am kommunistischen Projekt propagandistisch beteiligt zu haben und wurde somit indirekt mitschuldig an dessen Gewalttaten. Die Pointe dieser Utopiekritik liegt darin, dass die geschichtswissenschaftliche Arbeit selbst zum Korrektiv utopischen Denkens wird. Der Roman suggeriert eine menschliche Prädisposition zum utopischen Denken, die geschichtswissenschaftlich geläutert werden muss. Das mühsame Aufspüren von Verbindungslinien zwischen isolierten fantiki lässt die Entwicklung widerspruchsfreier gesellschaftlicher oder persönlicher Ideale nicht länger zu. Diese Sichtweise hat Charitonov auch in weiteren Texten unterstrichen. In Stenografija načala veka (Stenographie des Jahrhundertbeginns, 2004) schreibt er: Но не может быть возврата к утраченной простоте […]. Попытки реализовать инфантильные, «идеальные» утопии оказываются губительными (так возникали тоталитарные режимы). Серьезность без иронической поправки, без открытости диалогу делает человека ограниченным, закостенелым; в худшем случае самые добрые намерения могут обернуться фанатизмом.114

Charitonov verweigert sich dem oben beschriebenen antihistoristischen Impuls der derevenščiki. Als Heilmittel gegen die Gefahren utopischen Denkens empfiehlt er, sich der historischen Komplexität zu stellen und die sich daraus zwangsläufig ergebende Unübersichtlichkeit und Uneindeutigkeit ironisch zu kompensieren. 112 Charitonov 1992b, S. 99. „Milaševič kommt zum Schluss: universelles Glück ist nicht nur unmöglich, es ist auch unnötig und gefährlich.“ 113 Obrist 2009, S. 329. 114 Charitonov 2004, S. 205. „Nein, es kann keine Rückkehr zur verlorenen Einfachheit geben […]. Die Versuche, infantile, ‚ideale‘ Utopien zu realisieren, hat sich als verheerend erwiesen (so entstanden die totalitären Regime). Ernsthaftigkeit ohne ironische Reserven, ohne die Offenheit des Dialogs begrenzt den Menschen, versteift ihn; im schlimmsten Fall enden die besten Absichten im Fanatismus.“

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Eine alternative Strategie, mit dem utopisch kontaminierten geschichtlichen Erbe umzugehen, entfaltet Ivančenkos Monogramma. Kompositorisch dominierend ist die Gegenüberstellung der katastrophischen Familiengeschichte der Hauptprotagonistin Lida, deren Vorfahren im Zuge der Entkulakisierung aus ihrer Heimat vertrieben und auf eine jahrzehntelange Odyssee gezwungen wurden, mit buddhistischen Meditationsanleitungen und Glaubenssätzen. Aus der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts, durch deren erzwungene Ortswechsel jede Form räumlicher Verwurzelung unmöglich gemacht wird, resultiert der Wunsch nach einem Aufgehen im unbewegten Zustand des Nirwana. Das Ziel der Protagonistin ist eine „Welt ohne mich“ („mir bez menja“),115 nicht länger das persönliche Glück, sondern das Ausschöpfen der Lebenssujets („isčerpat’ sjužet žizni“)116. Die eigene Vergangenheit kann nicht länger sinnstiftend wirken, nicht einmal über den Umweg einer kritischen Revision, wie es bei Charitonov der Fall war. Lapidar heißt es: „Die Heimat war vergangen“ („Prošla rodina“).117 Was damit gemeint ist, wird wenig später klar. Als die Mutter Lidas in ihren Heimatort zurückkehrt, findet sie ein Bild der Verwüstung vor: кто исчах от голода, кто погиб на фронте, в ссылках, лагерях, в шахтах. Как они все серьезны, значительны, эти люди, как они любили фотографироваться, словно бы стремясь задержаться во времени, словно бы предчувствуя его грядущую жестокость.118

Denselben Wunsch, die Zeit anzuhalten, verspürt auch die Heldin Lida. Sie sucht die Erlösung in der buddhistischen Philosophie und in Meditationsanleitungen, die versprechen, die eigene Körperlichkeit, den eigenen Verstand und die Vergangenheit zu überwinden und ins zeit- und ortlose Nirwana einzutauchen. Dies weist voraus auf ähnliche buddhistische Kompensationsstrategien der 1990er Jahre, wie man sie beispielsweise in Pelevins Čapaev i Pustota (Buddhas kleiner Finger, 1996) findet. In den buddhistischen Episoden dieses Romans zeigt sich ebenfalls ein positives – jedoch ironisch gebrochenes 119 – ­metaphysisches 115 116 117 118

Ivančenko 2005, S. 282. Ivančenko 2005, S. 254. Ivančenko 2005, S. 122. Ivančenko 2005, S. 132. „Der eine starb aus Hunger, der andere an der Front, in der Verbannung, in den Lagern, in den Gruben. Wie sind sie alle ernst, bedeutsam, diese Leute, wie liebten sie es, sich fotografieren zu lassen, als ob sie danach strebten, die Zeit anzuhalten, als ob sie ein Vorgefühl der kommenden Grausamkeit besessen hätten.“ 119 Diese Ebene fehlt bei Ivančenko, der selbst als Übersetzer einiger buddhistischer Abhandlungen in Erscheinung getreten ist, völlig. Dies betont auch Mark Lipoveckij

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Potential von Leere, deren Akzeptanz und positive Codierung als Surrogat für den verlorenen sowjetischen Sinnhorizont gedeutet werden können.120 Im metaphysischen Hauptstück des Romans, der Begegnung des Helden mit Baron Jüngern, wird diese Leere als ‚Innere Mongolei‘ bezeichnet. Interessant ist, dass diese Vorstellung zwar an der imperialen Peripherie verortet wird, die Peripherie aber ihr Gepräge vollständig verliert: «А где оно, это место?» [gemeint ist die innere Mongolei] «В том-то и дело, что нигде. Нельзя сказать, что оно где-то расположено в географическом смысле. Внутренняя Монголия называется так не потому, что она внутри Монголии. Она внутри того, кто видит пустоту, хотя слово «внутри» здесь совершенно не подходит. И никакая это на самом деле не Монголия, просто так говорят. Что было бы глупей всего, так это пытаться описать вам, что это такое. Поверьте мне на слово хотя бы в одном — очень стоит стремиться туда всю жизнь. И не бывает в жизни ничего лучше, чем оказаться там.»121

Während historische Sinnstiftung im Falle Charitonovs geschichtswissenschaftlich in Frage gestellt wird, liegt das Problem bei Ivančenko und Pelevin tiefer. Das durch die Vergangenheit tief traumatisierte Subjekt findet keine Ruhe in der geschichtswissenschaftlichen Betätigung und keine Möglichkeit der Verarbeitung durch literarisches Erzählen mehr, sondern es verlässt den Schauplatz der Auseinandersetzung um die Vergangenheit mittels einer metaphysischen Übersprungshandlung. Zwischen diesen beiden Polen einer geschichtsimmanenten Aufarbeitung und einer metaphysischen Kompensationsstrategie steht ein historiosophisches Projekt wie das Vladimir Šarovs, dessen Romane einige Ähnlichkeiten zu denen Ivančenkos und Charitonovs aufweisen.122

in seiner Werkrezension: „во всех этих метаморфозах стиля нет игровой легкости, они все максимально серьезны и нешутливы“ (Lipoveckij 1993, S. 4). „In all diesen Metamorphosen des Stils gibt es überhaupt keine ironische Leichtigkeit, sie sind allesamt maximal ernsthaft und humorlos.“ 120 Vgl. für diese Deutung vor allem Ganschow 2013. 121 Pelevin 1996, S. 282. „Und wo liegt er, dieser Ort?“ „Das ist es ja. Eben nirgendwo. Im geographischen Sinne läßt er sich an keiner Stelle festmachen. Jedenfalls heißt die innere Mongolei nicht deshalb so, weil sie sich im Inneren der Mongolei befände. Sie liegt im Inneren desjenigen, der das Nichts erschaut. Wobei der Ausdruck ‚im Innern‘ hier nicht recht paßt. Und um die Mongolei geht es schon gar nicht, das ist nur so ein Name dafür. Mit Worten beschreiben zu wollen, was es mit diesem Wort auf sich hat, wäre Blödsinn. Aber glauben Sie mir das eine: Es lohnt, ihn verbindlich im Auge zu behalten. Und es gibt im Leben nichts Beßres, als dort angekommen zu sein“ (Pelewin 1999, S. 291). 122 Vgl. hierfür Aščeulova 2015. Auf Šarov komme ich in Unterkapitel 5.3 zurück.

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Die Rache der Provinz Während bei Sinjavskij oder bei Boris Fal’kov 123 die Provinz als klischeebehaftete Kulisse antisowjetischer Kritik fungiert, als eigener semiotischer Raum jedoch kaum in Erscheinung tritt, ist der Sachverhalt bei Charitonov und Ivančenko anders gelagert. Provinz wird dort als Existenzweise bestimmt, womit eine bestimmte Form der Geschichtserzählung korreliert. Deren Hauptzug liegt in einer fragmentierten Perspektive auf die sowjetische Geschichte, die zu einer kritischen Revision grundsätzlicher Kategorien der Rekonstruierbarkeit von Geschichte und Sinnstiftung mittels ihr führt. Gegenpole zu den historischen Erzählungen des Zentrums sind eine methodologisch selbstbewusste, um die fundamentale Kontingenz der Vergangenheit und der Rekonstruktion jedes ihrer Elemente wissende Geschichtswissenschaft bei Charitonov sowie ein radikal enthistorisiertes metaphysisches Refugium bei Ivančenko, das als Reaktion auf eine kollektive Traumatisierung interpretiert werden könnte. Ergänzend lohnt abschließend ein Blick auf zwei filmische Werke, die sich in der Perestrojka von der Warte der Provinz aus mit der sowjetischen Geschichte beschäftigen. Im Mittelpunkt von Karen Šachnazarovs Gorod Zero (Die Stadt Null, 1989) steht ein Moskauer Ingenieur, der für eine Dienstreise in eine namenlose Provinzstadt abkommandiert wird. Er wird in der Provinz feindselig aufgenommen, erhält keinen propusk (Einlassschein) zu seinem Bestimmungsort, und als ihm bei einem Mittagessen als Nachtisch eine Torte in der Gestalt seines eigenen Kopfes serviert wird, entschließt er sich, so schnell wie möglich nach Moskau zurückzukehren. Dies erweist sich jedoch als schwierig und wie von einer magischen Hand geführt, endet er schließlich im lokalen Geschichtsmuseum. Dort wird er dazu genötigt, sich die Ausstellung zur lokalen Geschichte anzusehen, eine groteske Ansammlung von Leichen und Lebenswegen historischer Opfer und Täter, überschrieben mit der Losung „In der Wahrheit der Geschichte liegt die Quelle unserer Kraft“.124 Im Museum wird der Repräsentant der Hauptstadt stellvertretend für diese mit der vom Zentrum angerichteten Gewalt in der Provinz konfrontiert, er muss sich dieser bislang verdrängten Geschichte trotz körperlichen Unwohlseins stellen. 123 Falkov schildert in seinem Roman Mirotvorcy. Provincial’naja chronika vremen imperii (Friedensstifter, vollendet 1978) die Revolution als Machtergreifung einer antisemitischen und gewalttätigen Horde. Der provinzielle Schauplatz der Haupthandlung verweist bei Falkov allegorisch auf die der Revolution zugrunde liegenden destruktiven Elementarkräfte. 124 „В правде истории источник нашей силы.“

Geschichte als Übersetzungsproblem137

Ein weiteres, historiographisch ebenso brisantes filmisches Werk stellt Petr Luciks Film Okraina (Randgebiet, 1998) dar. Der Film setzt mit dem Satz „Nicht richtig ist der Lauf der Geschichte“ („Nepravil’nyj u istorii chod“) ein und schildert das Schicksal der Bewohner der ehemaligen Kolchose Rodina (Heimat), die von skrupellosen Ölspekulanten aus ihrem Heimatdorf vertrieben werden. Stellvertretend für die gesamte Provinz entfacht eine Gruppe von U ­ nbeugsamen einen Rachefeldzug gegen die Verantwortlichen für dieses Unrecht. Dieser Racheakt kulminiert in der Schlussszene, in der eine der Moskauer Hochhausbauten der Sieben Schwestern, in denen der Ölbaron residiert, in Brand gesetzt wird. Während Moskau in Flammen steht, erfreuen sich die Rächer ihrer wiedergewonnenen Freiheit auf dem Lande. In beiden Fällen ist die Rache der Provinz an der Politik des Zentrums deutlich expliziter und symbolisch aufgeladener als in den hier behandelten literarischen Fällen. Es überwiegt der Impuls gegen das Zentrum, nicht die Suche nach einer Form der Sinngebung, die sich jenseits der Dichotomie von Zentrum und Provinz bewegt. Hier lässt sich in Anknüpfung an postimperiale Theorien 125 zwischen einer antizentralen, polemisch motivierten Historiographie und einer postzentralen, epistemisch orientierten Metahistoriographie unterscheiden.

2.3  Geschichte als Übersetzungsproblem – Semen Lipkins Dekada Die Integration nichtrussischer Völker und Literaturen war ein wichtiges Anliegen der sowjetischen Kulturpolitik, deren antiimperiales Grundverständnis sich nach der Revolution in der affirmative-action-Politik der korenizacija (wörtlich: Einwurzelung) verwirklichte.126 1934 proklamiert Maksim Gor’kij auf dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller das Ziel einer multinationalen Sowjetliteratur, die die verschiedenen nationalen Formen des Imperiums einschließen und in ihrer Vielfalt weltliterarischen Vorbildcharakter haben soll.127 Dieser Appell impliziert die Aufnahme der bis dato bis auf wenige Ausnahmen kaum beachteten Literaturen des Kaukasus und Zentralasiens in den Kanon der Sowjetliteratur. In den 1940er Jahren gewinnt die multinationale Sowjetliteratur

125 Majumdar 2010. 126 Martin 2001; zur Doppelstruktur der multinationalen Sowjetliteratur als emanzipierendes Projekt und als imperiale Kulturstrategie vgl. u. a. Frank 2016. 127 Zum sowjetischen Weltliteraturverständnis der 1930er Jahre vgl. Clark 2011, S. 169 – 209.

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Die Peripherie der Metahistoriographie

schließlich „den Status eines zentralen literaturpolitischen Ideologems“,128 für das auch historische Romane – nach einer anfänglichen Dominanz von Panegyrik und Poesie – eine größere Rolle spielen. Nun entstehen großangelegte epische Werke, in denen an biographischen Beispielen paradigmatisch die Transformation der einzelnen Nationen von einer tribalistisch organisierten Stammesgemeinschaft hin zur sowjetischen Nation erzählt wird. Dies zeigt sich vor allem in den Gebieten, die erst als Sowjetrepubliken eigenständige Schriftsprachen erhalten. Der bekannteste dieser Romane ist Muchtar Auėzovs vierbändiger Roman Put’ Abaja (Der Weg des Abaj, 1942 – 1956), in dessen Zentrum die Biographie des bekannten kasachischen Gelehrten Abaj Qunanbajuly steht, die mit einer panoramatischen Darstellung des Lebens und der Geschichte der kasachischen Nation verknüpft wird.129 Andere Romanbeispiele aus den Republiken für diese Gattung, deren Ziel es ist, „das Schicksal des Individuums mit den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ständig ins Wechselspiel zu bringen“, wären Na rostanjach (Am Scheideweg, 1955) des belarusischen Autors Jakub Kolas, Račija Kočars armenischer Roman Deti bol’šogo doma (Kinder eines großen Hauses, 1952 – 1959)130 oder Rešajuščij šag (Der entscheidende Schritt, 1949) des turkmenischen Autors Berdy Kerbabaev. Gegen die diesen Romanen häufig zugrunde liegende Vorstellung der Vollendung der Nationalgeschichte im sowjetischen Vielvölkerstaat wendet sich im Spätsozialismus eine neue Generation von Schriftstellern, die eine andere Form der Nationalgeschichte entwirft. In vielen Nationalliteraturen wird der historische Roman nun zum Leitgenre, so etwa in Kasachstan, wo die epischen historischen Romane von Il’jas Esenberlin mit ihrer Würdigung der zuvor verfemten nomadischen Tradition für eine ganze Generation prägend werden.131 Solche Umwertungen führen zu einem neuen Blick auf orale Traditionen und zu einer Rehabilitierung und Umwertung von Gattungstraditionen wie der Parabel, die gegen das Zentrum behauptet werden.132 Eine wichtige Rolle spielt hier auch die 128 129 130 131 132

Thun-Hohenstein 2015, S. 116. Vgl. für eine Analyse Kudaibergenova 2017, S. 59 – 81. Kirchner/Göbner 1975, S. 596. Vgl. Kudaibergenova 2017, S. 83 ff. 1978 publiziert die Literaturnaja gazeta den polemischen Artikel Žaždu belletristiku (Ich dürste nach Belletristik) Lev Anninskijs, in dem dieser gegen eine mythisierende Tendenz der sowjetischen Gegenwartsliteratur polemisiert, deren Legitimität er in Zweifel zieht und die er u. a. an der formalen Orientierung an der Parabel- und Gleichnistradition festmacht. In der Folge entwickelt sich in der Zeitschrift eine Debatte, in der Vertreter der multinationalen Sowjetliteratur wie der Kirgise Čingiz Ajtmatov und der aserbaidschanische Schriftsteller Ėl’čin mythologische Textelemente verteidigen und auf

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Rezeption des Magischen Realismus, auf dessen Erzählverfahren Autoren wie Čingiz Ajtmatov und Fazil’ Iskander rekurrieren.133 Klaus Waschik hat gezeigt, welch wichtige Rolle diese Autoren für das Aufkommen „alternativer Geschichtsentwürfe in der sowjetischen Prosa und Literaturkritik der 60er bis 80er Jahre“ spielen. In den mittelasiatischen Literaturen zeigt sich dies am deutlichsten, sei es in Form einer „auf dem Mythos als Gestaltungsprinzip basierende[n] Literatur“,134 wie man sie paradigmatisch in Ajtmatovs episch angelegtem Roman I dol’še veka dlitsja den’ (Der Tag zieht den Jahrhundertweg, 1980) findet,135 sei deren Kompatibilität mit zeitgenössischen und gesellschaftlich orientierten Thematiken verweisen. 133 In Zusammenhang mit Alejo Carpentiers gattungsbildendem Roman El reino de este mundo (Das Reich von dieser Welt, 1949) hat Amaryll Chanady auf die historiographische Dimension des Werks und der Stilrichtung des Magischen Realismus hingewiesen. Sie schreibt: „It [Carpentiers Roman] challenges the dominant historiographical paradigm based on empiricism, and replaces it with one that does not correspond to what is traditionally regarded as truth. […] Carpentier creates a different chronology […]. Chronological historiographical “reality” is only one of the infinite number of truths, and maybe not even the most effective one“ (Chanady 1995, S. 138). Auch in der Sowjet­ union kommt es ab den 1970er Jahren zu einer Rezeption des Magischen Realismus. Als herausgehobene Repräsentanten gelten für Erika Haber (2003), die die umfangreichste Deutung der Rezeption dieser Richtung in der Sowjetunion vorgelegt hat, Čingiz Ajtmatov und Fazil’ Iskander. Während bei Iskander die historiographische Dimension allenfalls am Rande eine Rolle spielt, betreibt Ajtmatov in I dol’še veka dlitsja den’ eine multitemporale Auffächerung der Zeitebenen, die durchaus mit Carpentiers Differenz zwischen historischer Zeit und mythisch-magischer Zeit in Einklang zu bringen ist. Ebenfalls folgt Ajtmatov der Auffassung vieler Magischer Realisten, wonach in der magischen Zeit des Mythos eine höhere, überzeitliche Wahrheit liege, die der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung der Zeitläufte überlegen sei. 134 Waschik 2000, S. 114 f. 135 Ajtmatov ist der zentrale Repräsentant der spätsowjetischen Suche nach global’nost’ und masštabnost’ (Clark 1980, S. 270), die als Gegenbewegung zu den Milieustudien und den engen Chronotopoi der Byt-Prosa zurück auf Erzählformen des 19. Jahrhunderts verweist, worauf Razuvalova hinweist (vgl. Razuvalova 2015, S. 183). In diese Lesart passen die Verfilmungen der Klassiker des 19. Jahrhunderts, insbesondere die über sieben Stunden lange Verfilmung von Vojna i mir (Sergej Bondarčuk, Krieg und Frieden, SU 1967). Im Gegensatz zu dieser patriotischen Epik fungiert die Großform bei Ajtmatov jedoch als kritische Instanz, die gegenüber der sowjetischen Modernisierungs- und Zivilisierungspolitik in Anschlag gebracht wird. Dies gilt beispielsweise für die allegorische Dimension, durch die bei Ajtmatov der Mythos des seiner Erinnerung beraubten Mankurts auf die Erfahrung indigener Völker in der Sowjetunion projiziert wird. Dies gilt aber auch für ein episches Großwerk wie Andrej Končalovskijs Sibiriada (Sibiriade, 1979), der in seinem Film anhand einer Schilderung der E ­ ntwicklungsgeschichte eines

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Die Peripherie der Metahistoriographie

es in Form eines eher spielerisch orientierten Werks wie Olžas Sulejmenovs Az i ja. Kniga blagonamerennogo čitatelja (Az i ja. Buch eines wohlmeinenden Lesers, 1975), das eine alternative Genealogie des Igor-Liedes entwirft. Sulejmenov verknüpft laut Harsha Ram seine Lektüre des Igor-Stoffes mit der Forderung nach einer alternativen Historiographie: „The past history of the Kazakh nation, Suleimenov argues, cannot be accounted for by a historiographical method that adheres anachronistically to modern principles of statehood and contemporary national boundaries.“ 136 Aufbauend auf diesen Analysen sollen in der Folge anhand einer Analyse des in den Jahren 1979/1980 von Semen Lipkin verfassten Romans Dekada 137 metahistoriographische Implikationen subalterner Geschichte thematisiert werden. Im Zentrum des in jüngster Zeit vor allem im russisch-jüdischen Kontext neu gelesenen Romans 138 steht der autobiographisch modellierte Übersetzer Stanislav Bodorskij,139 dessen Tätigkeit in einem historischen Panorama vom sibirischen Dorfes kritisch auf die Verluste im Bereich der Tradition und der Ökologie blickt, die durch die Modernisierung – im Film in Gestalt der Jagd nach den Ölressourcen Sibiriens – entstehen. Epische Züge allein schon durch seine Länge trägt auch Solženicyns oben bereits erwähntes Monumentalwerk Krasnoe koleso (Das rote Rad ) über die Revolutionsjahre. Die Rückkehr zum Epos ist ein Charakteristikum der späten Sowjetjahre, das sich in der Perestrojka-Zeit kaum findet. Die Erweiterung der Perspektive über die sowjetische Jetztzeit hinaus wird auch von offizieller Seite eingefordert, wo erhofft wird, dass durch die Weitung der Perspektive auf Geschehnisse in anderen Ländern die sowjetische Wirklichkeit in hellerem Licht erscheint, was nach der Meinung von Clark z. B. in Aleksandr Prochanovs Roman Derevo v centre Kabula (Der Baum im Zentrum Kabuls, 1982) geschieht. Andererseits ist die Reichweite jener Direktiven begrenzt, und Autoren nutzen die sich durch den epischen Rahmen ergebenden Freiräume für eine ökologische und fortschrittskritische Sicht auf die gegenwärtige Realität. 136 Ram 2001, S. 297. 137 Erstmals erschienen im Tamizdat (hier zitiert nach Lipkin 1983), russische Erstveröffentlichung in Družba narodov 5 – 6 (1989), Übersetzung nach Lipkin 1984. 138 Murav 2011; Smola 2016; für eine Analyse der Stellung Lipkins im Rahmen der Wiedererfindung der jüdischen Tradition im Spätsozialismus vgl. Smola 2019, u. a. S. 105 ff. 139 Lipkin ist als Übersetzer eng mit dem Projekt der multinationalen Sowjetliteratur verbunden. Nachdem ab dem Jahre 1931 seine eigenen Gedichte nicht mehr gedruckt worden waren, verlagerte sich Lipkin zunehmend auf Übersetzungen. Den Beginn dieser Tätigkeit markiert die Gelegenheit, auf Vermittlung Gor’kijs hin, Sulejman Stal’skijs Poem Dagestan zu übersetzen. Im Laufe der nächsten Jahre folgten weitere Projekte, vor allem Übersetzungen epischer Lieder aus dem Tadschikischen und Persischen (seine Karriere als Übersetzer und Literat schildert Lipkin in einem Interview mit Elena Kalašnikova, Kalašnikova 2002).

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Stalinismus bis in die Romangegenwart geschildert wird. Sein Tätigkeitsfeld ist der Nordkaukasus, in dem er Werke von Autoren der beiden fiktiven Völker der Gušanen und Tavlaren übersetzt, die den Kabardinern und Balkariern entsprechen. Der Roman behandelt deren Teilnahme am Kongress 1934, ihre Vertreibung nach Zentralasien wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen im Krieg sowie die Vorbereitung und Durchführung zweier Dekaden der jeweiligen Nationalkulturen 1950 und 1957.140 Drei Aspekte sollen in der folgenden Analyse im Zentrum stehen. Ich beginne mit einer Analyse der Darstellung des Kongresses 1934 und der beiden Dekaden, mittels derer ich die Gegenüberstellung unterschiedlicher historiographischer Regime im Roman aufzeigen möchte. Sie bildet den historischen Rahmen für eine Analyse des Problemkomplexes der Übersetzung, der zentral für die multinationale Sowjet­ literatur ist und dessen historiographische Implikationen reflektiert werden sollen. Abschließend widme ich mich dem Nexus von Mythos und Geschichtsschreibung, der im Rahmen einer globalen Rehabilitierung mythischen Denkens ab den 1970er Jahren verortet wird und im Roman als alternatives Leitmedium der Historisierung im Dienst einer mythisch fundierten Gegengeschichte kolonisierter Völker fungiert.

Die multinationale Sowjetliteratur und das Problem der Geschichte 1934 findet in Moskau der Erste Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller statt, auf dem Maksim Gor’kij die Hauptansprache hält. Er verkündet: „Der Ursprung der Wortkunst liegt in der Folklore.“ 141 In Abgrenzung zur angeblichen „schöpferische[n] Ohnmacht der europäischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert“ (61), die sich von der Autorität und Wahrheit der Tradition gelöst habe, solle die sowjetische Literatur eine Weltliteratur sein, in der sich Literatur und Folklore, Vergangenheit und Gegenwart, romantischer Mythos und sowjetischer Realismus verbinden und gegenseitig aufheben. Wie diese Verbindung aussehen soll, wird auf dem Kongress deutlich, als der dagestanische Dichter 140 Insgesamt fanden zwischen 1936 und 1960 35 Dekaden unterschiedlicher Ethnien statt. Inhaltlich stand u. a. das Leben in der neuen sowjetischen Gesellschaft mit ihren Kolchosen und Gemeinschaftseinrichtungen im Fokus, das in leuchtenden Farben ausgemalt wurde und im Lob der Völkerfreundschaft und Stalins gipfelte. Der Charakter der Dekaden änderte sich ab den 1950er Jahren durch die Erweiterung der bis dato auf Oper, Ballett und Drama begrenzten Beiträge um eine literarische Komponente (vgl. Jampol’skij/Konnova 1973, 186 f.). 141 Gor’kij 1974, S. 376.

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Sulejman Stal’skij „spontan“ ein Lobgedicht auf Stalin zum Besten gibt. In seinem Schlusswort zum Kongress gibt Gor’kij vor, wie tief er vom Auftritt Stal’skijs bewegt worden sei: Einen erschütternden Eindruck hat auf mich und – ich weiß – nicht nur auf mich, Ašug Sulejman Stal’skij gemacht. Ich habe gesehen, wie dieser Greis, ungebildet aber weise, während er im Präsidium saß, flüsternd seine Gedichte schuf, um sie dann, ein Homer des XX. Jahrhunderts, in staunenerregender Weise vorzutragen (376).

Die Dichter Sulejman Stal’skij 142 und Džambul Džabaev 143, der andere großpropagandistisch inszenierte Volkssänger der 1930er Jahre, „were used to introduce a new genre into the Russian literary system: portrayals of Stalin in a panegyric, ‚hymnologic‘ style“,144 und personifizierten die in jenen Jahren betriebene Aufwertung der Folklore und Volkstümlichkeit, die in der Kategorie der narodnost’ Eingang in den sozialistisch-realistischen Kanon fand.145 Hans-Jürgen Lehnert weist darauf hin, dass das „Aufscheinen dieses ‚volkskollektivistisch-folkloristischen‘ Literaturbegriffs in der offiziellen Literaturprogrammatik 1934 […] mit den Veränderungen in der sowjetischen Historiographie“ in jenen Jahren korrespondiert habe.146 Lehnert begreift die daraus entstandene Kultur im Rahmen einer triadischen kulturhistorischen Konstruktion als Synthese zweier Kulturtypen, einer „Kultur der Urgesellschaft“ und einer „Kultur der Klassengesellschaft“, die sich durch das „Wiederanknüpfen an eine ursprüngliche Kollektivität“ auf einer neuen Ebene, der des zu errichtenden Sozialistischen Realismus, dialektisch aufheben solle (152). Die Folklore wurde als geeignetes Medium gesehen, um „die zeitgenössische Sowjetliteratur und Literaturprogrammatik in einen großen kulturhistorischen Legitimationsrahmen zu stellen“ (151 f.). Wie Evgenij Dobrenko bemerkt, sei jene Rahmung auch politisch nützlich gewesen, da die folkloristische „östliche Stilistik“ sich als „geeignetste Form der zutiefst reaktionären Kultur“ erwiesen habe, die sich mittlerweile in der Sowjetunion entwickelt habe.147 Figuren wie Stal’skij oder Džambul fungierten in dieser 142 Zum Hintergrund Stal’skijs und der kulturpolitischen Instrumentalisierung vgl. Dobrenko 2013. 143 Für die Instrumentalisierung Džambuls vgl. Bogdanov/Murašov/Nicolosi 2013. 144 Witt 2011, S. 156. 145 Vgl. für die Etappen dieser Aufwertung u. a. Günther 1984, hier v. a. S. 47 – 54. 146 Lehnert 2016, S. 155. Für die Hintergründe jenes geschichtswissenschaftlichen Paradig­ menwechsels vgl. Dobrenko 2000, S. 889. 147 Dobrenko 2011; „Парадокс сталинизма состоял в том, что русская революция, прошедшая под знаменем марксизма и просвещения, породила глубоко ретроградную культуру, для которой «восточная стилистика» оказалась наиболее адекватным оформлением.“

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Programmatik als öffentlich ausstellbare Repräsentanten einer „pervertierte[n] Variante des Pseudo“, in der das Literarische kaschiert, die Folklore manipuliert und in Übersetzungen entstellt worden sei.148 Das zweite Kapitel von Dekada enthält eine Anekdote über den tavlarischen Volksschriftsteller Musaib aus Kagar, die dem Auftritt Stal’skijs nachempfunden ist. Musaibs würdevolle Erscheinung auf dem Kongress 1934 in einem Tscherkessenrock und mit einer hohen Papacha fällt Maksim Gor’kij auf, der Musaib in einer Pause fragt, wer er sei. Musaib antwortet, und zwar „als ob er einen Bauern auf einem Bergpfad getroffen hätte“, er sei „ein ebenso alter Mann wie [er]“.149 Davon beeindruckt bittet Gor’kij ihn, ein Grußgedicht zu verfassen. Musaib kommt dieser Aufforderung nach, und sein Lobgedicht auf die Sowjetmacht wird mit großem Beifall vom Publikum aufgenommen. Trotz dieser Parallele fällt die Darstellung Musaibs nicht mit dem Auftritt Stal’skijs zusammen. Musaib ist ein weitaus widerständigerer Charakter, der in Distanz zur Sowjetmacht steht. So kleidet er sich beim Besuch eines unsympathischen Parteisekretärs absichtlich schlecht und bewirtet diesen in dürftiger Weise,150 was den Sekretär in Rage bringt. Bereits hier deutet sich jene Renitenz an, die später in einer Tirade gegen Stalin mündet, nachdem die Tavlaren deportiert wurden: Но разве Сталин – вождь? Разве собрал он, как Манас, людей из разных народов и превратил их в единое тело? Наоборот, он без жалости отсекает части единого тела, не он истинный вождь, а этот киргизский всадник, чье имя – Манас, чье племя – Манас.151

Der Volkssänger erscheint nicht als Erfüllungsgehilfe staatlich verordneter Pane­ gyrik, sondern als „wirklich hochbegabte[r] Autodidakt“, dessen Verse „großartige idiomatische Wendungen und Redensarten“ enthalten.152 Der Rückgriff 148 Lehnert 2016, S. 165; für Beispiele der verzerrenden Praxis der Übersetzungen vgl. den Text Lehnerts sowie den Beitrag Susanna Witts in Bogdanov/Murašov/Nicolosi 2013. 149 Lipkin 1983, S. 16; „как будто крестьянина на горной тропе повстречал: ‚Я такой же старик, как и ты‘“; „als ob er einen Bauern auf einem Bergpfad getroffen hätte, er sei ‚ein ebenso alter Mann wie [er]‘“ (Lipkin 1984, S. 22). 150 Im Verhalten Musaibs treten hier auch einige Eigenschaften einer Jurodivyj-Figur zu Tage, eine Parallele, die in der Passage vom Erzähler selbst ins Spiel gebracht wird (vgl. Lipkin 1983, S. 46). 151 Lipkin 1983, S. 74. „Ist Stalin überhaupt ein Führer? Hat er vielleicht wie Manas Leute verschiedener Völker vereint und sie in einen einzigen Leib verwandelt? Im Gegenteil, gnadenlos hackt er Teile des einen Leibes ab. Nicht er ist ein wahrer Führer, sondern dieser kirgisische Reiter, dessen Name Manas lautet, dessen Stamm Manas ist“ (Lipkin 1984, 109). 152 Lipkin 1983, S. 47; „действительно талантливого самоучки“; „прелестные идиомы и поговорки“.

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auf das Manas-Epos ist dabei im Hinblick auf dessen Instrumentalisierung während der Stalin-Zeit interessant. Wie Lipkin in einem Essay berichtet, fand Mitte der 1930er Jahre ein Wettbewerb um den besten Vortrag des Manas-Epos statt.153 Jene Würdigung kam überraschend, hatte das Epos den Kommunisten doch zuvor als panislamisch, pantürkisch und nationalistisch gegolten, in jedem Fall aber als ideologisch höchst anstößig (120), und hielt auch nur bis Ende der 1940er Jahre an, als die zuvor hochgefeierten Epen und damit auch Lipkin als Übersetzer vieler dieser Texte erneut unter politischen Verdacht gerieten.154 Für Musaib ist das Manas-Epos jenseits dieser kulturpolitischen Volten der „wahre Ausdruck der Zeit“,155 dessen Wert unabhängig von den Konjunkturen politischer Instrumentalisierungen besteht. Das Manas fungiert dabei nicht allein als kirgisisches Epos, sondern steht stellvertretend für die Mythen aller peripheren Völker. Dies wird dadurch deutlich, dass das Epos auf einer gemeinsamen Veranstaltung verschiedener kleinerer Ethnien des Sowjetreiches vorgetragen wird, auf der Tavlaren, Kirgisen und Usbeken der Wiedergabe durch den Volkssänger Soronbai beiwohnen 156. Im Anschluss an den Kongress 1934 rufen die sowjetischen Machthaber in den folgenden Jahren eine Reihe von Dekaden aus, die Minderheiten gewidmet sind. Lipkins Roman schildert zwei Dekaden, eine fiktive 157 der gušanischen (= kabardinischen) Kultur im Jahre 1950, deren Darstellung hier im Zentrum stehen soll, und eine Dekade der kabardino-balkarischen Kultur während der Regierungszeit Chruščëvs, die mit der real durchgeführten Dekade 1957 übereinstimmen dürfte. Im Roman wird den Gušanen 1949 aus Moskau mitgeteilt, für den Herbst des kommenden Jahres eine Dekade vorzubereiten, was bei den Verantwortlichen vor Ort starke Unruhe auslöst. Diese wird einerseits durch finanzielle Engpässe und organisatorische Hindernisse verursacht, hängt wesentlich aber mit den unwägbaren Erwartungen des Zentrums in Bezug auf die Schilderung der lokalen Geschichte zusammen. Главная трудность в том, что понять, какой линии следует держаться. Древний они народ или, как татары, начали существовать только с октября 1917 года? Гордиться

153 Vgl. Lipkin 1995, S. 119. 154 Vgl. hierzu van der Heide 2015, S. 197. Jene Verurteilung der Epen schildert auch Lipkin kurz in seinem Roman, vgl. Lipkin 1983, S. 99. 155 Lipkin 1984, S. 108; „правда времени“ (Lipkin 1983, S. 74). 156 Vgl. Lipkin 1983, S. 72. 157 Eine Dekade der kabardino-balkarischen Kunst und Literatur wird für das Jahr 1950 nicht vermerkt, lediglich für das Jahr 1957 findet sich ein Hinweis in den offiziellen Überblickswerken (vgl. Jampol’skij/Konnova 1973).

Geschichte als Übersetzungsproblem145 ли Жамилием 158 или отречься от него? Опираться ли, как на национальную гордость, на эпические сказания, или умалчивать о них? Переводить ли на русской язык романы Хакима Азадаева, популярные в народе, потому что они исторические, или отказаться от них, потому что они исторические?159

An dieser Stelle als Problem der Stoffauswahl eingeführt, erweitert sich diese Problematik der Vorbereitung der Dekade in der Folge um eine stilistische Komponente, die in der Diskussion des Romans Chakim Azadaevs 160 zu Tage tritt. Besonders die poetische Gestaltung des Textes scheint den Erwartungen des Zentrums nicht gerecht werden zu können: Дело не в сюжете, дело в подробностях, главным образом, этнографических. В наши дни известных одному Хакиму Азадаеву. Эти подробности слабо, непрочно связаны с банальным сюжетом, – не беда, именно в них ценность романа. Но именно от них переводчику полагается избавиться. Трагедия писателей советского Востока в том, что читающие их на родном языке имеют иные представления о красоте слова, о художественности вообще, чем русские, чем европейцы, но восточный писатель начинает у нас утверждаться только тогда, когда его утверждает Москва.161

158 Imam Schamil war ein muslimischer Widerstandskämpfer gegen die russische Expansion im Kaukasus im 19. Jahrhundert, der für seinen Kampf sogar von Karl Marx lobend erwähnt wurde. 159 Lipkin 1983, S. 100. „Die Hauptschwierigkeit lag darin zu erraten, welche Linie bei der Dekade eingehalten werden sollte. Waren sie ein uraltes Volk, oder hatten sie wie die Tataren erst seit Oktober 1917 zu existieren begonnen? Sollte man sich Schamils rühmen, oder sollte man sich lossagen von ihm? Dürfte man sich auf die epischen Überlieferungen als Stolz der Nation stützen oder sollte man sie verschweigen? Sollte man die Romane Chakim Asadajews, die das Volk schätzte, weil sie historisch waren, ins Russische übersetzen, oder sollte man sich von ihnen abkehren, weil sie historisch waren?“ (Lipkin 1984, S. 146) 160 Dieser Autor wird vom Erzähler als „gušanischer Walter Scott“ (vgl. Lipkin 1983, S. 112) bezeichnet, wobei durch die Nennung der Gründungsfigur des historischen Romans das Territorium der Auseinandersetzung, die literarische Behandlung der Vergangenheit, markiert wird. 161 Lipkin 1983, S. 111 f. „Es ging nicht um den Inhalt, es ging um die Einzelheiten, vor allem die ethnographischen, die heute nur noch Chakim Asadajew kennt. Diese Einzelheiten waren schwach, lose mit dem banalen Sujet verbunden – das war kein Unglück, in ihnen lag ja der Wert des Romans. Doch gerade von ihnen mußte der Übersetzer sich lösen. Die Tragik der Schriftsteller des sowjetischen Orients liegt darin, daß diejenigen, die sie in ihrer Muttersprache lesen, andere Vorstellungen von der Schönheit der Sprache, vom Künstlerischen überhaupt haben als die Russen, als die Europäer, doch kann sich ein orientalischer Schriftsteller bei uns nur durchsetzen, wenn er von Moskau anerkannt wird“ (Lipkin 1984, S. 162).

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Diese Würdigung der ästhetisch-stilistischen, aber auch ästhetisch-funktionalen Differenz zwischen Moskauer Zentrum und gušanischer Peripherie ist für den Übersetzer Bodorskij Resultat eines Erkenntnisprozesses. Einige Jahre zuvor hatte er noch versucht, Azadaev über das „traurige Zurückbleiben der gušanischen Prosa gegenüber der modernen Literatur und den modernen Begriffen“ 162 zu belehren, woraufhin jener ihm den Wert der Klassik des Orients mit ihren anderen Vorstellungen von Form und Inhalt entgegengehalten hatte.163 Mit der Autorität des allwissenden Erzählers wird später behauptet, „что художественная мысль Востока развивалась иначе, чем, скажем, русская или английская, по иным законам мышления“.164 162 Lipkin 1984, S. 163; „о печальном отставании гушанской прозы от достижений современной литературы, от современных понятии“ (Lipkin 1983, S. 112). 163 Wenn das Künstlerische bei Azadaev jedoch vollkommen anders gedacht wird als bei den Russen oder Europäern, wie ist dann der vorher zitierte Vergleich mit Walter Scott zu deuten? Hier wäre durchaus auch eine satirische Lesart als Parodie auf das ausgeprägte Einschreiben von Autoren aus der Peripherie in den weltliterarischen Kanon möglich. 164 Lipkin 1983, S. 112; „daß das künstlerische Denken des Orients sich anders entwickelt hat als das russische oder englische, nach anderen Denkgesetzen“ (Lipkin 1984, S. 163). Die Frage nach der Einordnung der indigenen Literatur in den weltliterarischen Kanon steht in einem direkten Zusammenhang zu Gor’kijs bereits zitierter genealogischen Rückführung der auf dem Kongress ausgestellten indigenen Epen zur griechischen Antike. Hier war es Gor’kij noch darum gegangen, durch das Zeichnen einer genealogischen Linie von den alten Griechen hin zur zeitgenössischen sowjetischen Panegyrik die zeitlose Aktualität dieser Formen zu betonen und polemisch gegen das angeblich atomisierte, von den Ursprüngen der Kunst entfremdete zeitgenössische Kunstschaffen in den kapitalistischen Ländern in Stellung zu bringen. Damit oktroyierte er jenen orientalischen Epen Stal’skijs und Džabaevs seine historische Entwicklungslogik auf. Der Vergleich Stal’skijs mit Homer entpuppte sich so als nur vermeintliche Gleichheit, implizierte sie doch die Unterordnung jener Kunst unter eine Philosophie historischer Entwicklung und künstlerischen Denkens, die deren Entstehungskontext denkbar fernlagen. So bezieht sich Bodorskij auf die Gleichheit der indigenen Kultur zur griechischen Tradition, um diese gegen die sowjetische Kultur in Stellung zu bringen, nicht um diese für die sowjetische Kultur zu instrumentalisieren. „Переводим же мы Илиаду или Одиссею, Горация или Вергилия, без рифм, почему же поступать иначе с литературами Востока? […] древные греки и римляне не нуждались в одобрений Москвы, а тепер гушанским писателям необходимо, чтобы их поняла и одобрила Москва“ (Lipkin 1983, S. 114). „Und außerdem übersetzen wir auch die Ilias oder die Odyssee, Horaz oder Vergil ohne Reim, warum sollten wir mit den Literaturen des Orients anders verfahren? […] Die alten Griechen und Römer bedurften der Billigung Moskaus nicht, jetzt aber sind die gušanischen Schriftsteller darauf angewiesen, daß Moskau sie versteht und billigt“ (Lipkin 1984, S. 165).

Geschichte als Übersetzungsproblem147

Dieses Selbstverständnis absoluter Fremdheit und Andersartigkeit wäre im Anschluss an Gayatri Spivaks Forderung nach einem ‚strategischen Essentialis­ mus‘165 als Akt eines taktischen Essentialismus zu lesen, der einer Poetik und Politik der Selbstbehauptung den Weg bereiten soll, die sich gegen Gor’kijs weltliterarisches Projekt wendet. Michel de Certeau unterscheidet in seiner Kunst des Handelns Strategie und Taktik.166 Während die Strategie vom Zentrum aus operiere und berechnend nach der totalen Kontrolle von Raum und Zeit strebe, sei taktisches Handeln „ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt“ (23). Es operiere auf unvertrautem Gebiet und „muss mit dem Terrain fertigwerden, das [ihm] vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“ (89). Um seine Stellung nicht zu gefährden, muss das taktisch handelnde Subjekt Raum für Ambivalenz lassen und kreativ nach Möglichkeiten suchen, die Ordnung des Zentrums in Frage zu stellen und eigene Interessen zu artikulieren. Die Dekade in Moskau erlaubt die offene Akzentuierung einer unterschiedlichen historischen Tradition und eines anderen Geschichtsverständnisses eigentlich nicht. Dort tritt zunächst nicht Chakim Azadaev auf, sondern sein in Moskau ausgebildeter Sohn Mansur, der sich opportunistisch der russischen Tradition unterordnet. Er beginnt seinen Beitrag mit den Worten: „Этот сал слушал Максима Горького и Маяковского, слушает Александра Фадеева, почему же сюда допустили меня, дикого горца?“ 167 Azadaev konterkariert auf dem anschließenden Bankett jedoch diese Unterwerfungsgeste. Dort hält Stalin eine Rede, in der er die Verdienste der gušanischen Intelligenz in der Vergangenheit lobt, die er als „goldene Kindheit der Menschen“ bezeichnet.168 An dieser Stelle unterbricht plötzlich Chakim Azadaev den Vortrag mit den Worten „Ура! Литературоведения [sic!] умерла!“ 169 Azadaevs – grammatikalisch bewusst falsche – Äußerung ist eine taktische im Sinne Michel de Certeaus. Im Zentrum der Macht, im Moskauer Kreml, durchbricht er durch seine Äußerung das Protokoll der Veranstaltung. Bereits hierin sehen Azadaevs Aufpasser einen

165 Barker definiert folgendermaßen: „strategic essentialism means acting “as if ” identities were stable for political reasons” (Barker 2004, S. 189). 166 De Certeau 1988, v. a. S. 77 – 97. 167 Lipkin 1983, S. 123. „Dieser Saal hat Maxim Gorki und Majakowski gehört, er hört ­Alexander Fadejew, warum gibt man mir, dem ungehobelten Mann aus den Bergen, hier Zutritt?“ (Lipkin 1984, S. 179) 168 Lipkin 1984, S. 186; „золотым детством человечества“ (Lipkin 1983, S. 12). 169 Lipkin 1982, S. 128. „Hurra! Das Literaturwissenschaft ist tot!“ (Lipkin 1984, S. 186).

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Die Peripherie der Metahistoriographie

Affront: „Они не поняли его выкрика, но самый выкрик, кощунственно прорвавший выступление вождя, отрицательный глагол «умерла», привели их в бешенство, вызвали в них ожесточенную растерянность.“ 170 Azadaev markiert gleichzeitig durch seine Äußerung eine Differenz innerhalb des Machtapparates, nämlich die zwischen Führerwort und Literaturwissenschaft. Der Ausruf „Das Literaturwissenschaft ist tot“ erinnert außerdem an Nietzsches berühmtes Wort vom Tod Gottes, das auf Stalin bezogen werden könnte, der vom Erzähler wenig später als Gottesgestalt bezeichnet wird.171 Im Roman bleibt die Deutung dieser Episode bewusst ambivalent. In einem die diegetische Ebene unterbrechenden metafiktionalen Kommentar wendet sich der Erzähler am Ende direkt an den Leser: Пишущий эти строки не в силах проникнуть в суть произошедшего, он очевидец, а не ясновидец. Он увидел, рассказал, а размышлять не собирается, пусть поразмыслит читатель.172

Trotz seines taktischen Kalküls spielt Azadaev durch seine Teilnahme an der Dekade immer noch im Regelwerk des Zentrums. Alim Safarov, ein junger Schriftsteller, der die (über-)nächste Generation symbolisiert, wird sich schließlich weigern, an der folgenden Dekade überhaupt noch teilzunehmen. Er lehnt jenes Schauspiel mit der Begründung „Декада литературы и искусства без литературы и искусства“ 173 ab. Dekada endet mit einer Reflexion über jene Entscheidung Alims: Станислав Юрьевич […] думал: правильно ли поступает молодой тавлар, отказываясь от участия в декаде? […] Никогда ещё не было у нас такой ненависти мусульманских 170 Lipkin 1983, S. 129. „Sie begriffen seinen Ausruf nicht, aber der Ausruf selbst, der läster­ lich die Worte des Führers unterbrochen hatte, und auch das negative Adjektiv „tot“ trieb sie zur Raserei, löste eine verzweifelte Panik aus“ (Lipkin 1984, S. 187). 171 „Сам Сталин, движущий семь планет мира, Каусар – райский источник мудрости и знания, утвердил, освятил своим нерушимым, подобным Каабе, словом важность гушанских сказаний, их право на первородство“ (Lipkin 1983, S. 129). „Stalin selbst, der die sieben Planeten der Welt bewegte, der Fluß Kausar – die Quelle der Weisheit und des Wissens im Paradies, hatte bestätigt, hatte mit seinem unerschütterlichen, der Kaaba gleichen Wort die Bedeutung der guschanischen […] Heldenlieder bestätigt“ (Lipkin 1984, S. 186 f.). 172 Lipkin 1983, S. 130. „Der Schreiber dieser Zeilen ist nicht in der Lage, in das Wesen des Geschehenen einzudringen, er konnte es vor sich sehen, aber kann nicht hellsehen. Er hat es gesehen, hat es erzählt, aber er hat nicht die Absicht, darüber nachzudenken. Nachdenken kann der Leser“ (Lipkin 1984, S. 188). 173 Lipkin 1983, S. 177. „Eine Dekade der Literatur und der Kunst ohne Literatur und ohne Kunst“ (Lipkin 1984, S. 257).

Geschichte als Übersetzungsproblem149 народов к русским, русских – к инородцам. А разве Россия – колониальная империя, подобна той, какой была Англия?174

Die Frage nach der Teilnahme an der Dekade wird hier erweitert zur Frage nach dem Verbleib jener Republiken in der Sowjetunion bzw. bei Russland. Jene Frage ist eng verknüpft mit Fragen historischer Selbstverortung. Wird die eigene Geschichte als Entwicklung nach anderen Denkgesetzen gesehen und das differente Moment akzentuiert oder – in einer dialektischen Lesart – die Möglichkeit der Entwicklung und Aufhebung der eigenen Tradition betont? Der Zweifel am Ende des Romans ist echt, denn im Werk werden beide Lesarten entwickelt. In jedem Fall zeigt sich jedoch, dass das Korsett, in das die Epen der kleinen Völker in der offiziellen Kulturdoktrin (narodnost’ ) und Kulturpolitik gepresst werden, jenen Traditionen weder stilistisch noch inhaltlich oder philo­ sophisch gerecht wird. Das metahistoriographische Potential des Romans entfaltet sich dabei auf zwei Ebenen. Durch eigene Erfahrungen kundig, macht Lipkin den Druck aus dem Zen­trum auf die literarische Geschichtsschreibung in der Peripherie deutlich. Er weiß um die Auslassungen, Kürzungen und Umstellungen, die die epischen Werke aus jenen Regionen entstellen und in einem Akt imperialer Dienstbarmachung ihrer philosophischen und ästhetischen Wurzeln berauben. Auf einer zweiten Ebene macht der Roman aber in der Figurenkonstellation verschiedene Handlungsoptionen innerhalb jener Rahmenbedingungen deutlich, die sich inhaltlich zwischen Gleichschaltung (Mansur), ambivalenter Anpassung (früher Musaib, ­Azadaev) und offener Opposition (Alim, später Musaib) bewegen. Obgleich nicht alle diese Perspektiven wertfrei gegenübergestellt werden, lässt der Erzähler dennoch genügend Raum, um auch den Leser in die Diskussion um die Notwendigkeit von Kompromissen in Bezug auf die Geschichtsschreibung kleiner Völker einzubinden.

Von Übersetzern und Mediatoren Das Projekt der multinationalen Sowjetliteratur ist undenkbar ohne die konsti­ tutive Rolle der Übersetzung. Die Literaturpolitik zielte sowohl auf eine Übersetzung in die Semantik des Zentrums ab als auch auf die Schaffung neuer S­ emantiken 174 Lipkin 1983, S. 183. „Stanislaw Jurjewitsch […] überlegte, ob der junge Tawlare bei seinem Verzicht auf die Teilnahme an der Dekade richtig handelte. […] Noch nie zuvor hatte es bei uns einen derartigen Haß der mohammedanischen Völker auf die Russen und der Russen auf die Fremdvölker gegeben. Ist denn Rußland ein koloniales Imperium wie einst England?“ (Lipkin 1984, S. 266)

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Die Peripherie der Metahistoriographie

im Zentrum durch Übersetzung. Susanna Witt, die die Rolle der Übersetzung im stalinistischen Kontext untersucht hat, betrachtet sie als „Element der Nationalitätenpolitik“,175 die im größeren Stil staatlich geplant und kontrolliert worden sei: „[…] much of what was produced as Soviet literature of non-Russian origin was not genuinely, or not entirely, or not at all, the work of ‚nationalities authors‘, but an entity brought about by multiple and complex translation processes or at least practices.“ 176 Das Verfassen geschichtlicher Epen und Erzählungen war für das stalinistische Regime eine zu heikle Angelegenheit, als dass man sie lokalen Historikern und Autoren überlassen konnte. Deshalb wurden verschiedene Kontrollinstanzen geschaffen, die bereits bei der Produktion der Texte die richtige Richtung vorgaben, um spätere umfangreiche Korrekturen zu vermeiden. Eine entscheidende Rolle hierfür spielten Interlinearübersetzungen, sogenannte podstročniki, für deren Erstellung bereits im Vorfeld nur verlässliche Leute ausgewählt wurden, die im Sinne der Partei die Originale wiedergaben (175) und bereits in die Entstehung der Primärtexte involviert waren. Auch Bodorskij arbeitet auf Vorlage von podstročniki, wie aus einem Dialog zu Beginn des Romans klar wird,177 wobei auch er nicht unerhebliche Redaktion der Originaltexte vornimmt: […] надо сократить, сюжет сделать более острым, может быть, ввести для этого в роман новое действующее лицо, может быть, благодорного русского, обман, везде обман.178

Das Zitat weist auf die allgegenwärtigen manipulativen Techniken 179 in der übersetzerischen Praxis hin. So wird Bodorskij von der Partei aufgefordert, die Texte Musaibs zu bearbeiten: „Местные историки, наши люди, помогли Мусаибу, но он не все понял, вы должны довести поэму до кондиции.“ 180 Den gleichen Auftrag der Berichtigung der Texte bekommt Bodorskij einige Jahre später auch, als er die Epen Azadaevs zu übersetzen beginnt: „Займешься прозой, – переведешь

175 176 177 178

Witt 2011, S. 155. Witt 2013, S. 159 f. Vgl. Lipkin 1983, S. 16. Lipkin 1983, S. 112; „er mußte kürzen, mußte die Handlung raffen, mußte vielleicht sogar dafür in den Roman eine neue Figur einfügen, vielleicht einen edlen Russen: Betrug, überall Betrug, und was das Dumme war, ein niemandem nötiger Betrug.“ (Lipkin 1984, S. 163). 179 Witt 2013, S. 185. 180 Lipkin 1983, S. 46. „Die hiesigen Historiker, unsere Leute, haben Musaib geholfen, aber er hat nicht alles verstanden, Sie müssen die Verse in die richtige Beschaffenheit bringen“ (Lipkin 1984, S. 68).

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роман Хакима Азадаева, сам понимаешь, – другому доверить не могу. Надо хорошо разбираться в нашей истории, где потребуется, поправить старика.“ 181 Die Passage unterstreicht die Aufgabe der Erstellung einer ideologisch richtigen und berichtigten Fassung der Geschichte, was auch in folgender Sequenz klar wird: „Как ты думаешь, будет ли уместно, введу в роман Измаил-Бея? Спрашиваю тебя как историка. Измаил-Бей воевал с Турцией это сейчас в цене […]. Эффектно?“ 182 Jener Vorschlag kommt hier vom Übersetzer ­Bodorskij selbst und wird begeistert vom örtlichen Funktionär aufgenommen. Er weiß genau, was man von ihm erwartet und dass vor allem die Wirkung der Texte im Vordergrund steht, und gibt diesen Forderungen an dieser Stelle nach. Die Arbeit des Übersetzers hat aber nicht nur eine inhaltliche Komponente, sondern sie muss auch formale Erwartungen berücksichtigen. Dies ist mit der Aufforderung „вы должны довести поэму до кондиции“ gemeint. Hierbei geht es darum, Einzelheiten zu raffen, den Roman zu kürzen, das Sujet zu verändern – kurz gesagt, die literarische Gestalt des Textes den Erwartungen der Leser anzupassen.183 Dass man in diesen Texten „großartige Wendungen und Redensarten [durch] abgegriffene[] Formeln verdrängt“,184 ist der Preis dafür, dass an anderer Stelle Spielräume entstehen: Но была и радость: в переложении Станислава была издана книга старинных гушанских сказаний, можно сказaть, частика сердца, блеск версификации, археологические словесные раскопки, подарившие золото украшений.185 181 Lipkin 1983, S. 101. „Du mußt dich an die Prosa machen, den Roman von Chakim ­Asadajew übersetzen, du verstehst selbst, einem anderen kann ich das nicht anvertrauen. Dazu muß man in unserer Geschichte gut Bescheid wissen, wo es nötig ist, den alten Mann verbessern“ (Lipkin 1984, S. 147). 182 Lipkin 1983, S. 116. „Was glaubst du, ist es nicht ratsam, Ismail-Bei in den Roman einzubeziehen? Ich frage dich als Historiker. Ismail-Bei hat gegen die Türkei gekämpft, das hört man zur Zeit gern. […] Wirkungsvoll?“ (Lipkin 1984, S. 168 f.) 183 Wie es in einer vorher schon angeführten Passage heißt: „Эти подробности слабо, непрочно связаны с банальным сюжетом, – не беда, именно в них ценность романа. Но именно от них переводчику полагается избавиться“ (Lipkin 1983, S. 111). „Diese Einzelheiten waren schwach, lose mit dem banalen Sujet verbunden – das war kein Unglück, in ihnen lag ja der Wert des Romans. Doch gerade von ihnen mußte der Übersetzer sich lösen“ (Lipkin 1984, S. 162). 184 Lipkin 1984, S. 70; „прелестные идиомы и поговорки были как бы задвинуты трюизмами“ (Lipkin 1983, S. 47). 185 Lipkin 1983, S. 48. „Aber es hatte auch etwas Erfreuliches gegeben. Ein Buch alter guschanischer epischer Lieder war erschienen, in Stanislaws Übersetzung, man konnte sagen, ein Stückchen seines Herzens, ein glänzendes Meisterwerk der Reimkunst, archäologische Wörterausgrabungen, die goldene Verzierung schenkten“ (Lipkin 1984, S. 70).

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Die im Roman „unter imperialer Lizenz“ 186 entstehenden Übersetzungen machen aufmerksam auf das historische Erbe unterdrückter und missachteter indigener Kulturen. Trotz der Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch das Zen­ trum entstehen – auch durch Übersetzungen – Handlungspotentiale und alternative Perspektiven, allerdings stets mit der Einschränkung, lokale Geschichte in das Idiom des Zentrums zu übersetzen. Hierbei werden die literarischen Produzenten in den Republiken in die Geschichtsschreibung des Zentrums hineinsozialisiert und übernehmen diese. Dipesh Chakrabarty hat diesen Prozess als Provinzialisierung der Peripherie beschrieben und versteht darunter, dass die Macht des Zentrums zu einem impliziten Referenzpunkt historischen Wissens wird und selbst in offensichtlichen Gegenerzählungen stillschweigend die epistemische Ordnung der europäischen bzw. in unserem Falle der sowjetischen Meistererzählung reproduziert.187 Die Epen Musaibs und Azadaevs sind nach ihrer Übersetzung hybride Produkte imperialer und indigener Textgestaltung. Am Beispiel der Interlinearübersetzung lassen sich zwei in anderem Kontext von Douglas Howland unterschiedene Paradigmen im Verhältnis von Literatur und Übersetzung unterscheiden,188 die sich im Rahmen des von den Translation Studies etablierten Ansatzes, die Geschichte und Praxis der Übersetzungsgeschichte als Teil einer globalen Kolonialgeschichte zu lesen, herausgebildet haben. Für das erste Paradigma stehen Auffassungen, die die Meinung vertreten, „that the colonial powers forced their subjects to “translate” their local language, sociality or culture into the terms of the dominant colonial power“. Hier werden der Zwang und die Kontrolle, die die kolonialisierende Macht ausüben, und die reglementierende Praxis der Repräsentation, die jene Politiken konstituiert, betont. Das zweite Paradigma hingegen ist less concerned with the transgressions of power in colonial situations than with the fact of different languages, cultures, or practices and the work between the two, whether on the part of agents in the historical past or scholars motivated to treat the translation of cultural differences (47).

Dekada fokussiert weniger auf das bloße Herausarbeiten repressiver Momente im Prozess der Übersetzung, sondern vertritt als Ideal der Übersetzung ein „normative[s] Prinzip wechselseitiger Anerkennung kultureller Differenzen“.189 Dieses 186 187 188 189

Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989, S. 4 ff. Chakrabarty 2000, S. 28 ff. Howland 2003, S. 45 – 60. Rüsen 2002, S. 152. Rebecca Gould liest Semen Lipkins eigene biographische Tätigkeit in einem ähnlichen Sinne als Plädoyer für eine ebensolche Anerkennung von Differenzen, vgl. Gould 2012.

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Prinzip ist von Jörn Rüsen in die Debatte eingebracht worden und beinhaltet den Verzicht auf die Annahme einer allgemeinen historischen Entwicklungslogik, Spielräume für die Erzählung alternativer Geschichte sowie die wertfreie Anerkennung verschiedener historischer Zugänge und unterschiedlicher, kulturell geprägter, symbolischer Ordnungen.190 Für die Beschreibung dieser Praxis im Roman bietet sich Kwame Anthony Appiahs Begriff der dichten Übersetzung (thick translation) an. Appiah versteht darunter eine „translation that seeks with its annotations and its accompanying glosses to locate the text in a rich cultural and linguistic context“. Im Gegensatz zur dünnen Übersetzung fokussiert die dichte Übersetzung den Entstehungskontext an Stelle des Rezeptionskontexts, zielt ab auf ein Verstehen und nicht auf ein Verwerten und respektiert die Eigenlogik des vorliegenden Textes, anstatt diesen in einen Rahmen einzuschreiben, in dem das literarische Werk immer schon eine Bedeutung hat, die man nur zu entdecken brauche.191 Der Konflikt dünner und dichter Übersetzungen spiegelt folglich die Einstellung des Zen­ trums gegenüber der künstlerischen Produktion in den Republiken wider. Die dünne Übersetzung repräsentiert eine koloniale Politik, die die lokalen Texte manipulativ missbraucht. Die dichte Übersetzung steht hingegen für ein Ideal der Übersetzung, durch die mehrere gleichberechtigte Stimmen und Wissensordnungen miteinander in Kontakt treten. Während die dünne Übersetzung historisch blind ist und den lokalen Text in die eigenen Kategorien zwingt, ist die dichte Übersetzung offen für ein anderes Geschichtsverständnis und eine alternative Ästhetik.192

190 Die Möglichkeit zu einer solchen „lebendigen Zwiesprache mit anderen Kulturen“ (Thun-Hohenstein 2015, S. 157) hatte es sogar in den 1930er Jahren gegeben, wie ThunHohenstein am Beispiel von Boris Pasternaks Übersetzungen aus dem Georgischen ausführt. 191 Appiah 1993, S. 817. 192 Dies äußert sich auch biographisch in Lipkins Übersetzungstätigkeit. Von seinen Auftraggebern angeleitet, sich nur mit der Übersetzung zu beschäftigen („Будете заниматься только переводом“ (Kalašnikova 2002), erkannte Lipkin schnell, dass sich diese ohne Einarbeitung in die Geschichte der einzelnen Völker nicht bewerkstelligen lasse. Gefragt war dabei in allen Fällen eine tagespolitisch sensibilisierte Übersetzung, die Auslassungen sowie Erweiterungen der Ursprungstexte erforderlich machte. Lipkin ging über jene Anleitung hinaus und machte sich in Bibliotheken, auf Reisen und in persönlichen Gesprächen mit den Hintergründen der epischen Lieder bekannt und realisierte schnell, dass die offiziell sanktionierte Geschichte jener Epen und ihrer Helden nicht mit seinen Recherchen und historischen Erkenntnissen übereinstimmten.

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Obgleich die Spielräume für solche Übersetzungen politisch begrenzt sind, gelingt es Bodorskij bereits in seinen ersten Übersetzungen – auch aufgrund einer guten Interlinearvorlage –, eine solche dichte Übersetzung zu bewerkstelligen. Чутким природным слухом Станислав уловил необычный ритм сказания, голос из глубины веков и гор, и понял, что способен воспроизвести по-русский этот ритм так, что ритм будет звучать ново, звонко. Станислав переложил русскими стихами это сказание, нашел, благодаря приблизительному знания языка подлинника, такие синтактические обороты, которые, будучи по-русски правильными, свежо воссоздавали гушанскую речь.193

Die Gegenfigur zu diesen Übersetzern, die sich intensiv mit der gušanischen Kultur und Sprache auseinandersetzen, ist der vom Zentrum entsandte aufstrebende Lyriker Oleg Bašaškin, der zum ersten Mal in die gušanische Republik kommt und prahlt, er habe bereits bei seinem ersten Aufenthalt alle gušanischen Schriftsteller durchschaut.194 Diese Haltung führt wenig später durch die Missachtung gušanischer Traditionen und durch das Verkennen der lokalen Machtverhältnisse zu einem Eklat. Bašaškin muss die Republik verlassen, nicht ohne jedoch vor seiner Abreise die Juden, die sich angeblich alles unter den Nagel gerissen hätten, zu beleidigen.195 Diese antisemitische Äußerung deutet bereits auf den engen Zusammenhang von Übersetzungstätigkeit und jüdischer Identität hin, der im Roman eine wichtige Rolle einnimmt. Klavdia Smola zufolge artikuliert „Dekada implizit das geistige Privileg des Judentums als Gabe, Differenz zu erkennen und anderen marginalisierten Kulturen buchstäblich zur Sprache zu verhelfen“.196 Dies erinnert sie an Auffassungen Yuri Slezkines, der die Juden als merkurisches Volk bezeichnet und ihre Rolle als geübte Linguisten, Vermittler, Übersetzer und Mystifizierer 197 herausstreicht. Auch Bodorskij scheint sein Talent angeboren zu sein („čutkim 193 Lipkin 1983, S. 42. „Mit feinem, angeborenem Gespür nahm Stanislaw den ungewöhnlichen Rhythmus des epischen Liedes auf, die Stimme aus der Tiefe der Jahrhunderte und Berge, und er erkannte, daß er in der Lage war, diesen Rhythmus auf Russisch so wiederzugeben, daß er neu und wohltönend klingen würde. Stanislaw übersetzte dieses epische Lied in russische Verse und fand dank seiner ungefähren Kenntnis der Sprache des Originals derartige syntaktische Wendungen, daß sie zwar im Russischen richtig, dennoch frisch und lebendig die guschanische Sprache wiedergaben“ (Lipkin 1984, S. 63). 194 Vgl. Lipkin 1983, S. 109. 195 Vgl. Lipkin 1983, S. 110; „надеялся на заработок в Гушинистане, в Москве заработков нет, все забрали себе евреи“. 196 Smola 2016, S. 101. 197 Slezkine 2004, S. 20.

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prirodnym sluchom“), was Slezkines essentialistische Note aufnimmt. Er agiert in Dekada in einer Doppelrolle als Agent des Zentrums und als Übersetzer, der eigene Erfahrungen der Unterdrückung und Diskriminierung vorweisen kann und so zum Verbündeten der indigenen Völker wird. Eine weitere Mediatorengestalt ist der vertriebene deutschstämmige Wissen­ schaftler Nikolaj Leopol’dovič Genzel’t, der als Orientalist alter Schule eingeführt wird, „то есть совмещал в себе и лингвиста, и историка, и географа, и социолога, и литературоведа, и знатока мусульманского богословия“.198 ­Genzel’t wird zum geistigen Erzieher des jungen Alim Safarov und übernimmt dabei die Rolle Bodorskijs, der sich nach der Verbannung der Tavlaren nicht mehr damit beschäftigen kann. Genzel’t, der als hervorragender Wissenschaftler bezeichnet wird,199 macht Alim mit der Geschichte der Turkvölker bekannt, die er jenseits politischer Etikettierungen wiedergibt. Alim zeichnet diese Informationen auf und kombiniert sie mit eigenen Gedanken: „Алим записывал, как запоминали и поминал, исторические повествования Николая Леопольдовича“.200 Diese Berichte bilden später die Grundlage für Alims eigenes literarisches Schaffen, das zu einer Wiedergeburt der durch die Deportation zerstörten tavlarischen Kultur führen könnte. Kulturelle Selbstbehauptung in den Republiken ist in Dekada immer angewiesen auf die Vermittlung durch Agenten des Zentrums. Deren Wissen um das gerade geltende Verständnis historischer Fakten und um die politischen Bedingungen ist Voraussetzung für kulturelle Produktion. Obgleich hier in Bezug auf praktisches und theoretisches Wissen eine klare Hierarchie herrscht, ist das Verhältnis Bodorskijs oder Genzel’ts gegenüber dem künstlerischen Schaffen der Tavlaren kein paternalistisches, sondern eines, das auf ein Empowerment lokaler Akteure abzielt. Als Agenten, die zwar aus dem Zentrum kommen ­(Genzel’t aus Leningrad, Bodorskij aus Moskau), deren Stellung im Zentrum aber aufgrund ihres Minderheitenstatus prekär ist, solidarisieren sie sich mit den repressierten Tavlaren. Diese können aber nicht von sich aus sprechen, sondern müssen zum Handeln erst ermächtigt werden. Diese Unfähigkeit zur diskursiven Artikulation ist dabei allerdings kein Defizit, das den Tavlaren a priori 198 Lipkin 1983, S. 87; „er war sowohl Linguist als auch Historiker, Geograph, Soziologe und Literaturwissenschaftler und darüberhinaus ein Kenner des mohammedanischen Glaubens“ (Lipkin 1984, S. 127). 199 Lipkin 1983, S. 86: „авторои замечательных, оригинальных трудов“; „Autor hervorragender wissenschaftlicher Untersuchungen“ (Lipkin 1984, S. 126). 200 Lipkin 1983, S. 96; „[...] Alim Nikolaj Leopoldowitschs historische Berichte aufzeichnete, so wie er sie verstanden und behalten hatte“ (Lipkin 1984, S. 139).

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zukommt, sondern Effekt eines Dispositivs, in welchem für ihre unabhängigen Sprechakte kein Raum ist. Der Modus ihrer Gegenerzählung, die sich in Alims Notizheften findet, ist demnach kein behauptend-konstatierender, sondern ein fragend-suchender. Dieser kann dabei als Ermächtigung der Tavlaren durch den Erzähler gelesen werden oder als Projektion seiner eigenen Identitätssuche auf die tavlarische Nation.201

Geschichte und Mythos Die Gegenüberstellung imperialen und indigenen Geschichtswissens ist ein wichtiger Topos in Dekada. Die Repräsentanten kleinerer Völker wissen nicht nur andere Dinge, sie wissen sie auch in einer anderen Art und Weise. Dies wird deutlich zu Beginn des dritten Kapitels. Dort heißt es: Для русского Калуга, например, или Тула – обычные города, губернские до революций, областные по сегодняшней терминологии, а всего лишь мгновение назад названия этих городах обозначали для всадников Чингиза или Батыя заставу и место, где куется оружие.202

Die zwei alternativen Geographien des russischen Territoriums stehen hier, wie an anderen Stellen im Roman,203 für zwei unterschiedliche Wissensordnungen. In 201 Dies wäre dann nach Frederic Jameson charakteristisch für die Literatur der ‚Dritten Welt‘: „Third-world texts, even those which are seemingly private and invested with a properly libidinal dynamic – necessarily project a political dimension in the form of national allegory: the story of the private individual destiny is always an allegory of the embattled situation of the public third-world culture and society. Need I add that it is precisely this very different ratio of the political to the personal which makes such texts alien to us at first approach, and consequently, resistant to our conventional western habits of reading?“ ( Jameson 1986, S. 69). 202 Lipkin 1983, S. 19. „Für einen Russen sind zum Beispiel Kaluga oder Tula gewöhnliche Städte, Gouvernementsstädte vor der Revolution, Gebietszentren nach der heutigen Terminologie, aber nur einen Augenblick zuvor bedeuteten die Bezeichnungen dieser Städte für die Reiter Dschingis Khans oder Batys eine Grenzmarke und den Ort, wo Waffen geschmiedet werden“ (Lipkin 1984, S. 27). 203 Gut sichtbar in dieser Passage: „Аул Куруш действительно получил свое имя от древнего персидского царя, которого в русских учебниках ошибочно называют Киром, что у ученых персов, слушающих на зимпосиумах русских историков, вызывает веселое недоумение, так как персидское «кир» соответствует и по звучанию и по смыслу нашей самой краткой брани“ (Lipkin 1983, S. 28). „Der Aul Kurusch hatte seinen Namen tatsächlich von einem alten persischen Zaren erhalten, den man in russischen Lehrbüchern fälschlich Kir nennt, was bei gebildeten Persern, die auf Symposien russische Historiker reden hören, ein vergnügliches Erstaunen auslöst,

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Umkehrung traditioneller Wissensordnungen erscheint das Wissen der Minder­ heiten dabei als tiefer, da es historische Schichten erschließt, die den Russen unbekannt sind.204 Viele Kapitel des Romans (u. a. 2, 3, 4, 6, 9, 13) beginnen mit etymologischen Passagen oder weitschweifigen historischen Rückblicken, deren Gemeinsamkeit im Aufzeigen eines historischen Horizonts jenseits der russischen Beschreibungsmuster liegt. Die informationsgesättigte Argumentationsweise jener Passagen transportiert einen wissenschaftlichen Anspruch. Auffallend ist die Vielzahl von Referenzen an die außertextuelle Realität in Form von identifizierbaren Ereignissen, Personen und Räumen sowie der weitgehende Verzicht auf kontrafaktische Realitätsreferenzen. Diese faktenorientierte Form der Geschichtsdarstellung lässt sich deuten als literarische Kompensation eines defizitären geschichtswissenschaftlichen Diskurses, der viele Ereignisse und Perspektiven ignoriert. Dieser Darstellungsmodus wird unterstützt durch eine hohe Streubreite metafiktionaler Referenzen, die den Konstruktionscharakter hegemonialer Geschichtsdarstellungen bloßlegen und in Form direkter Ansprachen den Leser moralisch-didaktisch zu einer Reflexion seiner eigenen Einstellungen auffordern. Dazu passt ein diskursiv-expositorisch gehaltener Erzählstil, der in Form von Kommentaren und etymologisch-geschichtswissenschaftlichen Exkursen die erzählte Handlung unterbricht. Gleichzeitig gibt es aber auch ein Wissen um die begrenzte Reichweite des akademischen Zugangs zur Geschichte. „Что мы знаем о прошлых веках? Врут учебники, врут газеты, только миф – правда.“ 205 Im mythischen Wissen liegt die eigentliche Wahrheit. Die Wahrheit dieses Mythos ist an den Raum gebunden, er wirkt nur an bestimmten Orten: „[…] в воздухе Гугирда чувствуется нечто иное, миф парит в этом воздухе, почти зримый, осязаемый миф“.206 Der Mythos ist der Träger der Wahrheit und der Garant einer weil das persische ‚kir‘ dem Klang und dem Sinn nach dem kürzesten unanständigen russischen Fluchwort entspricht“ (Lipkin 1984, S. 41). 204 Dies betont auch Klavdia Smola in ihrer Analyse, wenn sie schreibt: „Während die Sowjetisierung der kaukasischen Völker im kommunistischen Nationalitätendiskurs ihre Historisierung bedeutete (sie werden durch den Eintritt in die Weltgeschichte als historische Völker erst ‚geboren‘), zeigt Lipkin auf, dass diese Völker über eine wesentliche ältere Geschichte als das russische oder noch mehr das sowjetische Volk verfügen“ (Smola 2016, S. 102). 205 Lipkin 1983, S. 28. „Was wissen wir über unsere vergangenen Jahre? Die Lehrbücher lügen, die Zeiten lügen, nur der Mythos ist Wahrheit“ (Lipkin 1984, S. 41). 206 Lipkin 1983, S. 20; „in der Luft von Gugird spürt man etwas anderes, der Mythos durchwebt diese Luft, ein fast sichtbarer, greifbarer Mythos“ (Lipkin 1984, S. 28).

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Die Peripherie der Metahistoriographie

zeitlichen Einheit zwischen den Vorfahren und den Nachkommen, zwischen dem Einzelnen und dem Kollektivkörper der Nation,207 zwischen Irdischem und Überirdischem.208 In der spätsowjetischen Historiographie repräsentiert die Berufung auf den Mythos eine Reaktion auf eine immer stärker als sinnentleert empfundene Wirklichkeit und ist ein Fluchtmechanismus aus den engen Grenzen des schriftstellerischen Alltags. War es in der nachrevolutionären Sowjetunion zunächst zu einer politischen 209 und philosophischen 210 Popularisierung mythologischen Denkens gekommen, die in der totalitaristischen Enthemmung psychomythologischer Energien in Literatur und Massenkultur kulminierte,211 so erfährt in der nach Stalins Tod betriebenen Zerstörung der Mythen über den Führer auch das mythische Denken als ideologische Ressource eine Krise. Das neue Ideal liegt nun in einer ‚aufrichtigen‘ Literatur in Bezug auf Geschichte und den sowje­ tischen Alltag. In den 1970er Jahren kommt es in der Sowjetunion dann unter 207 „Мы, и наши предки живем в одном времени, как живут Гомер, Данте, Пушкин, Толстой, поэзия есть одной из возможностей признания людей в любви к Богу на языке нации“ (Lipkin 1983, S. 169). „Wir und unsere Vorfahren leben in derselben Zeit wie Homer, Dante, Puschkin und Tolstoi. Dichtung ist eine der Möglichkeiten, seine Liebe zu Gott in der Sprache einer Nation zum Ausdruck zu bringen“ (Lipkin 1984, S. 246). 208 „Да, в сущности, счет один у камня, у реки, у человека, у облака, и мысль одна, у всех одна, только людям кажется, что у них особая, человеческая мысль, а особой мысли нет, и нет камня, реки нет, и птицы нет, и зверя нет, и человека нет, есть только видимость, есть только мысль в непрочном виде камня, зверя[,] птицы, человека, река, и это мысль есть ничто иное, как память о том, что было“ (Lipkin 1983, S. 18). „Im Grunde aber gibt es nur ein und dieselbe Rechnung für Stein und Fluß und Mensch und Wolke, nur ein Denken für alles, und nur den Menschen kommt es so vor, daß sie ein besonderes menschliches Denken haben, aber es gibt kein besonderes Denken, gibt keinen Stein und keinen Fluß und keinen Vogel und kein Tier und keinen Menschen, es gibt nur den Schein, es gibt nur das Denken in der vergänglichen Form des Steins, des Tieres, des Vogels, des Menschen, des Flusses, und dieses Denken ist nichts anderes als die Erinnerung an das, was war“ (Lipkin 1984, S. 25). 209 Hierauf hat Benno Ennker in seiner Analyse des Totenkults um Lenin verwiesen (Ennker 1996). 210 Hier ist vor allem das Werk Aleksej Losevs zu nennen. Im Kontext der Emigration ist Nikolaj Berdjaevs Werk Smysl istorii. Opyt filosofii čelovečeskoj sud’by (Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschicks, Berdjaev 1923) von Bedeutung, in welchem er Geschichte als Mythos bestimmt, der zwar Realitätsgehalt besitze, allerdings von der Realität der Empirie zu trennen sei. 211 Auf diesen Nexus von Mythos und Stalinismus hat vor allem Hans Günther verwiesen, u. a. in Günther 1993, s. a. Günther 1996.

Geschichte als Übersetzungsproblem159

Vermittlung von Literatur und Literaturkritik 212 zu einer Wiederentdeckung des Mythos. Waschik sieht diese Tendenz literarisch vor allem von den mittelasiatischen Literaturen getragen,213 eine Sichtweise, der auch Nina Kolesnikoff beipflichtet.214 Diese Flucht in den Mythos lässt sich dabei zweifach lesen: als Strategie kultureller Selbstbehauptung sowie als Antwort auf eine als defizitär empfundene historische Aufarbeitung, insbesondere der stalinistischen Periode. In Ajtmatovs Darstellung der Legende vom Mankurt in seinem Roman I dol’še veka dlitsja den’ werden beide Elemente verknüpft. Der Mythos des von seinen Feinden bis zum Gedächtnisverlust gefolterten Mankurt wird zur Allegorie des Schicksals der Völker Zentralasiens, deren eigene Tradition durch das sowjetische Projekt vernichtet wurde. Der Mythos nimmt bei Lipkin die Rolle einer Gegeninstanz ein. Er löst die Kategorien der historischen Betrachtung auf und repräsentiert eine Wahrheit höherer Ordnung, die quer zu den Beschreibungsmustern der funktional differenzierten Gesellschaft liegt. Das mythische Wissen erscheint hier dem Wissen der Geschichtswissenschaft überlegen: „Врут учебники, врут газеты, только миф – правда.“ 215 Die Entfaltung des mythischen Wissens im Roman unterläuft jedoch diese Hierarchisierung. Die Vermittlung mythischen Wissens wird von einem Repräsentanten der Wissenschaft, dem deutschstämmigen Orientalisten Genzel’t, übernommen. Er erzählt Alim von den Ursprungsmythen seines Volkes, seine Erzählungen bilden die Grundlage für die – die Kapiteleinteilung des Romans durchbrechenden – drei Erzählungen Alim Safarovs. In der ersten und dritten Erzählung beginnen die Aufzeichnungen mit mythischen und religiösen Episoden, die dann in durch Quellen belegte Perioden der Geschichte der Tavlaren übergehen. In Genzel’ts Denken herrscht eine Kopräsenz von mythischem und geschichtswissenschaftlichem Denken, die als gleichberechtigte Formen der Wirklichkeitswahrnehmung fungieren. Diese Komplementarität von Mythos und Geschichtswissenschaft stellt dabei einen Gegenentwurf zur stalinistischen Verschmelzung von Mythos und Geschichte dar. Dieses Erbe führt in Dekada nicht zu einem Mythosverdacht, sondern zum Versuch einer Rehabilitierung mythischen Denkens als Modus 212 Vgl. für die literaturkritischen und literaturtheoretischen Diskussionen um den Mythos in diesem Zeitraum die ausführliche Zusammenfassung bei Waschick 2000, v. a. S. 108 – 115; S. 299 – 321. 213 Vgl. Waschik 2000, S. 299. 214 Vgl. Kolesnikoff 1992, S. 63. 215 Lipkin 1983, S. 28. „Die Lehrbücher lügen, die Zeitungen lügen, nur der Mythos ist Wahrheit“ (Lipkin 1984, S. 41).

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Die Peripherie der Metahistoriographie

kultureller Selbstbehauptung. Der falsche Mythos muss durch einen wahren Mythos ersetzt werden. Damit gelangt der Roman am selben Punkt an, von dem auch Gor’kij ausgegangen war. Dessen vom Zentrum gesteuerte Mythologie wird lediglich invertiert, strukturell wie funktional besteht jedoch eine Analogie. Interessant ist, dass diese sowjetische Rehabilitation mythischen Denkens auch ein Pendant im Westen hat, wo „Aspekte des Defizitären moderner Wissenschaften und die Wiederentdeckung der ästhetischen Potentiale und Dimensionen des Mythos im Zeichen einer literaturwissenschaftlich-philosophischen und literarischen Romantik-Renaissance“ 216 in den Fokus rücken.217 Sie machen sich bemerkbar in einer Reevaluation des Verhältnisses von mythischem Denken und Geschichtswissenschaft, wie anhand eines kurzen Vergleichs von Roland Barthes und Hans Blumenberg deutlich wird. Barthes entwickelt in seinen Mythen des Alltags 218 die berühmt gewordene Definition, der Mythos verwandle Geschichte in Natur. Diese Zweiseitenform ist normativ codiert. Der Mythos ist das Negative, sinnentleerend und erzeugt eine deformierte Geschichtlichkeit (262 ff.). Die Aufgabe des (Geschichts-)Wissenschaftlers ist Entmythologisierung und Ideologiekritik, wie Barthes es selbst formuliert: „Ich wollte dem ideologischen Missbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt.“ 219 Während es Barthes um einen entlarvenden, die Banalität der Alltagsdinge wiederherstellenden Blick auf die Wirklichkeit geht, steht in Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos die gegenteilige Intention im Zentrum: die Rehabilitierung des Mythos als Teilaufgabe einer „Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit“.220 Blumenberg teilt Barthes’ dualistische Konzeption von Wirklichkeit und Sinnstiftung dieser Wirklichkeit, weil eine „Antinomie zwischen Geschichtsbedürfnis und Geschichtserfahrung [herrscht], derer wir nicht Herr werden k­ önnen“ (113). Während aus der Vergangenheit nichts gelernt werden 216 Gottwald 2007, S. 33. 217 Laut Karl-Heinz Bohrer herrschte in Deutschland ein „Mythos-Verbot nach 1945“, das sich in der negativen Wahrnehmung des Mythos in Cassirers Der Mythus des Staates oder in Adornos und Horkheimers Deutung des Nationalsozialismus als Ausdruck eines Rückfalls in Mythologie artikuliert. Sie findet nach 1970 ein Ende, als erneut auf die Gegenwärtigkeit des Mythos (Kołakowski 1973) hingewiesen wird, die Arbeit am Mythos (Blumenberg 1984) wiederaufgenommen und die konstitutive Verknüpfung von Mythos und Moderne (Bohrer 1983) entdeckt wird. 218 Barthes 2010. 219 Zit. nach Samoyault 2015, S. 395. 220 Blumenberg 1984, S. 13.

Geschichte als Übersetzungsproblem161

könne außer der „Einsicht in [deren] Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit“ (113), strebe das geschichtswissenschaftliche Denken nach der Sinngebung des Vergangenen. Die Strukturen, die die Geschichtswissenschaft dabei auspräge, seien denen des Mythos aber schlussendlich strukturell verwandt: Das Geschichtsbedürfnis tendiert auf Markierungen von der Deutlichkeit des mythischen Typs, die Bestimmungen darüber erlauben, wie sich das individuelle Subjekt mit seiner endlichen Zeit zu den es weit übergreifenden Großraumstrukturen der Geschichtszeit ins Verhältnis setzen darf (113).

Barthes ahistorische semiotische Auffassung des Mythos ignoriert diese Präsenz der Strukturen mythischen Denkens in unterschiedlichen Formen der Geschichtswissenschaft.221 Während sich bei Barthes Mythos und Geschichtswissenschaft dichotom gegenüberstehen, sind bei Blumenberg mythische und geschichtswissenschaftliche Denkformen strukturell verwandt. Ersterer beobachtet die Allgegenwart mythischer Strukturen in seiner Gegenwart, wo Letzterer die „Einebnung des Bedeutsamkeitsprofils der Wirklichkeit im Rahmen eines mechanischen Weltbilds“ als „Nivellierung der kulturellen Erlebnispotentiale“ (164) und damit als Schwinden des Mythischen bewertet. Trotz dieser Entwicklung wird der Mythos allerdings nie ganz verschwinden, da die Erzählung jener Geschichte der Aufklärung (vom Mythos zum Logos) selbst immer wieder in mythisches Denken zurückfällt. Den Mythos zu Ende bringen, das soll einmal die Arbeit des Logos gewesen sein. Diesem Selbstbewußtsein der Philosophie widerspricht, daß sich die Arbeit an der Erledigung des Mythos immer wieder selbst als Metapher des Mythos vollzieht.222

Bei Blumenberg läuft die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichtsschreibung ins Leere, weil der Mythos als nichtmarkierte Seite der Unterscheidung in der Form eines Reentry im Unterschiedenen (= der Geschichtswissenschaft) erneut auftaucht. Die Differenz zwischen der sowjetischen Renaissance des Mythos bei Autoren wie Lipkin oder Ajtmatov und der parallel sich ereignenden Rückkehr des Mythos im Westen lässt sich mit einer Unterscheidung Odo Marquards als die zwischen Mono- und Polymythie bezeichnen. Das monomythische Festhalten an 221 Vgl. Gottwald 2007, S. 37. 222 Blumenberg 1984, S. 681; eine Analogie zu eben jenem Prozess des Rückfalls in mythisches Denken stellt Lyotards berühmtes Diktum vom ‚Ende der Großen Erzählungen‘ in der Postmoderne dar. Als große Erzählung vom Ende der großen Erzählungen wird sie Opfer jener Kategorien, die sie zu überwinden strebt.

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Die Peripherie der Metahistoriographie

einem Mythos führe zu einem „Zwang[] zur restlosen Identität mit dieser Alleingeschichte“, die in „narrativer Atrophie“ und in einer „Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nicht-Identität“ resultiere.223 Dem gegenüber steht Marquards Plädoyer für aufgeklärte Polymythie, das den Mythos als Instanz der Kompensation angesichts der Entzauberung der Welt anerkennt, aber auf jeden Alleinvertretungs- und (letzten) Wahrheitsanspruch verzichtet. Das Mythosverständnis spätsowjetischer Repräsentanten der multinationalen Sowjetliteratur ist monomythisch und lässt auch in Dekada nur in Ansätzen ein polymythisches Verständnis erkennen, dessen Fehlen zu einer politischen Hypothek in den neu zu schreibenden Nationalgeschichten nach 1991 werden wird. Im Gegensatz zu vielen dichotomisch angelegten Werken, die die Mehrheit vieler spät- und postsowjetischer Werken sowjetischer Minderheiten bilden, verzichtet Dekada allerdings auf die eindeutige Privilegierung einer Sichtweise. Das Werk ist nicht antisowjetisch oder antirussisch. Obwohl die Verantwortung für historisches Unrecht klar verteilt liegt, führt dies nicht zu einem politischen Plädoyer für die Abspaltung von Russland. Stattdessen geht es um die Anerkennung von Differenz innerhalb des sowjetischen Gefüges, die von beiden Seiten eingefordert wird.

223 Marquard 1981, S. 98.

3.  Verortungen I 3.1  Die Wiederkehr des Historischen im Spätsozialismus Ende der 1960er Jahre erlebt der historische Roman in der Sowjetunion eine Renaissance. Die Zahl der Neuerscheinungen und Wiederauflagen erreicht ein Allzeithoch, und das Genre erlebt eine Blütezeit, die bis einige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion anhält. Bereits die vorsowjetische Entwicklung kannte solche Hochzeiten, in denen quantitativ und qualitativ neue Maßstäbe gesetzt wurden, z. B. in den 1830er Jahren und zwischen 1860 und 1880.1 Solche Konjunkturen lassen sich auch für den sowjetischen historischen Roman ausmachen, für den sich eine erste Hochphase Ende der 1920er Jahre (1928 – 1931)2 beobachten lässt, der wenig später eine zweite gegen Ende der 1930er Jahre (1939 – 1941)3 folgt. Sie sind ein intermediales Phänomen, das sich insbesondere auch im Film 4 beobachten lässt. Leon Twarog hat bereits Anfang der 1970er Jahre versucht, diese Entwicklungen auch statistisch abzubilden. Obwohl die vorliegenden Daten von einer umstrittenen und in dieser Arbeit nicht angelegten engen Definition 5 des historischen Romans ausgehen, so liefern sie doch eine wertvolle Erstorientierung. Auf den ersten Blick sichtbar ist, wie volatil sich der historische Roman während der Herrschaftszeit Stalins entwickelt, in der sich Hoch- und Tiefphasen in kurzen Zeiträumen abwechseln. Erst mit dem Tod Stalins stabilisiert sich die Lage. 1 Vgl. Ungurianu 2007, S. 5. 2 1930 erscheint der erste Teil des erfolgreichsten sowjetischen historischen Romans, Aleksej Tolstojs Petr Pervyj (Peter der Große, 1930 – 1934). 3 Auf diese Boomphasen folgt jeweils ein scharfer Einbruch, was sich u. a. durch die sprunghafte Geschichtspolitik des Stalinismus und durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs erklären lässt. 4 Man denke an die Historienfilme der 1930er Jahre über Aleksandr Nevskij, Aleksandr Suvorov, Ivan Groznyj und andere erneut kanonisierte Größen der russischen Geschichte. 5 Der Begriff des historischen Romans wird in diesem Aufsatz nach folgenden drei Kriterien definiert: sowjetischer Schriftsteller, der sich mit historischen Ereignissen oder Personen beschäftigt; der Roman muss auf Basis von Dokumenten geschrieben worden sein, wobei der Autor kein Zeuge oder Teilnehmer der Ereignisse gewesen sein darf; mindestens 50 Jahre müssen zwischen dem historischen Ereignis und dem Publikationsdatum des Romans liegen (vgl. S. 85).

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Abbildung 1:  Publikationszahlen historischer Romane in der Sowjetunion 1925 – 19526

Die Schwankungen nehmen ab, und die Publikationszahlen gewinnen an Konstanz. Minimum und Maximum unterscheiden sich für die Zeit zwischen 1953 und 1970 nur noch um den Faktor 2,42, nicht mehr – wie im vorherigen Zeitraum noch – um den Faktor 4,125. Auch der Mittelwert der Anzahl der Neupublikationen erhöht sich deutlich von 17,3 auf 28,6, was eine Steigerung von ca. 60 Prozent bedeutet. Der Graph macht also deutlich, dass es auch quantitative Gründe gibt, um für den Poststalinismus von einem Einschnitt in der Entwicklung des historischen Romans zu sprechen. Eine nicht unerhebliche Rolle scheint hierfür die wachsende Konsumorientierung der sowjetischen Gesellschaft zu spielen, die sich bei der Kundenorientierung und im Kaufverhalten historischer Romane bemerkbar macht. Die gestiegene Nachfrage erweitert das Angebot. Insbesondere patriotische Geschichtsromane über den Zweiten Weltkrieg wie Aleksandr Čakovskijs Blokada (Die Blockade, 1968 – 1975) oder Jurij Bondarevs Gorjačij Sneg (Heißer Schnee, 1969), die in der Zeitschrift Roman-Gazeta erscheinen, erleben eine bis dato ungekannte Auflage in Millionenhöhe.7 Diese Entwicklung kulminiert einige Jahre später in der immensen Popularität Valentin Pikul’s, die Zirkulationsrate seiner Romane schlägt alle Rekorde.8 Die Popularität historischen Erzählens erstreckt sich allerdings nicht 6 Graphik erstellt nach: Twarog 1971, S. 87. 7 Vgl. Dubin 2015, S. 97. 8 Vgl. für die beispiellose Popularität Pikul’s Kozlov 2000, S. 591.

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Anzahl der Neuerscheinungen

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Erscheinungsjahr Neuerscheinungen

Abbildung 2:  Publikationszahlen historischer Romane in der Sowjetunion 1953 – 19709

nur auf russische Autoren, sondern auch auf ausländische Klassiker wie ­Alexandre Dumas und Maurice Druon,9die zu den größten Favoriten des Publikums gehören und deren Printausgaben zu einer Parallelwährung auf dem inoffiziellen Buchmarkt avancieren.10 Selbstverständlich hatte es auch zuvor schon historische Romane gegeben, die in der Gunst des sowjetischen Publikums gestanden hatten. Während sich diese Popularität aber eher auf einzelne Autoren beschränkte (vor allem Aleksej Tolstojs Petr Pervyj ), gewinnt sie nun eine breitere Basis, die sich auf das ganze Genre erstreckt.11 Dass und wie von oben auf diese wandelnde Orientierung reagiert wird, lässt sich gut an der bereits erwähnten biographischen Serie Plamennye revoljucionery (Die leidenschaftlichen Revolutionäre) nachvollziehen.12 Im Wissen um die begrenzte Reichweite propagandistischer Literatur entschließen sich die Verantwortlichen 1964, mit leserfreundlicheren Formen der politischen Erziehung zu experimentieren und Publikumsorientierung und Propaganda zu verknüpfen.

9 Graphik erstellt nach: Twarog 1971, S. 87. 10 Lovell 2005, S. 27. 11 Folgt man Werner Plumpes Auffassung, wonach es die Funktion des Subsystems Kunst sei zu unterhalten (vgl. Plumpe 1995, S. 55 ff.), so ließe sich im sukzessiven Eingeständnis dieser Funktion durch die sowjetischen Behörden ein Indikator für die Ausdifferenzierung eines Subsystems Kunst erkennen. 12 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Jones 2015.

166

Verortungen I

Nach Misserfolgen durch ein anfänglich zu striktes Insistieren auf ideologischen Vorgaben wird die Zensur um das Jahr 1970 liberalisiert. Um die zentralen Ziele – Effizienz und Lesbarkeit politischer Literatur (53) – zu erreichen, werden innovative Erzählverfahren toleriert, das Vorhaben neigt sich somit von der politischen auf die literarische Seite der Waagschale. Publikumsorientierung und Verkaufserfolg werden zu zentralen Kriterien.

Der Wandel der Legitimationsdiskurse und das Ende der Zukunft Als zentraler Grund für die spätsozialistische Konjunktur des Historischen erscheinen allerdings politische Neuorientierungen. 1965 hält Leonid Brežnev anlässlich des 20. Jahrestages des Siegs über Nazideutschland eine vielbeachtete Rede, die gemeinhin – verbunden mit der Aufnahme des 9. Mai in den offiziellen Feiertagskalender im selben Jahr – als Startschuss für die Mythisierung des Krieges gilt. Auf sie folgt eine bis heute andauernde Propagandaoffensive staatlicher Stellen, die ihren Niederschlag auch in literarischen Werken findet.13 1967 jährt sich die Oktoberrevolution zum 50. Mal. Dieses Großereignis wird in der Sowjetunion, in den Staaten des Warschauer Pakts, aber auch in Westeuropa zum Anlass genommen, die Geschichte des ersten kommunistischen Staates zu historisieren. Dieses Schauspiel wiederholt sich bei den Jubiläen 1970 (100. Geburtstag Lenins) und 1972 (50. Jahrestag der Gründung der UdSSR). Jubiläen spielten in der sowjetischen Kultur- und Wissenschaftspolitik seit jeher eine herausgehobene Rolle 14 und werden im Laufe der 1960er Jahre zu dem „Instrument der Unterstützung des ideologischen und politischen Regimes“,15 das in einem ‚­kanonisierten 13 Vgl. hierfür Dubin 2015. Die sich ändernde Betrachtung des Krieges in der Literatur wird besonders deutlich, wenn man als Kontrastfolie die sogenannte Leutnantsprosa der 1950er und frühen 1960er Jahre heranzieht (vgl. Dubin 2015, S. 100). Einen exzellenten Überblick über die literaturgeschichtliche Bedeutung des Jahres 1965 mit einer besonderen Würdigung der Kontroversen um die Veröffentlichung des historischen Romans Ijul’ 1941 (Juli 1941) von Grigorij Baklanov gibt Jones 2013, S. 218 – 225. 14 Bereits 1927 kommt es anlässlich des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution zur Schaffung erster künstlerischer Gedächtnisorte, man denke nur an Sergej Ėjzenštejns Film Oktjabr’. 15 Bei Alekseeva (2003, S. 210) heißt es weiter: „В 1960 – 1980-у гг. юбилеи приобрели совершенно иной характер. Они стали инструментом поддержания идеологического и политического режима, его стабильности, а точнее создания видимости прочности устоев советского строя, которые уже начали разрушаться.“ „In den 1960 – 1980er Jahren erhielten die Jubiläen einen ganz neuen Charakter. Sie wurden

Die Wiederkehr des Historischen im Spätsozialismus167

Triumphalismus‘16 seine Verwirklichung findet 17 und zum wichtigsten Ausdruck einer Legitimierung durch Erfolge in der Vergangenheit wird.18 Die Fixierung auf die Erinnerung des Erreichten wird im nun ausgerufenen Stadium des ‚entwickelten Sozialismus‘ zur Matrix, die das Schaffen ganzer Disziplinen bestimmt, insbesondere der Geschichtswissenschaft. Damit wird gleichzeitig auch ein neues Terrain für die politische Auseinandersetzung bereitet, auf dem sich nun zunehmend auch Kritiker und Gegenkräfte positionieren. Sie beharren darauf, dass die Vergangenheit sich nicht so darstelle, wie öffentlich suggeriert werde. Bereits im Tauwetter war die Neubetrachtung bestimmter historischer Ereignisse möglich geworden, fand allerdings in einer allzu offenen und radikalen Kritik der Geschichte, insbesondere der stalinistischen Periode, auch ihre Grenzen. Dies gilt für Werke wie Vasilij Grossmans Žizn’ i sud’ba (Leben und Schicksal, beendet 1959) oder Anatolij Rybakovs Deti Arbata (Die Kinder vom Arbat, begonnen 1966), die in dieser Zeit entstehen, aber nicht erscheinen dürfen und erst in der Perestrojka einem breiten Publikum bekannt werden. Hier liegt die Geburtsstunde der dissidenten Historiographie, die sich nun auf breiter Basis formiert.19 Verbunden mit der ansteigenden Repression gegenüber Nonkonformisten nach dem Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968 kommt es in breiten intellektuellen Kreisen zum endgültigen Verlust des utopischen Horizonts, dessen Restitution ein wesentliches Ziel der Regierungspolitik Chruščëvs gewesen war. Diese Desillusionierung setzt laut Denis Kozlov einen Historical Turn in Gang, der sich im Schaffen einzelner Schriftsteller findet sowie in einer gesteigerten Beschäftigung mit historischen Themen im Allgemeinen.20

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zum Instrument der Unterstützung eines ideologischen und politischen Regimes, trugen zu seiner Stabilität bei, genauer gesagt zur Schaffung des Anscheins der Stabilität der Grundpfeiler des sowjetischen Baus, deren Verfall schon begonnen hatte.“ Beyrau 1991, S. 133. Vgl. hierfür auch Bonwetsch 2002. Ebenfalls symbolisieren die ab diesen Jahren jährlich stattfindenden Feierlichkeiten ein zyklisches Zeitregime, das laut Kolář bestimmend für die „poststalinistische“ Zeit ist (Kolář 2016, hier v. a. S. 268 ff.). Bei Kozlov heißt es: „In the logic of this gradual public turn to the past, World War II occupied a crucial place. On the one hand, the war further stimulated a revival of historical iconography; on the other, it provoked common questions about the path that the country was treading. The officially sanctioned focus on historical imagery offered a legitimate, fertile ground for post-war social contemplation and collective doubt.“ (Kozlov 2000, S. 585). Vgl. zu dieser Martin 2019. Kozlov 2001.

168

Verortungen I

Laut Boris Dubin ist die von oben betriebene Reevaluation des Historischen auf einen größeren Paradigmenwechsel zurückzuführen, der Mitte der 1960er Jahre beginnt: Neu war unter Brežnev […] die Art der Legitimierung […]. Die neue politische und soziale Ordnung wurde nun nicht mehr mit Verweis auf die Zukunft gerechtfertigt, wie dies in den Utopien der Revolutionsjahre unter Lenin, in den Jahren des Aufbaus des Sozialismus in einem Land unter Stalin und der Ankündigung der kommunistischen Endgesellschaft in den Plänen Chruščevs der Fall war. Nun sollte die heroische Vergangenheit die Gegenwart legitimieren, die nicht mehr nur als ein kurzer Augenblick auf dem Weg in die Zukunft galt, sondern als etwas, das hier und jetzt bereits existiert und auf Dauer, ja für die Ewigkeit angelegt ist.21

Dubins Diagnose wird plausibel, wenn man sie mit der utopischen Kultur der 1950er und frühen 1960er Jahre kontrastiert. 1961 wird im neu verabschiedeten Programm der KPdSU verkündet: „Die gegenwärtige Generation der Sowjetbürger wird im Kommunismus leben.“ 22 In dieser Losung kulminierte die utopische Politik der Chruščëv-Ära, die durch die Eroberung des Kosmos,23 die Wiederbeschwörung des Aufbaugeistes des Ersten Fünfjahresplans und die Errichtung neuer Wohnwelten konkret erfahr- und lebbar wurde. Das Versprechen, dass die gegenwärtige Generation den Kommunismus erleben werde, mobilisierte die Vorstellungswelt der Sowjetbürger. Obwohl oder gerade weil das Programm keine konkreten Pläne zur Verwirklichung dieser Utopie enthielt und bei der Bestimmung dessen, was unter Kommunismus zu verstehen sei, vage blieb, enthemmte es die Vorstellungskraft. Mit Niklas Luhmann ließe sich sagen: „Der semantische Leerraum konnte historisch als Verweisung auf Zukunft interpretiert werden.“ 24 Dies lag daran, dass das Parteiprogramm eher ein künstlerischer als ein politischer Text war und auf die Aktivierung der Phantasie der Rezipienten abstellte, wie Aleksandr Genis und Petr Vajl’ behaupten, die diese Diskurse untersucht haben: Но в том-то и дело, что по сути ее текст предназначен не для буквального восприятия, а именно для трактовки, пересказа про себя и вслух, переосмысления, для полета фантазии.25 21 Dubin 2015, S. 126. 22 Pravda vom 31. 7. 1961: „Нынешнее поколение советских людей будет жить при коммунизме!“ 23 Zum Stellenwert des Sputnikflugs für das utopische Zeitregime der Ära vgl. Sabrow 2009. 24 Luhmann 1997, S. 1083. 25 Genis/Vajl’ 2013, S. 30; „Aber es geht darum, dass dieser Text nicht für eine buchstabengetreue Auslegung, sondern für die Interpretation, für eine stille und laute Nacherzählung, für ein Umdenken, für den Flug der Fantasie geschrieben wurde.“

Die Wiederkehr des Historischen im Spätsozialismus169

Der utopische Diskurs des Tauwetters brachte sogar eine eigene Generation hervor: die Šestidesjatniki, „young men, always urban, at once lyrical and ironic, altruistic and critical who cherished lofty ideals but shunned lofty rhetoric“.26 Pavel Kolář hat darauf hingewiesen, dass der Zeitdiskurs der Tauwetter-Zeit trotz seiner Zukunftsrhetorik ein hybrider gewesen sei.27 Anhand einer Analyse der Reden Chruščëvs weist er nach, dass deren „Semantik stark von Motiven wie ‚Wiederkehr‘, ‚Wiederholung‘ und ‚Rückkehr‘“ (261) geprägt gewesen sei. Die Zukunft wird gedacht als Wiederkehr der Vergangenheit, vor allem der im Rückblick verklärten Zeit der 1920er Jahre, die es wieder zu aktualisieren gelte. Damit wird die Idee einer linear verlaufenden Revolutionszeit durchbrochen. Für die nachrevolutionäre und frühstalinistische Zeitkonzeption war hingegen die Vorstellung leitend gewesen, dass die Vergangenheit als „Erfahrungs- und Orientierungsraum für immer ausgedient“ habe.28 Dieser Vorstellung ist auch die Politik Chruščëvs verpflichtet, die allerdings zunehmend ein Zeitproblem bekommt ob der Frage, wie denn mit der eigenen sowjetischen Vergangenheit und hier insbesondere mit dem Stalinismus zu verfahren sei: „So stellte sich letztlich doch heraus, dass selbst die beschleunigte Zeit Zukunft angesammelt hatte, die nun im Stadium abgebremster Zeit zum Vorschein trat. Dieser Umschwung lässt sich auf etwa die Mitte der 1960er Jahre datieren“ (104). Nun aktualisiert sich die vorher latente Umwertung der Zeitvektoren. Die Programme Chruščëvs erweisen sich nicht als das erhoffte Leuchtfeuer, sondern als Nebelkerzen. Besonders deutlich wird dies beim groß angekündigten Neulandprogramm, das in einer ökologischen Katastrophe endet; dies gilt aber auch für andere Großprojekte, die ebenfalls nicht den Eindruck verhindern können, dass die propagandistisch begleiteten Reform- und Umbauprogramme nur eine weitere Etappe der mittlerweile schon beträchtlich angewachsenen Zahl an Fünfjahresplänen darstellen. Dass durch politische Planung der Sprung in den Kommunismus glücken könnte, wird zunehmend fraglich. Mit dem Misstrauen gegenüber der Planung 29 wächst auch das Misstrauen gegenüber der Gestaltbarkeit von Zukunft.30 In dem Moment, in dem die Risiken der Modernisierung, seien sie ökologischer, kultureller oder sozialstruktureller Natur, sichtbar werden und thematisiert werden, schwindet das Vertrauen in eine helle Zukunft. Die Šestidesjatniki werden abgelöst von einer sowjetischen 26 27 28 29 30

Gilburd/Kozlov 2013, S. 55. Vgl. Kolář 2016, S. 266. Plaggenborg 2006, S. 87. Vgl. hierfür Ellmann 2014, S. 16 ff. Vgl. Schulze-Wessel 2010, S. 1.

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Verortungen I

Variante der ‚skeptischen Generation‘.31 Ihre überwiegend in den 1920er Jahren geborenen Schriftsteller hatten sich in den 1950er und 1960er Jahren noch enthusiastisch der Umgestaltung verschrieben und werden durch die Repressionen und den Prager Frühling desillusioniert. Diese Desillusionierung und der damit verbundene biographische und ideologische Sinnverlust zeigen sich u. a. in den Romanen von Jurij Trifonov, Daniil Granin, Vladimir Tendrjakov, Čingiz Ajtmatov und Anatolij Gladilin. Die neue Devise lautet nun wie im Westen: Zukunft braucht Herkunft.32 In der Sowjetunion äußert sich dies z. B. in zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich im Zuge des Historical Turn formieren. Die bekannteste ist die All-Russische Gesellschaft zur Erhaltung historischer und kultureller Monumente (­ Vserossijskoe obščestvo ochrany pamjatnikov istorii i kul’tury), die 1965 gegründet wird und 1977 bereits ca. zwölf Millionen Mitglieder zählt.33 [VOOPIK] created a public forum for discussing a whole range of policies and practices related to the preservation of historic monuments, which led to the legitimation of a variety of Russian nationalist issues that could not otherwise be discussed.34

Versucht wurde, Organisationen wie die VOOPIK, aber auch kleinere Gruppierungen wie Rodina (Heimat) oder Pamjat’ (Gedenken),35 durch Kooptation in staatsnahe Strukturen zu überführen. Dies gelang zwar meist, verhinderte aber nicht, dass Konflikte entstanden, sei es über ökologische Fragen oder über Fragen der Stadtentwicklung, die besonders in Moskau und Leningrad kontrovers diskutiert wurden.36 Catriona Kelly hat sich in einer Studie mit der Denkmalschutzbewegung für den Erhalt von Kirchen im Leningrad der spätsowjetischen Zeit beschäftigt und sieht einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung jener Bauwerke von konterrevolutionären Monumenten zum nationalen Erbe.37 Eine wesentliche Rolle nimmt in den Debatten um den Erhalt jener Bauwerke die VOOPIK ein, die sie mit „broader shifts in attitude to aesthetics and national 31 Schelsky 1957. 32 Marquard 2000. 33 Vgl. Fein 2000, vgl. S. 117. Die Initiative zur Gründung dieser Bewegung war durch den von Intellektuellen initiierten Aufruf Beregite svjatynju našu! (Passt auf unser Heiligtum auf !, 1965) gegeben worden. 34 Brudny 1998, S. 70. 35 Mit einem von Corey Ross in die Debatte eingebrachten Begriff könnte man solche Initiativen auch als Zeichen eines sowjetischen Graswurzelsozialismus bezeichnen, vgl. Ross 2000. 36 Weitere Informationen mit einigen illustrierenden Beispielen sind zu finden bei Dunlop 1983, v. a. das Kapitel The Voluntary Societies, S. 63 – 92. 37 Kelly 2013.

Die Wiederkehr des Historischen im Spätsozialismus171

identity“ (151) in Verbindung bringt. Die wachsende Bedeutung des Denkmalschutzes oder die auch in der Sowjetunion Bedeutung gewinnende KulturerbeBewegung 38 legen als außerliterarische Beispiele Zeugnis über die wachsende Bedeutung des historischen Erbes in der Sowjetunion ab.

Kontinentalverschiebungen Es lohnt sich, diese Entwicklung zu globalisieren. In ihrem Überblickswerk zur Weltgeschichte der Historiographie setzen Iggers, Wand und Mukherjee das Jahr 1968 als geschichtskulturellen Wendepunkt, der zu einem Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft führe.39 Beeinflusst vom Cultural und Linguistic Turn heißen die neuen Leitbegriffe nun Mikrogeschichte, Oral History, Feministische Geschichte und Postkoloniale Geschichtswissenschaft. Wie bereits erwähnt, stehen viele dieser neuen Paradigmen in einem Konfliktverhältnis zur traditionellen Geschichtswissenschaft, grenzen sich von dieser ab oder tragen durch Neuperspektivierungen dazu bei, dass der Historical Turn metahistoriographische Züge gewinnt. Trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen herrscht in Ost und West – lässt man geringfügige temporale Divergenzen außer Acht – ein ähnlicher Zeitgeist. Auf Zukunft ausgerichtetes Denken verliert an Attraktivität, und der Bezug auf die Vergangenheit erlebt kulturell wie politisch eine Renaissance. Damalige Zeitdeutungen 40 konstatieren ein „Unbehagen an der Wandlungsbeschleunigung“,41 das in jenen Jahren um sich greift. Das Scheitern (wirtschafts-) politischer Steuerungsphantasien, ein diffus empfundener Wertewandel sowie die immer sichtbar werdenden Grenzen und Kosten des industriellen Wachstums erhöhen die Nachfrage nach Kompensationsangeboten. ­Reinhart Koselleck deutet in seinem berühmt gewordenen Aufsatzband Vergangene Zukunft (1979) seine Gegenwart als Zeitraum, in dem

38 Geering 2019. 39 Vgl. Iggers/Wang/Mukherjee 2013, S. 231. 40 Für zeitgenössische Deutungen wäre im deutschsprachigen Kontext vor allem auf das Schaffen Hermann Lübbes hinzuweisen (u. a. Lübbe 1983), dessen Diagnosen an anderen Stellen der Arbeit noch vergleichend herangezogen werden. Vgl. für den angelsächsischen Kontext: Lukacs 1968; für neuere Analysen zur Epochenschwelle der späten 1960er Jahre vgl. v. a. das breitrezipierte Buch von DoeringManteuffel/­R aphael 2008; Assmann 2013; etwas älter, aber immer noch aktuell und für die Debatte grundlegend, Hölscher 1999 (zu der Periode der 60er Jahre vgl. v. a. S. 219 – 224). 41 Marquard 2000, S. 69.

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Verortungen I

eine alte Verhältnisbestimmung wieder in ihr Recht tritt: je größer die Erfahrung, desto vorsichtiger, aber auch desto offener die Erwartung. Dann wäre, jenseits aller Emphase, das Ende der ‚Neuzeit‘ im Sinne des optimierenden Fortschritts erreicht.42

Gemeint ist hier das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, das sich seit der Neuzeit „zunehmend vergrößert“, da „sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfern[en]“ (359). Die Orientierung hin auf das Neue und Unbekannte wird bestimmend und zeitigt die Idee des Fortschritts. Diese Orientierung auf Zukunft und Fortschritt hin ändert sich nun in der Spätmoderne. Koselleck kritisiert sie im Hinblick auf deren „Einseitigkeit von progressiven Interpretamenten“ (375) und betont die Notwendigkeit der kompensatorischen Historisierung des Erlebten. Aleida Assmann erklärt im Rückblick die 1960er Jahre zum Wendepunkt eines positiv gerichteten Zukunftsdenkens. Für sie gerät in jenen Jahren nicht nur eine bestimmte Politik, sondern das gesamte Zeitregime der Moderne in eine Krise.43 Die Moderne habe sich erschöpft und werde nicht länger als „Gegenstand der Erwartung und Hoffnung“ wahrgenommen, sondern als „Gegenstand der Sorge“ (13). Mit dem Verblassen dieser Erzählung ändere sich die Zeitordnung der Gesellschaft: Neben dem Verblassen der Zukunft erleben wir heute aber noch eine andere Anomalie der uns vertrauten Zeitordnung, und das ist eine in dieser Form ungekannte Wiederkehr der Vergangenheit. […] Wir können hier gar von einer ‚Kontinentalverschiebung‘ in unserer Zeitordnung sprechen. Während die Zukunft an Strahlkraft verloren hat, macht sich die Vergangenheit immer stärker in unserem Bewusstsein breit.44

Diese ‚Kontinentalverschiebung‘ äußere sich in einer „Aufwertung von Vergangen­ heit und Erinnerung“,45 die in den Kategorien Kultur, Identität und Gedächtnis diskursiv wirkmächtig werde. Ein ähnlicher Befund wie bei Assmann findet sich in Fredric Jamesons Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism (1991). Grundlegend für Jamesons Zeitdiagnose ist eine fundamentale Krise der Historizität, die eine

42 Koselleck 1979, S. 374. 43 Dieses Zeitregime umfasst für sie fünf Aspekte: das Brechen der Zeit, die Fiktion des Anfangs, kreative Zerstörung, die Erfindung des Historischen und Beschleunigung, vgl. Assmann 2013, S. 131 – 207. 44 Assmann 2013, S. 13; ganz ähnlich argumentiert Andreas Huyssen: „One of the most surprising cultural and political phenomena of recent years has been the emergence of memory as a key concern in Western societies, a turning toward the past that stands in stark contrast to the privileging of the future so characteristic of earlier decades of twentieth-century modernity“ (Huyssen 2000, S. 21). 45 Assmann 2013, S. 19.

Von Lukács zu Lotman173

Rückkehr zur Frage zeitlicher Organisation im Allgemeinen diktiere.46 Die etablierte Historiographie und das mit ihr verbundene Zeitregime sind für Jameson in eine Krise geraten, die sich am deutlichsten in einer nostalgischen Tendenz äußere. Ausgehend von einer Analyse des Romans Time out of Joint (1959) von Philip K. Dick ermittelt er einen historizistischen Zusammenbruch, nach dem die Zukunft in gar keiner Form mehr vorgestellt werden könne (286). Nostalgie ist dabei für den Marxisten Jameson kein begrüßenswerter Kompensationsmechanismus, sondern Ausdruck eines kulturellen Zusammenbruchs. Gerade bei Jameson wird dabei deutlich, wie der Verlust von Zukunftsvorstellung mit einem Fragwürdigwerden der Vergangenheit korrespondiert. Läutet man den Abschied von der Idee einer linear verlaufenden, Fortschritt generierenden Zeit ein, wird die Zukunft, aber mit ihr schließlich auch die Vergangenheit unsicher. Was bislang als notwendig galt, weil es nach vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten ablief, wird kontingent.

3.2  Von Lukács zu Lotman – Aspekte einer literaturtheoretischen Verortung spätsowjetischer Metahistoriographie Die globale Renaissance des Historischen seit den 1960er Jahren ist mit einem neuen Blick auf den historischen Roman verbunden. Die Neubetrachtung motiviert eine kritische Revision der Kanonik, die nicht nur einen anderen historischen Roman 47 ans Licht bringt, sondern auch einen Diskussionsprozess in Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft in Gang setzt, der zur Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Gattung beiträgt. Diese Konstellation ist auch im sowjetischen Kontext relevant und erfolgt in Abgrenzung zum stalinistischen historischen Roman, der sich in den 1930er Jahren im Rahmen der Konstitution des Sozialistischen Realismus herausbildet.48 Eine theoretische Schlüsselstellung nimmt Georg Lukács ein, der als Literaturkritiker und -wissenschaftler mit seinen Essays und Interventionen die Debatten um Realismus, Naturalismus und Formalismus mitprägt und schließlich mit seiner Abhandlung Der historische Roman 49 das Referenzwerk für die Geschichte der Gattung vorlegt. Dessen Grundsätze der Weltanschauungs- und 46 Jameson 1991, S. 25. 47 Geppert 1976. 48 Vgl. für die zentrale Bedeutung von Genrepoetiken für die Genese des Sozialistischen Realismus Clark 2011, insbes. S. 307 – 344; Clark/Tihanov 2011. 49 Hier zit. nach Lukács 1965a.

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Verortungen I

­ iderspiegelungsästhetik bilden die Kontrastfolie der Renaissance des historiW schen Romans ab den späten 1960er Jahren. Bereits Lukács Theorie des Romans (1916) formuliert – unter Verweis auf ­Tolstoj und Dostoevskij – die Hoffnung auf die literarische Darstellung einer „deutlich differenzierte[n], konkrete[n] und existente[n] Welt […], die, wenn sie sich zur Totalität ausbreiten könnte, den Kategorien des Romans völlig unzugänglich wäre und einer neuen Form der Gestaltung bedürfte: der erneuerten Form der Epopöe“.50 Die geeignete Stimmung für eine Wiederkehr epischer Großformen bietet sich einige Jahre später in der Sowjetunion der 1930er Jahre, und Lukács trägt mit seinen theoretischen Anstrengungen dazu bei, dass die Roman-Epopöe „den obersten Rang […] in der Gattungshierarchie des Sozialistischen Realismus“ einnimmt.51 1937 beendet Lukács, nach einigen Vorarbeiten, seine Geschichte des historischen Romans, die vor allem eine Verfallsgeschichte der Gattung seit ihren Anfängen bei Walter Scott ist.52 Lukács’ Gattungsgeschichte bestimmt das Verhältnis des literarischen Textes gegenüber der geschilderten Wirklichkeit als Widerspiegelungs- oder Abbildungsverhältnis und diagnostiziert in der graduellen Lösung von diesem Postulat die Ursache des Verfalls der Gattung, deren Gegenwart er in düsteren Farben malt. Lukács’ Haltung zum zeitgenössischen sowjetischen Roman ist deshalb umstritten. In der nur formelhaften Bezugnahme auf diesen gegen Ende der Abhandlung kann man wohl von einer „Skepsis gegenüber der sowjetischen Ausprägung der Gattung“ 53 sprechen, doch gilt diese Skepsis eher der konkreten literarischen Gestaltung als inhaltlichen und kompositorischen ideologischen Postulaten. Lukács leitet die Genese des historischen Romans aus der Neujustierung des Verhältnisses von Massen- und Nationalbewusstsein im Zuge der Französischen Revolution ab. Die Gestaltung von Geschichte wird am eigenen Leib erlebbar und führt auf kollektiver Ebene zur Wiedererweckung der nationalen Geschichte.54 In der hegelianischen Geschichtsphilosophie findet das neue Geschichtsbewusstsein seinen wirkmächtigsten Ausdruck, der – als Konstellation und nicht 50 Lukács 1965b, S. 157. 51 Lauer 2005, S. 208. 52 Die Publikationsgeschichte des Werkes ist hochinteressant. Lukács gelingt es, sein Buch als Artikelserie 1937/1938 in Literaturnyj kritik zu publizieren, das für 1939 anvisierte Buch kommt allerdings nicht zustande. Die Erstveröffentlichung erfolgt schließlich 1955 in deutscher Sprache in Ost-Berlin. Dort gibt Lukács in seinen Vorbemerkungen an, das Buch sei in der Sowjetunion erschienen, was jedoch nur die halbe Wahrheit ist (vgl. hierfür Tihanov 2000, S. 45). 53 Lenz 2015, S. 248. 54 Lukács 1965a, S. 15 ff.

Von Lukács zu Lotman175

als Resultat konkreter Einflüsse – die Genese des historischen Romans bedingt. Zum Prototypen der Gattung wird für Lukács das Werk Walter Scotts, das in der Sowjetunion Ende der 1920er Jahre in einer neuen Werkausgabe erscheint, an der u. a. auch Osip Mandel’štam mitwirkt. Zu Scotts Verhältnis zu Puškin publiziert Lukács 1937 in Literaturnyj kritik. Am Beispiel der Scott’schen Romane entwickelt Lukács eine Merkmalsmatrix des historischen Romans, in der Gestaltungsprinzipien eines Einzelwerks zu Gattungsmerkmalen verallgemeinert werden. Diese umfasst die zentrale Stellung des mittleren Helden als Leitprotagonisten der Gattung und die damit verbundene Dezentrierung historischer Schlüsselgestalten, die „menschliche Verlebendigung historisch-sozialer Typen“ (28), Volkstümlichkeit (33) und die „gesellschaftlichhistorische Zusammengehörigkeit von Führer und Geführten“ (34). Ziel des historischen Romans ist nicht die detailgetreue Wiedergabe der Vergangenheit, sondern „das dichterische Erwecken der Menschen“ (37). Lukács, der in „normative[r] Einseitigkeit und willkürliche[r] Ausgrenzung anderer Formen“ 55 innovative Erscheinungsformen der Gattung in der Folge als Regression wertet,56 verfolgt das Ziel, Walter Scott zu einem Vorläufer sozialistisch-realistischer Ästhetik zu erklären. Die von ihm entworfene Merkmalsmatrix ähnelt in vielerlei Hinsicht den von Hans Günther herausgearbeiteten ideologischen Postulaten des Sozialistischen Realismus (Parteilichkeit, Widerspiegelung, Typisierung, revolutionäre Romantik, positiver Held, Volkstümlichkeit).57 Der histo­rische Roman wird somit als Vorstufe des Sozialistischen Realismus erklärt und theoretisiert. Der von Lukács entworfene Rahmen wird in der Folge zu der zen­tralen gattungspoetischen Referenz, deren Wirkung in Ost wie West zeitlich weit über die Gültigkeit der sozrealistischen Postulate nachhallt.58 55 Nünning 1995a, S. 91. 56 Vgl. Nünning 1995a, S. 103. 57 Günther 1984, S. 18 – 54. Hans Günther aber liest Lukács’ Aktivitäten in deutlicherer Abgrenzung zur Genese des Sozialistischen Realismus und spricht von „verdeckte[m], äsopisch geführte[m] Kampf gegen den sich verengenden Kanon des Sozialistischen Realismus“ (Günther 1984, S. 168). Ob allerdings nicht auch Lukács’ Gattungsgeschichte des historischen Romans, die Günther in seiner Besprechung ausklammert, zu einer Verengung des Kanons geführt hat, darf diskutiert werden. 58 Hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass Lukács’ Abhandlung auch Kritik hervorrief. In einer internen Rezension kritisierte Viktor Šklovskij Lukács’ Werk und warf seinem literaturwissenschaftlichen Antipoden u. a. Normativismus, gattungsgeschichtlichen Ahistorismus und die Ignoranz der russischen und sowjetischen Literaturgeschichte vor. In Abgrenzung zu Lukács plädierte Šklovskij für eine an der formalistischen Evolutionstheorie Tynjanovs orientierte Gattungsgeschichte, die stärker gattungsgeschichtliche

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Im Stalinismus erfüllt der historische Roman eine ideologische und eine epistemische Funktion. Der historische Roman und die Roman-Epopöe sind Medien der Propaganda und dienen der Schaffung eines Nationalbewusstseins und patriotischen Geschichtsbilds.59 Epistemisch dient der historische Roman dazu, die in der Moderne verloren gegangene Totalität wieder einzuholen und die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit aufzuheben. Der historische Roman wird zu einem literarischen Medium der Entparadoxierung durch Tempo­ ralisierung (Luhmann), wo Widersprüche und Konflikte zwischen Realität und Rhetorik durch Historisierung erklärt und gelöst werden können. Vorrangige Aufgabe […] [war es], die Verbindung des Einzelnen mit der Geschichte von jedem Konfliktpotenzial, das ihr im Modell des klassischen historischen Romans anhaftete, zu befreien, und stattdessen die Unterordnung unter die die Geschichte ‚machenden‘ Führungspersönlichkeiten als Bedingung des sozialen Aufstiegs und der Teilhabe am historischen Prozess selbst erfahrbar zu machen.60

Nach dem Tode Stalins setzt eine kritische Beschäftigung mit dem Geschichtsbild des Stalinismus ein. Der Dogmatismus und die zentrale Rolle der Feindbilder im Stalinismus werden scharf kritisiert, das Postulat des Patriotismus abgeschwächt und der „Autonomiecharakter der kulturhistorischen Entwicklung Rußlands […] [zugunsten] einer wieder konzidierten Wechselwirkung mit der kulturellen Entwicklung in Westeuropa“ aufgegeben.61 Hier soll in der Folge anhand der literatur- und kulturtheoretischen sowie einer geschichtswissenschaftlichen Diskussion aufgezeigt werden, wie sich bereits in den Jahren vor der Perestrojka kritische Paradigmen zu entwickeln beginnen, die die Grundlagen der marxistischen Geschichtsphilosophie in Frage stellen.

Der lange Weg vom geschlossenen zum offenen System in der Literaturwissenschaft Der historische Roman ist ein wichtiger Diskussionsgegenstand der Literaturkritik und -wissenschaft der späten Sowjetunion. Die eben referierte enge Gattungsbestimmung Lukács’ wird dabei ob der Vielfalt existierender S­ tilformen Wechselwirkungen berücksichtigte und eine alternative Entwicklungsdynamik (v. a. die Herausbildung von epischen Formen aus Kleinformen, v. a. der Skizze) entwerfen sollte (vgl. Tihanov 2000). 59 Vgl. hierfür Brandenberger/Platt 2006; vgl. auch die Ausführungen bei Lenz 2015. 60 Lenz 2015, S. 250. 61 Waschik 2000, S. 37 f.; vgl. ausführlicher zu diesen Entwicklungen während der Tauwetter-Zeit Leitsch 1966.

Von Lukács zu Lotman177

historischen Erzählens zunehmend als Problem gesehen. Bei Valentin Oskockij, der eines der wichtigsten zeitgenössischen Bücher zur Theorie und Geschichte des sowjetischen historischen Romans verfasst hat, heißt es: „Отметим сразу: целевая установка ученого [Lukács] на нормативность классической традиции […] нередко вела его к схематизации художественных явлений, к абсолютизации канонических форм критического реализма.“ 62 Literaturkritische Anstrengungen widmen sich somit alternativen Formen der Typisierung der Gattung, die jedoch inhaltlich dominiert bleiben 63 und somit metahisto­riograpietheoretisch zu vernachlässigen sind. Skeptisch wird auch die von Lukács geforderte normative Orientierung am Epos gesehen, gegen die – mit Bachtin gegen Lukács – die Orientierung am Roman als analytischer Leitgröße verteidigt wird 64 – sowohl theoretisch als auch werkbezogen in der Verteidigung nichtepischer Formen historischen Erzählens (u. a. Trifonov, Kataev) und der Kritik episch angelegter, häufig nationalistischer Werke (u. a. Dorfprosa, Kriegsprosa). Waschik spricht diesbezüglich von der „‚Zerstörung der epischen Zeit‘ […] als Verlust der Dominanz auktorialen Erzählens und den hierdurch motivierten Konsequenzen für eine einheitliche, ‚geschlossene‘ Raum- und Zeitkonzeption“,65 die literaturgeschichtlich vor allem mit der stalinistischen Zeit assoziiert wird. Im Hintergrund der theoretischen Diskussion um die Historiographie steht die sukzessive Öffnung der zu eng gewordenen Doktrin des Sozialistischen Realismus. Federführend hierbei ist Dmitrij Markov, der in seinem 1975 veröffentlichten Werk Problemy teorii socialističeskogo realizma (Probleme der Theorie des Sozialistischen Realismus) diesen als „istoričeski otkrytaja sistema chudožestvennych form“ 66 definiert. Dies impliziert die Öffnung des Kanons für alle stilistischen Verfahren, auch aus dem Westen,67 eine Öffnung, der die „Trennung der Verfahren […] von ihrer ideologischen Funktionalisierung (Entideologisierung)“ 68 62 Oskockij 1980, S. 23; „wir bemerken gleich: die auf die Normativität der klassischen Tradition gerichtete Zielsetzung des Gelehrten […] führt diesen nicht selten zur Schematisierung künstlerischer Erscheinungen, zur Verabsolutierung der Formen des kritischen Realismus“. 63 Vgl. als ein Beispiel Makarovskaja 1972. 64 U. a.bei Lejderman 1982. 65 Waschik 2000, S. 105. 66 Markov 1975, S. 273; „historisch offenes System künstlerischer Formen“. 67 Für die Öffnung gegenüber der westlichen Literaturentwicklung zentral ist die 1955 gegründete Zeitschrift Inostrannaja literatura, in der u. a. Übersetzungen Ernest Hemingways und J. D. Salingers erscheinen, die wiederum sehr einflussreich für viele der auch hier behandelten Schriftsteller sind, v. a. für die ‚Molodaja proza‘ ( Junge Prosa). 68 Waschik 2000, S. 82.

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vorausgehe.69 Literarische Verfahren und Weltanschauung beginnen sich zu entkoppeln und lösen sich dabei von einer der zentralen Prämissen Lukács’, der Koinzidenz von (epischer) Form und marxistischer Weltanschauung. Dies korrespondiert mit einer größeren Freiheit des Autors in der Gestaltung, führt aber auch zu einer Aufwertung der Kritik, deren Bewertung durch das Fehlen offensichtlicher Merkmale der Abweichung nun noch wichtiger wird. Hier überwiegen politische Frontstellungen zwischen liberal und national gesinnten Kritikern sowie eine primär moralistische und soziologische Lesart literarischer Werke, im Rahmen derer eine offene Diskussion um Funktionen historischen Erzählens jenseits des Informierenden, Moralisch-Bilanzierenden oder Ideologischen kaum stattfindet. Die Diskussion epistemischer Aspekte unterbleibt, weil das Postulat des istorizm in Literaturkritik und -wissenschaft weitgehend unhinterfragt bleibt, womit Literatur in der Funktion des ästhetischen Nachvollzugs geschichtswissenschaftlich fixierter Erkenntnisse 70 gefangen bleibt. Abweichungen hiervon werden – wie bereits in Unterkapitel 2.1 gesehen – als Antihistorismus gebrandmarkt, der sich in so verschiedenen Vorwürfen wie einer „гипертрофированном восприятии болевых точек в историческом процессе […], в романтической гиперболизации тех или иных событий национальной истории, в ложной героизации и идеализации некоторых исторических фигур“ 71 äußert. Formen ästhetischer Poetisierung werden hier als potentielle Feinde historischer ‚Wahrheit‘ betrachtet und dementsprechend skeptisch beäugt.72 Interessant wird es, wenn das Postulat faktographischer Rückbindung historischen Erzählens problematisch wird. Sieht die Gattungstheorie des Tauwetters die dokumentarische Natur des historischen Genres noch als Ausgangspunkt der Gattungsbestimmung, so wird nun dazu aufgefordert, auch die „Grenzen des 69 Wie Mark Lipoveckij und Michail Berg feststellen, sei es im Rahmen dieser Auseinandersetzung letztendlich um die Öffnung des Sozialistischen Realismus für die Moderne gegangen: „The apotheosis of this attempt to broaden the horizon of socialist realism was the theory of socialist realism as a „historically open system of form in art“ […]. By casting socialist realism as an “open system” Markov (doubtlessly with the support of the highest political authorities) effectively allowed the modernist aesthetics to enter socialist realism.“ (Berg/Lipovetsky 2011, S. 208 f.). 70 Waschik 2000, S. 104. 71 Sultanov 1989, S. 132; „hypertrophierte Wahrnehmung der kranken Punkte des histo­ rischen Prozesses […], in einer romantischen Hyperbolisierung dieser oder anderer Ereignisse der nationalen Geschichte, in der lügenhaften Heroisierung und Idealisierung einiger historischer Figuren“. 72 Vgl. Sultanov 1989, S. 135.

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Dokumentarischen“ 73 ernst zu nehmen. Nicht jedes historische Thema lässt sich im Rückgriff auf wissenschaftliche Wahrheiten behandeln. Oskockij verweist auf literarische Darstellungen der Frühen Neuzeit, aber auch auf Beispiele aus den zentralasiatischen Republiken, bei denen sich Autoren nicht auf die Autorität der Wissenschaft berufen können. Literatur kann Geschichte nicht duplizieren, sondern arbeitet sie um (peresozdavat’ )74 und literarisiert sie. Diese Literarisierung wird allerdings nicht als Vehikel epistemischer Problematisierung, sondern als Mittel der Dramatisierung und emotionalen Verdichtung des Sujets interpretiert. Die Umarbeitung bleibt somit eingeschränkt, da Geschichte schlussendlich nicht als „Objekt der Gestaltung, sondern als strukturelle Grundlage des Romans“ 75 interpretiert wird, womit sie als Gegenstand künstlerischer Verfremdung wegfällt. Diese am Beispiel Oskockijs in paradigmatischer Hinsicht entfaltete Sicht auf Geschichte verdeckt die Erkenntnis metahistoriographischer Verfahren in den hier behandelten Werken, negiert sie doch mit ihrer tendenziell dogmatischen Faktologie die Voraussetzungen dieser Form historischen Erzählens. Interessant ist auch, dass die grundsätzlichen, auf die Historiographie bezogenen Fragestellungen der Literaturwissenschaft denen im Westen durchaus ähnlich sind. Auch in der Sowjetunion gibt es eine Debatte um die Verwandtschaft von Geschichte und Literatur, die Oskockij referiert.76 Während es dort aber vor allem darum geht, die literarischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft herauszuarbeiten, ist die Stoßrichtung der sowjetischen Debatte exakt entgegengesetzt. Hier geht es normativ wie analytisch darum, in struktureller Hinsicht die geschichtswissenschaftlichen Grundlagen der Literatur heraus­zuarbeiten. Grundlage dieser Divergenz ist ein unterschiedliches Wahrheitsverständnis, bezüglich dessen sich das konstruktivistische Weltbild der Debatte im Westen von der dominanten sowjetischen Auffassung historischer Wahrheit als unveränderlicher erkenntnistheoretischer Bezugsgröße stark unterscheidet.

Die Literaturtheorie Jurij Lotmans Eine Ausnahme bildet das theoretische Schaffen Jurij Lotmans. Bereits 1971 konsta­tieren er und Boris Uspenskij, dass sich das 20. Jahrhundert „offenbar auf die Schaffung einer Meta-Kultur zu[bewegt], eines allumfassenden ­metasprachlichen

73 74 75 76

Oskockij 1980, S. 307. Oskockij 1980, S. 283. Lomidze zit. nach Oskockij 1980, S. 306. Vgl. Oskockij 1980, S. 281 ff.

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Systems zweiter Ordnung“.77 In der Verwendung von Metakomposita hallt eine kybernetische Terminologie nach, von der die sowjetische Semiotik geprägt war und die sich zeitgleich auch bei Zeitgenossen findet – beispielsweise in Aleksej ­Esenin-Vol’pins Forderung nach einer Metarevolution der sowjetischen Gesellschaft 78 oder in Valentin Turchins Forderung, „metasystem transitions“ als prozes­ suale Elementareinheit einer anzustrebenden Systemtransformation der sowje­ tischen Gesellschaft hin zum „cybernetic socialism“ zu betrachten.79 Lotman und Uspenskij bringen mit ihrer Diagnose des Aufkommens eines Metaromans, einer Metamalerei und eines Metafilms eine neue ästhetische Praxis auf den Begriff, die sich im künstlerischen Schaffen der Zeit auf breiter Basis in der Reflexivierung von Kunstformen artikuliert – man denke an die frühe russische Postmoderne der 1970er Jahre, die Kunst des Konzeptualismus oder die mediologischen Selbstreflexionen des spätsowjetischen Kinos.80 Als Hauptcharakteristikum dieser neuen Praktiken erweist sich Lotman und Uspenskij zufolge, dass sich diese Gattungen „logisch auf einer anderen hierarchischen Ebene als die entsprechenden Phänomene erster Ordnung“ befinden und „andere Ziele“ verfolgen.81 Während der Verweis auf die Ziele Überlegungen zum Funktionspotential impliziert, erinnert der Verweis auf die Logik an Alfred Tarskis berühmte Unterscheidung von Objekt- und Metasprache, mit der „Aussagen über bestimmte Gegenstandsbereiche“ (Objektsprache) von Aussagen über die „sprachlichen Ausdrücke der Objektsprache“ (Metasprache) voneinander getrennt werden sollten.82 Die sowjetische Kulturtheorie ähnelt hier der zeitgleichen westlichen Diskussion, in der ebenfalls „unterschiedliche Meta-Komposita“ 83 gedeihen, die die Einnahme einer höheren (text-)logischen Reflexionsebene einfordern und in

77 Lotman/Uspenskij 1986b, S. 875 f. 78 Nathans 2007, S. 635. 79 Turchin, der ebenfalls zum Kreis der Kybernetiker zählte, versteht darunter „the integration of existing components with the creation of a new level of control“ (Turchin 1981, S. 122). Mit einer solchen Integration war nicht nur ein Komplexitätszuwachs verbunden, sondern auch die Einnahme einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung, mit deren Hilfe der „cybernetic socialism“ (208) entwickelt werden sollte. Interessanterweise spielte im sowjetischen Kontext der in der US-amerikanischen und westeuropäischen Diskussion dominierende Begriff der Komplexität kaum eine Rolle, vgl. für diesen Kontext Leendertz 2016. Zur Epistemologie der spätsowjetischen Kybernetik vgl. Rindzevičiūtė 2016. 80 Zvonkine 2016. 81 Lotman/Uspenskij 1986b, S. 876. 82 Stegmüller 1957, S. 3. 83 Vgl. hierfür Hauthal/Nadj/Nünning/Peters 2007, S. 4.

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der Ausarbeitung einer Reihe von Metabegrifflichkeiten eine epistemologische Schärfung kulturtheoretischer Begrifflichkeiten in Gang setzen.84 In Bezug auf das Verhältnis der Literatur zum mimetischen Leitparadigma heißt es bei Lotman: „Der Text ist nicht die Wirklichkeit, sondern Material zu ihrer Rekonstruktion.“ 85 Der Weg zur getreuen Abbildung der Realität ist versperrt, da diese in einem „zwangsläufig jenseits der Kultur gelegenen Raum“ situiert ist.86 Dies zeitigt Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft. Diese muss sich, laut Lotman, von Rankes Anspruch abzubilden, „wie es eigentlich gewesen ist“, verabschieden. Zwischen dem Ereignis, „wie es war“, und dem Historiker steht der Text. […] Der Text ist immer von jemandem und mit einem bestimmten Ziel geschaffen, das Ereignis präsentiert sich ihm in chiffrierter Form. Die Aufgabe des Historikers besteht zuallererst im Dechiffrieren. […] In seinem Bemühen, aus Texten die außertextuelle Realität zu destillieren, und aus der Erzählung vom Ereignis das Ereignis, schafft er selbst die Fakten.87

Die Betonung des rekonstruktiven Charakters der Arbeit des Historikers ist mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für dessen Beobachterposition verbunden. Für die Beschreibung kultureller Prozesse, und hier insbesondere historischer Prozesse, fordert Lotman immer häufiger die Einnahme einer Metaperspektive durch den Forscher ein. So heißt es zu Beginn seines einflussreichen Aufsatzes Rol’ dual’nych modelej v dinamike russkoj kul’tury (Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur, 1977): Die Kulturforscher nehmen […] die entfremdete Position eines außerhalb stehenden Beobachters ein: Die Position der Beobachtung von innen wird zum Gegenstand der Forschung.88

84 Gegenwärtige Analysen bezweifeln allerdings, dass sich im sowjetischen Kontext auch eine selbstreflexive ‚Kybernetik zweiter Ordnung‘ herausbildet. So heißt es bei Diana Kurkovsky West: „Second-order cybernetics, most often associated with the names of Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster, and Gordon Pask, acknowledged the agency and partiality of the system observer inside a cybernetic system. Unlike the complete system of information feedback that purports to encompass the totality of a given system, second-order cybernetics recognizes the subjective point of view of any observer, and thus admits that systems cannot be entirely controlled or understood by the agents“ (Kurkovsky West 2013, S. 19). Die vorliegende Arbeit behauptet, dass literarische Werke hier in die Bresche springen und in Differenz zu staatlichen Institut(ion)en ebensolche selbstreflexiven Semantiken ausprägen. 85 Lotman 1986b, S. 859. 86 Lotman 2010b, S. 35. 87 Lotman 2010a, S. 293 f. 88 Lotman/Uspenskij 1977, S. 1.

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Die Einnahme der Rolle des außenstehenden Beobachters erfordert die Abstraktion von der eigenen Weltanschauung: „Die Selbstdeutung ist der Realität nicht angemessen“.89 Insgesamt lässt sich in Lotmans Spätwerk eine Aufwertung solcher Beobachtungspositionen, die zwischen verschiedenen semiotischen Sphären stehen, konstatieren, wodurch Übersetzungen und Mediationen an Bedeutung gewinnen. Lotman sieht hier einen globalen Trend, wie er bereits in der im Eingangszitat gestellten Diagnose der „Schaffung einer Meta-Kultur […], eines allumfassenden metasprachlichen Systems zweiter Ordnung“ zu finden ist. Auch die russische Kultur stellt sich, so Lotmans Schlussdiagnose in Kultur und Explosion, auf eine ternäre (Entwicklungs-)Logik um und eröffnet dadurch einen dritten Raum für die Metabeschreibung der eigenen Kultur. Diese löst allerdings „das Problem der Position des Beschreibenden“ 90 nicht gänzlich, denn der Beschreibende wirke immer auf das zurück, was er beschreibe. Demnach fordert Lotman – im Gleichklang mit der parallel verlaufenden Writing-Culture-Debatte im Westen 91 – sich „seine [des Forschers] Anwesenheit bewusst [zu] machen und mit allen Konsequenzen [zu] reflektieren, wie sich diese auf die Beschreibung auswirkt“.92 Lotmans Kulturtheorie kann als Anleitung und Anweisung für eine (meta-) historiographische Methodenlehre gelesen werden. Die Forderung nach Widerspiegelung fußt für Lotman auf der illusionären Idee „einer einzigen idealen Sprache als optimalem Mechanismus für den Ausdruck der Realität“.93 Für eine Semiose sind aber immer mindestens zwei Sprachen nötig, die nie vollständig ineinander übersetzt werden können. Diese Heterogenität der semiotischen Ausgangsbedingungen, die sich auch im menschlichen Bewusstsein findet,94 ist die Voraussetzung für Kultur. Beschrieben werden können diese zunehmend komplexer werdenden semiotischen Prozesse nur von einem externen Beobachter, der sich von der Selbstbeschreibung des Systems löst. Nur wer von der eigenen Weltanschauung abstrahiert, kann den Text der Kultur dechiffrieren. 89 Lotman 2010b, S. 218. 90 Lotman 2010a, S. 370. 91 Clifford/Marcus 1986; interessant ist, dass die von Clifford und anderen (v. a. Johannes Fabian) angestoßene Debatte um die Konstruktion von Kultur durch die Ethnologie in ihrem Verlauf und ihren Erkenntnissen der Narrativitätsdebatte in der Geschichtswissenschaft einige Jahre früher ähnelt. Auch in Lotmans Denken sind wissenschaftstheoretische Fragen der Ethnologie und Geschichtswissenschaft eng verknüpft. 92 Lotman 2010a, S. 373. 93 Lotman 2010b, S. 8. 94 Vgl. Lotman/Uspenskij 1986a, S. 889; in prinzipieller Hinsicht konstatiert er: „there is a distinct parallelism between individual consciousness, the text and culture as a whole“ (Lotman 2005, S. 216).

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Geschichtswissenschaft: Möglichkeiten und Grenzen Tendierte man nach dem Ende des Kalten Krieges dazu, die Existenz einer der Aufklärung und Historisierung des Vergangenen gewidmeten sowjetischen Geschichtswissenschaft pauschal zu bezweifeln,95 so haben Forscher im Anschluss dafür plädiert, die sowjetische Geschichtswissenschaft als ‚normale‘ Wissenschaft zu betrachten.96 Detaillierte Forschungen zur Evolution der sowjetischen Geschichtswissenschaft 97 haben eine differenziertere Sicht plausibilisiert, die der von der Totalitarismustheorie genährten Verdammung der Disziplin entgegensteht. Im Zuge dieser Forschungen sind sowohl Diskussionen um methodische und wissenschaftstheoretische Fragen als auch die wissenschaftlichen Leistungen einzelner Historiker ins Blickfeld gerückt. An diese Forschungen schließt die folgende Kurzdarstellung der spätsowjetischen Historiographie an. Im Zuge der Entstalinisierung kommt es zu einer ersten Welle der Revision in der sowjetischen Geschichtswissenschaft. Diese erstreckt sich sowohl auf inhaltliche Fragen, wie z. B. die umfangreiche Debatte über die Vorgeschichte der Oktoberrevolution und die damit verbundene Evolution des Konzepts der mnogoukladnost’ zeigen,98 als auch auf methodologische Probleme. Am Beginn des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit verdichten sich diese Bestrebungen. 1964 kommt es unter Leitung von Michail Gefter zur Gründung einer Methodologiesektion am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, das sich der Überwindung dogmatischer Scholastik und der Fokussierung auf konkrete Probleme verschreibt.99 Die damit verbundene Zielsetzung, „die zentralen Gedanken von Marx, Engels und Lenin zur Geschichts- und Gesellschaftstheorie zu überprüfen“,100 ruft jedoch Kritik hervor. Die Arbeit der Sektion wird Ende der 1960er Jahre von konservativen Vertretern zurückgedrängt und zum Teil revidiert. Dies blockiert die weitere methodologische und theoretische 95 96 97 98

Vgl. für die Darstellung dieser Auffassung Plaggenborg 2006, S. 106 ff. Vgl. Zalekjo 1994. Vgl. vor allem: Hösler 1995; Alekseeva 2003; Sidorova 1997. Hier ging es vor allem um die Anerkennung der Vielschichtigkeit (so die Übersetzung des russischen Terminus) historischer Entwicklungen. Dies bedeutete eine Abkehr von einem dogmatischen Marxismus, wonach es nur eine historische Entwicklungslogik gebe, sowie die Möglichkeit der Problematisierung der Tatsache, dass die Oktoberrevolution – durch das Fehlen einer bürgerlichen Revolution zuvor – nicht in die Schematik der marxistischen Geschichtsphilosophie passe. Vgl. ausführlicher zum Diskurs: Baron 1977, v. a. S. xiif. 99 Vgl. Martin 2019, S. 53; Markwick 2001. 100 Hösler 1995, S. 115.

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Entwicklung der Geschichtswissenschaft nachhaltig: „Während der hier betrachteten Zeit drehten sich die Vertreter der historischen Zunft allzu sehr im Kreise und waren nicht in der Lage, wirklich Neues vorzulegen.“ 101 Im Zentrum der konservativen Kritik stehen dabei weniger wissenschaftstheoretische Fragen als die politisch heikle Frage, wie mit dem Erbe des Stalinismus umzugehen sei. Ein Wendepunkt ist die Debatte um Aleksandr Nekričs Buch zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941. Seine Kritik an der mangelnden Vorbereitung auf einen deutschen Angriff wird politisiert, der Verfasser 1967 nach anfänglich ambivalent verbleibenden Einschätzungen aus der Partei ausgeschlossen. In der Folge herrscht ein von der Führung entwickelter Kompromiss, der offene Kritik an Stalin und seinen Verbrechen verhindert, allerdings auch nicht zur Rehabilitation des Diktators führt.102 Literatur nimmt eine wichtige Rolle in diesen Debatten ein, da Autoren mutiger als Historiker die etablierte Geschichtssicht in Frage stellen (vgl. 83). Schriftsteller wie Aleksandr Solženicyn, Jurij Trifonov oder Konstantin Simonov beteiligen sich an geschichtswissenschaftlichen Debatten, ihr Dokumentarismus dieser Zeit ist angesiedelt zwischen Literatur und Wissenschaft. Während in Trifonovs Spätwerk die Literarisierung des Materials hingegen wieder einen größeren Stellenwert einnimmt, verbleibt Solženicyn in dieser Zwischenposition. Seine Werke gehören zur speziellen Gattung der „dissident histories“ (178) und repräsentieren hybride Textformen, die verschiedene Gattungstraditionen wie Autobiographie, dokumentarische und historische Romane, historische Pamphlete und geschichtswissenschaftliche Werke miteinander verbinden (vgl. 180 f.). Literarische Werke üben in Bezug auf den defizitären spätsowjetischen geschichtswissenschaftlichen Diskurs eine kompensatorische Funktion aus, da sie durch die ihnen gegebenen ästhetischen Möglichkeiten der Beschreibung des Vergangenen eher gerecht werden können als der stärker reglementierte geschichtswissenschaftliche Diskurs. Но если историческая наука не смогла в последние десятилетия дать возможность обществу понять себя и свое прошлое, если до сих пор почти не печатаются документы, до сих пор острейший голод на объективные исследовательские работы по истории партии, государства, если до сих пор под спудом хранятся архивы гражданской войны, данные о коллективизации, о лагерях, тюрьмах, ссылках, если до сих пор народ даже не знает цифры погибших в годы террора – внелитературную функцию исторического самосознания и исследования берет на себя литература.103 101 Hösler 1995, S. 163. 102 Vgl. Martin 2019, S. 56 ff. 103 Ivanova 1987, S. 72. „Aber wenn die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten nicht dazu in der Lage war, der Gesellschaft die Gelegenheit zu geben, sich und die eigene Vergangenheit besser zu verstehen, wenn bis heute kaum Dokumente

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Diese Aussage Natal’ja Ivanovas zeigt jedoch die Fallstricke dieser unter Gesichtspunkten funktionaler Differenzierung übergriffigen Haltung. Literatur wird auf ihre Informationsfunktion als Lieferant zurückgehaltener Fakten reduziert, wodurch der spezifisch literarische Charakter ihres Vorgehens verdeckt wird. Dies gilt in jedem Falle für Solženicyn und wird uns folgend anlässlich der Diskussion des Werkes von Svetlana Aleksievič (4.1) ebenfalls noch beschäftigen. Im Hinblick auf eine Diskussion der spätsowjetischen Geschichtswissenschaft spielen jedoch nicht nur solche dissidentischen Stimmen eine Rolle, sondern es lohnt auch ein Blick auf offiziellere Diskurse. Nach der Verschärfung der Kontrolle Ende der 1960er Jahre „wandten sich die Historiographen meta-theoretischen Fragen zu“.104 Hier finden sich Tendenzen, die auf zentrale methodolo­ gische und theoretische Debatten während der Perestrojka vorausweisen. Ein Beispiel, an dem sich dies zeigen lässt, ist die bereits angesprochene Debatte um den Stellenwert historischer Fakten, die auch in der Geschichtswissenschaft Ende der 1970er Jahre wieder Fahrt aufnimmt. Deren metahistoriographisches Potential lässt sich anhand eines programmatischen Aufsatzes von Naumov und Zebelev 105 umreißen. Die Theoretiker bestimmen Fakten als polysemantische Grundelemente des geschichtlichen Prozesses: „факт неисчерпаем, как атом, ибо он имеет бесконечное количество качеств, свойств, сторон, взаимоотношений“ 106 (19). Fakten sind in ihrer potentiellen Bedeutung unerschöpflich und können demnach auch durch eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge betrachtet werden. Die Autoren reflektieren diesen Zusammenhang und propagieren den Abschied von einer naiven Lesart, in der Fakten empirisch gegeben seien und nur auf eine bestimmte Art und Weise wiedergegeben werden könnten: „факт в историографии не ограничивается областью эмпирического знания, а содержит и теоретический элемент.“ 107 (20) Dies impliziert, dass Fakten immer schon durch ein t­ heoretisches Prisma gedruckt werden, wenn bis heute ein drängender Hunger nach objektiver Forschung zur Parteigeschichte und zum Staat besteht, wenn bis heute die Archive zum Bürgerkrieg, zu den Daten der Kollektivierung, zu den Lagern, Gefängnissen, Verbannungen geschlossen bleiben, ja wenn die Gesellschaft bis heute nicht einmal die Opferzahlen des Großen Terrors kennt – dann übernimmt eben die Literatur die eigentlich außerliterarische Funktion historischer Selbstverständigung und Forschung.“ 104 Hösler 1995, S. 191. 105 Naumov/Zebelev 1980. 106 „Der Fakt ist unerschöpflich, wie das Atom. Beide haben eine unendliche Anzahl von Eigenschaften, Eigenheiten, Seiten und Zusammenhängen.“ 107 „Der Fakt ist in der Historiographie nicht auf das Gebiet empirischer Erkenntnis begrenzt, sondern enthält auch ein theoretisches Element.“

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gelesen werden. Der Hintergrund des Historikers ist entscheidend für seine Betrachtung der Vergangenheit. Hier zollen beide Theoretiker auch den institutionellen Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft Aufmerksamkeit. Несомненно, что организация науки на каждом из этапов ее развития, система научных институтов, условия их возникновения, эволюция их структуры, научные общества, историческая периодика, а также кадры исторической науки, распределение их по отраслям и квалификации, историческое образование в его развитии – также важные историографические факты 108 (22).

Einflussfaktoren auf die Arbeit des Historikers werden herausgearbeitet und in ihrer – die Fakten beeinflussenden – Perspektivität anerkannt. Außerdem plädieren Naumov und Zebelev für die Einnahme einer entfremdeten Betrachterperspektive, um die historische Wirklichkeit zu beschreiben: „Применительно к историографическому факту это обязывает его анализировать с позиций, которые не должны ни улучшать, ни ухудшать, ни приукрашивать“ 109 (25). Hier finden sich Parallelen zu Lotmans Forderungen nach einer externen Beobachterposition. Zum Schluss des Aufsatzes werden die oben getroffenen Schlüsse aber in Bezug auf die Unmöglichkeit einer objektiven und wahren Geschichtsschreibung durch den apodiktischen Bezug auf die kommunistische Partei konterkariert. Проверка любого историографического явления, в том числе и факта, должна проводиться с позиций коммунистической партийности, историзма и общественно-исторической практики 110 (30).

Der Debattenbeitrag zeigt gut die Widersprüchlichkeit der geschichtstheoretischen Reflexion in der späten Sowjetunion. Obgleich – auch unter Kenntnisnahme einer internationalen Diskussion 111 – die Frage nach den m ­ ethodologischen 108 „Es ist unzweifelhaft, dass die Organisation der Wissenschaft in jedem Entwicklungsstadium, das System wissenschaftlicher Institute, die Bedingungen ihrer Entstehung, die Evolution ihrer Strukturen, die wissenschaftlichen Gesellschaften, die wissenschaftlichen Periodika und auch die Kader in der Geschichtswissenschaft, eingeteilt nach Arbeitsbereichen und Qualifikation, die historische Bildung in ihrer Entwicklung – kurzum, dass all diese Faktoren ebenfalls wichtige historiographische Fakten darstellen.“ 109 „Bezüglich des historiographischen Fakts bedeutet dies, dass er von einer Position, von der aus er weder verbessert, noch verschlechtert, noch ausgeschmückt werden kann, analysiert werden sollte.“ 110 „Die Kontrolle einer jeden historiographischen Erscheinung, darunter auch der Fakten, muss von der Position kommunistischer Parteilichkeit, des Historismus in seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis aus geführt werden.“ 111 Wenn auch v. a. unter polemischen Vorzeichen, gerade im Hinblick auf einen wichtigen Vorläufer der Metahistorydebatten wie Collingwood, vgl. hierfür Ivanov 1973, S. 11 – 31.

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und theoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft zur Abkehr von Grundprinzipien der marxistischen Geschichtsphilosophie führt, verhindern die politisch geforderte Bezugnahme auf das Prinzip der Parteilichkeit und die dogmatische Referenz auf kanonische Texte das Ziehen der Konsequenzen aus einer epistemologischen Reflexion, die avancierter ist, als man vermuten würde. Trotz solcher vielversprechenden Ansätze gehen von der geschichtswissenschaftlichen Reflexion nicht die Hauptimpulse für das Aufkommen metahistoriographischer Tendenzen in der sowjetischen Literatur aus. Ihre Debatten bleiben durch den Zwang des Autoritätszitats, die Blockierung der Rezeption westlicher Ansätze und die Unmöglichkeit der Bearbeitung vieler Aspekte der russischen und sowjetischen Geschichte häufig bei der bloßen Nennung methodologischer Desiderate hängen. Die Dynamik geht folglich nicht von der Geschichtswissenschaft zur literarischen Produktion, sondern in die andere Richtung. Dies gilt für die institutionalisierte Geschichtswissenschaft auch noch während der Perestrojka-Zeit, nicht jedoch für einzelne Historiker und Literaturwissenschaftler wie Dmitrij Lichačëv, Aron Gurevič oder Natan Ėjdel’man, deren Einfluss im Unterkapitel zu Evgenij Vodolazkin (8.2) noch sichtbar werden wird.112

Standortbestimmung Wo steht die sowjetische geschichtstheoretische Diskussion im Vergleich zur Debatte im Westen am Vorabend der Perestrojka? Der Blick auf Debatten und Dynamiken in Literatur- und Kulturtheorie sowie innerhalb der geschichtswissen­ schaftlichen Theorie- und Methodendiskussion hat Veränderungsprozesse zu Tage befördert, die einen Wandel in der Epistemologie historischen Denkens nahelegen. Nun gilt es, diesen an der parallelen Entwicklung im Westen zu schärfen. Ewald Mengel hat in seinem 1984 veröffentlichten Forschungsbericht zum neueren (v. a. englischen) historischen Roman 113 einige zentrale Neuorientierungen in Bezug auf die Epistemologie historischen Denkens festgehalten. Dieser Text soll aufgrund seines breiten Überblicks über theoretische Neuorientierungen in Deutschland, England, Frankreich und den USA und aufgrund seines Veröffentlichungsdatums, das mit der hier intendierten Bestandsaufnahme geschichtstheoretischer Diskurse vor der Perestrojka korrespondiert, als Vergleichsfolie herangezogen werden. 112 Zu Ėjdel’mans Schaffen im Besonderen, aber auch zum Umfeld fachhistorischer Forschung in der Sowjetunion im Allgemeinen vgl. Hamburg 2006. 113 Mengel 1984a/1984b.

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Sieben epistemologische Tendenzen zeichnen für Mengel dabei für das neue Interesse am historischen Roman und für die Herausbildung neuer, vor allem metahistoriographischer Entwicklungstendenzen, verantwortlich: • das Überdenken der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Geschichte, • die Preisgabe des historistischen Objektivitätsideals, • das Abrücken von formalästhetischen Untersuchungsmethoden, • die Wiederentdeckung der Literaturgeschichte, • die Entwicklung rezeptionsästhetischer und funktionsgeschichtlicher Betrachtungsweisen, • die Öffnung der Literaturkritik in Richtung auf benachbarte Disziplinen • sowie die verstärkte Beschäftigung mit fiktionstheoretischen Problemen.114 Wie wir gesehen haben, kann von einer Revision der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen in der Sowjetunion nur in einem begrenzten Rahmen die Rede sein. Wichtige Stichwortgeber dieser Tendenz wie Arthur C. Danto, der das Objektivitätsideal der Geschichtswissenschaft aus analytisch-philosophischer Perspektive kritisiert,115 bleiben in der Sowjetunion unrezipiert. Das Verbot einer Revision der theoretischen Grundlagentexte von Marx und Lenin und das Festhalten an einer dogmatischen Theorierezeption blockieren hier. In Ansätzen deutet sich jedoch in der Lösung vom Widerspiegelungspostulat eine erste Revision an. Radikal bricht ein Theoretiker wie Lotman mit der Idee der Widerspiegelung. Diese Revisionen muten allerdings im Vergleich zu den sich parallel vollziehenden Debatten im Westen zaghaft an. Im Westen wird das Primat des New Criticism spätestens ab Beginn der 1980er Jahre von einer stärker historisch argumentierenden Theoriebildung abgelöst. Auch innerhalb der formalistisch arbeitenden Literaturtheorie der Sowjetunion lässt sich diese Akzentverschiebung hin zum Historischen beobachten, am deutlichsten wahrscheinlich bei Jurij Lotman. Hier werden auch Fragen literarischer und kultureller Evolution wieder aktuell, die im Rückgriff auf Theoretiker wie Jurij Tynjanov behandelt werden. Funktionsgeschichtliche und rezeptionsästhetische 116 Zugänge werden

114 Vgl. Mengel 1984a, S. 109. 115 Grundlegende Bedeutung hat Arthur Dantos 1965 veröffentlichte Analytical Philosophy of History. 116 Hier ist v. a. auf das Werk Wolfgang Isers hinzuweisen, der sich auch – im Umfeld der Gruppe Poetik und Hermeneutik – mit dem historischen Roman beschäftigt. Am ehesten mit Isers Ansatz vergleichbar sind die Beiträge im wegweisenden Kompendium Literatura i sociologija (1977), das William Mills Todd III mit Isers Werk vergleicht (vgl. Mills Todd III 2011, S. 244).

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in der Breite allerdings erst während der Perestrojka aktuell und im Vergleich mit der Entwicklung im Westen verzögert entwickelt. In Bezug auf die Literaturkritik weist die Entwicklung hingegen in eine andere Richtung. Hier geht es in der späten Sowjetunion weniger um Debatten der Weitung gegenüber anderen Disziplinen als vielmehr um Versuche der Abgrenzung gegenüber Eingriffen aus anderen Sphären, v. a. der Politik. Eine verstärkte fiktionstheoretische Beschäftigung kann ebenfalls nicht ausgemacht werden, allenfalls Ansätze hierzu finden sich, die durch die Öffnung des Sozialistischen Realismus hin zu einem offenen System möglich werden. Trotz vorhandener Unterschiede bringt ein Vergleich der geschichtstheoretischen Entwicklungen erstaunliche Konvergenzen zu Tage. Als wichtigste Differenz erscheint in der Theorie die Dominanz umweltreferentieller Metahistoriographie, die sich durch das weitgehende Fehlen theoretischen Voraussetzungen für neu geartete – eher selbstreferentiell operierende – Tendenzen im historischen Roman erklären lässt. Dass sich diese vor allem in der dissidentischen Kultur des literarischen Untergrunds (u. a. bei Sinjavskij, im Konzeptualismus, im Mauvismus) finden, überrascht nicht.

3.3  Jenseits des binären Sozialismus – Historisches Erzählen und die Ausdifferenzierung der spätsowjetischen Gesellschaft Im Aufkommen der Postmodernediagnosen der 1970er und 1980er Jahre schien sich für viele Zeitgenossen der Kontrast zwischen der westlichen und der sowjetischen Wirklichkeit noch zu verschärfen. Während im Westen die Postmoderne florierte, schien die Literaturproduktion in der Sowjetunion zu stagnieren. In der Forschung zur offiziellen sowjetischen Literatur dominierte deshalb die „Ersetzung einer im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Fragestellung durch eine Untersuchung der institutionellen und literaturpolitischen Rahmenbedingungen“.117 Ein solches Forschungsprogramm baute zwangsläufig auf der Vorstellung eines sowjetischen Sonderwegs auf, die das Ziehen von transkulturellen Verbindungslinien weitgehend blockierte. Es erscheint heute überholt. Nun gilt es, lange vernachlässigte Parallelen zwischen der sowjetischen und der globalen Entwicklung herauszuarbeiten.

117 Lenz 2015, S. 16.

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Abschied vom Stagnationsparadigma Während des Kalten Krieges war Moderne immer auch ein normatives Verdikt. Modern war die „offene Gesellschaft“ (Karl Popper) im Westen, nicht modern deren Feinde im Osten. „For much postwar social science, modernization was essentially identical to Westernization. This is not necessarily the case in contemporary understandings of modernity.“ 118 Nachdem nach dem Ende des Kalten Krieges die Ambivalenz der Moderne 119 stärker in den Fokus gerückt war, begann sich ein neues Leitbild zu formieren, das die sowjetische Geschichte im Sinne eines breiteren Verständnisses ‚multipler Modernen‘ zurück in die globale Diskussion holte: One of the most important implications of the term “multiple modernities” is that modernity and Westernization are not identical; Western patterns of modernity are not the only “authentic” modernities, though they enjoy historical precedence and continue to be a basic reference point for others.120

Eisenstadts Begriff ‚multipler Moderne‘ eröffnet eine Perspektive, die die Einheit (Modernität) der Differenz (multiple) gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse in den Blick nimmt. Im Anschluss an ihn haben einige Forscher „den Versuch unternommen, die Moderne und das bolschewistische Experiment in einen Zusammenhang zu bringen“.121 Deren Arbeiten konzentrieren sich meist auf Entwicklungen während der Stalin-Zeit und sollen nun nur für die spätsozialistische Periode vorgestellt werden. Insbesondere Alexei Yurchaks Studie Everything Was Forever, Until It Was No More (2005) über die letzte sowjetische Generation hat dazu beigetragen, das Leitparadigma der Stagnation zu überdenken. Anstatt die sowjetische Gesellschaft in Binarismen wie oppression and resistance, repression and freedom, the state and the people, official economy and second economy, official culture and counterculture, totalitarian language and

118 David-Fox 2006, S. 537. 119 Stilbildend für diesen Ansatz ist Zygmunt Baumans Studie Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (Bauman 1992). Dort heißt es in Bezug auf den modernen Charakter des Sozialismus: „Von Anfang an war und blieb der moderne Sozialismus die Gegenkultur der Moderne. […] Wie alle Gegenkulturen gehörte der moderne Sozialismus zu derselben historischen Formation wie die Gesellschaft, die er bekämpfte. […] Das eigene Programm des Sozialismus war eine Version des Projekts der Moderne“ (S. 320 f.). 120 Eisenstadt 2000, S. 2 f. 121 Plaggenborg 2006, S. 7.

Jenseits des binären Sozialismus191 counterlanguage, public self and private self, truth and lie, reality and dissimulation, morality and corruption, and so on 122

zu beschreiben, plädiert Yurchak dafür, die Binarismen des Kalten Krieges zu überwinden und den Fokus stärker auf die Handlungsdimension zu richten.123 Im Rahmen eines performative shift lenkt Yurchak die Aufmerksamkeit auf die Praktiken der Akteure, deren Teilnahme an staatlich gesteuerten Praktiken wie Wahlen, Versammlungen und Paraden nicht als Geste der Unterstützung, sondern als Generator alternativer Bedeutungen gelesen wird.124 Die jüngere soziologische Forschung hat sich einiger dieser Bedeutungsverschiebungen angenommen. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei die Entstehung einer sowjetischen Variante der Konsumgesellschaft auf sich gezogen. Natalya Charnyshova fasst zusammen: The Brezhnev period did see a limited version of capitalist consumer modernity, even without the market. Consumption became a channel through which such attributes of Western society such as individualization, privatization, commercialization, and fluency in modern technology made their way into Soviet society. Transition from a class society to other forms of social distinction and hierarchy was also closely connected to consumption practices and attitudes.125

Charnyshovas Studie ist ein gutes Beispiel dafür, wie westlich besetzte Konzepte wie das einer Konsumgesellschaft mit Modifikationen auf die spätsowjetische Zeit übertragen werden können. Konsum wurde von offiziellen Stellen propagiert, gefördert und im Stadtbild 126 sichtbar. Die Konsumpraxis der sowjetischen Staatsbürger nahm diese Anstöße auf, versah sie allerdings mit neuen Bedeutungen. Die Fülle staatlicher Kampagnen gegen nichtintendierte Konsequenzen wie 122 Yurchak 2005, S. 5. 123 Ob die Überwindung binärer Kategorien bei Yurchak gelingt, ist umstritten. So behaupten Platt und Nathans: „Yurchak is keen to dissolve what he calls the Cold War binaries that have distorted Western, and now post-Soviet, understanding of the Soviet experience. Everything Was Forever indeed makes a forceful case against the division of late Soviet culture into official and unofficial, coercive and resistant, mendacious and truth-seeking. And yet what it offers instead is an only slightly less reductive scheme in which party activists and dissidents were mirror images of one another, sharing “the same rhetorical devices”, both pathologically obsessed with the literal truth/falsehood of official discourse, and jointly serving as the “other” against which “normal” people defined themselves.“ (Platt/Nathans 2011, S. 315). 124 Vgl. Yurchak 2005, S. 27. 125 Charnyshova 2013, S. 9. 126 Man denke nur an den Bau des Neuen Arbat in Moskau und seine Inszenierung als Konsummeile, vgl. Rüthers 2007, S. 210 ff.

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ein vermeintlich überbordendes weibliches Konsumstreben 127 zeigt dabei, wie wenig dieser Prozess von oben gesteuert werden konnte. In der performativen Praxis der Sowjetbürger wurde Konsum zu einem Mittel der Distinktion im Sinne Bourdieus und spielte eine wichtige Rolle für sozioökonomische Transformationsprozesse, die nicht geplant waren. Anna Paretskaya knüpft an diese Überlegungen an, wenn sie auf der Grundlage einer Analyse sowjetischer Zeitungen und offizieller Reden behauptet, dass sich in der späten Sowjetunion ein Wandel von kollektivistischen zu postkollektivistischen Werten ausmachen lasse, der die Entstehung einer sowjetischen Mittelschicht begünstige und im Widerspruch zur offiziellen Rhetorik stehe.128 Wie lassen sich solche Einzeluntersuchungen 129 gesellschaftstheoretisch fruchtbar machen? Anscheinend steht die sowjetische Gesellschaft näher an ihrem kapitalistischen Gegenbild als gemeinhin geglaubt.130 Es lassen sich Verschiebungen ausmachen, die einen Strukturwandel der sowjetischen Öffentlichkeit signalisieren und sich stark von den bisher vorherrschenden Diagnosen von Stagnation und Zerfall unterscheiden.131 Gesellschaftstheoretisch ist die sowjetische Gesellschaft ein Hybrid zwischen Organisationssystem und Gesellschaftssystem. Diese Unterscheidung rekurriert auf Niklas Luhmann, der drei Typen frei gebildeter Sozialsysteme unterscheidet: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme.132 Interaktionssysteme bauen auf der Anwesenheit von Menschen auf, sind „fest in die sichtbare und hörbare Realität eingebettet“ 133 und die basale Form systemischer Kommunikation. Organisationssysteme stellen eine ‚evolutionäre Errungenschaft‘ dar, sie ermöglichen „längerzeitige Synchronisation auch [noch] bei hoher Komplexität“ (826). Durch die Bildung von Organisationen sind Entscheidungen über die Aktivierung von Anwesenden hinaus möglich. Die Entscheidungsfähigkeit von Organisationen ist durch ihre hierarchische Gliederung gegeben, wie sie z. B. Staaten eigen ist. Der Herrscher kann aber nicht alles entscheiden, es müssen sich folglich ab einem gewissen Komplexitätsgrad Strukturen herausbilden, die in der Lage sind, die 127 Vgl. Reis 2002, S. 220. 128 Paretskaya 2013, S. 45. 129 Die Liste wäre zu ergänzen um Lewis Siegelbaums Studie zum sowjetischen Auto ­(Siegelbaum 2008); vgl. auch die Analysen in Bulavka/Krumm 2010; Fainberg/­Kalinovsky 2016. 130 Bei Klumbyte und Sharafutdinova (2013, S. 4) heißt es: „There are many socialist realities that bring late Soviet society close to its capitalist counterparts“. 131 Vgl. Klumbyte/Sharafutdinova 2013, S. 11. 132 Grundlegend hierzu: Luhmann 1975. 133 Luhmann 1997, S. 815.

Jenseits des binären Sozialismus193

Vielzahl gesellschaftlicher Funktionen angemessen zu reflektieren und operative Logiken auszuprägen. Geschieht diese Adaption des Organisationssystems nicht, kommt dessen größte Schwäche zum Tragen, sein Reflexionsdefizit.134 Die Sowjetunion lässt sich als Organisationsgesellschaft konzeptualisieren, in der die Entwicklung funktional differenzierter Subsysteme zunächst weit­gehend blockiert ist.135 Als steuernde Organisation fungiert die kommunistische Partei, die versucht, ihre Organisationsstruktur und ihr (Herrschafts-)Programm auf alle Bereiche der Gesellschaft zu übertragen.136 In zeitlicher, sozialer und sachlicher Dimension strebt die Organisation Geschlossenheit an. Deshalb kommt es für die Bürger zu einem Inklusionszwang (beispielsweise in Form der Mitgliedschaft im kommunistischen Jugendverband) und alternative Auffassungen werden unterdrückt (Zensur).137 Die Organisationsgesellschaft erfährt nach dem Tode Stalins jedoch eine schwere Krise. Der alleinige Steuerungsanspruch der Partei kann nicht länger durchgesetzt werden, es bilden sich alternative Strukturen heraus. Gleichzeitig erfolgt eine (Teil-)Anpassung an die Funktionslogik einzelner Systeme. So kann man in einer sich entwickelnden Konsumgesellschaft nicht mehr gänzlich an der Nachfrage des Marktes vorbei produzieren. Wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalkulationen ersetzen zunehmend ideologische Projekte.138 Geht es darum, diese Veränderungen zeitlich zu lokalisieren, so müssen sie wohl früher als bisher gedacht angesetzt werden. Anna Amelinas These, der „Wandel der Organisationsgesellschaft setzt mit Beginn der politischen Reformen 1985 ein“,139 lässt sich – unter Kenntnisnahme der oben dargelegten jüngeren Forschung – in Frage stellen. Dies hat damit zu tun, dass auch im sowjetischen Fall ­Evolutionsprozesse 134 Luhmann 1975, S. 16. 135 Vorgeschlagen wurde dies im Anschluss an Detlef Pollack von Amelina (2006); zur Theorie der sowjetischen Organisationsgesellschaft vgl. außerdem Moser 2015, S. 33 – 104. Die Klassifizierung der sowjetischen Gesellschaft als Ständegesellschaft (Meier 1990) ist in deskriptiver Hinsicht zwar gewinnbringend, analytisch allerdings unbefriedigend. 136 Deutlich wird dies vor allem während der stalinistischen Herrschaftszeit, man denke etwa an die politisierte Steuerung des Wissenschaftssystems. Der Fall Trofim Lysenkos ist sicherlich das einleuchtendste Beispiel hierfür, vgl. hierzu Sojfer 1994. 137 Vgl. Amelina 2006, S. 56 ff. 138 Dies kann man z. B. an der Wohnungsbaupolitik Chruščëvs sehen, der mit dem Elitenwohnungsbau der Stalin-Jahre bricht und den Neubau von Wohnraum einer (gerade im wirtschaftlichen Sinne) rationalen Entscheidungsfindung unterordnet. Es geht nun vor allem darum, möglichst viele Wohnungen in einem möglichst kurzen Zeitraum möglichst billig zu errichten. 139 Amelina 2006, S. 61.

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Verortungen I

wirken (v. a. der technische Fortschritt),140 dass auch das sowjetische System nicht gänzlich von externen Einflüssen abgeschlossen ist 141 und somit Diskrepanzen zwischen der von außen einfließenden Information und der eigenen Selbstbeschreibung ver- und bearbeitet werden müssen. Dies erschien bereits sowjetischen Zeitgenossen im Hinblick auf die sich daraus ergebende Komplexitätssteigerung als soziologisches Problem, das ebenso wie im Westen in zunehmender Individualisierung und Ausdifferenzierung virulent wurde. So heißt es bei Vadim Kovskij: Эти процессы, связанные со вступлением социализма в фазу зрелости, сопряженные с задачами воспитания «всесторонне развитых и всесторонне подготовленных» людей, развертывающиеся в ходе осуществления научно-технической революции с его сложным и противоречивым воздействием на все сферы современной культуры, заметно усилили интерес писателей и критиков к общественному смыслу любых граней индивидуального человеческого бытия, к тому, что философы называют социологией личности.142

Folgt man der gut begründbaren Auffassung, dass die stalinistische Periode keine ausdifferenzierte Gesellschaftsform darstelle und wir es spätestens ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit ausdifferenzierten Teilsystemen zu tun hätten,143 rückt die Periode dazwischen in den Fokus. Diese kann heuristisch unterteilt werden in eine Latenzzeit 144 und eine Periode der Manifestation des Wandlungsprozesses von der Organisations- zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Der mit der Perestrojka verbundene Einschnitt kann dabei weiterhin markiert werden, 140 Vgl. zur Bedeutung des technischen Fortschritts für Prozesse sozialer Differenzierung Luhmann 1997, S. 517 – 536. 141 Wie Amelina suggeriert: „Sämtliche Information, die das ideologische, von der Partei vorgegebene Bild vom Sozialismus trübte, wurde vernichtet“ (Amelina 2006, S. 58). 142 Kovskij 1977, S. 55, Hervorhebungen im Original. „Diese Prozesse, die mit dem Eintritt des Sozialismus in seine reife Phase verbunden sind, bringen mit sich die Aufgaben der Erziehung ‚allseits entwickelter und allseits vorbereiteter‘ Menschen. Diese bilden sich im Zuge der Entfaltung der wissenschaftlich-technischen Revolution mit ihrer schwierigen und widersprüchlichen Auswirkung auf alle Sphären der gegenwärtigen Kultur heraus und haben das Interesse von Schriftstellern und Kritikern für den gesellschaftlichen Sinn der verschiedenen Facetten des individuellen menschlichen Schicksals, dem gegenüber, was die Philosophen die ‚Soziologie der Persönlichkeit‘ nennen, merklich befördert.“ 143 Dies gilt zumindest für die Bereiche der Wissenschaft, des Erziehungssystems, des Wirtschaftssystems, der Massenmedien und der Religion, weniger für das Rechtssystem und die Politik. 144 Der Begriff der Latenzzeit ist von Anselm Haverkamp für die deutsche Nachkriegszeit eingeführt worden (Haverkamp 2004). Vgl. für eine slavistische Adaption des Begriffs der Latenzzeit Kazalarska 2018, die sich der tschechischen und slowakischen Lyrik im Vorfeld des Prager Frühlings widmet.

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verliert allerdings seine grundsätzliche Qualität. An die Stelle klar lokalisierbarer Zeitpunkte tritt ein Denken in Epochenschwellen.

Abschied vom Deformationsmodell Die vorigen Ausführungen implizieren auch eine Neubetrachtung der sowjetischen Literaturgeschichte, die ähnlich zu den gesellschaftlichen Entwicklungen ebenfalls globalisiert werden können. Das literaturwissenschaftliche Pendant zur westlich dominierten Modernisierungstheorie ist das Deformationsmodell der sowjetischen Literatur. Dieser Begriff ist von Raoul Eshelman in die Debatte eingebracht worden und wird folgendermaßen definiert: „The deformation model views Soviet culture as an autarchic system that engenders a literature fundamentally different from and resisting comparison with that of the West.“ 145 Eshelman beobachtet dieses Deformationsverständnis in Klassikern zur sowjetischen Literaturgeschichte wie Katerina Clarks The Soviet Novel (1981), die der sowjetischen Literatur nur eine marginale ästhetische Funktion zuschreibt und künstlerisches Schaffen vor allem als Resultat soziopolitischer Erwägungen begreift (16). ­Gunnar Lenz hat nachgewiesen, wie Clark aufgrund dieses Literaturverständnisses zu einem Zirkelschluss in der Auswahl ihrer Werke kommt und somit – bei allen Verdiensten – ein problematisches Bild sowjetischer Literatur entwirft.146 Auch wenn wir an dieser Stelle offenlassen müssen, inwiefern insbesondere die (offizielle) stalinistische Literatur eine solitäre Stellung im Rahmen einer globalen Literaturgeschichte einnimmt, so lässt sich doch behaupten, dass von einer Sonderstellung für die nachstalinistische Literatur nur schwerlich die Rede sein kann. So spricht auch Katerina Clark von einer Entwicklung weg von einem gesteuerten hin zu einem autonomen Kulturmodell.147 Dabei gilt es zu beachten, dass die Veränderungen der Perestrojka-Zeit undenkbar sind ohne die kulturellen und kulturpolitischen Veränderungen seit den 1960er Jahren. Drastisch formuliert das Klaus Waschik, wenn er 1992 behauptet: Gerade die in den letzten fünf Jahren offen zu tage [sic!] tretenden Probleme und kulturellen Entwicklungen sind undenkbar ohne die sich seit den 60er Jahren vollziehenden Veränderungen im kulturellen Leben der UdSSR, mit denen sie auf das engste verknüpft sind und als dessen logische Konsequenz sie sich darstellen.148

145 146 147 148

Eshelman 1997, S. 14. Vgl. Lenz 2015, S. 12. Clark 1993. Waschik 1992, S. 151.

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Verortungen I

Diese Kontinuität gilt im Hinblick auf institutionelle und ästhetische Wandlungsprozesse. Institutionell vollzieht sich in jenen Jahren eine Entwicklung von einer verwalteten zur selbstverwalteten Kultur.149 Einige internationales Aufsehen erregenden Skandale wie die Bulldozer-Ausstellung 1974150 oder die unterdrückte Veröffentlichung des Almanachs Metropol’ 1979 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich unterhalb der sichtbaren Oberfläche wichtige Wandlungsprozesse vollziehen. Ebenso wie in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen lassen sich hier deutlich die Grenzen der Steuerung von oben ausmachen. Es werden tacit agreements geschlossen, die Handlungsspielräume eröffnen.151 Auch in ästhetischer Hinsicht deuten sich Wandlungsprozesse bereits vor der Perestrojka an. Eshelman arbeitet heraus, wie sich in der spätsowjetischen Literatur eine alternative Epistemologie formiert, die er in Analogie zur westlichen Entwicklung als postmodern beschreibt. Auch wenn diese Klassifizierung im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht zielführend erscheint, so ist mit dieser Einordnung doch die wichtige Forderung verbunden, zu einer ästhetischen Analyse der spätsowjetischen Literatur zurückzukehren. In Bezug auf die nichtoffizielle Literatur ist dies weitestgehend erfüllt, in Bezug auf offiziell geduldete Stimmen leider immer noch ein Desiderat. Wichtiger als die Unterteilung in nichtoffiziell und offiziell ist allerdings, epistemische Gemeinsamkeiten jenseits dieser Dichotomie herauszuarbeiten. In Bezug auf Strategien der Problematisierung der Bedingungen der Möglichkeit historischer Erkenntnis wurde dabei deutlich, dass trotz erheblicher stilistischer und sprachlicher Differenzen Gemeinsamkeiten zu Tage treten können. In diesem Sinne kann es auch ergiebig sein, transnationale und globale Gemeinsamkeiten der Entwicklung auszumachen. Dies gilt z. B. im Hinblick auf die im Unterkapitel zu Semen Lipkin entfaltete globale Rehabilitation mythischen Denkens in den 1970er Jahren.

149 So betitelt Dirk Kretzschmar die kulturpolitischen Weichenstellungen der Periode von 1970 bis 1985 (Kretzschmar 1993). 150 Vgl. hierzu Lass 2002, S.303 ff. 151 Vgl. Kretzschmar 1993. So wurden alternative Darstellungsformen toleriert, solange die Autoren die Sowjetmacht nicht direkt kritisierten. Für die Literaturgeschichte wichtig ist das von Dina Spechler im Umfeld der Literaturzeitschrift Novyj mir untersuchte Phänomen des Permitted Dissens (Spechler 1982). Ein tacit agreement im wirtschaftlichen Bereich beschreibt bspw. Millar 1985. Hier geht es um die Nichtverfolgung privater Wirtschaftstätigkeiten (u. a. private Taxiunternehmungen, Wohnungstausch).

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Zum Wandel gesellschaftlicher Funktionen von Literatur Wie lassen sich nun die gesellschaftlichen und ästhetischen Verschiebungen analytisch zusammenbringen? Hier lohnt es sich, das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik in den Blick zu nehmen, das bereits Lukács interessiert hatte. Für ihn gehen soziostrukturelle Veränderungen, z. B. die um 1800 neu entstehenden Nationalstaaten mit ihren Massenheeren, der semantischen Beschreibung voraus. Der Systemtheoretiker Urs Stäheli vertritt ebenfalls die Auffassung, dass „semantische Strukturen konstitutiv sind für Sozialstrukturen“, er bestimmt das Verhältnis allerdings flexibler. Während Lukács ein Primat der Sozialstruktur annimmt, sind bei Stäheli prinzipiell drei Verhältnisse in Bezug auf die Sozialstruktur möglich: das der ideellen Präfiguration, der Koevolution und der Nachträglichkeit. Ausgeschlossen werden aber „generalisierende Aussagen über einen stets bestehenden Anpassungsdruck der Semantik an die Sozialstruktur“.152 Interessant erscheint nun, in welchem Verhältnis die bisherigen Untersuchungsergebnisse zur sozialstrukturellen Veränderung in der Sowjetunion stehen. Mit dem Wandel der Sozialstruktur ändert sich auch die Funktion der Kunst. Übte diese zuvor vorrangig „Stützfunktion[en] für andere Funktionskreise“ 153 aus, z. B. für die Religion oder die Politik, so ändert sich dies mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung (256 – 273). Künstlerische Werke zeigen auf, dass der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ihr Reflexionszentrum abhandengekommen ist, dass es keinen Ort mehr gibt, von dem aus die Einheit der Gesellschaft konzipiert werden könnte. Man kann deshalb auch sagen, es sei die Funktion der Kunst, Welt in der Welt erscheinen zu lassen – und dies im Blick auf die Ambivalenz, daß alles Beobachtbarmachen etwas der Beobachtung entzieht, also alles Unterscheiden und Bezeichnen in der Welt die Welt auch verdeckt (241).

Die Sichtbarmachung dieser Kontingenz des eigenen Beobachterstandpunktes verweist auf die Notwendigkeit der Einnahme von Beobachtungsperspektiven zweiter Ordnung oder Metaperspektiven, die dadurch bestimmt werden können, dass sie „stets über eine höhere textlogische Ebene, eine kognitive Reflexionsebene verfügen, von der aus Phänomene der Objektebene kommentiert und/ oder beschrieben werden“.154 Diese zentrale Funktion der Kunst in funktional differenzierten Gesellschaften soll hier als Metafunktion bezeichnet werden. Im

152 Stäheli 2000, S. 332. 153 Luhmann 1995, S. 226. 154 Hauthal/Nadj/Nünning/Peters 2007, S. 4.

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Verortungen I

Untersuchungsfeld dieser Arbeit können darunter alle literarischen Verfahren subsumiert werden, die den auch aus der gesellschaftlichen Differenzierung resultierenden Kontingenzcharakter historischer Wahrheitsansprüche und Erkenntnisprozesse reflektieren. Während die Entstehung eines funktional differenzierten Kunstsystems im westeuropäischen Kontext auf die Epochenschwelle der Sattelzeit (Koselleck) datiert werden kann, kommt es in Russland im 18. und 19. Jahrhundert, wie Dirk Kretzschmar überzeugend dargelegt hat, nicht zur Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems. Dort, wo in den Theorien der ausdifferenzierten Kunst Westeuropas der Redundanzverzicht der Kunst, ihre funktionale Spezifizierung sowie die Polyperspektivität der inkommensurablen Beobachterstandpunkte der autonomen gesellschaftlichen Subsysteme reflektiert wird, finden sich in der russischen Kunsttheorie Beschreibungen der Heteronomie und Multifunktionalität der Kunst.155

Im Anschluss an Boris Groys erweitert Kretzschmar seine Diagnose einer nicht erfolgten Ausdifferenzierung im Schlussteil seiner Arbeit auch auf die russische Avantgarde und den Sozialistischen Realismus.156 Die blockierte Ausdifferenzierung verschiedener Funktionslogiken im Bereich des Historischen hat, so ließe sich im Anschluss an Kretzschmar weiterdenken, mit politischer Kontrolle zu tun, die die Entwicklung einer unabhängigen Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie, auf die Autoren zurückgreifen könnten, behindert.157 Sie hat aber auch mit einem ästhetischen Erbe zu tun, das – vor allem bei Lev Tolstoj – in seiner Betonung der Parallelität von Ästhetik und Ethik Literatur einseitig die Aufgabe moralischer Orientierung und Erziehung zuschreibt.158 Schlussendlich blockiert ein deterministisches Geschichtsverständnis die Anerkennung von Kontingenz. Diese Blockierung erfolgt sowohl durch religiöse (im dissidentischen Spektrum) wie auch durch vulgärmarxistische Vereinfachungen, die – in Abwandlung eines 155 Kretzschmar 2002, S. 357. 156 Vgl. Kretzschmar 2002, S. 381: „dass russische Avantgarde und sozialistischer Realismus […] die Tradition der nicht ausdifferenzierten, seit jeher multifunktionalen russischen Kunst fortsetzen“. In Bezug auf die Avantgarde scheint mir diese Ansicht verkürzt, da sich in dieser eine vor allem in ästhetischen Kategorien operierende Kunst und Reflexionstheorie etabliert, deren ausdifferenzierende Stoßrichtung Kretzschmar aus dem Blick gerät. Die Frage, inwiefern in der russischen Avantgarde und im Formalismus von einer ausdifferenzierten Kunst die Rede sein kann, wird hier allerdings nicht weiterverfolgt. 157 Gleichzeitig ist der Rezeptionsprozess ausländischer Werke, wenn nicht vollends blockiert, so doch zumindest eingeschränkt. 158 Vgl. Kretzschmar 2002, S. 354 ff.

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Luhmann-Zitats 159 – die Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Geschichte mit einer anderen Version derselben Geschichte verhindert. Im Spätsozialismus finden sich Ansätze zu einer Neubestimmung des Verhältnisses der Funktionssysteme, das auch die Funktion historischen Erzählens verändert. Es geht nun um die gesellschaftliche Vermittlung der Akzeptanz einer Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen. Wie wir gesehen haben, löst sich die spätsowjetische Politik sukzessive von dem Anspruch, die Gesamtgesellschaft verbindlich zu beschreiben und zu steuern. Rhetorisch wird dieser zwar weiterhin aufrechterhalten, in der politischen Wirklichkeit dominieren jedoch alternative Praktiken. Die neue Wirklichkeit löst die zwei Leitunterscheidungen der sozialistischen Organisationsgesellschaft auf: die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion und die von Kollektiv- und Privateigentum.160 Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft führt zu einer Polykontexturalität ihrer Selbstbeschreibungen. Jedes der Funktionssysteme beginnt seine jeweils eigenen Selbstbeschreibungen zu produzieren, die jedoch nicht mehr das Ganze der Gesellschaft in den Blick nehmen können.161 Damit verbunden ist das Aufkommen und die sukzessive Tolerierung alternativer Selbstbeschreibungen, die der Literatur auch im Bereich des Historischen neue Spielräume eröffnen.162 Eine erste Etappe hin zur Formierung eines polykontexturalen Selbstverständnisses ist die Zurückweisung monokontexturaler Geschichtsdarstellungen. Damit sind alle Formen des spielerischen und ironischen Blicks auf das Metanarrativ der KP dSU gemeint. Jenne Powers hat gezeigt, wie die stalinistische Matrix jenes Metanarrativs, des Kraktij kurs istorii VKP , in dieser Zeit literarisch dekonstruiert wird.163 Dies gilt aber 159 Laut Luhmann ist die Funktion der Kunst die „Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“ (Luhmann 2008a, S. 144). 160 Vgl. Moser 2015, S. 42; die Grenzen von Volks- und Privateigentum sind fließend, es entsteht eine Parallelökonomie, in der Volkseigentum als Privateigentum genutzt wird, z. B. im Angebot von gewinnorientierten Taxifahrten mit einem volkseigenen Auto, das dafür zweckentfremdet wird. Ähnliche Verschiebungen lassen sich bei Fragen der Inklusion und Exklusion ausmachen. Obgleich formal weiterhin an Vollinklusion als Leitwert festgehalten wird, entwickeln sich Exklusionsmechanismen, v. a. im Bereich der Ökonomie, durch die der Zugang zu bestimmten Gütern verwehrt wird. Alexei Yurchak hat in seinem Buch die Grenzen der Inklusion und Inkludierbarkeit in den kommunistischen Massenorganisationen umfassend herausgearbeitet. 161 Vgl. Luhmann 1995, S. 494. 162 Rogov u. a., 1998, S. 27. Als Faustregel gilt dabei: Je weiter zurück die Ereignisse liegen, desto größer wird die Toleranz. Wohl auch deshalb beschäftigen sich in dieser Zeit so viele Wissenschaftler mit der altrussischen Kultur. 163 Powers 2009.

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auch für kanonisierte Darstellungen bestimmter Geschichtsperioden, sei es des Bürgerkriegs, des Ersten Fünfjahresplans oder der revolutionären Kämpfe des 19. Jahrhunderts. Das metahistoriographische Feld der späten Sowjetunion bewegt sich, so lässt sich abschließend konstatieren, zwischen zwei Polen. Den einen Pol bilden die in den Unterkapiteln 2.1 und 2.3 besprochenen Tendenzen, aber auch das Werk eines Autors wie Solženicyn, die den monokontexturalen Geschichtsdarstellungen der Partei alternative monokontexturale Darstellungen entgegensetzen möchten. Von einem häufig religiös legitimierten Standpunkt aus wird der Anspruch einer verbindlichen Deutung der Vergangenheit aufrechterhalten. Ausgehend vom Selbstverständnis einer moralischen Überlegenheit, das in Textpraktiken des Appells seinen Ausdruck findet,164 existiert hier noch eine Wahrheit in der Geschichte. Deren literarische Beschreibung erhebt dabei den Anspruch einer Verbindlichkeit, die in andere Funktionskreise (v. a. Wissenschaft und Politik) hineinreicht. In der Mitte zwischen den beiden Polen stehen die in Unterkapitel 1.2 besprochenen Schriftsteller Vladimir Tendrjakov und Jurij Trifonov, die sich bereits von diesem Anspruch auf eine Orientierung gebende Gesamtdeutung der Vergangenheit gelöst haben, jedoch noch nicht zu einer polykontexturalen Geschichtsdeutung kommen. Beide Schriftsteller besitzen ein Sensorium dafür, was sie selbst nicht beobachten können. Dies äußert sich in einer fragmentierten Erzählstruktur, die von Leerstellen und Auslassungen geprägt ist. Der Übergriff in ein anderes Funktionssystem, z. B. in das der Wissenschaft bei Tendrjakov, scheitert. ­Grebins Programmierungsversuche enden in einer erkenntnistheoretischen Aporie, deren Ausweglosigkeit durch die moralischen Appelle des Erzählers kompensiert wird. Jenes Kompensationsangebot in Form eines Appells an gegenseitige Rücksichtnahme und Nächstenliebe und die damit verbundene Hoffnung einer auf Moral basierenden Reintegration einer zunehmend differenzierten Gesellschaft sind bei Trifonov bereits wesentlich schwächer ausgeprägt, die Rekonstruktion histo­ rischer Wahrheit schimmert jedoch noch als regulative Idee durch, wenn auch nicht mehr als realisierbare Option literarischer Praxis. Einen zweiten Pol bilden die in den Unterkapiteln 1.1, 1.3 und 2.2 besprochenen Werke. Ihre Autoren entwickeln eine eigene, literarisierte Form der Geschichtsdarstellung. Die Bedeutung geschichtswissenschaftlicher Diskurse ist hier nicht mehr – wie noch bei Trifonov – konstitutiv für die literarische Form der Geschichtsdarstellung. An die Stelle einer chronologischen Zeitordnung

164 Vgl. hierzu Witte 1989.

Jenseits des binären Sozialismus201

treten fragmentarische oder zyklische Auffassungen. Der Verweis auf Realeme dient nicht mehr der geschichtswissenschaftlichen Legitimierung, sondern wird zum konstitutiven Bestandteil eines Spiels.165 Literatur zeichnet sich hier nicht länger durch ein Evidenzprivileg aus, sondern durch die Infragestellung der Kategorie der Evidenz. Elemente des geschichtswissenschaftlichen Dispositivs wie Fußnoten, Jahreszahlen und Quellen werden aus diesem Dispositiv herausgelöst und ästhetisiert. Ihre Qualität wird dabei als radikal kontingent gedacht. Alles ist immer auch anders möglich. Literatur besitzt die Möglichkeit, Geschichte stets aufs Neue zu erzählen. Bitovs Puškinskij dom zeigt dabei exemplarisch die potentiell unendlichen Möglichkeiten der Erzählbarkeit der Vergangenheit. Hier überwiegt ein kritisch-parodistischer Impuls, der der Ausformulierung positiver sinnstiftender Gegenentwürfe skeptisch gegenübersteht. Eine Gemeinsamkeit all dieser Werke liegt jedoch darin, dass sie nicht in einem nachträglichen Verhältnis zu gesellschaftsstrukturellen Verschiebungen stehen, sondern eher in einem koevolutionären bzw. präfigurativen. Sie fungieren somit als literarische Inkubatoren und Katalysatoren alternativer Ästhetiken und Politiken, die sich schließlich mit der Perestrojka auf breiter Ebene manifestieren werden.

165 Spiel im Sinne von Witte 1989.

Die Vergegenwärtigung der Geschichte – Metahistoriographie im Interregnum

Die Versuchung, in literaturgeschichtlichen Arbeiten einzelne Jahreszahlen zu revolutionären Peripetiepunkten eines Großen Bruchs 1 zu erklären, ist groß – so auch im Fall der Perestrojka. Robert W. Davies, der wichtigste Chronist der Geschichtskultur der Perestrojka, spricht 1991 von einer geistigen Revolution, die seit dem Jahr 1986 in Gang gesetzt worden sei und zu einem ungeheuren Wandel in der Wahrnehmung von Geschichte geführt habe.2 Drei Ebenen scheinen für diese Hypothese zentral. Erstens lässt sich auf inhaltlicher Ebene eine Beschäftigung mit zuvor tabuisierten Perioden der kommunistischen Herrschaft ausmachen. Zweitens ist auf institutionelle Wandlungsprozesse zu verweisen: die Neubesetzung wichtiger Stellen in den Verbänden mit liberalen Vertretern, die Lockerung der Zensur, der Wandel des literaturkritischen Diskurses, die Demokratisierung der historischen Debatte, die sich u. a. in einem Anstieg der Leserzahlen historiographischer Werke bemerkbar macht.3 Dies leitet zur Erfahrungsebene über. Wie die auf umfangreichen Befragungen beruhenden Untersuchungen von Alexei Yurchak überzeugend gezeigt haben, werden die Reformen in der Tat als Revolution empfunden, als nicht für möglich gehaltener Bruch mit der vorherigen Herrschaftspolitik.4 Diesen gewichtigen Argumenten für eine revolutionäre Deutung der historiographischen Debattendynamik stehen einige Bedenken gegenüber. So kann nur schwer ein bestimmtes Ereignis identifiziert werden, das diese Dynamik in Gang setzte. Mit Hans Blumenberg ließe sich sagen: „Die Epochenschwelle ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden.“ 5 Ein weiteres Problem der Revolutionsthese liegt darin, dass sie vor allem vor dem Hintergrund der Auflösung der Sowjetunion 1991 wirkmächtig wird und Historiker in diesem Fall „dem Sirenengesang des rückblickenden Determinismus“ 6 erliegen. Angesichts der Auflösung des Vielvölkerstaats wurden die 1 Wie es Felix Philipp Ingold beispielsweise in einer einflussreichen Deutung für das Jahr 1913 getan hat, vgl. Ingold 2000. In ähnlicher Weise wurde jüngst das Jahr 1956 von Kathleen Smith als Wasserscheide bezeichnet, vgl. Smith 2017. 2 Vgl. Davies 1991, S. 9 3 Der zeitgenössische Beobachter Timothy Garton Ash prägte hierfür den Kunstbegriff der ‚Refolution‘ (Garton Ash 1990: 14), der Reform und Revolution miteinander verschmolz. 4 Die Geschichtswissenschaft beginnt erst langsam, den Stellenwert der Ereignisse Ende der 1980er Jahre in ein größeres Epochenbild einzuordnen. Den bislang ambitioniertesten Versuch stellt Kristina Spohrs Studie Post Wall, Post Square dar, die die Ereignisse der Jahre 1989 – 1992 zusammenfasst und als „Wendezeit“ (so der Titel der deutschen Übersetzung) konzipiert. 5 Blumenberg 1996, S. 545. 6 Judt zit. nach Gestwa 2014, S. 254.

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Die Vergegenwärtigung der Geschichte

Mitte der 1980er Jahre veröffentlichten Werke als Vorboten und Auslöser eines Desintegrationsprozesses interpretiert, der schließlich in das Ende des Kommunismus mündete. Eine solche Lesart ist anachronistisch, impliziert sie doch eine zwangsläufige Entwicklungslogik, die vielen Beobachtern in Ost und West noch Ende der 1980er Jahre undenkbar erschien. Ein weiteres Problem ist die retrospektive Klassifizierung 7 der Brežnev-Zeit als Stagnationsperiode. In Kontrast zum Stagnationsverdikt muss jede spätere Entwicklung als dynamisch, wenn auch nicht zwangsläufig als revolutionär, interpretiert werden.8 Die Einordnung der Perestrojka ist zentral für unsere Darstellung der Entwicklung metahistoriographischer Fiktion in der späten Sowjetunion. Unterwirft man sich dem Revolutionsparadigma, so erscheint ihr Aufkommen als Produkt eines historiographischen Paradigmenwechsels, einer konkreten historischen Situation, die es künstlerisch zu verarbeiten gilt. Eine solche Historisierung tendiert dazu, Metahistoriographie vor allem als Resultat der neuen literaturtheoretischen Strömungen jener Zeit zu betrachten. Sie wird dann zu einem Epiphänomen der Genese des russischen Postmodernismus vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung der Erzähltraditionen der Avantgarde, wie in den Deutungen Mark Lipoveckijs.9 Alternativ wird hier vorgeschlagen, die interessierende Zeit in doppelter Hinsicht zu bestimmen: erstens als Schlusspunkt eines längerfristigen Krisenprozesses, an dem sich bereits latent vorhandene ästhetische Tendenzen radikalisieren und diskursiv wirkmächtig werden. Während der Perestrojka bietet sich die Möglichkeit, bisher nicht publizierbare Literatur (Samizdat, Exilschriftsteller, Avantgarde u. a.) zu publizieren. Vielen Werken selbst haftet allerdings kaum etwas Revolutionäres an, gehören sie doch einer bereits überholten D ­ iskursformation 7 Wenige Zeitgenossen sprachen freilich bereits in den 1970er Jahren von Stagnation, so z. B. Valentin Turchin, Roj Medvedev und Andrej Sacharov in einem offenen Brief an die Führung der kommunistischen Partei 1970. Dort heißt es: „В течение последнего десятилетия в народном хозяйстве нашей страны стали обнаруживаться угрожающие признаки разлада и застоя“ (Medvedev, Sacharov, Turchin 2005, S. 326); „im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben sich in der Volkswirtschaft bedrohliche Anzeichen von Unstimmigkeit und Stagnation gezeigt“. 8 Vgl. hierzu Gestwa 2014, S. 284 f., Hervorhebung im Original: „Gorbačevs Zeitdiagnose problematisierte das zutiefst Prekäre der Sowjetmoderne und ermöglichte durch die Zuspitzung der Bedrohungskommunikation eine neue Beweglichkeit im politischen Denken und Handeln. Zudem ließ sich damit die Alternativlosigkeit der Reformpolitik der perestrojka begründen und vermitteln. Der Stagnationsbegriff entwarf das dichotomische Szenario von Über- oder Untergang.“ 9 Vgl. hierzu Lipovetsky 1999.

Die Vergegenwärtigung der Geschichte207

an. ­Zweitens wird vorgeschlagen, den Zeitraum zwischen 1986 und 2000 mit ­ ntonio Gramscis Begriff des Interregnums als eine Zeit des Übergangs zu A beschreiben, in der die alte Ordnung bereits vergangen, die Konturen einer neuen Ordnung aber noch nicht klar sichtbar sind. Gramsci spricht von einer „Autoritätskrise“, im Zuge derer die Bindewirkungen der Ideologie der herrschenden Klasse nachlassen, das „Neue [aber] nicht zur Welt kommen kann“.10 An die Stelle der alten Ideologie treten ein „Skeptizismus gegenüber allen allgemeinen Theorien und Formeln und [die] Hinwendung auf die rein ökonomische Tatsache“ (355). Diese Charakterisierung scheint in ihren schematischen Grundzügen auf die hier diskutierte Epoche applizierbar. Im Gegensatz zu Gramscis politischer Diagnose gilt es, diese Periode allerdings in ästhetischer Hinsicht nicht nur als Krisenphänomen zu studieren, sondern auch als Experimentierfeld und Möglichkeitsraum. Die einzelnen Aspekte sollen dabei nicht nur als Effekte früherer Perioden oder als Vorboten späterer Entwicklungen, sondern in ihrer Eigenlogik wahrgenommen werden. Eine gattungspoetische Ergänzung des gesellschaftstheoretischen Begriffs des Interregnums bietet Jurij Tynjanovs Schlagwort des promežutok (Zwischenzeit), mit dem der Formalist die Poetik der beginnenden 1920er Jahre charakterisiert, in der „es keine fertigen Gattungen gibt, weil sie langsam und anarchistisch entstehen“ 11 und die insofern dem hier interessierenden Zeitraum ähnelt. Die Literatur des Interregnums zeichnet sich durch einen historiographischen Modus der Vergegenwärtigung aus. Im Allgemeinen bezeichnet dieser Terminus einen „Vorgang, bei dem etwas zeitlich oder räumlich Entferntes, Abwesendes in die Gegenwart geholt wird“ 12. Folgt man dieser Bestimmung, so kann fast jeder Akt historiographischer Darstellung als Vergegenwärtigung verstanden werden, wodurch der Begriff seine Trennschärfe zu verlieren droht. In Abgrenzung hierzu definiere ich Vergegenwärtigung als historiographischen Modus, dessen Bezug auf die Vergangenheit primär durch den Horizont des Gegenwärtigen bestimmt wird. Er ist abzugrenzen von historistischen Betrachtungsweisen, denen es – etwa im Sinne des New Historicism – primär auf eine kontextsensible Rekonstruktion und Darstellung der jeweiligen Umstände in der Vergangenheit ankommt. Während die politische Aktivierung der Vergangenheit im Spätsozialismus gegen Erwartungen politischer Gestaltung immunisieren soll – Stichwort Stagnation –, dient die politische Aktivierung der Vergangenheit, v. a. während der Perestrojka, 10 Gramsci 1992, S. 354. 11 Tynjanov 1975, S. 489. 12 Myssok/Schwarte 2013, S. 9.

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Die Vergegenwärtigung der Geschichte

als Instrument der politischen und moralischen Gestaltung. Das In-die-Gegenwart-Holen des bislang Nichtvergegenwärtigten wird, man beachte die Chronologie der Reformvorhaben der Perestrojka, zur Bedingung der Möglichkeit der Eröffnung eines Gestaltungshorizonts. Die hier versammelten Beispiele vereint bei aller Heterogenität dieser Impuls des Vergegenwärtigens, sei es in Form des Gegenwärtigmachens bislang abwesender und marginalisierter Stimmen und Dokumente (u. a. bei Svetlana Aleksievič, Dmitrij Galkovskij, Ljudmila Ulickaja, Vladimir Šarov), sei es in Form der Konstruk­tion von zum Teil institutionell gestützten Kontinuitätsvektoren zwischen Vergangenheit und Gegenwart (Aleksandr Sokurov, Dmitrij Galkovskij u. a.). Martin Heidegger bestimmt die Akte des Vergegenwärtigens als Ekstasen der Zeitlichkeit,13 und in der Tat ist der Modus des Vergegenwärtigens in der Perestrojka ein ekstatischer, ein stetes Aus-sich-heraus-Treten, ein Potpourri von Ich-Dissoziationen, die in nahezu allen hier verhandelten Beispielen eine Rolle spielen. In der Vergegenwärtigung der Geschichte schwingt ein existentieller Ernst mit, der nicht länger durch die dem Spätsozialismus eigene reservierte Emotionalität negativer Distanzbildungen 14 (Nostalgie, Melancholie, Allegorie u. a.), sondern durch die Bereitschaft einer Mitwirkung am Gestalten und Entwerfen von Geschichten in der neuen Gegenwart gekennzeichnet ist.

13 Vgl. Schwarte 2013, S. 135. 14 Vgl. Lehmann 2012.

4.  Die Artefaktualität der Metahistoriographie Eine der Einsichten der wesentlich durch Hayden White initiierten Debatte um den narrativen Charakter der Geschichtswissenschaft ist das Einreißen der Vorstellung einer festen Grenze zwischen Fakt und Artefakt. Historisches Faktum und literarische Narration lassen sich nicht trennen, sondern durchdringen und restringieren sich wechselseitig. Auch in der Literaturwissenschaft sind im Zuge der in den 1990er Jahren einsetzenden weitreichenden Debatten um das Verhältnis von Literatur und Wissen die Räume „zwischen Fakt und Artefakt“ 1 ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Jacques Derrida hat – in einem anderen medialen Kontext, aber in ähnlicher theoretischer Stoßrichtung – als Vorschlag der begrifflichen Einholung der wechselseitigen Restringierungen beider Pole den Neologismus Artefaktualität ins Spiel gebracht: [Artefaktualität] besteht darin, daß Aktualität im strengen Sinne gemacht ist; um zu wissen, woraus sie gemacht ist, muß man zumindest erst einmal wissen, daß sie gemacht ist. Sie ist nicht gegeben, sondern wird von zahllosen künstlichen oder artifiziellen, hierar­ chisierenden oder selektierenden Dispositiven aktiv erzeugt, gesiebt, mit Bedeutung geladen und performativ gedeutet; sie steht immer im Dienste von Kräften und Interessen, die den ‚Subjekten‘ und den Agenten […] niemals hinreichend deutlich sind. Wie einzigartig, irreduzibel, eigensinnig, schmerzhaft oder tragisch die „Realität“ auch bleiben mag, auf die sich die „Aktualität“ bezieht – sie begegnet uns nur in der Art eines fiktionalen Machwerks.2

Dieser artefaktuale Charakter literarischer Historiographie ist in der Periode des Interregnums besonders umstritten 3 und verdient daher Aufmerksamkeit. Er soll an drei paradigmatischen Problemkomplexen diskutiert werden. Bei Svetlana Aleksievič äußert sich Artefaktualität als literarische Transformationsleistung dokumentarischer Interviews, die sich zwischen den Polen des chronistischen Authentizitätsanspruchs und dem literarischen Anspruch einer artifiziellen Modellierung der jeweiligen Aussagen bewegt. Im Unterkapitel zur Manuskriptfiktion dominiert die artefaktuale Spannung zwischen Manuskript und Fiktion, die in der Reflexion der Differenzen außertextueller Realität und innertextueller Literarizität sowie zwischen verschiedenen Sprecherpositionen metahistoriographisch bedeutsam wird. Im Unterkapitel zu den Fußnoten schließlich zeigt sich Artefaktualität als Konflikt verschiedener Text- und Redeformen mit jeweils 1 Lachmann 2011. 2 Derrida/Stiegler 2006, S. 13 f. 3 Vgl. hierzu auch 6.1.

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Die Artefaktualität der Metahistoriographie

distinkten Geltungsansprüchen, deren erzählerische Vermittlung und Hierarchisierung diskutiert wird. All diese Spannungsfelder bringen neue Funktionsund Geltungsansprüche des Literarischen mit sich, die im Zuge der in Kapitel 6 geschilderten Ausdifferenzierungen der Gesellschaft virulent werden.

4.1  Stimmen und Spuren des Dokuments – Metahistoriographische Transformationen bei Svetlana Aleksievič Die Versuchung, das artefaktuale Spannungsfeld dokumentarischer Prosa in Richtung eines der beiden Pole – des Fingierten/Artifiziellen oder des Faktualen – aufzulösen, ist groß. Dies gilt auch für den Fall der belarusischen Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Aleksievič, deren Werk sich allerdings einer Zuordnung in diesem Koordinatenfeld zu entziehen scheint. Eben diese Uneindeutigkeit führt zu Kritik. Sophie Pinkham bemängelt beispielsweise: „[…] by seeking to straddle both literature and history, Alexievich ultimately succeeds at neither“. Interessant ist die Formulierung: Ursache des Scheiterns ist das Verfahren selbst. Die Vermischung von Literatur und Geschichte wird hier für prinzipiell unzulässig erklärt. Pinkham wendet sich gegen die Literarisierung des Materials: „­ Alexievich treats her interviews not as fixed historical documents, but as raw material for her own artistic and political project.“ 4 Die Kritik von Iris Radisch weist in die entgegengesetzte Richtung. Ihr ist Aleksievičs Ansatz nicht literarisch genug: Literatur muss etwas Schöpferisches haben. Sie muss „fiction“, eine eigene Erfindung sein, sie muss eine besondere Sprachqualität haben, und sie muss – das ist ganz ­wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben. Das ist bei Swetlana Alexijewitsch nicht der Fall.5

Dass Radisch Aleksievič die weltverwandelnde Kraft ihrer dokumentarischen Prosa abspricht, verwundert angesichts der literaturgeschichtlichen Traditionen, in denen sich die Autorin bewegt.6 Denn in der globalen Konjunktur des Dokumentarischen nach dem Zweiten Weltkrieg steht gerade dieser Aspekt der Transformation im Zentrum. Dieses Erbe ist zentral für ein Verständnis des Schaffens der Autorin. Durch die Transformation des Materials eröffnen sich Sinnebenen 4 Pinkham 2016. 5 Radisch 2015. 6 Für einen detaillierteren Überblick vgl. meine Ausführungen in Günther 2018b.

Stimmen und Spuren des Dokuments211

jenseits des Faktualen. Sie generiert neue moralische, didaktische und religiöse Funktionspotentiale, die dem Dokument nicht a priori inhärent sind. Erstens: Dies gilt zunächst für die Debatten um dokumentarische Aufrichtigkeit, die in der Frühzeit des Tauwetters ihren Anfang nehmen. Vladimir ­Pomerancev, der mit seinem Essay Ob iskrennosti v literature (Über ­Aufrichtigkeit in der Literatur, 1953) die Konjunktur des Begriffs begründet,7 schreibt über die Verbindung von Aufrichtigkeit und Dokumentarizität: Ведь художественные документы должны чем-то отличаться от подлинных документов истории, не должны переписывать их. […] Роману не следует подменять исторические, военные, технические и прочие данные. Художественное произведение должно, как известно, отображать переживания, дела и чувства людей. […] „Документ эпохи“ не должен её документировать. Из него мы хотим не документы вычитывать, а ду шу эпохи .8

Literatur soll nicht nur Dokument sein, sondern einen Weg zum Geist der Epoche bahnen. Hierfür muss sie sich vom unbearbeiteten Dokument unterscheiden und darf es nicht bloß paraphrasieren. Interessant ist der negierende Modus der Forderungen Pomerancevs. Klar ist vor allem, was dokumentarische Literatur nicht tun soll und tun darf („ne sleduet, ne dolžen“). Mit welchen Verfahren jedoch die eingeforderte aufrichtige Abbildung der Realität geschafft werden kann, bleibt in den 1950er Jahren noch unklar. Zweitens: Radikaler als Pomerancev fasst Varlam Šalamov in seiner Konzeption der Neuen Prosa die Transformationsproblematik des Dokumentarischen. Der Stellenwert des Dokuments wird zum literarischen Formproblem: „Muss die neue Prosa ein Dokument sein? Oder kann sie mehr sein als ein Dokument?“ 9 Seine Antwort auf diese Frage fällt klar aus: „[M]an muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist. Nur muss der Autor sein Material mit der eigenen Haut erforschen“ (15).10 ­Literatur 7 Vgl. hierfür Rutten 2017, S. 75 ff. 8 Pomerancev 1953, S. 240 f., Hervorhebung im Original. „Denn künstlerische Dokumente müssen sich in irgendeiner Hinsicht von authentischen Dokumenten der Geschichte unterscheiden, dürfen diese aber nicht umschreiben. Ein Roman darf historische, militärische, technische und andere Daten nicht verändern. Ein künstlerisches Erzeugnis muss, wie bekannt ist, die Emotionen, Taten und Gefühle der Menschen abbilden. Ein Epochendokument muss diese nicht dokumentieren. Wir wollen aus ihm keine Dokumente herauslesen, sondern den G e ist d er Ep o c he.“ 9 Schalamov 2009, S. 11; „Вопрос: должна ли быть новая проза документом? Или она может быть больше чем документ.“ (Šalamov 2013b, S. 146). 10 „Нужно и можно написать рассказ, который неотличим от документа. Только автор должен исследовать свой материал собственной шкурой“ (Šalamov 2013b, S. 148).

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Die Artefaktualität der Metahistoriographie

auf Grundlage eines Dokuments ist also möglich, jedoch nur als „Prosa des lebendigen Lebens“, als vom Autor „umgewandeltes Dokument“ (23)11 denkbar. Aufrichtigkeit allein reicht nicht mehr, dokumentarische Literatur muss auch authentisch sein, ein „Dokument der Seele“ (21).12 Diese Transformation betrifft zwei Kernpunkte: die Literarisierung des Materials, das zu einer Erzählung, zur Prosa werden soll, und die Stellung des Autors, dessen persönliches Er- und Durchleben die Authentizität des Geschilderten verbürgt. Šalamov radikalisiert somit die Forderung Pomerancevs nach einem Dokumentarismus der Seele. Drittens: Auch Aleksandr Solženicyns Archipel-Projekt steht im Dienst dokumentarischer Transformation. Diese ist aus der Not heraus geboren, lässt sich doch sein Anliegen einer historiographischen Gesamtbetrachtung des Lagersystems nicht auf Dokumentenbasis verfolgen.13 Während Šalamov allein auf die persönliche Erfahrung rekurriert, um das Lager zu erzählen, überschreitet Solženicyns Dokumentarismus diese Ebene. Er reichert seine persönliche Erfahrung mit Zeugnissen anderer Opfer und mit Dokumenten an und narrativiert diese mithilfe einer auktorialen Erzählerstimme. Die Dokumente bekommen eine neue Stimme in einem neuen, eigens geschaffenen Kontext. Viertens: Eine andere Form der Transformation des Materials betreiben Daniil Granin und Ales Adamovič im Blokadnaja kniga (Das Blockadebuch, 1977/1981), das sich mit der Leningrader Blockade auseinandersetzt und ebenfalls mit den Methoden der Oral History arbeitet. Dort heißt es am Ende: Из многих свидетельств мы отбирали не только схожие, но и разные, несовпадающие, разноречивые. Мы не хотели выводить из них среднее. Среднее не значит истинное. […] Четыре Евангелия создают объемность: можно обойти со всех сторон, то есть с четырех сторон обсмотреть историю Христа. Разноречивое, многоликое повествование людей о блокаде повторяется и не повторяется, и несется дальше, и уходит в глубь страданий, испытаний.14

Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Franziska Thun-Hohenstein im Nachwort zu Die Auferweckung der Lärche (Schalamow 2011). 11 Šalamov 2013b, S. 153; „новую прозу, прозу живой жизни, которая в то же время – преображенная действительность, преображенный документ“. 12 Šalamov 2013b, S. 151; „документ души“. 13 Vgl. hierzu die Ausführungen in 5.1. 14 Adamovič/Granin 1983, S. 193; „Von den vielen Zeugnissen haben wir nicht nur gleichartige ausgewählt, sondern auch unterschiedliche, die nicht übereinstimmten, einander widersprachen. Wir wollten keinen Durchschnitt ermitteln. Der Durchschnitt ist nicht die Wahrheit. […] Die vier Evangelien bilden ein Ganzes. Man kann die Christus­ geschichte von allen Seiten betrachten, das heißt von vier Seiten. Sie ist unterschiedlich und vielschichtig, wie die Berichte der Menschen über die Blockade vielgestaltig sind,

Stimmen und Spuren des Dokuments213

Die Transformation des dokumentarischen Materials rückt hier in die Nähe zur religiösen Transfiguration. Die Form der Evangelien wird zum Vorbild für die Schilderung des Leidens unter der Blockade. Das Leiden bildet die Essenz der Erfahrung der Blockade und eröffnet in der wiederholten Erzählung eine tiefere Ebene, die über den bloßen historischen Durchschnitt hinausgeht.15

Aleksievičs Artefaktualität Svetlana Aleksievič reflektiert die Artefaktualität ihres Ansatzes primär im Hinblick auf das Verhältnis zur Geschichtswissenschaft. Ihre Äußerungen durchzieht eine Polemik gegen diese Disziplin, die sich nur für Fakten interessiere und ob dieser Beschäftigung den Menschen vergesse. Demgegenüber hebt sie ihr eigenes Werk ab: „Историю интересуют только факты […]. Я же смотрю на мир глазами гуманитария, а не историка. Удивлена человеком …“ 16 Aleksievičs Geschichtsverständnis liegt ein dualistischer Begriff der Geschichtsschreibung zugrunde, auf deren negativer Seite die klassische Geschichtsschreibung als Geschichte großer Männer und bedeutender Ereignisse steht. Deren Hauptdefizit liegt darin, den Sinn der Geschichte nicht einfangen zu können: „[…] фактов уже не хватало, тянуло заглянуть за факт, войти в смысл происходящего.“ 17 Die von Aleksievič gewählte Formulierung, den Sinn der Geschichte aufdecken zu wollen, erinnert nicht zufällig an Nikolaj Berdjaevs berühmte Abhandlung.18 Mit Berdjaev teilt Aleksievič nicht nur die Polemik gegen die Geschichtswissenschaft, sondern auch eine metaphysische Stoßrichtung.19 Die aus der Tradition idealistischer Geschichtsphilosophie bekannte und für die slavophile Tradition einschlägige Trennung zwischen negativer Geschichtswissenschaft und positiver Historiosophie erfährt ihre Vermittlung nicht durch einen dialektischen Prozess, sondern einzig in der Position der Autorin, deren

sich wiederholen und auch wieder nicht, weitergetragen werden und tief in das Leid und die Prüfungen eindringen“ (Adamowitsch/Granin 1987, S. 327). 15 Zum Einfluss der beiden Schriftsteller auf Aleksievič vgl. Weller 2018. 16 Aleksievič 2013c, S. 11; „Historiker interessieren sich nur für Fakten […]. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen …“ (Alexijewitsch 2013b, S. 13). 17 Aleksievič 2008, S. 40: „Fakten allein genügten nicht mehr, man wollte hinter die ­Fakten, schauen den Sinn des Geschehens erfassen“ (Alexijewitsch 2007, S. 41). 18 Berdjaev 1925. 19 Aleksievič zitiert Berdjaev an mehreren Stellen in ihrem Werk. Für eine Besprechung des Einflusses von Berdjaev bei Aleksievič siehe Hartsock 2015, S. 44 ff.

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persönliches Sensorium (v. a. Geschmack und Gehör) das Urteil spricht. Der Körper der Autorin wird zum Resonanzraum: Тексты, тексты. Повсюду – тексты. В квартирах и деревенских домах, на улице и в поезде … Я слушаю … Все больше превращаюсь в одно большое ухо, все время повернутое к другому человеку. Я «читаю» голос …20

Der Weltraum verwandelt sich in einen Stimmen-Raum, die von dem überdimensionalen Ohr der Autorin aufgenommen werden. Die synästhetische Formulierung des Stimmen-Lesens unterstreicht die sensorische Qualität jener Unternehmung. Hier spricht nicht mehr die Stimme eines konkreten Gesprächspartners, sondern die Stimme der Geschichte. Die Individualität des Gesprächspartners stört in dieser Unternehmung: „История – через рассказ ее незамеченного свидетеля и участника. Да, меня это интересует, это я хотела бы сделать литературой.“ 21 Hier geht es darum, Geschichte im Sinne eines Kollektivsingulars (Reinhart Koselleck) in Literatur, präziser gesagt in eine literarisierte Geschichtsphilosophie zu überführen. Die Persönlichkeit der Autorin fungiert als Richtschnur des historischen Urteils: „Искала жанр, который бы отвечал тому, как вижу мир, как устроен мой глаз, мое ухо.“ 22 Hier geht es nicht nur darum, eine Geschichte der vernachlässigten Sinne und Emotionen zu schreiben, sondern eine Geschichte mittels der eigenen Sinne zu schreiben. Diese beansprucht eine überindividuelle, potentiell totale Geltung: А история? Она – на улице … В толпе … Я верю, что в каждом из нас – кусочек истории. У одного – полстранички, у другого – две-три. Мы вместе пишем книгу времени. Каждый кричит свою правду. И надо все это расслышать, и раствориться во всем этом, и стать этим всем. И в то же время быть собой. Не исчезнуть.23

20 Aleksievič 2013b, S. 13. „Texte, Texte, Texte. Überall Texte. In Wohnungen und in Dorfhütten, auf der Straße und im Zug. Ich höre zu. Ich werde allmählich zu einem einzigen großen Ohr, das die ganze Zeit einem anderen Menschen zugewandt ist. Ich ‚lese‘ Stimmen“ (Alexiewitsch 2013a, S. 18). 21 Aleksievič 2013b, S. 15. „Geschichte, erzählt von einem von niemanden bemerkten Zeugen und Beteiligten. Ja, das interessiert mich, das würde ich gerne zu Literatur machen“ (Alexiewitsch 2013a, S. 20). 22 Aleksievič 2013b, S. 9. „Ich suchte nach einem Genre, das dem entsprechen würde, wie ich die Welt sehe, wie mein Auge und mein Ohr beschaffen sind“ (Alexijewitsch 2013a, S. 13). 23 Aleksievič 2013b, S. 16. „Und die Geschichte? Sie ist auf der Straße … in der Menge. Ich glaube, dass in jedem von uns ein Stück Geschichte steckt. Bei dem einen eine halbe Seite, bei einem anderen zwei, drei Seiten. Alle zusammen schreiben wir am Buch der Zeit. Jeder schreit seine Wahrheit heraus. Und man muss das alles hören, darin aufgehen und das alles werden“ (Alexijewitsch 2013a, S. 21).

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Das Erzählen von Geschichte wird so zu einem metaphysischen Unternehmen. Wie wir später noch sehen werden, ist es die Aufgabe der Literatur, die Spuren ihrer ursprünglichen historischen Einheit aufzuspüren und wieder lesbar zu machen. Am Schluss steht das Ziel, die Totalität der Welt semantisch wieder einzuholen. In der Formulierung „Мы вместе пишем книгу времени“ klingt die Einheitssemantik des Weltbuchs, eine der absoluten Metaphern der Totalität,24 an. Aleksievič folgt einer historiosophischen Tradition, die platonistisch zwischen einem „realen Menschen in seiner Zeit – und eine[m] zweiten, ewigen Menschen“ unterscheidet.25 Die Autorin möchte mehr als bloße Geschichte schreiben: „Но я бы не хотела, чтобы о моей книге сказали: ее герои реальны, и не более того. Это, мол, история. Всего лишь история.“ 26 In konsequenter Fortführung der slavophilen Tradition des 19. Jahrhunderts, insbesondere Dostoevskijs, interessiert Geschichte dabei vor allem unter einem Blickwinkel – als Manifestation des Leidens: „Думаю о страдании как высшей форме информации, имеющей прямую связь с тайной. С таинством жизни. Вся русская литература об этом.“ (20)27 All ihre Bücher handeln von Leidensgeschichte(n), in der die „höchste Form der Information“ verschlossen ist – eine Information, die der traditionellen Geschichtsschreibung prinzipiell verschlossen ist. Um diese Informationen zu humanisieren, muss Geschichte transformiert werden.

Die Transformation der Stimmen Eine wesentliche Trennung der manichäischen Geschichtsauffassung Aleksievičs ist die zwischen totem Dokument und lebendiger Stimme. Für die Autorin gilt: „Dokumente sind lebende Wesen“,28 die erweckt werden müssen; eine Sichtweise, die ebenfalls im oben angeklungenen modernisierungskritischen Umfeld angesiedelt ist:

24 Vgl. hierzu Hans Blumenbergs Die Lesbarkeit der Welt (Blumenberg 1981). 25 Beyer/Rapp 2015, S. 127 f. 26 Aleksievič 2013b, S. 15. „Ich möchte nicht, dass es über mein Buch heißt: Ihre Helden sind real und mehr nicht. Das sei Geschichte. Nicht mehr als Geschichte“ (Alexijewitsch 2013a, S. 20). 27 „Ich betrachte das Leiden als höchste Form der Information, die direkt mit dem Myste­ rium zusammenhängt. Mit dem Mysterium des Lebens. Die ganze russische Literatur handelt davon“ (25). 28 Alexijewitsch 2014, S. 19; „Документы – живые существа“ (Aleksievič 2013b, S. 14).

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Der Kampf gegen den toten Buchstaben gehört in den großen Zusammenhang der Reaktionen auf den Modernisierungsprozeß. Die Mystifizierung der Stimme, die Beschwörung des Natürlichen gegen das Abstrakte, die Ausspielung der Seele gegen die Logik: All dies konnte im gedruckten Buchstaben seine symbolische Verdichtung finden.29

Das wesentliche künstlerische Verfahren von Aleksievičs Projekt der Aufer­ weckung der Stimmen 30 ist die Montage. Den sorgfältig komponierten Büchern geht es stets um eine Vermittlung verschiedener Ebenen: zwischen individuellem Monolog und kollektivem Chor, zwischen Emotion und Information, Einzelschicksal und geschichtswissenschaftlichem Ereignis. Das Ziel dieser Vermittlungen liegt in der Eröffnung einer über den Text hinaus verweisenden Dimension, deren Leitprinzip mit dem Terminus Emergenz bezeichnet werden kann. Insbesondere Wolfgang Iser hat in seinem Spätwerk Emergenz als zentrales Element literarischer Wirkungsästhetik untersucht. Er negiert die Möglichkeit einer mimetischen Repräsentation der Wirklichkeit und bestimmt Nachahmung als eine Form der Ausstattung dessen, was vorgegeben ist, da diese Vorgegebenheit ohne eine solche Ausstattung unzugänglich wäre. Verursacht wird eine solche dem Mimesiskonzept entspringende Emergenz durch den Diskurs, der die Gegenstandsbeschreibung mit der Legitimationsnotwendigkeit zusammenschließt.31

Nimmt man Aleksievičs Selbstaussage ernst, wonach es ihr Hauptanliegen sei, „die Geschichte auf den Menschen herunterzubrechen“,32 so stellt sich die Frage nach den literarischen Verfahren, mit denen sie diese Umsetzung bewerkstelligt. Aus der Durchsicht des Interviewmaterials können zwei wesentliche Strategien extrapoliert werden, die für die Poetik der Montage als Emergenz zentral sind. Diese Strategien sind in all ihren Hauptwerken ähnlich und sollen hier vor allem an Aleksievičs Černobyl’-Buch dargelegt werden. Obwohl die meisten Interviews als Monologe überschrieben sind und die Autorin – mit Ausnahme von Vremja sekond-chėnd – nicht im Text vernehmbar ist, herrscht in ihren Werken oft eine Atmosphäre der Dialogizität. Viele der

29 Göttert 2002, S. 109, Hervorhebung im Original. 30 Die Idee der Auferweckung der Stimmen erinnert im russischen Kontext an Viktor Šklovskij und seinen frühen Aufsatz Voskrešenie slova (Die Auferweckung des Wortes, 1914). 31 Iser 2013, S. 108. Iser beharrt auf dem fingierten Charakter literarischer Mimesis: „Der Gegenstand erscheint als ein zurechtgemachter, obgleich er nicht für einen solchen gehalten werden soll, um seine Überzeugungskraft für den gesetzten Zweck nicht zu verlieren“ (110). Diese Aussage lässt sich auch auf das Werk Aleksievičs übertragen. 32 Alexijewitsch 2014, S. 27; „С отчаянием занимаюсь (от книги к книге) одной и той же работой – уменьшаю историю до человека“ (Aleksievič 2013a, S. 23).

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Gesprächspartner wenden sich zu Beginn direkt an die Autorin und beginnen ihre Ausführungen mit einer Frage: „О чем я молюсь? Спросите меня: о чем я молюсь?“ 33, „Вам нужны факты, подробности тех дней? Или моя история?“ 34, „У меня тоже есть вопрос … Сам я ответить на него не могу … “ 35 Es ist nahezu sicher, dass diese Fragen Narrativierungen durch die Autorin darstellen, die im Gespräch zwar gefallen sein mögen, jedoch bewusst an den Beginn des Gesprächs gesetzt werden.36 Alle Einzelkapitel gehen in ihrer Komposition über eine bloße Summierung der Einzelstimmen hinaus. Die Einbindung des Lesers geschieht vor allem in den sprachlich und semantisch sehr prägnanten Eingangssätzen, in denen Schlüsselwörter (moljus’, fakty, vopros) genannt werden, die auf Hauptmotive der Gesprächspartner sowie auf die von Aleksievič in ihren einführenden Vorworten selbst gesetzten Schlüsselkonzepte verweisen. Aleksievič arbeitet leitmotivisch, indirekt durch die Collagierung der Einzelaussagen, direkt durch die in den Überschriften platzierten Themen (u. a. Erde, Opfer, Symbol, Stimme, Macht …). Die Frageform bindet außerdem den Leser bereits zu Beginn in die Erzählung ein. Mit Formulierungen wie „Сам я ответить на него не могу“ wird nicht nur die Autorin angesprochen, sondern auch der Leser. Wie gleichberechtigt die Stimmen auftreten, ist eine kontroverse Frage. Aleksievič suggeriert selbst eine gewisse Hierarchisierung, beispielsweise in der oben bereits angeführten Äußerung: „Я верю, что в каждом из нас – кусочек истории. У одного – полстранички, у другого – две-три.“ Im Černobyl’Buch kann – neben einer in allen Werken vernehmbaren Privilegierung der Autorenstimme, die die Texte einleitet und häufig abschließt, die eigene Aussage dabei jedoch in die Zeugnisse ihrer Gesprächspartnerinnen einreiht – von einer Privilegierung kollektiver Äußerungen gesprochen werden. Jedes der drei Kapitel endet mit dem Auftritt eines Chors, in welchem zwar personalisierte Individuen aufgeführt werden, allerdings nicht einzelnen Aussagen zugeordnet werden. Die einzelnen Monologe summieren sich hier zur Stimme der Soldaten, des Volks und der Kinder. Individuelle Äußerungen gehen in einer für die Perestrojka-Zeit typischen und an orthodoxe Praktiken erinnernden 33 Aleksievič 2008, S. 147. „Worum ich bete? Sie werden mich fragen, worum ich bete?“ (Alexijewitsch 2007, S. 136) 34 Aleksievič 2008, S. 302. „Brauchen Sie Einzelheiten von damals? Oder wollen Sie meine Geschichte hören?“ (231) 35 Aleksievič 2008, S. 52; „Ich habe auch eine Frage … Selber kann ich keine Antwort auf sie finden …“ (Der Satz fehlt in der deutschen Übersetzung). 36 Vgl. für diese These die sehr überzeugenden Ausführungen bei Lindbladh 2018, die zeigt, wie stark die Autorin im Laufe der Zeit gerade die Anfangssequenzen ihrer Monologe bearbeitet und literarisiert hat.

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kollektiven Litanei auf.37 Dialogizität entsteht hier auf drei Ebenen: zwischen den einzelnen Stimmen im Text selbst, zwischen der Autorin und den Stimmen ihrer Gesprächspartner sowie zwischen den Gesprächspartnern, der Autorin und dem Leser. Diese Form der Komposition könnte man als autororchestrierte Emergenz beschreiben, der es darum geht, die Summe des Einzelleidens in ein kollektives Bild des „ewigen Menschen“ zu transformieren. Diese Unterscheidung hat die Autorin in einem Interview selbst vorgenommen: „Es geht um den Geschmack fürs Metaphysische. Ich glaube das auch. Ich sehe einen realen Menschen in seiner Zeit – und einen zweiten, ewigen Menschen.“ 38 Aleksievič bringt neben dem ewigen Menschen noch einen zweiten Kollektivtypus zum Sprechen: den sowjetischen Menschen. Das Ziel, eine Chronik des roten Menschen oder sowjetischen Menschen zu schreiben, hat sie in mehreren Äußerungen selbst verlautbart: „Meine Bücher gehören zusammen. Sie ergeben eine Chronik der roten Seele, eine Geschichte des utopischen Menschen.“ 39 Klaus Gestwa hat darauf hingewiesen, wie dieser Anspruch mit dem auf die Emotionen des einzelnen Individuums abzielenden Ansatz der Autorin in Konflikt gerät.40 Steht der Homo sovieticus als regulative anthropologische Idee hinter der Sammlung der Stimmen, so ist dies nicht nur im Hinblick auf die Entindividualisierung der Gesprächspartner bedenklich, sondern auch im Hinblick auf ein eventuell voreingenommenes Zuhören und Sammeln der Stimmen. Die Transformation des Gesprächsmaterials wäre in diesem Fall bereits vor dem eigentlichen Schreibakt angelegt. Eine wesentliche Ursache für die Suggestionskraft der Prosa Aleksievičs liegt in ihrer basisemotionalen Grundierung. Aleksievič versteht Emotionen in einer geschlechtlich essentialisierten Weise.41 So heißt es in einer besonders drastischen Kontrastierung: „Мужчины прячутся за историю, за факты, война их захватывает, как действие и противостояние идей, различных интересов, а женщины встают из чувства.“ 42 Aus den von Aleksievič bearbeiteten Sujets sowie ihren oben zitierten Selbstzeugnissen ergibt sich ein Vorrang von Gefühlsäußerungen des Leidens und der Angst. Jene Emotionen werden von der Autorin explizit 37 Vgl. für die Bedeutung der Litanei während der Perestrojka Ries 1997, v. a. S. 83 – 125. Zur Gattung der Totenklage bei Aleksievič vgl. Karpusheva 2017. 38 Beyer/Rapp 2015, S. 130. 39 Beyer/Rapp 2015, S. 127 f. 40 Vgl. Gestwa 2018, S. 79 ff. 41 Vgl. hierzu auch Artwinska 2013. 42 Aleksievič 2013b, S. 17. „Männer verstecken sich hinter der Geschichte, hinter Fakten; der Krieg fasziniert sie als Ereignis und als Kampf der Ideen und Interessen. Frauen dagegen sind von Gefühlen beherrscht“ (Alexijewitsch 2013a, S. 22).

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von einer Literarisierung ausgenommen: „Понимаю, что плач и крик нельзя подвергать обработке, иначе главным будет не плач и не крик, а обработка. Вместо жизни останется литература.“ 43 Hierbei ist weniger interessant, ob ihr diese Ausklammerung literarisch gelingt, sondern vielmehr, dass diese Emotionen für die Autorin eine historiographische Authentizität höherer Ordnung darstellen. Weinen und Schreien sind gleichbedeutend mit dem Leben selbst und damit getrennt von einer – historiographisch stets defizitären – Literarisierung des Vergangenen. Diese Emotionen nehmen die Lebenssemantik des oben zitierten „lebendigen Dokuments“ wieder auf und repräsentieren die Sehnsucht der Autorin nach einer medial nicht verzerrten, direkt aus dem Leben schöpfenden Geschichte. Aleksievič verkennt hierbei sowohl den durch ihre Präsenz als Interviewerin ausgeübten Einfluss auf die Konstruktion von Erinnerung bei ihren Gesprächspartnern 44 als auch die Tatsache, „dass historische Emotionen nie anders als medial ‚greifbar‘ werden“.45 Rezeptionsästhetisch ist allerdings nicht zu unterschätzen, dass mit dem emotionalen Fokus beim Leser eine Authentizitätsfiktion erzeugt wird, deren Suggestionskraft wirkt und durch die Akkumulation ähnlich lautender Selbstzeugnisse noch verstärkt wird. Man könnte hier von einer Emergenz durch emotionale Ansteckung 46 sprechen. Diese folgt primär nicht der moralischen Appellstruktur, wie sie aus den Textpraktiken des Spätsozialismus bekannt ist, und auch nicht der von Tolstoj theoretisierten „Ansteckungskraft (zaraženie, zarazitel’nost’) […,] eine[r] ethisch-moralische[n] Regung, die das Urteil über die Wahrhaftigkeit von Kunst fällt und zugleich ein Urteilen ist bzw. den Vorgang des Urteilens impliziert“.47 Bei Aleksievič geht es nicht um ein ethisches Urteil, sondern um eine Ansteckung, in der das individuell erfahrene Leid eine als traumatisierten Kollektivkörper imaginierte Gesellschaft zum Eingeständnis dieses Zustands aktivieren soll – Literatur als Traumatherapie. Innerhalb des Paradigmas der Transformation könnte man hier von einer therapeutischen Transformation sprechen. Diese literarische Traumatherapie schlägt allerdings einen ganz anderen Weg ein als die von Ėtkind herausgearbeiteten magisch-historizistischen Kompensationsstrategien. Dieser behauptet:

43 Aleksievič 2013b, S. 19. „Ich weiß, Weinen und Schreien darf man nicht bearbeiten, sonst wird die Bearbeitung wichtiger als das Weinen und Schreien. Dann bleibt statt Leben Literatur“ (Alexijewitsch 2013a, S. 24). 44 Ein Gemeinplatz jeder Reflexion einer Interviewsituation, vgl. hierzu auch Artwinska 2013, S. 165. 45 Eming 2006, S. 3. 46 Vgl. zum Begriff der Ansteckung Fischer-Lichte/Schaub/Suthor 2005. 47 Vgl. hierfür Sasse 2005, S. 277.

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The uncanny scenery of post-Soviet literature signals the failure of other, more conventional ways of understanding social reality. It is not the pointed clarity of social and cultural criticism that attracts readers, but the inexhaustible fantasy of creators of alternative pasts.48

Aleksievičs Werk entwirft eine alternative Schreibstrategie für den Umgang mit dem kollektiven Trauma. Hier gibt es keine magischen Übersprungshandlungen, sondern nur das – auch für den Leser qualvolle – Auserzählen des Traumas samt aller schockierenden Einzelheiten. Das tote Dokument gehört zur Sphäre der klassischen Geschichtsschreibung. Dieser ist das zum Leben auferweckte vermenschlichte Dokument entgegengesetzt. Geschichtsschreibung wird bei Aleksievič zum Erweckungsprozess, die religiöse Semantik der Verwandlung und der Auferstehung ist kein Zufall, sondern im metaphysischen Programm ihrer Prosa fundiert. Geschichtsschreibung wird dabei als Spiralbewegung gedacht. Sie findet ihren Ausgang in einer als defizitär empfundenen traditionellen geschichtswissenschaftlichen Synthese. Jene Synthese wird von Aleksievič aufgebrochen und in Einzelstimmen zerlegt. Die Einzelstimmen treten dabei nicht als vereinzelte Stimmen auf, sondern sind über Leitmotive miteinander verbunden. Ziel der Aufsplitterung ist eine Resynthetisierung des durch die bislang ausgeklammerte Geschichte der (weiblichen) Emotion angereicherten Materials, die über die Aktivierung des Lesers erreicht werden soll.

Die Transformation der Spuren Versucht man Aleksievičs historiographische Methode zu bestimmen, so lohnt es sich, ihre Selbstcharakterisierung als „Historikerin des Spurlosen“ ernst zu nehmen. Diese Selbstbeschreibung ist eines der wenigen Momente, in denen sie affirmativ ihre Arbeit an die des Historikers anschließt: Может быть, то что я делаю, похоже на работу историка, но я историк бесследного. Что происходит с большими событиями? Они перекочевывают в историю, а вот маленькие, но главные для маленького человека, исчезают бесследно.49

Von der Spurlosigkeit ausgehend denkt Aleksievič auch den Gegenstand ihrer historiographischen Unternehmungen: „Я же занимаюсь тем, что назвала бы пропущенной историей, бесследными следами нашего пребывания на земле 48 Etkind 2009, S. 657. 49 Aleksievič 2013a, S. 23. „Vielleicht ähnelt das, was ich tue, der Arbeit eines Historikers, aber ich bin eine Historikerin des Spurlosen. Was geschieht mit großen Ereignissen? Sie gehen in die Geschichte ein, die kleinen aber, die jedoch für den kleinen Menschen die wichtigsten sind, verschwinden spurlos“ (Alexijewitsch 2014, S. 26 f.).

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и во времени.“ 50 Inwiefern kann das Weggelassene zur Existenz gebracht werden? Das Vorhaben mutet paradox an, wenn es gilt, spurlose Spuren sichtbar zu machen. Die methodengeleitete Dokumentanalyse wird hier beendet und ersetzt durch die „Kunst des intelligenten Vermutens“.51 Carlo Ginzburg hat versucht, das Spurenlesen als historiographisches Paradigma zu umreißen und dieses dem galileischen Wissenschaftsparadigma gegenübergestellt. Das Spurenlesen bezeichnet Ginzburg als „Indizienparadigma“, ­dessen „Gegenstand im Studium individueller Fälle, Situationen und Dokumente [besteht], gerade weil sie individuell seien, und aus eben diesem Grund bringt es Ergebnisse hervor, die einen irreduzibel spekulativen Charakter haben“.52 Dieser Charakter unterscheidet das Spurenlesen von der galileischen Paradigmatik, die auf eine Quantifizierbarkeit und Wiederholbarkeit der Ergebnisse abzielt. Im Falle des Indizienparadigmas findet eine Akzentverschiebung auf zwei Ebenen statt. Auf der Ebene der Objektwahl rücken das Außergewöhnliche und das Individuelle in den Fokus, die sich abseits der „großen Ereignisse“ realisiert haben. Auf der Ebene der Methodik verlangt das Spurenlesen einen anderen Typus des Historikers. Der Spurenleser benötigt Spürsinn, muss in der Lage sein, sich auf den spezifischen Charakter seines Objekts einzulassen und Mut zum spekulativen Denken aufbringen. Das Zusammenfallen beider Ebenen konstituiert eine historiographische Operation sui generis. Die Spur ist keine gegebene Quelle, sondern Resultat einer Konstruktion: „Etwas ist nicht Spur, sondern wird als Spur gelesen.“ 53 Sybille Krämer hat den Akt des Spurenlesens als dialogischen Akt charakterisiert und behauptet: „Spuren sind […] der Ort, an dem stumme Dinge durch unseren Spürsinn ‚zum Reden gebracht werden‘“ (19). Das Paradigma des Spurenlesens ist somit Resultat einer Transformation, in der das stumme Ding bzw. die stumme Person als historischer Aktant erweckt wird. Was ist die Funktion der Rhetorik der Spurlosigkeit bei Aleksievič? Die von der Autorin fokussierten Ereignisse evozieren einen anderen Status der Spurlosigkeit als die von Ginzburg erzählten Episoden und Ereignisse. Der Afghanistankrieg und die Reaktorkatastrophe haben eine ganze Reihe von Spuren hinterlassen, seien sie materieller oder schriftlicher Natur, ihre Rekonstruktion 50 Aleksievič 2008, S. 37 f. „Mich aber beschäftigt das, was ich weggelassene Geschichte nennen würde, die spurlosen Spuren unseres Aufenthalts auf der Erde und in der Zeit.“ (Alexijewitsch 2007, S. 39). 51 Spitznagel zit. nach Krämer 2007, S. 21. 52 Ginzburg 2007, S. 257. 53 Krämer 2007, S. 16, Hervorhebung im Original.

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bedarf keines spekulativen Spürsinns. Die Chronologie dieser Ereignisse ist – zumindest nach der Öffnung der Archive und der Liberalisierung des öffentlichen Diskurses seit der Perestrojka – ebenso bekannt. Die Ereignisse fehlen in keinem der Geschichtsbücher zur spätsowjetischen Epoche. Aleksievič ist insofern Historikerin des Spurlosen, als die von ihr ge- und versammelten Stimmen vor ihren Buchprojekten lediglich im Modus historiographischer Potentialität existieren. Im historiographischen Diskurs haben sie kaum Spuren hinterlassen bzw. wurden diese Spuren bewusst übersehen und/oder ausgeklammert. Diese Ausklammerung liegt nicht nur an politischen Präferenzen, sondern auch maßgeblich daran, dass kein historiographischer Modus etabliert ist, durch den man sich mit den von Aleksievič fokussierten Erfahrungen auseinandersetzen könnte. Das bis dato Ungesagte bleibt auch ungesagt, weil es keine Darstellungsformen gibt, mit denen es sich zum Sprechen bringen ließe. Die Suche nach Darstellungsformen des Unsagbaren führt in der Literatur des 20. Jahrhunderts zum Versuch einer poetischen Einholung des prinzipiell Unsagbaren durch eine Semantik des Bezeugens. Renate Lachmann hat diese Entwicklung analysiert und mit Verweis auf Michail Bachtin darauf hingewiesen, dass im Zuge dieser Suche das Romangenre durch eine Montage von Dokumenten substituiert werde. Für Lachmann ist dies ein Verfahren, um „sprachlos […] vor dem Realen“ 54 zu werden. Die eigene Erfahrung – das Unbeschreibliche der Lager – lässt sich nicht sprachlich einholen, die Realität muss selbst ins Wort gesetzt werden.55 Diesem Impetus ist das dokumentarische Projekt Šalamovs verpflichtet, der behauptet, dass nur das Selbst-Bezeugbare die Möglichkeit der Erzählbarkeit der katastrophischen Vergangenheit bereitstelle. Diesem Ansatz scheint auf den ersten Blick auch Aleksievič zu folgen, deren Reklamation des eigenen, persönlichen Zeugenstatus in den meisten ihrer Bücher von erheblicher Bedeutung ist. Für ihr Afghanistanbuch fährt sie an den Schauplatz der Kriegshandlungen, weil offensichtlich nur das eigene Sehen und Bezeugen die Bedeutsamkeiten der späteren gesammelten Zeugnisse verstehbar macht. Der Černobyl’-Text beginnt in seiner dritten Eröffnungssequenz mit den Worten: „Я – свидетель Чернобыля … Самого главного события двадцатого века.“ 56 Semantiken des Bezeugens spielen sowohl bei Aleksievič als auch bei ihren Gesprächspartnern eine wichtige Rolle. Die einzelnen Stimmen in den Texten suggerieren das Bezeugen individuell er- und durchlebter 54 Lachmann 2011, S. 114. 55 Vgl. Lachmann 2011, S. 98. 56 Aleksievič 2008, S. 37. „Ich bin eine Zeugin von Tschernobyl… Des wichtigsten Ereignisses des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Alexijewitsch 2015, S. 39).

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Erfahrung, maskieren hierbei jedoch ihren Status sekundärer Zeugenschaft. Die einzelnen Vergegenwärtigungen treten dem Rezipienten stets gefiltert als bewusste Bearbeitung bzw. Collagierung des Materials durch die Autorin entgegen. Sie repräsentieren Strategien der evidentia, rhetorische Kunstgriffe, um den Rezipienten das Geschehen „unmittelbar, quasi als Zeuge, erleben“ 57 zu lassen. Diese Kunstgriffe sind notwendig, damit „Zeugnis von dem [abgelegt werden kann], was uns unsichtbar und entzogen bleibt“.58 Das Erlebnis der Situation steht dabei über den konkret kommunizierten Inhalten. Aleksievič nimmt die Zeugnisse ihrer Gesprächspartner zwar auf Tonband auf, überspielt diese Tonbänder jedoch zum Teil laut eigenen Angaben später und bearbeitet sie, wie bereits konstatiert wurde, stark. In den publizierten Werken finden sich nur Spuren-Elemente des Aufgezeichneten. Die Transformation der historischen Spuren findet somit in zwei Schritten statt. Der erste Schritt ist das Spuren-zum-Sprechen-Bringen. Aleksievič aktiviert bei ihren Gesprächspartnern eine Erinnerung an die Ereignisse. Die Spuren der Vergangenheit werden dabei im Moment des Erinnerns konstruiert. Konstruktion darf hier nicht im Sinne von Erfinden verstanden werden, sondern muss gedacht werden als Kontextualisierungsleistung, die ein Erinnerungsgebäude baut bzw. konstruiert, in dem Elemente persönlicher Erfahrung in einem narrativen Rahmen vergegenwärtigt werden. Diesem Schritt nachgeordnet ist der zweite Schritt des Spuren-zum-Schreiben-Bringens. Aleksievič unterstreicht typographisch durch Auslassungszeichen den Spurencharakter des Bezeugten. Es geht um gebrochene Zeugnisse, deren Zusammenhang fragil ist. Der Spurencharakter des Bezeugten zeigt sich „nicht nur im Sinne ihres unbewussten Hinterlassenwerdens, sondern auch, weil erst Spurenleser aus Dingen und Markierungen Spuren hervorgehen lassen“.59 Die Autorin selbst legt Spuren und symbolische Markierungen, die die Gesprächspartner so nicht intendiert haben. So ergibt sich beispielsweise im Kontext des gesamten Černobyl’-Buches durch die Art der Collagierung der Aussagen ein Leitmotiv des neuen Sehens auf das Verhältnis von Mensch und Tier, das sich in den einzelnen Zeugnissen in dieser symbolischen Prägnanz so nicht findet.60 Diese Transformationen gilt es zu berücksichtigen, möchte man über den Zeugnischarakter des Geschilderten reflektieren. Mit Cornelius Holtorf lässt sich konstatieren: 57 58 59 60

Frank/Schahadat 2012, S. 7. Krämer 2007, S. 19. Krämer 2007, S. 18. Vgl. hierfür Zink 2018, S. 204 – 206.

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Das Spurenlesen erscheint […] als eine Kulturtechnik, die nicht erst etwas Verborgenes enthüllen muss, sondern schon und gerade in ihrer Praktizierung Wesentliches und Interessantes […] ausdrückt. Es ist eine Technik, deren wichtigstes Ergebnis in ihr selbst besteht und die Erkenntnisse vor allem über den Spurenleser und dessen eigene Situation verspricht.61

Das Funktionspotential der Spurmetaphorik zeigt sich noch in einem zweiten Kontext. Sybille Krämer behauptet, dass sich „im Spurenlesen […] die Immanenz als Bedingung von Transzendenz“ erweise.62 Diese Formulierung mutet auf den ersten Blick kryptisch an, muss jedoch im Rahmen einer insbesondere im 20. Jahrhundert wieder angeeigneten „Metaphysik der Spur“ gelesen werden. In der neuplatonischen Tradition bezieht sich die Spur auf das Göttliche und weist der Erkenntnis den Weg.63 Diese positive Deutung der Spur als Emanation des Göttlichen schlägt in der Philosophie des 20. Jahrhunderts in negative Theologie um. Bei Martin Heidegger bezeugt die Spur die Abwesenheit des Göttlichen, bei Emmanuel Levinas markiert sie die „Grenzen der Interpretier- und Verstehbarkeit des Anderen“ (24). Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass eine Spur nie textimmanent zu begreifen sei, sondern immer auf ein schon Verschwundenes rekurriere. Die Spur des Seins könne nicht zum Erscheinen gebracht werden, sondern höchstens mittels einer Vermittlung angedeutet werden.64 Insbesondere in der bedrohlichen Unsichtbarkeit der Nuklearkatastrophe in Černobyl’ erreicht Spurlosigkeit bei Aleksievič eine metaphysische Dimension. Sie wird zum Signum des Mysteriösen: „Чернобыль – это тайна, которую нам еще предстоит разгадать. Непрочтенный знак.“ 65 Černobyl’ ist ein Zeichen, das noch nicht zu Ende gelesen wurde („nepročtennyj“) und sich der systematischen Lesbarkeit wohl prinzipiell entzieht, deshalb die Verwendung des Verbs „разгадать“ (enträtseln). Das Literarische gerät hier an seine Grenzen. Angedeutet wird in Aleksievičs Buch, dass dieses Zeichen nicht gelesen, sondern gehört werden muss im Sinne eines Sichöffnens für die Musikalität des Materials. Nicht zufällig rekurriert die Autorin häufig in Interviews auf Semantiken des Musikalischen und stellt ans Ende der einzelnen Komplexe des Buches einen Chor, der die Erfahrung gesanglich-stimmlich bewältigt. Die Spuren des Ereignisses muss man also spüren, um sie zu verstehen. 61 62 63 64 65

Holtorf 2007, S. 350. Krämer 2007, S. 19. Vgl. Krämer 2007, S. 24. Vgl. Derrida 1990, S. 108 f. Aleksievič 2008, S. 39. „Tschernobyl ist ein Mysterium, das wir erst entschlüsseln müssen. Ein noch ungedeutetes Zeichen“ (Alexijewitsch 2007, S. 40 f.).

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4.2  Aus zweiter Hand – Manuskriptfiktion und Metahistoriographie Die Bedeutsamkeit der Manuskriptfiktion für eine Untersuchung historiographischer Artefaktualität zeigt sich bereits im Begriff. Das Manuskript verspricht „Präsenz und Authentizität“,66 während Fiktion auf die Gemachtheit des Erzeugnisses hindeutet. Ersteres verweist auf die außerliterarische Welt, Letzteres auf die Literarizität des Werks. Das Kompositum Manuskriptfiktion negiert eine scharfe Trennung dieser beiden Sphären. Einerseits steht das Manuskript außerhalb des Textes, ist nicht Teil der Geschichte und wird von der Erzählung durch den ihm zugewiesenen Ort getrennt, in der Regel das Vorwort. Andererseits ist es vom Text nicht zu trennen, der ja den Inhalt des Manuskripts zum Gegenstand hat. Einen weiteren Blick auf diese Spannung gibt eine Theorie frei, die die Diffe­ renz zwischen Buch und Buch-Außerhalb ins Feld der Aufmerksamkeit rückt. Folgt man Jacques Derridas Analyse von Vorreden und Vorworten, so enthüllt sich im Buch-Außerhalb die Literatur als Paradox: als Ganzes und außerhalb des Ganzen zugleich, als „Subtraktion ohne Mangel“: Die „Literatur“ zeigt […] das Jenseits des Ganzen an: die „Operation“, die Einschreibung, die das Ganze in einen Teil verwandelt, der danach verlangt, vervollständigt oder suppliiert zu werden. Eine derartige Supplementarität eröffnet das „literarische Spiel“, in dem zusammen mit der „Literatur“ auch die Figur des Autors verschwindet.67

Von diesem unmöglichen Ort, der gleichzeitig außer- und innerhalb des Buches ist, initiiert das paratextuelle Vorwort einen Prozess der strukturellen Destabilisierung, wie Derrida vor allem an der Lektüre der Vorworte zu Hegels Phänomenologie und der Enzyklopädie ausführt: „Es prägt […] dem Ganzen, vom ‚Drinnen‘ des Systems aus, in dem es seine Effekte von leerer und eingeschriebener Spalte markiert, eine Fiktionsbewegung auf.“ 68 Die strukturalistischen Versuche, Texte und Paratexte definitorisch und funktional voneinander zu trennen, scheitern ob der Erklärung solch paradoxer Phänomene der Parergonalität.69 Der Rahmen des künstlerischen Artefakts steht nicht außerhalb des Kunstwerks, sondern prägt dieses. Übertragen auf die Manuskriptfiktion bedeutet dies, dass diese keinen bloßen literarischen Kunstgriff im Vorwort, sondern eine durch das Werk 66 67 68 69

Strätling 2017, S. 14. Derrida 1995, S. 65, Hervorhebung im Original. Derrida 1995, S. 65. Derrida entwickelt seine Gedanken zur Parergonalität in seinem Werk Die Wahrheit in der Malerei (1992). Zu einer theoretischen Diskussion von Parergonalität vgl. Stanitzek 2004; Wirth 2013.

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­ indurch wirkende Kraft darstellt. Während es die „traditionelle Bestimmung“ h des P ­ arergons ist, „sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen“,70 bleibt das Manuskript in den hier behandelten Fällen im Text präsent und unterläuft diese Praxis der Selbstverschleierung. War die Manuskriptfiktion in ihrer vorromantischen Frühform noch ein ­Mittel der Nobilitierung, das ohne Verweis auf ein historisches Original nicht auskommen konnte, so entwickelt sie sich im ausgehenden 20. Jahrhundert zu einer Spielform, die im Welterfolg von Umberto Ecos Il nome della rosa (Der Name der Rose, 1980) gipfelt. An die Stelle des Verweises auf ein reales Signifikat tritt das frei flottierende Spiel der Verweisungen. Manuskriptfiktionen werden zu Mystifikationen, die ihre eigene Theatralität und Fingiertheit metafiktional zur Schau stellen. In der Dialektik von Verbergen und Enthüllen, Anwesenheit und Abwesenheit entziehen sich diese der Zuschreibung von Wahrheitswerten und unterlaufen die Dichotomien von Original und Kopie, Autorschaft und Nachahmung.71 Der faktuale Ursprung historischer Sachverhalte lässt sich nicht mehr ermitteln. Sichtbar und lesbar ist nur die historische Spur dieses Ursprungs. Sie fungiert als bloße „Referenz auf die ‚Absicht des Autors‘“ 72 und konstituiert somit eine Mystifikation, die die Frage nach der Zurechenbarkeit des Textes und der Zurechnungsfähigkeit des Autors unterläuft.73

Traditionslinien der Manuskriptfiktion Viele dieser Problemstellungen lassen sich als Radikalisierung bereits in der Romantik angelegter Diskussionen um den literarischen Gebrauch von Manuskripten lesen. Im Rahmen der „umfangreiche[n] Neubewertung der Darstellung geschichtlicher Ereignisse“ 74 im 18. Jahrhundert ändert sich der Umgang mit Manuskripten, wodurch es zum Konflikt zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur kommt. Während Manuskripte in der Geschichtswissenschaft als wissenschaftliche Quellen betrachtet und kritisch rezipiert werden, werden sie in der schönen Literatur zum Teil einer „fiktionalen Realität“.75 Dort wird fingiert, hinzugedichtet, gekürzt und auf genaue Angaben von Herkunft und Fundort des Manuskripts verzichtet, was die Kritik der Geschichtswissenschaft 70 71 72 73 74 75

Derrida 1995, S. 82. Frank u. a. 2001, S. 9 ff. Stanitzek 2004, S. 11. Die folgenden Überlegungen bauen auf Günther 2019b auf. Kurth 1964, S. 337. Luhmann 2008b, S. 277.

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an diesen aus ihrer Perspektive unwissenschaftlichen Methoden hervorruft.76 Das geschichtswissenschaftliche Faktizitätsstreben konfligiert mit der literarischen „Einübung eines ‚Fiktivitätsbewußtseins‘“.77 Literarische Werke sind nun immer häufiger nicht mehr bestrebt, die Täuschung (das fiktionale Werk) als Wahrheit erscheinen zu lassen, sondern darum, dass die Täuschung als solche vom Rezipienten durchschaut und gewürdigt wird. Der Rezipient lernt, literarische Texte als Werke sui generis von thematisch ähnlichen Darstellungen in Wissenschaft oder Recht zu unterscheiden und an die Literatur spezifische, nämlich ästhetische, Kriterien anzulegen. Uwe Wirth hat diese Entwicklung in seiner Studie Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion anhand der Genese des modernen Autorbildes von Rousseau bis E. T. A. Hoffmann herausgearbeitet. Im Verlauf dieses Prozesses „muß sich [der Roman] nicht mehr mithilfe einer Authentizitätsfiktion als ‚wahre Geschichte‘ tarnen, sondern findet als poetisch wahre Fiktion und als Spiel mit der Form Anerkennung“ (423).78 Seinen Höhepunkt erreicht dieser Differenzierungsprozess in der Romantik. Der sich zu dieser Zeit als Gattung konstituierende historische Roman signalisiert ganz deutlich, dass er nicht Historiographie sein will bzw. kann, und etabliert stattdessen einen eigenen ästhetischen Wissensanspruch. Die Herausgeberfunktion entwickelt sich zu einer „Spielform […], die der ironischen ‚Selbsbespiegelung‘ narrativer Rahmungsverfahren dient“.79 Ein Beispiel hierfür wäre Alessandro Manzonis Roman I promessi sposi (Die Brautleute, 1827), den Thomas Klinkert in diesem Sinne interpretiert hat.80 In Russland kommt es um die Wende zum 19. Jahrhundert zu ähnlichen Kämpfen um Geltungsansprüche. Literarische Formen der Historiographie, wie Nikolaj Karamzins berühmte zwölfbändige Geschichte Russlands, werden dafür kritisiert, Geschichte zu ästhetisieren und eigene Kategorien unreflektiert und ahistorisch auf das Untersuchungsobjekt zu übertragen. Karamzins Ideal einer „narrativen Synthese von Dokumentation und Einbildungskraft“ 81 führe 76 Ein in dieser Hinsicht aufschlussreicher französischer Fall wird geschildert bei Kurth 1964, S. 341. 77 Wirth 2008, S. 16. 78 Mit Niklas Luhmann, der die Legitimierung einer fiktionalen Realitätsdarstellung als entscheidenden Schritt hin zur Autonomie des Kunstsystems im 18. und 19. Jahrhundert deutet, lässt sich dieser Prozess in den größeren Rahmen funktionaler Differenzierung einordnen (vgl. Luhmann 1995, S. 503 f.). 79 Wirth 2008, S. 423 f. 80 Vgl. Klinkert 2010, S. 179 – 185. 81 Schmid 2007, S. 272

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ihn, so Ulrich Schmid, in die Fallstricke, die auch im westeuropäischen Kontext einige Jahrzehnte früher für Diskussion gesorgt hätten. Für ein geschichtswissenschaftliches Werk war seine russische Geschichte zu literarisch geraten, für ein literarisches Werk zu sehr mit wissenschaftlichen Ansprüchen belastet. Aleksandr Puškin verabschiedet sich von diesem Ideal und kommt zu dem Schluss, „dass der historische Roman nicht das leisten kann, was ihm die zeitgenössische russische Kritik […] zugetraut hatte, nämlich die gleichzeitige histo­risch gültige und lebendige Vergegenwärtigung des Vergangenen“ (305). Das Resultat dieser Reflexion zeigt sich in Puškins Behandlung des Pugačev-Aufstands, zu dem er zwei Werke publiziert, die idealtypisch die geschichtswissenschaft­liche der literarischen Bearbeitung eines historischen Stoffes gegenüberzustellen scheinen: Istorija Pugačëva (Die Geschichte Pugačëvs, 1834) und Kapitanskaja dočka (Die Hauptmannstochter, 1836). Die vermeintlich klare Trennung beider Geltungsansprüche aber wird fragil, betrachtet man das Ende von Kapitanskaja dočka, in dem es heißt: Рукопись Петра Андреевича Гринева доставлена была нам от одного из его внуков, который узнал, что мы заняты были трудом, относящимся ко временам, описанным его дедом. Мы решились, с разрешения родственников, издать ее особо, приискав к каждой главе приличный эпиграф и дозволив себе переменить некоторые собственные имена.82

In dieser Schlussbemerkung wird die historische Erzählung zur Manuskriptfiktion. Dies ist insofern pikant, als Puškin dadurch suggeriert, bei den Aufzeichnungen handle es sich um eine der historischen Quellen, die er im zweiten Band seiner Istorija Pugačëva zusammengestellt hatte.83 Betrachtet man das Werk allerdings näher, entsteht ein gegenteiliger Eindruck: Die Aufzeichnungen Grinevs sind unlogisch und notorisch unzuverlässig, und es wird schnell klar, dass man es hier mit fingiertem Material zu tun hat, die Manuskriptfiktion dient nur als 82 Puškin 1957, S. 541. „Das Manuskript des Peter Andrejewitsch Grinjew wurde uns von einem seiner Enkel zur Verfügung gestellt, der davon erfuhr, daß uns eine Arbeit über jene Zeit, die sein Ahne beschrieben hatte, beschäftigte. Wir entschlossen uns, nachdem wir die Erlaubnis der Verwandten eingeholt hatten, das Manuskript gesondert herauszugeben, wobei wir vor jedes Kapitel ein entsprechendes Motto setzten und uns erlaubten, einige Eigennamen zu verändern“ (Puschkin 1987, S. 301). 83 So Wachtel: „That the reader of The Captain’s Daughter was meant to recall The History of Pugachev is made crystal clear in the frame epilogue provided by the “editor” at the very end of the “memoir”. […] Pushkin pretends that Grinev’s account of the uprising is merely another of the lengthy interviews, eyewitness accounts, and memoirs that had comprised the second volume of The History of Pugachev.“ (Wachtel 1994, S. 71 f., Hervorhebung im Original).

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„Maske historischer Authentizität“.84 Die Synthese von Faktizität und Fiktionalität läuft ins Leere, sie wird zu einem undurchführbaren und un(be)schreibbaren Unterfangen. Puškins Pugačëv-Projekt entpuppt sich so als ironische Replik auf Karamzins Ideal der Synthetisierung, als „Spiel mit der Form“ im oben zitierten Sinne Wirths. Eine weitere im russischen Kontext bedeutsame Traditionslinie hat mit dem Verständnis des Manuskripts als Handschrift zu tun. Susanne Strätling hat in ihrer Abhandlung Die Hand am Werk. Poetik der Poiesis in der russischen Avantgarde an einer Fülle von Beispielen gezeigt, wie es in der nachrevolutionären Kultur zu einer „Revitalisierung der Handschrift“ 85 komme.86 Diese sei der „Ort einer individuell deutbaren Medialisierung des Subjekts“, der „einen Spiel- und Freiraum“ 87 eröffne und die durch den Zivilisationsprozess in Gang gesetzte „Entfremdungsgeschichte von der Hand“ (142) revidiere. Die Avantgarde ist hier aber janusköpfig, finden sich doch ebenso Stimmen, die in der „Lösung von der Handschrift“ eine Geste der Befreiung sehen (144), wie Strätling am Beispiel Aleksej Tolstojs aufzeigt.88 Dieses emphatische Verständnis der Handschrift ist medienhistorisch sowohl als Hintergrund der späteren Renaissance der Handschrift im Samizdat als auch als Abgrenzungsfolie für die postsozialistische Literatur von Bedeutung. Im repressiven Umfeld des Stalinismus schließlich eröffnet sich eine weitere Dimension des Manuskripts als Träger zum Verstummen gebrachter Geschichte, die ihren bekanntesten Ausdruck im berühmten Bonmot „Rukopisi ne gorjat“ („Manuskripte brennen nicht“) aus Michail Bulgakovs Master i ­Margarita (Meister und Margarita, 1966) findet. Im Samizdat werden Manuskripte zu einem subkulturellen Medium. Nicht publizierbare Geschichten – sei es in Form handschriftlicher Aufzeichnungen, sei es in Form im Geheimen erstellter Typoskripte 89 – kursieren im Untergrund und werden zum Gegenstand vom Geheimdienst angeordneter Hausdurchsuchungen. Hieraus resultiert eine Kultur der Mystifizierung des Manuskripts, das als Träger eigentlicher Literatur und Information imaginiert wird. Das Handschriftliche des Untergrunds lasse sich jedoch, und hierauf hat Georg Witte verwiesen, „im dignitativen Sinne von 84 Schmid 2007, S. 305. 85 Strätling 2017, S. 165. 86 Georg Witte spricht in anderem Kontext von einem „Kult der Handschrift“ (Witte 2005, S. 384). 87 Strätling 2017, S. 146. 88 Vgl. hierfür auch Hänsgen 2002. 89 Wichtig ist in diesem Kontext, darauf hinzuweisen, dass nicht jede Manuskriptfiktion auf handschriftliche Manuskripte zurückgreift und das erzählerische Verfahren der Manuskriptfiktion somit nicht auf die Existenz handschriftlicher Vorlagen angewiesen ist.

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­Einschreibung in die symbolische Ordnung der Geschichte“,90 nicht historisieren. Dieser Umstand motiviert die Kanonisierung des bislang nicht Historisierbaren im Zuge der Systemtransformation und erklärt die Konjunktur ästhetischer Beschäftigungen mit Manuskripten im Interregnum. Dieser wollen wir uns nun anhand zweier Beispiele innovativer Verwendung dieses Erzählverfahrens zuwenden: Vjačeslav Kuprijanovs Roman Syraja rukopis’ (Das feuchte Manuskript, 1991) und Michail Kuraevs Erzählung Vstrečajte Lenina! (Trefft Lenin!, 1995).

Die Poetisierung des Manuskripts – Vjačeslav Kuprijanovs Syraja rukopis’ Syraja rukopis’ wurde bereits in den 1970er Jahren geschrieben 91 und erschien 1991 erstmals in deutscher Übersetzung.92 Der Rückgriff auf die Manuskriptfiktion hat im Roman zwei Funktionen: eine motivische, deren Essenz in einer satirischen Kritik des sowjetischen Literaturbetriebs liegt, und eine gattungspoe­tische, die auf die Rehabilitation der Poetik in der russischen Literatur abzielt. Der Roman hebt an mit einer Vorrede und unterteilt sich dann in zwei Erzählstränge. Im ersten wird der phantastische Inhalt des Manuskripts in Form von vier „Büroklammern“ – eine Anspielung auf die administrative Dominanz des sowjetischen Literaturbetriebs – wiedergegeben, während im zweiten sein schwieriger Publikationsprozess in der Gegenwart Thema ist. Das Manuskript stellt somit literarisches Rohmaterial dar, das im Buch präsentiert und prozessiert wird. Beiden Aspekten möchten wir uns nun zuwenden. Die satirische Stoßrichtung des Werkes zeigt sich gleich zu Beginn, als sich der Held in einer Warteschlange für die Flaschenabgabe entschließt, eine dreckige Sektflasche aufzukaufen. In dieser findet er ein feuchtes Manuskript, das die Erzählung auslöst. Es führt ihn in ein phantastisches Areal, das sich für unabhängig erklärt hat. Dort leben Taucher und Kuppelbauer und sie bauen gemeinsam an einem Staatsgebilde, das sie vom Festland trennen soll. Als sie bei ihren Arbeiten an der Grenze des Areals auf einen Ring mit Aufschriften stoßen, beschließen die beiden schriftunkundigen Gruppen, diese abzuwaschen. Charakterisierungen der Gesellschaftsordnung, wie etwa „Одинаковость – величайшее достижение 90 Witte 2000, S. 102. 91 So Kuprijanov in einem Interview mit der Literaturnaja Rossija (2015). 92 Ausschnitte des russischen Originals wurden in einigen russischen Zeitschriften veröffentlicht, vgl. Liberov 2005, S. 376. Hier wird aus einer elektronischen Quelle zitiert (Kuprijanov 2015), da eine russischsprachige Druckfassung meiner Kenntnis nach bislang nicht vorliegt.

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нашей цивилизации“ 93 sowie die kunstfeindliche Vernichtung der auf dem Ring dargestellten Porträts Dantes und Vergils im Dienst des Realismus weisen die phantastische Welt als Satire auf die Sowjetunion und die dort herrschende „Epoche des großen Abwaschens der Künste“ 94 aus. Nach der Wiedergabe der ersten Büroklammer gibt der Erzähler das Manuskript an eine Literaturzeitschrift weiter, deren Rezension jedoch negativ ausfällt. Die offenkundige Ahnungslosigkeit der Rezensenten, die allgegenwärtige Papier- und Tintenknappheit sowie die von ideologischen Versatzstücken dominierte Kritik unterstützen die satirische Lesart. Der Verfasser wird ob seines unhistorischen Stils gerügt und aufgefordert, sich konkreten historischen Themen zuzuwenden. Die phantastische Literatur des Manuskripts im Stil eines Michail Zoščenko, der mehrfach genannt wird, hat in der Gegenwartsgesellschaft keinen Platz, die von kulturlosen Opportunisten wie dem Poeten Pomereščenskij, eine Anspielung auf Evgenij Evtušenko,95 beherrscht wird. Innovativer als diese zeittypische Satire ist der poetologische Nebenstrang des Romans, der im Roman sukzessive an Gewicht gewinnt. Er beginnt mit der Geschichte des Bären Kirill in der zweiten Büroklammer, der im fiktiven Bärenland eine Odyssee durchlebt. Dies hat damit zu tun, dass er „ein dunkler Mensch“ 96 ist – eine erste Anspielung auf seine poetische Natur – und über eschatologische Fragen nachdenkt, mit denen er bei seinen Mitmenschen nur Unverständnis erntet. Diese Episode findet einen Nachhall in der dritten Büroklammer, in der aus der Ich-Perspektive ebenfalls die Erfahrung ziellosen Herumirrens wiedergegeben wird. Der Bärenheld ist aufgrund seines Spezialwissens in der Lage „das Irdische in Abhängigkeit vom Himmlischen zu bestimmen“.97 Er kann dieses Wissen jedoch nicht weitergeben und vernichtet alle Aufzeichnungen, „damit man sie nicht stehlen und mißbrauchen konnte“.98 Schließlich kommt er in das Land der Kuppelbauer und Taucher und gibt sich dort zu erkennen. Die Worte, mit denen er sich vorstellt, werden von den Tauchern, die als Übersetzer fungieren, verfremdet und aus „Llirik ja“ wird „Ja Kirill“. Der sich somit als Allegorie der Lyrik zu erkennen gebende Held kann sich aber nicht verständlich machen, da alle seine Aussagen durch Übersetzung ins Gegenteilige verkehrt werden, und er wird schließlich zu einem Denkmal 93 Kuprijanow 2015; „Die Gleichartigkeit ist die großartigste Errungenschaft unserer Zivilisation“ (Kuprijanow 1991, S. 13). 94 Kuprijanow 1991, S. 43; „эпоху Великого смывания художеств“. 95 Wie Kuprijanov selbst darlegt, vgl. Literaturnaja Rossija 2015. 96 Kuprijanow 1991, S. 49; „темный ты человек “. 97 Kuprijanow 1991, S. 78; „определить земное в зависимости от небесного“. 98 Kuprijanow 1991, S. 82; „чтобы их не смогли выкрасть и извратить“.

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gebracht und dort eingesperrt.99 Anschließend an diese Sequenz werden die beiden Erzählstränge verknüpft und der Erzähler wird belehrt, was ein Dichter in der Gesellschaft alles nicht haben sollte: Urteilskraft, logisches Denken, Einbildungskraft, Gedächtnis und Schlaf. Eine Gesellschaft, die eine Literatur ohne diese Attribute einfordert, hat jeden Bezug zum Literarischen verloren. Die letzte und vierte Büroklammer schließlich eröffnet einen Ausweg aus diesem ­trostlosen Zustand. Kirill kann sich aus dem Denkmal befreien und beschließt, mittels eines Manuskripts Nachricht von sich zu geben. Er ist in der Lage, die vorhin verkannten Aufschriften auf dem Ring zu lesen und zu deuten. Sie entpuppen sich als Zeugnis einer Geschichte zivilisatorischer und künstlerischer Entartung (127, „vyroždenie“), die schlussendlich zum Weltverlust führt. Sie dienen somit als Mahnung vor der vollständigen künstlerischen Degeneration der Gesellschaft. Durch diese Lektüre aufgeklärt, ist Kirill nun in der Lage, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen. In einer finalen Szene geht er von der prosaischen Rede in die poetische Rede über,100 der die Zuhörer gebannt lauschen. Er findet eine Flasche, in der er seine Botschaft übermitteln kann. Das dort enthaltene Gedicht fasst die Moral der Geschichte noch einmal zusammen: Человек изобрел клетку прежде чем крылья

Der Mensch erfand den Käfig Eher Als die Flügel

В клетках поют крылатые о свободе полета

In Käfigen Singen Geflügelte von der Freiheit des Flugs

Перед клетками поют бескрылые о справедливости клеток

Vor den Käfigen singen Flügellose von der Gerechtigkeit der Käfige 101

99 Das Denkmal kann als Anspielung auf eine Gesellschaft gelesen werden, die Lyrik nur noch in Form einer Fetischisierung mittels Denkmäler betrachten kann. Das Denkmal selbst verweist wahrscheinlich auf das Puškin-Denkmal im Herzen Moskaus, das auch in anderen Werken als metonymische Verkörperung des Zustands der russischen Kultur fungiert. Am prominentesten wohl in Viktor Pelevins Čapaev i Pustota (Buddhas kleiner Finger, 1996). 100 „Когда же иссякла прозаическая речь, […] он давал им повод для этого, переходя на стихотворную речь.“ 101 Kuprijanow 1991, S. 140.

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Das Manuskript wird zum Speichermedium einer zeitlosen Wahrheit der Lyrik, die diese gegen die Zumutungen einer Gesellschaft vermitteln muss, die keine echte Literatur mehr kennt. Diese Wahrheit gehört einer früheren Zeitformation an, die sich schlussendlich in ihrem poetischen Sinn der technizistisch verfremdeten, im Roman in der Tradition der Antiutopie imaginierten zeitgenössischen Gesellschaft überlegen zeigt. Das Manuskriptzeitalter ist kein Anachronismus, sondern die Zukunft, die es gegen die technologische Moderne zu behaupten gilt – eine Auffassung, die an Heideggers Verteidigung der Handschrift gegen die Technik erinnert.102 Das in einer Flasche versteckte Manuskript fungiert dabei einerseits als prekäres und schwer zugängliches Überlieferungsmedium, ist andererseits aber der abwaschbaren Schrift überlegen. Das feuchte Manuskript ist bereits feucht, lässt sich so mit Wasser nicht zerstören und immunisiert sich durch seine Feuchtigkeit gleichzeitig präventiv gegen Versuche, es zu verbrennen. Insofern liegt hier eine indirekte Anspielung auf Bulgakovs Bonmot vor. Die Interpretation des Romans wird schließlich zu einer Übung in rekursivem Denken. Manuskripte sind keine mit einer festen Bedeutung versehenen historischen Gegenstände, sondern gewinnen ihre Bedeutung erst im Prozess ihrer Wiedergabe. Der Roman kontrastiert hierbei zwei Formen der Prozessualisierung des Manuskripts, eine reglementierende, die Bedeutung raubende Praxis, die den verwalteten Literaturbetrieb prägt, und eine emanzipative, Bedeutung generierende Praxis, die sich im Selbstzeugnis des Helden findet. In Anlehnung an das obige Zitat Derridas lässt sich dies auch als Gegensatz zwischen dem Geprägtwerden vom Drinnen des Systems, das die Fiktionsbewegung negiert, und dem Prägen vom Drinnen des Systems, das die Fiktionsbewegung erst schafft, lesen. Damit Letzteres gelingen kann, muss das Manuskript aus der Parergonalität befreit werden und Freiräume jenseits einer zum literarischen Denkmal degenerierten Praxis des Umgangs mit Manuskripten erschreiben.

Die andere Seite der Geschichte – Michail Kuraevs Vstrečajte Lenina! Michail Kuraev zählt vor allem aufgrund seiner – in der vorliegenden Arbeit später noch thematisierten – Povest’ Kapitan Dikštejn (Kapitän Dikstein, 1987) zu den wichtigsten neuen historiographischen Stimmen des Interregnums. Kuraevs spätere Erzählung Vstrečajte Lenina! schildert die Geschichte eines ­gescheiterten 102 Strätling setzt die Kritik Heideggers in ihrer Analyse mit dem Denken Vasilij Rozanovs in Verbindung, vgl. Strätling 2017, S. 142.

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Reenactments der Ankunft Lenins am Finnländischen Bahnhof anlässlich des 50-jährigen Jubiläums dieses historischen Ereignisses.103 Erzählt wird sie aus der Perspektive Neopecheders, der aus der Gegenwart der 1990er Jahre auf sein Reenact­ment-Vorhaben in den 1960er Jahren zurückblickt. Der Erzähler gibt dabei vor, auf Basis eines Manuskripts, das ihm von seinen Nachbarn übergeben wurde, zu rekapitulieren. In seinen anfänglichen Selbstreflexionen bezeichnet er sich als historischen Laien („nelovkij žnec v voprosach istorii“),104 der sich in seiner Erzählung nur auf historische Fakten stützen möchte.105 Das Reenactment-Vorhaben ist zunächst von Zuversicht geprägt, die im Laufe der Erzählung allerdings ins Gegenteil umschlägt. Als es zur Realisation kommt, muss der Held erkennen, dass sich die Geschichte nicht so wiederholen lässt, wie er es zu Beginn erträumt hatte: Der Festplatz bleibt leer, der Parteichef singt allein die Parteihymne und verlässt kurz darauf verzweifelt und entnervt den Schauplatz. Das Reenactment ist gescheitert, „alles Erdachte kam anders“.106 Die kommunistischen Fahnen und Gemälde liegen im Dreck, während die zaristischen Insignien, die für das historische Kolorit des Events aufgebaut wurden, über dem Platz thronen und sich ihrer Zerstörung widersetzen. Neben dieser Haupthandlung gibt es Unterbrechungen in Form der Wieder­g abe zusammenhangsloser Protokolle des Gebietsparteikomitees Vyborg. Das übergebene Manuskript ist nämlich doppelseitig beschrieben und enthält neben den Erinnerungen Neopecheders kurze Zusammenfassungen von Planungen und Maßregelungen der Partei. Geschildert werden hier Parteiausschlüsse und Parteistrafen für alle Formen des Fehlverhaltens, von Alkoholkonsum, häuslicher Gewalt bis hin zu ideologischen Verstößen. Zwar wird auch kurz auf Pläne der Feier des Jubiläums verwiesen, diese spielen allerdings nur eine Nebenrolle. Wichtig für die Interpretation der Erzählung ist die Einführung des Manuskripts in der Vorrede. In traditionellen Varianten der Manuskriptfiktion taucht das Manuskript meist am Beginn des Romans auf.107 Ein klassisches Beispiel hierfür ist Jan Potockis Roman Le manuscrit trouvé à Saragosse (Die Handschrift von Saragossa, 1805). Dort heißt es in der Vorrede: 103 Die Erzählung ist bislang kaum literaturwissenschaftlich analysiert worden, eine Ausnahme stellen die kurzen Erläuterungen bei Marsh 2007 dar, S. 159 – 163. 104 Kuraev 1995, S. 6. 105 Vgl. Kuraev 1995, S. 10. 106 Kuraev 1995, S. 23; „все задумано было иначе“. 107 Ein seltenerer Fall ist die Offenlegung des Kunstgriffs am Ende der Erzählung, wie es in Kapitanskaja dočka der Fall ist.

Aus zweiter Hand235 Wenige Tage nach der Einnahme der Stadt drang ich in eine abgelegene Gegend vor und erblickte dort ein recht gut gebautes kleines Haus. […] Neugierig geworden, beschloß ich hineinzugehen. Ich klopfte an die Tür; doch ich bemerkte, daß sie nicht verschlossen war. Ich stieß sie auf und trat ein. […] Es sah aus, als habe man schon alles einigermaßen Wertvolle weggeschleppt; auf den Tischen und in den Schränken lagen nur noch Gegenstände von geringem Wert. Indessen erblickte ich auf dem Fußboden, in einer Ecke, mehrere beschriebene Hefte. Ich sah nach, was sie enthielten. Es war ein spanisch geschriebenes Manuskript.108

Hier sind viele klassische Elemente des Manuskriptfunds enthalten. Das Manuskript wird zufällig gefunden, den Erzähler zieht es auf magische Weise zum Fundort. Dort trifft er auf ein Chaos, in dem alles Wertvolle bereits verschwunden zu sein scheint. Doch an einem abgelegenen Ort entdeckt der Erzähler schließlich doch noch einen Schatz: ein altes Manuskript. Die Erzählillusion des Vorworts etabliert die Autorität des Erzählers und untermauert den Wahrheitsanspruch der Erzählung. Uwe Wirth hat in diesem Zusammenhang in Anknüpfung an Ritualtheorien von einem „Schwellenritus“ gesprochen, der die Frage nach den Geltungsansprüchen gemeinsam akzeptierter Normen [suspendiert], um statt dessen die Wahrheit deklarativ zu „verkünden“. Das heißt, ritualisiertes Handeln ist keinen Verifikationsprozeduren unterworfen, sondern „die Wahrheit des Rituals“ wird durch Prozeduren der Initiation mimetisch internalisiert.109

Der Beginn von Kuraevs Vstrečajte Lenina! parodiert solche ritualisierten Anfänge. Zu Beginn der Erzählung heißt es unter der Überschrift „Ot publikatora“ („Vom Herausgeber“): Никогда не думал, что придется писать предуведомление в духе литераторов ленивых и лишенных воображения. «Совершенно случайно ко мне попала рукопись, с автором которой я не был никогда знаком …» Рукопись попала ко мне не случайно! Рукопись попала ко мне благодаря моей известности, благодаря тому, что я известен не только почти по всей нашей лестнице (семь квартир), но отчасти и во дворе (два дома, один завод и одно общежитие). Здесь-то и произошла моя встреча со «случайной» рукописью.110 108 Potocki 1962, S. 13. 109 Wirth 2008, S. 93. 110 Kuraev 1995, S. 5. „Niemals dachte ich, dass es nötig sein würde, ein Vorwort im Stil jener faulen und vorstellungsarmen Literaten zu schreiben. „Vollkommen zufällig fiel mir eine Handschrift in die Hände, deren Autor mir vollkommen unbekannt war …“ Die Handschrift fiel mir nicht zufällig in die Hände! Die Handschrift fiel mir wegen meiner Bekanntheit in die Hände, dank dessen, dass ich nicht nur fast im ganzen Treppenhaus (sieben Wohnungen), sondern zu Teilen auch im Hof (zwei Häuser, eine Fabrik und

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Im Anschluss schildert der Erzähler, wie ihm das Manuskript, eingewickelt in altes Zeitungspapier, von einem gerade abfahrenden Nachbarn gegeben wird. Die Anfangssequenz lässt sich als Parodie der Gattungstradition lesen. Der unbekannte, geheimnisvolle Fundort der Gattungstradition wird durch die Banalität des Alltags substituiert und als literarischer Kunstgriff offengelegt. Die Umstände der Übergabe tragen des Weiteren dazu bei, dass die künstlich erzeugte Bedeutsamkeit und historische Signifikanz des Manuskripts lächerlich gemacht werden, was insbesondere in der Beschwörung der dem Sujet kaum angemessenen weltliterarischen Bedeutung des Manuskripts 111 deutlich wird. Interessant ist an dieser Sequenz aber auch die Semantisierung des Zufälligen („soveršenno slučajno“), die auch im Handlungsverlauf noch eine Rolle spielt. Später heißt es: „В истории много случайного, это отрицать нельзя, но сквозь дебри случайностей прокладывает дорогу необходимость.“ 112 Die Erzählung steckt voller Zufälligkeiten, die sich rational nicht erklären lassen und vor allem im Kontext des Scheiterns des Reenactments relevant werden, als plötzlich die Technik versagt und alle Erwartungen Lügen gestraft werden. Die Vorrede allerdings deutet bereits an, diese Unwägbarkeiten nicht nur als Kind des Zufalls zu interpretieren, sondern als Ausdruck einer größeren Logik: „Логика вещей сильней логики человеческих намерений.“ 113 Geschichte lässt sich nicht planen, und das Scheitern der kommunistischen Utopie der Planung der Geschichte, die das Sujet der Erzählung bildet, ist kein Zufall, sondern folgerichtig. Explizit wird diese Aussage am Ende noch einmal an die Thematik der Handschrift rückgebunden: „История – ревнивый автор, пишет без черновиков и не дает заглянуть под руку.“ 114 Die Handschrift, die als Grundlage der Erzählung dient, entpuppt sich so als ein Objekt, das zumindest zum Teil vom Geist der Geschichte mitgeschrieben wird und der Kontrolle des Autors entzogen ist. Sie unterminiert damit Vorstellungen der Allmacht des Autors, wie sie insbesondere in der romantischen Tradition der Manuskriptfiktion aktualisiert ein Wohnheim) bekannt bin. Hier ereignete sich auch mein Treffen mit der „zufälligen“ Handschrift.“ 111 Kuraev 1995, S. 5; „vpervye v istorii mirovoj literatury“. 112 Kuraev 1995, S. 10. „In der Geschichte geschieht vieles zufällig, das kann man nicht bestreiten, aber im Dickicht der Zufälligkeiten offenbart sich zuletzt der Weg der Notwendigkeit.“ 113 Kuraev 1995, S. 16. „Die Logik der Dinge ist stärker als die Logik der menschlichen Absichten.“ 114 Kuraev 1995, S. 27. „Die Geschichte ist ein eifersüchtiger Autor, sie schreibt ohne Konzept und lässt sich nicht ins Handwerk schauen.“

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werden. Deren emphatischer Begriff von Autorschaft als Genie und Schöpfer wird ersetzt durch einen Diskurs, in dem bis zum Ende Widersprüche, Paradoxien und Spannungen bleiben, die vom Autor nicht mehr aufgelöst werden können oder wollen. Der diskursive Kontext ist eine wichtige Größe in Kuraevs Erzählung und wird in einer metafiktionalen Passage erörtert: Не подумайте, что я отвлекаюсь от Ленина, просто Владимир Ильич не существует вне контекста, ни в земной жизни, ни в последующей. И все, что произошло на площади у Финляндского вокзала, можно понять исключительно через контекст.115

Welcher Art ist dieser Kontext? Zunächst einmal scheint er auf die dem Reenactment vorangegangene historische Ankunft Lenins im April 1917 in Petersburg zu verweisen und auf die darauffolgende hagiographische Mythologisierung, deren ironische Erwähnung („v posledujuščej“) auf die Kontextlosigkeit ihrer Praxis verweist. Der entscheidende Kontextstifter der Erzählung ist allerdings die andere Seite des Manuskripts, die fast anschließend an die eben zitierte Stelle die Diegese unterbricht. Diese Einschübe stellen für den Leser ein störendes Element dar, da sie keine Beziehung zur Haupthandlung unterhalten und durch ihre Fragmentarität und den technischen Charakter ihres Inhalts (bürokratische Sprache, Zahlen) den Lesefluss unterbrechen. Die Protokolle unterstreichen somit die konstitutive Instabilität der Erzählung und ihre Bezüge zu historischen Daten. Inhaltlich steht die Geschichte der Disziplinierung und Maßregelung, die die realen Aktivitäten der Kommunistischen Partei bezeugt, in einem Gegensatz zu dem vom Erzähler beschworenen Pathos des Revolutionären. So verweisen beide Seiten der Unterscheidung, beide Texte des Manuskripts aufeinander. Die Jubiläumsveranstaltung zu Ehren Lenins scheitert auch daran, dass angesichts der kommunistischen Gewaltgeschichte eine solche nicht gerechtfertigt werden könnte. Die auf der Rückseite verbürgte andere Seite der Geschichte bleibt folglich im weiteren Text präsent. Sie fungiert als Parasit, der fortwährend die Erzählung stört. Der Begriff des Parasits soll hier im Anschluss an Michel Serres verstanden werden als Instanz, die fortwährend die Grenzen von Kommunikations­ bedingungen überschreitet und negiert. Fungiert das Manuskript in traditionellen Darstellungen als ausgeschlossener Dritter, der in der E ­ rzählung v­ ollständig

115 Kuraev 1995, S. 13. „Denkt nicht, dass ich von Lenin abschweife, es ist nur so, dass ­Vladimir Il’ič nicht außerhalb eines Kontexts existiert, weder im irdischen, noch im nächsten Leben. Und alles, was auf dem Platz am Finnländischen Bahnhof geschah, kann man ausschließlich durch den Kontext verstehen.“

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den Gestaltungsbedingungen des Autors unterworfen ist, so gehorcht er hier zwei Logiken, „der des ausgeschlossenen Dritten und der des eingeschlossenen Dritten“.116 Das Manuskript als parasitäre Existenz ist zweifellos Teil der Erzählung und gleichzeitig ebenso zweifellos kein Teil der Erzählung. Es (zer-)stört den Text und reichert ihn zugleich an. In der Tradition besteht das Manuskript aus einer beschrifteten Seite, die die Erzählung enthält, und einer unbeschrifteten Seite, die weiß bleibt. Die unbeschriftete Seite bildet im Anschluss an George Spencer-Browns Formenkalkül den unmarked space der Unterscheidung Sinn (Text) – Unsinn (weiß). Kuraevs Erzählung unterläuft diese Unterscheidung, indem sie die unbeschriftete Seite mit Bedeutung auflädt und somit den unmarked space und die Bedingungen seiner Nichtmarkierung zum Thema macht. Vergleicht man nun abschließend kurz die beiden Werke, so lassen sich drei interessante Verschiebungen feststellen. Anknüpfend an die in Unterkapitel 1.3 diskutierte Unterscheidung von Satire und Parodie lässt sich Kuprijanovs Werk als satirisches, auf Gesellschaftskritik abzielendes Werk lesen, während Kuraevs Erzählung stärker parodistisch geprägt ist. Ihre Kritik zielt weniger auf die epistemischen Fundamente der Gesellschaft, was insbesondere an den expliziten metahistoriographischen Kommentaren des Erzählers deutlich wird. Mit dieser Unterscheidung korreliert ein veränderter Objektbezug. Die extramurale Satire thematisiert Differenz vorrangig als Unterscheidung von literarischem Artefakt und gesellschaftlicher Realität. Das Manuskript gehört nur der Sphäre des Literarischen an und kann von der Gesellschaft nicht angeeignet werden. Kuraevs Erzählung hingegen verlagert die Differenz ins Innere. Das Manuskript als Artefakt enthält zwei Seiten, die sich wechselseitig restringieren und nicht am Leitfaden der Differenz Literatur – Gesellschaft interpretiert und aufgelöst werden können. So zeigen sich schließlich zwei unterschiedliche Verständnisse von Autorschaft. Kuprijanovs Povest’ repräsentiert ein emphatisches Verständnis von Autorschaft („Ja Llirik“), das die transformative Kraft des poetischen Manuskripts beschwört, während Kuraevs Erzählung schlussendlich auf die Auflösung der Kategorie der Autorschaft zustrebt, die ob einer der literarischen Steuerung entzogenen Geschichte ihre transformative Rolle verliert. An die Stelle der Aufgabe einer poetischen Transformation der Geschichte tritt die metahistoriographische Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit dieser Transformation.

116 Serres 1981, S. 288.

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4.3  Fußnoten der Geschichte – ­ Typotopologien des textuellen Untergrunds Keine Geschichte metahistoriographischen Erzählens kommt ohne Fußnoten aus. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die offenkundige Notwendigkeit der Offenlegung ihrer Quellen, die zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehört, sondern auch im Hinblick auf ihren Gegenstand. Spätestens seit Gerard Genette wissen wir um den konstitutiven Beitrag der Paratexte für den Verständnis- und Kompositionszusammenhang fiktionaler Texte. Während der literarische Einsatz von Fußnoten kein Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist – man denke nur an Jonathan Swift oder Jean Paul –, lässt sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen als eben solches diagnostizieren.117 Es wäre also naheliegend, das Interesse an dieser Spielart der Marginalistik mit der Postmoderne in Verbindung zu bringen: ihrem Interesse an peripheren Textphänomenen, an Stimmenvielfalt, der Dekonstruktion einer determinierenden Autorinstanz. Diesen Fragen soll nachgegangen werden, ohne allerdings dem Fehlschluss zu verfallen, bei ihnen handle es sich um eine Neuheit. Stattdessen gilt es, einleitend dem systematischen Hauptstück Fußnoten aus der Geschichte historischen Erzählens beizugeben, um Kontinuitäten und Bruchlinien im literarischen Umgang mit Fußnoten sichtbar zu machen.

Das Spacing der Differenz Die epistemische Spannung zwischen Text und Fußnotentext zeigt sich an einem Ensemble von Differenzen, die durch ein Hierarchieverhältnis bestimmt sind: Raumdifferenz, Zeitdifferenz, Machtdifferenz und Stimmdifferenz.118 Gerard Genette hebt in seiner Analyse die Raumdifferenz als definierendes Kriterium der Unterscheidung zwischen Haupt- und Fußnotentext hervor, wenn er den „immer lokale[n] Charakter der angemerkten Aussage […] als das herausstechendste formale Merkmal“ 119 betont. Auch Jacques Derrida pointiert den Vorgang des „spacing that assigns hierarchical relationships“.120 Fußnoten sind 117 Als Beleg mögen die Publikationsdaten einschlägiger Untersuchungen dienen: Benstock 1983; Nimis 1984; Genette 1987; Derrida 1991; Stang 1992; Grafton 1997; Mayer 1999; Mainberger 2001. 118 Man könnte noch weitere Differenzen, wie die des Umfangs anführen, die allerdings für den weiteren Argumentationsgang nicht zentral sind und daher hier ausgespart werden. 119 Genette 1989, S. 305. 120 Derrida 1991, S. 193.

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dem Text stets räumlich untergeordnet bzw. – im Falle der Endnote – nachgeordnet, sie repräsentieren somit eine „visuell manifeste […] Subordination“.121 Hierbei lässt sich durchaus eine Verbindung zwischen texttopologischem und kulturellem Untergrund ziehen. Explizit wird dies bei Andrej Sinjavskij (Abram Terc), der – wie bereits zitiert (1.1) – in seinem Werk V teni Gogolja (Im Schatten Gogols, 1975) bemerkt: „Меня тянет под землю – в скобки и в сноски.“ 122 Die archäologische Metaphorik des Vergrabens und Ausgrabens von Informationen, die auch seinen Roman Ljubimov durchzieht, lässt sich lesen als Umkehrung bestehender Hierarchien. Historische Wahrheit findet sich nicht an der Oberfläche, sondern wird vergraben. Zufluchtsort wahrer Historiker ist der Keller – eine Vorstellung, die sich für den spät- und postsozialistischen Untergrund-/ Underground-Diskurs als zentral erweist. Fußnoten etablieren neben der Raumdifferenz eine Zeitdifferenz. ­Insbesondere in wissenschaftlichen Texten referieren sie auf historisch frühere Forschungen und Ergebnisse. Häufig werden sie genutzt, um in polemischer Auseinandersetzung mit dem bisherigen Wissensstand den Neuheitscharakter des im Haupttext Dargelegten zu unterstreichen. Lähmt die Auseinandersetzung mit dem bereits Erforschten die Auseinandersetzung, so lässt sich polemisch im Rückgriff auf Erwin Rohde von „Afterphilologie“ sprechen,123 die von Ehrfurcht gegenüber dem Geschriebenen und von der Reproduktion des bereits Erforschten dominiert bleibt. In beiden Fällen erweist sich die Legitimität des Haupttextes darin, ob und wie er in einen produktiven Dialog mit dem historisch Früheren tritt. Trotz ihrer marginalen Stellung sind Fußnoten aufs Engste mit Autorität verbunden 124 und stehen in einem Machtverhältnis zum Haupttext. Sie üben im Text eine Kontrollfunktion aus, wenn sie den Faktizitätscharakter des Behaupteten verifizieren: „Fußnoten werden für unentbehrlich erachtet, denn sie sind die Signatur intellektueller Redlichkeit und der einzige Garant für kontrollierbare Informationen.“ 125 Am fehlerhaften Umgang mit ihnen scheitern wissenschaftliche und öffentliche Karrieren. Diese starke Stellung der Fußnote steht im Kontrast dazu, dass sie sich immer im Verhältnis der rezeptionsästhetischen Subordination gegenüber dem Haupttext befindet, ist ihre Lektüre doch fakultativ und wird entsprechend gerne ausgelassen. 121 Mainberger 2001, S. 339. 122 Terc 1975, S. 418. „Mich zieht es unter die Erde – hinter die Klammer und in die Fußnote“ (Terz 1979, S. 305). 123 Vgl. Nimis 1984, S. 116. 124 Vgl. Nimis 1984, S. 106. 125 Mainberger 2001, S. 338.

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Mit der Machtdifferenz korreliert die Stimmdifferenz: „Ein Text mit Fußnoten ist ein gespaltener, der Raum der Seite wird aufgeteilt: Zwei oder sogar mehr Stimmen sind gleichzeitig präsent, zwei oder mehrere Sprecher kommen zu Wort. Die Fußnote pluralisiert den Text“ (340). Fußnotentexte sind polyphone Texte, durchsetzt mit Anmerkungen und Zitaten von Übersetzern, Wissenschaftlern und Editoren, in denen alternativen Auffassungen Raum gegeben werden kann. Neben dem Einschluss fremder Stimmen kann hier auch die eigene Stimme gebrochen werden. Dieses Verfahren ist besonders für literarische Texte von Bedeutung. Lassen sich diese Differenzen gleichermaßen auf wissenschaftliche wie fiktio­ nale Texte übertragen? Das hier aufgespannte Spannungsfeld ist zunächst konsti­ tutiv für jeden Einsatz von Fußnoten. Freilich gibt es spezifisch literarische Verfahren, die diese Differenzen auf eine eigene Weise produktiv machen. Gerade im Hinblick auf den historischen Roman und seine Geschichte des Einsatzes von Fußnoten zeigt sich jedoch, dass eine klare Grenzziehung zwischen Wissen­ schaft und Literatur nicht haltbar ist.

Fußnoten im historischen Roman Seit seinen Anfängen bei Walter Scott arbeitet der historische Roman mit Fußnoten. Wie Robert Mayer gezeigt hat, ist es dabei nicht möglich, deren Einsatz eindeutig als poetisches Verfahren oder als wissenschaftliche Legitimierung zu interpretieren: Yet if Scott provides reasons for regarding his notes as fictional constructs, he also invites readers to view his novels as works of fiction that contain the kind of evidence that we expect to find in history.126

Er widerspricht damit Shari Benstock, die apodiktisch behauptet: „Most significant, they [die Fußnoten] belong to a fictional universe, stem from a creative act rather than a critical one, and direct themselves toward the fiction and never toward an external construct“.127 Während der romantische Gebrauch der Fußnote viele ludistische und parodistische Elemente bereithält, verbürgen sie im realistischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts, und hierbei insbesondere in seinen populären Formen, in der Regel die historische Wahrheit. In Polemik gegen einen überbordenden Idealismus, ist „um die historische Bezogenheit zu dokumentieren, […] die Beweiskraft der Fußnote wieder gefordert“.128 126 Mayer 1999, S. 921. 127 Benstock 1983, S. 205. 128 Eckstein 2001, S. 166.

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Dies gilt auch für den russischen Fall. Dan Ungurianu, der die Entwicklungsgeschichte des historischen Romans im 19. Jahrhundert untersucht hat, fasst zusammen: Although notes can be found in all kinds of historical novels, their role varies. In the romantic novel they serve as an element in the game of self-validation and invalidation. In the realistic novel they are devoid of self-effacing potential, fulfilling a straightforward quasiacademic function. In the symbolist novel notes can be extremely extensive and meticulous, yet this only underscores the paradoxical situation where history and reality are used as material for mythmaking and “bio-aesthetic” games, as in the case of The Fiery Angel, where Bryusov’s own love life is projected onto sixteenth-century Germany, carefully wrapped in historical realia, and supported by pedantic endnotes.129

Fußnoten können also unterschiedlichen Charakter annehmen. Von einem explikativen Charakter lässt sich sprechen, wenn sie historische Begrifflichkeiten erklären und Informationen zu Ereignissen, Orten und Personen geben, die dem Leser nicht bekannt sind. Sie können einen autoritativen Charakter annehmen, wenn sie über Quellenverweise die historische Objektivität der erzählten Ereignisse unterstreichen möchten. Sie nehmen komplementierenden Charakter an, wenn sie ergänzende Informationen zum Haupttext bereitstellen. Diese Formen des Fußnotengebrauchs suggerieren historische Wahrheitsnähe und stehen innerhalb einer auktorialen Erzählhaltung. Mit Genette lässt sich dabei behaupten: „Je mehr sich ein Roman von seinem historischen Hintergrund löst, um so unpassender mag die auktoriale Anmerkung erscheinen“.130 Neben dieser Form des Gebrauchs von Fußnoten und Anmerkungen „ließe sich eine emanzipierte Funktionsweise vorstellen, bei der die Anmerkung nicht mehr unter den Diskurstyp fiele, sondern, selbstständig und in eigenem Interesse, narrativen Typs wäre“ (320). In diesem Fall befindet sie sich nicht mehr – wie im Falle der explikativen, autoritativen und komplementierenden Fußnote – in einem Verhältnis der Subordination gegenüber dem Haupttext, sondern übt eine eigenständige Funktion aus. Hier ließen sich alle Formen parodistisch-­satirischen Fußnotengebrauchs subsumieren, die seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich sind.131 Eine – bereits oft analysierte – Weiterentwicklung erfahren solche paro­ distischen Formen im postmodernen historischen Roman. Hier lässt sich konstatieren: „Fußnoten in der Literatur gehören offenbar zu Satire, Ironie, Ludismus, zu Formexperimenten, zur Selbstbezogenheit der Bücherwelt.“ 132 Die marginale 129 130 131 132

Ungurianu 2007, S. 190 f. Genette 1989, S. 319. Vgl. hierzu Stang 1992, v. a. S. 214 – 257. Mainberger 2001, S. 344.

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und untergeordnete Stellung der Fußnote in den oben umrissenen Differenzgefügen – Raum, Zeit, Macht und Stimme – wird hier umgekehrt. Sie dominiert die Textgestalt räumlich, die Zeithierarchien werden umgekehrt, ihre Autorität wird ins Gegenteil verkehrt, die untergeordnete „fremde Rede“ wird zur dominierenden Erzählstimme. Diese parodistischen Erzählformen verbleiben dabei nicht auf einer ludistischexperimentellen Ebene, sondern nutzen den Einsatz von Fußnoten für die Problematisierung epistemischer Ordnungen im Bereich historischen Erzählens. Im russischen Kontext kommen solche Praktiken – im Unterschied zu westeuropä­ ischen oder lateinamerikanischen Kontexten – erst in der Periode des Interregnums auf.133 Dies soll nun an drei prominenten Beispielen analysiert werden: an Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962), Evgenij Popovs Podlinnaja istorija „Zelenych muzykantov“ (Die wahre Geschichte der Grünen Musikanten, in der Folge PIZM, 1999) und Dmitrij Galkovskijs Beskonečnyj tupik (Endlose Sackgasse, 1988/1997/2008).

Nabokovs Fußnotenfeuerwerke Vladimir Nabokovs Pale Fire kann mit Fug und Recht als der Fußnotentext der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Im Zentrum dieses vieluntersuchten Textes steht Charles Kinbotes Kommentar des 999-zeiligen, titelgebenden Gedichts des fiktiven Poeten John Shade. Kinbote kannibalisiert den Haupttext, den er durch ein Vorwort, ein Verzeichnis der Protagonisten, vor allem aber durch seinen extensiven, den Haupttext um ein Vielfaches überragenden und kaum thematisierenden Kommentar in eine marginale Position verweist. Hier ist nicht der Ort, um diesen Roman in Gänze zu würdigen.134 Stattdessen soll hier zunächst eine russische Bedeutungslinie des Texts nachgezeichnet werden, die für spätere Fußnotentexte bedeutsam ist. Parallel zur Entstehung von Pale Fire arbeitet Nabokov an einer kommentierten Übersetzung von Aleksandr Puškins Versroman Evgenij Onegin (Eugen Onegin, 1833). Dieses sich über acht Jahre hinziehende Projekt zeitigt schlussendlich ähnliche Kommentarausmaße wie sein Roman Pale Fire. Its [Pale Fire’s] design owes much to Nabokov’s translation of and commentary to the greatest of Russian poems, Alexander Pushkin’s verse novel Eugene Onegin (1823 – 31),

133 Zur Genese des Fußnotengebrauchs in der russischen Literatur existieren bislang keine Untersuchungen. Erwähnenswert ist lediglich ein kurzer Aufsatz zur Stellung der Fußnote im Werk Konstantin Vaginovs, vgl. Žiličeva 2014. 134 Vgl. für eine solche Würdigung Boyd 1999.

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which he worked on between 1949 and 1957. In published form, Nabokov’s prefatory matter occupies 110 pages; his translation of Pushkin’s poem, 240; the commentary, 1,087; and the index, 109 – making four volumes in all, roughly four times the size of Pale Fire but in much the same proportions.135

Diese werkgeschichtliche Parallele kann als caveat vor einer allzu schnellen paro­ distisch-satirischen Einordnung von Pale Fire dienen. Widmet sich der Autor Nabokov – „at a time when he was at his own creative peak“ (68) – einen Großteil seiner Zeit der Erstellung eines Kommentars, so wertet er diese Aufgabe zu einer literarisch-kreativen auf. Der Kommentar fungiert bereits im Onegin-Übersetzungsprojekt als autonome Texteinheit. Evgenij Onegin ist für Nabokov dabei in besonderem Maße kommentierungsbedürftig, gilt es doch, den amerikanischen Leser mit den Nuancen der Verse Puškins vertraut zu machen. Ähnlich wie im Falle von Pale Fire geht es im Onegin-Projekt ebenfalls um die Überwindung einer Differenz. Zwischen dem Originaltext und der Übersetzung steht die Kluft zeitlicher Differenz, die sich durch technische und historische Kontextgebundenheit äußert.136 Trennend wirkt ebenfalls die räumliche Distanz zwischen Russland und den USA. Diese wird in Gestalt der Migrationsgeschichte von Puškins Text erfahrbar – aus dem 19. Jahrhundert in den Hörsaal einer amerikanischen Universität. In Pale Fire verweist die ausführlich erzählte Migrationsgeschichte Kinbotes auf diese räumliche Trennung. Im Onegin-Projekt zeigt sich der Fußnotentext somit als autonome Texteinheit, die durch eine räumlich-zeitlich erfahrbare kulturelle Differenz konstituiert wird. Der Kommentarapparat von Pale Fire ist der Ort im Text, an dem die historische Dimension verhandelt wird und (die) Geschichte erzählt wird. Eine der Sujetlinien stellt die Emigrationsgeschichte des Königs Kinbote dar, der nach einem Umsturz seine Heimat Zembla verlassen muss. Zembla ist nicht mit Russland/der Sowjetunion identisch, lässt sich aber im osteuropäischen Raum lokalisieren.137 Die Erzählung seiner Geschichte ist für Kinbote existentielle Notwendigkeit, sie lässt sich allerdings nicht in geschichtswissenschaft­ licher Manier wiedergeben, denn die Geschichte der Emigration ist in doppelter Hinsicht marginalisiert; zunächst gegenüber dem neuen kulturellen Kontext im Zielland, hier dargestellt durch das Poem Shades, der im Hinblick auf die Geschichte der Emigranten wenig rezeptiv ist. Das aggressive Verlautbaren der eigenen Stimme, die sich dem fremden Text aufdrängt, gleitet in Pale Fire zwar 135 Boyd 1999, S. 67. 136 Vgl. für den Einfluss der russischen Emigrationsdiskurse auf Nabokovs Projekt ­Lakhtikova 2007. 137 Boyd spricht von einem nostalgischen Verweis, vgl. Boyd 1999, S. 60.

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ins Grotesk-Absurde, besitzt aber einen ernst zu nehmenden Kern. Als zweiter Ausdruck der Marginalität erweist sich die Geschichte der Emigranten im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Kinbote ist historiographischer Einzelkämpfer und muss ohne institutionelle Unterstützung auskommen. Deutlichster Ausdruck hierfür sind der eremitische Ort seiner Geschichtsschreibung und seine Bücherarmut. In der Analyse erweist sich das Differenzgefüge (Raum, Zeit, Macht und Stimme) des Fußnotentextes Pale Fire auch als national-russisch codiertes. Dem epistemischen Problematisierungspotential des Romans ist – neben anderem – eine kulturelle Differenz vorgeschaltet. Gleichzeitig ist damit auch ein interpretatives Gefüge abgesteckt – nämlich die Frage nach dem Ort Russlands, die mitbestimmend für Nabokovs Werk erscheint. Hier lässt sich die Verbindung zu einem einflussreichen Artikel Viktor Erofeevs ziehen, der vom Metaroman Nabokovs gesprochen hat, der die Sujetstruktur seines Frühwerks bestimmt. Laut Erofeev ist dieser Metaroman geprägt von der literarischen Verarbeitung aus dem zu Beginn der Romane geschilderten paradiesischen Zustand vor der erzwungenen Emigration.138 Der Metaroman Nabokovs ist somit ein russischer Metaroman, der um die Verarbeitung des Verlusts der kulturellen Heimat kreist. Seine Struktur findet sich auch in Kinbotes Geschichte in Pale Fire wieder. Der König wird aus dem Paradies seiner Heimat Zembla vertrieben und muss im Exil einen neuen Lebenssinn entwickeln. Die Metaromane Nabokovs korrelieren dabei mit einem hohen Grad von Metafiktionalität, die der biographischen Verlusterfahrung (meta-)historiographische Tiefe verleiht.

Evgenij Popovs Plädoyer für den kleinen Stil Evgenij Popovs 1999 erschienener Roman Podlinnaja istorija «Zelenych muzykantov» erinnert in vielerlei Hinsicht an Nabokovs Fußnotenschaffen.139 Er enthält wie Pale Fire ein Vorwort des Kommentators, einen kurzen Primärtext, einen 888 Anmerkungen umfassenden Kommentarteil, der das Werk etwa im Verhältnis 5 : 1 dominiert sowie ein ebenfalls zum Roman gehörendes Register. Im autobiographisch orientierten Kommentarteil wird in v­ ergleichbarem Ausmaß in graphomanisch-egomanischem Duktus die Biographie eines fiktiven 138 Erofeev 1988, S. 138. 139 Hier liegt ein Widerspruch zur Auffassung Dmitrij Bykovs, der 2000 lakonisch in einer Rezension schreibt: „Поклонников у «Бледного огня» не много“ („Verehrer von ‚Pale Fire‘ gibt es nicht viele“). Bykov führt diesen Umstand auf die Qualität der Übersetzung und die nicht leichte Lektüre zurück, vgl. Bykov 2000.

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Herausgebers ausgebreitet. Der Titel von Popovs Roman verweist dabei auf einen weiteren Text Nabokovs, dessen 1941 erschienener englischsprachiger Erstling The Real Life of Sebastian Knight in der russischen Übersetzung ebenfalls das Signalwort podlinnyj im Titel trägt (Podlinnaja žizn’ Sebast’jana Najta) und um die Differenz zwischen ‚wahrer‘ Geschichte und erzählter Geschichte kreist. Neben den Parallelen zu Nabokov steht Popovs Kommentarexzess noch in einer weiteren Traditionslinie.140 Popov gehört zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten, für die die Kommentierung literarischer Texte und künstlerischer Aktionen seit den 1970er Jahren eine entscheidende Rolle einnimmt.141 Die „Kommentaromanie“ (319) der Konzeptualisten und Medhermeneuten unterstrich den Autonomieanspruch künstlerischer Produktion und kreierte einen Diskursraum, in dem die paratextuelle Rahmung den eigentlichen künstlerischen Gehalt des Werkes anzeigte. Konzeptualisten wie Il’ja Kabakov hatten dabei laut Sasse „die Idee, das Werk über den Kommentar bzw. die Interpretation erst entstehen zu lassen“ (317). Die „Ästhetisierung des Kommentarprinzips“ (319) schuf dabei ein eigenes Referenzprinzip, das unabhängig von der offiziellen Kultur existieren konnte. Eine der Eigenheiten des Popov’schen Kommentarstils liegt in seinem Interesse an den Interferenzen von offizieller und inoffizieller Kultur. PIZM bezieht sich auf eine im Stil des Sozrealismus fingierte Haupterzählung, die die Frage nach der Kommentierbarkeit des offiziellen sowjetischen Diskurses aufwirft. Diese Kommentierung findet ex post statt. Die sowjetische Literatur ist Ende der 1990er Jahre an ein Ende gelangt und lässt sich daher nur noch als historische Kontrastfolie begreifen, nicht länger als lebendige Referenz künstlerischer Produktion. In PIZM stellt sich somit die Frage nach dem Ort der sowjetischen Literatur als bereits historische. Der erste Satz des Vorworts lautet: Основной целью этого сочинения, написанного на исходе века и тысячелетия, является демонстрация грядущему поколению молодежи страданий и ошибок их «промотавшихся отцов» (М. Ю. Лермонтов).142

140 Beide Einflusslinien nennt auch Schamma Schahadat in ihrer Rezension, vgl. Schahadat 2000. 141 Sasse 2003, S. 318. 142 Popov 1999, S. 7. „Hauptanliegen dieses am Ende des Jahrhunderts und Jahrtausends geschriebenen Buches ist es, der ins Leben tretenden jungen Generation die Leiden und Fehler ihrer ‚heruntergekommenen Väter‘ (Michail Lermontow) vor Augen zu führen“ (Popow 1999, S. 11).

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Die Generation der Väter repräsentiert einerseits den von Sasse erwähnten „sozialistischen Urtext“, aber andererseits auch eine Kritik am Aufrichtigkeitspathos des Tauwetters, gegen das Popov ätzt. «Настоящее», очевидно, в смысле «искреннее». Это – вредное влияние статьи Вл. Померанцева «Об искренности в литературе», опубликованной «Новым миром» в самом начале «оттепели» и сильно раскритикованной большевиками.143

Hatte im Rahmen dieses Diskurses der Versuch überwogen, durch den Einschluss aufrichtiger Erzählstrategien den Haupttext innerhalb seiner sozrealistischen Gesetze zu transformieren, so erklärt PIZM die Absage an ein solches Verfahren. Die Geschichte lässt sich nicht textintern wahr-machen, sondern nur durch die Trennung der Textebenen.144 Dies geschieht durch eine Pluralisierung der Stimmen, die durch den Einschluss der Biographien befreundeter Dichter in den Fußnoten bewerkstelligt wird, die zuvor nicht öffentlich vernehmbar waren. Sie wird aber auch erzeugt durch den Einbau von folkloristischen Figuren, die eine auktoriale Sinngebung unterlaufen. Hierauf hat Raoul Eshelman im Kontext einer anderen Erzählung Popovs hingewiesen: An der Stelle, an der Zoščenko, Paustovskij oder Šukšin mit einer ironischen Nuance, mit einem auktorialen Vermerk oder mit der Einführung eines Regulativs die Sinnlinie noch „gerettet“ hätten, führt Popov die dezentrierende, sinnzersetzende Figur des „bič“ – einer Art sibirischen Hochstaplers – ein, der als beratende Instanz auftritt und dem buchstäblich das letzte Wort in der Erzählung zukommt.145

Auf die Figur des bič kommt Popov auch in PIZM zurück. Dort definiert er das Wort etymologisch „als ehemaliger intelligenter Mensch“ 146 und rückt die Figur 143 Popov 1999, S. 103, Hervorhebungen im Original. „‚Wahres‘ offenbar im Sinne von ‚Aufrichtiges‘. Das ist der schädliche Einfluss des Aufsatzes Über Aufrichtigkeit in der Literatur von Wladimir Pomeranzew, der von Nowy mir ganz zu Beginn des ‚Tauwetters‘ veröffentlicht wurde und heftige Kritik von Seiten der Bolschewiki hervorrief “ (Popow 1999, S. 107). 144 Diesen Aspekt unterstreicht auch Michail Zolotonosov in seiner Rezension: „Беспрерывный уход в комментарии не просто мешает, а вообще не дает читать. И в результате оказывается, что чтение и понимание – вещи противоположные, как реальная жизнь в СССР и ее описание средствами разрешенной тогда литературы“ (Zolotonosov 1998). „Das pausenlose Abschweifen in den Kommentaren stört nicht einfach nur, es verhindert prinzipiell das Lesen. Im Resultat zeigt sich, dass Lesen und Verstehen entgegengesetzte Dinge sind, wie das reale Leben in der UdSSR und seine Beschreibung mit den Mitteln der damals erlaubten Literatur.“ 145 Eshelman 1993, S. 197. 146 Popow 1999, S. 210. „Бывший Интеллигентный Человек“ (Popov 1999, S. 205).

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in die Nähe der Petersburger Untergrundgruppe Mitki.147 Diese Gruppen und Figuren, so die Suggestion des Textes, lassen sich nicht nachträglich in einen kulturellen Haupttext einschreiben, sondern stehen auch nach dem Ende des Sozialismus noch außerhalb dessen. Auf ganz ähnliche Weise kontrastiert Popov die spätsozialistischen Diskurse in seinem früheren Werk Prekrasnost’ žizni. Glavy iz „romana s gazetoj“, kotoryj nikogda ne budet načat i zakončen (Die Wunderschönheit des Lebens, 1990), in dem er sowjetische Zeitungsausschnitte mit einer Rahmenerzählung montiert. Eine Interviewaussage Popovs unterstützt diese Deutung, wenn er behauptet: What I wanted to do was to show the life of the country through the eyes of the government, through the newspapers … and in the stories, counterposed with this version, the life of the country from the point of view of one of its inhabitants.148

Was PIZM von diesem früheren Roman unterscheidet, ist die gestiegene Komplexität im Hinblick auf den Ausgangstext. Denn in PIZM tritt uns nicht eine ungefilterte Pressecollage entgegen, sondern ein von Popov selbst fingierter Text. Während in Prekrasnost’ žizni die Ebenen zwar nicht textorganisatorisch getrennt werden, aber deutlich als Konflikt zwischen eigener und fremder Rede markiert werden, geschieht in PIZM das Gegenteil. Hier erfolgt eine textorganisatorische Trennung zwischen Haupt- und Fußnotentext, dafür wird die Differenz in der Aussageabsicht nicht so sehr durch die Differenz zwischen eigener und fremder Rede konstruiert, sondern ins Innere des Individuums verlagert. Dieser innere Konflikt in PIZM zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Als Erstes stellt sich die Frage, wie die beiden im Text postulierten Zeitebenen – 1974 und 1998 – werkbiographisch korrespondieren. Als Schlüssel zur Deutung dieser Frage erweist sich Fußnote 745: Что ж, читатель, пора раскрывать секрет. Иван Иваныч нынче один из самых могущественных людей в нашей стране, и написал я «Зеленых музыкантов» не в 1974 году, а месяц назад, по заказу этого человека, который настолько велик, что его никто не знает в лицо. Ивану Иванычу захотелось вспомнить босоногое детство. Он позвал меня и сказал: «А напиши-ка ты, братец, роман, как простой сибирский парнишка стал мной, а я тебе дам за это много денег.» «Jawohl, Ваше Превосходительство», – вытянулся я. (Шучу, шучу, опять шучу, товарищи!)149

147 Zur Gruppe vgl. Mihailovic 2019. 148 Laird 1999, S. 135. 149 Popov 1999, S. 317. „Nun denn, lieber Leser, es ist Zeit, das Geheimnis zu lüften. Iwan Iwanytsch ist heute einer der mächtigsten Männer in unserem Land, und die Grünen Musikanten habe ich nicht 1974, sondern vor einem Monat geschrieben, als die Auftragsarbeit dieses Mannes, der so groß ist, daß ihn niemand von Angesicht zu A ­ ngesicht

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Die Frage nach dem Verhältnis von 1974 und 1998 stellt sich nicht nur im Hinblick auf die Texttraditionen, sondern auf die Biographie des russischen Jedermann Ivan Ivanyč. Dessen Idiosynkrasie ist weiterhin so unbekannt, dass keiner ihn erkennt („nikto ne znaet v lico“) und er somit schriftstellerisch ermittelt werden muss. Im Kontext der 1990er Jahre lässt sich das Zitat auch als politische Kritik an der Elitenkontinuität zwischen sozialistischer Nomenklatura und Neuen Russen lesen. Die metafiktionale Selbstanzeige gegen Ende des Zitats führt den Diskurs um die „wahre Geschichte“ dabei ad absurdum und verweist sie zurück an den eingangs des Kommentars angerufenen Leser. Der Leser („čitatel’“), der gleichzeitig ein sozialistischer Genosse („tovarišč“) ist, befindet sich dabei in einem Verhältnis der Komplizenschaft zum zur Schau gestellten Opportunismus des Autors und hat, um den Wahrheitsgehalt der Zeitverhältnisse zu eruieren, seine eigene Biographie zu konsultieren. Die Zuflucht zur Fußnote wird dabei als Frage literarischer Haltung verhandelt und gegenüber dem genus grande der biographistischen und epischen Selbstrechtfertigungsprojekte der 1990er Jahre abgegrenzt, die als Zynismus gebrandmarkt werden: „У циников-совписов была поговорка: ‚Если делать, так по-большому‘.“ 150 Die zweite Ebene ist narratologischer Natur. Bei Genette heißt es: Wenn der Paratext ein oft unbestimmter Randbereich zwischen Text und Nicht-Text ist, so veranschaulicht die Anmerkung, die je nach dem zum einen oder zum anderen oder zum Zwischenbereich gehören kann, diese Unbestimmtheit und diese Labilität bestens.151

Die Fußnotenstruktur des Textes ist das Verfahren, durch das sich die gesellschaftlichen Ambivalenzen, die Popov im Sinn hat, am besten einfangen lassen. Die postsowjetische Literatur und der Homo postsovieticus changieren beide gleichermaßen zwischen Kontinuität, Diskontinuität und Dissoziation. Räumlich, zeitlich und stimmlich sind die einzelnen Ebenen nicht so klar zu unterscheiden, wie man es literarisch und politisch wünschen würde – so die politische Botschaft des Textes. Er entfaltet damit die für die Diskurse der 1990er Jahre reflektiert zu nennende These der Unmöglichkeit, den Sozialismus als Differenzgefüge zu beschreiben.152 kennt. Iwan Iwanytsch hatte Lust bekommen, sich seiner barfüßigen Kindheit zu erinnern. Er rief mich zu sich und sagte: ‚Also, mein Lieber, schreib doch mal einen Roman darüber, wie ein einfacher sibirischer Junge das geworden ist, was ich heute bin, dafür bekommst du von mir viel Geld.‘ – ‚Jawohl, euer Hochwohlgeboren, sagte ich Haltung annehmend.‘ (Ein Scherz, Genossen, wieder mal ein Scherz!)“ (Popow 1999, S. 324). 150 Popov 1999, S. 209. „Zynische Sowjetschriftsteller hielten sich an die Redensart: ‚Will man etwas tun, so muß man (es) groß machen‘“ (Popow 1999, S. 213). 151 Genette 1989, S. 327. 152 Dies gilt für Popovs Buch auch in Bezug auf die Sprache, deren alternierende Funktionen Ingunn Lunde in ihrer Analyse betont, vgl. Lunde 2009, S. 84.

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Dmitrij Galkovskijs Metaisierung von Mikrostrukturen Die Struktur von Dmitrij Galkovskijs Fußnotentext Beskonečnyj tupik entzieht sich der Beschreibung im Rahmen des Differenzmodells schließlich gänzlich. Die erste Ausgabe verzichtet auf einen Abdruck der Ausgangsgeschichte und besteht lediglich aus 949 Kommentaren, die sich zu einem geringeren Teil dem Haupttext, zu einem größeren Teil der Kommentierung der Kommentare widmen. Somit entsteht eine hypertextuelle Struktur,153 die Galkovskij im Umschlag der 2008er-Ausgabe seines Werks mittels der Baummetaphorik visualisiert hat. Leben Nabokovs und Popovs Romane primär durch die Spannung zwischen Haupttext und den Digressionen des Kommentarteils, so kreiert Galkovskij vermeintlich einen Text ohne eigentliches Zentrum. Annette Gilbert hebt in ihrer Analyse die Ursprungslosigkeit und Assoziativität von Beskonečnyj tupik hervor und interpretiert das Werk als „radikale Form reiner Diskursivität“,154 „als eine planlose, allein nach dem Zufalls- und Additionsprinzip erfolgende Aneinanderreihung disparater Assoziationen und Gedanken“ (335), deren unabschließbarer Charakter es in die Nähe ­postmoderner Rhizomatik rückt. Diese Deutung lässt sich erweitern, essentialisiert Galkovskijs Werk doch diese Zerstückelung kulturologisch und erklärt sie zum Wesen russischen Denkens. In dieser Essentialisierung geht das Werk zum Wurzelbuch zurück, dessen Stamm – der Haupttext – aus dem Denken Vasilij Rozanovs besteht.155 Galkovskijs Text ist somit ein Hybrid zwischen den von Deleuze und Guattari beschriebenen Typen des büscheligen Wurzelbuchs und des Rhizoms. Das büschelige Wurzelbuch ist der Buchtyp der Moderne, in dem eine „Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern“ 156 beginnen, der dabei aber dennoch auf Vorstellungen der Einheit rekurriert und „nicht wirklich mit dem Dualismus, mit der Komplementarität von Subjekt und Objekt, Natur und Geist bricht“ (10). Übersetzt auf die Thematik der Differenz verbleibt dieser Buchtyp noch innerhalb eines dualistischen Gefüges. Weiterhin erhebt es einen Totalitätsanspruch, den Deleuze und Guattari pointiert 153 Henrike Schmidt hebt in ihrer Analyse die Stellung Galkovskijs, der „Kultstatus im Internet“ (2011, S. 467) besitze, als Vorläufer russischer Internetliteratur hervor. Sie schreibt: „Einen Hypertext vor dem Hypertext nennt der Autor dieses Werk, das er nach eigenen Aussagen in mühevoller Kleinarbeit digitalisiert hat. Erst hier, im Internet, erlange diese intern vielfach vernetzte Textkompilation ihre natürliche Erscheinungsform“ (196). 154 Gilbert 2003, S. 346. 155 Deutlich wird dies vor allem an der den Buchumschlag bildenden Graphik des Fußnotenapparats, die auch Gilbert in ihrer Analyse bespricht, vgl. Gilbert 2003, S. 332 f. 156 Deleuze/Guattari 1977, S. 9.

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zusammenfassen: „[D]as Buch wird umso totaler, je zerstückelter es ist“ (10). Das Rhizom verzichtet hingegen auf diesen Einheitsanspruch, der von „Zentren der Signifikanz und Subjektivierung“ (27) transportiert wird. Diese hybride Stellung des Textes manifestiert sich im Titel. Endlose Sackgasse ist ein Oxymoron, der das Nichtabschließbare, das rhizomatisch wuchernde Endlose und das Abgeschlossene der Sackgasse in sich vereint. Diese Spannung gilt es nicht in eine der Richtungen aufzulösen, sondern metahistoriographisch produktiv zu machen. Die eben diskutierte Frage nach der Buchstruktur wird in Beskonečnyj tupik an der russischen Literaturgeschichte scharfgestellt. Ein Großteil der Anmerkungen besteht aus Zitaten von und Kommentaren zu russischen Schriftstellern und Denkern, unter denen Anton Čechov, Fedor Dostoevskij, Vasilij Rozanov und Vladimir Nabokov eine herausgehobene Rolle einnehmen. Ihre Werke werden kulturosophisch in Bezug auf das Hauptthema des Werks – die „Geschichte der russischen Kultur des 19. und 20 Jahrhunderts und das Schicksal der ‚russischen Persönlichkeit‘“ 157 – arrangiert. Das Anliegen der vorliegenden Analyse ist es nicht, den Bezügen zu einzelnen Denkern hier im Detail nachzugehen, sondern deren Stellung in Bezug auf die Gesamtkomposition des Textes zu eruieren. Bei der Erstlektüre fällt die Leitstellung Rozanovs auf. Bereits der erste Kommentar verweist auf Rozanov und seine Schlüsselstellung für ein Verständnis des Hauptprotagonisten Odinokov und der russischen Kultur: „я хочу говорить о Розанове, а не о себе, в нём, в его идеальной актуализации национального опыта разгадка и моего ‚я‘.“ 158 Auf die zentrale Stellung Rozanovs, dem auch der 2008 schließlich abgedruckte Haupttext gewidmet ist, hat vor allem Oliver Ready in seiner Analyse hingewiesen: Im Umkreis europäischer Kulturen hebt Rozanov die russische Geschichte durch die Rolle heraus, welche die Literatur in ihr gespielt habe. Allein in der russischen Geschichte sei die Literatur nicht zu einer Erscheinung wie in anderen Kulturen geworden, sondern zu ihrem Wesen.159

Der historiographische Modus, der Galkovskijs Werk zugrunde liegt, zeigt sich auch in Bezug auf seine Erörterung von Vladimir Nabokovs Pale Fire. In der ersten diesem Werk gewidmeten Anmerkung heißt es: 157 „Это философский роман, посвящённый истории русской культуры XIX – X X вв., а также судьбе «русской личности»“ (Galkovskij 2008, S.  IV , Hervorhebung im Original). 158 Galkovskij 2008, S. 1. „Ich möchte über Rozanov sprechen, und nicht über mich, denn in ihm, in seiner idealen Aktualisierung der nationalen Erfahrung liegt auch die Lösung für mein ‚Ich‘.“ 159 Grübel 2003, S. 500.

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Русским нужен активный донор, которого можно доводить. Интересны не сокровища сами по себе, а их обладатель. И русский раскрывается перед донором, очаровывает его. Очаровывает как самоцель, а не для чего-то. В логическом конце это приводит к сaмoпapaзитизмy . Русский паразитирует на себе, на собственных мыслях. Набоков начал с комментариев к «Евгению Онегину», но не смог остановиться и написал „Бледный огонь“. […] Хотя «Бледный огонь» англоязычное произведение, но ирония национального рока сделала саму структуру этой вещи гротескно русской. Интересно, что «миттельшпиль», формально наименее творческая часть романа, фактически на порядок выше «дебюта» по мощи фантазии. Собственно ничто, «комментарии», превращаются во всё. […] В такой системе отсчёта и русская история может обернуться фантасмагорическим «комментарием» к «Онегину».160

Das Kommentarprinzip wird hier kulturologisch nationalisiert. Die Fußnotenstruktur selbst wird zur genuin russischen erhoben, Nabokovs Sujetwahl als logische Konsequenz aus seiner Gebundenheit an die russische literarische Tradition erklärt. Wie auch im Falle Rozanovs schlägt das Prinzip der Zerstücke­ lung, das eigentlich auf die Auflösung von Ordnungsmustern zustrebt, dialektisch in eine Allsynthese um. Grundlage dieser Synthese ist Puškins Onegin, der zu dem Metatext der russischen Literatur und Kultur erhoben wird. Die Kommentare zu diesem Text sprießen dabei phantasmagorisch in alle Richtungen, bleiben aber stets vom Haupttext abhängig. Diese Genealogie zeigt, dass der Inhalt des Stamm-Baums in Beskonečnyj tupik substituiert werden kann. Sowohl Rozanov als auch Puškin – eventuell auch Dostoevskij und Čechov – kommen als Stamm-Väter in Frage. Stilistisch unterscheiden sich diese Autoren selbstverständlich in mehrfacher Hinsicht, sie finden aber einen gemeinsamen Nenner: ihr Russentum.

160 Galkovskij 2008, S. 268 f., Hervorhebungen im Original. „Der Russe braucht einen aktiven Spender, den er nutzen kann. Interessant sind nicht die Schätze an sich, sondern deren Besitzer. Und der Russe öffnet sich vor dem Spender, bezaubert ihn. Er bezaubert ihn als Selbstzweck, nicht um irgendetwas zu erreichen. Letzen Endes führt dies zur Selbstparasitierung . Der Russe steht in einem parasitären Verhältnis zu sich selbst, zu seinen eigenen Gedanken. Nabokov begann mit Kommentaren zu ‚Eugen Onegin‘, aber er konnte nicht stoppen und schrieb Pale Fire. Obwohl Pale Fire ein englischsprachiges Werk ist, führte die Ironie des nationalen Schicksals/Fatums dazu, dass die Struktur des Werks übertrieben russisch geworden ist. Es ist interessant, dass das ‚Mittelspiel‘, formal gesehen der am wenigsten schöpferische Teil des Werks, faktisch viel stärker als ‚Debüt‘ ist, was die Macht der Fantasie angeht. Eigentlich ein Nichts, verwandeln sich die Kommentare in ein Alles. […] Innerhalb dieses Bezugssystems kann die russische Geschichte zu einem fantasmagorischen ‚Kommentar‘ zum ‚Eugen Onegin‘ umgewandelt werden.“

Fußnoten der Geschichte253

Im Kommentar zum eben zitierten Kommentar 263 wird dabei der historiographische Modus dieser Bezugnahme expliziert: Как известно, существуют два вида комментариев: герменевтика, то есть «герметический» анализ текста, строгое следование его содержанию, и экзегетика – «мысли по поводу». Для еврейской и русской культур из-за их дуализма свойственно смешение первого и второго. Для еврея внешняя экзегетика оказывается по сути герменевтикой. Для русского – наоборот.161

Hermeneutik und Exegese werden als zwei Weisen der kommentarischen Welterzeugung ebenfalls national-kulturologisch essentialisiert. Das russische Denken wird dabei zum prototypischen exegetischen Denken erklärt und steht in Nähe zum religiösen Denken. Das Metamoment der Nabokov’schen Texte wird im Rahmen dieser Denkstruktur zwar betont, bleibt allerdings in einer größeren nationalen Literaturhistoriosophie gefangen: „Каждое произведение Набокова это метапроизведение, оно и ощущается читателем как ‚мета-‘ из-за этой микрокосмичности.“ 162 Diese Form der aufhebenden Metaisierung des Nabokov’schen Ansatzes lässt sich als allgemeiner Kommentar zum Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur im Werk interpretieren. Kleinformen wie der Kommentar oder die Fußnote stehen dort im Dienst einer Synthese. Die historisch verursachte Zersplitterung der russischen Geistesgeschichte lässt sich nach den Jahren des Sozialismus für Galkovskij zwar nurmehr in Form einer zerstückelten Mikrogeschichte erzählen. Diese wird jedoch sakralisiert und essentialisiert und schlussendlich in den Dienst einer kulturologischen Metaisierung gestellt – eine Strategie, die für viele Texte des Interregnums kennzeichnend ist. In Beskonečnyj tupik aktualisieren sich somit schließlich beide Buchtypen. Inhaltlich wie formal scheint eine rhizomatische, an der postmodernen Epistemologie orientierte Lesart naheliegend. Die Dialektik von Form und Inhalt wird jedoch – und dies zeigt der Verweis auf den hegelianisch-dialektischen Charakter des Werkes, der prominent im ersten Kommentar platziert wird 163 – 161 Galkovskij 2008, S. 247 f. „Wie bekannt existieren zwei Arten von Kommentaren: die Hermeneutik, das heißt eine hermetische Analyse des Textes, mit einer akkuraten Ermittlung seines Inhalts und die Exegese – ‚Denken im Zusammenhang mit einem Anlass‘. In der jüdischen und russischen Kultur werden in diesem Dualismus das erste und zweite Element in jeweils eigener Weise vermischt. Für einen Juden erweist sich die äußere Exegetik in der Essenz als Hermeneutik. Für einen Russen gilt genau das Gegenteil.“ 162 Galkovskij 2008, S. 531. „Jedes Werk Nabokovs ist ein Metaerzeugnis und es fühlt sich für den Leser als solches gerade wegen seiner Mikrokosmizität an.“ 163 „Что ж, начало в высшей степени классическое. Это классическая «гегелевская триада»“; Galkovskij 2008, S. 1.

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Die Artefaktualität der Metahistoriographie

s­ chlussendlich synthetisiert. Als totalitärer Stamm des Werkes erweist sich dabei die russische Literatur bzw. das russische Denken – sie wird in der kulturologischen Volte, die der Text vollzieht, zum russischen Metaroman schlechthin. Während Popov für den kleinen Stil plädiert, scheint Galkovskij kein Stil groß genug sein zu können, um sein Superprojekt zu verfolgen.

5.  Die Topographie der Metahistoriographie Die Funktionsweise einer Gesellschaft anhand der Organisation und Struktur ihrer räumlichen Ordnungssysteme zu beschreiben, ist mittlerweile ein methodologischer Allgemeinplatz der Kulturwissenschaften. Insbesondere Michel ­Foucault hat in seinen Analysen des Gefängnisses und der Psychiatrie die Grundzüge der modernen Disziplinargesellschaft in ihrer topographischen Logik heraus­gearbeitet. Edward Sojas programmatische Forderung, das historische Narrativ zu verräumlichen,1 aktualisiert dieses Programm auch für die Historiographie. Ihr ist auch dieses Kapitel verpflichtet, das anstrebt, die histo­ riographischen Paradigmenwechsel des Interregnums als Transformationen der Funktionsweise zentraler historiographischer Institutionen zu beleuchten. Methodisch steht dieser Ansatz in der Tradition des von Sigrid Weigel ausgerufenen Topographical Turn. Ihr zufolge hat dieser „in der Literaturtheorie dazu geführt […], die Orte nicht mehr nur als narrative Figuren oder Topoi, sondern auch als konkrete, geographisch identifizierbare Orte in den Blick zu nehmen“.2 Die einzelnen untersuchten Orte – im Falle dieses Kapitels das Archiv, das Museum und das Irrenhaus – werden deshalb nicht primär motivgeschichtlich untersucht, sondern als ästhetische Topoi, die in konstitutiver Wechselbeziehung zu konkreten räumlich-inhaltlichen Verschiebungen in der Organisation dieser Institutionen im untersuchten Zeitraum stehen. Aus metahistoriographischer Sicht interessieren hierbei weniger die eher offensichtlichen Machtfragen der Inklusion/Exklusion als epistemologische Verschiebungen, die in einer diachronen Situierung innerhalb der russischen Kultur- und Geistesgeschichte und in einer synchronen Verortung in zeitgleichen internationalen Debatten zu Tage treten. Vittoria Borsò hat gezeigt, wie einzelne Topo-Graphien dabei auf topologischen Grundlagen aufbauen,3 die die Bedingungsverhätlnisse von Räumlichkeit in den Blick nehmen. Sie versteht Topologie dabei als „Möglichkeit einer Episte­ mologie der Produktion von Raumdynamik“ und fokussiert auf die Widerständigkeit alternativer Raumlogiken des Dazwischen, in denen sich Differenzen artikulieren können und neue Weltverhältnisse ausgeprägt werden (290). Mich interessiert dabei vor allem das spezifische Erkenntnispotential der einzelnen Institutionen im Bereich des Historiographischen, auf das in der Analyse ein besonderer Schwerpunkt gelegt werden soll. 1 Soja zit. nach Weigel 2002, S. 154. 2 Weigel 2002, S. 158. 3 Vgl. Borsò 2007, S. 280.

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Die Topographie der Metahistoriographie

5.1  „Und wenn man eine Auskunft braucht?“ – Archivologische Operationsweisen Als im Sommer 1914 die Julikrise Europa in Atem hält, beendet Ivan Bunin seine Erzählung Archivnoe delo (Die Archivsache).4 Ebenso wie in den diplomatischen Depeschen dieser Tage geht es in Bunins Geschichte darum, wie auf den Tod eines hohen Repräsentanten der alten Ordnung zu reagieren sei. „Zwei völlig verschiedene Welten“ 5 stehen bei Bunin im Widerstreit, die Welt von unten und die Welt von oben. Erstere wird repräsentiert von Fissun, einem „Archivar aus tiefster Überzeugung“,6 während für Letztere die sich modernisierende zemstvo-Verwaltung mit „Proteste[n], Wünsche[n], Forderungen und flammende[n] Reden“ 7 nach revolutionären Veränderungen steht. Die Sympathien des Erzählers scheinen zwischen den „Gebirgshöhen“ der modernen Verwaltung und dem „dunkle[n] Jammertal des Archivs“ 8 klar verteilt, doch der chronotopologische Dualismus gerät zum Ende der Erzählung hin ins Wanken. Fissun wagt den Aufstieg nach oben, um einer revolutionären Rede zu lauschen, doch sein Exodus aus dem tödlichen Archivverlies 9 endet tragisch. Der schwerhörige und entkräftete Fissun verlässt die Versammlung und verkriecht sich in der Herrentoilette. Hier trifft er wenig später auf den revolutionären Redner. Entgeistert stehen sich die beiden gegenüber, Fissun verschlägt es die Sprache und aus Schock und Scham ob seines Gesichtsverlusts stirbt er nur eine Stunde später nach seinem folgenschweren ersten Aufstieg aus dem Archiv. Die Erzählung endet mit dem Rezeptionshinweis: „Так вот, ежели понадобится справка о нашем времени, пригодится, может быть, и моя справка о нем.“ 10 Das Aufgreifen des Wortes spravka 11 signalisiert, dass sich die Sympathien 4 Ursprünglich hieß die Geschichte Svjatočnyj rasskaz (Eine Weihnachtsgeschichte), wurde später allerdings von Bunin umbenannt. Für eine Deutung der Erzählung im Kontext der Archivbilder ihrer Zeit vgl. Čerkasov 2010. 5 Bunin 2017, S. 139; „два совершенно разных мира“ (Bunin 1974, S. 292). 6 Bunin 2017, S. 132; „убежденнейший архивариус“ (Bunin 1974, S. 289). 7 Bunin 2017, S. 145; „страстных протестов, пожеланий, требований и самых зажигательных речей“ (Bunin 1974, S. 294). 8 Bunin 2017, S. 142; „архивную юдоль с горних высот“ (Bunin 1974, S. 293). 9 Vgl. „смертную архивную сень“ (289). 10 Bunin 1974, S. 297. „Wenn also einmal eine Auskunft über unsere Zeit benötigt wird, dann wird vielleicht auch meine Auskunft dienlich sein“ (Bunin 2017, S. 152). 11 Die Wahrheitsfunktion der spravka im Bereich des Historischen lässt sich auch etymologisch erhärten, leitet sich das Wort spravka doch vom altrussischen s’’prava ab, was als „etwas richtig machen“ übersetzt werden kann.

„Und wenn man eine Auskunft braucht?“257

des Erzählers schlussendlich gewandelt haben. Denn für die Möglichkeit des Auskunftgebens stehen nur das Archiv, in dem die Erzählung früher oder später landen wird, und sein Repräsentant Fissun, dessen Existenzberechtigung auf Nachfrage stets lautete: „А ежели справка понадобится?“ 12 Die alte Geschichte, die am Ende der Erzählung beschworen wird, steht letztlich über der Suche nach dem Neuen Menschen. Die zeitlose Wahrheit der Geschichte wird diesem früher oder später in die Augen springen 13 und nur das Archiv wird dann in der Lage sein zu zeigen, dass die Abgesänge auf die alte Welt und ihre Repräsentanten verfrüht waren. Das Archiv repräsentiert in Bunins Erzählung nicht allein eine eng mit der Macht verbundene Institution – wie mehrfach betont wird –, sondern eine spezifische historiographische Operation. Bezeichnet werden kann diese mit Jacques Derrida als archivarische Geste, als Deklaration eines Sachverhalts zu einem historisch Bedeutsamen.14 Paul Ricœur spricht vom „Moment des Archivs“, wenn „die historiographische Operation in die Schrift eintritt“. Durch die Archivierung löst sich die Geschichte vom „Narrator“ und „unterbricht eine Kontinuität“. Als Resultat dieses Bruchs „tut sich zwischen dem Sagen und dem Gesagten eine subtile Kluft auf, die der Aussage, dem Gesagten der gesagten Dinge, eine Karriere zu verfolgen erlaubt, die man im strengen Sinn literarisch nennen kann“.15 Den Moment der Entstehung dieser subtilen Kluft fokussiert die Erzählung Bunins. Der Schlüssel ihrer Deutung liegt in ihrem Ende, wenn die Institution des Archivs in das literarische Produkt der Archivgeschichte transformiert wird. Das wahre Archiv ist literarischer Natur, die spravka, die sich der Rezipient erhofft, mit der Institution Archiv verbunden, aber nicht identisch. Die Erzählung wird selbst zur spravka und übernimmt in einer prophylaktischen, den bolschewistischen Archivstürmen vorgreifenden Archivierungsgeste die Funktion des Archivs. Im Gestus der Selbstanzeige (moja spravka) wird der Erzähler übergriffig, er nimmt das Terrain des Archivarius ein und literarisiert es. Von dieser vorrevolutionären Archivierungsgeste unterscheidet sich die literarische Archivierungspraxis im Stalinismus, die man in Venjamin Kaverins Roman 12 Bunin 1974, S. 289. „Und wenn einmal eine Auskunft benötigt wird?“ (Bunin 2017, S. 133) 13 Bunin 1974, S. 297; „резче ударят тогда в глаза нового человека строки этой старой истории“. „Umso stärker werden dem neuen Menschen die Zeilen dieser alten Geschichte ins Auge stechen“ (Bunin 2017, S. 151). 14 Vgl. Derrida 1997. 15 Ricœur 2004, S. 255 f.

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Die Topographie der Metahistoriographie

Ispolnenie želanij (Die Erfüllung der Wünsche, 1936) findet.16 Im Zentrum dieses Romans steht das Archiv des Historikers Bauer, in dem der Student Trubačevskij zu arbeiten beginnt und aus verschlüsselten Fragmenten das zehnte Kapitel von Puškins Evgenij Onegin rekonstruiert. Trotz seines akademischen Erfolgs im Archiv gerät Trubačevskij in die Stricke des dekadenten Umfelds der Verwandten von Bauer, der selbst – integer, aber schwerkrank – Diebstahl und Plünderung des Archivs nicht verhindern kann. Die Handlung nimmt eine katastrophische Wendung, sodass sich Trubačevskij schlussendlich entschließt, sein Leben als Historiker und Archivarbeiter zu beenden und zum Dneprstroj zu gehen. Dort lauscht er mit Faszination den Schilderungen eines Genossen zur neuen Technik: Но дерриками и грейферами у них интересовались, очевидно, еще больше, чем историей, потому что он принялся рассказывать о них, и так занимательно, что Трубачевский, которому нужно было выйти, дождался того, что нужно было уже не идти, а бежать.17

Trubačevskij tauscht das Archiv mit der Baustelle, er wird vom Archivautor zum Produzenten. Die historiographische Operation Anfang der 1930er Jahre dient nicht der Überführung der Realität in Schrift, sondern in ein Bauwerk.18 Die Geschichte der Sowjetunion findet sich nun in der von Gor’kij kuratierten Istorija fabrik i zavodov (Geschichte der Fabriken und Werke), die geschrieben wird, noch während die Fabriken und Projekte gebaut werden. Archivarbeiter und Archäologen kommen in diesen Geschichten meist als Störenfriede vor, nicht als historiographische Agenten. Die stalinistische Archivierungsgeste findet somit nicht im Archiv statt, sondern äußert sich in Form einer performativen Praxis, durch die die erinnerungswürdigen Dinge erst erzeugt werden. Eine literarische Karriere gibt es hier nicht zu verfolgen. Sie wird erst wieder mit der Öffnung der Archive und der Rückholung des Archivs als Chronotopos des Sag- und Schreibbaren während des Interregnums möglich. Diesem Prozess soll hier nun nachgegangen werden. Dürfen die Diskussionen um die Archivrevolution in ihrer Bedeutung für die ­geschichtswissenschaftliche 16 Unter anderen Vorzeichen hat Gunnar Lenz jüngst eine Relektüre des Werks Kaverins im Hinblick auf die Problematisierung der Zuordnung Kaverins zum orthodoxen sozrealistischen Kanon gefordert (vgl. Lenz 2015, S. 144 – 158). 17 Kaverin 1959, S. 362 f. „Doch für Kräne und Greifer interessierte man sich offensichtlich noch mehr als für Geschichte, denn er fing an, davon zu erzählen, und zwar so fesselnd, daß Trubatschewskij, der eigentlich hinaus mußte, so lange wartete, bis er nicht nur gehen, sondern laufen mußte“ (Kawerin 1976, S. 316). 18 So herrscht in der russischen Moderne die Metaphorik der Baubarkeit der Welt vor, die die Leitstellung der Lesbarkeitsmetaphorik ablöst, vgl. hierzu Strätling 2016.

„Und wenn man eine Auskunft braucht?“259

Arbeit als gut aufgearbeitet gelten,19 so hat dies in weitaus geringerem Maße für die epistemische Dimension des Archivs in der Periode des Interregnums Gültig­ keit.20 Eine motivgeschichtliche, literaturzentrierte Arbeit zum Archivtopos in der jüngeren russischen Literatur fehlt. Das folgende Unterkapitel kann diese nicht ersetzen, möchte aber mit seiner Untersuchung der zwei historiographischen Archivierungsgesten der Diskursivierung und Literarisierung erste Ansätze liefern. Letztere resultieren aus einer spezifischen, aus dem sowjetischen Umgang mit Archiven erwachsenden Konstellation, die einführend kurz skizziert werden soll, bevor die Modi ihrer Überwindung am Beispiel des Werks von Vadim Zakharov und Ljudmila Ulickaja analysiert werden sollen.

Das Aposteriori des Archivs In seiner Archäologie des Wissens hat Michel Foucault das Archiv als historisches Apriori bestimmt.21 Das Archiv wirkt bei ihm als Codierungsinstanz, die Realität „produziert, anstatt diese – wie die Geschichtswissenschaft – zu repräsentieren.“ Mit Foucault lässt sich konstatieren: „Archive gehen der Geschichtsschreibung voraus, die deren Effekt ist.“ 22 Die von Foucault beschriebe Wirkweise des Archivs als Dispositiv, das Gesetze und Regeln des Sagbaren definiert, gilt unabhängig von Zeit und Ort. Versucht man allerdings, wie es die eben zitierte Aussage Knut Ebelings und Stephan Günzels suggeriert, die Wirkweise des Archivs als Dispositiv mit der des Archivs als Institution kurzzuschließen, so ergibt sich für den spätsowjetischen Kontext eine interessante Verschiebung. Alle substantielle Geschichtsschreibung muss hier ohne Rückgriff auf die Institution Archiv auskommen. Dies gilt z. B. für die jüngst ins Blickfeld gerückten dissident historians,23 denen der Zutritt zu den Archiven verwehrt wird. Die Geschichte soll zwar urteilen, so ließe sich in Anknüpfung an den Titel von Roj

19 Vgl. u. a. von Hagen 1993; Kozlov/Lokteva 1997; Raleigh 2002; Baberowski 2003; ­Plamper 2003. 20 Verstanden hier im Anschluss an Paul Ricœur und Michel de Certeau: „Das Archiv ist nicht nur ein physischer, räumlicher Ort, sondern auch ein sozialer, und es ist dieser Blickwinkel, unter dem Michel de Certeau in der ersten seiner drei Arbeiten über die – vor mir von ihm so genannte – historiographische Operation darüber handelt. Ein Produkt mit einem Ort zu verbinden ist, wie er sagt, die erste Aufgabe einer Episte­ mologie der historischen Erkenntnis“ (Ricœur 2004, S. 257). 21 Vgl. Foucault 1988, v. a. S. 183 – 190. 22 Ebeling/Günzel 2009, S. 14, Hervorhebungen im Original. 23 Martin 2019.

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Die Topographie der Metahistoriographie

Medvedevs berühmten Buch Let History Judge (1972) formulieren, sie muss dies jedoch ohne die Autorität des Archivs tun. Die Geschichtsentwürfe der Zeit, insbesondere Solženicyns Archipel-Projekt, basieren auf Oral History, nicht auf Archivarbeit, und sie gehen auch nicht davon aus, dass sich auf Grundlage des Archivs jemals eine Geschichte der Sowjetunion schreiben lasse. Я не дерзну писать историю Архипелага: мне не досталось читать документов. Но кому-нибудь когда-нибудь – достанется ли? … У тех, не желающих вcпoминaть , довольно уже было (и еще будет) времени уничтожить все документы дочиста.24

Dies führt zu einer experimentellen Methodologie, deren Ergebnisse aber ohne Rückgriff auf Quellen und offizielle Dokumente prekär bleiben müssen. Eben dieser Umstand führt dazu, dass die sowjetische Geschichte als legitimes Untersuchungsobjekt der Geschichtswissenschaft auch im Westen in Zweifel gezogen wird. Sheila Fitzpatrick beschreibt in ihren Memoiren, welche Widerstände sie im In- und Ausland zu überwinden hatte, als sie sich Mitte der 1960er Jahre in Moskau der Erforschung der Rolle Anatolij Lunačarskijs in den 1920er Jahren widmen wollte. „This lack of access to the archives was one of the reasons given by Russian historians in the West for considering the Soviet history not a legitimate object of study for historians.“ 25 Die Hypothek, die dadurch der Beschäftigung mit der sowjetischen Geschichte erwuchs, wurde in den Jahren der Perestrojka offenbar, als der Zugang zu den Archiven liberalisiert wurde. Denn zu diesem Zeitpunkt waren die Großdeutungen bereits ohne Rückgriff auf die Archive geschrieben und die Erwartung, dass sich durch den Zugang zu den Archiven irgendetwas verändern würde, wurde von einflussreichen Stimmen wie der Stephen Kotkins als Merkwürdigkeit abgetan: It might seem odd that in the case of a twentieth-century society, such as the Soviet Union, even though millions of published and unpublished sources have long been available, sudden access to new written records could be expected to revolutionize understanding.26

Neben der Ignoranz gegenüber den neu hinzukommenden Dokumenten ließ sich allerdings auch die entgegengesetzte Reaktion beobachten. Durch deren Quantität überwältigt, verlegten sich die Historiker auf die bloße V ­ erfügbarmachung der 24 Solženicyn 1973, S. 7, Hervorhebung im Original. „Ich wage es nicht, die Geschichte des Archipels zu schreiben; der Zugang zu Dokumenten war mir verschlossen. Aber werden sie jemals für jemanden zugänglich sein? Die sich nicht erinnern wollen, hatten (und haben) Zeit genug, alle Dokumente bis aufs letzte Blatt zu vernichten“ (Solschenizyn 1978, S. 10). 25 Fitzpatrick 2013, S. 170. 26 Kotkin 2002, S. 36.

„Und wenn man eine Auskunft braucht?“261

Dokumente – und verzichteten auf die eigentliche geschichtswissenschaftliche Arbeit, die Kontextualisierung und Narrativierung des Materials.27 Es trat also gewissermaßen eine geschichtswissenschaftliche Aphasie ein, die dazu führte, „daß sich kaum noch ein Historiker als qualifizierter Experte für die sowjetische Geschichte insgesamt betrachten“ konnte (297). Der Umschlag der archivarischen Quantität in historiographische Qualität misslang also zunächst und stellt bis heute eine Herausforderung dar. Wie diese sprachlich-gedankliche Paralyse die Struktur der Arbeit über die sowjetische Vergangenheit bis heute prägt, lässt sich an der späteren Wirkungsgeschichte des Archipel-Projekts Solženicyns zeigen. So schließt Johannes ­Grützmacher seine Einordnung des Werks, die er etwa 30 Jahre nach dessen Erscheinen vornimmt, mit den Sätzen: Der „Archipel Gulag“ bleibt ein Meilenstein der russischen Literatur ebenso wie der Geschichtsschreibung. Wer sich ernsthaft mit dem Charakter der sowjetischen Lagerwelt auseinandersetzen will, kommt an diesem Werk nicht vorbei. Die archivgestützte Geschichtsschreibung über das Lagersystem fängt gerade erst an, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Sie tut dies auch im späten Dialog mit Solženicyn.28

Archivgestützte Geschichtsschreibung bleibt bis zum heutigen Zeitpunkt verwiesen auf eine nichtarchivgestützte literarische Praxis, mit der sie sich zwangsläufig in einem Dialogprozess befindet. Das Archiv als geschichtswissenschaftliche Institution steht in diesem Sinne in einem Aposterioriverhältnis zur Geschichtsschreibung, es bleibt auf deren Inhalte samt den dazugehörenden Defekten verwiesen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die dissidentische historiographische Tradition als auch im Hinblick auf die offiziellen, nichtarchivgestützten sowjetischen Geschichtsbilder, deren Weiterleben in der postsowjetischen Historiographie ebenfalls zu beobachten ist. Hieraus resultiert eine insbesondere in künstlerischen Zugängen wahrnehmbare Skepsis gegenüber der etablierten Archivpraxis, die angeklagt und durch eigene Archivkonzeptionen ersetzt wird. Ihnen wollen wir uns nun zuwenden.

Die (Schein-)Diskursivierung des Archivs bei Vadim Zakharov Im Museum ist ein historisches Artefakt meist Teil eines historiographischen Diskurses, es wird öffentlich verfügbar gemacht, tritt in einen Dialog mit den anderen Exponaten des Museums und kann rezipiert werden. Diese Form der 27 Kozlov/Lokteva 1996, S. 280. 28 Grützmacher 2006, S. 479.

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Die Topographie der Metahistoriographie

Diskursivierung fehlt im sowjetischen Archivkontext. Das einzelne Dokument wird im Archiv nur aufbewahrt, eine öffentliche Verfügbarmachung der häufig präventiv als Geheimsache deklarierten Dokumente ist nicht angedacht. Die Rezeption archivierter Materialien ist kaum vorgesehen, der Zugang zu den Dokumenten auf einen engen Personenkreis beschränkt. Schließlich fehlt auch die Verbindung des einzelnen Archivdokuments mit den anderen aufbewahrten Dokumenten. Das Fehlen bzw. die Nicht-Zugänglichkeit von Inventarlisten im sowjetischen Archiv ist notorisch, die Kontextualisierung des einzelnen Dokuments mit anderen archivierten Dokumenten unmöglich, da der Forscher nur innerhalb seiner eng definierten Fragestellung bleiben darf und damit eine Arbeit im meist produktiven Modus archivarischer serendipity verhindert wird. Archivmaterialen werden somit der historiographischen Operation entzogen, das Archiv wird zu einer antihistoriographischen Institution. Wie Sylvia Sasse in einem Vortrag über das kommunistische Archiv zusammenfasst: „Das Archiv ist das Gesetz dessen, was nicht gesagt werden kann.“ 29 Diesem Archivverständnis entgegengesetzt ist Bunins Idee einer geschichtlichen Auskunft durch das Archiv, die dialogisch angelegt ist. Die Möglichkeit des Auskunftgebens wäre hier relativ unproblematisch. Die Suchenden wenden sich mit ihrem Wunsch nach einer spravka an Fissun, der diese dann – archivarisch verbürgt – erteilt. Würde man sich mit der Bitte nach einer spravka an das Archiv des Konzeptualisten Vadim Zakharov wenden, wäre die Auskunft anderer Natur. Als spravka bezeichnete man im Umfeld des Moskauer Konzeptualismus „ein in der Praxis der KD (die Künstlergruppe Kollektivnye dejstvija [Kollektive Aktionen]) den Aktionsteilnehmern bei verschiedenen Aktionen ausgehändigtes Dokument mit der Bestätigung der Teilnahme bzw. einer kurzen faktographischen Beschreibung einer aktuell zu betrachtenden Aktion“.30 Der Aussagewert dieses Dokuments ist für sich genommen begrenzt und ergibt sich erst im Kontext der Gesamtaktion. „Sie [die spravka] kann ihre Funktion des Bindeglieds oder der Verklammerung zwischen den Vor-Schriften und den Nach-Schriften […] wie Kommentaren, Erzählungen etc. erst am Ende der Aktion entfalten.“ 31 Ist das Archiv im offiziellen sowjetischen Kontext der Ort, an dem das historische Material seines Kontextes und seiner diskursiven Funktion beraubt wird, so geschieht im Rahmen der sorgfältig archivierten Kollektiven Aktionen exakt das Gegenteil. Das Archiv wird zum Zielort der künstlerischen Aktion, ja, sie wird 29 Vortrag Aktenlesen. Postkommunistische (künstlerische) Archivologien am ZfL Berlin am 05. 10. 2016. 30 Scharf 2006, S. 19. 31 Scharf 2006, S. 19.

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zu einer solchen erst im Kontext des Archivs. Hierin liegt ein Unterschied zur ‚Archivsache‘ Bunins, deren spravka auf ein einzelnes Dokument rekurrierte bzw. auf eine Gruppe sich ergänzender Dokumente, nicht aber auf ein institutionell organisiertes Ensemble von Texten, deren historiographischer Aussagegehalt sich erst als Resultat einer Emergenz generierenden Anordnung realisiert. Die entscheidende Operation ist hier die Textualisierung der Vergangenheit. Im Kontext der Kollektiven Aktionen hat man es nämlich in der Regel mit „Aktionen, die nicht passieren [, und] Aktionen, in denen N/nichts passiert“,32 zu tun. Die Kollektiven Aktionen spielen mit der Erwartungshaltung der Rezipienten, indem sie deren Ereignisgläubigkeit unterlaufen. Das historische Ereignis im Sinne einer Geschichtlichkeit verändernden Größe ist für das KD -Archiv nicht relevant, es verzichtet auf die Trennung zwischen „Werk und Sammlung“.33 Orientiert man sich an Reinhart Kosellecks Unterscheidung von Ereignis und Struktur als historiographischen Hauptgrößen, so beschäftigen sich die Kollektiven Aktionen primär mit der Strukturebene. Während für erzählbare Ereignisse das Vorher und das Nachher schlechthin konstitutiv sind, ist die Randschärfe chronologischer Bestimmungen offenbar weniger erheblich, um Zustände oder Langfristigkeit beschreiben zu können. Das liegt bereits in der Erfahrungsweise struktureller Vorgegebenheiten beschlossen, die zwar in die jeweils momentanen Ereignisse eingehen, die aber diesen Ereignissen in anderer Weise vorausliegen als in einem chronologischen Sinne des Zuvor.34

Um welche Strukturmomente geht es hier? Andrej Monastyrskij spricht in einem Interview selbst von linguistischen Strukturen,35 man könnte darüber hinaus Kommunikations- oder Rezeptionsstrukturen nennen, die mit unserem Verständnis von Ereignis und Kunst verbunden sind. Das Archivprogramm des Konzeptualismus zielt darauf ab, diese Strukturen im Prozess der Archivierung sichtbar zu machen. Zu fragen ist nach dem Modus der Textualisierung. Festzuhalten ist, dass die Archivierung vor allem mittels einer Vertextlichung der Aktionen geschieht – hier spannt sich der Bogen zu Ricœurs Bestimmung der Archivierung als Verschrift­ lichung der Geschichte. Diese Bestimmung ist insofern zu ergänzen, dass hier nicht im engeren Sinne Geschichte verschriftlicht wird, sondern dass die Aktion als Ereignis erst durch Verschriftlichung konstruiert wird. Aber in welcher literarischen Form geschieht diese Verschriftlichung? Koselleck unterscheidet ­folgendermaßen: 32 33 34 35

Sasse 2003, S. 136. Zwirner 2004, S. 146. Koselleck 1989, S. 147. Vgl. Scharf 2006, S. 31.

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Die Topographie der Metahistoriographie

„Herkömmlicherweise nähert sich die Darstellung von Strukturen mehr der Beschreibung […]; die der Ereignisse mehr der Erzählung“.36 Die Frage nach dem Modus der Textualisierung wird unter den Konzeptualisten intensiv erörtert. Eine entscheidende Rolle nimmt hierbei Vadim Zakharov ein, der sich als Archivar der Bewegung der Konzeptualisten inszeniert. Er schreibt rückblickend: Viel wurde damals darüber gesprochen, wie eine kollektive Veröffentlichung aussehen sollte. Es wurden verschiedene Formen vorgeschlagen – von einem Informationsbulletin bis zu dicken handgemachten Zeitschriften-Büchern. Schließlich blieb man bei der Form des Archivs. Andere Formen entsprachen nicht der Zeit, der Stimmung, jener klösterlichen Atmosphäre.37

Erzählende Formen wie das Bulletin oder das Buch werden diskutiert, schließlich aber verworfen. Die Kriterien, die von Zakharov angeführt werden, „Zeit, Stimmung und Atmosphäre“, befinden sich auf der Strukturebene und sind „als solche überindividuell und intersubjektiv“.38 Diese Problematisierung der Erzählebene korreliert mit der Verweigerung der üblichen Praxis der historiographischen Operation. Es wird nicht selektiert, es gibt kein Emplotment, keine Intention eines Abschlusses oder einer kategorialen Ordnung. Die Archive „ähneln eher (mal mehr, mal weniger geordneten) Mülleimern, als eigentlichen Archiven“,39 wie Julia Scharf bemerkt. Dieser Narrationskritik durch Narrationsverzicht entgegengesetzt ist die Vielzahl erzählender Paratexte in den KD-Archiven. Sie stellt eine Narrationskritik durch Narrationsexzess dar. Die Endform dieser Kommentierung ist das perpetuum archivum oder, in den Worten Zakharovs, das „Killerarchiv“, das sich verselbstständigt und von sich aus beginnt, zu sammeln und zu kommentieren. Die Struktur schluckt den Sammler. Zeichnet sich das sowjetische Archiv dadurch aus, dass das Archiv eine nachgeordnete Rolle in Bezug auf historische Großerzählungen einnimmt, so schreibt Zakharov dem Archiv eine Apriorirolle in Bezug auf den historiographischen Prozess zu. Dies gilt dabei in zweifacher Hinsicht: einerseits in Bezug auf die eben erwähnte Selektion und Narrativierung des Materials, die dem Archiv nicht von vornherein eingeschrieben, sondern so gut wie möglich offengehalten werden sollen. Andererseits gilt es aber auch im Hinblick darauf, dass die einzelnen Kollektiven Aktionen immer schon sub specie archivi initiiert werden, das Archiv also der eigentliche Bestimmungsort der Kunst ist, dessen Prinzip strukturierend für den künstlerischen Prozess als Ganzes ist. In den Worten Julia Scharfs: Das Archiv 36 37 38 39

Koselleck 1989, S. 148. Zakharov 1998, S. 105. Koselleck 1989, S. 147. Scharf 2006, S. 18.

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ist die Kunst. Die damit verbundene Archivpraxis ist dynamisch und prozessorientiert, verzichtet aber weitgehend auf Sinngebung und Narrativierung des Materials. Ohne eine solche droht allerdings ein Orientierungsverlust im Archiv, durch den die Möglichkeiten der Diskursivierung und Rezeption des darin versammelten Materials geringer werden. Die Überführung eines historischen (Nicht-) Ereignisses in Text erweist sich somit als Scheindiskursivierung. Objekte und Aktionen muten hermetisch an, die Nutzung und Nützlichkeit außerhalb des konzeptualistischen Kreises bleiben fragwürdig. Man kann dies wie Vadim Z ­ akharov zum künstlerischen Prinzip erheben – die Spannung bleibt freilich: Персональная ответственность художника, и отказ кураторов от позитивистской идеи использования Архива культуры как рычага в достижение своих целей может стать поворотным пунктом в осмыслении того, как и к чему мы стремимся в искусстве и что останется после нас.40

Ist Zakharovs konzeptualistisches Archiv ein Gegenarchiv, das „dem offiziell gesteuerten Gedenken individuelle Erinnerung(en)“ 41 entgegensetzen möchte? Solche Gegenarchive wurden mit der Perestrojka populär und füllten die nicht oder nur unzureichend erinnerten weißen Flecken der Geschichte mit individuellen Erinnerungen bzw. bislang marginalisierten Geschichten. Die Gegenarchive der Perestrojka zielten aber weder auf ein Sichtbarmachen historischer Strukturen ab, noch ging es hier um eine Inversion der Strukturlogik des Archivs. Parallelen finden sich allerdings in der Grundfrage, wie sich Geschichte erinnern lässt, die im hegemonialen Verständnis von Aufbewahrungswürdigkeit keinen Platz findet und somit auf Formen alternativer Kanonbildung rekurriert.42 Archivierung als Antwortstrategie hat dabei einen entscheidenden Vorteil: Man muss diese Frage nicht, wie etwa im Museum, sofort beantworten. Man konnte und kann sie an das Archiv delegieren, eine Uminterpretation des Geschehenen künftigen Generationen offenhalten und die heikle Frage ignorieren, wie relevant das gesammelte Material letztendlich für ein Verständnis der Geschichte sei. Die apodiktische Feststellung in der Erzählung Bunins, dass man nur ein literarisiertes Archiv konsultieren müsse, um Auskunft über die Zeit zu erlangen, lässt sich folglich nur schwer auf die Archivpraxis des Konzeptualismus übertragen. 40 Zakharov 2011, o. S. „Die persönliche Verantwortung des Künstlers und der Verzicht der Kuratoren auf eine positivistische Idee der Nutzung des Archivs der Kultur als Mechanismus zur Erreichung eigener Ziele könnte zu einem Wendepunkt in unserem Verständnis dessen werden, wonach wir in der Kunst streben, wie wir das tun und was nach uns bleibt.“ 41 Fein 2000, S. 188. 42 Zur „Selbstkanonisierung“ im Konzeptualismus vgl. Witte 2000.

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Die Literarisierung des Archivs Zugänglichkeit und Verfügbarkeit archivalischer Materialien ist – klammert man die eben besprochenen Formen der Selbstarchivierung aus – die Voraussetzung für die Möglichkeit eines literarischen Umgangs mit dem Archiv. Verfügbarmachung ist im sowjetischen Fall dabei offensichtlich Resultat institutioneller Verschiebungen. Ganze Dokumentengruppen finden die Rückkehr in den historiographischen Diskurs, werden in privaten wie in staatlichen Archiven gesammelt und als legitime historische Dokumente reevaluiert.43 Mindestens ebenso wichtig ist allerdings eine erkenntnistheoretische Verschiebung, die Il’ja Kukulin beispielhaft für den Einstellungswandel gegenüber dem Familienarchiv beschreibt: „[F]amily archives in Russia were until the end of the 1980s seen primarily as collections of profoundly private information that […] had no value as historical testimony“.44 Dass solchen Materialien historische Relevanz zugesprochen wird, ist die Voraussetzung für die Möglichkeit ihrer Erzählung.45 Die Renaissance archivgestützter künstlerischer Arbeit in Russland ist ein intermediales Phänomen. Für die Poesie weist Kukulin auf die Arbeit Boris Chersonskijs hin, der zwischen 1996 und 2002 einen Gedichtzyklus unter dem Titel Semejnyj archiv (Familienarchiv) verfasst.46 Auch im russischen Film dynamisiert sich die Arbeit mit Archivmaterial gegen Ende der 1980er Jahre. Ein frühes Beispiel ist Aleksandr Sokurovs 16-teilige Dokumentation Leningradskij retrospektiv (Leningrader Retrospektive, 1990), eine Hommage an die Stadt an der Neva, für die Sokurov in großem Ausmaß auf Archivmaterial zurückgreift. 43 Die daraus resultierenden Schreibstrategien werden von Il’ja Kukulin im Rückgriff auf dokumentarische Traditionen der Avantgarde und der russischen Modernisten erörtert (vgl. Kukulin 2015) und können in diesem auf das Archiv konzentrierten Analyse unter systematisch-analytischen Gesichtspunkten leider keinen Raum finden. 44 Kukulin 2010, S. 606. Interessant ist, dass in der an anderer Stelle vorgenommenen Analyse von Ivančenkos Monogramma noch nicht von einem Fotoarchiv der Familiengeschichte die Rede, sondern noch von einem Fotoalbum. Weiter geht an dieser Stelle Andrej Sergeev in seinem Al’bom dlja marok, eine autobiographische Erinnerung, die ausgehend von einer Vielzahl gesammelter Dokumente geschrieben wird. Sergeev erhielt 1996 für diesen Roman den Buker-Preis. 45 In der Periode des Interregnums wird dabei eine Entwicklung nachvollzogen, die im Nachkriegsdeutschland bereits ab den 1960er Jahren eingesetzt hatte: „Es waren Schriftsteller wie Uwe Johnson, W. G. Sebald und Walter Kempowski, die ihr Werk auf dem Gedanken des Archivs gründeten und die ihre Arbeit nicht in fiktiven Erzählungen, sondern in einer eigensinnigen historischen Gedächtnisbildung definiert sehen wollten. Literatur war selbst zum Archiv geworden“ (Berg 2016, S. 70). 46 Kukulin 2010, S. 606.

„Und wenn man eine Auskunft braucht?“267

Die erzählerischen Strategien im Umgang mit dem Archiv sollen hier exemplarisch am Werk Ljudmila Ulickajas erörtert werden, die in ihren Romanprojekten wiederholt auf Archivmaterialien zurückgegriffen hat. Die Analyse konzentriert sich dabei auf drei Romane Ulickajas – Daniėl’ Štajn. Perevodčik (Daniel Stein. Übersetzer, 2006), Zelenyj šater (Das grüne Zelt, 2011) und ­Lestnica Jakova (Die Jakobsleiter, 2015). Dabei soll gezeigt werden, wie ­Ulickajas Werk eine Evolution von der Arbeit mit zur Arbeit gegen hin zur Arbeit jenseits des Archivs durchläuft. Im deutschen Vorwort zu Daniėl’ Štajn, der inner- und außerhalb Russlands zum Bestseller avancierte, schreibt Ulickaja: „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit“,47 und formuliert damit das Grundprinzip ihrer Arbeit mit dem Archiv. Die Romancollage orientiert sich am Leben Oswald Rufeisens, der als gebürtiger Jude nach dem Zweiten Weltkrieg zum Katholizismus konvertierte und in Israel als Priester einer katholischen Gemeinde wirkte. Rufeisen selbst schrieb eine Autobiographie und gab einige Interviews zu seinem Leben, auf die sich auch Ulickaja stützt. Darüber hinaus macht die Autorin in ihrer eigenen Recherche und in Archivarbeit weitere Dokumente fruchtbar, deren Collagierung sie in den metafiktional geprägten „Briefen von Ljudmila Ulitzkaja an Elena Kostioukovitch“ („Pis’mo Ljudmily Ulickoj Elene Kostjukovič“) zum Ende jedes Kapitels reflektiert. Im Kontext der Frage nach der Erzählbarkeit des dokumentarisch und archivarisch gesammelten Materials ist besonders Ulickajas Selbstaussage im vierten Brief an Elena von Interesse. Dort schreibt sie: Я не настоящий писатель, и книга эта не роман, а коллаж. Я вырезаю ножницами куски из моей собственной жизни, из жизни других людей, и склеиваю «без клею» – цезура! – «живую повесть на обрывках дней».48

Die Selbstbeschreibung als Schriftstellerin wird am Umgang mit Dokumenten scharfgestellt. Dabei ist weniger interessant, ob und wie die Autorin in Daniėl’ Štajn Dokumente erzählerisch verarbeitet,49 sondern dass sie in dieser kurzen Passage zweimal die erzählerische Modellierung des Materials („ėto ne roman; bez 47 Ulitzaja 2009, S. 7. 48 Ulickaja 2007, S. 469. „Ich bin keine richtige Schriftstellerin und dieses Buch ist kein Roman, sondern eine Collage. Ich schneide Stücke aus meinem – eigenen Leben und aus dem Leben anderer Menschen und füge ‚ohne Kitt‘ – sic! – ‚lebendige Erzählung aus den Fragmenten ihrer Tage‘“ (Ulitzkaja 2009, S. 438). 49 Eine polemische Kritik an Ulickajas Form der Organisation des Materials findet sich bei Evgeniia Shcheglova: „All of these pretended documents created by Ulitskaia to glorify her hero are supposed, by their very presence, to convince the reader time and

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kleju“) negiert. Il’ja Kukulin hat außerdem darauf hingewiesen, dass Ulickaja im Text für die Legitimierung ihres literarischen Vorgehens Boris Pasternaks Gedicht Pamjati Rejsner (Erinnerung an Reisner, 1926) zitiert, um die eigene Rolle als montažerka zu rechtfertigen,50 was ebenfalls als Unschlüssigkeit gegenüber der Legitimität der Narrativierung historischen Materials interpretiert werden kann. In Daniėl’ Štajn ist die Frage nach dem Verhältnis von (Archiv-)Dokument und schriftstellerischer Modellierung noch unentschieden, insbesondere die Romanform scheint für die Autorin noch problematisch, weshalb das Material schließlich auch in fünf Kapiteln, deren Sujetlogik an die antike Tragödie erinnert, organisiert wird. Die Frage der Archivpoetik wird in Ulickajas nächstem Roman Zelenyj šater expliziter verhandelt. Der Roman handelt von drei Jungen, die in den 1950er Jahren in der Liebe zur russischen Literatur eine gemeinsame Passion finden. Er rekonstruiert den Lebensweg der Protagonisten, die nach und nach in Konflikt mit dem sowjetischen Staat und hier insbesondere mit dem KGB geraten und zu Dissidenten werden. Der Kampf zwischen Geheimdienst und Dissidenten wird im Roman zum Kampf der Archive. Auf der einen Seite steht vor allem Il’ja, der bereits die Treffen des jugendlichen Literaturzirkels (der Ljursy) Mitte der 1950er Jahre archiviert und in Dissidentenkreisen als Distributor des SamizdatBulletins Chronika tekuščich sobitij (Chronik der laufenden Ereignisse) sowie als Konservator subversiver Publikationen wie Solženicyns Archipel-Projekt wirkt. Auf der anderen Seite steht der KGB mit seinen mächtigen Überwachungsstrukturen, der die Dissidenten beobachtet und seine Erkenntnisse ebenfalls archiviert. Nachdem Il’ja schließlich enttarnt und sein „Privatarchiv“ entdeckt wird, wird er zur Unterredung mit dem KGB ins Hotel Moskva bestellt, im Zuge derer es zum Kampf der Archiv(ar)e kommt. Zu Beginn zollt der KGB-Mitarbeiter Il’ja für seine archivarische Arbeit Respekt,51 bevor er auf die überlegene Reichweite seines eigenen KGB-Archivs hinweist.

again that everything recounted here is the truth, as if what we have before us here is life itself ” (Shcheglova 2012, S. 35). 50 Vgl. Kukulin 2015, S. 263. 51 „Но эти протоколы встреч «люрсов» с пятьдесят пятого года по пятьдесят седьмой, фотографии, отчеты, сочинения – это профессиональная работа историка и архивиста, и я не могу не оценить, что делал все это ребенок, школьник“ (Ulickaja 2011a, S. 371). „Aber diese Protokolle der Ljurssy-Treffen von 1955 bis 1957, die Fotos, Berichte und Aufsätze – das ist professionell, die Arbeit eines Historikers und Archivars, und es hat mich beeindruckt, dass dies quasi ein Kind gemacht hat, ein Schüler“ (Ulitzkaja 2012, S. 284).

„Und wenn man eine Auskunft braucht?“269 Боюсь, Илья Исаевич, у вас нет ни малейшего представления о том, какова функция тайной полиции. Но могу вас заверить – в библиотеках, в частных архивах, в музеях экспонаты исчезают. Их крадут, продают, меняют, иногда уничтожают сознательно. А в архивах тайной полиции никогда ничего не пропадает.52

Die eigentliche Funktion des Geheimdiensts scheint hier auf archivarischem Terrain zu liegen. Das KGB-Archiv ist ein totales, ewiges Archiv, das nach einer Funktionslogik sui generis arbeitet und für das die Gesetze der anderen Archive nicht gelten. Aus diesem Grund strebt der Untersuchungsrichter auch nicht die Überführung von Il’jas Archiv in das KGB-Archiv an, sondern etabliert zwei Zwischenschritte. Als ersten fordert er die Verdopplung der Archivdokumente, für jede Aktion Il’jas muss es in Zukunft zwei Exemplare geben, wovon eines an den KGB-Mitarbeiter geht. Als zweiten beansprucht er die Dokumente nicht für den KGB, sondern für sein „Privatarchiv“, wie er es nennt.53 Il’ja gibt nach und verlässt schließlich das Land. Die Pointe dieser Zwischenepisode liegt darin, dass es hier nicht lediglich um die Variation des altbekannten Kampfes zwischen Dissidenten und KGB geht, sondern dass in der Frage nach dem Ort des Archivs die größere Frage nach dem Status der Geschichte verhandelt wird. Der KGB-Offizier beansprucht für sich, „im Interesse der Geschichte“ zu handeln, was Il’ja zurückweist: „История – одно дело, а КГБ – другое. Все-таки нельзя в одну кучу.“ 54 Um diesen Anspruch Il’jas durchzusetzen, muss das Terrain der historiographischen Auseinandersetzung gewechselt werden. Nicht das Archiv verbürgt im Roman die historische Wahrheit, sondern eine andere Institution: die Literatur. Bereits zu Beginn des Romans heißt es: „Что говорит великий писатель, то и становится исторической правдой“ (54).55 Die KGB 52 Ulickaja 2011a, S. 375. „Ich fürchte, Ilja Issajewitsch, Sie haben nicht die geringste Ahnung von den Aufgaben einer Geheimpolizei. Aber ich kann Ihnen versichern – in Bibliotheken, in Privatarchiven und in Museen verschwinden Dinge. Sie werden gestohlen, verkauft, getauscht, mitunter absichtlich vernichtet. In den Archiven der Geheimpolizei aber kommt nie etwas abhanden“ (Ulitzkaja 2012, S. 288). 53 „Я хочу, чтобы вы продолжали свою работу. Я готов стать вашим гарантом. Мое условие – все, что вы делаете, должно существовать в двух экземплярах. Один у вас, дубликат – у меня. Я подчеркиваю – у меня. Считайте, что в моем личном архиве. Это – в интересах истории, если хотите. И в ваших интересах тоже“ (Ulickaja 2011a, S. 379). „Ich möchte, dass Sie ihre Arbeit fortsetzen. Ich bin bereit, für Sie zu bürgen. Meine Bedingung: Von allem, was Sie machen, muss es zwei Exemplare geben. Eins behalten Sie, das Duplikat bekomme ich. Ich betone – ich. Quasi für mein Privatarchiv. Im Interesse der Geschichte, wenn Sie so wollen. Und auch in Ihrem Interesse“ (Ulitzkaja 2012, S. 291). 54 Ulickaja 2011a, S. 375. „Geschichte ist das eine, der KGB etwas anderes. Das sollte man nicht in einen Topf werfen“ (Ulitzkaja 2012, S. 288). 55 „Die Sicht eines großen Schriftstellers wird oft zur historischen Wahrheit“ (Ulitzkaja 2012, S. 43).

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Version der Geschichte darf nicht das letzte Wort haben. Um diesen Anspruch umzusetzen, reliterarisiert Ulickaja die Geschichte in Form ihres Romans. Der entscheidende Unterschied zu Daniėl’ Štajn liegt dabei darin, dass die literarische Narrativierung nur in Romanform betrieben werden kann und damit entschieden bejaht wird. Die Geschichte der Ljurssy, die zum Generationspanorama wird, lässt sich nicht mit den Dokumenten aus dem KGB-infizierten Archiv erzählen, sondern nur als Literatur. Wahrhaftige Geschichte und archivbasierte Geschichte schließen sich gegenseitig aus. Ulickajas Roman Lestnica Jakova stützt diese These und entfaltet sie als erzählerisches Prinzip. Bleibt die Archivepisode in Zelenyj šater ein Zwischenspiel, das die Frage der Wahrhaftigkeit der Geschichte zwar aufwirft, ihre Antwort jedoch noch der Romaninterpretation überlässt, so wirkt das Archiv in Lestnica Jakova als handlungsstrukturierendes Alpha und Omega. In diesem Roman widmet sich Ulickaja ihrer eigenen Familiengeschichte, die sie mittels Briefen und Originaldokumenten, vorrangig aber in erzählend gehaltenen Kapiteln, vermittelt. Archive spielen dabei im ersten und letzten Kapitel des Romans eine entscheidende Rolle. Der Roman beginnt mit dem Tod der Großmutter der Hauptprotagonistin Nora, die in deren Zimmer eine Truhe mit alten Ego-Dokumenten an sich nimmt. Sie vergisst diese jedoch recht schnell, stellt die Truhe achtlos auf den Balkon, wo ein Großteil der Papiere vom Regen durchgeweicht und damit unleserlich wird.56 Der Verlust dieser Dokumente führt dazu, dass Nora beim Aufräumen ein Bündel mit alten Briefen ihrer Großmutter am Boden der Truhe findet, die sie in ihrem Sekretär deponiert. Dort lagern sie, bis „alle Menschen gestorben [sind], die Noras Fragen, die ihr beim Lesen der Briefe kamen, hätten beantworten können“.57 Die eigentliche historische Erzählung, die anschließend ihren Lauf nimmt, ist also Resultat eines doppelten Verlusts, des Verlusts von Dokumenten und des Verlusts von historischen Zeugen. Dieser Verlust ist allerdings, so suggeriert es die Sujetstruktur des Romans, nicht beklagenswert, sondern notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit des Schreibens über Geschichte. Erst im Angesicht der Reduktion der archivarischen Quantität wird die Qualität der Geschichte sichtbar und erzählbar. Und erst der Verlust des Zeugen, dessen verbürgtes Erleben eine Vetomacht ausübt, eröffnet die Freiheit für die erzählerische Modellierung der Geschichte.58 56 Vgl. Ulickaja 2015, S. 43. 57 Ulitzkaja 2017, S. 34; „до тех пор, пока не умерли все люди, которые могли бы ответить на вопросы, возникшие при чтении старых писем …“ (Ulickaja 2015, S. 43). 58 Hier liegt somit ein fundamentaler Unterschied zu Oral-History-Projekten wie denen Svetlana Aleksievičs vor, die auf die Gegenwart dieses Zeugen angewiesen sind.

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Dies gilt im ersten Kapitel explizit nur für die Familiengeschichte. Erst im letzten Romanabschnitt wird der Versuch unternommen, diese ins Verhältnis zur größeren Geschichte zu setzen. Die Schrittfolge, die hier suggeriert wird, reflektiert auch eine Rangordnung historischer Schichten in Ulickajas Schaffen: Zuerst kommt die Geschichte der Individuen, anschließend die des Staats in Form des Archivs.59 Die Klärung des Verhältnisses beider Ebenen ist allerdings historiographische Pflicht: „Теперь оставался последний шаг – узнать то, что находилось за пределами писем. Это последнее движение Нора совершила: позвонила в архив КГБ.“ 60 Nora macht sich auf den Weg in die Lubjanka und konsultiert die Akte ihres Großvaters. Dort erfährt sie, dass er ein bedeutender Literat war, dessen Manuskripte und Bibliothek jedoch vom KGB verbrannt wurden. Außerdem muss sie lesen, dass ihr eigener Vater den Großvater nach seiner Rückkehr aus dem Gulag denunziert hatte, wonach dieser erneut für zehn Jahre ins Lager musste. In einer hochemotionalen Anklage wendet sich Nora anschließend direkt an das Gebäude der Lubjanka: Почему не излился сюда небесный огонь? Почему смола и сера не упали на это проклятое место? Бедный маленький Содом, ничтожная Гоморра, приют сластолюбивых развратников, был выжжен, почему не свершилась небесная кара и это адское гнездо стоит посреди безразличного самовлюбленного города? Навеки? Нет, ничего навеки не бывает …61

Noch expliziter als in Zelenyj šater wird an dieser Stelle der Ewigkeitsanspruch der Lubjanka und ihrer aktenbasierten Geschichtssicht zurückgewiesen. Zwei alternative historiographische Optionen werden genannt. Zunächst fasst Nora den Plan, nicht länger die Geschichte eines Individuums zu schreiben, sondern stattdessen die einer nichtarchivierbaren chemischen Substanz, deren Wesenskern zwar menschlich sein soll, aber die emotionale Erschütterung, die davon ausgehen kann, dass man durch nahestehende Personen enttäuscht wird, ­unmöglich

59 Hierin kann man eine Variation der oben entfalteten These vom Aposteriori des Archivs sehen. 60 Ulickaja 2015, S. 705. „Nun blieb noch ein letzter Schritt: das herauszufinden, was jenseits der Briefe lag. Und Nora tat diesen Schritt, sie rief im KGB-Archiv an“ (Ulitzkaja 2017, S. 576). 61 Ulickaja 2015, S. 717. „Warum hatte kein himmlisches Feuer es getroffen? Warum waren nicht Pech und Schwefel über diesen verfluchten Ort gekommen? Das arme kleine Sodom, das nichtige Gomorrha, Hort lasterhafter Sünden, wurde verbrannt, warum hatte die himmlische Strafe nicht auch dieses Höllennest getroffen, warum stand es noch mitten in dieser gleichgültigen, selbstverliebten Stadt? Auf ewig? Nein, nichts war ewig“ (Ulitzkaja 2017, S. 587 f.).

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macht.62 Außerdem erwägt Nora, auf Grundlage der Briefe das Buchprojekt ihres Großvaters, das dieser durch die Repression des NKWD bedingt nicht schreiben konnte, nachträglich zu verwirklichen. А, может, разложит старые письма и напишет книжку … Такую книжку … которую дед то ли не успел написать, то ли ее сожгли во внутреннем дворе Внутренней тюрьмы на Лубянке …63

In literarischer Form soll ein historisches Objekt künstlich erzeugt werden, dessen Entstehung seinerzeit vom KGB verhindert wurde. Hier geht es um nichts weniger als um die Transzendierung der Geschichte durch die Literatur. An den knapp zehn Jahren, die zwischen Daniėl’ Štajn und Lestnica Jakova liegen, kann man die Evolution der Archvipoetik Ulickajas erkennen. Geht es in Daniėl’ Štajn noch darum, mit dem Archiv historiographisch zu arbeiten, was sich allerdings angesichts der ungeklärten Frage nach der Narrativierbarkeit des Materials schwierig gestaltet, kreist Zelenyj šater bereits darum, eine alternative literarisierte Geschichte gegen das allmächtige Archiv des KGB zu verfassen. In Lestnica Jakova schließlich sehen wir den Versuch, eine Geschichte jenseits des Archivs zu schreiben. Zu Beginn des Romans ist die Zerstörung von Archivmaterialen Bedingung der Erzählbarkeit von Geschichte. Im Schlusskapitel wird die Notwendigkeit einer nichtarchivarischen Geschichte postuliert, die entweder durch die Substitution des historischen Subjekts durch ein chemisches Substrat oder die Erzählung ungeschehener Geschichte verwirklicht werden soll: die Überwindung des Apriori des Archivs als Bedingung von Historiographie. Ulickajas Werke variieren somit die aus Bunins Archiverzählung bekannte These, wonach das wahre Archiv literarischer Natur sei. Sie stehen in einer postmemorialen Konstellation, im Rahmen derer dem Archiv eine besondere Rolle zukommt. Die Nacherinnerung der zweiten oder dritten Generation hat es mit einer Vergangenheit zu tun, die bruchstückhaft ist. Sie kann nicht allein aus dem Archiv rekonstruiert werden, folgt man Marianne Hirsch, der wichtigsten Theoretikerin der Postmemory: „[A]rchive, in the case of traumatic interruption, exile, and diaspora, has lost its direct link to the past, has forfeited the embodied connections that forge community and society.“ 64 62 Dieser Ausweg ist nur vor dem biologisch-genetischen Berufshintergrund Ulickajas verständlich. 63 Ulickaja 2015, S. 721. „Vielleicht würde sie sich die alten Briefe vornehmen und ein Buch schreiben. Ein Buch, das ihr Großvater entweder nicht mehr hatte schreiben können oder das auf dem Innenhof des Gefängnisses in der Lubjanka verbrannt worden war“ (Ulitzkaja 2017, S. 591). 64 Hirsch 2008, S. 111.

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Ulickaja entwickelt aus dieser Bedingung heraus eine kontrastive Archivpoetik, in der archivierte und erzählte, wahre und wahrhaftige, männliche und weibliche Geschichte sowie Täter- und Opfergeschichte binär gegenübergestellt werden.65 Ihr literarisches Werk wird zu einem Gegenarchiv, das sich gegen die Vereinnahmung des Vergangenen durch staatliche Institutionen stellt. Dieser antiarchivalische Impuls steht in einer dissidentischen Tradition, ist aber auch Bestandteil eines zeitgenössischen Antihistorismus, der in seiner Privilegierung persönlicher Dokumente eine historiographische Affektpoetik gegenüber einer intersubjektiv nachvollziehbaren archivbasierten Geschichte privilegiert. Historische Fakten werden zu einer Modellierungsmasse, die im Dienst einer moralisierenden Aufladung der Vergangenheit steht.66 Ziel dieser Praxis ist nicht mehr wie bei Hirsch die Reaktivierung und Umbenennung existierender archivalischer Strukturen,67 sondern deren Revision und literarische Komplementation. Diese Agenda ist dabei nicht spezifisch für den russischen Kontext, sondern findet sich in vergleichbarer Form auch in anderen osteuropäischen Kontexten, beispielsweise in Oksana Zabužkos Muzej pokynutych sekretiv (Museum der vergessenen Geheimnisse, 2009) oder Radka Denemarkovás Příspěvek k dějinám radosti (Ein Beitrag zur Geschichte der Freude, 2014). Während Zabužkos Roman mythonationalpoetisch aufgeladen ist, zielt Denemarkovás Werk auf Fragen der Geschlechterordnung. In beiden Fällen jedoch geht es um eine literarische Revision archivalischer Ordnungen, deren Inhalte und institutionelle Logiken für die affektpoetische Agenda dieser Werke unzureichend erscheinen.

5.2  Auferstanden aus Ruinen – Metaphysik im Museum des Interregnums Eine der Antworten auf die in Unterkapitel 3.2 konstatierte Krise des Zeitregimes der Moderne ist Musealisierung. Hermann Lübbe hat 1982 bilanziert: „Wir leben in einem Zeitalter historisch singulärer Expansion der Kulturmuse­ alisierung“.68 Apodiktisch verteidigt er diese Tendenz als Notwendigkeit 65 An anderer Stelle habe ich versucht, Archivpoetiken der Postmemory zu differenzieren und zwischen komplementärer, kontrastiver und konstruktiver Archivpoetik unterschieden, vgl. Günther 2020. 66 Wir werden später (Unterkapitel 6.1) auf eine ähnliche Praxis bei Anatolij Rybakov zu sprechen kommen. 67 Hirsch 2008, S. 111. 68 Lübbe 1982, S. 2.

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­kompensatorischer Sinnstiftung: „Durch die progressive Musealisierung kompensieren wir die belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes“ (18). Seine Diagnose ähnelt der Jean ­Baudrillards, der bereits einige Jahre zuvor konstatiert hatte: „Das Museum läßt sich nicht mehr auf einen geometrischen Raum begrenzen, es existiert von nun an überall als eine Dimension des Lebens.“ 69 Für ihn war Musealisierung allerdings kein e­ ntlastender Kompensationsmechanismus, sondern Symptom „einer völlig inventarisierten, durchanalysierten, in den Spielarten des Realen künstlich wieder­hergestellten Welt, […] einer Welt der Simulation, der Halluzination, […] der Erpressung des Realen“ (19). Auch die Sowjetunion wird in den 1970er Jahren von einer „mächtigen Welle der Museifizierung“ („moščnoj volny muzeefikacii“)70 erfasst, die im Zuge des Jubiläumsmarathons zu Ehren des 100. Geburtstags Lenins 1970 an Stärke gewinnt, zunächst aber in systemtreuen Fahrwassern verbleibt. Mit der Perestrojka ändert sich dies: Innerhalb kurzer Zeit entwickelt sich ein „museum boom“,71 im Zuge dessen sich eine ganze Reihe von Veränderungen in der sowje­ tischen Museumslandschaft ankündigen.72 Das Museum entwickelt sich von einem Ort der Indoktrination zu einer Institution der Partizipation (Stichwort „Wiedergeburt der Museumspädagogik in Rußland“)73 – kurzum, das Museum wird zu einer Evidenzmaschine des historischen Paradigmenwechsels. Museen sind ein wichtiges Instrument, um das von Gorbačëv ausgerufene Programm, die „weißen Flecken der Geschichte“ zu tilgen, in die Tat umzusetzen. Dies betrifft z. B. bis dato verfemte Personen und Ereignisse, die nun endlich präsentiert und erinnert werden können. Parallel zur Neukonzeption von Ausstellungen und Neugründung von Museen 74 verläuft die D ­ emusealisierung 69 70 71 72

Baudrillard 1978, S. 18. Budrajtskis/Napreenko 2016, S. 62. Shekova 2012, S. 153. Den besten Überblick zur sowjetischen Museumsgeschichte findet man bei Kaulen (2012), die eine schier unübersehbare Fülle von Entwicklungspfaden einzelner Museen zusammenträgt, allerdings auf eine kulturgeschichtliche Situierung des Materials weitgehend verzichtet. 73 Vgl. hierzu ausführlich mit einer interessanten Fallanalyse zum historischen Museum in Jaroslavl Ozerova 2003. 74 Elena Ivanova berichtet von der Eröffnung eines Literaturmuseums in Charkiv, in dem beispielhaft die Konsequenzen dieser Veränderungen deutlich werden: „The Museum of Literature […] was founded in 1988 on the wave of perestroika […] to fill in blank spots in the history of the Soviet Union. This museum was created by volunteers who tried to include national Ukrainian life, its folklore, culture, and the lives of those Ukrainians

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bestehender Formate, insbesondere der Museen des Atheismus, die im Laufe der Perestrojka ihre ideologische Funktion einbüßen.75 Es hat auch mit diesen neuen, für das sowjetische Publikum revolutionären Inhalten zu tun, dass sich das Interesse der breiten Bevölkerung an der Institution Museum sprunghaft erhöht. Mit über 100 Millionen Besuchern jährlich erreicht es um das Jahr 1990 einen Höhepunkt, bevor es dann Anfang der 1990er Jahre deutlich abzuflauen beginnt.76 Dass sich die Zahlen in der Folge noch unter dem sowjetischen Durchschnitt einpendeln, muss aber nicht zwangsläufig als Regression gewertet werden, ist doch darauf hinzuweisen, dass der Besuch von Museen während der sowjetischen Zeit häufig in organisierten Kollektiven geschah und somit kaum als Ausdruck eines genuinen Besucherinteresses an den präsentierten Inhalten gelesen werden kann.77 Angesichts der einschneidenden Veränderungen im russischen Museumswesen stellt sich die Frage nach den künstlerischen Darstellungen dieser Institution im Untersuchungszeitraum. Zu reflektieren ist das Museum dabei stets in doppelter Hinsicht – als Dispositiv und als Metapher. Über motivgeschichtliche Untersuchungen 78 sowie Analysen zu spezifischen Erinnerungskonflikten hinaus interessiert im Kontext unserer Fragestellung, wie künstlerische Darstellungen die historiographischen Praktiken des Museums – Markus Walz nennt im Handbuch Museum Sammeln, Dokumentieren, Forschen, Bewahren, Ausstellen und Vermitteln – und seine Funktion als Wissens- und Repräsentationsraum reflektieren und im Zuge dessen eine spezifische Epistemik des Museums 79 aushandeln.

Das spätsozialistische Erbe: Das Museum als Kulisse Die Neufunktionalisierung des musealen Raums befindet sich in einem Spannungsverhältnis zum spätsowjetischen Blick auf das Museum, der hier kurz an drei Beispielen skizziert werden soll. Dass im Zuge der wachsenden

75 76 77 78 79

who transformed Ukrainian national culture into official history. The mission of the museum was to change both official history and collective memory“ (Ivanova 2003, S. 19). Vgl. hierzu Polianski 2016, S. 267. Vgl. Shekova 2012, S. 153. Vgl. Shekova 2012, S. 153. Ulrike Goldschweer (2003) hat eine umfassende Analyse der Museumsmetaphorik im russischen und sowjetischen Kontext vorgelegt, die auch für dieses Unterkapitel als Orientierungsgröße diente. Vgl. hierzu Walz 2016, S. 21; zum Museum als Symbol einer räumlichen Wissensordnung vgl. Felfe/Wagner 2010.

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­ onsumorientierung der spätsowjetischen Gesellschaft die Frage nach der AusK stellung und Aufbewahrung der hinzukommenden Güter virulent wird, scheint leicht nachvollziehbar. Drastisch kontrastiert Ėl’dar Rjazanovs Filmkomödie Garaž (Die Garage, 1979) die Konflikte, die damit einhergehen. Im Zentrum der Filmhandlung steht eine Kooperative, die kürzlich einen gemeinsamen Garagenkomplex errichtet hat, durch den Bau einer neuen Straße aber nun gezwungen ist, die plötzlich nicht mehr ausreichenden Stellplätze auf die Mitglieder der Kooperative zu verteilen. Der Streit scheint vorprogrammiert und bricht auf der Versammlung der Kooperative postwendend aus. Delikat ist nun, dass Rjazanov den Schauplatz des Streits in ein Naturkundemuseum verlegt, in dessen Räumlichkeiten die gesamte Filmhandlung spielt. Die Garage und das Museum werden als Orte der Aufbewahrung gegenübergestellt und illustrieren die kulturkritische Botschaft des Films. Die Protagonisten konzentrieren sich fast manisch auf den Erhalt ihres Stellplatzes, ignorieren die Schauwerte der als weltweit einzigartig bezeichneten naturkundlichen Exponate des Museums und zweckentfremden die ausgestellten Tiere und Objekte. Schlussendlich greift aber die zivilisierende Kraft des Museums und es wird ein Kompromiss gefunden. Die Objekte wirken pazifizierend und setzen einen ethischen Reflexionsprozess in Gang, von dem sich nach und nach alle Protagonisten anstecken lassen. Das Museum wird hierbei zum temporären Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, da alle Türen verschlossen sind. Es dient als Schauplatz einer ethischen Grundsatzdiskussion, an dem sich die moralische Zukunft der sowjetischen Gesellschaft entscheidet. Die naturkundlichen Exponate evozieren hierbei eine evolutionsgeschichtliche Urszene, die Verteilung begrenzter Güter in einer Gemeinschaft, die es zivilisatorisch zu lösen gilt. Rjazanovs Film fokussiert die auratische Qualität der Museumslandschaft und steht damit in einer Reihe mit weiteren Werken seiner Zeit, in deren Museums­ beschreibungen ebenfalls die atmosphärische Komponente des Chronotopos zulasten historischer und materialer Konkretion zurücktritt. Während bei ­Rjazanov die Ausstellungsstücke zwar noch einen Wert besitzen, dieser aber vom Publikum ignoriert wird, ist es in Sergej Dovlatovs Erzählung Zapovednik (Das Reservat, 1983), die im Puškin-Museumskomplex Michajlovskoe spielt, andersherum. Die Ausstellungsstücke dienen nur noch der Kulissenbildung, wobei das Publikum die „totale Puškinisierung der Landschaft“ 80 dankbar aufnimmt und sich an der fehlenden Authentizität des Materials nicht stört. Der historische Wert des einzelnen Objekts wird zur vernachlässigbaren Größe:

80 Goldschweer 2004, S. 197.

Auferstanden aus Ruinen277 Какие экспонаты музея – подлинные? – Разве это важно? – Мне кажется – да. Ведь музей – не театр. – Здесь все подлинное. Река, холмы, деревья – сверстники Пушкина. Его собеседники и друзья. Вся удивительная природа здешних мест …81

Bei Dovlatov haben wir es mit einem Potemkinschen Museum par excellence zu tun.82 Aleksandr Genis spricht in seiner Analyse von einem russischen Disneyland 83 und zieht hierbei die Parallele zu Baudrillard, für den dieser Freizeitkomplex seinerzeit das Paradebeispiel für seine Idee der Hyperrealität darstellte, dem es darum ging „zu kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten“.84 Das Museum ist bei Dovlatov aber mehr als bloßes Symbol des Hyperrealen. Es ist auch die Manifestation eines gebauten Mythos im Sinne Barthes’, der Geschichte in Natur verwandelt.85 Folgt man den Ausführungen der Museumschefin, so kulminiert in der Verschmelzung von Natur und Biographie das Ideal des sowjetischen Museums: „Мало вам природы? Мало вам того, что он [Puškin] бродил по этим склонам? Купался в этой реке. Любовался этой дивной панорамой …“ 86 Der sowjetische Museumsbesucher hat sich mit dieser Präsentation der Geschichte – und hier ist es natürlich kein Zufall, dass gerade Puškin herangezogen wird, um diese Tendenz zu symbolisieren – zu arrangieren. Das Museum wird zum Naturschutzgebiet (so die deutsche Übersetzung des Titels Zapovednik),87 dessen Ziel es ist, einen künstlichen Rückzugsraum zu erschaffen, an dem das Puškin-Gedenken vor den Kontingenzen der Geschichtswissenschaft geschützt wird. Auf ähnliche Weise wird das Reservat für den Helden Boris zum Rückzugsraum, der dazu dient, sich nicht mit der Erfolglosigkeit seines schriftstellerischen Daseins und der 81 Dovlatov 1993, S. 347. „,Welche Exponate des Museums sind denn nun echt?‘ – ‚Ist das denn wichtig?‘ – ‚Ich denke schon. Schließlich ist das ja ein Museum und kein Theater.‘ – ‚Alles hier ist authentisch. Der Fluss, die Hügel, die Dörfer – das sind Puschkins Zeitgenossen. Seine Gesprächspartner und Freunde. Die ganze verblüffende Natur der hiesigen Orte …‘“ 82 Für eine weniger zugespitzte, vor allem auf den Wandel der Ausstellungskonzepte rekurrierende Deutung vgl. Kaulen 2012, u. a. S. 301 f., 322. 83 Vgl. Genis 1999. 84 Baudrillard 1978, S. 25. 85 Vgl. Barthes 2012, S. 278. 86 Dovlatov 1993, S. 348. „Ist Ihnen die Natur etwa nicht genug? Ist es etwa nicht genug, dass er auf diesen Hügeln wandelte? Dass er in diesem Fluss schwamm. Dass er sich an diesem wundervollen Panorama erfreute …“ 87 Die Bezeichnung Muzej-Zapovednik fungiert allerdings auch als offizielle Benennung und kann am ehesten mit dem deutschen Freilichtmuseum verglichen werden.

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­ usweglosigkeit seiner Beziehung auseinandersetzen zu müssen. Diese RealitätsA und Geschichtsflucht scheitert jedoch, seine Frau verlässt ihn mit den Kindern; sein Wille, um die Frau seines Lebens zu kämpfen, erwacht zu spät. Die Kulisse, die er um sein Leben herum aufgebaut hat, fällt: „Теперь надо было уснуть в пустой и душной комнате …“ 88 Das Museum wird zum „leeren Zimmer“, zu dem Ort, an dem Boris wohl für immer sein Leben aushauchen wird, so die doppeldeutige Schlussformulierung der Erzählung. Während bei Dovlatov der zum Schluss angedeutete Tod des Helden immerhin zu einem gewissen Teil ein Ende des Endes der Geschichte verspricht, ist in Andrej Bitovs Puškinskij dom selbst diese Option verbaut. In der Schlussszene des Romans liefert sich der Held Lëva mit seinem Alter Ego Mitišat’ev eine Schlacht im Museum. Dabei veranstalten die beiden ein Reenactment des Duells, bei dem Puškin umkam. Auslöser des Duells ist das Zerbrechen der Todesmaske Puškins, das Lëva seinem Doppelgänger nicht verzeihen möchte. Wenig später liegt Lëva erschossen neben der zerbrochenen Todesmaske Puškins und der Spuk im Museum scheint ein Ende zu nehmen. Doch Bitov lässt seinen Helden wiederauferstehen, Lëva hat lediglich den Kater seines Lebens und im Keller des Museums finden sich im Magazin stapelweise Todesmasken des Nationaldichters. Geschichte wird zur rekursiven Schleife. Die Unüberwindbarkeit des Musealen wird bei Bitov tiefergehendes Signum einer Epoche, die sich dadurch auszeichnet, dass ihr die Fähigkeit, Realität zu repräsentieren – regulative Idee des Museumswesens seit dem 19. Jahrhundert –, abhandengekommen ist. Die Auferstehung der Toten im Museum wird hier zum Alptraum. Das widerspricht der für den russischen Museumsdiskurs wichtigen utopischen Idee Nikolaj Fedorovs, für den „das Museum […] die höchste Instanz, die das Leben wiederbringen kann und muss, es aber nicht entziehen kann“,89 ist. Wird das Museum zur bloßen Kulisse, dann ist es nicht länger wie noch bei Fedorov „eine Ansammlung alles Überlebten, Toten und Unbrauchbaren“, dessen Wiederbelebung „Trost für alles Leidende“ (130) verspricht, sondern ein gebautes Horrorkabinett, dessen gespenstische Bewohner den Lebenden alle Kraft aussaugen.

88 Dovlatov 1993, S. 415. „Nun musste er in einem leeren und stickigen Raum schlafen.“ 89 Fedorov 2005, S. 131.

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Die Grabstätte als Geburtsort – Konstantin Lopušanskijs Museumsmetaphysik In der musealen ewigen Wiederkehr des Gleichen lässt sich keine neue Perspektive auf Geschichte entwickeln. Das spätsozialistische Museum steht hier im Einklang mit der öffentlichen Erinnerungskultur und deren Fixierung auf Jubiläen und Jahrestage. Im Gegensatz hierzu gibt es in den Museumslandschaften des Interregnums wirklich etwas Neues zu entdecken. Konstantin Lopušanskijs Filme Pis’ma mertvogo čeloveka (Briefe eines toten Menschen, 1986) und Posetitel’ muzeja (Der Museumsbesucher, 1989) negativieren die eben vorgestellte ironisierte Imagination des Museums als Kulisse. Sie verzichten gänzlich auf die Darstellung visuell ansprechender Gemäldewelten und stehen im Kontext der dunklen Černucha-Ästhetik der Perestrojka,90 die katastrophistisch grundiert ist. Grundlage der Möglichkeit dieser Neukonzeptionalisierung ist die Handlungsstruktur der beiden Filme, in denen die Apokalypse bereits eingetreten ist. Die Erde ist von einem Atomschlag verwüstet, die Städte sind zerstört und unbewohnbar. Die Katastrophe antizipiert den Untergang des sowjetischen Reichs, durch den eine neue Perspektive auf das Museum möglich wird. Angesichts der totalen Defunktionalisierung der Zeichen wird das Museum zu dem Ort, der aufgrund seiner unzerstörbaren institutionellen Aura noch ein Versprechen auf Zukunft bereithält. In Pis’ma mertvogo čeloveka haben sich nach einer Katastrophe die wenigen Überlebenden in den Untergrund zurückgezogen und vegetieren dort, von Krankheit und Selbstzweifel geplagt, ohne Aussicht auf Hoffnung im Keller eines Museums.91 Der Held Larsen, ein Nobelpreisträger, dessen Entdeckungen die Katastrophe mit möglich machten, adressiert dort die titelgebenden Briefe an seinen Sohn, dessen Ankunft er im Bunker vergeblich ersehnt. Dort liegt bereits seine todkranke Frau, die er schließlich beerdigen muss. Das Museum wird zum Friedhof. Die anderen Bewohner des musealen Untergrunds geben sich indessen Reflexionen über die Bewertung des menschlichen Wirkens auf der Erde hin. Während einige noch auf die Bildung einer neuen Menschheit hoffen und trotz der Katastrophe stolz auf das Erreichte sind, verweigern sich andere 90 Zur Černucha-Ästhetik vgl. Graham 2000. 91 Interessant wäre hier ein Vergleich mit Dmitrij Gluchovskijs Dystopie Metro 2033 (2007), die ein ähnliches postatomares Setting evoziert. Auch dort befindet sich der Held unter einem Museum an der Moskauer Metrostation VDNCh, allerdings fehlt hier eine semantische Aufladung des Museums, alles ist auf das Zentrum des Untergrundreiches, den Kreml, fokussiert.

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dieser Deutung und ziehen eine vernichtende Bilanz. Angesichts des Endes der Menschheit durch die atomare Apokalypse erweist sich das Museum als scheinbar unmöglicher Rückzugsort. Kunst ist vollkommen nutzlos geworden, wie in einem Monolog beklagt wird. In den einzelnen Einstellungen dominieren leere und zerbrochene Rahmen, Torsos antiker Statuen. In den dunklen Farbeinstellungen lässt sich nichts erkennen, der Schauwert des Musealen wird auf null gesetzt. Das seltsam archaische Mobiliar des Museums unterstreicht dessen Funktionslosigkeit. Kunst als Erschließung der Welt ist an ein Ende gekommen. Die Idee, das Kunstmuseum sei in der Lage, die Sterblichkeit der Menschen zu transzendieren, entpuppt sich als Illusion. Im Zentrum von Lopušanskijs nächstem Film Posetitel’ muzeja steht ein junger Mann, der sich als Tourist aus einer scheinbar von der zuvor eingetretenen Umweltkatastrophe verschonten Stadt aufmacht, um das sogenannte Museum der Weisheit aufzusuchen. Der Weg führt ihn über Müllhalden und auf einem Müllzug zu einem Haus am Meer, von dem er sich zum Museum aufmachen möchte. In der lebensfeindlichen Umgebung des Mülls wird die Entfunktionalisierung der vormals bestimmenden, sozialistisch semantisierten Objektwelt auf die Spitze getrieben. Das Museum liegt inmitten eines Meeres, das den dreitägigen Weg zum Destinationsort nur alle sieben Tage freigibt. In einer Wetterstation quartiert er sich bei einem Paar ein, das zwei Mutanten adoptiert hat. Groteske Feierlichkeiten und bizarre Abendrituale bestimmen den Alltag der Familie, die die Hoffnung auf eine Umerziehung der Mutanten und ein Festhalten am von der Menschheit eingeschlagenen Pfad noch nicht aufgegeben hat. Der Held gerät im Laufe seines Aufenthalts in den Bann der religiösen Gemeinschaft der Mutanten, die sich in einer Untergrundkirche versammelt und in ihm den Messias sieht. Nach einem Kreuzigungsritual macht sich der Besucher schließlich Richtung Museum auf, von dem allerdings nur Ruinen übriggeblieben sind. Der Film endet – wie Pis’ma mertvogo čeloveka – mit einer langen Einstellung des durch eine Wüstenlandschaft ziehenden Helden. Das Museum – und hierauf wurde in bisherigen Deutungen versäumt hinzuweisen 92 – ist in beiden Fällen trotz aller Apokalyptik auch Ort einer religiösen Konversion. Schon in Pis’ma mertvogo čeloveka ist es der einzige Schauplatz – verglichen mit dem apokalyptischen Außen und den tödlichen Untergrundsystemen –, an dem Reflexion und damit verbunden das Nachdenken über Zukunft möglich ist. Einziger Hoffnungsschimmer des Films ist die Rückkehr zur Religion. 92 So nivelliert Bettina Lange die unterschiedlichen Räumlichkeiten in Pis’ma mertvogo čeloveka, wenn sie apodiktisch behauptet: „Alle dargestellten Räume sind Teil des dysto­ pischen Raums“ (Lange 2015, S. 31).

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Gegen Ende erreicht eine kleine Gruppe von Kindern das Museum, in welchem allein Larsen zurückgeblieben ist. Zusammen mit den zunächst stummen Kindern feiert er das Weihnachtsfest. Auf dem Totenbett schickt er die Kinder auf eine Reise zu einem unbekannten Ort, an dem menschliches Leben vielleicht noch möglich ist. Der Auszug aus dem Museum am Ende des Films ist eine Absage an die Vorstellung, mittels einer Aneignung der Kunstgeschichte lasse sich Zukunft gestalten. „Briefe eines Toten schlägt nach dem Tod Larsens ins Religiöse um, und ab dieser Stelle erzählen die fremden Kinder aus dem Off die Geschichte weiter, als ob sie aus der Bibel wäre.“ 93 Der Film endet mit einer langen Einstellung, die den beschwerlichen Weg der Kinder durch einen Schneesturm zeigt. Das Weggehen ist hier insofern positiv codiert, als sich die Kinder aus der Enge und Dunkelheit des Bunkers den Berg hinauf ins Freie und Helle bewegen. […] Acht Kinder verweisen in Anspielung auf die Arche Noah ebenfalls auf den Neuanfang (257).

Die eigentlich todgeweihten Kinder werden – bevor sie den Auszug antreten – zuerst in das Museum gebracht. Dort erlangen sie ihre Sprache wieder und werden vorbereitet auf die Möglichkeit eines anderen Lebens. Das Museum ist also ein liminaler Raum, Grabstätte und Geburtsort gleichermaßen.94 Posetitel’ muzeja nimmt diesen Zwischenstatus des Museums in der Figurenkonstellation auf, transformiert ihn allerdings in einer wichtigen Hinsicht. Im Film stehen sich zwei Gruppen gegenüber; auf der einen Seite die menschlichen Überlebenden der Katastrophe, für die das Museum Speicherort des Vergangenen ist, der die Relikte einer einstmals blühenden Zivilisation bewahrt. Als der Held auf der Wetterstation zugegen ist, warnen ihn seine Gastgeber davor, in Gegenwart der Mutanten, der anderen Akteursgruppe im Film, das Museum zu erwähnen. Für die Mutanten ist nämlich die Zeit der Ebbe, in der das Museum zugänglich wird, ein religiöser Feiertag. In den späteren religiösen Szenen des Films wird eine Verbindung dieses Rituals zur christlichen Eschatologie geschlagen. Das Museum hält noch ein Versprechen auf Zukunft bereit, das allerdings nur eingelöst werden kann, wenn man sich dieser Zukunft ganz und gar verschreibt. So ist die Konversion des Helden, durch die er zum Messias wird, auch 93 Gradinari 2014, S. 251, Hervorhebung im Original. 94 Dies würde einen Einspruch gegen die Deutung des Museums als heterotopischen Raum im Anschluss an Foucault bei Barbara Wurm bedeuten (Wurm 2013). Denn die Hetero­ topie ist bei Foucault der ganz andere Raum (vgl. Foucault 1992, S. 39), während der liminale Raum ein Zwischenraum ist und eine Verbindung zwischen zwei Raumlogiken herstellt, in diesem Fall der irdischen, historischen und der transzendenten, zukünftigen Raumlogik.

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als Abtöten der eigenen Vergangenheit zu verstehen. Erst durch die persönliche Konversion öffnet sich ein Weg zum Versprechen des Museums. Obgleich die Idee von Ebbe und Flut eine geregelte Zeitstruktur, die sich an Naturzyklen orientiert, evoziert, so bewegt sich der Hauptprotagonist doch eigentlich in einem zeitlosen Raum, dessen Erschließung von der persönlichen Offenheit für die religiöse Botschaft abhängt. Der Held wird als Mittlerfigur – er ist dann bereits Repräsentant der beiden Welten der Menschen und der Mutanten – auf die Reise zum Museum geschickt, auf dessen Ruinen das Zeichen des Kreuzes prangt. Innerhalb der triadischen Raumstruktur, die in vielerlei Hinsicht an die Topologie der Pis’ma erinnert, findet also eine Verschiebung statt, wie folgende Tabelle veranschaulichen soll: Abbildung 3: Schematischer Vergleich der Filme Lopušanskijs 95 Dystopischer Ort (Erkundung in Exkursionen)

Schwellenraum (Haupthandlungsort)

Horizont (Zielort am Ende des Films)

Pis’ma mertvogo čeloveka

Außenwelt

Museum

Wüste

Posetitel’ muzeja

Außenwelt (Müllhalde)

Wetterstation

Museum

Film

Bei Lopušanskij lässt sich die Vergangenheit nicht einholen und zurückgewinnen. Das Museum wird in Pis’ma mertvogo čeloveka zur Institution der Dehistorisierung, deren Auftrag das Abtöten des Vergangenen durch Reflexion der eigenen Schuldhaftigkeit für die Genese der dystopischen Gegenwart ist. Ist dieser Schritt erfolgt, kann es als institutioneller Transformator dienen, der eine neue metaphysische Botschaft für das religiös amnestische sowjetische Volk aufbereitet. Seine Inhalte sind allerdings verzichtbar geworden. Es existieren keine Objekte mehr, die sich erinnern ließen oder der Erinnerung wert wären. In Posetitel’ muzeja wird das Museum schließlich zum metaphysischen Transformator, dessen Erreichen den allgegenwärtigen Tod in Leben verwandeln wird. Es dient als regulative Idee einer anderen Realität, die es messianisch zu erschließen gilt.

95 Eigene Darstellung.

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Aleksandr Sokurovs musealisierte Filmarchen Aleksandr Sokurov ist der russische Regisseur, der sich am intensivsten mit dem Topos des Museums in seinen Werken auseinandergesetzt hat. Am bekanntesten ist sicherlich sein Film Russkij kovčeg (Russian Ark, 2001), in dessen Zentrum die Eremitage in St. Petersburg steht, hinzu kommen die Museumsfilme Ėlegija dorogy (Elegie eines Weges, 2001), der sich dem Boijmans van Beuningen Museum in Rotterdam widmet, und Frankofonia (2016) über den Louvre in Paris.96 In seinen Filmen wird dem Museum als Speichermedium transnationaler Ordnung eine spezifische Wirkkraft zugeschrieben, die sich in einer ästhetizistischen Konstruktion einer musealen Aura des Überzeitlichen äußert und in einer komplexen Ästhetik der Erweckung kulminiert. Auf die damit implizierte kulturelle Privilegierung des Museums hat Sokurov in Interviews selbst hingewiesen: „In my internal world, culture is all connected to the museum, as a foundation within me, as a fundamental part of my life.“ 97 Die Leitmetaphorik für diese Funktionalisierung des Museums ist die Arche. Sie rückt die Institution Museum in einen sakra­ len Kontext und steht in Tradition zur Tempelmetapher, die seit dem 19. Jahrhundert zu den wichtigsten Metaphern des Musealen gehört.98 Aleida Assmann hat die Arche unter der Metaphorik der „Gedächtniskiste“ subsumiert, deren spezifische Eigenschaft darin bestehe, dass die Arche „Behälter und sein Inhalt zugleich“ 99 sei. Das Medium Museum wird also selbst zum Teil der Botschaft. Ėlegija dorogi handelt von einer langen Winterreise durch Europa, die ihr Ziel schlussendlich im Boijmans van Beuningen Museum in Rotterdam findet. Obgleich das Museum im Zentrum des Films steht, erfolgt der Eintritt erst etwa zur Hälfte des knapp 50-minütigen Films. Auffallend ist an dieser dramatischen Anordnung die lange Periode des Vorlaufens, die anscheinend notwendig ist, um die spezifische Wirkkraft des musealen Ortes aufzubauen. Beim Eintritt ins Museum schließlich überrascht die dunkle Farbgebung des musealen Raums. Der Erzähler tritt nachts ins Museum, die Gemälde sind nur in Umrissen zu erkennen, und das Museum befindet sich offensichtlich in einem Zustand der Teilrenovierung. Diese Hindernisse stehen einer deskriptiven, auf die auratische Qualität einzelner Kunstwerke abzielenden Darstellung entgegen. Gleichzeitig steigern die 96 In allen Fällen handelt es sich um Kunstmuseen, aus deren Beständen vor allem Werke des 16. bis 19. Jahrhunderts fokussiert werden, während die Kunst des 20. Jahrhunderts ausgeklammert wird. 97 Kujundžić 2015, S. 26. 98 Vgl. Walz 2016, S. 35 f. 99 Assmann 2009, S. 118.

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Umstände des Museumsbesuchs die Möglichkeit einer synästhetischen Erschließung der Kunst. Hintergrundgeräusche werden hörbar, die Gemälde können in Ruhe betrachtet und sogar berührt werden, niemand lenkt den Erzähler vom Eintauchen in die Kunst ab. Niederländische Landschaftsmalerei aus dem 16. bis 19. Jahrhundert bildet den künstlerischen Hauptgegenstand des Films. Namentlich erwähnt werden nur zwei Gemälde. Pieter Bruegels Turm zu Babel (um 1560) verweist auf Traditionen spätsozialistischer Bruegel-Ekphrasis, insbesondere bei Andrej Tarkovskij, der durch diese eine „Landschaft der existenziellen, ja existenzialistischen Tragödie [seiner] Helden“ symbolisiert.100 Motivisch steht das Bruegel-Bild im Kontext einer Metaphorik der Versammlung, die im Vorfeld der Bruegel-Ekphrasis aufgebaut wird. Hier fällt die Allgegenwart von Schiffen auf den vorigen Landschaftsbildern auf, derer der Betrachter schließlich auch bei Bruegel gewahr wird, sowie die explizit ebenfalls bei einer Bildbetrachtung erwähnte Metaphorik der Insularität, die akustisch durch Meeresgeräusche im Hintergrund unterstützt wird. Später heißt es bei einer weiteren Gemäldebetrachtung, Gott sei gerade daran, eine neue, bessere Welt zu schaffen. All diese Versatzstücke erinnern an das Motiv der Arche, auf der die bewahrenswerten Personen, Tiere und Dinge für die Zukunft gespeichert werden. Die Winterlandschaft des Filmbeginns und die allgegenwärtige Kälte evozieren die Vorstellung einer eisigen Endzeit, der das Museum und seine Exponate als Träger der Wärme gegenübergestellt werden. Die Idee des Museums als kultureller Speicher wird in den dargestellten Werken gespiegelt, deren zentrale Schiff- und Turmmotivik ebenfalls als Zeitspeicher inmitten einer feindlichen Umgebung interpretiert werden kann. Bei der Betrachtung des zweiten namentlich genannten Bildes  – Pieter ­Saenredams Marienplatz und Marienkirche in Utrecht (1765) –, mit der der Film auch schließt, fällt auf, dass die mit dem Beobachter verschmelzende Kamera in Naheinstellungen wiederholt auf die kaum wahrnehmbaren Figurengruppen im Bild fokussiert. Ausgehend davon kreist die Selbstreflexion der Erzählerstimme in der Folge um die Frage, wie die erstarrte Zeit des Bildes wieder zum Leben erweckt werden könne. Eine Wiedererweckung scheint möglich, auch weil die Leinwand „noch warm ist“, wie es heißt, das Kunstwerk also potentiell für eine Auferstehung in Frage kommt. Während Bruegels Gemälde archetypischen Charakter hat, geht es in der Saenredam-Sequenz um die individuelle Affizierung und Aktivierung durch Kunst. Neben der ekphrastischen Beschreibung des Kunstwerks ist das Spüren mit den eigenen Händen essentiell, das als Auslegemodus

100 Vgl. hierzu Kirschbaum 2016, S. 313.

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auf einer Stufe mit der visuellen Erschließung steht: „An emphasis on touching the ‚membranes’ of buildings and paintings actually disassembles ‚pure‘ subjectivity. What is interesting about Elegy of a Voyage is that it does not re-create memories, it creates them.“ 101 Das Museum wird zum Durchlauferhitzer der Vergangenheit. Es transformiert die äußere Kälte in künstlerische Wärme, wodurch die Vergangenheit berührbar wird. Die zeitliche Grenze zwischen der Kunst Bruegels und Saenredams auf der einen Seite und der Gegenwart auf der anderen Seite wird vor dem Horizont des Ewigen belanglos, den diese Werke aufspannen. Gelingt es, Leinwandfühlung mit der Geschichte aufzunehmen, so lässt sich unmittelbar an die Vergangenheit anknüpfen, die Kluft zwischen Gegenwart und Geschichte, die in der Schlussszene durch die Einblendung der Jahreszahl 1765 mehrfach evoziert wird, lässt sich schließen. Russkij kovčeg verhandelt die in Ėlegija dorogi durch die Privilegierung des Erzählers weitgehend personal adressierte Problematik der Erweckung und Aktivierung der Museumsbestände als historiographisches Problem. Die Recodierung des musealen Raums, in deren Zentrum die Möglichkeit der Wieder­ anknüpfung an die vorsowjetische Geschichte steht, wird dabei verbunden mit einem metahistoriographischen Erzählmodus, der die epistemischen Voraussetzungen dieser Recodierung reflektiert. Es geht nicht länger primär um die Erschließung von Kunstwerken, sondern um die Erschließung von Geschichte. Die Eremitage als doppelt konnotierter Raum der zaristischen Herrschaft und als Kunstmuseum erweitert das kunstgeschichtliche Bezugsfeld, dessen Erschließung in Form ekphrastischer Sequenzen weniger präsent ist als in Ėlegija dorogi. Holländische und italienische Gemälde – allen voran Rembrandts Die Rückkehr des verlorenen Sohnes – werden zwar behandelt, aber vom Auftritt historischer Personen der russischen Geschichte sowie von der abschließenden Ballszene überlagert. Im Museum können die Toten auferstehen: Marquis de Custine führt durch die Räumlichkeiten, Peter I., Katharina  II . und weitere Zaren treten als reale Personen auf. Besonders in der abschließenden Ballszene, in der alle Protagonisten im Festsaal zusammenkommen, zeigt sich eine Nähe zu Fedorovs Idee einer „universellen Versammlung“ 102 materiellen und personellen historischen 101 Panse 2006, S. 16, Hervorhebung im Original. Dies wird noch deutlicher in Russkij kovčeg, wo die Gemälde auch blinden Personen zugänglich sind, deren tänzerische oder taktile Erschließung der Kunstwerke der visuellen gar überlegen scheint. 102 Fedorov 2005, S. 172.

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Die Topographie der Metahistoriographie

Erbes im Museum, das die Grenzen von Raum und Zeit überwindet. Das (Kunst-)Museum sprengt die Fesseln der Geschichte. Die Kunstwerke werden zum „conduit between the past, when these cultural objects were produced, and the present (and future), when they are encountered“.103 Sie kreieren einen transnationalen Bezugsrahmen, dessen Gültigkeit – und hier ist vor allem der bereits bekannte Rekurs auf eine Semantik der Ewigkeit bedeutsam – über die Geschichte hinausgeht.104 Gegenüber dieser Form der Aktivierung des Vergangenen werden im Film jedoch Vorbehalte formuliert, die eine nostalgische Anknüpfung an die Vergangenheit problematisch werden lassen. Diese Vorbehalte sind metahistoriographischer Natur, adressieren sie doch eine Reihe von Konstitutionsbedingungen historischer Erkenntnis. Einer betrifft das Nichtwissen über den geschichtlichen Weg. Bereits ganz zu Beginn, in einer Episode über Peter den Großen, wird die Diskussion über den Zaren mit der Frage nach dem richtigen Weg und der Kenntnis von eben diesem verknüpft, auf die nicht geantwortet wird. Eine weitere Reflexionsebene ist der Diskurs über Sichtbarkeit. Der Film beginnt mit den Worten: „Ich öffne die Augen und sehe nichts“,105 und im gesamten Film stellt sich die Frage, ob der Erzähler und de Custine von den anderen Protagonisten im Museum gesehen und gehört werden können. Was von wem gesehen wird und gesehen werden kann, wird somit kontingent gesetzt. Zu beachten ist außerdem die Häufung von Darstellungen und Metaphern der Blindheit. Der Film reflektiert durch diese Reflexionsebene die Unmöglichkeit, geschichtliche Ereignisse für alle sichtbar zu gestalten. Am Ende ist geschichtliche Darstellung eine Frage der Perspektive, des Sehenwollens und -könnens. Eine letzte Reflexionsebene ist schließlich der Verweis auf Traum („Ist das auch kein Traum?“)106 und Illusion („Ich frage mich, ob das alles für mich inszeniert wird“).107 Insbesondere dieser Aspekt steht in direktem Zusammenhang mit dem Museum, dem paradigmatischen Ort der Inszenierung des Vergangenen. Weder der Erzähler noch der Zuschauer sind sich des Realitätsgehaltes des Films gewiss bzw. verfügen über Methoden, sich darüber Gewissheit zu verschaffen. Der 103 Harte 2005, S. 45. 104 Vgl. hierfür auch diese Beobachtung bei Harte 2005: „In one brief Russian Ark scene transpiring in the Hermitage’s Tent Room, for example, the Marquis closely observes Frans van Mieris the Elder’s 1660 A Young Woman in the Morning, noting wistfully how the figures in the painting are ‘eternal people’“ (55). 105 „Oткрываю глаза и ничего не вижу“ (Minute 00:01:46 – 01:50). 106 „«Есть сон, нет?» – «Не знаю, не знаю»“ (Minute 00:23:40). 107 „Интересно, всё это разыгрывается ради меня или я должен сыграть какую-то роль?“ (Minute 00:04:43).

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Betrachter tendiert dazu, der Suggestion der Kontinuität, die durch die Plan­ sequenz und die Einheit des Ortes erzeugt wird, zu erliegen und ob dieser die eben erwähnten metahistoriographischen Vorbehalte zu vergessen. Diese reflexiven Ebenen evozieren Enigmatik, die russische Geschichte wird zur Chiffre. Dies gilt für alle wichtigen Fragen des Films, für das Verhältnis Europas zu Russland (und als Teilgebiet hiervon das Verhältnis von de Custine zum Erzähler), das Verhältnis von dargestellter Geschichte und realer Geschichte, das Verhältnis von Erinnerung und Geschichte und für das Verhältnis von zeitlich bestimmbarer Geschichte und Ewigkeit. Ein weiterer dezidiert metahistoriographischer Topos ist die Thematisierung der Rolle von Rahmungen. Die Komposition des Films als Plansequenz ohne Schnitte evoziert die Vorstellung einer kontinuierlichen und bruchlosen geschichtlichen Zeit, die jedoch nur scheinbarer Natur ist. Russkij kovčeg lebt von der Spannung zwischen der reel time, der Suggestion filmischer Kontinuität, und der real time, d. h. der dargestellten Begebenheiten, die auf subtile Weise diachrone und synchrone Elemente verbindet.108 Heuristisch kann man von einer extradiegetischen Rahmenhandlung sprechen, die das Setting vor dem Eintritt und nach dem Austritt aus der Eremitage bildet, und einer intradiegetischen Haupterzählung, die in dem Rundgang durch die Eremitage und der Begegnung mit Protagonisten der russischen Geschichte sowie Besuchern der Eremitage besteht. Diese intradiegetische Haupterzählung wird chronologisch gestaltet, jedoch immer wieder von metadiegetischen Nebenhandlungen unterbrochen. Die wichtigste dieser Nebenhandlungen ereignet sich genau zur Mitte des Films, als der als Museumsführer fungierende französische Reiseschriftsteller Marquis de Custine unter Missachtung der Warnungen des Erzählers einen Nebenraum der Eremitage aufsucht. Dort trifft er auf einen Schreiner, der sich in der ungeheizten und unaufgeräumten Eremitage seinen eigenen Sarg baut – eine Anspielung auf die Blockade Leningrades während des Zweiten Weltkriegs. Solche Passsagen widersprechen der Deutung, der Film liefere einen „monumental, arbitrar, selective, condensed, compressed, nationalistic and nostalgic“ 109 Blick auf die russische Geschichte, die als Geschichte der Europäisierung Russlands unter Ausklammerung der sowjetischen Periode erzählt werde und Parallelen zur in den 1990er Jahren populären Erzählung aufweise, dass Russland vor dem Kommunismus auf einem guten Weg gewesen sei, bevor dieser von den Kommunisten verlassen worden sei.

108 Vgl. Katchurin/Zitser 2003, die auf Parallelen zu Tarkovskijs Zeitkonzeption hinweisen. 109 Sikharulidze 2002, S. 107.

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Im Zentrum von Frankofonia (2016) steht der Pariser Louvre zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der französische Museumsdirektor und der von der deutschen Besatzungsmacht eingesetzte Bevollmächtigte verbünden sich, um die einzigartigen Kulturschätze vor Zerstörung und Raub zu schützen. Wiederum wird die Idee des Museums als pazifizierende, die Menschheit verbindende Institution aufgerufen, die von einem Meer feindlicher Kräfte und Dynamiken umgeben ist. Die deutlichste Parallele zu Russkij kovčeg liegt im Wiederaufgreifen der musealen Leitmetaphorik der Arche. Die extradiegetische Rahmenhandlung des Museumsfilms Frankofonia wird von einem in Seenot geratenen Containerschiff dominiert, auf dem wertvolle Kunstwerke transportiert werden. Der Regisseur tritt in einem Cameo-Auftritt mit dem Kapitän direkt in Kontakt und stellt so die Verbindung zwischen den transportierten Kunstgütern und seiner Person her. Auch wenn einige Werke über Bord fallen sollten, so sind sie doch nicht gänzlich verloren, hat Sokurov ihnen doch in seinem Film ein filmisches Denkmal gesetzt und eine neue Arche für das Welterbe geschaffen, die bereitsteht, sollte die alte Arche sinken – so der nicht ganz unproblematische Subtext des Films. Die Idee der Arche wird auch im Rahmen einer Ekphrasis von Théodore Géricaults Floß der Medusa (1818/1819) aufgegriffen, ebenso wie die Möglichkeit einer universellen Versammlung des Erbes der Menschheit bei der Beschreibung des Salon Carré anklingt: „Щедрость Лувр не знает границ. Сотни картин на стенах. Всё, что есть … всё, что есть – на стенах.“ 110 Wiederum ist das Museum auch der Ort der wiederauferstandenen Toten, an dem die Allegorie der Marianne zum Leben erwacht und Napoleon über seinen Beitrag zur Vervollkommnung der Sammlungen des Louvre sinniert. Neben der Geschichte des Containerschiffs existiert eine weitere extradiegetische Rahmen­ handlung. Sokurovs Film beginnt mit Nahaufnahmen des toten Anton Čechov und des verstorbenen Lev Tolstoj. Mit dem Tod der beiden Literaten scheint für den Erzähler das Ende der russischen Kultur angebrochen. Anstelle der Intellektuellen übernehmen nun das Volk und dessen hartherzige (žestokoserdnyj) Kinder das Regiment. An dieser Stelle verlassen die russischen Protagonisten die Filmhandlung, der tote Tolstoj wird nur gegen Mitte des Films noch einmal kurz eingeblendet, ohne jedoch bereits reif für die Auferstehung zu sein – allerdings schläft er nur, wie mehrfach betont wird. Das 20. Jahrhundert ist in Frankofonia wie bereits in Russkij kovčeg in russischer Hinsicht kulturlos. Hiervon zeugt insbesondere die schmerzhaft verzerrte sowjetische Hymne am Ende des Films, die 110 „Die Großzügigkeit des Louvre kennt keine Grenzen. Hunderte Gemälde an den Wänden. Alles, was existiert  … alles, was existiert, ist an den Wänden“ (Minute 00:53:11 – 00:53:22).

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in schroffem Gegensatz zur ästhetisierenden Präsentation der Kunstwerke im Film steht. Falls eine Neubegründung der russischen Kultur überhaupt möglich sein sollte, so gelingt diese nur mittels der Orientierung an den Klassikern 111 und an Europa 112, so die von Sokurov auch in Interviews geäußerte kulturpolitische Überzeugung. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in allen drei diskutierten Filmen die Arche als Leitmetaphorik des Museums fungiert. Das Museum ist der Ort, an dem die existentiellen Fragen des menschlichen Daseins verhandelt werden können. Die russische Geschichte ist dabei in allen Fällen Bestandteil einer ästhetischen Gemeinschaft, deren transnationale Bezüge allerdings nicht über das in mehrfacher Variation thematisierte Spannungsfeld Russland-Europa hinausreichen. Die großen Kunstmuseen als die paradigmatischen Archen des Kulturerbes der Menschheit behalten diese Rolle durch die Geschichte hindurch und überstehen selbst dunkle Perioden wie Totalitarismus und Krieg. Das Ziel des Museums ist in Anknüpfung an Fedorov die Idee einer universalen Versammlung der Menschheit. Im Museum lassen sich räumliche, zeitliche und politische Grenzen überschreiten, seine Aura wirkt pazifierend. Der Besuch des Museums dient dabei weniger konkreter kunstgeschichtlicher oder historischer Erkenntnis, sondern hat vielmehr als Ziel die multisensorische Affektion des Betrachters, durch die er in ein lebendiges Gespräch mit der Vergangenheit tritt. Er soll diese aufwecken und auferstehen lassen und sie auf diesem Wege aktualisieren. Damit wird ein genau gegensätzlicher Auftrag an das Museum formuliert als bei Lopušanskij. Wird dort die Tilgung des Vergangenen zur Voraussetzung von Zukunft, so ist in den Filmen Sokurovs Zukunft nur im Rückgriff auf Vergangenes denkbar.

Die Totalisierung des Museums Was kann und soll die Institution Museum für die russische Gesellschaft leisten? Die russischen und sowjetischen Modernisten hatten auf diese Frage zwei konkurrierende Antworten. Im Zuge des bereits erwähnten Kosmismus Nikolaj Federovs nahm das Museum eine Schlüsselstellung ein. Es fungierte als der Ort, 111 „I recognize myself in the lives of the protagonists and heroes of Tolstoy, Chekhov, Dostoevsky, and Bunin: that is my nature“ (Kujundžić 2015, S. 35). 112 „To me, living in Russia, it has always been very important to know that Europe has my back, that Europe is there for me. And I understand now that that space is gradually beginning to disappear“ (Kujundžić 2015, S. 38).

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an dem und durch den das Menschheitsprojekt der universellen Auferstehung verwirklicht werden sollte.113 Einen ganz anderen Standpunkt als Fedorov nahmen die Vertreter der Avantgarde ein, die in ihren Schriften heftig gegen die Institution Museum polemisierten. Kazimir Malevič fragte z. B.: „Нужен ли Рубенс или пирамида Хеопса, нужна ли блудливая Венера Пилоту в выси нашего нового познания?“ 114 Für ihn war die Antwort auf diese selbstgestellte Frage klar: „[…] ничто не создается на фундаментах вековой крепости“.115 Insbesondere die Trennung zwischen Kunstraum und Lebensraum missfiel den Avantgardisten, sollte doch „ein totaler Raum des Lebens geschaffen werden, in dem die tägliche Praxis mit der Kunst zusammenfiele“.116 Der totale Raum des Lebens, von dem hier die Rede war, war aber gerade kein musealisierter Raum, sondern ein dynamischer, entgrenzter Raum: „Нам не жить в музеях. Наш путь лежит в пространстве, но не в чемодане изжитого.“ 117 Schaut man nach den Besonderheiten des postsowjetischen Museumsdiskurses, so wird man in der schrittweisen Rehabilitation des Totalitätspotentials des musealen Raums fündig. Ein zusätzliches Beispiel hierfür ist das Schaffen Il’ja Kabakovs. Gefragt nach dem passenden Ort für seine totalen Installationen 118 wirft er mehrere Varianten auf, vom „leeren Zimmer in einer Wohnung“ über „eine kommerzielle Kunstgalerie ohne großen Namen“ bis zum „Kunstmuseum im Rang einer nationalen oder welthistorischen ‚Schatzkammer‘“.119 Nachdem er die verschiedenen Möglichkeiten kurz diskutiert hat, kommt er zu dem Schluss, „daß der beste Ort für die zeitweilige oder (wenn es dazu kommt) ständige Ausstellung einer totalen Installation, eine Kunsthalle oder ein Museum für zeitgenössische Kunst ist“ (42). Eine solche Schlussfolgerung wäre in unserem Kontext noch nicht bemerkenswert, würde die Wahl nicht auch mit einem spezifischen historiographischen und metaphysischen ­Potential des 113 Nicht nur Nikolaj Fedorov, sondern auch Vertreter des russischen Modernismus sprechen dem Museum dieses Totalitätspotential zu. So spricht z. B. Andrej Belyj vom „Museum-Panoptikum“ (Belyj zit. nach Abašev 2015, S. 326). 114 Malevič 1919, S. 2. „Braucht man Rubens oder die Cheopspyramide, ist eine verdorbene Venus dem Piloten in der Höhe unseres neuen Bewusstseins von Notwendigkeit?“ 115 „Nichts wird auf den Fundamenten einer uralten Festung geschaffen.“ 116 Groys 1995, S. 123, Hervorhebung im Original. 117 Malevič 1919, S. 2. „Uns bekommt es nicht, in Museen zu leben. Unser Weg liegt im offenen Raum, nicht im (Eingesperrtsein) im Koffer der Überlebten.“ 118 Obgleich Kabakovs Idee der totalen Installation ein Konzept der 1990er Jahre ist, reflektiert er doch auch schon Ende der 1970er Jahre die Möglichkeit eines Universalsystems zur Darstellung von allem (vgl. hierfür Groys/Kabakov 2002). 119 Kabakov 1995, S. 41.

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musealen Raums gerechtfertigt werden. So betrachtet Kabakov das Museum als „Akkumulator der Geschichte, [als] lebendiges Beispiel für den Zusammenhang der Zeiten“ (43). Ausgehend von dieser historiographischen Exposition setzt er dann zum metaphysischen Crescendo an, das hier in Ausführlichkeit zitiert werden soll: Und trotzdem, der einzige Ort, wo all dies letztendlich landet, ist das Museum, jene Kultur, die man bekämpft und ablehnt, und schließlich wird eben dieser Kampf, genauer, die Geschichte dieses Kampfes, zum eigentlichen Gewebe und zur eigentlichen Geschichte der Kultur. Dieser geheimnisvolle Prozess der Verwandlung von Feinden in eigene Kinder, und zwar geliebte Kinder, und der Ort selbst, dem sich dieser Übergang für immer einprägt – das Museum –, übernimmt heute die Rolle einer besonderen Schatzkammer, die der Betrachter besucht um zu schauen und Zeuge dieses erstaunlichen Prozesses zu sein […]. Und dieses Schauspiel des Siegs der Kultur, des Siegs ihrer Geschichte, der Kontinuität der Epochen, ihr Wechselgesang, macht die heutigen Museen zu Tempeln dieses wiedererstandenen Kults der „Kunst, Kultur und Geschichte“, und die Säle dieser Tempel zu besonderen „sakralen“ und „heiligen“ Räumen (44).

Ein weiteres Beispiel für die Wiederentdeckung des Museums als totaler Institution findet sich bei Jurij Lotman, der den Museumssaal als Metapher für seine Konzeption der Semiosphäre, eines totalen (Zeichen-)Raums, heranzieht.120 Als Beispiel für eine einheitliche Welt im synchronen Schnitt können wir uns einen Saal in einem Museum vorstellen, wo in verschiedenen Vitrinen Exponate aus unterschied­ lichen Epochen ausge8stellt sind, dazu Schilder in bekannten und unbekannten Sprachen, Legenden, erklärende Begleittexte zur Ausstellung, Vorschläge für Rundgänge sowie Verhaltensregeln für die Besucher. Bevölkern wir diesen Saal noch mit Kunsthistorikern, die Führungen anbieten, und mit Besuchern, und denken wir uns das Ganze als einen zusammenhängenden Mechanismus (was es in gewissem Sinn auch ist). Das Ergebnis ist ein Bild der Semiosphäre.121

Auch hier erscheint das Museum durch seine räumliche Organisationsstruktur und die Möglichkeit der Überschreitung zeitlicher, sprachlicher und logischer Grenzen als prädestinierter Ort, um eine Einheitsmetaphorik (edinogo mira; edinyj mechanizm) der Gesellschaft zu entwerfen. Die Parallelen zu Kabakov sind hier offensichtlich, der ebenfalls das Museum über seine zeitüberschreitende Qualität charakterisiert, die unmittelbare Evidenzen erzeugt. 120 Dies soll nicht suggerieren, Lotman selbst würde grundsätzlich ein Verständnis von Kultur als geschlossenem Zeichenraum vertreten. Vielmehr ist Lotmans Kulturtheorie getragen von einer tiefen Skepsis gegenüber der Totalität geschlossener Systeme, was sich u. a. in seinem Verständnis der topologischen Begriffe der Grenze und Totalität zeigt (vgl. Frank/Ruhe/Schmitz 2012, S. 12). 121 Lotman 2010a, S. 168. Vgl. für eine Interpretation dieser Textstelle auch Werberger 2012.

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Deutlicher als bei Lotman klingt bei Kabakov die metaphysische Überhöhung des Museums als sakraler Ort an. Das Museum wird zum Ort einer (quasi-)religiösen Erfahrung, der Geschichte in Kultur/Kunst verwandelt und ihr damit ein überzeitliches Gepräge verleiht. Eine ähnliche Dynamik findet sich auch in den Filmen Sokurovs, der das Museum ebenfalls als überzeitliches Speichermedium begreift und in der Metaphorik der Arche auf einen religiösen Urtext zurückgreift. Während bei Sokurov die Exponate eine zentrale Rolle einnehmen, fokussiert Lopušanskij auf die institutionelle Qualität des Museums, dessen metaphysisches Potential sogar noch nach der Zerstörung der Exponate wirksam bleibt. Das Museum wird so in beiden Fällen zu einer Institution, die noch ein Versprechen auf transzendierende Totalität bereithält und dieses auch angesichts der kommunistischen und ökologischen Katastrophe bewahrt. Hier liegt der entscheidende Gegensatz zu Lübbes Auffassung von Musealisierung, deren kompensatorische Qualität als Heilmittel für den größer angelegten Abschied vom Prinzipiellen 122 wirken sollte und postmetaphysisch angelegt war.

5.3  Vom Sprachverlust zum Geschichtsgewinn – Geschichtsschreibung im Irrenhaus Dass sich die postsowjetische Gesellschaft infolge der Nachwirkungen des imperialen Auflösungsprozesses seit der Perestrojka in einem psychisch labilen Zustand befindet, ist eine insbesondere in den 1990er Jahren häufig anzutreffende Diagnose. Prominent findet man sie bei Aleksandr Ėtkind, der 1992 konstatiert: „When the feelings of entire generations do not accord with the real course of history, it is society that needs diagnosis.“ 123 Ėtkind, den das Verhältnis von sozialpsychologischer Konstitution und historischer Aufarbeitung von der hier zitierten frühen Abhandlung zur Psychology of Post-Totalitarianism in Russia bis zu seinem gut 20 Jahre später erscheinenden Opus magnum Warped Mourning (2013) umtreibt, spricht 1992 von einem Soviet Syndrome, dessen pathologische Struktur aus der sowjetischen Gesellschaftsordnung resultiere: „The Soviet syndrome arises and develops only as a result of poisoning by external disease-bearing agents. In essence these are the whole social life around Soviet man“.124

122 Marquard 1997. 123 Gozman/Etkind 1992, S. 60. 124 Gozman/Etkind 1992, S. 69.

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Weniger radikal fällt die Diagnose Alexei Yurchaks aus. Ihm zufolge entwickeln die spätsowjetischen Subjekte eine ganze Reihe von Alltagspraktiken, mit denen sie diese Symptome behandelten und die dahiner liegende Kluft zwischen dem Symbolischen und dem Realen überbrücken konnten. Folgt man Yurchak, so funktionierten diese Überbrückungsleistungen auch aufgrund eines tacit agreement, bestimmte Bereiche – und hier insbesondere die Geschichte und alternative Zeitmodelle – aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen.125 Innerhalb des autoritativen Diskurses des Spätsozialismus wurde diese Verdrängung auf subjektiver Ebene zwar als belastend und deformierend empfunden, war aufgrund fehlender gesamtgesellschaftlicher Verlautbarungsmöglichkeiten allerdings nur bedingt als sozialpsychologischer Zustand erlebbar. Mit der Perestrojka entstehen neue Formen der Artikulation und Rezeption des bisher Verdrängten. Wie Yurchak demonstriert, ist der strukturelle Wandel dabei folgenschwerer als die veränderten Bezüge auf der Ereignisebene. The discourse of perestroika achieved something much more important than merely describing some „truth“. It reintroduced a public metacommentary about authoritative discourse, providing a venue for discussing the principles according to which this discourse functioned in everyday life (292).

Es war die Hoffnung Michail Gorbačëvs, diesen neu entstehenden metacommentary in irgendeiner Form an die alte sowjetische Metasprache rückzubinden – sie mutet im Nachhinein naiv an. Während die Enthüllungsdynamik der Perestrojka auf die Kenntnisnahme jener Kluft zwischen sowjetischer Metasprache und neuem Metakommentar aufschiebende Wirkung hat, so tritt sie nach Ende des Reformprozesses in aller Schärfe zu Tage. Nun wird auf gesellschaftlicher Ebene klar, dass keine Sprache existiert, mit der man die eigene Sozialisation im sowjetischen Symbolsystem und die damit verbundenen individuellen Sinngebungsformen mit der neuen Wirklichkeit in Einklang bringen kann. Die sozialpsychologische Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist laut Serguei Oushakine eine kollektive Aphasie. It is in this de-contextualisation, in this dissociation of a cultural text from the place of its origin, in this dissolution of a binding effect of the Soviet meta-language, that the “post-Soviet aphasia“ makes itself apparent.126

Diese betrifft die vormalige Intelligenzija 127 ebenso wie die Massen. ­Oushakine, der in seine Diagnose sowohl die Ergebnisse seiner anthropologischen ­Feldforschung 125 Yurchak 2005, S. 155 ff. 126 Oushakine 2000, S. 998. 127 Vgl. Gessen 1997.

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in Barnaul als auch die russische Populärkultur der 1990er Jahre einfließen lässt, spricht von „symbolischer Impotenz“,128 die dazu führt, dass man sich an die alten sowjetischen Formen anlehnt und diese nostalgisch instrumentalisiert. Oushakines Aphasiediagnose evoziert einen pathologischen Zustand, dreht die Interpretation Ėtkinds allerdings um. Ist bei Ėtkind die sowjetische Erfahrung Ursache psychologischer Deformation, fungiert sie bei Oushakine als ­Heilmittel, denn nur im Rückgriff auf die alten sowjetischen Rahmungen (Oushakine nennt diesen Vorgang Retrofitting)129 erscheint die Realität der 1990er Jahre überhaupt darstellbar. Die Krankheit wird kuriert mit denselben Mitteln, die zu ihrem Ausbruch geführt haben. Diese Aussage klingt so irr, wie ihre paradoxe Struktur nahelegt. Sie wird verstehbar nur unter den Bedingungen einer vollkommen deformierten Zeitlichkeit, die die Periode des Interregnums auszeichnet. Lässt sich diese Deformation eventuell im Irrenhaus produktiv verarbeiten? Für den an Foucault geschulten Leser ist die Vorstellung einer freiwilligen Einweisung in das Irrenhaus irritierend. Foucault und seine von ihm inspirierten Nachfolger hatten das Irrenhaus bekanntlich als paradigmatischen Ort der Diszi­plinierung beschrieben, in dem gesellschaftliche Veridiktion auf Kosten abweichender Rationalitätskonzepte repressiv durchgesetzt wird. Das Irrenhaus konstituiert hier ein Dispositiv, das in einer Allianz zwischen politischer Macht und Wissenschaft Verhaltensweisen und Subjektivierungen festschreibt.130 Rebecca Reich hat in ihrer Studie State of Madness. Psychiatry, Literature and Dissent after Stalin überzeugend aufgezeigt, warum eine solche Sichtweise auf das Irrenhaus für den spätsowjetischen Kontext verkürzt sei. In Analysen von Iosif Brodskij, Andrej Sinjavskij und Venedikt Erofeev untersucht sie „their attempts to challenge psychiatry itself through literary discourse and its own tradition of writing about madness“.131 Dabei zeigt sie auf, in welch unterschiedlichen Kategorien der Kampf gegen die psychologische Fremdzuschreibung geführt werden kann. So verfolgt Aleksandr Esenin-Vol’pin einen legalistischen Ansatz der Psychia­triekritik, wohingegen Vladimir Bukovskij und Semen Gluzman innerhalb des wissenschaftlich-psychiatrischen Feldes ihre Kritik formulieren. Hinzuweisen wäre darüber hinaus im Kontext der repressiven Zwangseinlieferung von Andersdenkenden ins Irrenhaus auf den Fall Žores Medvedev, der Anfang der 1970er Jahre aufgrund seiner Kritik der Genetik Lysenkos zwangspsychiatrisiert 128 Oushakine 2000, S. 1001. 129 Oushakine 2007. 130 Zur Kritik der Übertragbarkeit des Foucault’schen Ansatzes auf die Sowjetunion vgl. Engelstein 1993. 131 Reich 2018, S. 5

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wurde und darüber in einem gemeinsam mit seinem Bruder Roj verfassten Buch berichtete.132 Die Ausführungen bei Medvedev unterstützen Rebecca Reichs These, dass „Dissidenten durch die Depathologisierung ihrer eigenen Person und die Pathologisierung des Staates im Gespräch mit Psychiatern und im Samizdat ihre Autorität über den psychiatrischen Diskurs zur Geltung“ gebracht hätten.133 Der Staat selbst wird hier zum Irrenhaus erklärt,134 die eigene pathologische Diagnose zerpflückt und an den Psychiater zurückverwiesen. Über diese kritische Stoßrichtung hinaus wird im literarischen Umfeld versucht, den Aufenthalt im Irrenhaus unter dem Blickwinkel radikaler Introspektion positiv zu evaluieren. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die Aussage Valerij Tarsis, für den „das schmutzige Irrenhaus der einzige Ort für einen anständigen Schriftsteller“ 135 darstellt. Was könnte diese Attraktivität begründet haben? Das Schreiben und Sprechen der Verrückten ist nicht gebunden an Konventionen, muss sich keinen Regelwerken unterordnen, kann die Gesetze der Logik hinter sich lassen. Die Kohärenzerwartungen des Lesers an die Geschichte der Irren sind limitiert, also kann nach Herzenslust experimentiert werden. Die Fremddiagnose als Verrückter kann somit aufgenommen und ästhetisch produktiv gemacht werden. Oliver Ready hat in seinem Werk Persisting in Folly diese Strategien untersucht und bei so unterschiedlichen Autoren wie Jurij Mamleev, Saša Sokolov und Venedikt Erofeev analysiert. An diese Untersuchungen zum spätsowjetischen Irrenhausdiskurs ebenso wie an Vorarbeiten zum Psychiatrietopos bei Vladimir Makanin und Viktor Pelevin 136 knüpft das folgende Unterkapitel an. Das Irrenhaus wird während des Interregnums zu einem Ort, in dem der postsowjetische Held durch seinen Aufenthalt im Irrenhaus Vergangenheit und Zukunft aufzuarbeiten versucht.137 In Bezug auf den Umgang mit Geschichte interessiert dabei vor allem, welche Formen der Geschichtsschreibung diese Versuche zu Tage bringen. Die Hypothese der Untersuchung lautet dahingehend, dass das Irrenhaus spezifische Potentiale der Religiosität und Kreativität bereithält, die neue historiographischen Formen, Inhalte und Handlungen ermöglichen. Sie soll entfaltet werden auf Basis einer Lektüre des Romans Do i vo vremja (Vor und während der Zeit, 1993) von ­Vladimir Šarov und Kurzgeschichten von Jurij Bujda. 132 133 134 135 136 137

Medvedev/Medvedev 1972. Reich 2014, S. 565. Am bekanntesten sicherlich in Aleksandr Zinov’evs Werk Želtyj dom (Das gelbe Haus, 1980). Zit. nach Ready 2017, S. 42. Brintlinger 2004. Vgl. Brintlinger 2004, S. 65.

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Der Selbstentwurf des Irren 1965 liefert sich der Held in Šarovs Do i vo vremja freiwillig in ein Irrenhaus ein. Die Entscheidung scheint klug gewählt, hat sich doch politisch die Hoffnung auf den Sommer, der dem den Frühling ankündigenden Tauwetter folgen sollte, nicht erfüllt. Stattdessen steht am Ende des Herbstes, so die jahreszeitliche Angabe zu Beginn, ein neuer Winter bevor, der eine trostlose Landschaft zu Tage fördert. Der Beginn von Do i vo vremja ist symbolisch. Die Handlungszeit, die auf die einsetzende Restauration in den Brežnev-Jahren verweist, korreliert mit einer Krise der Erinnerung, die sich in dem Eintreten von Erinnerungslücken äußert. Seit drei Jahren plagen den Helden Aleša Blackouts, während derer er für lange Zeit spurlos von zu Hause verschwindet und erst Tage später wieder in einer Arrestzelle oder einer psychiatrischen Klinik gefunden wird.138 Der temporäre Verlust der Erinnerung, der sich hier ankündigt, steigert bei Aleša die Wertschätzung für das eigene Erinnerungsvermögen: Пожалуй, с начала болезни, после первых же припадков моя жизнь стала замыкаться, возвращаться назад: я все более и более ценил то, что уже было, то есть уже прожитое; память сделалась центром моего мира.139

Die persönliche Verfasstheit des Helden, dessen Selbstbeschreibung immer stärker von der Vergangenheit geprägt wird, ähnelt der historiographischen Konstitution der spätsowjetischen Gesellschaft dadurch, dass nur selektiv erinnert werden kann und jede alternative Erinnerung die Gefahr staatlicher Repression mit sich bringt. Um sich vor diesen Unwägbarkeiten zu schützen, haben „Normalsterbliche“ nur einen Ausweg: „покончить со всем, что было прежде, вычеркнуть его из жизни, вычеркнуть за то, что оно несовершенно.“ 140 Sie müssen, wie es in der dieser Anweisung vorgeschalteten Empfehlung heißt, mit der Lüge leben. Ist dieses Leben mit der Lüge keine Option, bietet sich nur eine Alternative. Man muss darauf verzichten, in der Welt zu bleiben („ostajuščichsja v miru“),141 und diese substituieren – entweder mit der Welt jenseits der Eisernen Vorhangs, wie es z. B. Solženicyn praktiziert, von dem die Maxime des „Nicht-in-der-Lüge 138 Vgl. Šarov 1995, S. 9. 139 Šarov 1995, S. 12. „Ich denke, dass von Beginn der Krankheit an, nach den ersten Attacken mein Leben sich abzuschließen begann und sich rückwärts wandte. Ich schätze mehr und mehr, was einst war, was ich bereits durchlebt habe. Erinnerung wurde zum Zentrum meines Lebens.“ 140 Šarov 1995, S. 39; „mit allem Schluss machen, was zuvor war, es aus dem Leben herausstreichen, es darum herausstreichen, weil es unvollendet ist“. 141 Šarov 1995, S. 39.

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Lebens“ stammt, oder man schafft sich innerhalb der bestehenden sowjetischen Welt eine eigene Gegenwelt. Und der prädestinierte Ort für eine solche Gegenwelt ist nun einmal das Irrenhaus, ist für dieses das Leben in eigenen Welten doch Eintrittsbillet. Das Anprangern der Lüge im Gewand des Irren blickt dabei in der russischen Kulturgeschichte in Form der Parrhesia des Jurodivyj auf eine lange Tradition zurück, die im Spätsozialismus neu angeeignet wird.142 Auch bei Jurij Bujda fungiert das Irrenhaus als privilegierter Ort. Zu Beginn seines Erzählungsbands Želtyj dom 143 (Das Gelbe Haus, 2001), heißt es: Наверное, ни одна другая литература не обращалась к теме безумия так часто и с такой настойчивостью, как русская, сделавшая эту тему своей визитной карточкой. […] Истоки завороженности русских писателей образом Желтого Дома […] кроются в особенностях русской истории, русской религиозной веры.144

Der Erzähler trianguliert hier Wahnsinn, Geschichte und Glauben. Diese Beziehung ist kennzeichnend für die von Bujda präsentierten Geschichten. Angesiedelt in der russischen Provinz, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Wahnsinn und Gesellschaft, der Wahnsinn ist ein Teil des „normalen Lebens des Städtchens“.145 Die Ursachen für die Ubiquität des Wahnsinns hängen dabei häufig mit histo­ rischen Erfahrungen zusammen. In dem Erzählband Prusskaja nevesta (Die preußische Braut, 1998) gibt die ostpreußische Enklave den Schauplatz ab. In Bezug auf den Wahnsinn ist insbesondere die Geschichte Veselaja Gertruda (Die fröhliche Gertrude) aufschlussreich, in der es um die unglückliche Liebe zwischen Sergej und Getrude geht.146 Sergej wurde während des Ersten Weltkriegs als russischer Soldat verwundet und danach von Gertrude aufgenommen. Dort gewöhnt er sich an das Leben im Deutschen Reich und nimmt den Beruf des Uhrmachers von Gertrudes erstem Mann an. Sergej repariert die zerbrochenen 142 Am bedeutsamsten für diese Aneignung sind Andrej Sinjavskijs Ivan-durak. Očerk russkoj narodnoj very (Iwan der Dumme. Über den russischen Volksglauben, russische Erstpubli­ kation 1990) und Dmitri Lichačevs und Alexandr Pančenkos Smechovoj mir drevnej Rusi (Die Lachwelt des alten Russland, 1976). Vgl. für literarische Niederschläge dieser Wiederaneignung die Analysen bei Reich 2018 und Ready 2017. 143 Das Gelbe Haus bezeichnet im Russischen das Irrenhaus. 144 Bujda 2001, S. 10 f. „Sicherlich hat sich keine andere Literatur dem Thema des Wahnsinns so oft und mit einer solchen Hartnäckigkeit gewidmet wie die russische, die dieses Thema zu ihrem Aushängeschild gemacht hat. […] Die Quellen der Hingezogenheit russischer Schriftsteller zum Topos des ‚Gelben Hauses‘ liegen dabei in der russischen Geschichte, im russischen religiösen Glauben.“ 145 „Частью нормальной жизни города“ (Bujda 2001, S. 7; kursiv im Original). 146 Für eine Interpretation der Erzählung vgl. auch Prochorova 2012.

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Zeitanzeiger, bis bei ihm selbst ein Zeitproblem diagnostiziert wird. Er hat die Michaėl-Keller-Krankheit, die sich durch einen vollständigen Erinnerungsverlust auszeichnet. Was als Deformation erscheint, ist für Sergej allerdings kein Makel, sondern Grundlage seines persönlichen Glücks. Denn würde er sich an sein persönliches Leid und das Trauma seines Heimatverlusts erinnern, würde er wahrscheinlich sein psychisches Gleichgewicht verlieren. Als Kronzeuge dieser Deutung wird niemand Geringeres als Martin Heidegger angeführt, der in einer fingierten Notiz gesagt haben soll:147 Бытие добра и зла немыслимо вне длительности, вне времени, вне истории, тогда как Радость («феномен Михаэля К.») преодолевает эту длительность и, «поглощая добро и зло», выступает как психологический атрибут вечности.148

Die Harmonie ist aber von begrenzter Dauer, denn als die sowjetische Armee 1945 in Ostpreußen einmarschiert, kommen ihm beim Kontakt mit seinen Lands­leuten Sprache und Gedächtnis zurück. Die erneute Umkehr der Zeitordnung, die seine Psyche erfährt, erweist sich als fatal: „Сергей Иванович вдруг понял, что бездна времени, разверзшаяся перед ним, страшнее бездны вечности.“ 149 Er wird als Deutscher erschossen, worüber Gertrude, die in Ostpreußen zurückbleibt, verrückt wird. Sie geistert nun, „unter Monstern lebend“ („sredi čudovišč“),150 herum und richtet an alle Passanten die Worte aus Schillers Ode an die Freude „Seid umschlungen, Millionen“, die ihr Ehemann Sergej so schätzte. Über den Gang der Geschichte sind letztendlich Sergej und Gertrude verrückt geworden. Eine ähnliche Lehre hält die Erzählung Samson-Samsonit aus Želtyj dom bereit. Dort wird aus der Ich-Perspektive von einem Mann erzählt, der sich entschlossen hat, sein Leben im Brunnen vor dem Kinotheater Rossija zu verbringen. Von diesem verrückten Verhalten werden die Menge, die Miliz und ein Mediziner angelockt, der ihn nach seinen Motiven fragt. Nun erzählt er, dass er einen Sohn habe, der in Afghanistan gekämpft habe und ohne Beine heimgekehrt sei. Offensichtlich war diese Leiderfahrung so prägend, dass er sich zu 147 Die Heidegger’sche Existenzphilosophie und die Frage des Wahnsinns werden auch in Vladimir Makanins Andergraund (Underground oder Ein Held unserer Zeit, 1998) verknüpft, einem weiteren Werk, das für den Diskurs des Irrenhauses wichtig ist. 148 Bujda 1998, S. 297. „Die Existenz von Gut und Böse ist unvorstellbar außerhalb von Dauer, Zeit und Geschichte, während Freude („Das Michael-Keller-Phänomen“) diese Dauer überwindet und – „Gut und Böse absorbierend“ – als psychologisches Attribut der Ewigkeit fungiert.“ 149 Bujda 1998, S. 299. „Sergej Iwanowitsch verstand plötzlich, dass der Abgrund der Zeit, der vor ihm klaffte, noch furchteinflößender war als der Abgrund der Ewigkeit.“ 150 Bujda 1998, S. 299.

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diesem verrückten Verhalten entschloss. Der Held weiß sogar einen Ausweg aus seinem Leiden, kann sich zu diesem allerdings nicht entschließen: „Надо отречься от своего прошлого. Увы, это не для меня.“ 151 Die Rückkehr ins seelische Gleichgewicht verläuft wie im Falle Sergejs über die Loslösung von der Vergangenheit und der Erinnerung. Diese Loslösung ist allerdings nicht möglich, würde sie doch die Verleugnung des eigenen Sohns bedeuten. Ebenfalls wird in der Geschichte der Konflikt zwischen Zeit und Ewigkeit verhandelt. Das Ziel des Helden ist das Aufgehen im Meer, in der Ewigkeit der Zeit- und Ortlosigkeit. Dies klappt zwar nicht ganz, aber zumindest in seinen Träumen kann er sich an diesen Sehnsuchtsort imaginieren. Dies gelingt, weil er in dem Doktor einen Leidensgenossen gefunden hat, der sich seiner annimmt und seine Gefühle nachvollziehen kann, da er durch den Tod seiner Familie in Auschwitz ebenfalls auf eine Leidenserfahrung zurückblicken kann. Psychische Deformation fungiert in diesen Geschichten nicht als pathologische Größe, sondern als Grundlage neuer Selbstentwürfe. Die eigene Verrücktheit wird als Befreiung erlebt, während die Krankheit von außen in Gestalt der Geschichte kommt. Die historische Erfahrung der Protagonisten lässt sich nur abseits des Normalen bewältigen. Nur der Verrückte findet einen adäquaten Weg, mit der Geschichte zurechtzukommen.

Die Religiosität des Irren Bereits die Titelgebung von Šarovs Roman signalisiert die Auflösung der Grenze zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Vor- und In-der-Zeit-Sein lässt sich nicht unterscheiden, Vergangenheit und Gegenwart werden verschränkt. Die Vergangenheit, die hierbei beschworen wird, reicht von der unmittelbaren sowjetischen Erfahrung und hier insbesondere der Person Stalins, der als „Folie für das, was in der Folge [im Irrenhaus] besprochen wird“,152 dient, bis in die biblische Zeit des Sündenfalls im Paradies. Kennzeichnend für die Vergangenheit im Roman ist die Auflösung der Grenze zwischen Mythos und Geschichte. Scharfgestellt wird diese Auflösung an der Frage der Auferstehung. Einer der historischen Haupthelden des Buchs ist Nikolaj Fedorov, der in seiner Filosofija obščego dela (Philosophie der gemeinsamen Sache, 1906 – 1913) das Projekt einer 151 Bujda 2001, S. 181. „Man muss sich von seiner Vergangenheit lossagen. Dies ist aber nichts für mich.“ 152 Šarov 1995, S. 77; „но некоей оппозицией тому, о чем говорилось дальше, он все же был“. Noch dazu tritt Stalin im Roman selbst an mehreren Stellen auf, hat allerdings mit seiner historischen Persönlichkeit nur wenig zu tun.

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kollektiven Auferstehung der Vorväter entworfen hat.153 Šarovs phantastische Geschichte erzählt die Usurpation dieser Idee durch die Kommunisten, die in den Räumlichkeiten des jetzigen Irrenhauses ein eugenisches Forschungsinstitut errichteten.154 Im Zentrum dieser Usurpation steht Madame de Staël, die sich in der Geburt von Töchtern durch die Geschichte hindurch selbst reproduziert. In ihrem zweiten Leben verliebt sie sich in Fedorov, dem sie drei Kinder schenkt, die jedoch allesamt nicht sprechen können. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird de Staëls Salon zu einem der Zentren der russischen Revolution. Unter den Besuchern des Salons sticht vor allem Aleksandr Skrjabin hervor, der zum Führer der Revolutionäre wird. Skrjabins Ziel ist die universelle Erinnerung an alles, was je geschehen ist: Мистерия есть воспоминание. Всякий человек должен будет вспомнить все, что он пережил с сотворения мира. Это в каждом из нас есть, в каждом из нас хранится, надо только научиться, суметь вызвать это переживание.155

Das Mysterium ist dabei nicht nur das Geheimnis des Seins, sondern auch ein Verweis auf Skrjabins unvollendete Komposition gleichen Namens. Dieses Mysterium bildet die eigentliche Grundlage der Revolution, denn es stellt sich heraus, dass „знаменитая ленинская работа ‚Государство и революция‘ есть не что иное, как тщательнейшая запись одной из главных тем «Мистерии»“.156 Was ist der Status dieser Genealogien? Einen historizistischen Anspruch verfolgt Šarov nicht. Seine Selbstaussage: „Это, точно, не историческая проза, по-моему, и писать, и читать ее не интересно. И это, безусловно, не альтернативная история“ 157 wird durch die Lektüre seiner Romane gestützt. Harry Walsh hat deshalb vorgeschlagen, Šarovs Texte als Allohistorien zu lesen, die er bestimmt als not interested in exploring the knowability of recorded events. It [Allohistorie] determinedly does split off language from received historiographic realities. It is more concerned with the

153 Fedorov und seine Idee erlangten während der Perestrojka und in den 1990er Jahren große Popularität in Russland, vgl. hierfür Shlapentokh 2017. 154 Vgl. Šarov 1995, S. 64. 155 Šarov 1995, S. 225. „Das Mysterium ist die Erinnerung. Jeder Mensch muss alles erinnern, was er seit der Erschaffung der Welt durchlebt hat. Dies steckt in jedem von uns, ist dort gespeichert, man muss nur lernen wie diese Erlebnisse hervorgeholt werden können.“ 156 Šarov 1995, S. 235. „Lenins bedeutsame Arbeit „Staat und Revolution“ ist nichts anderes als eine skrupulöse Umschrift eines der Hauptthemen des Mysteriums.“ 157 Šarov 2004. „Es ist zweifelsohne keine historische Prosa, meiner Meinung nach, und diese zu schreiben und zu lesen wäre uninteressant. Und es ist auch garantiert keine alternative Geschichte.“

Vom Sprachverlust zum Geschichtsgewinn301 imaginative, often whimsical, creation of unattested outcomes for potentialities: allohistory creates long, full lives for stillborn infants and early deaths for venerable patriarchs.158

Auf solche Allohistorien sind wir im Rahmen der Arbeit bereits im Mauvismus gestoßen. Dort wird, insbesondere in Sokolovs Palisandrija, ein ähnlicher Anspruch der Problematisierung historischer Referenz verfolgt. Mit dem Mauvis­ mus teilen Šarovs Werke die Privilegierung marginalisierter Perspektiven und das Spiel mit Figuren des Wahnsinnigen. Stärker als im Mauvismus korreliert der historiographische Ludismus auf der Handlungsebene bei Šarov jedoch mit einer historischen Aufrichtigkeit auf der Metaebene, die sich von der Parodie und dem Pastiche des Mauvismus unterscheidet. Offenbar wird diese Verschiebung u. a. bei der Gattungsfrage. Während die Mauvisten die Problematisierung historiographischen Emplotments am Roman festmachen, stellen in Do i vo vremja religiöse Textpraktiken die Referenzfolie dar. Вот и сейчас, когда, начиная работу, я взвешиваю, как назвать мои записки, первое, что приходит в голову: в древнерусской литературе был такой жанр – «плач». Думаю, то, что пойдет ниже, скорее всего, тоже плач, плач по людям, которых я знал и любил.159

An einer anderen Stelle wird konkretisiert, um was für eine Form der Klage es sich in dem vom Erzähler verfassten Buch der Erinnerungen handeln soll: um ein „Синодик опальных“ (Synodikon der Geächteten). Dieses Buchprojekt ist das historiographische Hauptvorhaben des Romans, das der Held im Irrenhaus in Angriff nimmt. Synodika bezeichnen in der orthodoxen Liturgie Gedenkbücher, beim Synodikon der Geächteten handelt es sich um ein spezielles Synodikon, das Ivan Groznyj für die von ihm Ermordeten anlegen ließ:160 В двенадцать лет, 3 мая, в день своих именин, я впервые […] случайно услышал разговор отца с одним из его друзей о недавно вышедшей статье, посвященной «Синодику опальных» Ивана Грозного. Помню, что тогда сама идея, сама возможность такого «Синодика» поразила меня. Тридцать лет человек бестрепетно убивал себе подобных, зная, что они ни в чем не повинны, и вот на смертном одре он начинает их вспоминать и на помин души каждого оставляет некую толику денег.161

158 Walsh 2002, S. 565 f. 159 Šarov 1995, S. 15. „Nun, da ich meine Arbeit beginne, wäge ich ab, wie ich meine Aufzeichnungen nennen soll. Das erste, was mir in den Sinn kommt: in der altrussischen Literatur gibt es eine Gattung – die Klage. Ich denke, dass das, was weiter unten kommt, am ehesten eine solche Klage ist, eine Klage über Leute, die ich kannte und liebte.“ 160 Vgl. Steindorff 1994, S. 226. 161 Šarov 1995, S. 13. „Im Alter von 12 Jahren, am 3.Mai, meinem Namenstag, hörte ich zum ersten Mal zufällig ein Gespräch meines Vaters mit einem seiner Freunde über einen kürzlich veröffentlichten Aufsatz, der dem ‚Synodikon der Gefallenen‘ Ivan des

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Die Topographie der Metahistoriographie

Die in Do i vo vremja gewählte Gattungskontextualisierung ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Sie präfiguriert die stark eschatologisch ausgerichtete Narration des Erinnerungsbuchs und rahmt die Frage nach menschlicher Erlösung theologisch. Im Hinblick auf diese Rahmung lesen sich die Fedorov’sche Auferstehungsphilosophie sowie die damit verknüpfte kommunistische Heilserzählung als Ausdrucksform tief in der russischen Geschichte wurzelnder religiöser Praktiken. Im Rekurrieren auf das altrussische Synodikon, eine gemeinschaftsstiftende Gedächtnisgattung, wird die Arbeit am Erinnerungsbuch außerdem zur Trauerarbeit, vor allem für die durch unrechtmäßige Gewalt ums Leben Gekommenen. Hierbei handelt es sich um die Opfer des Stalinismus, was sich erstens durch die oben zitierte Äußerung, alles Besprochene unter der Folie Stalins zu lesen, und zweitens angesichts der spätsowjetischen Tradition der Thematisierung stalinistischen Terrors über den Umweg der Historisierung der Herrschaftszeit Groznyjs 162 plausibilisieren lässt.163 Schließlich ist die Wahl des Synodikons auch Hinweis auf literarische Tendenzen der Wiederkehr des Religiösen im postkommunistischen Russland. Michail Ėpštejn, der diese untersucht hat, beobachtet seit den 1970er Jahren eine minimale Religiosität in der russischen Literatur, die eine Sehnsucht nach Spiritualität artikuliert, ohne diese in den unterdrückten Formen traditioneller Religiosität ausdrücken zu können. Er führt aus: „The new religiosity, which these fictional characters come to embody, is alienated from all objectified historical ­traditions.“  164 Das Nicht-sprechen-Können im Rahmen religiös-historischer Traditionen artikuliert Šarov in Interviews selbst, wenn er z. B. von sich sagt: „Я верую в Бога. Хотя ни к какой конфессии не принадлежу.“ 165 In Tradition der poor believer der 1970er Jahre wie Venedikt Erofeev und Juz Aleškovkij schlüpft Schrecklichen gewidmet war. Ich erinnere mich, dass mich damals die bloße Idee, die bloße Möglichkeit eines solchen ‚Synodikons‘ erschütterte. 30 Jahre lang hatte dieser Mensch furchtlos seine Nächsten getötet, wissend, dass nicht einer von ihnen in irgendeiner Form schuldig war, und dann begann er auf dem Totenbett sich ihrer zu erinnern und zum Gedenken an die Seele eines jeden Geld auf die Seite zu legen.“ 162 Populärkulturell am bedeutsamsten ist die Parallelität zwischen Groznyj und Stalin in Leonid Gajdajs Komödie Ivan Vasil’evič menjaet professiju (Ivan Vasil’evič wechselt den Beruf, 1973). 163 Deutlicher als in Do i vo vremja wird in Šarovs erstem Roman Sled v sled (Schritt für Schritt, 1988) das Objekt der Erinnerung adressiert, wenn der Protagonist Sergej nach seiner Entlassung aus dem Lager in einer Kirche eine Messe für seine Bekannten in Auftrag gibt, die dort verstorben sind, vgl. Šarov 1996, S. 120. 164 Epstein 2016, S. 469. 165 Šarov 2004.

Vom Sprachverlust zum Geschichtsgewinn303

der Erzähler in Do i vo vremja in das Gewand des Irren, um in religiösen Dingen wieder sprechfähig zu werden – in den Worten Ėpštejns: „to create a possibility for a new totality“.166 Mark Lipoveckij hat vorgeschlagen, im russischen Postmodernismus zwischen einem konzeptualistischen und einem neobarocken Strang zu unterscheiden. Während der Konzeptualismus pathetisch die Moderne und ihre Utopien verneine, unterhalte der Neobarock als „palliative Variante“ ein ironisch-­nostalgisches Verhältnis zur Möglichkeit metanarrativer Sinngebung.167 Lipoveckij verortet sowohl Vladimir Šarov als auch Viktor Pelevin, in dessen Čapaev i Pustota das Irrenhaus ebenfalls prominent vorkommt, auf der neobarocken Achse. Ein Ausweg für Pelevins an Schizophrenie leidenden Helden ist die Spiritualität des Buddhismus. Die geistige und semantische Leere Moskaus im Roman kann nicht innerweltlich oder gar historizistisch kompensiert werden, sondern nur durch die Aussicht auf eine spirituelle Kompensation. Diese findet der ebenfalls an Erinnerungsverlust leidende Held in der bereits thematisierten Vorstellung der Inneren Mongolei,168 die im metaphysischen Hauptstück des Romans, der Begegnung Pustotas mit Baron Jüngern, konkretisiert wird. Die imperiale Peripherie der Inneren Mongolei wird zum geistigen Refugium, in dem das postsowjetische Subjekt seinen Seelenfrieden finden kann. Hier zeigt sich der Doppelcharakter von Pelevins Werk. Einerseits dekonstruiert und parodiert er wie Šarov die sowjetische Vergangenheit und ihre Mythen, was im Roman vor allem in Form der Anspielungen an die neoeurasischen Geographien der 1990er Jahre deutlich wird. Andererseits bleibt es nicht bei dieser Parodie, da ihr ein positives Element gegenübergestellt wird, das das Potential neuer Sinnhorizonte in sich trägt. Dieses Spannungsverhältnis ist dabei nicht nur für Pelevin, sondern auch für Šarovs Psychotopologie des Irrenhauses kennzeichnend.

Die Kreativität des Irren Die kreative Dimension des Romans Šarovs ist in ersten Analysen unterbelichtet worden, die ideologiekritische Lesarten privilegieren. So betont Harry Walsh in seiner Interpretation den dekonstruktiven Impetus des Werks, das er als „a fictional critique of official Soviet historiography and an attempt to reduce a 166 Epstein 2016, S. 473. 167 Vgl. Lipoveckij 2008, S. 269. 168 Vgl. Unterkapitel 2.2.

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Die Topographie der Metahistoriographie

complex legend to dimensions permitting analysis of its mythologemes“ 169 liest. Oliver Ready hingegen erweitert das Feld der Kritik im Roman, wenn er Do i vo vremja als Roman interpretiert, der „like no other work [sets out] the matrix that produces idiocy and retardation in the worlds imagined by recent Russian writers“.170 Das Irrenhaus produziert dabei allerdings, so meine These, Idiotie nicht im eigentlichen Sinne, sondern als vermeintliches Nebenprodukt der Produktion von Kreativität. Zuvörderst ist das Irrenhaus im Roman der Ort, an dem die historische Aphasie und die drohende Unfähigkeit, sich historiographisch artikulieren zu können, überwunden werden. Sobald er sich im Irrenhaus einfindet, nimmt Aleša die historiographische Arbeit auf. Vor seinem improvisierten Büro, an welchem er die Erinnerungen für sein Memorialbuch entgegennimmt, bilden sich lange Schlangen und der Chronist legt Nachtschichten ein, um sich die Geschichten anzuhören. Das Irrenhaus als Ort literarischer Produktivität, an dem den Insassen das Schreiben leichtfällt, ist auch in weiteren Werken des Interregnums ein Topos. So heißt es in Pelevins Čapaev i Pustota: А от этого до выздоровления уже совсем близко. […] Вообще, гоните от себя само это понятие – «сумасшедший дом». Воспринимайте это просто как интересное приключение. Тем более что вы литератор. Я тут порой такое слышу, что прямо тянет записать.171

Auch Jurij Davydovs Povest’ Večera v Kolmove (Abende in Kolmova, 1989) spielt in einem Irrenhaus, in dem die Geschichtsschreibung gedeiht.172 Bei Il’ja Kabakov fungiert das Irrenhaus als „Institut für kreative Forschungen“ – so der Titel einer Installation aus dem Jahre 1991 –, in dem die Aufteilung zwischen Kranken und Gesunden zugunsten einer Unterscheidung zwischen Autoren und Mitarbeitern ersetzt wird.173 Solche Wertschätzungen des Irrenhauses als künstlerischem Produktionsort korrespondieren mit der Verschränkung von Genialität und Wahnsinn, einem stehenden Topos seit der Romantik, die auch bei Šarov zu beobachten ist. Bei ihm heißt es: 169 Walsh 2002, S. 573. 170 Ready 2017, S. 352. 171 Pelevin 1996, S. 53 f. „Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Genesung. […] Und überhaupt, vergessen Sie das Wort ‚Irrenhaus‘. Nehmen Sie’s als nettes Abenteuer. Das dürfte Ihnen als Literat doch nicht schwerfallen. Wirklich, was einem hier manchmal zu Ohren kommt, möchte man direkt aufschreiben“ (Pelewin 1999, S. 58). 172 Vgl. hierzu Brown 1993, S. 172. 173 Vgl. Seeberger 2016, S. 172.

Vom Sprachverlust zum Geschichtsgewinn305 нельзя смотреть на душевные болезни, любые другие виды патологии как на нечто целиком вредоносное; это взгляд врачей, которые подходят к гениям, словно к обыкновенным людям или, вернее, словно к обыкновенным больным. Мы должны рассматривать патологию диалектически, видеть положительные ее стороны. Всегда помнить, что гений есть результат скрещивания двух биологических линий; в одной накоплено огромное количество гипостатической энергии, называемой в просторечии одаренностью, это еще не сама гениальность, а ее потенция; для того, чтобы гений раскрылся и энергия высвободилась, необходим механизм ее выявления, как бы спусковой крючок. Им и становится патология, которую гений наследует от другого своего предка.174

Wozu wird dieses kreative Potential eingesetzt? Das Irrenhaus ist ein prädestinierter Ort für das Experimentieren mit alternativen historischen Logiken. Hier kann zusammengefügt werden, was eigentlich nicht zusammengehört. Als bestimmenden Trend jener historiographischen Bricolage hat Aleksandr Ėtkind einen magical historicism bezeichnet und folgendermaßen definiert: Projecting magic into history, these novels subvert scholarly discourses of historiography with their habitual emphasis on rational choices and social forces. These novels tend to follow some of the stylistic conventions of historical writing […]. They boost their readers’ understanding of the relational, constructed nature of the narrated reality with genealogical rather than narratological experiments.175

Vladimir Šarov ist einer der Hauptvertreter dieser Stilrichtung. Er verknüpft christliche Traditionen, häretisch-esoterische Spekulation und historische Wissen­schaft und amalgamiert sie zu neuen, phantastischen Genealogien. Diese zeichnen sich durch die Überwindung zeitlicher, räumlicher, sozialer und moralischer Beschränkungen aus. Diese Bricolage scheint in einem postmodernen Kontext der Auflösung von Gattungsgrenzen und der Kombination verschiedener Stilebenen zu stehen. Diese postmoderne Kontextualisierung aber lehnt Šarov für sein Werk ab: „[…] 174 Šarov 1995, S. 261 f. „Man darf auf Geisteskrankheiten, wie auch auf jede andere Form der Pathologie, nicht als etwas absolut Schädliches blicken. Dies ist der Blick der Ärzte, die Genies wie gewöhnliche Menschen betrachten, oder, präziser noch, als gewöhnliche Kranke. Wir müssen die Krankheit dialektisch betrachten, auch ihre positive Seite sehen. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass das Genie eine Kreuzung zweier biologischer Linien ist; in der einen ist eine riesige Menge hypostatischer Energie versammelt, was man in der Alltagssprache als Begabung bezeichnet, das ist noch nicht die Genialität, sondern ihre Potentialität; dafür, dass sich das Genie entwickelt und seine Energie freisetzt, ist ein Mechanismus seiner Freisetzung erforderlich, ein Auslösemechanismus. Zu diesem wird die Pathologie, die das Genie von seinem anderen Vorfahren erbt.“ 175 Etkind 2009, S. 655.

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Die Topographie der Metahistoriographie

­постмодернизм и базируется на непонятной для меня мысли, что ничего нового сделать нельзя. Не могу с ней согласиться“.176 Das Beharren auf dem projektiven Potential des irren Denkens setzt Šarovs Werk in eine produktive Spannung zu Ėtkinds Charakterisierung des magical historicism. Komplementär zu Ėtkinds Analyse einer in die Vergangenheit gerichteten Trauerarbeit steht bei Šarov ein in die Zukunft gerichtetes Experimentieren mit alternativen Genealogien, deren Zusammenfügen nicht nur einen neuen Blick auf die Vergangenheit provoziert, sondern auch Sinnangebote für die Zukunft bereithalten kann. Das utopische Potential, das in den Gedanken der „wahnsinnigen“ Personen steckt, soll nicht aufgegeben werden. Deutlich wird dies nicht nur in Do i vo vremja, sondern auch in seinem Opus magnum Vozvraščenie v Egipet (Rückkehr nach Ägypten, 2013), in dem es um die Rekonstruktion und Verwirklichung der von Nikolaj Gogol’ im zweiten Teil der Toten Seelen geschilderten Utopie geht. Diesen Teil hatte Gogol’ bekanntlich im Wahnsinn verbrannt, worin die Nachkommen Gogol’s, um die es im Roman geht, die Ursache für das Leiden Russlands sehen. Es gilt also, den unvollendeten Klassiker zu Ende zu schreiben und der negativen Seite der Schilderungen der russischen Realität eine positive, hoffungsvolle Vollendung hinzuzufügen. Dies misslingt zwar immer wieder, aber die Idee der Errichtung des himmlischen Jerusalems auf Erden wirkt als regulative Vorstellung durch die Geschichte hindurch und stellt eine sinnstiftende Ressource zur Verfügung, mit der die Schrecken der Verbannung und Repression im 20. Jahrhundert, die der Hauptheld erleidet, zu ertragen sind. Selbstverständlich steckt in den Schilderungen Šarovs in Do i vo vremja und Vozvraščenie v Egipet viel groteske Ironie, die eine affirmative Lesart der aus der Historie schöpfenden Utopien der Wahnsinnigen problematisch erscheinen lassen. Um eine solche soll es an dieser Stelle auch nicht gehen, sondern um ein Zur-Kenntnis-Nehmen der Ambivalenzen des historiographischen Diskurses im Irrenhaus, der einerseits kreativ-befreiend wirken kann, andererseits aber auch ins Grotesk-Gefährliche abgleiten kann. Während Šarovs Kreativität des Irren an das Medium des Textes gebunden bleibt, eröffnet sich in Jurij Bujdas Erzählung Aprel’skoe zaveščanie (Das April-Vermächtnis) eine weitere Möglichkeit für die kreativen Möglichkeiten des Irren im Umgang mit Geschichte. Im Zentrum dieser Erzählung steht Ivan Volostnov, der an seinem Lebensabend einen Erben für sein wertvollstes Besitzstück, eine Uhr, 176 Šarov 2002. Den Hinweis auf dieses Zitat entnehme ich Oliver Ready 2017, S. 353. „Der Postmodernismus basiert auf dem mir unverständlichen Gedanken, dass nichts Neues geschaffen werden kann. Ich kann dem nicht zustimmen.“

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sucht. Eigentlich würde er sie gern seinem geistig zurückgebliebenen Sohn Vita vermachen, allerdings ist dieser nicht in der Lage, die Uhr korrekt aufzuziehen, weshalb Ivan mit dieser Idee hadert. Neben der Uhr hängt in Ivans Haus noch etwas anderes an der Wand, ein Stalin-Porträt, über dessen Entfernung er einst mit seinem anderen Sohn Andrej einen Streit geführt hatte, in Folge dessen es zu einer Verstimmung zwischen ihnen gekommen war. Die Situation scheint ausweglos, doch plötzlich kommt Bewegung in die Frage. Ivan, der als Leiter einer Müllkippe arbeitet, erhält eine Ladung Bücher zur Entsorgung. Was wie eine Routineaufgabe aussieht, entpuppt sich als delikate Herausforderung für Ivan. Denn die Bücher sind nichts weniger als die Gesammelten Werke Iosif Stalins. Keiner weiß, wie mit dieser Situation umzugehen ist, außer Vita, der zufällig vorbeikommt. Внезапно со своего места сорвался Вита Маленькая Головка. Не обращая внимания на хмурого отца, он растолкал людей, прыгнул в вагон и принялся с остервенением выбрасывать книги на асфальт. Что-то случилось. Никто не понял – что, но толпа бросилась к вагонам.177

Vitas Tat ist die Initialzündung für die kollektive Entsorgung des stalinistischen Buchballasts, der in den Regalen und Seelen lastet. Auf eine besondere Weise wirkt Ivan befreit: Иван Антонович издали наблюдал за ночным буйством. Ему казалось, что тело его очистилось от жизни, не болело и уже никогда не будет болеть живой болью, а если будет жизнь и будет боль, то – другая жизнь и другая боль другого человека …178

Erst nach dieser seelischen Säuberung gelingt es Ivan, seinen Sohn zu akzeptieren. Als dieser kurz darauf stirbt, wacht Vita an seinem Totenbett. Vita gelingt durch sein Verhalten die Befreiung des Vaters von der Last des Stalinismus, der nicht nur seinem Seelenfrieden, sondern auch der Versöhnung mit seiner Familie im Wege stand. Vita bringt als Einziger die Kraft auf, diese Geschichte aktiv zu zerstören. In diesem Fall geht es nicht um die Suche nach einem neuen Sprechen, das nur im Irrenhaus möglich ist, sondern um die performative Zerstörung eines alten, dogmatischen Sprechens, die nur von einem Irren geleistet werden kann. 177 Bujda 1998, S. 212. „Vita Kleinkopf sprang plötzlich auf. Ohne seinem mürrisch dreinblickenden Vater Aufmerksamkeit zu zollen stieß er die Leute weg, sprang auf den Waggon und begann hingebungsvoll die Bücher auf den Asphalt zu werfen. Irgendetwas war passiert. Niemand verstand, was genau, aber die Menge begann sich nun zu den Waggons zu bewegen.“ 178 Bujda 1998, S. 213. „Ivan beobachtete die nächtliche Raserei von der Ferne. Ihm schien es, als ob sein Körper vom Leben gereinigt worden wäre, als ob er nicht länger leiden würde und nie wieder Schmerz fühlen würde, und wenn es weiter Leben und Schmerz gäbe, es ein anderes Leben und ein anderer Schmerz eines anderen Menschen wäre …“

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Die Topographie der Metahistoriographie

Das männliche Sprechen und das weibliche Schweigen Die Analyse der Werke Šarovs, Bujdas und Pelevins hat gezeigt, dass das Irrenhaus als literarisch und historiographisch produktiver Ort für das Nachdenken über Geschichte fungieren kann. Das Leiden am sowjetischen Syndrom, das während der Perestrojka zur Gesellschaftsdiagnose wird, lässt sich im Irrenhaus lindern, wenn nicht sogar therapieren. Die verdrängten Dimensionen subjektiver und kollektiver Geschichte können dort adressiert und aufgearbeitet werden. Die Diagnose des Wahnsinns wird dabei von einer repressiven Fremdzuschreibung in eine affirmative Selbstzuschreibung umgedeutet. Wie weit reicht dieser optimistische Blick auf das Irrenhaus? Elena Čižovas 2010 veröffentlichter Roman Vremja ženščin (Die stille Macht der Frauen) widmet sich ebenfalls der Frage des Sprachverlusts in der späten Sowjetunion. Wie Šarovs Roman spielt er in den 1960er Jahren und adressiert die Frage der poststalinistischen Aphasie. Hauptprotagonistin ist die kleine Susanna, die stumm auf die Welt kommt und von drei alten Frauen aufgezogen wird, an die ihre Mutter Antonina, die viel arbeiten muss und gesundheitlich beeinträchtigt ist, die Erziehung delegiert. Über dem Aufwachsen der kleinen Susanna schwebt dabei die Einlieferung in das Irrenhaus wie ein Damoklesschwert. Das Irrenhaus fungiert hier als Teil des posttotalitären Dispositivs und gilt als das ultimative Übel, das die Protagonistinnen mit List und Verstand erfolgreich vermeiden können. Woraus resultiert der veränderte Blick auf das Irrenhaus, dem in Vremja ženščin keinerlei Potential für Kreativität und Autonomie zugesprochen wird? Man könnte diese Umwertung des Blicks auf das Irrenhaus als bloße Akzentverschiebung weg von der kreativen hin zur repressiven Dimension der Institution interpretieren. Dies scheint allerdings nicht befriedigend. Stattdessen gilt es in diesem Fall, die Genderperspektive zu berücksichtigen. Wie insbesondere Oliver Ready betont hat, ist das oben beschriebene affirmative Verständnis des Irrenhauses in der spätsowjetischen Zeit und des Interregnums rückgebunden an eine männliche Perspektive, die in Čižovas Roman problematisiert wird. In Frage gestellt wird dabei weniger das überlegene diagnostische Potential der irren Protagonisten jenseits anerkannter Normalität, das sich im Falle von Vremja ženščin vor allem in den Zeichnungen der kindlichen Protagonistin zeigt, die später eine international anerkannte Künstlerin wird. Zur Disposition steht vielmehr ein Blick auf das Irrenhaus als Institution, in der persönliche Heilung möglich ist. Die Kraftquellen von Souveränität, Spiritualität und Kreativität sind bei Čižova folglich anders gelagert. Gegen die zum Teil solipsistische Traditionslinie russischer Irrenhausdiskurse akzentuiert sie Solidarität und Gemeinschaft als weiblich

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konnotierte ethische Leitmotive und betont somit eine alternative Traditionslinie der sowjetischen Intelligenzija, für die die alten Frauen im Roman stehen. Sie speist sich aus einem traditionell verstandenen Glauben und aus einem kosmopolitisch konnotierten intellektuellen Habitus, der sich von der explizit russisch und männlich dominierten Jurodivyj-Tradition unterscheidet. Dadurch erweist sich der in diesem Unterkapitel geschilderte Blick als zeitgebundener, als Effekt einer besonderen Konstellation, die sich ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nicht zuletzt aufgrund der Beiträge weiblicher Autorinnen wie Svetlana Vasilenko, Ljudmila Ulickaja und Ljudmila Petruševskaja zu ändern beginnt.

6.  Verortungen II 6.1  Vom Market-Making zur Macht des Marktes – Zur Rezeption historischen Erzählens im Interregnum Dass ein neuer Umgang mit Geschichte zu der Triebkraft der Perestrojka-Reformdynamik werden würde, war kurz nach dem Machtantritt Michail Gorbačëvs nicht absehbar. Der neue Generalsekretär und sein Politbüro bezogen zuerst „eine zurückhaltende, ja konservative Haltung zur sowjetischen Geschichte“.1 1986 formulierte Gorbačëv gar: Wenn wir anfangen würden, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, würden wir unsere ganze Energie abtöten. Wir würden das Volk vor den Kopf stoßen. Wir müssen aber vorwärtsgehen. Wir werden uns schon noch mit der Vergangenheit beschäftigen.2

Der hier noch auf die Zukunft verschobene Zeitpunkt einer Beschäftigung mit der Vergangenheit folgte schneller als erwartet. Im Februar 1987 veröffentlichte die Pravda eine Rede des Sekretärs, in der er forderte: „Историю надо видеть такой, как она есть.“ 3 Hier fällt erstmals die später berühmt gewordene Forderung, die „weißen Flecken der Geschichte zu tilgen“ („zapolnit’ belye pjatna istorii“).4 Mit diesem geschichtspolitischen Paradigmenwechsel betreibt Gorbačëv ein historiographisches Market-Making von oben. Plötzlich wird die Publikation bislang verfemter vorrevolutionärer und emigrierter Schriftsteller möglich, lange zurückgehaltene antistalinistische Romane der 1950er und 1960er Jahre können nun endlich veröffentlicht werden, ausländische Literatur wird übersetzt und für einen breiten Rezipientenkreis erreichbar. Neben dieser inhaltlichen Liberalisierung schafft die Expansion der Auflagezahlen der dicken Zeitschriften die Voraussetzung dafür, dass das als revolutionär empfundene Material auch beim Leser ankommt.5 Dessen Nachfrage nach neuen historischen Materialien ist in 1 2 3 4

Davies 1991, S. 159. Gorbačev zit. nach Davies 1991, S. 160. Pravda vom 14. 2. 1987. „Man muss die Geschichte so sehen, wie sie ist.“ Die inhaltlichen und institutionellen Liberalisierungen, zu denen diese Aufforderung führte, sind gut bekannt (vgl. Menzel 2001, S. 31 – 40; Davies 1991, S. 159 – 200; Sherlock 2007; Gill 2013) und müssen hier nicht wiederholt werden. 5 Die Auflagen der wichtigsten Literaturzeitschriften schossen rapide in die Höhe. Bei Shneidman heißt es dazu: „In 1985, Novyi mir printed 430,000 copies; in 1989,1.5 million copies; and, in 1990, 2.6 million copies. Literaturnaia gazeta almost doubled its circulation in one year – from 3.5 million in 1988 to 6.2 million in 1989. Most other journals

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Verortungen II

jenen Jahren groß. Alexei Yurchak schildert in seiner Studie zur letzten sowje­ tischen Generation die Dynamik dieser Jahre: Often it was impossible to find many of the more popular publications at newsstands because of the speed at which they sold out. In letters to the weekly magazine Ogonek, readers complained of having to stand in line at a local kiosk at 5 a. m., two hours before it opened, to have any chance of buying the magazine. Like everyone else, Tonya tried to read as much as possible: ‘My friend Katia and I started subscribing to monthly literary journals […] Everyone tried to subscribe to different journals so they could exchange them with friends and have access to more materials. Everyone around us was doing this. I spent the whole year incessantly reading these publications.’“ 6

Wie aus diesem Zitat ersichtlich wird, verlagert sich die Diskussion räumlich vom geschützten Küchentisch in den öffentlichen Raum, wo in Warteschlangen Erfahrungen und Erwartungen ausgetauscht werden. Es waren dabei nicht nur die Inhalte, sondern auch die neuen Formen des historischen Diskurses, so Yurchak weiter, „[which] produced new language, topics, comparisons, metaphors, and ideas, ultimately leading to a profound change of discourse and consciousness“.7 Koordiniert wurde dieser Prozess zu Beginn nicht von ökonomischen Marktkräften, sondern vom neuen Personal in den etablierten Institutionen des sowje­ tischen Literaturbetriebs, die diese sukzessive schleiften bzw. von innen heraus reformierten. Ans Ruder gelangt war – mit mehr als zwanzigjähriger Verspätung – die Generation der Šestidesjatniki, die von der Hoffnung erfüllt war, „that the utopian goals of the Thaw period and even those of the 1920s, could be achieved: […] renewal of socialism and the unification […] with the masses“.8 Die Vertreter dieser Generation dominierten nicht nur institutionell, sondern auch inhaltlich das Geschehen. Ein Großteil der historischen Enthüllungsliteratur bestand aus Werken, die während des Tauwetters und in den Jahren danach geschrieben worden waren, aber nicht veröffentlicht werden konnten. Dies betraf Autoren wie Aleksandr Bek, Vasilij Grossman oder Anatolij Rybakov, aber auch die Werke ins Exil gegangener Schriftsteller wie Aleksandr Solženicyn, Vladimir Nabokov oder Vasilij Aksenov. Neue Stimmen hatten es angesichts der Dominanz dieser literarischen Größen naturgemäß schwer, Gehör zu finden. Allianzen zwischen Autoren, Verlegern und Kritikern trugen jedoch dazu bei, dass auch bis dato kaum bekannte Autoren den Weg in die öffentliche Debatte fanden. increased circulation between 1986 and 1990 by at least 25 percent.“ (Shneidman 1995, S. 26). 6 Yurchak 2005, S. 3. 7 Yurchak 2005, S. 3. 8 Menzel 2005, S. 41.

Vom Market-Making zur Macht des Marktes313

Anhand von zwei Debatten aus dem Jahr 1987, in dem die historiographische Dynamik ihren Ausgang nimmt, soll nun gezeigt werden, welche Erwartungen und Revisionen auf dem Literaturmarkt mit der von oben initiierten Geschichtsrevolution einhergingen.

Die Dominanz historiographischer Faktographie Gorbačëvs Aufforderung, dass man die Geschichte so sehen müsse, wie sie sei, hat einen deutlich vernehmbaren faktographischen Unterton. Dieser ist kennzeichnend für die gesamte Periode der Perestrojka und wird von den Rezipienten auch auf das Lesen historischer Literatur bezogen. Man erhofft sich aus der Lektüre geschichtswissenschaftlicher Werke Erkenntnisse und Enthüllungen und projiziert dabei eine veristische Erwartungshaltung auf die Texte, die die Autoren bereitwillig paratextuell unterstützen. Ein exemplarisches Beispiel, an dem sich dieser Trend zeigen lässt, ist Anatolij Rybakovs Deti Arbata (Die Kinder vom Arbat, 1987). Die autobiographisch geprägte Geschichte, die von April bis Juni 1987 in der Zeitschrift Družba narodov veröffentlicht wurde und die stalinistische Terrorherrschaft der 1930er Jahre schildert, bildete als eines der ersten Werke den Diktator selbst literarisch ab. Sie wurde damit „das erfolgreichste Buch der Perestrojka-Literatur“.9 Wie Rezensionen zeigen, wurde Rybakovs Romanbeschreibung als Wiedergabe histo­ rischer Fakten wahrgenommen: „«Дети Арбата» – произведение, которое отражает правду, отражает талантливо, по-писательски, убеждает, заставляет задуматься, осмыслить кое-какие факты и явления по-новому.“ 10 Solche Reaktionen stehen stellvertretend für die kritiklose, teilweise auch sensationslüsterne Rezeption historischer Enthüllungsromane in diesen Jahren. Eine faktographische Lesart des Romans wurde von Rybakov selbst propagiert, der in einem Interview behauptete, „daß nicht eine einzige Handlung in dem Roman erfunden [ist], sie beruhen alle auf Tatsachen“.11 Solche Einlassungen waren irreführend. Rybakov hatte die Monologe Stalins und seiner Schergen frei erfunden, sie basierten also mitnichten auf Tatsachen – und das konnten sie auch gar nicht, da zum Zeitpunkt der Niederschrift an einen Zugang zu diesen Quellen in den 9 Lauer 2000, S. 855; noch 2003 wurde Rybakovs Buch in einer Umfrage als einer der fünf Allzeitfavoriten der russischen Leser genannt (vgl. Städtke 2011, S. 400). 10 Zit. nach Roesen 2013, S. 221. „Die Kinder vom Arbat sind ein Werk, das die Wahrheit widerspiegelt, auf talentierte, schriftstellerische Weise argumentiert, zum Nachdenken zwingt, Fakten und Erscheinungen neu zu überdenken.“ 11 Rybakov zit. nach Davies 1991, S. 225.

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Verortungen II

Archiven nicht zu denken war. Auch die Inhalte des Romans stellten eine grobe Verzerrung historischer Gegebenheiten dar: „Schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten, bei denen es um Politik ging, werden allein auf Stalins Mißtrauen und Empfindlichkeit zurückgeführt.“ 12 Historischer Prosa wird insbesondere in den ersten Jahren der Perestrojka eine Kompetenz zugeschrieben, die weit über den Bereich der Literatur hinausgreift. Mit der von der Staatsspitze beförderten Erwartungshaltung, man müsse zuerst den Blick auf die Geschichte ändern, um so die Kräfte für eine Reform der sowjetischen Gesellschaft zu sammeln, identifizierten sich viele Historiographen dieser Zeit. Dies galt für Autoren wie Solženicyn, der ein solches Programm schon viele Jahre zuvor vertreten hatte, aber auch für einen Schriftsteller wie Rybakov, der sich publizistisch intensiv in die Debatten einbrachte. Nicht zu unterschätzen ist hier allerdings auch die Rolle der Kritiker, die der historischen Prosa ebenso eine über das literarische Subsystem hinausreichende Funktion zuschrieben. So spricht – wie bereits an anderer Stelle zitiert – Natal’ja ­Ivanova von einer kompensatorischen Funktion, die die Literatur in Bezug auf den defizitären spätsowjetischen geschichtswissenschaftlichen Diskurs einnehmen müsse.13 Eine solche Funktionserweiterung hat ihre Tücken. Sie restituiert und verstärkt eine Erwartungshaltung, wonach eine geschichtliche Wahrheit ermittelt und beschrieben werden könne, die in der Folge dann didaktisch genutzt werden könne. Sie begrenzt, sobald sie eine hegemoniale Diskursstellung einnimmt, den Publikationsraum für nichtrealistische, alternative stilistische Ansätze, die diese Enthüllungserwartung nicht bedienen können.14 Und sie führt zwangsläufig zu einer Desillusionierung, sobald sich herausstellt, dass die vermeintlich beschriebene Wahrheit nicht immer die Wahrheit ist. Für metahistoriographische Erzählverfahren stellt die faktographische Hegemonie der Perestrojka-Zeit eine Hypothek dar. Im Gegensatz zu ­vorherigen 12 Davies 1991, S. 225. 13 Vgl. Unterkapitel 3.2. 14 Dies bemängelten Naum Lejderman und Mark Lipoveckij: „Характерно, что критические дискуссии завязывались не вокруг сложных и эстетически новаторских произведений […], а вокруг тех текстов, которые в достаточно традиционной манере обсуждали острые политические вопросы и которые предлагали популярную антитоталитарную модель советской истории. Образцовым в этом плане представляется роман Анатолия Рыбакова ‚Дети Арбата‘“ (zit. nach Roesen 2013, S. 224). „Es ist charakteristisch, dass die literaturkritischen Diskurse sich nicht um die schwierigen und ästhetisch neuartigen Werke drehten, sondern um solche Texte, die in eher traditioneller Manier hitzige politische Fragen diskutierten und die ein populäres anti-totalitaristisches Modell der sowjetischen Geschichte vertraten.“

Vom Market-Making zur Macht des Marktes315

faktographischen Hochzeiten wie der Periode Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre geht von der Faktographie kaum metahistoriographische Dynamik aus.15 Sie bleibt verhaftet in einer naiven Korrespondenztheorie historischer Wahrheit und begrenzt dadurch ihre literarischen Wirkmöglichkeiten. Dies gilt bis weit in die 1990er Jahre. So wird Georgij Vladimovs General i ego armija (Der General und seine Armee), ein Werk, das stilistisch und werkbiographisch gut mit dem Rybakovs vergleichbar ist, noch 1995 mit dem BukerPreis ausgezeichnet.

Faktographie und Phantasmagorie Schien die Rolle eines politisierten Historiographen vielen Schriftstellern der verspäteten Tauwetter-Generation wie auf den Leib geschnitten, so wehrten sich Vertreter der jungen Generation gegen diese Form der politischen Vereinnahmung. Zustimmend zitiert Michail Kuraev, einer ihrer profiliertesten Exponenten, in einem Gastbeitrag für einen englischsprachigen Sammelband zur Perestrojka Natal’ja Ivanova, die deren Bespartijnost’ (in etwa Parteilosigkeit, Ungebundenheit) als Schlüsselmerkmal hervorhebt.16 Kuraev selbst entzieht sich folgerichtig zu Beginn seines Beitrags der ihm von außen aufgezwungenen Entscheidung, sich selbst als literarischen Historiker oder Propheten zu definieren.17 1987 wird in der Septemberausgabe von Novyj mir Kuraevs als phantastisch untertitelte Povest’ Kapitan Dikštejn (Kapitän Dikstein) veröffentlicht, eines der interessantesten Beispiele für innovative Formen historischen Erzählens in der Perestrojka.18 Die Erzählung ist zweisträngig komponiert und erzählt einleitend die Geschichte Dikštejns, der ein unauffälliges Leben in einer sowjetischen Provinzstadt führt. Etwa zur Mitte der Erzählung wechselt der Schauplatz und blendet über zum Matrosenaufstand von Kronstadt im Jahr 1921. Es stellt sich heraus, dass der wahre Dikštejn damals erschossen worden war und sein Name in der Folge von einem Kollegen angenommen wurde, der durch Zufall von diesem Schicksal verschont blieb. Die Rezeption von Kuraevs Povest’ zeigt exemplarisch, wie in der Debatten­ dynamik der Perestrojka metahistoriographisch avancierte Werke ­wahrgenommen 15 Ich habe an anderer Stelle versucht, die faktographischen Dynamiken der Umbruchs­ perioden in Russland und der Sowjetunion ins Verhältnis zu setzen, vgl. Günther 2019c. 16 Vgl. Kuraev 1993, S. 17. 17 Vgl. Kuraev 1993, S. 13. 18 Vgl. für Deutungen dieser Povest’ u. a. Dowsett 1991, Obrist 2005, Chernetsky 2007, Noordenbos 2016, S. 31 – 33.

316

Verortungen II

werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass Kuraevs Erzählung von Kritik und Publikum positiv aufgenommen wurde. Il’ja Fonjakov schreibt in seiner Kurzrezension in der Literaturnaja gazeta von einem großen Leserinteresse, das Kuraevs Text hervorgerufen habe.19 Es darf angenommen werden, dass das Leserinteresse primär vom Gegenstand der Erzählung, der Schilderung des Kronstädter Matrosenaufstands herrührte, der bis zum Veröffentlichungszeitpunkt tabuisiert worden war. Folglich wurde die Erzählung von Rezensenten auch sofort mit Gorbačëvs Auftrag der historischen Aufarbeitung in Verbindung gebracht. So schreibt der Literaturkritiker Anatolij Karpov: Таких «черных дыр» в нашей истории немало, и нужно было начаться благотворным переменам в жизни общества, чтобы возникла возможность извлечения на небытия многого и многих. Радостно оттого, что восстанавливается правда, которая ведь бывает и очень горькой.20

Auch Natal’ja Ivanova, die Kuraevs ästhetische Strategien stärker zur Kenntnis nimmt, bleibt letztendlich in dieser Deutungsmatrix, wenn sie ausgehend von Kuraevs Erzählung auf Roj Medvedevs Interpretation des Aufstands zu sprechen kommt. Literatur wird hier zum Wegbereiter einer geschichtswissen­ schaftlichen Aufarbeitung, für die kaum ein Name so deutlich steht wie der Medvedevs. Ihre Sicht auf die Povest’ verbleibt somit schlussendlich im faktographischen Diskurs: Но прежде всего автор даёт возможность исторической действительности «высказаться самой». Именно поэтому он столь кропотливо внимателен к подробностям – деталям, цифрам, выкладкам. Автору важно понять трагедию и попытаться объяснить ее читателю, а не заменить одну схему другой.21

Die Wirklichkeit soll für sich selbst sprechen, der Autor wird zum Erklärer einer historischen Begebenheit, die er mit den Mitteln literarischer Verifikation („detali“, „cifri“, „vykladki“) herauszuarbeiten sucht. 19 Fonjakov 1988. 20 Karpov 1987. „Solche schwarzen Löcher gibt es in unserer Geschichte nicht wenige und man muss mit heilsamen Veränderungen im Leben der Gesellschaft beginnen, damit die Möglichkeit des Herausholens vieler und von vielem aus dem Zustand bisheriger Nichtexistenz entstehen kann. Man kann deshalb froh sein, dass die Wahrheit wiederhergestellt wird, auch wenn das manchmal ziemlich bitter sein kann.“ 21 Ivanova 1989, S. 244. „Aber vor allem liefert der Autor die Möglichkeit dafür, dass die geschichtliche Wirklichkeit sich als solche äußern kann. Aus diesem Grund ist er auch so sorgsam und aufmerksam Einzelheiten gegenüber – Details, Zahlen und Formeln. Dem Autor ist es wichtig, die Tragödie zu verstehen und er versucht sie dem Leser zu erklären und nicht ein Schema durch ein anderes zu ersetzen.“

Vom Market-Making zur Macht des Marktes317

Diesen eher faktographischen Lesarten stehen Deutungsangebote gegenüber, die den phantastischen Charakter der Povest’ herausstreichen. Wichtigster Vertreter solcher Deutungen ist Andrej Sinjavskij, der sich mehrfach lobend über Kuraev äußert. Другая заметная тенденция в развитии современной прозы – это стремление приоткрыть таинственную фантастичность самой жизни. Ведь беда социалистического реализма сталинской поры, в частности, состояла в том, что Сталин прикрепил писателей к действительности, как некогда крепостных крестьян прикрепляли к помещичьей земле. Одной из форм раскрепощения становится своего рода фантастический реализм как способ более углубленного постижения реальности. Примером такого рода может служить замечательная повесть Михаила Кураева «Капитан Дикштейн» – с подзаголовком «Фантастическое повествование».22

Der von Ivanova noch gesondert betonte Wirklichkeitsgehalt wird von ­Sinjavskij in genau entgegengesetzter Weise interpretiert. Er erklärt Kuraev zum Exponenten eines phantastischen Realismus – eine Form des Realismus, die er, wie in Unterkapitel 1.1 bereits diskutiert, viele Jahre zuvor selbst als ästhetischen Ausweg aus den Aporien des Stalinismus propagiert und in späteren Werken historiographisch entwickelt hatte. In Abgrenzung zur faktographischen Interpretationslinie etabliert er damit eine phantasmagorische Lesart, die weiteren Raum für alternative Kontextualisierungen eröffnet.23 Sinjavskijs Rezension wird 1988 in seiner Emigrantenzeitschrift Sintaksis erstveröffentlicht 24 und ein Jahr später in der Sowjetunion publiziert. Hier zeigt sich, wie der literaturkritische Diskurs der Emigration, für den Sinjavskijs Zeitschrift maßgeblich steht, langsam seinen Weg zurück in die sowjetische Debatte findet und dort bislang kaum vernehmbare Deutungen artikuliert. Die Rezeptionsgeschichte von Kuraevs Erzählung demonstriert, wie hegemonial faktographische Deutungslinien während der Perestrojka sind, obgleich 22 Sinjavskij 1989, S. 43, Hervorhebungen im Original. „Eine andere bemerkenswerte Tendenz in der Entwicklung der zeitgenössischen Literatur ist das Bestreben, den insgeheim fantastischen Charakter des Lebens selbst darzustellen. Denn das Problem des sozialistischen Realismus der stalinistischen Zeit bestand im Besonderen ja darin, dass Stalin die Schriftsteller an die Wirklichkeit fesselte, in etwa so wie die Leibeigenen an die Scholle des Gutsherrn gefesselt waren. Als eine der Formen der Befreiung aus der Leibeigenschaft erscheint auf eine gewisse Art und Weise der fantastische Realismus, als ein Verfahren der tieferen Erschließung der Wirklichkeit. Als Beleg hierfür kann die hervorragende Povest’ Kapitan Dikštejn von Michail Kuraev dienen, die den Untertitel ‚fantastische Erzählung‘ trägt.“ 23 Vgl. hierfür u. a. Kurbatov 1997, der Kuraevs Erzählung mit dem Werk Nikolaj Gogol’s in Verbindung bringt. 24 Vgl. Sinjavskij 1988, S. 25 – 32.

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Verortungen II

der Text relativ explizit die Anwendbarkeit solcher Deutungsmuster ironisch in Frage stellt, wenn es z. B. heißt: Факт для избранного нами жанра вполне естественный, и, более того, если бы такого факта нигде в истории не оказалось, то его следовало бы выдумать именно в интересах жанра, для большей увлекательности и фантастичности.25

Trotz der Vereinnahmung durch eine politisierte, vom Tagesdiskurs dominierte Literaturkritik eröffnen sich allerdings – bei gegebener inhaltlicher Anschlussfähigkeit – Möglichkeiten für eine metahistoriographische Rezeption. Der Einsatz Sinjavskijs, der während der Perestrojka zu einer Autorität wird, trägt dazu bei, Kuraevs Erzählung literaturwissenschaftlich zu kontextualisieren.26 Er wird zur Voraussetzung für das Erkennen des kritischen epistemischen Potentials des Romans.

Die neue Macht des Marketings: Die 1990er Jahre Die Perestrojka restituiert eine faktographische Erwartungshaltung an die Literatur, die synthetisierend zwischen Politik, Wissenschaft und Ästhetik vermitteln soll. Diese Erwartungshaltung wird von der Politik und der Literaturkritik formuliert, allerdings auch von weiten Teilen der Leserschaft geteilt und erinnert an klassische literaturzentristische Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert.27 Die Kulturpolitik hoffte, in Form eines ästhetisch und politisch fortgesetzten Tauwetters einen alternativen sowjetischen Leser zu kreieren, der sich vom von Evgenij Dobrenko in seiner klassischen Studie herausgearbeiteten sowjetischen Lesertypus des Stalinismus 28 unterscheiden sollte. Ein solches Programm der Lesererziehung in den Kategorien der Aufrichtigkeit und Ganzheitlichkeit erwies sich jedoch spätestens mit der Liberalisierung der Medienmärkte Ende der 1980er Jahre als Illusion. Das Vertrauen in die faktographische Wirkkraft literarischer Historiographien ließ diesen Illusionsbruch dabei – und davon zeugen die in dieser Zeit zunehmenden Spannungen zwischen der literarischen und politischen Führung – als besonders schmerzhaft erscheinen. 25 Kuraev 1987, S. 12. „Der Fakt ist für das von uns gewählte Genre vollkommen natürlich und mehr noch, wenn sich ein solcher Fakt nirgendwo in der Geschichte zeigen solle, dann müssten wir ihn erfinden im Interesse der Gattung, um das Ergebnis unterhaltsamer und fantastischer zu machen.“ 26 Sinjavskij vergleicht Kuraev mit Vjačeslav P’ecuch und Tat’jana Tolstaja. 27 Zur Geschichte des literaturzentristischen Denkens in der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts vgl. Lotman/Uspenskij 1986b. 28 Vgl. Dobrenko 1997.

Vom Market-Making zur Macht des Marktes319

Die von Gorbačëvs Reformen initiierte Dynamik führt Anfang der 1990er Jahre zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion, mit dem ein Zerfall der etablierten Institutionen und Mechanismen des sowjetischen Literaturbetriebs einhergeht. In 1991, with the end of the communist system, state financial support came to an end, and culture was exposed almost overnight to the laws of the market. The process of commercialization brought a massive decline of the thick journals along with the high-speed privatization of publishing and a radical differentiation of society and the reading public.29

Die Entwicklung zu einer kommerzialisierten Massenkultur ist vielleicht der wichtigste Faktor bei der Genese der postsowjetischen Literaturlandschaft. Dies wird auch von Granden der sowjetischen Literatursoziologie wie Jurij Lotman so empfunden, der 1991 einen Aufsatz zur Massenliteratur schreibt und ihn mit folgenden Worten einleitet: „Изучение «массовой культуры» становится одной из наиболее острых проблем современной социологии.“ 30 Diesem Problem hat sich auch der historische Roman zu stellen, der in den 1990er Jahren von einem Medium der Aufklärung zu einem Medium der Unterhaltung wird: „If in the years of perestroika there was a tremendous appetite for memoirs, archival publications, diaries, and similar historical source early 1990s saw a switch towards the reading of low-brow fiction“.31 Dieser Gegensatz ist vor allem im Kontrast zur Perestrojka-Zeit auffallend, weniger im Vergleich zu den 1970er Jahren, in denen Schriftsteller wie Valentin Pikul’ oder Valentin Ivanov beim Publikum ebenfalls breiten Anklang gefunden hatten.32 Das Publikum war müde von der destabilisierenden Enthüllungs­ dynamik der Perestrojka und wollte nun unterhalten und erbaut werden. Der historische Roman nimmt dabei nach dem Kriminalroman und auf gleicher Stufe wie der Liebesroman den zweiten Platz auf der populären Beliebtheitsskala ein. По результатам опросов Всероссийкого центра изучения общественного мнения, в России сегодня [im Jahr 2000] каждый четвертый взрослый человек любит, по его признанию, читать исторические романы и книги по истории.33

29 Menzel 2005, S. 41. 30 Lotman 1997, S. 817. „Das Studium der Massenkultur wird zu einem der wichtigsten Probleme der zeitgenössischen Soziologie.“ 31 Tait 1997, S. 661. 32 Die hohe Popularität historischer Literatur in den 1990er Jahren wird nicht zuletzt auch durch Neuauflagen Pikul’s und anderer patriotischer Schriftsteller der spätsozialistischen Zeit getragen, vgl. hierzu Marsh 2007, S. 130 f. 33 Dubin 2001, S. 243; „Nach Umfrageergebnissen des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung liebt es in Russland gegenwärtig jeder vierte Befragte, historische

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Verortungen II

Boris Dubin hebt den patriotischen historischen Roman gesondert hervor, der sich an sowjetischen Vorbildern orientiert und durch die Renaissance patriotischer Leitbilder ab Mitte der 1990er Jahre merklich an Popularität gewinnt:34 „When a restoration period in Russian culture began in the mid-1990s, the mass historical novel was at its forefront.“ 35 Getragen wird diese – laut Dubins Aussage komplett unumstrittene (194) – Popularitätswelle von einer Marketingstrategie der neuen privaten Verlage. Diese legen großangelegte Romanserien auf, die leicht und günstig zu erwerben sind und den Ton der Zeit treffen (173). Dubin hebt vor allem zwei Aspekte hervor, die zur Popularität des historischen Romans beitragen: seine leichte Ideologisierbarkeit und seinen unterhaltenden Charakter (186). Dies wird auch von literaturwissenschaftlicher Seite betont. So heißt es bei Andrej Nemzer: исторический роман – жанр почтенный, инерционный и, естественно, дрейфующий в сторону «легкого чтения» и иллюстративности. Особенно – в посткоммунистической России, где с неизбежностью сказывается многолетнее существование идеологической системы умолчаний и фальсификаций.36

Im weiteren Kontext der Unterhaltung steht auch „das Aufkommen einer populären, parawissenschaftlich-fantastischen Geschichtsschreibung“,37 die Matthias Schwartz unter den Tendenzen Alternative Geschichte, Kryptogeschichte und Pseudogeschichte fasst. Die sensationslüsternen Werke Viktor Suvorovs oder Andrej Valentinovs finden in den frühen 1990er Jahren ein Millionenpublikum und erregen durch die Präventivkriegsthese (Suvorov) oder die „Assoziation geheimdienstlicher Tätigkeit mit außer- und überirdischen Wesen“ (226) ­( Valentinov) öffentliche Aufmerksamkeit. Die hohe Beliebtheit, die Dubin und andere dem historischen Roman der 1990er Jahre zuschreiben, wird etwas relativiert, wenn man sich die Bestsellerlisten Romane und Bücher über Geschichte zu lesen.“ 34 Rosalind Marsh relativiert diese vermeintliche Hinwendung des russischen Publikums zum patriotisch-trivialen historischen Lesestoff und unterscheidet zwei Richtungen der Rezeption historischen Erzählens: „Although many Russian readers choose historical novels purely for enjoyment or leisure reading, others claim that they read them for more serious reasons, in order to find out more information about their country’s history“ (Marsh 2007, S. 135). 35 Dubin 2005, S. 186. 36 Nemzer 2000. „Der historische Roman ist ein respektiertes und träges Genre, das natürlicherweise zur leichten Lektüre und Plakativität abdriftet. Besonders im postkommunistischen Russland, wo unausweichlich die jahrelange Existenz eines ideologischen Systems des Verschweigens und Verfälschens ihre Wirkung zeigt.“ 37 Schwartz 2009, S. 218.

Vom Market-Making zur Macht des Marktes321

dieser Jahre anschaut.38 Nathan Dwyer hat die wöchentlichen Top-10-Bestsellerlisten von Knižnoe obozrenie für die Jahre 1994 bis 1998 verglichen und ausgehend davon eine nach Gattungen differenzierte Tabelle erstellt.39 Abbildung 4: Jahr

Top-10-Bestseller in Russland nach Genres, 1994 – 199840

Krimi

Fantasy

Historischer Andere Roman

Allgemein

1994 267 (46,3 %) 187 (32,4 %)

20 (3,5 %)

9 (1,5 %)

13 (2,3 %)

81 (14 %)

1995

43 (4,6 %)

5 (0,5 %)

6 (0,7 %)

68 (7,3 %)

1996 612 (65,4 %) 247 (26,4 %) 42 (4,5 %)

5 (0,5 %)

7 (0,6 %)

23 (2,5 %)

1997

708 (68,9 %) 224 (21,8 %)

37 (3,6 %)

7 (0,7 %)

6 (0,6 %)

45 (4,4 %)

1998

675 (67,8 %)

40 (4 %)

10 (1 %)

1 (0,1 %)

48 (4,9 %)

465 (50 %)

Romanze

343 (36,9 %)

221 (22,2 %)

Die Ergebnisse von Dwyer unterstreichen das Primat der Unterhaltsamkeit für die russische Literaturrezeption der 1990er Jahre. Sie zeigen aber auch interessante Trends auf. So fehlt im Bereich historischen Erzählens eine dominierende Figur, wie sie beispielsweise Aleksandra Marinina für den Kriminalroman darstellt, „[who] accounted for some 41 of the 53 entries for crime fiction written by Russian women in 1996, then 202 of 242 entries in 1997, and then 43 of 292 entries in 1998“.41 Keiner der in diesem Zeitraum zehn populärsten Autoren repräsentiert historische Erzählformen.

38 Hier werden jedoch nur Buchkäufe erfasst. Schaut man sich die Entleihungen aus Bibliotheken an, so ergibt sich, dass in den 1990er Jahren jedes vierte in Petersburg entliehene Buch historischen Charakter hatte (vgl. Marsh 2007, S. 132). 39 Die enormen Unterschiede zwischen den Ergebnissen von Dubin und Dwyer lassen sich zu einem guten Teil durch die unterschiedliche Datengrundlage und die stets zweifelhafte Abgrenzung der Gattungen erklären. Wozu zählt beispielsweise der historische Kriminalroman, der spätestens mit Boris Akunin zu einem der Hauptverkaufsschlager auf dem russischen Buchmarkt wird? Dwyer stützt sich nur auf Verkaufszahlen der monatlich 10 erfolgreichsten Bücher aus 15 Moskauer Buchläden und misst reale Verkäufe, Dubin bezieht sich auf eine landesweite Umfrage, die Präferenzen erfasst. 40 Tabelle nach Dwyer 2007, S.305. 41 Dwyer 2007, S. 311.

322

Verortungen II

Metahistoriographie und Literaturpreise Als Gegenprogramm gegen diese – insbesondere von den weiterhin literaturzentristisch orientierten Liberalen – als bedrohlich empfundene vermeintliche Degeneration des öffentlichen Geschmacks wurden Anfang der 1990er Jahre Literaturpreise ins Leben gerufen, die versuchten, ökonomischen Erfolg und ästhetische Qualität miteinander zu verbinden. Der wichtigste Literaturpreis der 1990er Jahre ist der 1992 erstmals vergebene Buker-Preis, der sich diese Agenda zu eigen macht. „The Booker explicitly worked to integrate aesthetic criteria with the demands of the book market, promising to make ‚serious’ literature successful in the new postSoviet economy.“ 42 Neben dem Aspekt der Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Anforderungen auf dem Literaturmarkt verfolgte der Buker auch das Ziel, die literarischen Realitäten und Rezeptionsmuster aktiv mitzugestalten.43 Darüber hinaus verfolgte der Buker-Preis auch eine gewisse politische Agenda, die von Arch Tait beispielhaft an der Preisvergabe 1994 herausgearbeitet worden ist: „All the works shortlisted also have a clear moral and/or anti-Stalinist stance, which doubtless appealed to this particular jury, several of whose members did indeed have a 1960s bias.“ 44 Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich der Buker zu einer der Leitgrößen des literaturkritischen Diskurses, der nicht nur ein „leading tastemaker among the critical elites“ 45 wurde, sondern selbst – wie Gorski exemplarisch am Fall Ol’ga Slavnikovas zeigt – Schreibstrategien der Autoren prägte.46 Welche Stellung nehmen historische Romane im Allgemeinen und metahistoriographische Fiktion im Besonderen bei Preisverleihungen ein? Hierfür wurden die Preisträger der fünf wichtigsten Literaturpreise – Russkij Buker, Triumf 47, Anti-Buker 48, Premija Andreja Belogo 49, Premija imeni Apollona 42 Gorski 2018a, S. 98. 43 „Instead of positioning itself against the new economic realities, the Booker suggested that it would have the power to influence those realities“ (Gorski 2018a, S. 103). 44 Tait 1997, S. 666. 45 Gorski 2018a, S. 111. 46 Geichzeitig geriet die Preispolitik auch in Kritik, was sowohl die Zusammensetzungen der Jurys als auch die Auswahl der prämierten Werke betraf, vgl. hierfür Kukulin/­ Lipovetsky 2011, S. 292. 47 Der Triumf wurde in mehreren Kategorien vergeben, hier werden die Laureaten aus dem Bereich Literatur herangezogen. 48 Der Anti-Buker wurde 1995 ins Leben gerufen und in mehreren Kategorien vergeben. Hier werden die in der Kategorie Roman prämierten Werke und Autoren aufgeführt. 49 Der Andrej-Belyj-Literaturpreis wurde in mehreren Kategorien vergeben, hier werden die Prosapreisträger aufgeführt. Vor dem hier aufgeführten Zeitraum wurden Andrej Bitov

Vom Market-Making zur Macht des Marktes323

Grigor’eva 50 – dieses Zeitraums ermittelt, wobei einige Preise für konkrete Werke vergeben, andere direkt den Autoren zugesprochen wurden. Abbildung 5: Preisträger wichtiger russischer Literaturpreise, 1992 – 200051 Preis/ Russkij Buker Jahr

Triumf

Anti-Buker

1992

Mark Charitonov: Linii sud’by

Sergej  Averincev







1993

Vladimir Makanin: Michail Stol, pokrytyj Žvaneckij suknom i s grafinom v seredine







1994

Bulat Okudžava: Uprazdnennyj teatr

Viktor Astaf ’ev







1995

Georgij Vladimov: General i ego armija

Jurij Davydov

Aleksej Varlamov: Roždenie





1996

Andrej Sergeev: Al’bom dlja marok

Vladimir Vojnovič

Dmitrij Bakin: Strana proischoždenija





1997

Anatolij Azol’skij: Kletka

Svetlana  Aleksievič

Dmitrij Galkovskij: Beskonečnyj tupik

Julija Kokoško

Ivan Ždanov

1998

Aleksandr Morozov: Čužie pis’ma

Fazil Izkander

Andrej Volos: Churramabad

Vasilij Kondrat’ev

Jurij Davydov

1999

Michail Butov: Svoboda

Vasil’ Bykov

Michail Gasparov

Viktor Sosnora

2000

Michail Šiškin: Vzjatie Izmaila



Aleksandr Pjatigorskij

Vera Pavlova

– Boris Akunin: Koronacija, ili Poslednyj iz romanov

Andrej Belyj

Apollon Grigor’ev

(1988) und Jurij Mamleev (1991) prämiert. 1992 – 1996 fand keine Preisvergabe statt. 50 Der Apollon-Grigor’ev-Preis wurde zwischen 1997 und 2003 jährlich an Schriftsteller vergeben und prämierte Vertreter aus verschiedenen Genres. 51 Eigene Darstellung.

324

Verortungen II

Das Gesamtbild der Preisvergaben der 1990er Jahre ergibt eine starke Stellung historischer Romane und ihrer Autoren. Der Buker-Preis prämiert zwischen 1992 und 1996 ausschließlich historisch orientierte Werke, die vor allem von etablierten sowjetischen Autoren stammen. Der Triumf ist diesbezüglich noch etwas konservativer und lässt ebenfalls eine Hauptorientierung in Bezug auf historische Werke erkennen. Der Anti-Buker-Preis rückt weniger etablierte Stimmen in den Fokus und prämiert mit Galkovskij und Akunin auch Vertreter historischer Prosa. Der Belyj-Preis lässt als Einziger eine Orientierung in Bezug auf historische Prosa vermissen, beim Grigor’ev-Preis ist sie – mit Ausnahme der Würdigung Davydovs – ebenfalls schwächer ausgeprägt. Insbesondere beim Buker und beim Triumf, den beiden wichtigsten Literaturpreisen der 1990er Jahre, fällt die starke Stellung historischer Fiktion auf. Beim Buker erhalten mit Charitonovs, Makanins, Sergeevs und Šiškins Romanen vier Werke den Preis, die ausgehend von der Gattungsklassifizierung ­Nünnings als primär metahistoriographisch orientiert angesehen werden können. Auffallend ist, dass mit Vladimov und Okudžava auch zwei Autoren prämiert werden, die mit ihrem Fokus auf historischer Enthüllung ­( Vladimov) und Memoiren (Okudžava) die Präferenzen der Perestrojka-Jahre spiegeln – in beiden Fällen wurde die Preisvergabe denn auch als unzeitgemäß kritisiert.52 Diese konservative Orientierung macht sich beim Triumf noch deutlicher bemerkbar, mit dem – vielleicht mit der Ausnahme Aleksievičs – ausschließlich bereits etablierte spätsowjetische Schriftsteller prämiert werden. Die Preispolitik der frühen 1990er Jahre kann deshalb als Nachklang der geschichtspolitischen Programmatik der Perestrojka-Jahre und der literatur-historiographischen Praktiken des Spätsozialismus interpretiert werden. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ändert sich dieses Programm jedoch und neue Formen historischen Erzählens, wie sie etwa Šiškins und Galkovskijs Romane repräsentieren, werden gewürdigt. Galkovskij verzichtete jedoch auf den Preis und rief damit einen kleinen Skandal hervor.53 Deutlich erkennbar ist im Bereich der Literaturpreise die Absicht, gegenüber der zunehmenden öffentlichen Präferenz für patriotische historische Romane und massentaugliche Unterhaltungsliteratur eine ästhetisch und epistemisch anspruchsvolle Literatur aufzuwerten. Diese Aufwertungsstrategien blieben dabei zu Beginn den spätsowjetischen Koordinaten verhaftet und privilegierten zunächst vormals dissidentische Stimmen, bevor ab einem späteren Zeitpunkt an auch neue Repräsentanten historischen Erzählens im postsowjetischen 52 Vgl. für Okudžava Tait 1997. 53 Vgl. Galkovksij 1997.

Vom Market-Making zur Macht des Marktes325

Russland ins Blickfeld gerieten. Eine ambitionierte Preispolitik validierte nun vormals subkulturelle Stimmen und schuf auf diesem Wege eine Öffentlichkeit für diese Werke.

Neue Stimmen in der Literaturkritik und -wissenschaft Im weiteren Kontext dieser Debatten stehen einzelne literaturkritische Stimmen, die sich in der Schlussphase der Perestrojka formieren und für die Vermittlung metahistoriographischer Fiktion zentral werden. Als eine der Ersten unternimmt Natal’ja Ivanova 1989 einen Versuch, die nun publizierte und nicht als sozrealistisch klassifizierbare Literatur zu kategorisieren.54 Sie schlägt drei Richtungen der „anderen Prosa“ vor: «Другая проза» (С. Чупринин), проза новых, не известных до последного времени авторов еще не стала фактом общественного сознания. […] На мой взгляд, она сегодня образует три течения: историческое (генетически, безусловно, связанное с прозой Ю. Домбровского, В. Гроссмана, Ю. Трифонова), «натуральное» […] и направление иронического авангарда. Первое представлено ярким именем Михаила Кураева.55

Die hier vorgeschlagene Genealogie befindet sich noch außerhalb der Debatten um die Postmoderne, die in den kommenden Jahren zentral werden wird, und nennt als wichtigste Einflussgrößen neuer historischer Erzählformen mit ­Dombrovskij, Grossman und Trifonov Autoren, die im spätsowjetischen realistischen Paradigma verwurzelt sind. Nachdem die Diskussion zunächst von fehlender begrifflicher Differenzierung und einer noch in sowjetischen Kategorien verbleibenden literaturgeschicht­ lichen Kontextualisierung geprägt war, entwickeln sich bald darauf avanciertere begriffliche Instrumentarien, um das Phänomen eines neuen Umgangs mit der Geschichte zu interpretieren. Schlüsselfigur dieser Versuche ist der Literaturkritiker und -wissenschaftler Mark Lipoveckij. In seinem Aufsatz Zakon krutizny (Das Gesetz der Steilheit, 1991) entwickelt er im Rückgriff auf Umberto 54 Vgl. für den Kontext Menzel 2001, woraus auch der Hinweis auf diesen Text entnommen ist. 55 Ivanova 1989, S. 239 f. „Die andere Prosa (S. Čuprinin), die Prosa neuer, bislang nicht bekannter Autoren ist noch nicht zu einem Faktum des gesellschaftlichen Bewusstseins geworden. […] Meiner Ansicht nach hat sie heutzutage drei Strömungen: eine historische (die sich genetisch zweifelsfrei auf Dombrovskij, Grossman und Trifonov zurückführen lässt), eine ‚natürliche‘ und die Richtung der ironischen Avantgarde. Die erste wird durch den hervorstechenden Namen Michail Kuraevs repräsentiert.“

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Verortungen II

Eco und Roland Barthes sowie auf russische Theoretiker des Postmodernen wie Boris Groys und Michail Ėpštejn einen historisch informierten Begriff der russischen Postmoderne. Für den Bereich historischen Erzählens nennt L ­ ipoveckij F. Ėrskins 56 Ros i ja (1990) und hebt in seiner Analyse die Absurdität der Darstellung des geschichtlichen Prozesses, Strategien der Mystifizierung sowie die Auflösung von Hierarchien im Roman hervor. Vergleichbar operieren ihm zufolge Vasilij Aksenov, Viktor Erofeev und Vjačeslav P’ecuch.57 Historiographisch innovative Prosa wird hier zu einem gesonderten Untersuchungsgegenstand. Sowohl die Wahl der theoretischen Bezugspunkte als auch die literaturhistorische Kontextualisierung ändern sich hier, die Beschreibung erreicht aber noch keine gattungspoetische Schärfe. In einem Nabokovs Roman Dar (Die Gabe, 1938) gewidmeten Aufsatz macht Lipoveckij schließlich 1994 das literaturtheoretische Vokabular der Metafiktion (unter dem Leitwort Metaproza) stark und etabliert mit Nabokov eine modernistische Genealogie der russischen Postmoderne. Hierbei greift er aber noch nicht auf Linda Hutcheons klassische Studie zurück, die den Begriff historiographic metafiction bekanntlich zum paradigmatischen poetischen Verfahren der Postmoderne erklärt, sondern bezieht sich theoretisch hauptsächlich auf eine Abhandlung Rüdiger Imhofs zur Metafiktion.58 1997 schließlich veröffentlicht Lipoveckij seine Abhandlung Russkij postmodernizm. Očerki istoričeskoj poėtiki, die die Summe seiner theoretischen Überlegungen bis zu diesem Zeitpunkt darstellt.59 Dort nennt er erstmals Linda Hutcheons einflussreiches Konzept und widmet den neuen postmodernen historiographischen Erzählverfahren ein eigenes Kapitel, in dem er Werke P’ecuchs und Erofeevs analysiert.60 Aufbauend darauf stellt er eine Merkmalsmatrix metahistoriographischer Fiktion auf, die vier geschichtstheoretische Aspekte hervorhebt: den Verzicht auf die Suche nach einer historischen Wahrheit (I), einen Blick auf Geschichte als offener und hybri­ der Metatext (II), als Produkt, das stets neu beschrieben bzw. überschrieben wird (III), und die zentrale Stellung von Intertextualität und Ironie (IV).61 56 57 58 59

F. Ėrskin ist ein Pseudonym des russischen Schriftstellers Michail Berg. Vgl. Lipoveckij 1991, S. 23 – 26. Vgl. Lipoveckij 1994. 1999 folgt eine modifizierte englische Übersetzung unter dem Titel Russian Postmodernist Fiction. Dialogue with Chaos. 60 In der englischen Fassung kommt noch eine Analyse von Sokolovs Palisandrija hinzu. 61 Vjačeslav Kuricyn, ein anderer wichtiger Theoretiker der russischen Postmoderne, verzichtet in seinem Werk Russkij literaturnyj postmodernizm (Russischer literarischer Postmodernismus, 2000) hingegen auf eine solche Form der literatur- und geschichtstheoretischen Differenzierung historischer Erzählformen. Seine Analyse wird d­ ominiert

Von Ost nach West nach Ost327

Anhand der Untersuchungen Lipoveckijs lässt sich beobachten, wie durch westliche Theoriebildung und die Erweiterung des Kanons ein gattungspoetisch differenziertes Verständnis metahistoriographischer Fiktion gewonnen werden kann. Die anfängliche Kontextualisierung im spätsowjetischen Umfeld weicht dabei einer zunehmenden Verortung innerhalb der inoffiziellen sowjetischen Literatur und der Literatur der Emigration. Es erstreckt sich dabei schließlich auch auf eine umfassende Aneignung der theoretischen Diskussion zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, die vor allem die eindrucksvolle und theoretisch ambitionierte Debatte zum Novyj istorizm (Neuen Historismus) zwischen ­Aleksandr Ėtkind und Igor Smirnov zeigt.62 Diese bezeugt die Kenntnis klassischer Positionen von Stephen Greenblatt, Roland Barthes, Hayden White und anderer und trägt darüber hinaus zur produktiven Weiterentwicklung eigener Positionen bei, die sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Vertretern literaturzentrischer und mikrohistorischer Historiographie formiert.63

6.2  Von Ost nach West nach Ost – Literarische (Wieder-)Aneignungen Insbesondere für das eben erwähnte Feld der „anderen Prosa“ stellt sich die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Ort. Karlheinz Kasper fasst die genealogischen Irritationen, die die Publikation stilistisch neuartiger Werke Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzeugten, 1993 folgendermaßen zusammen: Was geht in der russischen Prosa vor? Ist sie auch in eine ‚postmodernistische‘ Phase eingetreten? Kehrt sie zu den Erfahrungen der historischen Avantgarde zurück? Oder ist sie ganz einfach nur eine „andere Prosa“ geworden? In der gegenwärtigen russischen Literaturkritik finden alle drei Begriffe und ihnen entsprechende Hypothesen ihre Verteidiger.64 vom Gegensatz Mythos – Dekonstruktion und versammelt heterogene Werke wie Erofeevs Moskva-Petuški, Bitovs Puškinskij dom, Šarovs Do i vo vremja, Jarkevičs Povest’ Solženicyn, ili Golos iz podpol’ja, Ivančenkos Monogramma und Romane Pelevins. Der historiographische Bezugspunkt wird dabei aber nicht theoretisch entwickelt, eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung fehlt weitgehend, und die Analyse bleibt am unklaren Begriff der Postmoderne orientiert. 62 Ėtkind 2001; Smirnov 2001. 63 Diese Zusammenfassung mag verkürzt erscheinen, eine ausführlichere Darstellung würde an dieser Stelle jedoch sowohl den Rahmen als auch den Fokus der Untersuchung sprengen. 64 Kasper 1993, S. 72.

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Verortungen II

Wenig überraschend ergibt sich als Ergebnis dieser Debatte, die hier in ihren Details nicht rekapituliert werden muss, dass sie nicht einseitig in eine der hier vorgeschlagenen Richtungen beantwortet werden kann. Für den uns interessierenden Fall metahistoriographischer Fiktion müssen sogar noch andere genealogische Linien mit in Betracht gezogen werden: die Kontinuitätslinien zur spätsowjetisch-realistischen Prosa, zu den Klassikern der historischen Literatur des 19. Jahrhunderts sowie zu ausländischen Traditionslinien. Eine Vielzahl bislang nicht oder kaum zugänglicher theoretischer und literarischer Werke findet während des Interregnums den Weg zurück in die literarische Öffentlichkeit, wo sie aufgenommen, diskutiert und weiterentwickelt werden. Die Rückkehr einer literarischen Öffentlichkeit als Institution des literarischen Prozesses erfolgt dabei in einem aufgeheizten, kriegerischen Klima, das Birgit Menzel zutreffend als Bürgerkrieg um Worte 65 bezeichnet hat. Begrifflich wird die Metahistoriographiediskussion dabei deutlich vom Postmodernismusparadigma überlagert, bei dessen Fürsprechern und Gegnern der Umgang mit Geschichte eines der wichtigsten Themen in den erbitterten Debatten um die Legitimität der postsowjetischen Vernunft ist. Angesichts der dürftigen Forschungslage zur Frage metahistoriographischer Kontinuitätslinien in der russischen Literatur kann hier keine systematische und vollständige Analyse zum Problemkomplex der (Wieder-)Aneignung literarischer Problematisierungsmodi historischer Erkenntnis vorgelegt werden. Das bloße Stellen der Frage enthält jedoch bereits eine These, nämlich die Zurückweisung der Kopplung metahistoriographischer Fiktion an das Postmoderneparadigma, wie sie beispielsweise Linda Hutcheon vertritt. In Abgrenzung hierzu soll stattdessen an vier räumlich und zeitlich heterogenen exemplarischen Kontexten aufgezeigt werden, wie im kritischen Rückgriff auf metahistoriographische Vorläufer neue Formen entwickelt werden.66 Die Prävalenz russischer Kontexte unterstützt dabei die das postsowjetische literarische Feld betreffende Auffassung, „[that] Russian literature remains central; Russian literature and its traditions are the hegemonic cultural paradigm into which Western models might be capable of injecting new life“.67

65 Menzel 2001. 66 Zur allgemeinen Kanonentwicklung in Russland seit den 1980er Jahren vgl. Grübel 2012. 67 Gorski 2018a, S. 15.

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Von Terroristen und Tolstojanern Lev Tolstojs episches Geschichtswerk Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1865 – 69) zählt zu den wichtigsten literarischen Beiträgen zur Reflexion der Grenzen und Bedingungen historischer Erkenntnis. Gary Saul Morson hat gezeigt, „[that] War and Peace is not only a story about war, it is also a story about stories of war“.68 Morson hebt Tolstojs Narrativitätskritik, dessen Skeptizismus gegenüber der Verfügbarkeit von Fakten, die Reflexion der Standpunktgebundenheit historischer Erkenntnis sowie die Kritik an Kausalitätsvorstellungen hervor. Georg Witte betont in seiner Analyse insbesondere den „Bedingungszusammenhang aus Komplexität und Einfachheit“,69 den Tolstoj im Roman entfalte, und spürt diesem exemplarisch an den Fragen der Sichtbarkeit und den Bewegungsformen der Geschichte sowie nach den Subjekten und Situationen historischen Handelns nach. Solche Analysen, die sich noch ergänzen ließen,70 erklären Tolstoj implizit zu einem Metahistoriographen avant la lettre. Somit verwundert es nicht, dass sich viele der in dieser Arbeit geschilderten metahistoriographischen Tendenzen auch in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit Tolstoj herausbilden. Während Sergej Bondarčuks Romanverfilmung aus den 1960er Jahren noch auf die Aktualisierung dieser Momente verzichtet, ändert sich der Blick auf Tolstoj bereits im Spätsozialismus. Wie Birgit Menzel anhand der Diskussionsveranstaltung zum Thema Klassika i my 1977 in Moskau exemplarisch zeigt, werden nun Stimmen verlautbar, die fordern, „die Literatur der Klassiker aus ihrer simplifizierenden Verzerrung in den dreißiger bis fünfziger Jahren zu befreien und im Rekurs auf die Avantgarde einen neuen, individuellen Zugang zu ihr zu erschließen“.71 Im Gegensatz zu Dostoevskij, dessen Stellung in der sowjetischen Kanonik stets prekärer Natur war, galt Tolstoj als Vordenker des Bolschewismus und wurde bereits 1908 von Lenin politisch als Spiegel der russischen Revolution vereinnahmt.72 Diese Vereinnahmung macht ihn während der Perestrojka zu einer problematischen Referenz. Am deutlichsten wird das in Varlam Šalamovs berühmten Ausspruch: „Все террористы были толстовцы и вегетарианцы, все фанатики – ученики русских гуманистов.“ 73 So erscheinen in den Periodika der Perestrojka auch keine 68 69 70 71 72 73

Morson 1987, S. 100, Hervorhebung im Original. Witte 2017, S. 458. Vgl. den Literaturüberblick bei Witte 2017. Menzel 2001, S. 248. Lenin 1968. Šalamov zit. nach Mondry 1991, S. 3. „Alle Terroristen waren Tolstoianer und Vegetarier, alle Fanatiker die Schüler der russischen Humanisten.“

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Verortungen II

Artikel, die sich mit dem Stellenwert Tolstojs für die gegenwärtige kulturelle Lage befassen, wie das mit Gogol’ und Dostoevskij der Fall ist.74 Aufgrund dieses politisch aufgeheizten Klimas wundert es nicht, dass sich im Rahmen der Beschäftigung mit Tolstoj verschiedene Fronten herauskristallisieren. Andrew Wachtel zeigt, wie Aleksandr Solženicyn sein Monumentalprojekt Krasnoe koleso auch in Differenz zu Tolstojs Geschichtsauffassung entwickelt: Another way for Solzhenitsyn to distance himself from Tolstoy is by using a Tolstoyan “absolute voice” to make statements completely at odds with the views of Tolstoy’s philosopher of history. For example, Solzhenitsyn disagrees with Tolstoy’s contention that history is made by everyday actions of ordinary individuals. […] For Solzhenitsyn, Tolstoy’s was a presence that had to be overcome.75

Während Tolstoj in Polemik gegen die Geschichtswissenschaft ein „Evidenzprivileg der historischen Fiktion“ 76 etablieren möchte, ist es Solženicyns Absicht, Literatur und Geschichtswissenschaft zu synthetisieren, wofür er auf die Erzählverfahren der russischen Chronik zurückgreift. Affirmativer bezieht sich ­Georgij Vladimov in seinem Roman General i ego armija (Der General und seine Armee, 1994) auf die Geschichtstheorie Tolstojs, wie Amy Obrist überzeugend an einer ganzen Reihe von Merkmalen herausgearbeitet hat.77 Beide Werke vereint dabei, trotz Divergenzen in Bezug auf geschichtsphilosophische Positionen, eine auktoriale, großformatige Anlage, für die Tolstoj eine wichtige Referenzfolie darstellt. Ein experimentellerer und für die metahistoriographische Fragestellung dieser Arbeit relevanterer Umgang mit dem Klassiker findet sich in Michail Kuraevs Kapitan Dikštejn. Kuraev erhielt hierfür 2010 sogar den Literaturpreis Jasnaja Poljana, der in der Nachfolge Tolstojs arbeitende Autoren würdigt. In seiner Dankes­ansprache sagte Kuraev: „Принимаю эту премию как читатель Толстого, который умеет его читать.“ 78 Insbesondere die Schilderung der 74 75 76 77

Vgl. Mondry 1991, S. 2. Wachtel 1994, S. 204 ff. Witte 2017, S. 459. Obrist führt auf: „He acknowledges that the purpose and audience are important factors in how something is reported (subversion of truth by genre and audience); he acknowledges that all facts necessary to properly tell a story may not be available, and that a given version of a narrative has many alternatives […]. In several places, he alludes to an important theme in Tolstoi’s novel, the psychological constitution of the viewer or listener as a factor in their perception of events and indeed in the event itself. “ (Obrist 2005, S. 160 f.). 78 RiaNovosti 2010; „Ich nehme diesen Preis als Leser Tolstojs an, als jemand, der ihn zu lesen versteht.“

Von Ost nach West nach Ost331

­Schlachtszenen in seinem Roman erinnert an vergleichbare Szenen bei Tolstoi: „Tolstoyan devices abound in the depiction of the battles leadership and in the inability of intentions, plans, and orders to direct the course of events.“ 79 So betont auch Kuraev die Unübersichtlichkeit des Schlachtgeschehens, die fehlende Planbarkeit der Aktionen und die Rolle des Zufalls, z. B. in dieser Sequenz: „Игорь Иванович видел, слышал и главным образом ощущал, что едва ли не каждая команда, едва ли не каждый приказ и распоряжение или не выполняются вовсе, или выполняются как-то двусмысленно.“ 80 Kuraev problematisiert in seinem Text die Rolle des Individuums, dessen historischer Ort nicht bestimmbar ist. Dies zeigt sich anhand des Leitmotivs des Doppelgängers, als der sich der titelgebende Kapitän erweist. Die zwei Leben als Aufständischer und als sowjetischer Kleinbürger lassen sich bei Kuraev nicht synthetisieren, während bei Tolstoj gerade die moralischen Charaktereigenschaften seiner Haupthelden als stabilisierendes Element inmitten historischer Kataklysmen dienen. Die Unmöglichkeit der Erzählbarkeit individueller Biographien wird von Kuraev dabei explizit adressiert: „И всё-таки судьбу одного человека проследить и описать куда трудней, чем историю государства, города или знаменитого корабля.“ 81 Kuraev destabilisiert – ähnlich wie Trifonov, der im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls im Vergleich zu Tolstoj diskutiert werden könnte – alle möglichen Ankerpunkte historischer Erkenntnis und nimmt Zuflucht zu einem fatalistischen Geschichtsverständnis, im Rahmen dessen Geschichte menschlicher Beeinflussung entzogen ist. Dies steht im Gegensatz zu Solženicyn, der noch fähig ist, eine auktoriale Stimme 82 zum Klingen zu bringen, die sich – ähnlich wie Tolstoj – polemisch an einer etablierten historischen Erzählung abarbeiten kann und geschichtliche Gegengesetze zu formulieren in der Lage ist. Kuraevs Aneignung Tolstojs steht somit mit der Solženicyns über Kreuz. Während dieser ästhetisch mit Tolstoj bricht, in seiner patriotischen und religiösen Grundeinstellung aber Parallelen auszumachen sind, knüpft Kuraev ästhetisch an Tolstoj an, während er gegenüber der patriotischen Sinngebung der russischen Geschichte skeptisch bleibt. 79 Obrist 2005, S. 225. 80 Kuraev 1987, S. 47. „Igor Ivanovič sah, hörte, vor allem aber fühlte er, dass fast jedes Kommando, fast jeder Befehl und jede Anordnung entweder nicht voll oder in zweideutiger Weise ausgeführt wurden.“ 81 Kuraev 1987, S. 32. „Und dennoch ist es schwieriger, das Schicksal eines einzelnen Menschen zu verfolgen und zu beschreiben als das eines Staats, einer Stadt oder eines bekannten Schiffs.“ 82 Zur metahistorischen Färbung dieser auktorialen Erzählinstanz bei Tolstoj vgl. Wachtel 1994, S. 99 – 103.

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Die Rehabilitation Rozanovs Der Einfluss Vasilij Rozanovs auf die Formen historischen Erzählens im Interregnum ist indirekter Natur. Rozanov verfasste keine historischen Romane und trat nicht primär als Historiker in Erscheinung. Sowohl stilistisch als auch inhaltlich lassen sich jedoch Aspekte seines Schaffens metahistoriographisch fruchtbar machen. Rainer Grübel hat die Rolle der Geschichte im Schaffen des exzentrischen Schriftstellers untersucht und behauptet: „[Rozanovs] Vision der Geschichte birgt eine Kritik des positivistischen Historismus und seines Anspruchs […,] eine objektive Geschichtschreibung [sic!] zu begründen.“ 83 Er verzichtet auf eine „positivistische Modellierung“ historischer Ereignisse und experimentiert stattdessen mit alternativen Anordnungsformen, die den ephemeren Charakter historischer Ereignisse betonen (501, 505). Impliziert ist eine Kausalitäts- und Narrativitätskritik, die Rozanov in ein Spannungsverhältnis zum Historismus des 19. Jahrhunderts stellt. Dieser Geschichtsbetrachtung setzt Rozanov ein historiosophisches Grundverständnis gegenüber, in dessen Rahmen an „die Stelle überprüfbarer Faktizität“ die „Potenzialität“ der Einzelerscheinungen tritt (487). Aufgrund seiner Kritik an der Sowjetmacht, seines offenen Antisemitismus und der religiösen Grundierung vieler seiner Gedanken galt Rozanovs Denken in der Sowjetunion als unerwünscht. Die Wiederaneignung Rozanovs, die ab den 1950er Jahren einsetzt, „was [therefore] left to émigré and underground authors of the post-Stalinist period, reading Rozanov in tamizdat or samizdat “.84 Am wichtigsten sind in diesem Kontext Andrej Sinjavskij und Venedikt Erofeev, Spuren Rozanov’schen Denkens finden sich allerdings auch bei anderen Autoren, wie Oliver Ready überzeugend nachgewiesen hat.85 Mit der Liberalisierung der Perestrojka betritt Rozanovs Werk dann den Rückweg in die Öffentlichkeit: „Rozanov’s work became popular to the extent that two editions of his collected works were published concurrently in the 1990s.“ 86 Zeugnis und vorläufiges Zwischenergebnis des Wiederaneignungsprozesses ist eine 2006 durchgeführte große Konferenz, die dem Schaffen Rozanovs und seiner Rezeption gewidmet wurde.87 83 Grübel 2003, S. 487. 84 Ready 2012, S. 46, Hervorhebungen im Original. 85 Vgl. Ready 2012, 2017. Zusätzlich zu den bei Ready aufgeführten Autoren weist Rainer Grübel auch noch auf die Rezeption Rozanovs bei Eduard Limonov hin, vgl. Grübel 2012/2013. 86 Mondry 2002, S. 115. 87 Vgl. Nikoljukin 2009.

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Im Rahmen der Arbeit wurde bereits Dmitrij Galkovskijs Dialog mit ­Rozanov in Beskonečnyj tupik untersucht, der eine der elaboriertesten Ausein­ andersetzungen darstellt. Rozanovs Einfluss auf den Minimalismus der fantiki-Manuskriptfiktion Mark Charitonovs wurde ebenfalls bereits thematisiert. Charitonov entwickelt seinen Roman aus einer atomistischen Grundstruktur, die gegenüber jeder Form kausaler oder erzählerischer Determinierung skeptisch bleibt. Wie Rozanov betont Charitonov die nahezu unendliche Potentialität der Einzelphänomene, ohne diese allerdings in den Dienst einer größeren geschichtsphilosophischen These zu stellen. Generell kann gesagt werden, dass die meisten der spät- und postsowjetischen literarischen Experimente der Sujetbildung durch Klein(st)formen durch Rozanovs Schaffen beeinflusst werden. Ein weiteres Beispiel hierfür ist Andrei Sergeevs preisgekrönte experimentelle Autobiographie Al’bom dlja marok (Das Briefmarkenalbum, 1995), „[which is] echoing the philosophical style of Rozanov’s writings“.88 Sergeevs Sammlung von Personen, Dingen, Verhältnissen und Wörtern, so der Untertitel, besteht aus fünf Unterkapiteln, die jeweils Episoden seines Lebens beinhalten, von der Kindheit im Moskau der 1930er Jahre über den Krieg bis zum Spätstalinismus. Das Buch ist eine Collage aus persönlichen Erinnerungen, sowjetischen Losungen und Liedern und detailreichen Beschreibungen, die durch das Leitmotiv der Briefmarke organisiert werden. Der autobiographische Held ist ein Briefmarkensammler, dessen Bestände durch die Zeitläufte geprägt werden, gleichzeitig aber auch als reflexives Prisma dieser Zeitläufte dienen. Die kurzen, häufig unzusammenhängend aneinandergereihten Sequenzen erinnern an Rozanovs sujetlose, ebenfalls durch das Prinzip der Fragmentierung getragene Prosaminia­turen, insbesondere an seine Opavšie list’ja (Abgefallene Blätter, 1913). Rozanov wird hier zu einer der Inspirationsquellen einer Gattungshybridisierung der Autobiographie, deren Gattungskonventionen gebrochen und erweitert werden. Mit Natal’ja Ivanova können solche Formen im größeren Kontext der postsowje­tischen „erosion of metanarrative and the diffusion and diminution of the traditional genres’ presence in prose and poetry“ 89 gelesen werden.

88 Smith 1999, S. 334. 89 Ivanova 2009, S. 46.

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Die Neuankunft Nabokovs Joanne Turnbull bringt in ihrem kurzen Vorwort zur englischen Ausgabe von Sergeevs Al’bom dlja marok mit Nabokovs Memoiren Speak Memory eine weitere Inspirationsquelle ins Spiel,90 die auch allgemein für die Weiterentwicklung der Gattung im Interregnum wichtig ist. Nabokovs englischsprachige Werke gelten als wichtige Vorläufer der historiographic metaficition: „Fiction about biography, and about biographers, has become an increasingly important strand of ‚historiographic metafiction‘ since, say, 1941 – the year of Nabokov’s The Real Life of Sebastian Knight.“ 91 Ansgar Nünning hat für solche Werke den Begriff Metaautobiographie geprägt: „Im Zentrum solcher Romane steht die selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragestellungen (auto) biographischer Sinnstiftung und den Konventionen von Biographie und Autobiographie.“ 92 Sie finden im russischen Kontext eine Weiterführung in den autobiographischen Praktiken Dmitrij Prigovs, die Philipp Kohl unlängst in einer Studie untersucht hat.93 Das Werk Vladimir Nabokovs zählt aber nicht nur im Kontext autobiographischen Schreibens zu den kanonisierten Referenzen der Debatten um Metafiktion und Metahistoriographie seit den 1970er Jahren. Mit dem Beginn der Perestrojka findet das Werk des Emigranten Nabokov den Weg zurück in die russische Literaturdebatte. Die Auflagenzahlen seiner Werke in Russland in diesem Zeitraum übertrifft die an seinen anderen Wirkungsorten dabei deutlich.94 In der ersten Phase bleibt die Rezeption seiner Werke dabei noch von der Hoffnung auf politische Enthüllungen 95 bestimmt und „wiederholt – teilweise bis in einzelne Argumente hinein – die erbitterte Diskussion innerhalb der russischen Emigration der zwanziger und dreißiger Jahre“.96 Dies verwundert nicht, fehlte dem spätsowjetischen Diskurs doch eine adäquate Metasprache,97 90 91 92 93 94

Tunbull 2002, S. 6. Saunders 2010, S. 497, Hervorhebung im Original. Nünning 2007, S. 271. Vgl. für die Vorläuferfunktion Nabokovs für Prigov Kohl 2018, S. 96 f. Vgl. Djubankova 2008, S. 120. Die Anzahl der zirkulierenden Lolita-Ausgaben soll nach Angabe von Leving und White 1990 ca. 3 Millionen betragen haben (vgl. Leving/ White 2013, S. 131). 95 „От Набокова ожидали прежде всего ‚клубнички‘ и политической остроты“ ­(Djubankova 2008, S. 121). „Von Nabokov erwarteten sie vor allem Pikantes und politisch Provozierendes.“ 96 Hüllen 1990, S. 215. 97 Vgl. Djubankova 2008, S. 129.

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um die literarischen Aspekte von Nabokovs Werk präzise zu beschreiben. Denn der Schriftsteller galt der offiziellen Literaturkritik zuvor als ein „völlig entfremdeter, antisowjetischer, sich in Formexperimenten ergehender Schriftsteller von zweifelhafter Moral“,98 mit dessen vermeintlicher l’art-pour-l’art-Ästhetik man sich nicht zu beschäftigen brauchte. In einer zweiten Phase der Werkrezeption wird jedoch zunehmend anerkannt, [that] Nabokov has given the Russian writer a great deal: the legitimization of the pastiche genre, skillful examples of elegant trickery […], a poetics of fragmentation […], a feeling of stylistic renewal of the Russian language freed from the limits of socialist realist discourse, and, at the very least, lessons in mastery of composition.99

Im Rahmen dieser Neuausrichtung der Rezeption rücken auch metafiktionale Aspekte von Nabokovs Werk in den Fokus. So untersucht – wie wir bereits in Unterkapitel 6.1 bemerkt haben – Mark Lipoveckij die Metaprosa Nabokovs anhand seines Romans Dar’.100 Nikolaj Anastas’ev, der 1992 die erste russische Monographie zu Nabokov vorlegt, betont einleitend ebenfalls die metaliterarische Dimension des Schaffens Nabokovs und führt diese Rezeptionslinie auf Chodasevič zurück.101 Unter all den hier diskutierten Trajektionslinien m ­ etahistoriographischer Wiederaneignung erreicht Nabokovs Werk die größte populärkulturelle Durchschlagskraft: In essence, cultural merchants had completed the consecration of Nabokov, and an established posthumous legacy could be disseminated for use in the literary market […]. ­Nabokov’s creative output became a collective space – from then on it belonged simultaneously to everyone and no one.102

Schaut man sich an, von wem dieser collective space innerhalb des literarischen Gebäudes genutzt wird, so trifft man dort neben Evgenij Popov und Dmitrij ­Galkovskij, deren Anlehnungen an Nabokov bereits analysiert wurden, auf Schriftsteller wie Viktor Pelevin und Vladimir Sorokin, deren Werke der 1990er Jahre stark von Nabokovs Pastiche-Verfahren geprägt sind. Ebenfalls in Dialog mit Nabokov treten Jurij Bujda und Sergej Bolmat, die in ihren Werken im Stile Nabokovs verschiedene Texte miteinander überlagern.103

98 99 100 101 102 103

Hüllen 1990, S. 208. Leving/White 2013, S. 200. Vgl. Lipoveckij 1994. Vgl. Anastas’ev 1992. Leving/White 2013, S. 206. Vgl. Leving/White 2013, S. 204 – 214.

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Andrej Bitov zählt zu den Autoren, die sich – auch bereits vor der P ­ erestrojka – intensiv mit dem Werk Vladimir Nabokovs auseinandergesetzt haben. Ulrike Goldschweer weist anhand einer vergleichenden Analyse von Nabokovs Sogljadataj (Der Späher, 1930) und Bitovs Prepodavatel’ simmetrii (Der Symmetrielehrer, 1989) nach, wie Bitovs Erzählungen stilistisch und inhaltlich von Nabokov beeinflusst worden seien. Bitov, der sich auch in nichtfiktionalen Texten mit Nabokov beschäftigt hat, greift auf die von Nabokov popularisierten Verfahren der Quellenfiktion zurück, stilisiert in ähnlicher Weise seine eigene Autorschaft, spielt anagrammatisch mit Namen und baut eine Reihe motivischer und biographischer Reminiszenzen an Nabokov ein.104 Folgt man Sven Spieker, so radikalisiert Bitov insbesondere in seinem Roman Fotografija Puškina (Die Fotographie Puškins, 1988) den bereits bei Nabokov angelegten epistemologischen Skeptizismus.105 Diese Aneignung Nabokovs, nach der sich nicht mehr sinnvoll von Täuschung oder Falsifikation sprechen lässt, besitzt ein beträchtliches metahistoriographisches Potential, das insbesondere bei Bitov in immer neuen Facetten fruchtbar gemacht wird und eine eigene Untersuchung verdient hätte.

Auf Empfang eingestellt Orientiert man sich an Jurij Lotmans Unterscheidung von sich abwechselnden Perioden des Empfangs und der Sendung von Informationen im dialogischen Verhältnis zwischen Nationalkulturen,106 so lässt sich in Bezug auf das Verhältnis zur internationalen Literatur für die Zeit des Interregnums von einer auf Empfang eingestellten Phase in Russland sprechen. Eine solche Phase hatte es bereits in der Zeit des Tauwetters gegeben,107 als eine ganze Reihe v. a. westlicher Autoren, unter denen Ernest Hemingway und J. D. Salinger wohl herausragen, das literarische Schaffen einer neuen Generation von Autoren prägte.108 Der Einschnitt, 104 105 106 107

Goldschweer 1998, S. 179 – 185. Spieker 1995, S. 206. Vgl. Lotman 2010a, S. 191 – 203. Vgl. Friedberg 1977, v. a. aber Gilburd 2018, die im Kapitel „Books about us“ (103 – 157) die Bedeutung der Prosa Hemingways, Salingers und Remarques für das Tauwetter umreißt. 108 Dies gilt nach Meinung des Kunsthistorikers Evgenij Barabanov etwa für die gesamte ‚zweite Avantgarde‘ in der Sowjetunion: „The history of the second Russian avant-garde cannot be conceived outside the context of Western art: the art of America, Western and Central Europe. In this sense the West – or more accurately the nonconformist concept of the West must be considered as one of the fundamental, founding sources of the second Russian avant-garde“ (Barabanov zit. nach Jackson 2010, S. 67).

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der mit der Perestrojka verbunden ist, ist dabei vor allem qualitativer, nicht quantitativer Natur. Die Sowjetunion lag bereits in den 1970er Jahren in Statistiken, die die Anzahl der Übersetzungen erfassten, an erster Stelle,109 allerdings waren Schlüsseltexte der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts wie die Nabokovs, Joyces oder Kafkas kaum oder nur schwer verfügbar. Dies ändert sich mit der Perestrojka, als dieses Erbe sukzessive erschlossen wird.110 In dieser Arbeit sind wir bereits in der Analyse von Kuprijanovs Werk, der selbst als Übersetzer tätig ist, kurz auf einen Autor zu sprechen gekommen, für den die Anknüpfung am westeuropäischen literarischen Erbe eine wichtige Inspirationsquelle für eigene künstlerische Arbeiten darstellt. Zu differenzieren hiervon ist die Aneignung für die Theorie und literarische Praxis der Metahistoriographie einschlägiger Werke, die im Interregnum einsetzt. Die wichtigste kritische Referenzfolie für die Konturierung russischer Metahistoriographie ist die Postmodernerezeption, die ebenso in die Zeit des Interregnums fällt.111 Geschichtstheoretische Werke und poststrukturalistische Philosophien, die wichtige Impulsgeber der metahistoriographischen Dynamik sind, werden nun veröffentlicht, gelesen und weiterentwickelt, Beleg hierfür ist die bereits erwähnte Debatte um den Novyj istorizm. Auch Klassiker der historiographic metafiction wie Umberto Ecos Il nome della rosa (Imja rozy, 1989),112 John Fowles The French Lieutenant’s Woman (Ženščina francuzskogo lejtenanta, 1990) oder Milorad Pavićs Hazarski rečnik (Chazarskij slovar’, 1991, in Auszügen) werden nun übersetzt. Wie solche Übersetzungen literarisch verarbeitet wurden, soll ein kurzer Seiten­blick auf das Werk Jorge Luis Borges’ illustrieren, das einen der wirkmächtigsten literarischen Importe des Interregnums darstellt. Anfang der 1990er Jahre werden die Werke des argentinischen Schriftstellers, dessen Antikommunismus 109 Vgl. Friedberg 1997, S. 4 110 Der west-/südöstliche Literatur- und Kulturtransfer und dessen Bedeutung für die postsowjetische Ästhetik sind ein Forschungsdesiderat. Die meisten literaturgeschichtlichen Darstellungen beschränken sich auf die Darstellung der Wiederaneignung russischer Traditionslinien, scheinen in dieser Betonung aber den Beitrag ausländischer Einflüsse für die zeitgenössische Literatur systematisch zu unterschätzen. 111 Vgl. für die umfangreiche Forschung zum russischen Postmodernismus und dessen Anknüpfungen und Abgrenzungen zur Debatte in Nordamerika und Europa u. a. Menzel 2001, S. 328 – 347. 112 Die Bedeutung Ecos für die postsowjetische Literatur ist bislang vor allem im Hinblick auf Boris Akunin und dessen historische Detektivik gewürdigt worden, vgl. hierzu Platt 2016, S. 80. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Einfluss Ecos noch im Unterkapitel zu Evgenij Vodolazkin eine Rolle spielen (8.2).

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einer früheren Veröffentlichung im Weg gestanden hatte, in Russland veröffentlicht und erreichen schnell Kultstatus.113 Borges’ Fatalismus und seine Realitätsskepsis schienen den Ton der Zeit zu treffen. Bei Aleksandr Genis heißt es 1994: „в осознавшей иллюзорность своей действительности России книги Борхеса кажутся путеводными“.114 Borges Sicht auf die Realität, aber auch die Komposition und stilistische Gestaltung seiner Werke wurden als „one of the models for the development of the new Russian writing“ herangezogen.115 Nimmt man Genis Rede von einem „Wettbewerb um den Titel ‚Russischer Borges‘“ auf, dann muss dieser wahrscheinlich Viktor Pelevin zuerkannt werden. Dina Odnopozova arbeitet heraus, wie stark Pelevins Romane und Kurzgeschichten Topoi und Verfahren von Borges verpflichtet sind. Sie behauptet: „Pelevin’s texts would not have become what they are without the influence of Borges“ (185). Zu den wichtigsten Einflussfaktoren gehören Borges’ Spiel mit realen und imaginären Quellen (158), das Pelevin in der als Manuskriptfiktion inszenierten Einleitung zu Čapaev i Pustota (Buddhas kleiner Finger) aufnimmt, aber auch motivische Parallelen, die Odnopozova in einer Babylonisierung Russlands sieht. Hier treffen verschiedene Sprachen und Zeiten aufeinander, deren zufällig anmutendes Arrangement einen neuen Blick auf Geschichte eröffnet. Legenden und Mythen werden zu gleichberechtigten historischen Objekten, das Prinzip historischer Referenz wird in Frage gestellt und zum „simulacrum of the past“ (179). Zum weiteren Kontext der Diskussion um russische Metahistoriographie im Interregnum zählt schließlich auch die Rezeption theoretischer Grundlagenwerke. 2002 erscheint mit der Übersetzung von Hayden Whites Metahistory das theoretische Referenzwerk in russischer Sprache, im selben Jahr gibt es auch eine Erstübersetzung von Arthur C. Dantos Analytical Philosophy of History. Whites Werk wird in Russland breit rezipiert und als paradigmenbildend gewürdigt. Etwas pathetisch heißt es: „Уайт […] научил нас видеть“, da er als Erster den Blick auf die textuelle und diskursive Natur des Historischen gelenkt hat. Auffallend ist, dass Rezensenten Theorien des russischen Formalismus als Vorläufer identifizieren und zur Relektüre und Rekontextualisierung dieses Erbes auffordern.116 Gleichzeitig wird aber auch eingeräumt: „читать всего Уайта 113 Zur spätsowjetischen Aneignung von Borges vgl. Odnopozova 2012, S. 146 ff. 114 Genis 1994, S. 215. „In einem Russland, das die Illusionshaftigkeit seiner Wirklichkeit realisierte, erscheinen die Bücher von Borges als Wegweiser.“ 115 Odnopozova 2012, S. 150. 116 Bei Gavrišina (2003) heißt es: „«Метаистория» открывает редкую для русскоязычного читателя возможность опереться на собственную научную традицию“.

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сегодня не обязательно“.117 Whites Kritik war mittlerweile auch in Russland zum theoretischen Allgemeinplatz geworden, seine narratologische Lektüre der Geschichtswissenschaft veränderte ihren Bezugsrahmen und entwickelte sich von einem Untersuchungsgegenstand zu einer Analysekategorie. Letzteres lässt sich etwa an einem Aufsatz von Jurij Troickij und Jurij Šatin illustrieren, die das historiographische Werk Karamzins und Solov’evs mit White’schen Analyseinstrumenten sezieren.118

6.3  Reflexion, Reintegration, Restauration – Zur gesellschaftlichen Stellung historischer Literatur Bereits in Unterkapitel 3.3 wurde dargelegt, wie sich in der spätsowjetischen Gesellschaft gesellschaftliche Funktionssysteme auszudifferenzieren beginnen. Dies gilt auch für den künstlerischen Bereich, der sich von systemexternen Vorgaben emanzipiert und zunehmend auf systemübergreifende Funktionsan­ sprüche (Stichwort Literaturzentrismus) verzichtet. Verstehbar ist dieser Prozess der Ausdifferenzierung dabei nur vor dem Hintergrund fundamentaler struktureller Verschiebungen in der Gesellschaft, deren organisationszentrierter Steuerungsanspruch an Bedeutung verliert, sowohl programmatisch als auch in Bezug auf die öffentlich verhandelten Selbstbeschreibungen. Die Reformen der Perestrojka bieten nun den Raum, diese literarisch zum Teil bereits erfolgte Entwicklung auf literaturkritischer Ebene mit zu vollziehen und ästhetisch zu radikalisieren. In der Folge bilden sich neue literarische Funktionsverständnisse aus, die nun abschließend in Bezug auf unsere metahistoriographische Fragestellung kontextualisiert werden sollen. Prinzipiell lassen sich zwei Dimensionen des Metapräfixes unterscheiden: Reflexion und Reintegration. Unter Reflexion ist mit Luhmann die „Beobachtung des eigenen Systems“ 119 gemeint, unter Reintegration werden

„,Metahistory‘ bietet die für den russischen Leser seltene Möglichkeit, sich auf die einheimische wissenschaftliche Tradition zu stützen“. Ähnlich bei Frumkina 2003: „Русскому читателю будет приятно найти здесь среди прочих имена Якобсона, Эйхенбаума, Томашевского и Шкловского.“ „Es wird für den russischen Leser angenehm sein, hier [in der Einleitung von Whites Metahistory] u. a. auf die Namen Jakobsons, Ėjchenbaums, Tomaševskijs und Šklovskijs zu stoßen.“ 117 Frumkina 2003: „Die Lektüre des ganzen White ist heute nicht verpflichtend“. 118 Vgl. Troickij/Šatin 2002. 119 Luhmann 1998, S. 757.

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­systemübergreifende Beobachtungen verstanden. Beide Präfixverständnisse lassen sich auf die Frage des Funktionspotentials der Literatur innerhalb der Gesellschaft übertragen. Ist es deren Aufgabe, gesellschaftliche Prozesse kognitiv zu reflektieren und verstehbar zu machen (Reflexion) oder ist es deren Aufgabe, diese argumentativ zu kommentieren und im Hinblick auf mögliche Anschlusshandlungen zu agitieren (Reintegration)? Nünning differenziert vier Funktionspotentiale historischer Romane, von denen drei – das didaktische, das hedonistisch-emotionale und das moralisch-sozial bilanzierende und orientierende Funktionspotential – auf der reintegrativen und eines (kognitiv) auf der reflexiven Ebene verortet werden können. Funktionstypologisch unterscheidet Nünning binär zwischen unterhaltsamer Geschichtsvermittlung und metahistoriographischer Selbstreflexion.120 Im Rahmen des sowjetischen Literaturdiskurses wurden solche funktionspoetischen Fragen nach dem Ende des Formalismus weder gestellt, noch mussten sie in der hierarchisch strukturierten Organisationsgesellschaft zwingend beantwortet werden, um Literatur zu schöpfen.121 Mit dem Ende der Sowjetunion verschwindet der Zwang der Unterordnung unter eine systemfremde Funktionsbeschreibung, wie es im Fall der politischen Dominanz literarischer Produktion der Fall gewesen war. Deren moralisch-didaktische Rhetorik hatte ausgedient und konnte kaum in denselben Formen reaktiviert werden. Folglich stellte sich die Frage, wozu Literatur angesichts der neuen gesellschaftlichen Realitäten (Öffnung nach außen, Massenmedien, Digitalisierung u. a.) noch dienen konnte. Dabei stellte sich weniger die Frage, ob reintegriert werden sollte, kommt doch keine Gesellschaft ohne medial vermittelte Formen der Reintegration aus, sie ist – allein schon aus Gründen der Kommunizierbarkeit von Wirklichkeit und der Allgegenwart struktureller Kopplungen zwischen den Funktionssystemen – gesellschaftlich notwendig.122 Umstritten war aber, ob diese Reintegration danach strebte, die Polykontexturalität der Weltbeschreibungen als gesellschaftliche ­Selbstbeschreibung 120 Nünning 1995a, S. 255. Problematisch ist an dieser Unterscheidung wohl, dass sie rezeptionsästhetische Kategorien (Unterhaltsamkeit) nur auf einer Seite der Unterscheidung verortet. 121 Die Theoriebildung zur Funktionspoetik florierte stattdessen im Umfeld des tschechischen Strukturalismus, der unter dem Einfluss Roman Jakobsons formalistische Überlegungen weiterentwickelte. In Bezug auf die Funktionspoetik ist vor allem auf das Schaffen Jan Mukařovskýs hinzuweisen und seine Theoretisierung der ‚ästhetischen Funktion‘, die er seit den 1930er Jahren konturierte (seine wichtigsten Aufsätze hierzu finden sich in Mukařovský 1970). 122 Hierauf insistiert z. B. Jürgen Link: „Kulturspezifisch synchrone Systeme von Kollektivsymbolen  […] entstehen aus der gesellschaftlich notwendigen reintegrativen

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zu verbreiten, oder danach, die reflexive Form der Realitätsbeschreibung durch eine Privilegierung der Binärcodierung eines Funktionssystems oder über eine alternative Binärcodierung (z. B. eine moralische oder nationale) zu ersetzen. Die Antwortstrategien auf dieses Problem gilt es im Hinblick auf die historiographische Leitfrage der Arbeit herauszuarbeiten. Reintegration und Reflexion erscheinen unter gesellschaftspoetischem Blickwinkel dabei als maßgebliche Pole der historiographischen Diskussion des Interregnums. Innerhalb dieses Magnetfelds lassen sich politische und poetische Elemente identifizieren. Die Beobachtung ihrer Kraftwirkungen soll dabei helfen, die Erkenntnisbildung durch die Analyse metahistoriographischer Fiktion über das literarisch-künstlerische System hinaus gesellschaftsdiagnostisch zu erweitern.

Das Ende des Literaturzentrismus 1990 veröffentlicht Viktor Erofeev seinen vieldiskutierten Aufsatz Pominki po sovetskoj literature (Gedenkfeier für die sowjetische Literatur), in dem er die sowje­ tische Literatur und deren noch aus der Tradition des 19. Jahrhunderts herrührenden Allvertretungsanspruch kritisiert. В России литератор вообще часто был призван исполнять сразу несколько должностей одновременно: быть и священником, и прокурором, и социологом, и экспертом по вопросам любви и брака, и экономистом, и мистиком. Он был настолько всем, что нередко оказывался никем именно как литератор, не чувствуя особенностей художественного языка и образного парадоксального мышления. Он нанимал стиль, как rent-a-car, лишь бы только добраться до цели своего социального назначения.123

Das Gefühl globaler Zuständigkeit limitierte die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten des Autors und ordnete dessen literarisches Schaffen einem systemfremden, meistens einem sozialen Ziel unter. In der postutopischen Gesellschaft, ­Gegentendenz gegen die im Zuge der Arbeitsteilung wachsende Diskursspezialisierung“ (Link 1998, S. 297). 123 Erofeev 1990. „In Russland wurde der Literat immer dazu aufgefordert, zu einem Zeitpunkt unterschiedliche Aufgaben gleichzeitig auszuführen: er sollte Priester, Staatsanwalt, Soziologe, Experte für Liebes- und Ehefragen, Ökonom und Mystiker sein. Er war dabei mit so viel beschäftigt, dass er nicht selten gar kein Literat mehr war, dass er nicht mehr die Besonderheiten künstlerischer Sprache fühlte und eines bildhaftparadoxen Denkens. Er mietete einen Stil wie ein Autor, nur um das Ziel seiner sozialen Bestimmung zu erreichen.“ Ganz ähnlich übrigens auch N. N. Shneidman: „The writer in the former Soviet Union was not only a creative artist, but simultaneously also a historian, philosopher, sociologist, politician, and student of human relations“ (Shneidman 1994, S. 35).

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wie Erofeev sie nennt, ist diese Selbstverortung der Literatur an ein Ende gekommen. Im Anschluss an Vladimir Nabokov, James Joyce und andere Modernisten plädiert er deshalb für eine Rückkehr zur Literatur: „В постутопическом обществе пора наконец вернуться к литературе.“ 124 Es geht nun darum, den literarischen Zugang wieder als eigene Form der Welterschließung zu betrachten („obraščeniem k slovu kak k samoznačaščej real’nosti“; „Rückkehr zum Worte als selbstbedeutsamer Realität“) und aus diesem literarischen Selbstverständnis heraus die Wiedergeburt der sowjetisch deformierten Prosa einzuläuten. Aleksandr Ageev adressiert in seinem Beitrag Konspekt o krizise (Konspekt über die Krise, 1991) das Problem des Literaturzentrismus auf ähnliche Weise.125 Er argumentiert explizit politischer, betont die Mitschuld der Klassiker an dem utopisch-moralischen Gedankengebäude der kommunistischen und nazistischen Totalitarismen und erklärt einen Großteil der „großen Literatur“ aufgrund ihres „totalitären Kerns“ für unvereinbar mit Freiheit und Demokratie.126 Jenseits der politischen Ambivalenz des ethischen Maximalismus der klassischen Literatur liege in ihrem synthetischen Selbstverständnis der entscheidende Kritikpunkt. Die russische Literatur verfolgt laut Ageev einen metaphysischen Synthetisierungsanspruch, der eine quasireligiöse Dimension besitzt.127 Dieser Anspruch ist politisch heikel und angesichts einer differenzierten Gesellschaft nicht länger zeitgemäß. Ageev schließt seinen Essay mit einem Plädoyer für die Anerkennung einer „mehretagigen, differenzierten Kultur“ („mnogoėtažnoj differencirovannoj kul’tury“), in der sich die Literatur dem Prinzip der Freiheit unterordnen, ihr eigenes Stockwerk bewohnen müsse und nicht länger alle Bereiche für sich beanspruchen dürfe.128 Die Hausmetaphorik unterstreicht schön die Idee einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der verschiedene Subsysteme in unterschiedlichen Räumen operieren und voneinander getrennt sind. Ageevs Metapher liefert ein Bild für die in diesen Jahren lautstark zu vernehmenden Diagnosen des Endes der russischen literaturokratija (Michail Berg), die häufig mit einem Plädoyer für eine funktional beschränkte Literatur verbunden werden.129 Die vieldiskutierte Krise

124 Erofeev 1990. „In einer postutopischen Gesellschaft ist es endlich an der Zeit, zur Literatur zurückzukehren.“ 125 Vgl. für eine Einordnung beider Beiträge im Rahmen der russischen Literaturkritik der 1990er Jahre auch Latynina/Dewhirst 2002. 126 Ageev 1991, S. 17. 127 Vgl. Ageev 1991, S. 17. 128 Vgl. Ageev 1991, S. 21. 129 Vgl. für weitere Stimmen die Literaturhinweise bei Menzel 2005, S. 75; Gudkov 1992.

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der Literatur ist für Erofeev und Ageev kein Grund zur Klage, sondern Keim der Hoffnung auf ein geläutertes Selbstverständnis, das nicht länger funktional und ästhetisch übergriffig ist, sondern sich in seinen ästhetischen Möglichkeiten selbst beschränkt. Einen paradigmatischen literarischen Ausdruck findet diese Haltung, folgt man Boris Noordenbos, in Vladimir Sorokins Prosa der 1990er Jahre: Sorokin’s novels and stories from this period express the self-conscious (and often paradoxical) belief that literature must avoid new claims to universal truth, and must, at all costs, evade the privileging of social mission over aesthetics.130

Die Frage der (All-)Zuständigkeit der Literatur stellt sich im russischen Fall traditionell auch im Verhältnis von Literatur und Geschichtswissenschaft. Die besondere Stellung dieser Paarung ist dabei literaturhistorisch grundiert,131 erhält ihre Brisanz aber vor allem durch die herausgehobene Relevanz historiographischer Literatur in der Perestrojka: „At no time has the relationship between history and literature in Russia been more significant than during the Gorbachev era“.132 Hier erlebt der historiographische Literaturzentrismus seinen letzten Höhepunkt. Mit dem Fall der Sowjetunion wird der Verlust seiner Reintegrationsfähigkeit dann innerhalb kürzester Zeit augenfällig. Dies zeigt sich an der Stellung historiographischer Literatur im Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Erbrachte Literatur hier im Zeitraum zuvor historiographische Reintegrations- und Ersatzleistungen, so wird nun offensichtlich, dass diese in einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht länger erbracht werden können und müssen. Dies soll hier in polemischer Kürze für die einzelnen Funktionssysteme durchdekliniert werden.133 • Politik: Insbesondere im Falle abweichender politischer Meinungen galt die Literatur lange Zeit als Ersatzform politischer Kommunikation. Angesichts des weitgehend blockierten politischen Kommunikationsfelds wurde die politische Debatte in vielen Fällen in die Literatur ausgelagert. Ganz deutlich wird dies während des Tauwetters, in dem zentrale Fragen wie die der Rehabilitation oder der Öffnung gen Westen primär literarisch vermittelt in die Diskussion eintreten.134 Für die späte Sowjetunion wird die Stellung der Literatur als 130 131 132 133

Noordenbos 2016, S. 60. Vgl. Wachtel 1994. Marsh 2007, S. 15. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wirtschaft bzw. Literatur und Massenmedien, einerseits weil sie in Unterkapitel 6.1 bereits ausführlich behandelt wurden, andererseits weil sie im Hinblick auf die historiographische Dimension des Literaturozentrismus an dieser Stelle vernachlässigbar erscheinen. 134 Vgl. hierfür mit einer Fülle an Beispielen Gilburd 2018.

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Politiksurrogat wohl am besten daran deutlich, dass viele Dissidenten literarische Werke schrieben und verbreiteten. Mit dem Ende der sowjetischen Organisationsgesellschaft entfallen diese systemfremden Umwege. Wer nun alternative Vorschläge für politisches Handeln hat, geht in die Duma oder eine politische Talkshow, muss aber keine literarischen Werke darüber verfassen, um gehört zu werden.135 • Wissenschaft: Aufgrund der mangelnden Freiheit insbesondere der sowjetischen Sozial- und Geisteswissenschaften galt Literatur als zuverlässige Informationsquelle, um sich über wissenschaftliche Entwicklungen zu informieren. Insbesondere im Bereich der Geschichtswissenschaft übernahm die Literatur lange Zeit – und in beispielloser Form während der Perestrojka – eine Informationsfunktion, die eigentlich ins Aufgabengebiet der Wissenschaft fiel. Wollte man etwas über den russischen Bürgerkrieg erfahren, griff man eher zu ­Trifonovs Starik als zum russischen Geschichtsbuch. Interessierte man sich für die Soziologie der sowjetischen Gesellschaft, konsultierte man die Werke der sogenannten Byt-Prosa, die – man beachte nur ein Werk wie Natal’ja ­Baranskajas Nedelja kak nedelja (Woche für Woche, 1969) – von qualitativsoziologischer Forschung kaum zu unterscheiden war. Mit der Lockerung der Zensur, der Öffnung der Archive und der Zugänglichkeit aktueller, häufig westlicher Forschung, schwindet diese substituierende Funktion des Literarischen. • Recht: Die Betrachtung von Literatur als Ort eigentlicher Rechtsprechung hat in Russland eine lange Tradition und spielt im 19. Jahrhundert vor allem bei Dostoevskij eine entscheidende Rolle. Die systemfremde Übernahme der Aufgabe der Rechtsprechung ist jedoch auch im sowjetischen Kontext bedeutsam. Aus historischer Sicht ist vor allem die Frage der Rehabilitierung interessant, die rechtlich häufig schleppend verläuft und die deshalb literarische Werke stellvertretend betreiben – so z. B. in einem Roman wie Venjamin Kaverins Dvojnoj portret (Das doppelte Porträt, 1967). In einem Rechtsstaat, der Russland Anfang der 1990er Jahre trotz mancher Hindernisse zu werden verspricht, wird diese Rolle nach und nach obsolet.136 • Religion: Die Sowjetunion bezeichnete sich selbst als atheistischen Staat und wies der Religion somit keinen Ort innerhalb der Gesellschaft zu. Das 135 Am deutlichsten wird dieser Wandel bei politisch hochsensibilisierten Personen wie Solženicyn oder Rasputin. 136 Freilich erfüllte sich diese Hoffnung nicht, weshalb Literatur und Kunst bereits kurz nach der Wende wieder begannen, rechtliche Ansprüche zu reklamieren. Die Konflikte, die sich daraus mit ergaben, schildern Sandra Frimmel und Mara Traumane in Kunst vor Gericht. Ästhetische Debatten im Gerichtssaal (2018).

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r­ eligiöse Transzendenzbedürfnis, das in Russland in orthodoxer Tradition steht, wurde in vielen Fällen von der Literatur erfüllt. Literatur fungiert als Medium religiöser Diskussion – in so unterschiedlichen Formen wie der Lyrik rund um das Petersburger religiös-philosophische Seminar,137 den Romanen der Dorfprosa 138 oder der Prosa Vladimir Tendrjakovs 139. In dem Moment, in dem Religion wieder einen offiziellen Ort innerhalb des gesellschaftlichen Feldes zugewiesen bekommt, entfällt die Notwendigkeit einer literatursystemischen Ersatzleistung. • Erziehung: Das Russische unterscheidet zwischen geistig-moralischer Erziehung (vospitanie) und weltlich-pragmatischer Bildung (obrazovanie). Insbesondere die sittliche Erziehung wird in Russland seit dem 19. Jahrhundert als Aufgabe der Literatur angesehen. Der selbstverständliche, positiv konnotierte Rückbezug auf das literarische Erbe als Quelle sittlicher Charakterbildung ist angesichts der oben zitierten Diskussionen um den Nexus zwischen Literatur und Totalitarismus Anfang der 1990er Jahre problematischer denn je. Es finden sich kaum noch Autoren, die diesen Anspruch für sich reklamieren würden, und das Brechen ästhetischer und sittlicher Tabus führt denn auch dazu, dass der Verlust dieser Leitstellung der Literatur in der Erziehung von konservativer Seite lauthals beklagt wird. Dies mag man teilen oder nicht, die Textpraktiken des moralischen Appells, die die späte Sowjetzeit geprägt hatten, verlieren in jedem Falle an Bedeutung. Die oben stehenden Ausführungen bedeuten nicht, um Missverständnissen an dieser Stelle vorzubeugen, dass in der Literatur nicht länger über Politik, Wissen­ schaft, Recht, Religion oder Erziehung kommuniziert wird. Thematisch bleiben diese Felder cum grano salis so bedeutsam wie zuvor. Was sich ändert, sind die systemischen Funktionen und die externen Funktionszuschreibungen.140 Die eben skizzierten Ersatzleistungen hatten dabei stets eine historiographische Dimension. Der historiographische Kompetenzvorsprung der Literatur – in politischer, religiöser, wissenschaftlicher, erzieherischer und rechtlicher Dimension – spielte eine zentrale Rolle für Selbstbeschreibungsformeln des ­Literaturzentrismus. 137 138 139 140

Vgl. Zitzewitz 2016. Vgl. Razuvalova 2015. Holtmeier 1986. Dies wäre sicherlich in jedem Einzelfall in historisch sensibilisierten Untersuchungen gesondert aufzuzeigen, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Die allgegenwärtigen zeitgenössischen Diagnosen des Endes der Literaturokratie rechtfertigen jedoch die hier formulierten und zugegeben allgemein gehaltenen Thesen.

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Die hier zusammengefasste Kritik an der Übernahme verschiedener Funktionskontexte bedeutet nicht, dass es nicht auch nach dem Ende der Sowjetunion literarische Werke und Autoren gab, die solche Ansprüche transportieren und ­ästhetisch exerzieren würden. Was verschwand, war die Leitstellung der Literatur als Institution gesellschaftlicher Selbstbeschreibung oder, wie Berg es nennt, die Rolle von „Literatur als sozialer Institution“.141 Angesichts dieser rasant um sich greifenden Realität gesellschaftlicher Ausdifferenzierung kam metahistoriographischen Beschreibungsformen eine heraus­ gehobene Rolle zu. Sie dienten als Reflexionsmedium, um zu eruieren, was Literatur, die nur mehr Literatur sein konnte und wollte – um die Schlussworte aus Erofeevs Essay aufzugreifen – noch zu leisten imstande war. Metahistoriographie als Medium der Reflexion über den Status der Literatur erwuchs dabei nicht zuletzt aus der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit einem literarischen Erbe, das das Metapräfix vorrangig in reintegrativer Weise verstanden hatte. Die 1990er Jahre sind daher nicht zufällig das Jahrzehnt, in welchem diese Auseinandersetzung mit den Klassikern des 19. und 20. Jahrhundert am erbittertsten tobt.

Dimensionen historiographischer Reintegration Die Möglichkeit einer Metaregulierung der über binäre Eigencodierungen und Autopoiesis autonomen Funktionssysteme ist innerhalb einer funktional diffe­ renzierten Gesellschaft eigentlich ausgeschlossen.142 Es gibt keinen Ort, in dem innerhalb der Gesellschaft Inklusion bzw. Exklusion stellvertretend für alle Funktionssysteme übernommen werden könnte. Es gibt keinen Metacode, der die Codierungen der Funktionssysteme determinieren würde – dies gilt aus empirischen ebenso sehr wie aus logischen Gründen.143 Das heißt natürlich noch nicht, dass solche Metacodierungen nicht verhandelt würden, man denke nur an den Marxismus mit seiner Privilegierung ökonomischer Unterscheidungen oder an religiöse Fundamentalismen. Jenen Leitdifferenzen fehlt [aber] die Möglichkeit der Selbstkorrektur. Sie ermöglichen keine Erfahrungen, durch die sie aus den Angeln gehoben werden könnten. Allen Informationen geben sie von vornherein die Option für die eine oder die andere Seite mit auf den Weg. […] Gibt man das Schema auf, so hat man zunächst nichts als Chaos vor Augen.144 141 Berg 2000, S. 208. 142 Vgl. Luhmann 1998, S. 1043; Fuchs 1992. 143 Das Ausführen dieser Argumente würde an dieser Stelle vom Thema wegführen, vgl. deshalb Luhmann 1998, S. 866 ff. 144 Luhmann 1988, S. 151.

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Eben dieses Chaos prägte nun die sowjetische Diskussion um die Literatur während des Interregnums. Die Chaossemantik wird so nicht zufällig auch im russischen Kontext in den 1990er Jahren (über-)strapaziert, um die neue gesellschaftliche Wirklichkeit zu fassen. Mark Lipoveckij hat den Chaosbegriff in seiner Analyse der russischen Literatur des Interregnums am prominentesten platziert und ihn rückgekoppelt an die Evolution der Postmoderne. The formation of a new, “nonclassical”, “chaosmic” system within an artistic whole is also a possibility due to the artistic strategy […] aimed at the formation of explosive ‚para­ logical’ compromises between binary oppositions and the destruction of stable cultural hierarchies while identifying “dissipative structures” in chaos, which in postmodernism is equal to the mixture of different voices and images of the cultural past and present. This artistic strategy might be called dialogue with chaos, a strategy that marks the boundaries between modernism and postmodernism.145

Diesem ästhetischen Dialog mit dem Chaos steht als Gegenrede ein Monolog mit der Stabilität gegenüber, der in seiner Suche nach neuen Einheitssemantiken für den Zeitraum des Interregnums ebenso prägend wie die postmoderne Chaossemantik ist. In der Folge soll nun gezeigt werden, wie sich der monologische Stabilitätsmodus als reintegrative Praxis historiographisch bestimmen lässt. Der einfachste und etablierteste Modus der Reintegration ist die Negation der Trennung der Funktionssysteme und damit verbunden die Kontinuität einer gesellschaftlichen Einheitssemantik, die sich wahlweise in religiösem, politischem oder wissenschaftlichem Gewand äußert. Dieser Modus soll hier – da die Traditionen, in denen er sich seit dem 19. Jahrhundert bewegt, wohl bekannt sind 146 – nicht gesondert besprochen werden. Stattdessen sollen drei Strategien der Reintegration, Luhmann spricht an einer Stelle von „Auffangsemantiken“,147 kurz historiographisch dekliniert werden, die auch Luhmann in seiner Analyse der Selbstbeschreibungsmuster funktional ausdifferenzierter Gesellschaften betont: die Flucht ins Subjekt, die Universalisierung der Moral und die Unterscheidung von Nationen.148 Auffangsemantiken dienen dazu, die Realität funktional differenzierter Gesellschaften über gesellschaftliche Selbstbeschreibungen zu maskieren und an deren Stelle alternative

145 146 147 148

Lipovetsky 1999, S. 33, Hervorhebungen im Original. Vgl. Kretzschmar 2002. Luhmann 1998, S. 1045. Die vierte von Luhmann diskutierte Reintegrationssemantik, die Klassensemantik, spielt – ob der offensichtlichen historischen Vorbelastung durch den real existierenden Sozialismus – im Interregnum eine untergeordnete Rolle und wird deshalb an dieser Stelle nicht diskutiert.

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S­ trukturierungsformeln zu entwickeln. Die einzelnen Semantiken können dabei nicht immer trennscharf unterschieden werden und gehen in den meisten Fällen – mit Abstufungen in der Betonung – Symbiosen ein. Die Trennung ist deswegen heuristischer Natur. Der dynamischste Reintegrationskontext der 1990er Jahre in Russland ist die Semantik des Nationalen, die seit Beginn „zu den auffallenden Begleitphänomenen der semantischen Reaktion auf funktionale Differenzierung gehört“.149 War die Einheitssemantik des Nationalen in der Sowjetunion in weiten Teilen blockiert, so ändert sich das nun, was durch die Renaissance national gesinnter Vordenker des 19. und 20. Jahrhunderts unterstützt wird. Unter diesen ragt das von Nikolaj Berdjaev popularisierte Konzept der „Russischen Idee“ heraus, auf die sich Politiker wie Autoren berufen. Wichtigster Propagandist einer nationalen Einheitssemantik, die Belarusen und Ukrainer ungefragt mit einschloss, war Aleksandr Solženicyn, der solche Ideen bereits in der Emigration vertreten hatte. Mit am deutlichsten wird er das in seinem 1994 veröffentlichten Essay „Russkij vopros“ k koncu XX veka (Die „russische Frage“ am Ende des 20. Jahrhunderts, 1994), in dessen Schlussteil er zu folgendem patriotischen Crescendo anhebt: «Русский вопрос» к концу XX века стоит очень недвусмысленно: быть нашему народу или не быть? Да, по всему земному шару катится волна плоской, пошлой нивелировки культур, традиций, национальностей, характеров. Однако сколькие выстаивают против неё без пошата и даже гордо! Но – не мы … И если дело пойдёт так и дальше – то ещё через век слово «русский» как бы не пришлось вычёркивать из словарей.150

Die Notwendigkeit des Bewahrens der russischen Idee erwächst dabei – und darum kreist der Hauptteil des Essays – aus der russischen Geschichte, vor der großgeschriebenen „Velikaja Russkaja Katastrofa“ (140) des 20. Jahrhunderts. Für Solženicyn war die Geschichte das Medium, mit dem sich die Einheit des sozial und ideell fragmentierten Landes erreichen ließ – sein Programm verkörpert die Idee einer Reintegration durch Nationalgeschichte somit im Idealtypus. Mit solchen Gedanken bereitet er das diskursive Feld für zwei Wettbewerbe, die die russische Regierung 1996 und 1999 auslobte. In ihnen sollte eine „Idee für 149 Luhmann 1998, S. 1045. 150 Solženicyn 1994, S. 176, Hervorhebungen im Original; „Die ‚russische Frage‘ am Ende des 20. Jahrhunderts lautet ganz eindeutig: Sein oder Nicht-Sein. Den ganzen Erdkreis erfasst im Moment eine Welle der platten, vulgären Nivellierung von Kulturen, Traditionen, Nationalitäten, Charakteren. Einige stellen sich ihr stolz und ohne zu wanken entgegen. Aber nicht wir!… Und wenn die Dinge so weitergehen – so könnte in einem Jahrhundert das Wort „Russisch“ aus den Wörterbüchern gestrichen werden müssen.“

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­ ussland“ gefunden werden, mit der sich das Land wieder einen ließ.151 Die IniR tiative 1999 wurde dabei nicht zufällig mit dem 200-jährigen Geburtstag Puškins gekoppelt, wurde doch die russische Literaturgeschichte als bevorzugtes Sprachrohr dieser „Russischen Idee“ verstanden. Auf die Rückstände eines solch national grundierten historiosophischen Selbstverständnisses sind wir in diesem Kapitel bei so unterschiedlichen Autoren wie Vladimir Šarov, Dmitrij Galkovskij und Aleksandr Sokurov gestoßen. In Bezug auf die Inhalte kann die Semantik des Nationalen freilich für die einzelnen Funktionssysteme kaum Orientierung geben. Man kann zwar fordern, man solle „russisch“ schreiben oder regieren, aber was das konkret bedeutet, lässt sich kaum ausführen. Die Idee der Nation ist eine typisch „transitorische […] Semantik, die eine Übergangszeit faszinieren konnten, ohne zu verraten, auf welche Gesellschaftssysteme sie bezogen waren“.152 Dass diese transitorische Semantik in der Zeit danach kaum an Attraktivität verloren hat, ist weniger Relativierung des eben Zitierten, sondern eher Ausdruck einer künstlichen Prolongierung einer Übergangssemantik aus Mangel an Alternativen. Als zweite Kompensationssemantik rückt die Reintegration durch Moral in den Fokus unserer Betrachtung. Folgt man Luhmann, so tendiert Moral zur Hypertrophierung und Universalisierung ihrer Leitunterscheidung gut – schlecht.153 Die Grundidee einer moralischen Auffangsemantik besteht darin, die Inklusionsmuster der einzelnen Funktionssysteme durch eine Art Superinklusion über moralische Kommunikation zu ersetzen. Die Frage, was schön, wirtschaftlich, wahr oder heilig ist, wird mit dem Supercode des Guten bzw. Schlechten überschrieben. Im westeuropäischen Kunstsystem war eine solche Kopplung bis ins 18. Jahrhundert hinein zu beobachten,154 verschwand dann aber ob der gestiegenen Autonomieansprüche der Kunst sukzessive. In der russischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts spielt die Kopplung von Moral und Literatur eine herausgehobene Rolle. Viele Texte, insbesondere D ­ ostoevskijs und Tolstojs, lesen sich als moralphilosophische Traktate und waren auch als solche gedacht gewesen. An diese Tradition sollte nun nach dem Ende des Kommunismus wieder angeknüpft werden. Erneut lässt sich hierfür Solženicyns Essay zitieren: „Мы должны строить Россию нравственную.“ 155 Was war damit 151 152 153 154 155

Vgl. für eine detaillierte Darstellung Marsh 2007, S. 107 ff. Luhmann 1998, S. 1055. Luhmann 1998, S. 1036 – 1045. Vgl. Luhmann 1995, S. 439. Solženicyn 1994, S. 176; „Wir müssen ein sittliches Russland bauen“, Hervorhebung im Original.

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Verortungen II

gemeint? Man konnte das als Aufforderung interpretieren, erbauliche Sujets auszuwählen und mit diesen den Lesern moralische Orientierung zu verleihen. Man konnte es aber auch dialektisch interpretieren als Schilderung besonders schrecklicher Sujets, um anhand dieser die Prädisposition der Russen zum Leiden herauszustellen und das individuelle Leiden als Übernahme einer imaginierten Kollektivstrafe für die menschliche Sündhaftigkeit im 20. Jahrhundert inszenieren. Dies geschieht bei Svetlana Aleksievič. Für eine moralische Sicht auf die Literatur wurden sogar Preise ausgelobt, so gibt es seit 1997 den Sacharov-Preis für den engagiertesten literarischen Verteidiger der Menschenrechte und den Solženicyn-Preis für das Werk, das am besten die moralischen und spirituellen Traditionen der russischen Literatur verkörpert.156 Eine solche Sicht rief ästhetisch eine ganze Reihe an Gegenreaktionen hervor, deren deutlichster Ausdruck die Černucha-Ästhetik des Interregnums darstellt, die den bewussten Bruch moralischer Konventionen ins Zentrum rückt. Bestes Beispiel für die Sicht einer moralischen Reintegration innerhalb der literarischen Historiographie ist Ljudmila Ulickaja. Das Sujet ihrer Werke wird stets von einer Gut-böse-Dichotomie dominiert, wobei die Hauptfiguren superero­gatorisches Verhalten an den Tag legen und teilweise sogar als sakrale Gestalten gezeichnet werden (am deutlichsten in Daniėl Štajn). Problematisch an solchen Darstellungsmustern ist, dass die Moralisierung der Sujets mit einem Verzicht auf Kontingenz einhergeht. Sie führt – wie wir gesehen haben – sogar so weit, Literatur als moralisches Korrektiv des geschichtlichen Prozesses zu betrachten. Ulickajas konsequente Moralisierung der Historie endet so in einer autorzentrierten Moralistik. Eine solche Sichtweise landet früher oder später – da sie sich nicht auf die Stufe der Ethik als Theorie möglicher Handlungsverpflichtungen emporheben kann – in einer individualistischen Aporie. Zur Richtschnur des moralisch richtigen Verhaltens wird niemand Geringeres als der Autor selbst. Die Flucht ins Subjekt, wie Luhmann es nennt, ist denn auch abschließend neben Moral und Nation als dritter Reintegrationsmodus zu diskutieren: „Die Figur des Subjekts hatte die Funktion, die Inklusion aller in die Gesellschaft durch Appell an die Selbstreferenz eines jeden zu begründen.“ 157 Die Rhetorik des Appells, die dieser Form der Kompensation inhärent ist, fundiert denn auch die Kopplung an die Moral. Sie richtet sich direkt an den Menschen und dessen Menschsein. Am Beispiel Svetlana Aleksievičs haben wir gesehen, wie eine solche emotional grundierte Semantik des Humanismus historiographisch produktiv gemacht 156 Vgl. Marsh 2007, S. 67. 157 Luhmann 1998, S. 1025.

Reflexion, Reintegration, Restauration351

werden kann. Die Flucht ins Subjekt lässt sich literarisch dabei nur als Flucht in ein emphatisches Autorverständnis exerzieren. Die Schriftstellerin selbst wird zur Richterin, die historische Urteile spricht, ästhetische Gestaltung ist durch den Körper der Autorin bestimmt. In Verwandtschaft zu solchen subjektzentrierten Autoremphasen steht der autobiographische Boom der 1990er Jahre. Solche autobiographischen Werke stehen häufig „im Zeichen einer existentiellen Distanz“ 158 zur Geschichte und zeigen in ihrer Verweigerung der Verzeitlichung der eigenen Biographie einen Unwillen, diese als geschichtliche Erfahrung zu verarbeiten. Ausdruck der Flucht ins Subjekt ist allerdings auch die Suprasemantik der Freiheit, die in den 1990er Jahren in Russland einen Höhepunkt erlebt. Sie findet man beispielsweise bei Aleksandr Ageev. Bei ihm ist die Idee einer differenzierten, mehretagigen Kultur nur „gut, solange sie dem Prinzip der Wahlfreiheit entspricht“.159 Mit einer individualistischen Semantik der Freiheit ist freilich über Gesellschaft noch nichts ausgesagt – vielmehr umgeht sie die Frage nach der Gesellschaft als einer Sozialordnung und schließt sie im Prinzip aus.160 Die Diskussion des Spannungsverhältnisses von Reflexion und Reintegration kann helfen, die gesellschaftliche Signifikanz der hier diskutierten Entwicklungen plausibel zu machen. Gesellschaftliche Entwicklungen und ästhetische Debatten gehen Hand in Hand und verweisen aufeinander. Anhand der Entwicklungsgeschichte metahistoriographischer Fiktion zeigen sich Konfliktdynamiken, die für die Zeit des Interregnums als Ganzes entscheidend sind. Im Laufe der 1990er Jahre lässt sich eine verstärkte Tendenz zur Reintegration beobachten, die das Primat der Reflexion, das insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre floriert, sukzessive ablöst. Diese Tendenz signalisiert schließlich auch das Ende des Interregnums als einem historischen Möglichkeitsraum. Zwischen 1999 und 2001 bilden sich die politischen und ästhetischen Koordinaten, die in der Folge das Nachdenken über Geschichte bestimmen. Welche diese sind, ist Gegenstand des letzten Teils.

158 Witte 2018, S. 1. 159 Ageev 1991, S. 21; „хорошо, поскольку соответствует принципу свободы выбора“. 160 Vgl. Luhmann 1998, S. 1030.

Die Mobilmachung der Geschichte – Metahistoriographie in der Metamoderne

Ende der 1990er Jahre tritt die russische Gesellschaft in eine neue Phase ein. Die Wirtschaftskrise 1998, der Beginn des Putinismus und dessen neotraditionalistische Wende,1 die veränderte Stellung Russlands in der Weltordnung nach dem 11. September, um hier nur die wichtigsten Einschnitte zu nennen – all dies führt zur Entstehung und Konsolidierung neuer Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen.2 Ihre Genese hat mittlerweile bereits erste Historisierungsversuche erlebt, überwiegend im Modus der Verfallsgeschichte.3 Inwiefern mit diesem Umbruch auch ein kultureller Wandel verbunden ist und wie dieser im uns interessierenden Feld literarischer Historiographie interpretiert werden könnte, ist offen. Als argumentative Orientierungsgrößen kommen technische Innovationen wie der Aufstieg des Internets 4 und des Web 2.0 in den Sinn (siehe für eine Analyse in diese Richtung Unterkapitel 9.1). Hinzuweisen ist auch auf die Diskussionen um das Ende der russischen Postmoderne 5 und die damit verbundene Suche nach alternativen Leitparadigmen, von denen der ‚Neue Realismus‘ wahrscheinlich das bekannteste ist.6 Eine weitere Verschiebung adressiert Nina Weller in ihrem Werk Zwischenzeit, das sich mit Aleksandr Iličevskijs Matiss (2007) und Sergej Bolmats V vozduche (In der Luft, 2003) auseinandersetzt. Sie konstatiert eine Hinwendung der russischen Prosa der 2000er Jahre zu subjektiven Erfahrungswelten,7 für die der gegenwärtige Moment wichtiger sei als die Vertiefung ins Vergangene (30). Angelehnt an Sergej Čuprinins Diagnose einer middl-literatura erkundet Weller „Chronotopoi des Unterwegsseins als Daseinsmodus transitorischer L ­ ebensentwürfe“ 1 Gudkov 2002. 2 Vlad Strukov und Sarah Hudspith sehen das ähnlich und schreiben: „the period of the 1990s is an extension of the previous era during which the emphasis was on de-sovietization, whilst the 2000s is a completely new period which has a new range of objectives“ (Strukov/Hudspith 2018, S. 8). 3 Masha Gessen geht sogar so weit, in ihrem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämierten Werk The Future is History (2017) von einer Rückkehr des Totalitarismus zu sprechen. Ähnlich deutliche Regressionstöne erklingen auch bei Roudakova 2017. Für den westeuropäischen Kontext spricht Raphael (2019) ebenfalls von einer Zäsur um das Jahr 2000 (475 – 477) und führt dafür medienhistorische, sozialstrukturelle und politische Faktoren an. 4 Schmid 2011. 5 Die Debatte wird ausgelöst durch Michail Ėpštejns Essay Proto-, ili Konec postmodernizm (Proto- oder das Ende des Postmodernismus, 1996), eine Zusammenfassung der Debatte findet sich bei Lipoveckij 2002. 6 Vgl. für eine Diskussion der Manifeste des Novyj realizm Anfang der 2000er Jahre Kalita 2014. 7 Weller 2017, S. 3.

356

Die Mobilmachung der Geschichte

(29), die sich einer Zuordnung zu den Polen bisheriger Beschreibungsmodelle der postsowjetischen Literatur widersetzten (19). Wendet man diese Privilegierung des Zwischenräumlichen ins Zeitliche, wie der Titel ihrer Abhandlung suggeriert, kann man von einer Privilegierung des Gegenwärtigen sprechen, die Primärorientierungen an Vergangenheit und/oder Zukunft ersetzt.8 Die Konturen der Zwischenzeit lassen sich als Variation des Primats der Vergegenwärtigung interpretieren, das in der Einleitung zum zweiten Teil dieser Arbeit entfaltet wurde. Im Gegensatz zum politischen Gestaltungsimperativ des Interregnums gewinnt in den historiographischen Vergegenwärtigungen nun ein raum- und körperbewusster Präsentismus an Bedeutung, der am ehesten im Anschluss an Hans-Ulrich Gumbrechts These einer Verbreiterung der Gegenwart gedeutet werden kann. Ihm zufolge wird die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Konfiguration des historischen Denkens seit etwa 50 Jahren durch andere Zeitregime ersetzt.9 Vergangenheit und Zukunft spielten in der breiten Gegenwart als Phänomen zwar weiterhin eine Rolle, „doch sie scheinen alle zurückgebogen zu werden in die Gegenwart, wo sie den Eindruck einer intransitiven ‚Mobilmachung‘ […] erzeugen“ (17). Als Charakteristika dieses historiographischen Präsentismus sind zu nennen: eine gestiegene Raumsensibilität, die landschaftlich erfahrbar und geopoetisch semantisiert wird und in den hier untersuchten Romanen Alan Čerčezovs (7.2), Aleksej Ivanovs, Guzel’ Jachinas (7.3) und Evgenij Vodolazkins (8.2) eine Rolle spielen wird; eine stärkere Orientierung hin zu populären Rezeptionshorizonten, die neue, intermedial inspirierte Kompositionsprinzipien motiviert, was in den Unterkapiteln zu Boris Akunin (7.1), Alexej Ivanov und Guzel’ Jachina sowie zu Marija Elifërova (7.2) von Bedeutung sein wird; schließlich eine existentielle Unsicherheit, die sich in einer Konjunktur unabgeschlossener Geschichten äußert und im Gegensatz zu den kompensatorischen Überanstrengungen in der Sinngebung des Historiographischen (vgl. 6.3) während des Interregnums steht. Diese lustvoll oder tragisch zelebrierte historiographische Unabschließbarkeit repräsentiert das Werk Boris Akunins ebenso wie Tat’jana Tolstajas Roman Kys’ mit seiner Verarbeitung auf Permanenz gestellter gesellschaftlicher Störungen. Gumbrechts These von der „Mobilmachung“ verweist noch auf einen zweiten, politischen Kontext, der den hier beschriebenen Zeitraum als distinkte 8 Das Paradigma der Zwischenzeit kann hierbei für die 2000er Jahre Gültigkeit beanspruchen, die literarischen Vektoren scheinen sich jedoch mit den politischen Ereignissen der Proteste 2012 und insbesondere der Annexion der Krim 2014 wesentlich verschoben zu haben, mehr hierzu in Kapitel 9. 9 Vgl. Gumbrecht 2011, S. 14.

Die Mobilmachung der Geschichte357

­ ntersuchungsperiode charakterisiert. Hier lässt sich an einen Gedanken Kevin U Platts anschließen: History in the 1990s in Russia was everywhere and it was nowhere. Since the start of the 2000s this situation has been coming to an end as a result of the efforts of the state, under successive Putin adiministrations, to articulate a new authoritative stance towards history.10

Platt referiert auf das veränderte geschichtspolitische Klima seit dem Amtsantritt Vladimir Putins, das zur Ausarbeitung einer neuen Geschichtspolitik führt.11 Mit Beginn der dritten Amtsperiode Putins 2012 ist noch einmal ein qualitativer Unterschied zu beobachten. Geschichte wird zu einem der wichtigsten Instrumente politischer Selbstverortung. Diesen Zeitraum gilt es besonders im Blick zu behalten. Die literarische Produktion und die damit verbundenen Selbstverortungen im kulturpolitischen Feld stehen in einem Zusammenhang mit dieser Mobilisierung der Historiographie und sollen auch im Hinblick auf diese untersucht werden, so z. B. im Unterkapitel zu Vodolazkin oder in den Analysen zur literarischen Darstellung der Revolution im Umfeld des hundertjährigen Jubiläums 2017. Hierbei soll es weniger um – sicherlich vorhandene – konkrete inhaltliche Unterschiede in der Deutung einzelner Ereignisse und Personen gehen als um epistemische Neusetzungen. Unter diesen nimmt die Rückkehr der Metanarrative, die in Unterkapitel 9.2 analysiert wird, aufgrund ihrer Gegenstellung zu Lyotards epochaler Postmodernethese vom „Ende der Großen Erzählungen“ eine herausgehobene Stellung ein. Sie wird zum Ankerpunkt der historiographischen Konkretisierung der im Titel zu diesem dritten Hauptkapitel genannten Metamoderne. „Metamodernism is a structure of feeling that emerged in the 2000s and has become the dominant cultural logic of Westen capitalist societies.“ 12 Auf diese Weise verstehen Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker den maßgeblich von ihnen geprägten Begriff des Metamodernismus. Zur Ästhetik des Metamodernismus gehören ihnen zufolge u. a. das Aufkommen einer neoromantischen Sensibilität, die Rehabilitation von Mythos und Metaxis, informierte Naivität, pragmatischer Idealismus, Engagement und Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die die postmoderne Orientierung an Ironie, Pastiche und Dekonstruktion ablösten. Ein wesentliches Merkmal der Metamoderne ist auch die Wiederentdeckung der Geschichte, die nicht, wie Francis Fukuyama meinte, an ein Ende gelangt sei, sondern die Vergangenheit als ­­Inspirations 10 Platt 2015, S. 69. 11 Vgl. Bürger 2018, Pearce 2020. 12 Vermeulen/van den Akker 2017, S. 4.

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Die Mobilmachung der Geschichte

und O ­ rientierungsquelle betrachtet.13 Obgleich die beiden Theoretiker ihre Diagnose auf westliche Gesellschaften einschränken, so finden sich doch viele der von ihnen formulierten Tendenzen auch in Russland.14 Die Aufwertung der Geschichte als sinnstiftende und sinnbildende Ressource von Macht und Gegenmacht spielt dort ebenso eine fundamentale Rolle wie die Komplementierung postmoderner Textpraktiken durch realistische und modernistische Erzählverfahren oder durch die öffentlichkeitswirksame Stilisierung engagierter Autorschaft. In der Diagnose der Metamoderne korrelieren so neue ästhetische Praktiken mit einem veränderten politischen Diskurs, was dem Begriff heuristischen Wert für die folgenden Analysen verleiht.

13 Vermeulen/van den Akker 2017, S. 2 f. Diese These, die sich abgrenzend zum Geschichtsverständnis der Postmoderne verhält, baut freilich auf einer Vereinfachung der Geschichtsdiskurse postmoderner Theoretiker auf und verkennt die große Bedeutung des Historischen in der Theoriebildung und ästhetischen Praxis vieler postmodern gelabelter Autoren. 14 Für eine Übertragung metamoderner Theorien auf Russland vgl. die Ausführungen in Unterkapitel 9.1.

7.  Die Popularität der Metahistoriographie Das Populäre als Mittel der Perspektivierung des Vergangenen zu betrachten, mag überraschen. Es wird gemeinhin mit „Schreibweisen der Gegenwart“ assoziiert und steht seit den ersten Versuchen der Theoretisierung in den 1960er Jahren im Bedingungsfeld der unmittelbaren Jetztzeit.1 Mit dem Begriff der Schreibweise wird eine bestimmte Produktionsweise des Populären suggeriert, dessen Publikumsorientierung es offenbar von anderen Formen nichtpopulären Schreibens unterscheidet, u. a. durch die Sujetorganisation, gattungspoetische Aspekte oder einen bestimmten Modus der Darstellung. Problematisch ist daran freilich, dass die Spezifik des Populären zwar jederzeit postuliert, aber nur in seltenen Fällen argumentativ überzeugend entfaltet werden kann.2 Dies gilt es einschränkend im Hinterkopf zu behalten, wenn in der Folge Serialität, der Kriminalroman oder Kinematographizität als distinkte Schreibweisen des Populären betrachtet werden. In Bezug auf die Darstellung von Geschichte wird populären Darstellungen ein Zugang sui generis zuerkannt. In einem Sammelband zur seit gut zwei Jahrzehnten boomenden Popular History heißt es, dass populäre Geschichtsdarstellungen seit dem 19. Jahrhundert einen eigenen Vergangenheitsbezug herstellten, der sich vom akademischen Diskurs abhebe.3 Populäre Geschichten scheinen dabei nicht bloß eine besondere Form von Geschichte darzustellen, sondern auch eine besondere gesellschaftliche Funktion auszuüben. Urs Stäheli unterscheidet drei Funktionen des Populären: „das Populäre als Kompensation funktionaler Differenzierung (1), das Populäre als Repräsentationsmodus weltgesellschaft­ licher Einheit (2), das Populäre als inklusionstheoretische Differenz (3)“.4 ­Stäheli betrachtet das Populäre vor allem als Generator von Unbestimmtheiten in den Funktionssystemen (320). Genau dieser Aspekt scheint hier von Interesse. Welcher Art diese Unbestimmtheiten im historischen Feld sind und inwiefern das Populäre einen distinkten Reflexionsmodus historischer Erkenntnisbildung darstellt, ist Gegenstand der folgenden Analysen.

1 Vgl. Schuhmacher 2003, v. a. S. 9 – 55 zur Entfaltung dieser These. 2 Dass diese Unterschiede markiert werden, erscheint zentral, so Huck und Zorn mit Blick auf Abgrenzungen zum Populären im modernen Diskurs zur Ästhetik (Huck/ Zorn 2007, S. 16). 3 Korte/Paletschek 2012, S. 10. 4 Stäheli 2007, S. 306.

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Die Popularität der Metahistoriographie

7.1  End-Täuschung in Serie – Boris Akunins Kriminalfiktionen Eine Erzählung hat einen Anfang und ein Ende. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit der aristotelischen Regelpoetik nimmt in Erzähltheorien bis heute eine zentrale Stellung ein. So betont Albrecht Koschorke in Wahrheit und Erfindung den ganzheitlichen Charakter der Erzählung: „Wie eine Kapsel schließt sie sich in das doppelte Band ihrer Vorwärts- und Rückwärtsmotivierungen, vom Anfang und vom Ende her, ein.“ Koschorke spricht in Bezug auf diese vermeintliche Konstante narrativer Sequenzbildung metaphorisch von einer „schleifenförmigen Bewegung“,5 die sich auf verschiedenen Ebenen der erzählerischen Struktur wiederhole. Serielle Erzählformen verwandeln diese Schleife – bleibt man im Metaphernfeld der Bindekunstformen – in ein Möbiusband. Während bei einer Schleife – sei sie auch noch so verknotet und verziert – Anfang und Ende markiert bleiben, entzieht sich das Möbiusband einer solchen Festlegung. Zwar beginnen und enden auch serialisierte Erzählformen an bestimmten Zeitpunkten, ihre Logik des Sinns ist jedoch anderer Natur. Serialität zeichnet sich für Gilles Deleuze, einen ihrer maßgeblichen Theoretiker, durch drei Merkmale aus: fortwährende Verschiebung, ein Übermaß an Signifikantem und die unablässige Zirkulation einer doppelseitigen Instanz, die zwischen „Wort und Ding, Name und Gegenstand, Sinn und Bezeichnete[m], Ausdruck und Bezeichnung“ changiert.6 Sein überraschender Grundgedanke lautet, dass serielle Anordnungen „nicht identisch kopierend, sondern genuin produktiv, nämliche Abweichendes, Neues schöpfend“ sind.7 Serien greifen nicht bloß auf erfolgreiche Vorbilder zurück, sondern variieren diese und erzeugen auf diese Weise Innovation. Serialität steht immer in der dialektischen Bewegung zwischen Identität und Differenz. Diese Dialektik findet sich auch auf der Ebene der Zeitformen. Deleuze unterscheidet hier zwei Formen, von denen die eine die Zeit „chronologisch vereint“ und die andere die Zeit „heterochron aufspaltet“.8 Zur chronologischen Sphäre gehören – so ließe sich im Anschluss an Deleuze und seinen Exegeten O ­ liver Fahle zusammenfassen – Identität, Linearität und Kontinuität, die äonische Zeit steht für Paradoxalität, Heterochronie und Kontingenz. Die destabilisierende Wirkung dieses Widerstreits zeitigt eine rekursive temporale Operationsweise. 5 6 7 8

Koschorke 2012, S. 61. Deleuze 1993, S. 61 f. Rothöhler 2020, S. 119. Fahle 2012, S. 177 f.

End-Täuschung in Serie361

Identität ist stets prekär, bleibt zeitlich begrenzt und muss in jeder Episode aufs Neue hergestellt werden. Rückkopplungen, Regressionen und Rekursivitäten ergeben sich dabei nicht nur innerhalb der narrativen Diegese, sondern auch zwischen Konstruktion und Rezeption des Werkes. Auf diese Weise wird die Orientierung an Anfang und Ende aufgehoben und ersetzt durch eine Sequenzbildung, deren Sinnhaftigkeit erst in der Reflexion der Reihung zu Tage tritt. Serialität definiert sich somit durch Reentry-Operationen, die sowohl systeminterne als auch System-Umwelt-Relationen umfassen. Diese Operationslogik des Reentry lässt sich nicht durch eine Temporalisierung ihrer Teilelemente auflösen. Eine solche wäre etwa die bereits genannte Differenz zwischen Anfang und Ende. Es ließen sich aber noch weitere Differenzen summieren, die in gleicher Weise – und hierauf weist Armin Nassehi hin – unzureichend wären: Man muß mehr und mehr erwarten, daß strukturgebende Erwartungen oft nicht erwartbar sind. Für das Verständnis von Zeit muß das jedoch nicht bedeuten, daß man wie ­Baudrillard ihr Ende postuliert, weil sie selbst keine sinnstiftende, Einheit zwischen Gegenwarten herstellende Funktion mehr hat. Im Gegenteil ist gerade die zunehmende Dynamik der Moderne ein Symptom dafür, daß die Zeit als Beobachtungsschema erst recht hervortritt: Sie ist als Chronos quasi eigenständig geworden, weil die Differenz Vorher/Nachher bzw. Vergangenheit/Zukunft das, was sie in der Sach- oder Sozialdimension ausdrückt, gerade nicht qualifizieren kann.9

Wie lässt sich mit dieser Krisis temporaler Differenzierung in ein Früheres und Späteres umgehen? Denkbar wäre eine Absage an Zeit als Ordnungsfaktor, wie wir sie bereits im Mauvismus (1.3) beobachten konnten. Denkbar wäre auch eine Absage an Geschichtlichkeit, wie sie im Posthistoire und insbesondere in Francis Fukuyamas Diagnose vom Ende der Geschichte aufscheint. Von einer Eigenständigkeit des Chronos kann in beiden Fällen aber keine Rede sein. Serialität hingegen etabliert ein Schema der Beobachtung, das diese Eigenständigkeit ernst nimmt und abseits der Differenz des Vorherigen und Nachherigen temporal neu konfiguriert. Umberto Eco hat diese Neukonfiguration als Ausdruck einer post-postmodernen Ästhetik 10 qualifiziert. Ihre Zeitorganisation folge dem Modus der Wiederholung, dessen jeweilige Differenzbildungen, wie wir noch sehen werden, nicht nur temporal verstanden werden können. Die Idee eines Einheitspunkts in Form künstlerischer Originalität wird hier negiert (vgl. 155) und substituiert durch „einen neuen Begriff von [der] ‚Unendlichkeit des Textes‘“ (174). Hiermit sind neue formale Grundverständnisse verbunden, die neue Semantiken produzieren, die jeweils ein eigenes reflexives Potential beinhalten. Diesem wollen wir nun nachgehen. 9 Nassehi 2008, S. 343, Hervorhebungen im Original. 10 Eco 1988, S. 177.

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Die Popularität der Metahistoriographie

Serialität und Historizität Was bedeuten diese einleitenden Überlegungen für den historischen Charakter des Seriellen? Im Selbstverständnis moderner bzw. ‚aufgeklärter‘ Zeitlichkeit galt jede Form von Wiederholung zunächst als Form defizitärer Historizität. Letzteres schimmert beispielsweise in Marx’ berühmtem Diktum durch, laut dem sich Geschichte zunächst als Tragödie und dann als Farce ereigne. Während die Tragödie kathartisches Potential in sich berge, stehe die Wiederholung als Farce für eine ästhetisch defizitäre Form und für den sozialen Alptraum der „Tradition aller toten Geschlechter“, den Marx in seiner Schrift wenig später beklagt.11 Diese negierende Sicht radikalisiert sich im 20. Jahrhundert, als serielle Produktionsprinzipien zum Signum der modernen Zeiten und deren vermeintlichen Entfremdungen werden. Als Kulminationspunkt dieser Skepsis gegenüber dem Seriellen kann laut Christine Blättler Jean-Paul Sartres Critique de la raison dialectique (1960) gelten, in der er Serialität als „Struktur der sozialen Gleichschaltung“ definiert,12 die für Vereinzelung, Entfremdung und Ohnmacht (73) steht.13 Gegen diese Form organisierten Sinnverlusts durch Serialität betont Sartre das spontaneistische Potential revolutionärer Aktionen, die die grenzüberschreitende Qualität geschichtlichen Handelns in sich bärgen. Im Gegensatz hierzu lokalisiert Gilles Deleuze schöpferische Potenz gerade innerhalb des Seriellen. Er kehrt die Position Sartres um und macht das Prinzip der Wiederholung als Differenz Generierendes stark, das Pluralität her- und Identität in Frage stelle.14 Was bedeutet dieser Prozess der Umwertung aber für den historischen Charakter der Wiederholung? Deleuze differenziert in seinem philosophischen Hauptwerk Différence et répétition (1968) im Ausgang von obigem Marx-Zitat drei Modi der Wiederholung: die komische, die tragische und – als drittes, bei Marx nicht genanntes Element – die dramatische Wiederholung. Die dritte Form bereite dabei – ähnlich Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr – den Raum für einen „Augenblick der Zäsur oder der Verwandlung“,15 aus dem „das absolut Neue“ (124) geboren werden könne. Die drei Stufen der Wiederholung werden mit drei Zeitformen in Beziehung gesetzt: 11 Vgl. Marx/Engels 1972, S. 115. 12 Blättler 2011, S. 71. 13 Sartres Zeitgenosse Albert Camus hatte in seinem Le mythe de Sisyphe (1942) serielles Handeln ebenfalls pejorativ als Ausdruck der Absurdität der Welt kritisiert und als Leitsymbolik der modernen Existenz gewählt. 14 Vgl. Blättler 2011, S. 75. 15 Deleuze 1992, S. 126.

End-Täuschung in Serie363 Die Gegenwart [erste Synthese der Zeit bei Deleuze, analog zur Farce], ist das Wiederholende, die Vergangenheit [zweite Synthese der Zeit, analog zur Tragödie] die Wiederholung selbst, die Zukunft [dritte Synthese der Zeit, analog zum Drama] aber ist das Wiederholte (127).

Deleuze stellt Serialität in den Dienst der Kreation eines wahren und w ­ irklichen Neuen. Die bloße Vergangenheit und ihre Betrachtung bleiben defizitär und erlangen nicht den Status der Autonomie, den er nur der überschießenden Wieder­holung der dritten Stufe zuspricht, nicht aber der Vergangenheit. Gegen deren Erkennbarkeit durch den Historiker polemisiert Deleuze, da dieser nur „Gleichartigkeit und Analogie“ ermitteln könne (127), das Wesen der Offenbarung – ein Begriff, den Deleuze mehrfach erwähnt (u. a. 126) – aber verfehle. Somit wird der Reflexion des wiederholenden Charakters des Vergangenen bei Deleuze lediglich ein Irritationspotential zugesprochen, kein Erkenntnispotential. Es bleibt die Frage, ob sich ein solches epistemisches Potential des Seriellen für den Bereich des Historischen und Historiographischen nicht doch konkretisieren ließe. Hierfür gilt es im Anschluss an das obige Zitat von ­Nassehi, Zeit als Beobachtungsschema in den Blick zu nehmen und im Gegenzug die emphatische Orientierung auf Vergangenheit und Zukunft fallen zu lassen, kurzum, Eschatologie durch Narratologie zu ersetzen. Dabei, so eine der Hypothesen des Unterkapitels, zeigt sich, dass zeitgenössische Serialität als „Ressource kritischer Desautomatisierung und Reflexion“ 16 dienen kann und dadurch ästhetische und reflexive Potentiale zeitigt, die über „strukturalistische und semiotische Ansätze[, die] Serialität bevorzugt als ein Schema [fassen], das formale Redundanzen produziert und verfestigt“,17 hinaus verweisen. Dieses Potential kann u. a. im verstärkten Einschluss „metaserieller Operationen“ ausgemacht werden, die Sudmann u. a. in alternativen Verwendungen des Mediums Sprache, in Erzählkonventionen des Seriellen und intraseriellen Kommentierungen ausmacht.18

Serialität und Populärkultur in Russland Folgt man den bisherigen Überlegungen, so lässt sich die Hypothese bilden, dass sich der Orientierungsverlust in den binären Zeitordnungen des Früheren und Späteren in einer Konjunktur alternativer Zeitlogiken äußert, unter denen 16 Rothöhler 2020, S. 108. 17 Kelleter 2012, S. 19. 18 Sudmann 2017, S. 271 ff.

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Die Popularität der Metahistoriographie

serialisierte Erzählformen eine besondere Rolle einnehmen. Diese Hypothese steht genealogisch jedoch auf tönernen Füßen, lassen sich serialisierte Erzählformen doch spätestens seit dem 19. Jahrhundert auf breiter Basis beobachten.19 Im russisch-sowjetischen Kontext lässt sich eine zweite 20 Hochphase im Spätsozialismus ausmachen, wo es vom seriellen Wohnungsbau über Fernsehserien 21 bis hin zu literarischen Reihen 22 eines der fundamentalen Ordnungsmuster in Populär-, Eliten- und Gegenkultur darstellt. Historische Reservationen sind also angebracht, wenn man Diagnosen der frühen 2000er Jahre Glauben schenken mag, die von einer Explosion serieller Formen und einer „serial revolution“ sprechen.23 Am deutlichsten betont Aleksandr Akopov, damaliger Programmdirektor des Fernsehsenders Rossija, in einem Interview mit Iskusstvo kino im Jahre 2000 die Zeitgebundenheit der seriellen Konjunktur für Russland: „[…] мы занялись сериалами как раз вовремя. Год назад было еще рано.“ 24 Möchte man den Aufstieg serieller Erzählformen in der Gegenwart begreifen, so lohnt sich zunächst ein Blick auf den Fernsehbildschirm. Fernsehserien, insbesondere aus Lateinamerika und den USA, wurden in Russland mit Beginn der 1990er Jahre sehr populär. Sie befriedigten die Neugier nach der Welt hinter dem vormaligen Eisernen Vorhang, garantierten hohe Werbeeinnahmen und kompensierten die geringe Anzahl an Eigenproduktionen, die durch den Zerfall der alten Strukturen von Produktion und Distribution verursacht worden war. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren, spätestens aber mit der Währungskrise 1998, nationalisierte sich dann die russische Serienlandschaft. Der Einkauf fremder Serien wurde teurer, weshalb „zunehmend mehr russische Fernsehserien ausgestrahlt 19 Vgl. hierfür Allen/van den Berg 2014. 20 Man könnte alternativ auch die seriellen Experimente der russischen Avantgarde als zweite Phase beschreiben (vgl. u. a. für Serialität bei Vertov Gruber 2018; Serialität spielt auch bei Aleksandr Rodšenko und Daniil Charms eine wichtige Rolle). 21 Vgl. zur Bedeutung seriellen Erzählens im Fernsehen Zorkaja 1994, v. a. S. 86 – 108; Prokhorova 2003; MacFayden 2005. Die bekannteste spätsozialistische Serie ist Semnadcat’ mgnovenij vesny (17 Momente des Frühlings, 1971 – 1973). Zu erwähnen ist außerdem die Serie Večnyj zov (Der ewige Aufruf, 1973 – 1983), die Zorkaja in ihrer Analyse fokussiert. 22 Bereits zu stalinistischer Zeit etabliert wurde die biographische Reihe Žizn’ zamečatel’nych ljudej (Das Leben berühmter Leute, seit 1933). Eine spätsowjetische Reihe, die auch für die Entwicklung des historischen Romans zentral ist, ist Plamennye revoljucionery (Die leidenschaftlichen Revolutionäre, 1968 – 1990). 23 Prokhorova 2003, S. 513 f. 24 Akopov 2000. „Wir haben genau zur richtigen Zeit angefangen, uns mit Serien zu beschäftigen. Vor einem Jahr wäre es noch zu früh gewesen.“ Dass das Jahr 1999 einen Einschnitt bedeutet, liest man auch in Sekundärtexten zur postsowjetischen Fernsehserie, vgl. Prokhorova 2003, S. 517.

End-Täuschung in Serie365

[wurden], die günstiger in Produktion und im Einkauf waren“.25 Dies setzte eine Rückwendung hin zu national codierten Erzählformen in Gang, die den Nerv der auslaufenden ersten postsowjetischen Dekade trafen. Neu im Vergleich zur spätsowjetischen Serialität, auf die sich die Serienmacher durchaus bezogen,26 war der nun vornehmlich ökonomische Charakter der nach Werbegeldern schielenden Produzenten, der zur sowjetischen Zeit keine Rolle gespielt hatte.27 Anfänglich dominierten einheimische Krimiserien den russischen Fernsehmarkt (Ulicy razbitych fonarej, Banditskij Peterburg, Direktorija smerti, Kamenskaja u. a.), bevor mit der Veröffentlichung der im 19. Jahrhundert angesiedelten Liebesserie Bednaja Nast’ja (Arme Nastja) 2003 die Abwendung vom Krimigenre begann (162 – 166). Nun kamen auf Literaturvorlagen basierende Serien und geschichtliche Themen auf: Zu nennen wären hier Verfilmungen von Rybakovs Deti Arbata, Aksenovs Moskovskaja saga, Dostoevskijs Idiot oder Pasternaks Doktor Živago (166 f.). Eine wichtige Rolle nahmen ab Mitte der 2000er Jahre Kriegsserien zum Zweiten Weltkrieg ein, die im Umfeld der 60-jährigen Feier des Kriegsendes florierten.28 Im Kontext der Arbeit fällt dieser engere zeitliche Kontext zwischen 1999 und 2005 auf, der als distinkte Periode des Experimentierens mit seriellen Narrativen im Bereich des Historischen betrachtet werden kann. Parallel zum Aufstieg serieller Erzählformen im Fernsehen wurden ab Mitte der 1990er Jahre auch literarische Serien populärer. Dies betraf zunächst klischeehafte, pseudofolkloristische historisch-literarische Serien, die historische Komplexität reduzierten und sich in den Dienst einer national-autokratisch codierten mythischen Idee des russischen Volks stellten.29 1998 veröffentlichte dann Boris Akunin seine ersten Romane, die auf ein überwältigendes Echo beim Publikum stießen. Boris Akunins Anliegen war es, an den Erfolg serieller Werke bei den Lesern und auf dem Buchmarkt anzuknüpfen, allerdings mit gesteigertem ästhetischem Selbstanspruch. Dass Serien gerade im Krimibereich florierten, überrascht wenig, spielten stark konventionalisierte Erzählformen, deren Erfolgsprinzipien von den Autoren nur leicht variiert wurden, doch seit dem Aufstieg der Krimiliteratur im späten 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle. 25 Amelina 2006, S. 210. 26 „Indeed, post-Soviet producers not only acknowledge the existence of the ‘Soviet school of the mini-series’ but openly establish their link with this Soviet tradition“ (Prokhorova 2003, S. 515 f.). 27 Beumers 2009, S. 161. 28 Vgl. hierzu Jahn 2010. 29 Marsh 2007, S. 322 f.

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Die Popularität der Metahistoriographie

Die These des folgenden Unterkapitels besteht darin, Boris Akunins Serialitätskonzeption in eine produktive Spannung zu dieser Tradition zu setzen und seine Fandorin-Serie als Ausarbeitung und Plädoyer einer Geschichtskonzeption zu lesen, die aus der notwendigen Nichterfüllung ihrer Sinnstiftung resultiert und in Reflexion dieser für ein informiertes Verständnis serialisierter Enttäuschung plädiert. Hierfür operiert er mit verschiedenen Modi der Serialisierung, deren kompositionellen Endpunkt die End-Täuschung darstellt. Serialität wird dabei im Anschluss an Kelleter „als die variationsoffene und differenzierungsorientierte Wiederholung generisch erprobter, industriell reproduzierter Geschichten“ 30 verstanden.

Modi der Serialisierung in der Romanserie Priključenija Ėrasta Fandorina Die Romanserie Priključenija Ėrasta Fandorina (Die Abenteuer Erast Fandorins) ist in einer Reihe fortschreitender Episoden angeordnet, die sich zwischen den Jahren 1876 und 1920 erstrecken. Die Kriminalhandlung der einzelnen Romane ist abgeschlossen, in jeder Reihe der Serie löst Fandorin mit wechselnden Nebenfiguren Kriminalfälle. Diese chronologische Zeitlogik wird komplementiert durch eine Reihe von Rückblenden, die die lineare Zeitlogik der Romanserie unterlaufen. Von Fandorins Biographie, seinen persönlichen Kontakten und Auffassungen erfährt der Leser erst nach und nach. Viele der Fallauflösungen sind außerdem nur scheinbarer Natur, Komplotte erstrecken sich häufig über mehrere Romane, Ereignisse wiederholen sich mit leichten Variationen und verweisen sowohl auf geschichtliche Ereignisse als auch auf die Gegenwart des Entstehungskontextes. All dies ist im Hinblick auf die kriminalistische Tradition konventionell, lässt sich aber, bei einem genaueren Blick auf einzelne Sinneinheiten, als Ausdruck eines komplexen Serialitätsverständnisses lesen. Um dieses Serialitätsverständnis zu konkretisieren, soll in einem ersten Schritt die Funktion der einzelnen Glieder der Serie fokussiert werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf ihre Variationsprinzipien gelegt werden soll. Um dieses Merkmal für die literaturwissenschaftliche Analyse zu operationalisieren, knüpfe ich an eine Unterscheidung von Hektor Haarkötter an, der im Anschluss an die klassische Rhetorik vier Typen der Serialität differenziert:

30 Kelleter 2012, S. 22.

End-Täuschung in Serie367

Abbildung 6: Typen der Serialität 31 Wiederholung Imitatio

Serialisierung erfolgt durch einfache Wiedergabe

Zitat

Perpetuierung Interpretatio

Serialisierung erfolgt durch abgeleitete Wiedergabe

Fortsetzung

Antinomie Superatio

Serialisierung erfolgt durch widerlegende Wiedergabe

Widerspruch

Sublimierung Aemulatio

Serialisierung erfolgt durch übertragende Wiedergabe

Übersetzung

Die zentrale Rolle serieller Verschiebungen bei Akunin zeigt sich am deutlichsten in seinen intertextuellen Verfahren. Das Spiel mit kanonischen Vorgängertexten, v. a. aus der russischen Tradition des 19. Jahrhunderts, bestimmt seine Werke. Aus ihr entlehnt Akunin nicht nur Motive und Sujetstrukturen seiner Plots, sondern auch – im Rückgriff auf Pastiche-Techniken – stilistische Elemente. Zeigen lässt sich die Vielschichtigkeit dieser Form der Serialisierung paradigmatisch am ersten Kapitel von Tureckij gambit (Türkisches Gambit, 1998). Im Zentrum des Kapitels steht die junge Abenteurerin Varvara Suvorova, die als Opfer eines Diebstahls hilflos in einer bulgarischen Kaschemme sitzt und dort sexuell bedrängt wird, ehe sie im letzten Moment vom zufällig anwesenden Fandorin errettet wird. Die Protagonistin ist der Heldin Elena aus Turgenevs Nakanune (Vorabend, 1860) nachempfunden, dessen Stil das Kapitel nachahmt.32 Varvaras Persönlichkeit wird mit dem Prinzip der Imitation verknüpft, sie arbeitet als Stenographin, führt Protokolle und bringt die Memoiren eines altersschwachen Generals zu Papier. Diese Tätigkeit ist tragikomischer Natur. Die „мемуары выжившего из ума генерала, покорителя Варшавы“ 33 verweisen auf niemand Geringeren als ihren Namensvetter Suvorov, der die polnische Hauptstadt 1794 eingenommen hatte. Diese imperiale Heldentat hat ihn jedoch nicht vor Gedächtnisverlust und Wahnsinn bewahrt. Die mit diesem Namen verbundene Glorifizierung imperialer Expansion erweist sich im Hinblick auf die mitnichten unfallfreie Kampagne in Bulgarien als gefährlich. Imperialer Übermut, verursacht durch die Selbstsuggestion gefahrloser Seriensiege aufgrund eines verklitterten Geschichtsbilds wird zu der Hypothek des Feldzugs. Nicht weniger 31 Tabelle nach Haarkötter 2007, S.244. 32 Vgl. Zimmermann 2014, S. 85. 33 Akunin 2000, S. 14; „Memoiren eines gedächtnisschwachen Generals […], des Bezwingers von Warschau“ (Akunin 2004c, S. 22).

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Die Popularität der Metahistoriographie

gefährlich ist für Varvara die serielle Tätigkeit als Stenographin für große (im Text sogar großgeschriebene) Schriftsteller. Der angeblich fortschrittliche Schriftsteller – eine Anspielung auf Dostoevskij, der seine Stenographin zur zweiten Ehefrau machte – entpuppt sich als Reaktionär und Schwerenöter. Der imitative Charakter ihres Lebensstils hat sich für Varvara somit als vierfach problematisch erwiesen – der Bezug auf Suvorov entpuppt sich als verklärte Sicht auf einen schwierigen Feldzug, die Anlehnung an Elena zwingt Varvara ein Frauenbild auf, dem sie nicht gerecht werden kann, die Arbeit bei Dostoevskij wird zur sexuellen Gewalterfahrung, und ihr Liebesleben, das sie im Anschluss an Černyševskijs Vera Pavlovna zu organisieren trachtet, folgt einem Ideal, das im Alltag nicht funktioniert. Was zunächst als bloße Wiederholung daherkommt, wird bei genauer Lektüre als subtile Perpetuierung erkennbar, deren Wiedergabe­ modus in Bezug auf die Aussageabsicht ein antinomischer ist. Die Orientierung an den Klassikern, denen man nur nachfolgen müsse, um Erfolg in Serie zu haben, erweist sich als eigentliche Gefahr.34 Der Schritt der Sublimierung erfolgt schließlich durch die Bloßlegung des Verfahrens durch den Retter Fandorin: „Эх, м-мадемуазель, лучше дожидались бы жениха дома. Тут вам не роман Майн Рида. Скверно могло з-закончиться.“ 35 Gerade ein auf Konventionen aufbauendes Handlungsverständnis trägt die Gefahr des zu frühen Endes (sprich: den Serientod) in sich. Die Ironie dieser Botschaft liegt darin, dass sie in einer Pastiche-Stilistik formuliert wird, die allzu deutlich Ausdruck eines zu Serialität degenerierten literarischen Erfolgsmodus ist. Während diese Ästhetik für den Leser Genuss verspricht, kündet sie der Heldin Gefahr. Um den Kriminalroman zu überleben, muss sie sich von dessen serialisierten Konventionen und der (nicht nur russischen) Romantradition emanzipieren. Mittels einer Pastiche-Ästhetik des Seriellen wird demnach entfaltet, dass Geschichte keine bloße Abfolge literarisierter Serien ist, sondern eine eigene Logik besitzt, die sich gerade in Differenz zu den verwendeten Schemata zeigt. Bereits hier zeigt sich das ironisch gebrochene Verhältnis der Fandorin-Serie zum klassischen Kriminalroman. Durch ihre Literarizität enthalten die Romane einen signifikanten Überschuss, der immer auch Sinnpotentiale jenseits der 34 Ähnlich übrigens auch in Azazel’, vgl. hierfür Gorski 2018a: „If taken seriously, the pattern of allusions and genre tropes reveals a subject – Fandorin – who is constantly led into danger by the classical literary tradition, only to be saved by the conventions of genre literature.“ (69) 35 Akunin 2000, S. 17. „A-ach, M-mademoiselle, Sie hätten zu Hause auf ihren Bräutigam warten sollen. Das hier ist kein R-roman von Maine Reid. Es hätte ü-übel ausgehen können“ (Akunin 2004c, S. 26).

End-Täuschung in Serie369

Lösung des Kriminalromans bereithält. Der klassische Kriminalroman kennt in der Regel kein solches Übermaß an Signifikantem. Definierendes Merkmal der Gattung ist gerade, dass jedes geschilderte Element bedeutungstragend ist, auf das Metasignifikat des Mordfalls verweist und somit in ein Korrespondenzverhältnis eintritt. Die Lösung des Falls bringt die einzelnen Elemente in einer Conclusio zusammen, attribuiert sie zu einem Täter und klärt den Fall auf. Dieses Moment stellt den einen Pol der Serie dar. Historiographisch problematisch ist er insofern, dass diese Idee einer endgültigen Aufklärung der Idee geschichtlicher Abfolgen im Wege steht: Der gelöste Kriminalfall widersteht darum wohl in besonderer Weise einer Fortsetzbarkeit der Geschichte. Kombiniere: Wenn der Krimi eine Lösung hat, kann er keine Serie sein, handelt es sich aber um eine Serie, so kann er keine Lösung haben.36

Freilich kann man sich ökonomisch als Autor damit behelfen, das einmal erfolgreich etablierte Prinzip immer aufs Neue zu wiederholen, den Ermittler erneut auf die Suche zu schicken und einen neuen Fall zu fabrizieren. Diese Fälle bleiben ästhetisch aber in der gleichen End-Logik gefangen, die die einzelnen Signifikanzen restringiert. Über diese abgeschlossene Binnenlogik der Kriminalfiktion hinaus existiert in der Fandorin-Serie ein zweiter Pol, der einen Erzählstrang darstellt, der sich den Beschränkungen der kriminalfiktionalistischen Konventionen verweigert. Dieser Erzählstrang wirkt über die Ermittlung hinaus und entzieht sich der Idee einer Lösung oder Aufklärung.37 Sichtbar wird die Differenz an der Hauptfigur, dem Detektiv Ėrast Fandorin. Dieser ist in seinem detektivischen Vorgehen Teil der kriminalistischen Haupthandlung, die seine Aktionen – häufig klischeehaft verzerrt und in enger Anlehnung an Klassiker der Kriminalfiktion – als Ermittler bestimmt. Fandorin ist allerdings nicht allein Detektiv, sondern gleichzeitig auch literaturgeschichtliches Kondensat und eine Persönlichkeit, deren Auffassungen und Handlungen (man beachte vor allem sein Talent für exzessive Maskierungen, die in jedem Teil der Serie prominent auftreten) sich einer Festlegung innerhalb des detektivischen Schemas entziehen. Die Romanserie unterläuft die linearchronologische Erwartungshaltung des Publikums, was sich idealtypisch anhand 36 Haarkötter 2007, S. 220. 37 Deleuze unterscheidet verschiedene „serielle Techniken“, mit denen sich die Herstellung zweier in ihrer logischen Struktur entgegenlaufenden und daher paradoxen Serien literarisch bewerkstelligen lassen. Er führt an: „Ein System von Zahlenkorrespondenzen, eine verschwenderische Verwendung esoterischer Wörter, eine Frage-Antwort-Methode […], Serien […] der genauesten Bezeichnungen kleiner Differenzen, […] [die] um festgefügte Themen herum kreisen […], Eigennamen“ (Deleuze 1993, S. 60).

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Die Popularität der Metahistoriographie

des Spiels mit der russischen Beamtenlaufbahn zeigen lässt. In Azazel’, dem ersten Teil der Serie, schlägt Fandorin die Beamtenlaufbahn ein, die beim Leser die Vorstellung eines sukzessiven Aufstiegs anhand der 14-stufigen Rangtabelle des Kaiserreichs evoziert. Die meritokratische Logik einer geregelten Karriere wird jedoch fortwährend in Frage gestellt. Fandorin durchläuft die Laufbahn nicht linear, sondern überspringt Stufen, wird zurückgestuft und beschließt sogar zwischenzeitlich, aus dem Staatsdienst auszutreten. Wäre Fandorin nur Detektiv, würde seine Laufbahn linear verlaufen. Da sich sein Charakter aber nicht auf seine Profession beschränkt, entstehen Konflikte. Das narrative Hauptverfahren, das die Linearität des Erzähl- und Handlungsverlaufs unterläuft, ist die Variation der Erzählinstanz. Die Fandorin-Serie Akunins kann als ein Spiel mit verschiedenen Erzählinstanzen interpretiert werden. Während der Erstling Azazel’ noch in einer auktorialen Erzählhaltung verbleibt, die das Gros der Kriminalliteratur kennzeichnet, experimentieren die anderen Teile der Krimiserie mit alternativen Erzählhaltungen. Hierzu gehört das Spiel mit einer zweiten auktorialen Instanz in Form fingierter historischer Dokumente (u. a. ­Tureckij Gambit, Leviafan, Ljubovnica smerti), die stilistisch variierende Einführung eines zweiten Haupthelden, mit dem sich Fandorin im Schlussteil duelliert (u. a. Smert’ Achillesa, Statskij sovetnik) sowie die Einnahme einer personalen Erzähl­ situation aus der Perspektive eines von Fandorins Gehilfen oder Koermittlers (u. a. Pikovyj valet, Koronacija). Diese erzähltechnischen Variationen dienen nicht der Entfaltung des kriminalistischen Sujets, sondern erweitern die Perspektive der – im Bestfall durch die Lektüre der vorherigen Teile bereits geschulten – Leser und fügen dem Charakter Fandorins immer neue inhaltliche, aber auch ästhetische Facetten bei. Mit der Zeit entsteht ein Bild Fandorins, das sich von den zu Beginn der Serie evozierten Anklängen an bekannte Ermittlerfiguren wie Sherlock Holmes oder James Bond emanzipiert. Mit jedem Teil der Fandorin-Serie wächst die Diskrepanz zwischen detektivischem Vorbild und der konkreten literarischen Figur, die in Letzterer erzeugten semantischen Überschüsse usurpieren die eigentliche detektivische Arbeit und lassen diese in den Hintergrund treten. Dies wird besonders deutlich im Roman Koronacija, dessen an Kazuo Ishiguros The Remains of the Day angelehnte Erzählsituation am stärksten Sujetlinien befördert, die vom kriminalistischen Hauptstück abweichen: u. a. Liebesgeschichten, philosophische Erörterungen über Loyalität und Autorität, Intrigen am Kaiserhof oder indirekte Reflexionen über den Charakter der Romanform (man beachte den doppeldeutigen Untertitel Poslednij iz romanov (der letzte der Romane bzw. der letzte der Romanovs [als grammatikalisch nicht ganz korrekte Anspielung])). Das Funktionspotential des Kriminalromans wird somit merklich erweitert. Dies gilt in politischer Hinsicht, wo über die Variation der ­Erzählinstanz bereits ­mehrfach

End-Täuschung in Serie371

beobachtete Analogien zwischen der Handlungszeit des späten 19. und der Entstehungszeit des späten 20. Jahrhunderts sichtbar werden. Tiefergehender ist jedoch die durch den Wechsel der Erzählinstanz induzierte Derationalisierung des Ermittlungsvorgangs. Am deutlichsten formuliert F ­ andorin selbst diesen Aspekt in einem Dialog mit seinem Assistenten: – Знаете, Афанасий Степанович, в чем ваша ошибка? – устало сказал он, закрывая глаза. – Вы верите, что мир существует по неким правилам, что в нем имеется смысл и п-порядок. А я давно понял: жизнь есть не что иное как хаос. Нет в ней вовсе никакого порядка, и правил тоже нет.38

Das Chaos kennt keine Lösung, sondern als höchste Form der Erkenntnis die Einsicht in seine Unergründbarkeit. Die kriminalistische Praxis der schrittweisen Enträtselung vorhandener Spuren, die die Erzähllogik bildet, wird ersetzt durch eine – ermittlungstechnisch häufig kaum nachvollziehbare – Lösung ex nihilo, in der Fandorin in der Schlussszene von Koronacija als monachus ex machina den Fall aufklärt. Diese Form der Auflösung etabliert ein heterochrones Zeitbild, das von der chronologisch durchzuführenden Ermittlungsarbeit abweicht. Die Lösung wechselt somit das Register: Aus rationaler Deduktion wird metaphysische Offenbarung. Lösung durch Offenbarung usurpiert dabei schlussendlich den historizistischen Anspruch der geschilderten Ereignisse. Der Held Fandorin wird durch die erst im Zuge der Serialisierung hervortretenden Diskrepanzen zwischen intradiegetisch variierendem Selbst- und Fremdbild und dem außertextuellen ebenfalls variierendem Leserbild zu einer Tricksterfigur. Der Überschuss an Signifikanz entsteht durch die flottierenden Variationen seines Charakterbilds, die letztendlich, in Übertragung von Mark Lipoveckijs Bestimmung des postsowjetischen Tricksters, zu einem Sinnbild eines leeren Signifikanten werden, dessen Stabilisierung in einer Form historizistischer Verankerung aussichtslos ist.39 Man könnte die detektivische Graphomanie Akunins als Versuch deuten, durch eine Überfülle an flottierenden und sich stetig verkomplizierenden F ­ andorin-Signifikanzen  40 diese historizistische Aussichtslosigkeit einerseits immer 38 Akunin 2012, S. 327. „‚Wissen Sie, Afanassi Stepanowitsch, worin Ihr Fehler besteht?‘ sagte er müde und schloß die Augen. ‚Sie glauben, daß die Welt nach gewissen Regeln existiert, daß sie einen Sinn und eine O-Ordnung hat. Doch ich habe längst begriffen: Das Leben ist nichts anderes als Chaos. Es hat keine Ordnung, auch keine Regeln‘“ (Akunin 2004a, S. 314). 39 Vgl. Lipovetsky 2011, S. 267. 40 Akunin beginnt 2001 mit der Reihe Priključenija magistra, deren Hauptheld Nikolas Fandorin der Enkel Ėrasts ist.

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wieder aufs Neue – und kritisch im Hinblick auf gegenteilige politische Versuche – vorzuführen. Als Erzählprinzip diffundiert – und dies mag als zweite Hypothese an dieser Stelle erlaubt sein – die Erzeugung von Signifikanzüberschüssen auch in Akunins jüngstes Projekt, die Abfassung einer neuen Geschichte Russlands im Stile Nikolaj Karamzins.41 Akunin belässt es nämlich nicht bei der Neufassung der vaterländischen Geschichte, sondern ergänzt jeden Teil seines geschichtswissenschaftlichen – und ebenfalls als Serie konzipierten – Werks mit einem fiktionalen Nebenstück. Somit entsteht letztlich auch in seiner Histo­riographie eine Dialektik zwischen einer Serie, die die Vergangenheit faktual verbürgt, und einer Serie, die fiktionale Signifikanzüberschüsse generiert, die im Rahmen histo­ rizistischer Faktographie nicht erzeugt werden können, für seine Auffassung der Vergangenheit aber unerlässlich sind. Die paradoxe Instanz, von der Deleuze als drittem Merkmal der Serialität spricht und die für die Verschiebung der Glieder und den Überschuss an Signifikanzen sorgt, erscheint im vorliegenden Falle als nichts anderes als die Autorinstanz. Es ist eine doppelseitige Instanz, gleichermaßen in der signifikanten Serie und in der signifikaten Serie vorhanden. Es ist der Spiegel. Daher ist sie zugleich Wort und Ding, Name und Gegenstand, Sinn und Bezeichnetes, Ausdruck und Bezeichnung usw. Sie sorgt folglich für die Konvergenz beider Serien, die sie durchläuft, aber eben gerade unter der Bedingung, sie unaufhörlich divergieren zu lassen.42

Besonders deutlich wird diese Funktion der Spiegelung am subtilen Spiel des Autors Akunin mit seinen Lesern und Fans mittels seiner Webseite, die er als einer der ersten Autoren des RuNet etabliert hat. Neben dieser Fremdbeobachtung fungiert die Autorinstanz auch im Hinblick auf sich selbst und ihre Selbstbeobachtung als doppelseitige Instanz, die sich in teils anschließender, teils abschließender Anknüpfung an frühere literarische Ergüsse an sich abarbeitet.43 Jene Entwicklung kann auch im Rahmen einer breiteren Entwicklung populärer Serialität gedeutet werden, vor allem in Bezug auf deren Komplexitätssteigerung durch Operationen der Selbstbeobachtung und der damit verbundenen Zunahme intraserieller Interdependenzbeziehungen.44

41 Akunin 2013. 42 Deleuze 1993, S. 62. 43 Interessant ist diesbezüglich beispielsweise, wie Akunin in Ljubovnica smerti auf seine eigenen literaturtheoretischen Erörterungen zum Thema Schriftsteller und Selbstmord Bezug nimmt. 44 Kelleter 2012, S. 20.

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Was passiert in dieser Entwicklung mit der Autorinstanz? Der Autor als Kontrollinstanz dieses Prozesses bleibt an die chronologische Ordnung gebunden. Selbstbeobachtung bezieht sich immer auf frühere Zustände, nicht auf zukünftige. Die Rezeption und Interpretation des Werkes, die seinen seriellen Charakter erst konstituiert, kann sich hingegen heterochroner Lese- und Deutungsmuster bedienen und damit Aussageabsichten und konzeptionelle Erwägungen von Seiten des Autors konterkarieren. Man mag dies – so z. B. im Falle der Akunin zugeschriebenen Nostalgie für das russische Zarenreich – als Missverständnis abtun, der Konflikt ist aber prinzipieller Natur. Seine Ursache ist die Dialektik zwischen chronologischer Erzählung und heterochroner Rezeption, die jeden Dialog zwischen Autor und Leser im Bereich serieller Erzählformen betrifft.

Ent-Täuschung und End-Täuschung Abschließendes Ziel dieses Unterkapitels ist es nun, das einleitend benannte Zeitproblem als end-gültiges Problem zu bestimmen und im Hinblick auf den eingangs gesponnenen Faden zur Strukturkrise des Endes zu diskutieren. Das Sujet des Kriminalromans operiert mit der Idee einer Störung der Ordnung, die im Zuge der Ermittlung behoben wird. Dominieren zunächst falsche Wahrnehmungen und Täuschungen über den Charakter des Tathergangs, so schwinden diese sukzessive und führen am Schluss – in einem großen Finale – zur Ent-Täuschung. Der Detektiv klärt das Publikum und die ahnungslosen Mitermittler auf und bringt die Täuschung an ein Ende. Akunin zelebriert solche Finalszenen in vielen seiner Fandorin-Bände in epischer Breite und kontrastiert den ent-täuschenden Ermittler Fandorin mit den bis zum Schluss getäuschten Nebenfiguren. Dieses Sujet der Ent-Täuschung gehört zur Tradition kriminalistischen Erzählens und folgt einer streng chronologischen Ordnung. Im Rahmen des Kriminalromans lässt sich allerdings auch eine Inversion dieser Ordnung denken. Viktor Šklovskij hat diese mit dem Begriff „ložnyj konec“ (falsches Ende) gefasst: „[…] ложным концом я называю введение в конец произведения нового мотива, который, образуя со старым параллель, заканчивает произведение.“ 45 Brigitte Obermayr hat – hieran anschließend und unter genealogischem Verweis auf die Experimente der russischen Avantgarde (v. a. bei Aleksej Kručënych) und Baudrillards Kulturkritik – für das auslaufende 45 Šklovskij 1929b, S. 164; „Als falsches Ende bezeichne ich die Einführung eines neuen Motivs am Ende eines Werks, das, mit dem alten eine Parallele bildend, das Werk beendet.“

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Die Popularität der Metahistoriographie

20. Jahrhundert eine Krise der Kategorie des Endes postuliert. Diese Krise führt als literarische Konsequenz zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber Problematiken des sinnstiftenden Abschließens, die Obermayr paradigmatisch anhand der Werke Dmitrij Prigovs und Vladimir Sorokins verfolgt. Die Reflexion über das Ende wird hier zum Merkmal postmoderner Literatur.46 Dieser Faden soll an dieser Stelle aufgenommen werden und dahingehend weitergesponnen werden, dass Akunins Fandorin-Serie die Idee der Ent-täuschung zurückweist. Die oben entfalteten semantischen Überschüsse lassen bei ihm eine solche Ent-Täuschung nicht zu. Dies kann man sowohl im Rahmen eines hermeneutischen Zirkels lesen, der immer neue Überraschungen und Täuschungen generiert, als auch dekonstruktivistisch deuten. Achim ­Geisenhanslüke hat letzteres im Anschluss an Paul de Man versucht und zitiert diesen folgendermaßen: […] „truth is the recognition of the systematic character of a certain kind of error“, die notwendig in einer „negative certainty“ ende […]. Eine andere Erfahrung als die der Enttäuschung gibt es für de Man gar nicht, Erkenntnis besteht einzig im Nachvollzug des Auseinanderfallens von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, den der Akt des Lesens immer aufs Neue bereithält.47

Die Differenz zwischen Intention und Erfüllung, die auch vom Autor nicht kontrolliert werden kann, zeitigt genau die Überschüsse, aus denen sich letztendlich die Ent-täuschung speist. Sie konterkariert die vermeintliche Klarheit des Endes des Kriminalromans, prolongiert den Konflikt und eröffnet damit die Möglichkeit seiner Serialisierung. Boris Akunins bevorzugtes Verfahren, um diese Differenz zwischen Finale und Fortsetzung sichtbar zu machen, ist die End-Täuschung. Der paradigmatische Ort der End-Täuschung ist der Epilog. In der Regel dient der Epilog der Klärung und dem Abschluss des vorangegangenen Erzählten. Er verweist gelegentlich auch auf Zukunft, allerdings auf eine geschichtslose Zukunft in dem Sinne, dass die dort entstehenden Konflikte nicht narrativ modelliert werden und somit nicht den Status eines historiographischen Faktums erlangen. Die Epilog-Logik Akunins hingegen wird zur Epi-Logik, die im Wortsinn neben der etablierten Erwartung des Lesers steht. Zwei solcher End-Täuschungen sollen nun kurz betrachtet werden. Im Epilog zu Tureckij gambit erweist sich die für Russland günstige Lösung des russischosmanischen Krieges als Chimäre. Der eingangs des Epilogs per Mystifikation

46 Obermayr 2007, S. 357. 47 Geisenhanslüke 2004/2005, S. 86.

End-Täuschung in Serie375

eingeführte Friedensvertrag wird mittels einer weiteren fingierten Zeitungsnachricht als Makulatur entlarvt. Er muss nachverhandelt werden, und die imperialen Ambitionen des Zarenreichs werden – so weiß der informierte Leser – auf dem kurz darauffolgenden Berliner Kongress gewaltig geschröpft. Dieses Wissen um historische Entwicklung sorgt für eine Einschränkung der fiktionalen EndLogik. Die Evokation geschichtlicher Folgeereignisse führt zu einer bewusst platzierten Ent-Täuschung des patriotisch gesinnten Lesers. Historisierung ist dabei nur ein Verfahren der End-Täuschung im Epilog. Ein Weiteres betrifft eine kryptische Erwähnung des siegreichen Kriegshelden Sobolevs: „Жалко, с Соболевым рассталась плохо, обиделся Соболев. Ну да бог с ним. Такого героя быстро кто-нибудь утешит.“ 48 Eben dieser Sobolev wird im übernächsten Teil der Serie Smert’ Achillesa (Der Tod des Achill, 1998) ermordet, was die Äußerung im Vorgriff auf die künftigen Episoden der Serie plausibilisiert. Die Möglichkeit der Figurenentwicklung über die Einzelepisode hinaus erweist sich somit als zweites Verfahren der End-Täuschung. Dies betrifft auch Fandorin selbst, dessen plötzliche und ziellose Abreise vom Schauplatz das Versprechen auf weitere Abenteuer in sich birgt. Der siebte Teil der Serie, Statskij sovetnik (Der Tote im Salonwagen, 2000), enthält ebenfalls einen Epilog, der die eben ermittelten Verfahren komplementiert. Nachdem Fandorin die Machenschaften des auf eigene Faust operierenden Doppel­agenten Požarskij entlarvt hat, wird er zu einer Audienz zum neuen Moskauer Gouverneur gebeten. Dort versucht Fandorin, die eben von ihm bewerkstelligte Ent-Täuschung zu wiederholen, was ihm jedoch verwehrt wird: – Ваше императорское высочество, я должен сообщить вам некоторые п-подробности о действиях князя Пожарского в связи с делом Боевой Группы. Я составил рапорт на имя министра внутренних дел, в котором детальнейшим образом изложил всё, что … – Читал, – перебил его Симеон Александрович. – Министр счел необходимым переслать твою реляцию мне как московскому генерал-губернатору. Сделал приписку: «Полнейший бред и к тому же опасный».49

48 Akunin 2000, S. 293. „Schade, der Abschied von Sobolew war nicht gut gewesen und hatte ihn verärgert. Aber wenn schon. Einen solchen Helden würde schon bald jemand trösten“ (Akunin 2004c, S. 299). 49 Akunin 2005, S. 281. „‚Erlauben Eure Kaiserliche Hoheit, daß ich Sie über die M-m-… Machenschaften des Fürsten Posharski in der Angelegenheit Kampfgruppe in Kenntnis setze. Ich erstellte hierzu bereits einen Rapport an den Innenminister, worin detailliert dargelegt ist, in welcher Weise …‘. ‚Hab ich gelesen‘, fiel der Großfürst ihm ins Wort. ‚Der Minister hielt es für geraten, deine Darlegungen an mich, den Moskauer Generalgouverneur weiterzuleiten. Mit der handschriftlichen Anmerkung: Reine Hirngespinste! Gefährlich außerdem‘“ (Akunin 2004b, S. 397).

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Die Ent-Täuschung ist in diesem Falle politisch nicht gewollt. Aus Sicht des Moskauer Gouverneurs ist ein Leben in Selbsttäuschung der Anerkennung der vorher ermittelten Ent-Täuschungen vorzuziehen. Der Triumph des Ermittlers wird dadurch selbstverständlich getrübt, verweist aber in aller Deutlichkeit auf die Diskrepanz zwischen Gültigkeit und Geltung historisch deduzierter Erkenntnis. Ist in Tureckij gambit noch Historisierung Mittel der End-Täuschung, so wird in Statskij sovetnik Dehistorisierung zu einem solchen. Dies wird vom Gouverneur freimütig zugegeben: „Что же до твоего рапорта, то я его разорвал и предал забвению. Ничего этого не было.“ 50 Das Ende der Ermittlung in Form des Berichts liegt zwar vor, erweist sich aber aufgrund seiner Nichtpublikation nur als Scheinende.51 Was ist nun, so bleibt schlussendlich zu fragen, die historische Botschaft dieser auf Serialität fundierten Epi-Logik der End-Täuschung? Sie steht – so viel dürfte klar geworden sein – nicht im Dienst der von Deleuze beschworenen Offenbarung des absolut Neuen, das sich im Wiederholten zeigt und auf Zukunft verweist. Sie dient ebenso wenig der Aufklärung der Vergangenheit im Sinne der Steigerung historischer Erkenntniszusammenhänge. Nimmt man Deleuzes Unterscheidung zwischen Chronos und Äon, die am Anfang dieses Unterkapitels stand, wieder auf, so lässt sich konstatieren, dass Akunins Fandorin nicht im Dienste des Äon steht, dem zufolge „in der Zeit ausschließlich die Vergangenheit und die Zukunft [insistieren oder substituieren]“.52 Akunins Epi-Logik der End-Täuschung gehört vielmehr zur Sphäre des Chronos: Chronos zufolge existiert in der Zeit allein die Gegenwart. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nicht drei Dimensionen der Zeit; nur die Gegenwart erfüllt die Zeit, wohingegen Vergangenheit und Zukunft zwei in der Zeit auf die Gegenwart bezogene Dimensionen sind (203).

Das Projekt Akunin und das Projekt Fandorin erklären Literatur zum Teil eines „LiveJournals“, über das der Autor jahrelang mit seiner Fangemeinde kommunizierte. Der historiographische Überschuss, der die Serien Akunins am Leben hält, wird aus der Gegenwart injiziert. Somit lässt sich Akunins Fandorin-Serie als Ausdruck einer Verbreiterung der Gegenwart in die Vergangenheit lesen, die unter Preisgabe der Idee einer gestaltbaren Zukunft erfolgt. Das literarische Ergebnis 50 Akunin 2005, S. 281. „Was deinen Bericht angeht – den habe ich vernichtet. Den Schleier des Vergessens darübergebreitet. Es hat ihn nie gegeben“ (Akunin 2004b, S. 398). 51 Andrea Zink hat darauf hingewiesen, dass solche Verfahren bei Akunin im Dienst eines größeren geschichtsphilosophischen Programms stünden, das ohne teleologische Entwicklungspfade und Sinnzuschreibungen auskomme (Zink 2006, S. 115). 52 Deleuze 1993, S. 206.

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mag man dennoch kulturkritisch als Diktat der Moden der Marktlogik beurteilen. Man kann es aber auch emanzipatorisch als Ausdruck der von Nassehi erklärten Eigenständigkeit des Chronos lesen, der seine Popularität und Legitimität weder aus der nostalgischen Primärorientierung in Richtung Vergangenheit noch aus der utopischen Indienstnahme der Geschichte im Hinblick auf eine lichte Zukunft zieht.

7.2  Metahistoriographische Mysterien – Alan Čerčesovs Villa Bel’-Letra und Marija Elifërovas Smert’ avtora Besitzt der russische Kriminalroman einen ästhetischen Wert? Obgleich die Analyse Akunins eben die Beantwortung dieser Frage ins Positive wenden sollte, könnte man bei einem Blick auf die akademischen Expertisen und deren allgegenwärtiger Rede vom Russian Pulp 53 ins Zweifeln geraten. Ulrich Schmid diskreditiert beispielsweise den „Kriminalroman als Bestätigung der Konsumkultur“ 54 und bescheinigt ihm, auf das Beispiel Dar’ja Doncovas Bezug nehmend, eine „systemerhaltende Funktion“ (313). Ol’ga Merezpova zufolge liegt diese darin, den Leser durchgehend daran zu erinnern, wie schlecht das sowjetische gewesen und wie gut das gegenwärtige Leben sei.55 Autorinnen gelten als Hauptangeklagte dieses postsowjetischen trivial turn. Am deutlichsten formuliert dies Nina IščukFadeeva, die ihren Gattungsüberblick zum weiblichen Kriminalroman (ženskij detektiv) mit folgendem Satz beginnt: „Массовая литература и в отсутствие эстетических достоинств, несомненно, имеет культурологическое значение“.56 Die marktdominierende Stellung von Aleksandra Marinina, Dar’ja Doncova und weiteren Autorinnen verleitet dazu, dieses Bild für den gesamten postsowjetischen Kriminalroman zu verallgemeinern. Dies ist jedoch verkürzt, rekurrieren obige Darstellungen doch meist einseitig auf die konsumkulturelle Bedeutung des Kriminalromans und dessen ideologische Funktionen, wodurch ästhetisch und epistemologisch orientierte Fiktionen aus dem Blickfeld zu geraten drohen. 53 54 55 56

Olcott 2001. Schmid 2015, S. 305. Merezpova 2008, S. 125. Iščuk-Fadeeva 2010, S. 112. „Die Massenliteratur besitzt, auch wenn ästhetische Werte fehlen, zweifelsohne eine kulturologische Bedeutung.“ Nur wenige Einschätzungen unterscheiden sich hiervon. So heißt es bei Helena Goscilo: „The genre of detektivy has proved a veritable boom for Russian women authors […]. By and large, their works (and especially Marinina’s) corroborate the hypothesis that female authors of crime fiction are ‘at the forefront of pulling [… this] fiction away from the predictable and towards a more psychological and social exploration of crime‘“ (Goscilo 1999/2000, S. 14).

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Die Popularität der Metahistoriographie

Diese Unwucht in der Betrachtung der Kriminalliteratur ist auch literaturtheoriegeschichtlich von Interesse. Während strukturalistische Analysen nach dem Zweiten Weltkrieg die Regelhaftigkeit und Gebundenheit der Kriminalsujets betonten,57 kam es in der literarischen Entwicklung zeitgleich zu einem wichtigen „shift in detective fiction“,58 der eine größere Neuorientierung signalisierte und mit dem aufkommenden Postmodernismus in Verbindung gebracht wurde: It is, therefore, no accident that the paradigmatic archetype of the postmodern literary imagination is the anti-detective story (and its anti-psychoanalytical analogue), the formal purpose of which is to evoke the impulse to “detect” and/or to psychoanalyze in order to violently frustrate it by refusing to solve the crime (or find the cause of the neurosis).59

Im Zentrum der antidetektivischen Kriminalromane, zu deren bekanntesten frühen Beispielen Vladimir Nabokovs The Real Life of Sebastian Knight (1941) und Jose Luis Borges La muerte y la brújula (Der Tod und der Kompass, 1942) zählen, stehen die Inversion und Parodie der etablierten Gattungskonventionen. Diese Romane indizieren eine erkenntnistheoretische Verunsicherung 60 und tragen dazu bei, dass der Kriminalroman in der Folge zum „epistemologische[n] Genre schlechthin“ 61 wird bzw. zur „Musterstruktur der postmodernen Literatur“ 62. Was nun verändert sich bei solchen Kriminalromanen? Im Zentrum der klassischen Detektivgeschichte stehen drei Variablen: der Detektiv, der Prozess der Ermittlung und die Klärung des Kriminalfalls.63 Epistemologische Kriminalfiktionen 64 variieren diese Sujetstruktur. Hierbei können nach Stefano Tani drei Techniken differenziert werden: Innovation, Dekonstruktion und Metafiktion.65 Diesen ist gemein, dass sie den „Effekt märchenhafter Beruhigung“,66 der mit der Aufklärung des Verbrechens verbunden ist, unterlaufen, sei es, dass sie auf eine Aufklärung gänzlich verzichten, sei es, dass sie konkurrierende Erklärungsmuster oder unbefriedigende Erklärungen zur Verfügung stellen. 57 Vgl. u. a. die Analysen bei Vogt 1971; Todorov 1972; Cawelti 1976, auch noch bei Moretti 2000. 58 Tani 1984, S. 38. 59 Spanos 1972, S. 154. 60 Vogt 1998, S. 11. 61 McHale 1992, S. 192. 62 Bremer 1999, S. 11. 63 Vgl. Tani 1984, S. 41. 64 Der Begriff versteht sich im Anschluss an Thomas Klinkerts Begriff der epistemologischen Fiktion (vgl. Klinkert 2010 und die Ausführungen in der Einleitung). 65 Vgl. Tani 1984, S. 43. 66 Schulz-Buschhaus 1997, S. 358.

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Die folgende Analyse von Alan Čerčesovs Villa Bel’-Letra (Villa Belles Lettres, 2005) und Marija Elifërovas Smert’ avtora (Der Tod des Autors, 2008) möchte aufzeigen, dass die eben konstatierte Entwicklung auch für den russischen Fall von Bedeutung ist. Ebenso wie bei ihren berühmten westlichen Vorläufern, unter denen Umberto Ecos Il nome della rosa (Der Name der Rose, 1980) herausragt, steht in diesen Werken die Problematisierung epistemologischer Ordnungen im Vordergrund. Gattungspoetisch bewegen sie sich zwischen Kriminalroman, Mystery-Thriller und philologischem Roman.67 Charakteristisch ist die Verschränkung des epistemischen und historischen Moments, das in Abgrenzung zur Gattungstradition entwickelt wird. Die harmonisiert in der Regel die Vergangenheit mit der Gegenwart und suggeriert, dass eine Rekonstruktion der Geschichte jederzeit möglich sei. Das Problem einer solchen Lösungsfindung liegt laut Korte und Paletschek darin, dass ein solches Ende […] der Prozesshaftigkeit und Komplexität historischer Ereignisse letztlich zuwider[läuft], [da] die conclusio der Erzählung […] bei Lesern die vergewissernde Vorstellung [generiert], dass die Geschichte sich noch (sicher und endgültig) ordnen lässt. […] Geschichtskrimis können aber darüber hinaus – und dies erklärt sich über die Entstehungsgeschichte und die Konventionen des Genres sowie die häufig behauptete Parallelität von historischem und detektivischem Ermitteln – erkenntnistheoretische Probleme von Geschichtsschreibung thematisieren.68

In den hier interessierenden Fällen wird die von Tani herausgearbeitete metafiktionale Erzähltechnik zu einer metahistoriographischen, die neben dem Kriminalfall auch die Kategorien historischer Erkenntnisbildung einer literarischen Untersuchung unterwirft.69

Das Verschwinden der Literatur in der Geschichte Was können wir über die Vergangenheit wissen? Alan Čerčesovs Villa Bel’-Letra verhandelt diese Frage anhand eines exemplarischen, am Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelten Mordfalls. Sein Roman, der Elifërovas Werk merklich beeinflusste, bedient sich zweier Zeitebenen. 1901, in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni, verschwindet in dem fiktiven Ort Dafchercing in der Nähe des ­Starnberger Sees 67 Dessen Revival setzt in Russland mit der Veröffentlichung und Prämierung von Michail Šiškins Roman Vzjatie Izmaila (Die Eroberung von Ismail, 2000) ein, der ebenfalls Anklänge an Kriminalsujets evoziert. 68 Korte/Paletschek 2009, S. 18, 20, Hervorhebung im Original. 69 Die folgenden Überlegungen, insbesondere zu Maria Elifërova, bauen auf Günther 2019a auf.

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die Femme fatale Lira von Rettau. Die Behörden vermuten Mord und ermitteln gegen drei der wichtigsten Schriftsteller ihrer Zeit. Lira von Rettau hatte diese auf ihren Landsitz eingeladen und ihnen für das Verfassen einer Novelle in der mysteriösen Villa ein Honorar versprochen. Der Fall Rettau bleibt jedoch ungelöst, Mord, Selbstmord und ein freiwilliges Verschwinden bleiben denkbare Lösungen. Ėlit Turera, Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde Lira von Rettaus, wiederholt 100 Jahre später das damalige Experiment und lädt erneut drei Schriftsteller in die Villa ein: den Russen Suvorov, den Franzosen Ras’ol’ und den Engländer Darsi. Zu den gleichen Bedingungen werden sie gebeten, ihre Version der damaligen Vorfälle zu Papier zu bringen. Doch plötzlich verschwindet Ėlit und alles scheint sich zu wiederholen. Čerčesovs Roman bezieht sich neben den geschilderten Ereignissen allegorisch auf einen literaturgeschichtlichen Wendepunkt. Die beiden verschwundenen Heldinnen Rettau und Turera in Villa Bel’-Letra sind Anagramme des russischen Wortes literatura und verweisen damit exemplarisch auf ein Verschwinden der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.70 Die zeitliche Datierung des Verschwindens auf die Nacht des 16. Juni referiert auf die Handlungszeit von James Joyces Ulysses, der am 16. Juni 1904 spielt. Der Handlungsort des Starnberger Sees deutet auf die mysteriösen Umstände des Ablebens von Ludwig II. hin, der am 13. Juni 1886 im See ertrank, was bis heute Anlass zu Mordspekulationen gibt. Es scheint somit eine historische Konstellation zentral, deren Ursachen nicht kriminalistisch ermittelt, sondern nur philologisch erklärt werden können. Von den Ereignissen 1901 wissen wir vor allem über die Romane der eingeladenen Autoren und die bewusst mit Wahrheit und Erfindung spielenden Aufzeichnungen Rettaus. Von den Ereignissen 2001 wissen wir wiederum nur mittels der Geschichten von Suvorov, Ras’ol’ und Darsi. Deren Erzählungen werden uns nur kompiliert und über den Roman selbst zugänglich. Der Charakter der einzelnen Zeugnisse ist umstritten, weil die Grundlagen historischer Ermittelbarkeit umstritten sind. Diese Debatte steht im Zentrum des sechsten Kapitels der Erzählung, in dem die drei Schriftsteller eine erste Zwischenbilanz ziehen. Für Darsi sind die historischen Quellen und Überreste nicht vertrauenswürdig: „Дневники и письма – не факт.“ 71 Suvorov schließt sich dieser Meinung an und erklärt auch die noch vorhandenen Fotographien für unzuverlässig: „Во-первых, снимки как снимки. Во-вторых, я бы не стал так уж им доверять.“ 72 Ras’ol’ hingegen ist in Bezug 70 Vgl. hierfür auch Pustovaja 2006. 71 Čerčesov 2006, S. 179. „Tagebücher und Briefe – das sind keine Fakten.“ 72 Čerčesov 2006, S. 179. „Erstens: Bilder sind Bilder. Und zweitens: Ich würde ihnen nicht so sehr vertrauen.“

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auf die hinterlassenen schriftlichen und fotographischen Dokumente optimistischer gestimmt. Apodiktisch urteilt er über die Erzählung seines Landsmanns Fab’en (einer der Eingeladenen 1901): „У Фабьена вы слышите пальцами ее волосы, губы, шею, что еще важнее – грудь, задницу и соски. А это, доложу вам, улика.“ 73 Die Konkretion insbesondere sexueller Wahrnehmung wird für ihn zur Orientierungsgröße. Suvorov hingegen traut diesem ‚Beweis‘ nicht und diskreditiert das ganze Verfahren: „Фабьен был банальный натуралист, а потому и не мог – не хотел, не пытался! – разглядеть ничего, кроме чисто животных примет объекта своего (вероятно, все-таки тщетного) вожделения.“ 74 Ist für Ras’ol’ Fab’ens Schilderung Beweis historischer Korrespondenz, bleibt sie für Suvorov nur Ausdruck sexualisierter Projektion. An diesen Stellen dreht der Konflikt ins Grundsätzliche: „Дело не в новелле, дорогой Жан-Марк, а в ее качестве.“ 75 Gerade über diese Qualität des Historiographischen lässt sich jedoch keine Übereinkunft erzielen. Dennoch scheint der Roman einer Lösungsstrategie eine überlegene diagnos­ tische Kraft zuzusprechen, die zu Beginn und zum Ende des Romans platziert wird: dem Gebrauch der Einbildungskraft. Der Roman beginnt mit der Suggestion einer authentischen Schilderung eines Mordes durch ein Fernglas. An dem Moment jedoch, an dem der Täter entlarvt zu sein scheint, bricht die Schilderung mit folgenden Worten ab: „Дальше бинокль бессилен; ты вынужден довериться воображению …“ 76 Das Vertrauen auf die Einbildungskraft wird von einer der Allegorien der Literatur wenig später wiederholt: 73 Čerčesov 2006, S. 183, Hervorhebung im Original. „Bei Fab’en spürt ihr mit den Händen ihre Haare, Zähne, ihren Hals, und was noch wichtiger ist – ihre Brust, ihren Hintern und ihre Nippel. Und das, so füge ich hinzu, ist ein Beweis.“ 74 Čerčesov 2006, S. 184; „Fab’en war ein banaler Naturalist und deshalb konnte – und wollte, ja er hat es nicht einmal versucht! – er nichts anderes erblicken, als bloße tierische Merkmale des Objekts seiner (sicherlich, dennoch vergeblichen) Obsession.“ 75 Čerčesov 2006, S. 170, Hervorhebung im Original. „Es geht nicht um die Novelle, lieber Jean-Marc [Ras’ol’], sondern um ihre Beschaffenheit“. 76 Čerčesov 2006, S. 7. „Weiter ist das Fernglas wertlos. Du musst der Einbildungskraft vertrauen.“. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass sich die Beobachtung des Beginns ganz am Ende als zutreffend erweist: „Теперь тебе очевидно, читатель, что пресловутый роман не слишком-то удался. Хотя мы, надо признать, и согласны с его печальным зачином, где первым же предложением о литераторах говорится как об убийцах – жестоко, но, в общем-то, верно“ (648). „Nun ist dir klar, Leser, dass der berüchtigte Roman nicht gänzlich gelang. Obwohl wir, das muss man anerkennen, auch einverstanden sind mit seinem traurigen Beginn, wo im ersten der Sätze über die Literaten wie über die Mörder gesprochen wird – grausam, aber, im Allgemeinen, wahr.“

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Die Popularität der Metahistoriographie

Увы, возможности современной криминалистики, хотя часто и кажутся невероятными, все же не безграничны: и ей не под силу расследовать столетнее прошлое, когда любые следы давно стерты временем […]. Единственное, что не сдается перед загадками древности, это воображение.77

Die Einbildungskraft steht über den Methoden der modernen Kriminalistik und ist ein Privileg der Literatur. Wer sich auf sie verlässt, vermag die Rätsel der Vergangenheit zu lösen. Es gilt also, einen alternativen Blick in Abgrenzung zur Zweckrationalität der Kriminalistik zu entwickeln. Einen solchen vermögen die zerstrittenen Diskutanten schließlich in einer Übereinstimmung von Kunst und Geschichte zu finden:78 – Каких-нибудь сто лет назад здесь сидели те трое и рассуждали, как мы. Но не о цели, а о предназначении … В этом вся разница. Нас победила идея стремительного движения. Скорость взамен утомительной и, в общем, затратной для сердца неспешности. Вместо истории – курс на мгновение. – История нынче – это почти что искусство, – согласился Расьоль. – А искусство – почти что история. – Вот-вот, – сказал Георгий и повторил: – Вот-вот-вот.79

Die zweifach verschwundene Literatur taucht im Roman schließlich in Gestalt der Geschichte wieder auf. Bei der Abmachung 1901 musste die Literatur verschwinden, um Geschichte(n) zu erhalten. Liras mysteriöses Schicksal bildete die Grundlage für die Möglichkeit der Entstehung von Literatur. Die Konstellation 2001 ist ähnlicher Natur. Geschichte ist in der Gegenwart bereits vor der Ankunft der zweiten Literaturallegorie Ėlit Tureras da, allerdings in einer naiven und defizitären Form, denn die Schriftsteller haben zu Beginn relativ klare Meinungen und Vorstellungen von den historischen Ereignissen 1901. Erst als die Literatur verschwindet, geraten sie ins Zweifeln und beginnen den 77 Čerčesov 2006, S. 30; „Leider sind die Möglichkeiten der heutigen Kriminalistik, obwohl sie oft unglaublich scheinen, doch nicht unbegrenzt; es liegt nicht in ihrer Macht, das vor einem Jahrhundert Geschehene zu erforschen, wenn die möglichen Spuren schon längst von der Zeit verweht wurden […]. Das Einzige, das vor den Rätseln des Vergangenen nicht kapitulieren muss, ist die Einbildungskraft.“ 78 Nicht umsonst ist das Kapitel auch Dreieinigkeit (Triedinstvo) betitelt. 79 Čerčesov 2006, S. 384. „,Gut 100 Jahre vorher saßen hier diese drei und diskutierten wie wir. Aber nicht über das Ziel, sondern über die Vorherbestimmung … Darin liegt der ganze Unterschied. Uns besiegte die Idee der zielgerichteten Bewegung. Geschwindigkeit anstelle einer ermüdenden, und im Allgemeinen, für das Herz verzehrenden Muße. Anstelle der Geschichte – Kurs auf den Augenblick.‘ ‚Die Geschichte heutzutage – das ist fast Kunst‘, stimmte Ras’ol’ zu. ‚Und Kunst ist fast Geschichte.‘ ‚Eben, eben‘, sagte Georgij und wiederholte: ‚Eben, eben, eben.‘“

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eigentlich literarischen Charakter der damaligen Ereignisse zu erkennen. Heutzutage ist Geschichte nur noch als Literatur denkbar, während 1901 Geschichte nur zum Preis des Verschwindens der Literatur denkbar war, so die Pointe der doppelten Konstellation.

Das Spiel der Autorin mit dem Tod des Autors Elifërovas auf fiktiver Grundlage basierender „filologičeskij triller“ 80 spielt ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zur Handlung: Im Jahr 1913 erscheint in London die überarbeitete Version des fiktiven Erfolgsromans Miroslav Bojarin von Alister Mopper. Die Medien stürzen sich auf den sagenumwobenen Stoff und möchten unbedingt mehr über den Autor und seinen mysteriösen Helden erfahren. Da trifft es sich gut, dass laut Aussage Moppers Miroslav noch unter den Lebenden weilt und gerne Auskunft über sich und seine Biographie erteilt. Doch etwas scheinen beide dem Publikum zu verheimlichen. Also begeben sich einige Journalisten auf die Suche nach den Hintergründen des Romans. Der Medienhype begünstigt zeitgleich Pläne, Moppers Roman zu verfilmen. Groß angekündigt kommt es zur Premiere der Verfilmung, die – trotz oder gerade wegen ihrer starken Bearbeitung des Originaltextes – die Zustimmung des Publi­ kums und sogar der Queen gewinnt. Doch die Erfolgsgeschichte bekommt bald Risse. Plötzlich gibt es den ersten Toten, den Schneider Miroslavs, der erhängt in seiner Wohnung aufgefunden wird. Noch verdächtiger wird die Sache, als Doroti Uėst, eine Verehrerin Miroslavs, die engen Kontakt mit ihm pflegt, verrückt und verstört in einem der Londoner Parks aufgegriffen wird. Das gleiche Schicksal ereilt wenig später den Darsteller Miroslavs im Film. Irgendetwas scheint mit dem mysteriösen Miroslav, der nach eigener Auskunft aus der Walachei stammt, gegen die Türken kämpfte und schon einige hundert Jahre auf Erden weilt, nicht zu stimmen. Fasziniert von Miroslav, entschließt sich die junge deutsche Studentin Ingrid Štajn, den Fall endlich aufzuklären. Gestützt auf Archivmaterialien kommt sie dem Geheimnis Miroslavs so nah wie niemand zuvor. Doch plötzlich ist sie tot. Irritiert durch die vielen Opfer seines Romans, plagen Mopper nun vermehrt Gewissensbisse. Er beschließt, die Fälle aufzuklären, Miroslav zur Rede zu stellen und das Treiben zu stoppen. Doch dann brechen die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch ab, der berühmte Schriftsteller ist tot und der Roman endet, womit er begonnen hat – mit der Nachricht vom Tod eines Autors.

80 So der programmatische Untertitel.

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Stirbt bei Čerčesov die Literatur, so ist das Opfer bei Elifërova der Autor. Bereits der Titel ihres Romans weist darauf hin, dass mit dem Ableben Moppers nicht irgendein Autor stirbt, sondern eine Institution zu Grabe getragen wird. Die Hauptfigur Mopper kann unschwer mit dem irischen Erfolgsschriftsteller Bram Stoker in Verbindung gebracht werden, dessen Dracula den Hintergrund für Moppers Bojarin bietet. Stoker starb 1912 in London, wo auch die Handlung des rund ein Jahr später spielenden Romans von Elifërova lokalisiert ist. Neben Stoker tauchen eine Reihe weiterer berühmter Literaten wie Somerset Maugham, Virginia Woolf und H. G. Wells auf, die sich zum Roman Moppers und zur Mordserie äußern. Smert’ avtora ist ein Medienroman. Er ist aufgebaut als Collage verschiedener textueller Elemente, v. a. von Zeitungsartikeln, Tagebucheinträgen und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen. Alles, was der Leser vom Kriminalfall weiß, erfährt er aus den Massenmedien. Alle Informationen treten dem Leser mehrfach vermittelt entgegen. Elifërovas Montagestrategie ist binär angelegt. So beginnt der Roman mit der Nachricht des Todes des Schriftstellers Alister Mopper. Zunächst ist von Selbstmord die Rede, doch einige Tage später ist dieselbe Zeitung, die das vermeldet hat, schon überzeugt, dass es sich nicht um Selbstmord handeln könne. Ebenso widersprüchlich sind die Beschreibungen des Hauptverdächtigen Miroslav Bojarin. Sensationslüsterne Interviews stehen neben Tagebucheinträgen und historischen Abhandlungen über Bojarin, der deutlich Vlad Tepeș, der Inspirationsquelle für Stokers Dracula, nachempfunden ist. Jeder Behauptung, z. B. über die literarische oder faktographische Qualität des Werkes, wird so im nächsten Dokument vehement widersprochen. Eine solche polyphone Anordnung heterogener Quellen und Aussagen generiert Spannung, alles ist für den Leser Mysterium. Diese Anordnung wird nicht von einer deutlich vernehmbaren Autorenstimme orchestriert, die es dem Leser erlauben würde, vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden Vernehmbar ist die Autorenstimme allenfalls indirekt durch die Wiederholung und prominente Platzierung bestimmter Leitbegriffe, deren wichtigster der der Mystifikation ist. Bereits in den ersten Rezensionen zum Roman wird der Verdacht geäußert, dass man es im Falle des Haupthelden mit einer Mystifikation zu tun habe. Mopper wird mit dieser Anschuldigung konfrontiert, die er brüsk zurückweist: „Я никого не мистифицирую, – серьёзно ответил писатель“.81 Wenig später wiederholt jedoch der als Experte hinzugezogene Historiker Daniėl’ Stėnli aus Cambridge diesen Vorwurf: „Д. С: Боюсь, что публика попалась на 81 Elifërova 2007, S. 20. „Ich mystifiziere niemanden, antwortete der Schriftsteller in vollem Ernst.“

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мистификацию.“ 82 Wie Frank et alii gezeigt haben, bewegt sich die Mystifikation in einem Zwischenraum, der „sowohl im Realen wie auch im Fiktiven“ 83 angesiedelt ist. Ebenso verhält es sich mit dem Haupthelden Miroslav Bojarin. Der Held ist Teilnehmer der Debatten um den Roman, er gibt selbst Interviews und lebt in London, ist also im Bereich des Romanrealen angesiedelt. Gleichzeitig ist er eine fiktive Romanfigur, deren Handeln in der erzählten Zeit nicht mit dem in der Erzählzeit zusammenfällt. Eine weitere Mystifikationsschleife wird geknüpft, wenn sich die Autorin unter Klarnamen im Nachwort des Romans selbst in die Debatte einmischt und zwei Möglichkeiten – als Fragen formuliert – ins Spiel bringt. So fragt sie zunächst: „Ну, а записки Моппера – ведь они всё-таки мистификация?“ 84 und setzt im nächsten Satz damit fort, dass sie selbst zu dieser Auffassung neige. Wenig später wird allerdings die Gegenposition ins Spiel gebracht: „Но что, если эти тексты – не мистификация?“ 85 Im Epilog suggeriert die Autorin eine Auflösung im Stil einer dea ex machina. Dies erweist sich jedoch als Trugschluss. Vielmehr vollzieht sie den titelgebenden Mordplan Roland Barthes’ nach, bei dem der Tod des Autors als Voraussetzung für die Befreiung des Lesers dient: Да, тайна, бессмысленная и беспощадная тайна, которая, быть может, скрыта от нас ради нашего же блага, ибо что бы мы стали делать без тайны? В этом и состоит секрет художественного произведения – напоминать нам о тайне; в этом кроется невероятный успех романа Моппера (плохого, нескладно написанного романа, если уж об этом говорить). Потому что истинная тайна – не в произведении и не в герое, она в нас самих; а произведение – это всего лишь белые листы с буквами. И всё-таки … Что, если Мирослав – среди нас?86

82 Elifërova 2007, S. 119. „D. S.: Ich befürchte, dass das Publikum auf eine Mystifikation hereingefallen ist.“ 83 Frank u. a. 2001, S. 8. 84 Elifërova 2007, S. 229. „Und die Aufzeichnungen Moppers – was, wenn sie doch Mystifikationen sind?“ 85 Elifërova 2007, S. 229. „Aber was wäre, wenn diese Texte nun keine Mystifikationen wären?“ 86 Elifërova 2007, S. 230. „Ja, das Geheimnis, das sinnlose und schonungslose Geheimnis – möglicherweise versteckt vor uns um unseres Wohlbefindens willen: Was würden wir denn ohne das Geheimnis machen? Darin liegt auch das Geheimnis künstlerischer Produktion – uns an das Geheimnis zu erinnern. Darin steckt auch der Grund für den unglaublichen Erfolg von Moppers Roman (eines schlechten, ungeschickt zusammengeschusterten Romans, wenn davon schon die Rede ist). Weil das wirkliche Geheimnis nicht im Werk und nicht im Helden, sondern in uns selbst steckt; und das Werk selbst sind nur weiße Blätter mit Buchstaben. Und trotzdem … Was, wenn Miroslav unter uns wäre?“

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Die Popularität der Metahistoriographie

Beide Momente, die mediale Montage wie auch der Leitdiskurs der Mystifikation, vereint ein Element. An die Stelle einer eindeutigen Referenzstruktur zwischen Signifikant und Signifikat tritt eine unabschließbare und potentiell unendliche Kette von Signifikanten, die stets wieder auf andere Signifikanten verweisen. Dass gerade die literarische Referenz schlechthin, der Roman Moppers, im Text unerwähnt und unzitiert bleibt, unterstreicht die hyperreale Qualität der Romanwelt, in der die Literatur zu einem Zeichen unter anderen wird und in der nach Aufmerksamkeit heischenden Gesellschaft mit den ebenso auf fiktive Quellen zurückgreifenden Historikern und Journalisten konkurrieren muss.

Aufklärung aussichtlos: Die Einübung neuer historischer Ordnungsmuster Dem metahistoriographischen Detektivroman geht es um mehr als die bloße Inversion bestehender Ordnungsmuster. Über die Parodie und Kritik kriminalfiktionaler Konventionen hinaus entwickelt er ein alternatives Modell. Angedeutet wird dieser Anspruch eines Kriminalsujets jenseits von Detektivik und Antidetektivik im Dekonstruktion übertitelten Kapitel von Villa Bel’-Letra. Dort heißt es: Детектив, как известно, всегда и везде начинается с трупа. Отсутствие трупа в нем – своего рода трюк: детектив в детективе. Двойное отсутствие трупа – по жанру скорее уже детектив-суицид. Ибо труп в нем все-таки есть – детектив.87

Auf detektivischer Ebene scheint der Fall im Roman nicht zu dekonstruieren zu sein, weshalb der Polizeipräsident die Ermittlungen denn auch nach einigen Jahren einstellt. Bemerkenswert ist, an welche Instanz der Roman den Fall danach verweist: „Так дело Лиры фон Реттау было закрыто, перейдя из плоскости юриспруденции в сферу этико-эстетических разысканий.“ 88 Den Schriftstellern gelingt es anschließend, die anagrammatische Struktur der Konstellation 1901/2001 zu lösen, womit das Rätsel der Verrätselung aber noch nicht gänzlich gelöst ist. Also schlägt Ras’ol’ vor, die Lösung des Falls, die die Schriftsteller nun zu erahnen scheinen, auf einen Zettel zu schreiben. Das Resultat bringt erneut die 87 Čerčesov 2006, S.  529, Hervorhebung im Original. „Ein Detektivroman beginnt bekanntlich immer und überall mit einem Leichnam. Fehlt der Leichnam, so hat man es mit einem Trick eigener Art zu tun: einem Detektivroman im Detektivroman. Das doppelte Fehlen des Leichnams ist gattungspoetisch gesehen schon ein DetektivromanSuizid. Denn es gibt in ihm gleichwohl eine Leiche – den Detektivroman.“ 88 Čerčesov 2006, S. 535. „So wurde die Akte Lira von Rettau geschlossen und wechselte von der Ebene der Justiz in die Sphäre der ethisch-ästhetischen Nachforschung.“

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Dreieinigkeit des Triumvirats zu Tage. Alle schreiben auf ihren Zettel das Wort Metapher. Damit haben sie schlussendlich erkannt – so eine der im Roman unterbreiteten Lösungen –, dass sie lediglich Akteure „zweiter Ordnung“ in einer spielerischen Anordnung ihrer drei Vorgänger waren, die das Szenario inszenierten.89 Warum fungiert die Metapher so prominent am Ende des Buches? Hier scheint ein Funktionspotential angedeutet, das es zu ermitteln gibt. Als detektivische Assistenz könnte man Hans Blumenberg konsultieren, dessen literaturtheoretische Arbeit ebenfalls davon angetrieben ist, „die logische ‚Verlegenheit‘ zu ermitteln, für die die Metapher einspringt“.90 Laut Blumenberg nimmt man Zuflucht zu Metaphern, wenn die kategorialen Mittel der Zuordnung eines Sachverhalts ausgeschöpft sind. Metaphern bewegen sich im Bereich der bei Čerčesov durchdeklinierten „всеобщая амбивалентность“ 91 und adressieren „‚Übertragungen‘, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen“.92 Genau mit einer solchen Unmöglichkeit der Rückholung haben wir es im Falle des Verhältnisses von Literatur und Geschichte zu tun. Lebt der Kriminalroman in der Regel davon, die „Doppelsinnigkeit aller Zeichen“ in einem „Endpunkt […], an dem die Wahrheit gefunden wird und die Zeichen auf ihre Bedeutung reduziert werden“,93 zu stabilisieren, so deutet die Logik der literarischen Metaphorizität in Villa Bel’-Letra auf das Gegenteil hin. Es geht nicht darum, eine instabile epistemische Situation zu stabilisieren, sondern darum, diese – auch als Element des Detektivromans – anzuerkennen. Dies lässt sich am ehesten mit der von Paul de Man beschriebenen Epistemik der Metapher in Einklang bringen, der schreibt: Contrary to common belief, literature is not the place where the unstable epistemology of metaphor is suspended by aesthetic pleasure, although this attempt is a constitutive moment of its system. It is rather the place where the possible convergence of rigor and pleasure is shown to be a delusion.94

In Bezug auf den Kriminalroman wird hier ein Funktionswandel sichtbar. Die Aufklärung besteht nicht mehr darin, dass historische Realität und Romangeschehen synchronisiert werden, sondern darin, dass die Unmöglichkeit einer solchen Synchronisation aufgezeigt wird. Der Kriminalroman wird zum Medium poetologischer und epistemologischer Selbstreflexion. 89 90 91 92 93 94

Vgl. Čerčesov 2006, S. 577. Blumenberg 1998, S. 10. Čerčesov 2006, S. 569; „allumfassende Ambivalenz“. Blumenberg 1998, S. 10. Bremer 1999, S. 145. de Man 1978, S. 30.

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Elifërovas Roman operiert ähnlich. Eine der spannendsten mit der DraculaGeschichte verbundenen Fragen war stets die, inwiefern das im Roman Stokers geschilderte Geschehen den historischen Tatsachen entspreche. Eine solche korrespondenztheoretische Wahrheitssehnsucht treibt auch die Ermittler im Roman um: „Меня интересует правда; ведь я критик и исследую соотношение литературы с реальностью.“ 95 Die Pointe in Elifërovas Roman liegt nun darin, dass im Verlauf des Romans die Stabilisierung der beiden Pole, die sich der Journalist Ar’čer erhofft, misslingt und sich als hoffnungsloses Unterfangen entpuppt: „В историях, которые о нём рассказывают, совершенно невозможно отделить реальность от вымысла.“ 96 Dies gilt zunächst in Bezug auf den historischen Bojarin. In dessen Gestalt vermischen sich, wie bei Graf Dracula, verschiedene Quellen. Neben verbürgten, in Archiven lagernden Quellen existiert eine Fülle von Mythen und Legenden, die bei Elifërova anklingen. Es gibt eine Vielzahl von Laien und professionellen Historikern, die die Geheimnisse um Bojarin lüften möchten. Doch am Ende jeder vermeintlich sensationellen Enthüllung weiß der Leser nicht mehr als zuvor, die historische Wahrheit lässt sich nicht ermitteln. Dies betrifft auch die Erzählung Elifërovas selbst. Im Nachwort behauptet sie, sie habe alle Ausschnitte eigens überprüft: „Вырезки из газет и журналов мне удалось проверить по электронным архивам“.97 Dies ist aber eine literarische Mystifikation, kann doch auch die Autorin die Frage der historischen Wahrheit nicht lösen, wie sie freimütig zugibt: „Нам не удалось обнаружить сколько-нибудь весомых доказательств идентичности Мирослава Эминовича“.98 Auch um den literarischen Helden Bojarin im Roman von Mopper ist es schlecht bestellt. Wie bereits bemerkt, erfahren die Leser nichts über diesen, können folglich kaum einschätzen, wie wahr der literarische Roman ist. Der Held, Bojarin, bildet den einen Pol der Auseinandersetzung, wenn er in einem Interview behauptet: „Правда написана в «Мирославе боярине», мистер Джейсон. А верить ей или не верить – это уже ваше дело.“ 99 Die Gegenposition hierzu bildet der Historiker Daniėl’ Stėnli, der behauptet: 95 Elifërova 2007, S. 45. „Mich interessiert die Wahrheit. Ich bin nämlich Kritiker und untersuche das Verhältnis der Literatur zur Wirklichkeit.“ 96 Elifërova 2007, S. 47. „In den Geschichten, die über ihn erzählt werden, ist es vollkommen unmöglich, Wirkliches von Ausgedachtem zu trennen.“ 97 Elifërova 2007, S. 225. „Die Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte konnte ich anhand elektronischer Archive überprüfen.“ 98 Elifërova 2007, S. 226. „Uns gelang es nicht, irgendwelche gewichtigen Beweise für die Identität Miroslav Ėminovičs zu finden.“ 99 Elifërova 2007, S. 25. „Die Wahrheit steht in Miroslav Bojarin, Mister Džejson. Und ob sie diese glauben oder nicht, ist allein ihre Sache.“

Metahistoriographische Mysterien389 Боюсь, что публика попалась на мистификацию. Поскольку Моппер пользовался моими источниками, когда писал роман, я могу со всей ответственностью сказать, что никакого отношения к Эминовичу герой не имеет.100

Was stimmt nun? Wir wissen es nicht und – noch wichtiger – können es auch gar nicht wissen, weil die historische Referenzebene fehlt. Betrachten wir abschließend noch die dritte Ebene, den handelnden ­Bojarin in der Erzählzeit des Romans, den vermutlichen Mörder. Seine Täterschaft ist gebunden an schriftliche Quellen und mündliche Zeugnisse, die im Roman allesamt den Verdacht der Fälschung und Unzuverlässigkeit in sich tragen. Die Mordfälle bleiben somit ungelöst, und ob es sie überhaupt gegeben hat, steht – ähnlich wie bei Čerčesov – in den Sternen. Beide hier betrachteten Texte spielen mit der Idee der Wiederherstellung der Ordnung im Kriminalroman und unterminieren sie am Ende. Die kriminalistischen Ermittlungen sind ohne die für den Kriminalroman so charakteristische Auflösung einzustellen. Diese Einstellung gilt in dreierlei Hinsicht. Wie gesehen gibt es erstens trotz der umfangreichen Ermittlungen keine endgültige Klarheit über die Hintergründe des Ablebens von Autor und Literatur. Es bleibt nur, dieses zu akzeptieren, aufklären kann man es nicht. Dies liegt zweitens daran, dass die Parameter der Kriminalerzählung neu eingestellt werden. Einstellung ist hier zu verstehen im Anschluss an die formalistische Ustanovka-Konzeption als Verfahren der kunstimmanenten Organisation des Materials nach ästhetischen Kriterien. Čerčesov und Elifërova brechen mit dem u. a. von Šklovskij herausgearbeiteten Grundschema der Kriminalgeschichte 101 und etablieren auf innovative Weise eine neue Strukturierung des Sujets. Als Konsequenz dieser Neueinstellung muss drittens vor allem der Leser lernen, sich auf die neue Unübersichtlichkeit der Gesellschaft und die damit verbundenen Unsicherheiten – auch bei der Aufklärung von Kriminalfällen – einzustellen. Der Tod der Literatur und des Autors zeitigt die Geburt des Lesers als Ermittlerfigur – insofern ist der Verweis auf Barthes’ Text bei Elifërova gerechtfertigt. Beide Kriminalromane lassen sich somit lesen als literarisches Experiment mit Figuren emergenter Ordnung. Eine emergente Ordnung legt den Schwerpunkt auf die eigendynamische Entwicklung von Vorgängen, die sich von keiner Reflexionsinstanz mehr synchronisieren und ordnen lassen.102 Mit der damit 100 Elifërova 2007, S. 119. „Ich befürchte, das Publikum wurde Opfer einer Mystifikation. Insofern Mopper sich meiner Quellen bediente, als er den Roman schrieb, so kann ich mit aller Sicherheit sagen, dass der Held keinerlei Beziehung zu Ėminovič besitzt.“ 101 Vgl. Šklovskij 1929a/b. 102 vgl. Luhmann 2008a, v. a. S. 153 – 162.

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verbundenen Unsicherheit müssen soziale Systeme leben lernen. Wer es schafft, sich auf diese Unsicherheit – gerade im Kriminalfall und in der Beschäftigung mit der Vergangenheit – einzustellen, kann überleben und das Schauspiel genießen. Wer den Tod von Autor und Literatur jedoch nicht akzeptieren kann, wird daran zugrunde gehen.

7.3  Kinemagiographien – Politiken und Poetiken der Peripherie in der russischen Gegenwartsliteratur Dass nichtliterarische Darstellungsformen einen wichtigen Einfluss auf die Gestaltung nicht nur historischen Erzählens ausüben, ist ein Gemeinplatz der Literaturwissenschaft und insbesondere für die Moderne wiederholt Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Ins Blickfeld gerückt sind dabei vor allem kinematographische Erzählverfahren.103 Angesichts der Allgegenwart und Bedeutsamkeit außerliterarischer Gestaltungsprinzipien überrascht es, dass viele Theorien historischer Narration bislang überwiegend im literarischen Bezugsfeld verbleiben. So führt Hayden White in seiner Metahistory die verschiedenen Formen historischer Narration noch ausschließlich auf literarische Archetypen des Emplotments zurück. Die von ihm unterschiedenen Formen – Romanze, Komödie, Tragödie und Satire – scheinen jedoch nicht (mehr) ausreichend, um eine Historiographie zu beschreiben, die merklich von außerliterarischen Formen der Sujetorganisation geprägt ist, wie sie beispielsweise die Fernsehserie darstellt. Ebenso auf dem Prüfstand steht Whites Tropologie, deren Fokussierung auf Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie ebenfalls ausschließlich am Literarischen orientiert ist. Aus narratologischer Perspektive lässt sich hier ein Problem ausmachen. Bei Daniel Fulda heißt es: Eine umfassende Narratologie der Historiografie müsste auch Fernsehsendungen, Ausstellungen und vieles andere mehr, womöglich gar reenactments berücksichtigen, hätte es also mit weit mehr Medien als gedruckten Büchern zu tun.104

Die Erweiterung, die hier eingefordert wird, bezieht sich nicht nur auf Medien, sondern auch auf Erzählverfahren. In der russischen Gegenwartskultur gibt es eine Vielzahl stark außerliterarisch inspirierter Autoren und Werke, die die 103 Vgl. Gillespie 2010, v. a. S. 125 – 145, der sich Proust, Mann und Joyce widmet. PeterAndré Alt hat in einer Studie kinematographische Erzählformen bei Kafka untersucht, vgl. Alt 2009. 104 Fulda 2018, S. 444.

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Plurimedialisierung des Erzählens als Möglichkeit einer alternativen historiographischen Beschreibung der eigenen marginalisierten Geschichte begreifen. Das Unterkapitel möchte, orientiert am Leitbegriff der „Kinemagiographie“ am Beispiel von Guzel’ Jachinas Zulejcha otkryvaet glaza (Suleika öffnet die Augen, 2015) und Aleksej Ivanovs Tobol (2017) zeigen, welche poetologischen und politischen Implikationen diese Verschiebung für die Historisierung der russischen Peripherie zeitigt.

Kinemagiographie – Versuch einer begrifflichen Annäherung Kinemagiographie verweist terminologisch auf Traditionen literarischer Kinematographizität. Irina Mart’janova hat diese im russischen Kontext untersucht, ihren Einfluss bei Osip Mandel’štam, Sergej Dovlatov und in der Prosa der 1990er Jahre herausgearbeitet und definiert als Характеристика текста с монтажной техникой композиций, в котором различными, но прежде всего композиционно-синтаксическими средствами изображается динамическая ситуация наблюдения. Вторичными признаками литературной кинематографичности являются слова лексико-семантической группы Кино […]. Кинематографичный тип текста подчеркнуто визуален в самом характере своего пунктуационно-графического оформления и членения.105

Mart’janovas Definition steht im Einklang mit jüngeren Definitionen kinematographischen Erzählens, welche die Multimodalität des Films als ausschlaggebendes Kriterium bestimmen.106 Kinematographisches Erzählen aktiviert Matthias Christen zufolge über sprachlich-semantische Codes hinaus insbesondere visuelle Codes, die für den „ausgeprägt präsentischen Charakter“ 107 des Gezeigten sorgen. Solche Bestimmungen knüpfen dabei an filmtheoretische Untersuchungen des russischen Formalismus an, die die Spezifik filmischer Verfahren evolutionär deuteten und in ihren Wechselwirkungen mit der literarischen Entwicklung studierten.108 105 Mart’janova 2001, S. 9. „Charakteristikum eines nach der Montagetechnik verfassten Textes, in welchem mit verschiedenen, vor allem kompositionell-syntaktischen Mitteln eine dynamische Situation der Beobachtung dargestellt wird. Sekundäres Merkmal literarischer Kinematographizität ist eine auf das Kino bezogene Lexik und Semantik […]. Der kinematographische Typ des Textes ist dezidiert visuell im Charakter seiner von Punktuationen und graphischen Elementen geprägten Gestaltung und Gliederung.“ 106 Vgl. Christen 2018, S. 448. 107 Christen 2018, S. 448. 108 Vgl. für eine klassische Studie den formalistischen Sammelband Poėtika kino (1927) (vgl. für eine deutschsprachige Fassung Beilenhoff 1974/2005).

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Narratologisch präziser als Mart’janova widmet sich Manfred Brössel in seiner Studie Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte der Frage, wie „die verbalsprachliche Literatur Formen realisieren [kann], die naturgemäß plurimedial in Erscheinung treten“.109 Er unterscheidet dabei zwischen einem offenen Typus, in dem explizite filmische Bezüge dominieren, und einem verdeckten Typus, in dem auf Filmbezüge in der Architektur des Textes oder einzelner Episoden zurückgegriffen wird (68). Brössel arbeitet einschlägige Modi filmischer Darstellung heraus, unter denen „die Zurücknahme der Erzählinstanz, die (annähernde) Isochronie von Erzählzeit und erzählter Zeit sowie die (scheinbare) Gegenwärtigkeit der Figurenhandlung“ (111), „die Kombination von perzeptiver und räumlich-mobiler Perspektive“ (99) und der Einsatz von Montagetechniken für unsere Beispiele besonders zentral sind. Viele dieser Techniken gehen dabei auf den realistischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück und stellen seitdem Konstanten literarischer Erzählverfahren dar. Dass zwischen Literatur und Kinematographie in der russischen Gegenwartsliteratur mannigfaltige Bezüge bestehen, offenbart ein Blick auf die illustre Liste zeitgenössischer Autoren, die als Szenaristen für das Kino, für Fernsehserien oder Computerspiele arbeiten. Sie umfasst Autoren wie Aleksej Ivanov, Guzel’ Jachina, Leonid Juzefovič, Anna Kozlova, Elena Nekrasova, Denis Osokin, Andrej Rubanov, Vladimir Sorokin, Sergej Čekmaev, Aleks Tarn(ovickij), Aleksandr Terechov und Valerij Zalotucha. Angesichts eines literarischen Markts, auf dem Autoren durch die Publikation ihrer eigenen Titel kaum überleben können, sind viele zeitgenössische Schriftsteller in Russland zu einem Nebenverdienst im Kinooder Serienbereich gezwungen, was in öffentlichen Diskussionen und Interviews beklagt wird.110 109 Brössel 2014, S. 3. 110 Andrej Rubanov (2017) mahnt beispielsweise die Verfasser von Drehbüchern: „[…] вы можете обнаружить, что сочиняете чужие истории, по заказу чужих людей, про чужих героев, которые вам давно надоели“. „[…] ihr werdet herausfinden, dass ihr fremde Geschichten auf Auftrag fremder Leute über fremde Helden, von denen ihr schon längst genug habt, schreibt.“ Anna Kozlova äußerte sich auf einer Gesprächsrunde am 13. 06. 2018 im Literarischen Colloquium Berlin ähnlich und sagte, dass sie als Drehbuchautorin vor allem aus finanziellen Erwägungen arbeite. Leonid Juzefovič (2012) bekennt in einem Interview: „Сценарии пишу из-за денег.“ „Drehbücher schreibe ich wegen des Geldes.“ Die Tatsache, dass mit dem Schreiben von Drehbüchern so viel Geld verdient werden kann, dass dadurch die weitere literarische Arbeit quersubventioniert werden kann, ist wiederum eine Folge der Erholung der russischen Filmbranche seit Beginn der 2000er Jahre und somit ein distinktes Phänomen der in diesem Teil untersuchten Epoche.

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Der innovative Charakter der beiden hier im Fokus stehenden Werke ergibt sich aus der Kombination etablierter und auch beim Publikum erfolgreicher Verfahren filmischen Erzählens mit Motiven und Strukturierungen des Magischen. Bereits im Spätsozialismus kam es – fast zeitgleich zur Renaissance des Mythos im Westeuropa – zu einer Wiederentdeckung des Mythisch-Magischen, die insbesondere von Repräsentanten der Peripherie getragen wurde, man denke etwa an Čingiz Ajtmatov oder Semen Lipkin.111 Am radikalsten äußerte sich die Wiederaneignung des Mythischen im Umfeld des poetischen Kinos in den Sowjetrepubliken, insbesondere in der Ukraine, im Baltikum und im Kaukasus. Die Idee eines poetischen Kinos erreichte die Sowjetunion als französischer Theorieimport in den 1920er Jahren, als sie intensiv unter den russischen Formalisten rezipiert wurde. Ihren wirkmächtigsten antiimperialen Ausdruck fand sie zunächst im Schaffen Oleksandr Dovženkos.112 Dovženkos Werk erlebte während des Tauwetters eine Renaissance und wurde zum Impulsgeber für die zweite Welle des ukrainischen poetischen Kinos, die vor allem mit dem Schaffen Serhij Paradžanovs verbunden ist.113 Inspiriert von Federico Fellini und Pier Paolo Pasolini schufen die Regisseure des poetischen Kinos eine primär formal strukturierte, traumhaft erscheinende Welt, in der die Bildlichkeit wichtiger war als die jeweilige diegetische Funktion.114 Im poetischen Kino setzte eine Rehabilitation des Magisch-Mythischen ein,115 für die das Kino als privilegiertes Medium der Vermittlung einer Ästhetik jenseits des mimetischen Leitparadigmas fungierte. Der biographische Reifungsprozess in den jeweiligen Filmen korreliert mit einem religiös-mythischen Erkenntnisprozess, der hagiographisch modelliert wird. Auch bei Paradžanov lässt sich von solch einer „filmed hagiography“ 116 sprechen, zu deren wichtigsten stilistischen Merkmalen laut Dmitrij Lichačëv die „accumulation of synonyms, tautological and pleonastic combinations, neologisms and epithets, with their rhythmical

111 Vgl. hierzu Unterkapitel 2.3. 112 First 2009; s. a. Williams 1994. 113 „The list of directors associated with the Ukrainian Poetic Cinema is rather short. In addition to those discussed above (Paradžanov und Jurij Ilienko) only a few more names and titles are mentioned by critics. Mykola Mashchenko with Komisary (The Commissars, 1970), Borys Ivchenko with Propala hramota (Lost Charter, 1972) and Artur Voitetsky with Z nud’hy (Out of grief, 1967) have to be mentioned as canonical works of the movement“ (Nebesio 2000, S. 38, Hervorhebungen im Original). 114 Chernetsky 2016, S. 3. 115 Vgl. Haber 2003. 116 Daney zit. nach Hoberman 2018.

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organisation of language“ 117 zählen. Jenseits des poetischen Kinos der Ukraine findet man eine ähnliche Ästhetik u. a. auch im filmischen Schaffen Andrej ­Tarkovskijs und Mark Donskojs.118 Inhaltlich beschäftigte sich das poetische Kino vor allem mit geschichtlichen Themen, die es auf der Basis literarischer Vorbilder und unter besonderer Berücksichtigung der Formen der ländlichen Volkskultur bearbeiteten.119 Hier wird ein ethnographisch zu nennendes Erkenntnisinteresse historischer Volkskulturen sichtbar, das auch für Ivanovs und Jachinas Romane zentral ist. Diese Darstellungen unterschieden sich, wie Vitaly Chernetsky beispielhaft anhand des ukrainischen Kontexts und des Zweiten Weltkriegs entfaltet hat, merklich von der offiziell sanktionierten Geschichte und gerieten auch deshalb Anfang der 1970er Jahre unter Druck. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Magische im poetischen Kino mehr als ein bloßes Motiv war, sondern als ästhetische Leitkategorie – ähnlich wie im gleichzeitig auch in der Sowjetunion ankommenden Magischen Realismus – die Organisation des Sujets und die Darstellungstechniken der Fabel prägte. Für die Bestimmung kinemagiographischer Historiographie können einige Elemente dieser magisch-realistischen Ästhetik herangezogen werden. Einen wesentlichen Impuls nimmt die zeitgenössische Kinemagiograpie in Form der Privilegierung magischer Erzählelemente vom poetischen Kino des Poststalinismus auf. Zu nennen sind hier u. a. die postkoloniale Hybridisierung des Settings,120 die Normalisierung und Naturalisierung des Übernatürlichen,121 die starke Präsenz der phänomenalen Welt,122 die „recuperation of silenced voices as axial to a positive imagined reconstruction of reality“,123 das Primat visueller Welterschließung sowie die tendenzielle Transformation des Magischen Realismus hin zu einem Magischen Historizismus 124. Kinemagiographie ist damit dem oben skizzierten hagiographischen Stil verwandt, verzichtet aber auf dessen religiöse Untertöne und steht diesbezüglich eher in der sozrealistischen Tradition der säkularisierten Hagiographie.125 Ästhetisch und inhaltlich kann Kinemagiographie im Anschluss 117 118 119 120 121 122 123 124

Lichačev zit. nach Dobrenko 2008, S. 151. Zu Donskoj vgl. Dobrenko 2008. Nebesio 2000, S. 41. Vgl. Chernetsky 2016, S. 9. Warner 2009, S. 3. Faris zit. nach Warner 2009, S. 5. Slemon 1995, S. 420. Im Sinne von Etkind 2009, der allerdings das Magische als spezifisches „post-Soviet Uncanny“ (644) bestimmt, was hier zurückgewiesen werden soll, siehe hierzu den Schlussparagraphen. 125 Vgl. für diese Tradition Clark 1980, S. 48 ff.

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an Stephen Slemon auch postkolonial gelesen werden im Sinne einer befreienden Auseinandersetzung mit der imperialen Geschichte und den von ihr in Gang gesetzten Diskontinuitäten.126 Die populäre Kinemagiographie orientiert sich, wie wir noch sehen werden, in ihren kompositorischen Strukturen an einer von Hollywood geprägten, leicht zugänglichen Struktur, gegen die die Exponenten des poetischen Kinos seinerzeit polemisiert hatten.

Das Vor-Augen-Stellen des Augenöffnens – Guzel’ Jachinas Zulejcha otkryvaet glaza Der kinematographische Einfluss in Guzel’ Jachinas Zulejcha otkryvaet glaza ist offensichtlich. Jachina, die parallel zur Entstehung des Romans einen Abschluss an der Moskovskaja Škola Kino erwarb, hat in einem Interview selbst darauf hingewiesen: „Роман родился из сценария, и те визуальные образы, которые описаны в книге, сначала были фрагментами киноистории.“ 127 Der kinemato­ graphische Einfluss wird auch in ihrem zweiten Roman Deti moi (Wolgakinder, 2018) deutlich, der ebenfalls unter Bezugnahme auf ein bereits im Vorfeld erarbeitetes Drehbuch entstand. Es soll deshalb in der Folge weniger darum gehen zu zeigen, dass ihr Roman kinematographische Elemente enthält, sondern darum, welche Funktion diese Elemente für den historischen Gehalt der Erzählung einnehmen. Im ersten Romankapitel dient kinematographisches Erzählen dazu, die Heldin als historische Akteurin in den Erzählkosmos einzuführen. Dieser ist anfänglich nicht durch Markierungen der historischen Zeit bestimmt. Betitelt ist das Kapitel Odin den’ (Ein Tag), es handelt sich um einen kalten Januarmorgen, der historisch nicht näher spezifiziert wird. Die geschichtliche Unbestimmtheit lenkt den Fokus auf die Alltäglichkeit der nun einsetzenden Routinen – aufstehen, den Haushalt besorgen, sauber machen. Zeitmarkierungen besitzen für diese Form der Lebensführung keine Funktion: Сколько лет она замужем? Пятнадцать из своих тридцати? Это даже больше половины жизни, наверное. Нужно будет спросить у Муртазы, когда он будет в настроении, – пусть подсчитает.128 126 Slemon 1995, S. 422. 127 Jachina 2016. „Der Roman wurde aus einem Drehbuch geboren und die visuellen Bilder, die im Buch beschrieben sind, waren zunächst Fragmente einer Kinogeschichte.“ 128 Jachina 2017b, S. 10. „Wie viele Jahre ist sie jetzt verheiratet? Fünfzehn von ihren dreißig? Ihr kommt es länger als ein halbes Leben vor. Sie wird Murtasa bitten, wenn er bei Laune ist, einmal nachzuzählen“ ( Jachina 2017a, S. 10).

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Die tatarische Dorfwelt der erzählten Zeit ist zeitlos, was v. a. durch die halbmythische Gestalt der Schwiegermutter Zulejchas repräsentiert wird, von der niemand weiß, wie alt sie eigentlich ist. Dieser zeitlosen Welt stehen intertextuelle Markierungen gegenüber, die die Erzählerin setzt. Die Titelgebung verweist auf Solženicyns Erzählung Odin den’ Ivana Denisoviča (Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, 1962), der ebenfalls an der exakten Schilderung von Routinen gelegen ist. Die Konstellationen ähneln sich: das Aufwachen des Hauptprotagonisten, die Kälte der Umwelt, der Geruch der Latrinen, die totale Abhängigkeit gegenüber Höhergestellten. Der Verweis steckt den historischen Rahmen des Erzählten ab: Es geht um Lagerliteratur, um deren entmenschlichende Routinen und Schikanen. Zulejcha wird allerdings erst einige Zeit später im Lagerkomplex landen, noch ist sie in ihrem vertrauten Umfeld. Während Solženicyn den Gegensatz zwischen den Gesetzen der Lagerwelt und der Zivilisation betont, herrscht in Zulejchas Welt ein Gleichklang. Die Differenzierung von Gut und Böse, die bei Solženicyn von Beginn an gegeben ist, muss Zulejcha erst erringen. Für sie ist ihr Ehemann, eigentlich ein Peiniger und Vergewaltiger, noch ein „guter Hausherr. Und ein guter Ehemann.“ 129 Im Gegensatz zu Solženicyns Šuchov, der sofort sprechfähig ist, befindet sich Zulejcha noch in einem früheren Stadium ihrer Entwicklung. Für sie geht es buchstäblich darum, die ersten Schritte zu machen: „Зулейха бесшумно спускает на пол одну босую ногу, вторую, опирается о печь и встает. За ночь та остыла, тепло ушло, холодный пол обжигает ступни.“ 130 Die Kleinschrittigkeit, mit der jede Bewegung und Berührung Zulejchas in Szene gesetzt wird, hat eine ethnographische Dimension. Jeder Gegenstand ihrer kleinen Welt, jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Ritze (das Wort ščel’ fällt mehrfach) ist von Bedeutung. Indem die Bewegung der Protagonistin detailliert geschildert wird, entsteht eine komplexe Raumordnung, durch die der Leser einen plastischen Eindruck von der Enge ihrer Behausung gewinnt. Kinematographisches Erzählen, v. a. der detailfixierte Nachvollzug der Handlung, steht hier im Dienst einer literarischen Exemplifikation der motorisch-psychosozialen Konstitution der Heldin. Ihr Augen-Öffnen wird durch den Prozess des Vor-Augen-Stellens evident. Durch den Einschluss tatarischer Lexik im Roman wird zudem ein Irritationsmoment erzeugt, das den Verständnisfluss bricht und auf die Eigentümlichkeit 129 Jachina 2017a, S. 9; „хороший хозяин. И хороший муж“ ( Jachina 2017b, S. 9). 130 Jachina 2017b, S. 9. „Lautlos setzt Suleika einen nackten Fuß auf den Boden, dann den zweiten, stützt sich am Ofen an und steht auf. Der ist über Nacht ausgekühlt, hat alle Wärme verloren. Die Kälte des Fußbodens fährt ihr in die nackten Sohlen“ ( Jachina 2017a, S. 9).

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der geschilderten historischen Lebenswelt hinweist. Dabei geht es nicht um bloße Lautmalerei im Dienste einer Erzeugung des Primitiven, wie sie für viele Texte der Moderne charakteristisch ist.131 Stattdessen hat ihr Einschluss eine explikative Funktion, wie im Falle der genauen Benennung der tatarischen Schlafstatt, oder eine subversive Funktion, wie im Falle der lexikalen Verfremdung des Kolchos, der zu einem Furchtobjekt „mit dem merkwürdigen, beängstigenden Namen Kalchus“ 132 wird. Die Versöhnung der beiden Sprachsphären findet schließlich am Verbannungsort statt, der Semrug benannt wird und damit sowohl auf das Russische (sieben Hände)133 als auch auf einen Zaubervogel aus einem tatarischen Märchen verweist. Die Rhetorik der ethnographischen Evidentia ist so immersiv, dass sie die Grenzen zwischen dem Realen und dem Magischen sprengt. Geister, Hexen und Dämonen sind ein natürlicher Teil der tatarischen Lebenswelt: „Делает шаг, переступая высокий порог, – не хватало еще наступить на него именно сейчас и потревожить злых духов, тьфу-тьфу! – и оказывается в сенях.“ 134 Die Magie ist in die Räumlichkeiten eingeschrieben, die Grenzen zwischen Person, Geist und Materie sind fließend. Am deutlichsten ist dies bei der Beschreibung der Schwiegermutter Upyricha:135 Вот она, Упыриха, совсем близко: простирается от стены и до стены, как широкое поле. Бугристые старческие кости торчат вверх, столетнее тело рассыпалось меж них причудливыми холмами, кожа висит застывшими оползнями. И по всей этой неровной, то изрезанной оврагами, то пышно вздыбленной долине текут, извиваются блестящие ручьи пота …136 131 Vgl. hierzu Werberger 2012, S. 184: „Motive, Formensprache und Lautmalerei sind die häufigsten und einfachsten stilistischen Verfahren zur Erzeugung einer im Primitiven gespiegelten Moderne in Literatur und Kunst.“ 132 Jachina 2017a, S. 54; „со странным пугающим названием калхус“ ( Jachina 2017b, S. 50). 133 In Anlehnung an die sieben Hände der vier Personen, denen die Umsiedler im ersten Winter ihr Leben verdankten. 134 Jachina 2017b, S. 10. „Mit einem großen Schritt steigt sie über die hohe Schwelle. Darauf zu treten und – Allah bewahre – gerade jetzt die bösen Geister zu wecken, das hätte ihr gerade noch gefehlt“ ( Jachina 2017a, S. 10). 135 Der Name der Schwiegermutter verweist auf das altrussische Wort upir’ (Vampir), das im ostslavischen Vampirismus eine wichtige Rolle spielt, vgl. hierzu Bohn 2016, S. 81 – 90. Die Namensgebung untertützt somit die magische Lesart der Figur der Schwiegermutter. 136 Jachina 2017b, S. 33. „Jetzt hat sie die Upyricha ganz nah vor sich. Ausgestreckt liegt sie da von Wand zu Wand wie ein weites Feld. Knorrige alte Knochen ragen daraus hervor, zwischen denen sich der hundertjährige Körper als Landschaft wunderlicher Hügel ausbreitet, von denen die Haut wie in erstarrten Schlammwellen herabhängt.

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Die Schwiegermutter existiert als böser Geist unabhängig von ihrer realen Persönlichkeit und verfolgt Zulejcha bis in das Umsiedlungsgebiet an der Angara. Eine weitere Trennung, die unterlaufen wird, ist die zwischen Mensch und Tier. Der literarische Sensualismus, die wiederholte Betonung von Temperaturen, Geräuschen, Geschmäcken und Gerüchen, hat im ersten Kapitel eine animalische Komponente: Zulejcha bewegt sich auf allen Vieren kriechend, „wie ein Weberschiffchen“ 137 im Raum, ihre Schwiegermutter „nimmt Witterung auf “ 138 und zieht sich wie eine Spinne in ihr eigenes Habitat zurück. Innerhalb der sensuellen Ordnung lässt sich dabei eine privilegierte Stellung von Temperaturen ausmachen, insbesondere von Frost und Kälte. Der Sinneseindruck der Kälte, um den auch die einzige sprachliche Äußerung Zulejchas in der Anfangssequenz kreist, wird zum hermeneutischen Fieberthermometer. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die erkalteten Umgangsformen in Zulejchas Ehe als auch als thermodynamische Zivilisationsdiagnose. Die tatarische Gesellschaft ist eine kalte Gesellschaft im Sinne Claude Levi-Strauss’, geprägt von Ritualen und Religion, in der Zeit- und Wirklichkeitsebenen verschmelzen. Die sozialpsychologischen Dispositionen dieser Gesellschaftsordnung werden bei Jachina in einer dezidiert multimodalen Erzählweise entfaltet. Sprache steht neben (freilich auch immer sprachlich vermittelten) Geräuschen, Bildern und Temperaturen. Diese Multimodalität kreiert einen semantischen Überschuss durch Synästhetisierung, der dem erzählten Geschehen über seine narrativen Funktionen hinaus eine ethnographische Tiefendimension verleiht. Die kalte Gesellschaftsform konfrontiert der Roman in einer dialektischen Versuchsanordnung mit einer heißen Formation, die durch den Kazaner Medizinprofessor und Gynäkologen Vol’f Lejbe verkörpert wird. Dieser durchläuft in Parallelisierung zur Anfangssequenz ebenfalls den Prozess des Aufwachens. Der an einer Geistesstörung leidende Lejbe ist das Gegenteil Zulejchas, ein Kopfmensch, hyperreflexiv, unfähig zur Fortbewegung. In seiner Wohnung ist es warm und laut, es dominiert der Geruch des Kaffees, ein Heißgetränk, das für die warme Gesellschaft der Großstadt Kazan steht. Eine ähnliche Differenzstellung ergibt sich in der Charakteristik der Protagonisten: Zulejcha wird eingeführt als bloßes Körperwesen ohne geistiges Vermögen, Lejbe als bloßes Geistwesen ohne Kontrolle über seinen eigenen Körper. Darüber lauern wie durch ein zerklüftetes, hier von Schluchten durchzogenes, dort von Erhebungen übersätes Tal Ströme glitzernden Schweißes …“ ( Jachina 2017a, S. 36). 137 Jachina 2017a, S. 9; „как маятник“ ( Jachina 2017b, S. 10). 138 Jachina 2017a, S. 14; „как старуха принюхивается“ ( Jachina 2017b, S. 14).

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Literarisch verschränkt werden beide Personen durch die Metaphorik: Zulejcha wird „das nasse Huhn“ genannt, während Lejbe sich in ein Ei zurückgezogen hat. Henne und Ei finden schließlich nach der Zwangsdeportation zueinander, als Lejbe Zulejcha nach vier Totgeburten zur erfolgreichen Geburt eines Sohnes verhilft. Metropole und Provinz, Mechanik und Potenz 139 komple­ mentieren sich. Eine solche Erzählkonstellation muss man nicht zwangsweise als Spezifikum der Gegenwartsliteratur ausweisen. In seinem Artikel The Formal Is Political, der sich mit historisch-formalen Wandlungen in der russischen Gegenwarts­ literatur auseinandersetzt, führt Mark Lipoveckij Jachinas Roman denn auch als Musterbeispiel einer in den Konventionen des Sozrealismus verbleibenden, sich an den Massengeschmack anlehnenden Prosa an: „Generally speaking, such a novel would have perfectly fit in with Soviet literature of the 1960s and could have been written by, say, Chingiz Aitmatov or his imitators.“ 140 Obgleich diese Regressionsthese durchaus ihre Berechtigung hat – die spätere Liaison Zulejchas mit einem russischen Offizier Ignatov und ihre prototypische Entwicklung von indigener stichijnost’ hin zu nationaler soznatel’nost’ trägt in der Tat klassisch-sozrealistische Züge –, soll hier ein anderer Akzent gelegt werden. Jachinas Roman, so das Argument, transformiert den postmodernen Magischen Historizismus der 2000er Jahre, auf den Lipoveckij einen Abgesang verfasst, kinemagiographisch von einem Repräsentations- hin zu einem Integrationsprojekt. Angesichts der Realität einer postmemorialen Erinnerungskonstellation 141 wird Kinematographizität zur Möglichkeit historischen Nachvollzugs. Zur Plausibilisierung historischer Erfahrung wird mit neuen ästhetischen Verfahren experimentiert. Es gibt keine biographische Selbstevidenz mehr, auf die die Vermittlung der Vertreibungserfahrung aufbauen könnte. Somit muss diese Evidenz literarisch hergestellt werden, um Empathie gegenüber den Opfern der sowjetischen Geschichte hervorzurufen. Gerade für die literarische Verarbeitung der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts spielen Schreibstrategien der evidentia seit jeher eine entscheidende Rolle.142 Im vorliegenden Fall dienen sie dazu, die zeitliche, zivilisatorische und biographische ( Jachina gibt vor, über das Schicksal ihrer Großmutter zu schreiben) Kluft zwischen den Generationen zu schließen. 139 Das „nasse Huhn“ Zulejcha wird als mechanisches Wesen ohne geistiges Vermögen eingeführt, während das Ei bei Lejbe als Metapher für die bloße potentia steht, der zwar eine verstandesmäßige Fähigkeit besitzt, allerdings keinerlei aktuales Vermögen. 140 Lipovetsky 2016, S. 192. 141 Für eine erste Analyse Jachinas im Kontext der Postmemory vgl. Drosihn 2019. 142 Vgl. für den slavistischen Kontext Frank/Schahadat 2012.

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Interessant ist, an welchen Stellen des Romans der kinematographische Modus aktualisiert wird. Der Roman ist mitnichten durchgängig kinematographisch. An einigen Stellen ist er dezidiert dokumentarisch, wenn einzelnen Kapiteln als Epilog kursiv gesetzte, dokumentarisch fingierte Kurzbiographien der Helden beigegeben werden. An anderen Stellen wird die personal gehaltene Erzählsituation durch einen Wechsel ins Auktoriale durchbrochen.143 In beiden Fällen ist die Funktion klar, es geht um die Herstellung einer historischen Evidenz, auf deren intersubjektive Geltung und Objektivität es ankommt. Demgegenüber stehen die oben referierten Sequenzen, denen es auf die Herstellung einer historiographischen Evidenz ankommt, deren Absicht nicht die Schaffung von Objektivität, sondern Nachvollzug ist. Der Rückgriff auf kinematographische Erzählverfahren dient im Roman, so die abschließende These, vor allem als Affektmedium der Intensitätssteigerung. In einer charakteristischen Sequenz heißt es: Игнатов толкает высокую и тяжелую, как шкаф, дверь вокзала. В нос бьет запах людского пота, хлеба, чищеного оружия, пороха, овчины, немытых волос, машинного масла, солдатских сапог, бездомных собак, скипидара, древесины и медикаментов. Воздух плотный – хоть ножом режь. Звенит от криков, лая, ржания, лязга, блеяния, грохота. Перекрывая на мгновение все звуки, снаружи оглушительно свистит паровоз. Здесь – не утро. Здесь нет времени дня. Здесь всегда – непрекращающийся бедлам. Толкаясь локтями и вытягивая шею в поисках нужного кабинета, Игнатов ввинчивается в толпу.144 143 Als Beispiel mag folgende Sequenz dienen: „В той самой камере, где сейчас Зулейха слушает полубезумный монолог профессора Лейбе, украдкой выскребая из-под мышки первую вошь, ровно сорок три года назад сидел молодой студент Императорского Казанского университета. […] Звали студента Владимир Ульянов. С тех пор здесь ничего не изменилось. Сменяли друг друга сначала императоры, затем революционные вожди“ ( Jachina 2017b, S. 142). „In der Zelle, in der Sulejka dem halb irren Monolog von Professor Leibe lauscht und dabei verstohlen die erste Laus aus ihrer Achselhöhle holt, saß vor genau vierzig Jahren ein junger Student der Kaiserlichen Universität Kasan. […] Der Name des Studenten war Wladimir Uljanow. Seit jenen Tagen hat sich hier nichts verändert. Zuerst wechselten die Zaren, dann die Führer der Revolution“ ( Jachina 2017a, S. 154 f.). 144 Jachina 2017b, S. 149. „Ignatow drückt die Eingangstür auf, die hoch und schwer ist wie ein Schrank. Der Geruch von menschlichem Schweiß, Brot, geölten Waffen, Pulver, Schaffell, ungewaschenen Haaren, Maschinenöl, Soldatenstiefeln, streunenden Hunden, Terpentin, Holz und Medikamenten schlägt ihm in die Nase. Die Luft ist zum Schneiden dick. Ringsum schreit, bellt, wiehert, klirrt, blökt und rattert es. Plötzlich von draußen der ohrenbetäubende Pfiff einer Lokomotive, der alle anderen Geräusche für einen Moment übertönt. Hier gibt es keinen Morgen, keine Tageszeiten. Hier herrscht den ganzen Tag lang das permanente Chaos. Ignatow muss die Ellenbogen einsetzen

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Der Wechsel ins Präsens, die Aufzählungen und die parataktische Reihung schaffen eine dynamische Beobachtersituation, die die Spannung generiert, die ­Ignatov empfindet, als er erahnt, dass sein Mentor bei der GPU repressiert wurde. Ebenso zur Affektsteigerung trägt der sensualistische Überschuss der Situation bei – überall stinkt und dröhnt es. Die gewählten Vergleiche und aufgezählten Phänomene verbinden den Lagerkommandanten mit seinen bisher nur aus der Distanz betrachteten Mitbürgern. Stadt und Land, Technik und Archaik, häusliche und berufliche Sphäre werden verschränkt. Ignatov nimmt Tuchfühlung mit der Menge auf und begreift sich als Leidensgenosse angesichts des umgreifenden Chaos und der allgegenwärtigen Waffengewalt. Ebenso wie Zulejcha hat er die täglichen Routinen hinter sich gelassen, die zeitliche Ordnung, die ihm bisher Halt gegeben hat, zerbricht. Betrachten wir zur Unterstützung dieser These noch eine weitere Romanstelle: Умрешь ты скоро, во сне видела. Мы с Муртазой в доме останемся, а за тобой прилетят три огненных фэрэштэ и унесут прямиком в ад. Все как есть видела: и как хватают они тебя под руки, и как швыряют на колесницу, и как везут в пропасть. Я стою на крыльце, смотрю. А ты и тогда молчишь – только мычишь, словно Кюбелек, и глазищи свои зеленые выкатила, пялишься на меня, как безумная. Фэрэштэ хохочут, держат тебя крепко. Щелк кнутом – и разверзается земля, из щели – дым с искрами. Щелк – и полетели вы все туда, и пропали в этом дыме …145

Upyricha, hier mehr Hexe als Schwiegermutter, erzählt von einem Traum, in dem sie das nahe Ende Zulejchas vorausgesehen hat. Das Übernatürliche des Traums erhält seine Evidenz an dieser Stelle durch das mehrfache Vor-Augen-Stellen (s. die Hervorhebungen) der Zukunft; Dynamik entsteht hier durch Kontrastbildung (Stehen – Fliegen; Schweigen – Schreien; oben – unten u. a.). Die magischen Fėrėštė (tatarisch für Engel) erscheinen als natürlicher Teil der Weltordnung, der Rauch des dröhnenden Abgrunds als Vorahnung der später allgegenwärtigen und den Hals recken, um sich durch die Menge einen Weg zu dem angegebenen Büro zu bahnen“ ( Jachina 2017a, S. 162 f.). 145 Jachina 2017b, S. 36, Hervorhebungen C. G. „‚Mit dir ist es bald aus. Das ist mir im Traum erschienen. Murtasa und ich bleiben in diesem Haus zurück, aber dich holen drei flammende Fereschte und fliegen mit dir geradewegs in die Hölle. Ich habe es genau gesehen: Wie sie dich bei den Armen packen und auf ihren Wagen werfen, wie sie dann mit dir in den Abgrund fahren. Ich stehe auf der Vortreppe und schaue zu. Doch du schweigst noch immer, stöhnst nur, als seist du unsere Kuh Kjubelek. Du drehst deine grünen Augen heraus und starrst mich an wie eine Wahnsinnige. Die Fereschte brüllen vor Lachen aber sie halten dich fest. Ein Peitschenknall, und die Erde öffnet sich, Rauch und Funken strömen hervor. Noch ein Peitschenknall, sie fliegen mit dir dort hinunter, und alles verschwindet im Rauch …‘“ ( Jachina 2017a, S. 39, Hervorhebungen C. G.).

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Gewalträume. Ebenso wie bei Ignatov ist auch in Zulejchas Fall die radikale Vereinzelung Voraussetzung für die spätere Integration in die Leidensgemeinschaft in der Verbannung. An dieser Stelle wird schließlich deutlich, dass Kinemagiographie auch als Medium historischer Sinnstiftung fungiert. Sie dient dazu, das Erlebte verstehbar zu machen und einen interkulturell gültigen Deutungsrahmen zur Verfügung zu stellen. Das Magische, hier in Form der übernatürlichen Traumdeutungskompetenzen Upyrichas, erweist sich als historisches Deutungsmuster höherer Ordnung, mit dem sich die drohende Katastrophe antizipieren lässt. Worum geht es hier? Im Anschluss an Serguei Oushakine könnte man solche Passagen als multimediales affective management of history lesen: The goal is to link remembering people together, to provide them with social space and symbolic tools that could help to make such linkage tangible. Consequently, the war emerges as a primary symbolic context within which new symbolic exchanges and social connections become possible.146

Man muss nur Krieg durch Kollektivierung ersetzen, und die integrierende Absicht des Romans wird sichtbar. Der Roman betreibt eine politische, soziale und ethnische Integration der einzelnen sowjetischen Leidenssubjekte. Hergestellt wird diese durch eine affektgetriebene Intensitätssteigerung, angesichts der Unterschiede, insbesondere solche der Moral wie zwischen Schuld und Unschuld (der Lagerkommandant Ignatov verantwortet den Mord an Zulejchas Mann und ihre Deportation), verblassen. Politisch ähnelt der Roman an dieser Stelle der offiziellen erinnerungskulturellen Linie, wie sie Oushakine skizziert.147 Die Lehre der Notwendigkeit gesellschaftlicher Eintracht trotz oder vielleicht auch angesichts des historischen Schreckens doziert Zulejcha in einer Schlüsselsequenz am Ende des Romans ihrem Sohn Juzuf. In dieser Legende verschmelzen ihre eigene Biographie und tatarische Legenden. Eintracht in Vielfalt, so die – etwas kitschige – Moral des Gulag: „В этот миг они постигли суть: они все – и есть Семруг. И каждая по отдельности, и все вместе. – И каждая по отдельности, и все вместе, – повторяет Юзуф.“ 148 146 Oushakine 2013, S. 275. 147 Dennoch führte insbesondere die Serialisierung des Romans im Frühjahr 2020 zu einer kontroversen Debatte, in der das Sujet sowohl von russisch-nationalistischer als auch von tatarischer Seite kritisiert wurde. Ein Überblick der Reaktionen auf die Serie findet sich bei Maljukova 2020. 148 Jachina 2017b, S. 402. „‚In diesem Augenblick wurde ihnen [den Vögeln in der Legende sowie den Umsiedlern] das Wichtigste klar: Sie selbst waren Semrug. Jeder Einzelne und alle gemeinsam.‘ – ‚Jeder Einzelne und alle gemeinsam‘, wiederholt Jusuf “ ( Jachina 2017a, S. 434).

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Dichte Geschichte – Aleksej Ivanovs Tobol Aleksej Ivanov ist wahrscheinlich der zeitgenössische Autor, der am stärksten den Trend zur Plurimedialisierung verkörpert. Neben der Veröffentlichung seiner Romane hat er sich hervorgetan als Verfasser geschichtswissenschaftlicher Werke, als Festivalorganisator, Reiseführer und Drehbuchautor. Die Breite seines kulturellen Engagements ist sowohl in kommerzieller als auch in ästhetischer Hinsicht konstitutiv für sein Modell erfolgreicher Autorschaft.149 Seine 2017 und 2018 veröffentlichte Romandilogie Tobol (nach dem Namen der sibirischen Stadt Tobol’sk) scheint in kinemagiographischer Hinsicht am bedeutsamsten. Ivanov vertritt bereits seit einigen Jahren die Meinung, dass der Roman neuen Typs in der Form einer HBO -Serie strukturiert sein werde, da er aus dem Kino kommen werde.150 In Bezug auf Tobol wurde von ­Ivanov selbst sowie von Rezensenten mehrfach der Bezug zur amerikanischen Erfolgsserie Game of Thrones gezogen.151 Den kinematographischen Zugang unterstreichen die Wahl der Gattungsbezeichnung Roman-Peplum (in etwa Roman-Sandalenfilm) sowie der Fakt, dass die Idee zum Romanprojekt aus einem Drehbuch erwuchs.152 Werkbiographisch sind besonders Ivanovs Rolle als Drehbuchautor für Pavel Lungins Film Car’ (Zar, 2009) sowie sein intermediales Projekt Chrebet ­Rossii (Das Rückgrat Russlands, 2010) von Bedeutung. Tobol lässt sich ästhetisch und inhaltlich als Konzentration und Weiterführung dort entwickelter Strategien betrachten. Der Roman führt das bereits in Car’ erkennbare Interesse fort, die Entstehung neuzeitlicher russischer Staatlichkeit aus dem Geist der Gewalt und dem Dualismus zwischen Sakralem und Profanem zu erzählen. In seiner fragmentierenden Strukturierung des Materials lehnt sich Tobol an den Film an, der in einzelne Kapitel mit paradigmatischem Deutungsanspruch unterteilt ist. ­Chrebet Rossii konstituiert das Uralgebiet intermedial als Assemblage verschiedener räumlich und zeitlich kontingenter Schichten und Praktiken, deren Hauptabsicht in einer Reterritorialisierung der Region in nationaler sowie internationaler Hinsicht 153 besteht. Der Roman Tobol ist ebenfalls intermedial angelegt und steht in einer intergenerischen Tradition,154 wenn Ivanov den Text mit 149 150 151 152 153 154

Vgl. für eine Betrachtung von Ivanov als „Erfolgsschriftsteller“ Gorski 2018a. Vgl. Gorski 2018a, S. 141. Russia beyond the Headlines 2017. Jakovleva 2018. Zum „eurasischen“ Charakter des Projekts vgl. Günther/Sirotinina 2019. Vgl. Wachtel 1994.

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einer ­g eschichtswissenschaftlichen Veröffentlichung komplementiert (Debri/ Dickicht, 2017). Eine Miniserie kam 2019 ins Fernsehen. Neben Ivanovs eigenem Werk drängt sich eine Kontextualisierung von Tobol auch im Umfeld des sibirischen Regionalismus Valentin Rasputins auf. Dieser widmet ein Kapitel seines populärwissenschaftlich ausgerichteten Werks Sibir’, Sibir’ (Sibirien, Sibirien, 1991) der Stadt am Irtysch. In polemischer Abgrenzung zu Historikern, die die Rolle Tobol’sks für Russlands imperiale Erschließung Sibiriens gewöhnlich ignorieren, behauptet Rasputin: „Все, что утверждалось в Сибири, […] все это и многое другое начиналось с Тобольска.“ Diese Äußerung und Rasputins Meinung, dass hier das verhängnisvolle ‚Schicksal‘155 am Werk gewesen sei, ist im national-regionalen Revival der Perestrojka zu verorten. Während die Geschichte Tobol’sks bei Rasputin als prädestiniert betrachtet und ausschließlich als Teilgeschichte der russischen Aneignung Sibiriens erzählt wird, verschiebt Ivanov den territorialen Fokus. Sein Tobol ist Konzentrationspunkt verschiedener Ethnien, Religionen und historischer Schichten, deren jeweilige Spezifik er herauszuarbeiten bestrebt ist. Die Abkehr von Rasputins bedingungsloser Russophilie mag denn auch einer der Gründe sein, weswegen Ivanovs Werk in Russland zum Teil als russophob kritisiert wurde.156 Vergleichbar sind beide Werke jedoch insofern, als in ihnen der räumlichen Ordnung selbst Handlungsmacht zugesprochen wird. Die Stadt wird bei Rasputin zum historischen Aktanten: „И только Тобольск со своего Троицкого холма должен был все видеть и знать, разведывать и догадываться, строить и прибирать.“ 157 Ebenso verhält es sich bei Ivanov, der auch in Tobol seine bereits früher in Bezug auf den Ural entwickelte Idee einer territorialen „,matrix‘, a kind of metapoetical scheme with a series of persistent principles shaping the mentality of the people and the symbolic value of artifacts and events in the regions“,158 vertritt. Die Konzentration auf die Geschichte Tobols zu Beginn des 18. Jahrhunderts konstituiert die historiographische Herausforderung des Romansujets. Die Spätzeit Peters des Großen ist historisch gesehen die Umbruchsperiode, in der die Dreidimensionalität der sibirischen Wildnis auf zweidimensionale Größe

155 Rasputin 1994, S. 38. „Alles was sich in Sibirien behauptete, all das und vieles mehr nahm seinen Ausgang in Tobol’sk.“ 156 Vgl. für eine solche Deutung u. a. Kaznačeev 2017. „Стиль и настроение книги проникнуты безумной жестокостью, дикостью и русофобией“. „Stil und Stimmung des Buches sind durchdrungen von sinnloser Grausamkeit, Wildheit und Russophobie“. 157 Rasputin 1994, S. 38. „Und nur Tobol’sk mit seinem Troickihügel musste alles sehen und wissen, erkunden und erraten, erbauen und aneignen.“ 158 Günther/Sirotinina 2019, S. 65.

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­reduziert werden soll. 1708 wird Sibirien eines der acht russischen Gouvernements, es ist die Zeit der Kartierungen, der ersten Landschaftsbilder und ethnographischen Schriften. Historisch und im Roman steht dafür vor allem der Name Semen Remezovs, gebürtig aus Tobol’sk, der als Baumeister und Kartograph das Bild des spätpetrinischen Sibirien wesentlich prägt. Remezov ist allerdings nicht der einzige Kartograph, der im Roman die Aneignung Sibiriens betreibt. Er wird flankiert durch den Schweden Tabbert und den Chinesen Tulišėn’, die – mit unlauteren Mitteln, im Gegensatz zum Universalgenie Remezov – ebenfalls Sibirien für ihre politischen und ökonomischen Zwecke durchdringen möchten. Angelehnt an die Struktur komplexer zeitgenössischer Serien, verknüpft Ivanovs Roman mehrere Handlungsstränge und Schauplätze. In Tobol finden bucharische Kaufleute, indigene Ostjaken, chinesische Botschafter, russische Politiker, schwedische Gefangene, häretische Altgläubige und Mazepas verbannte Anhänger mit ihren jeweiligen Sprachen, Göttern und Liebesbeziehungen ihren Platz. Angesichts der Fülle internationaler und weltanschaulicher Bezüge im Werk wirkt das heutige Tobol’sk im Vergleich zu seinem historischen Vorläufer ebenso bieder wie Rasputins russozentrischer Blickwinkel, dem Ivanov eine eurasianisierende Geschichtsschreibung entgegengesetzt. Zwar verfolgt Ivanovs Roman keinen kontrafaktischen Anspruch, er zeigt aber, dass die heute dominierende Darstellungs- und Gesellschaftsform historisch kontingent ist. Es hätte auch anders kommen können, und die Akteure, deren Sichtweisen durch die Geschichte hindurch unsichtbar wurden, verewigt Ivanov. Alles wird zu einer Frage der Perspektive. Gegen Ende des Werkes führt Semen Remezov mit einem jüngeren, in Europa ausgebildeten Kartographen denn auch ein aufschlussreiches Streitgespräch über die Perspektive: В Пруссии я геометрию и чертёжное искусство учил, – осмелев, сказал Ваня. – Нам и про художество объясняли. Я о том говорю, что надобно правильно рисовать, по строению человеческому, по свету и закону чертежа. – И в чём его закон? – с подозрением спросил Семён Ульянович. – Называется першпектив [sic!], – сообщил Ваня. – Линии, что от созерцателя вглубь изображения идут, стремятся к единой умозрительной точке. А у тебя, Семён Ульяныч, смотри, они расходятся.159

159 Ivanov 2017, S. 648. „In Preußen habe ich Geometrie studiert und gelernt, Skizzen zu zeichnen, – sagte Wanja, Mut fassend. – Auch Kunst haben sie uns dort gelehrt. Ich spreche darüber, dass man richtig zeichnen muss, den menschlichen Proportionen gemäß, den Lichtverhältnissen gemäß und nach dem Gesetz der Skizze. – Und worin besteht ihr Gesetz? – fragte Semen Ul’janovič skeptisch. – Es heißt Perschpektive, – teilt Wanja mit. – Linien, die vom Betrachter in die Tiefe der Darstellung

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Diesen Dialog kann man sowohl künstlerisch als auch politisch lesen. Eine Perspektive, die am Ende auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zuläuft, repräsentiert ein anderes Raum- und Herrschaftsverständnis als die auseinanderlaufenden Linien Remezovs, die sich dem Prinzip der Zentralperspektive verweigern. Die Verfremdung der Schreibweise des Wortes Perspektive zeigt an, dass dieses Gesetz der russischen Sprache und Kultur fremd ist. Schön zeigen lässt sich dies an den im Roman entstehenden Karten. So befragt der Schwede für die Entstehung seine ihm in Liebe ergebene Gefährtin Ajkoni intensiv nach dem ostjakischen Raumempfinden und dessen Elementen. Tabberts alternative Geographie enthält über diese Berichte hinaus auch das legendäre, sagenhaft reiche Land Biarmija, dessen Erwähnung in die Zeit der Wikinger zurückreicht. Während sein Freund Renat die Existenz Biarmijas im Reich der Sagen verortet, beharrt Tabbert unter Verweis auf die Ostjaken auf ihr: „Её народ – наследник викингов и биармов.“ 160 Seine Karte lässt sich somit nicht auf die Logik der modernen Kartographie reduzieren, sondern reichert diese mit ethnographischen, mythischen und pseudohistorischen 161 Elementen an. Sibirien und die Gegend um Tobol’sk erlangen damit eine historiographische Dichte, die über die bloße Funktion der Verortung hinausreicht. Zusammenfassend lässt sich diese Form der Erzählung – die Verdichtung der Figurenkonstellation, die Vermehrung der Perspektiven und die Vertiefung der kartographischen Ebenen – mit dem für die zeitgenössische Serialität konstitutiven Paradigma des „,topofocal approach‘ (Ekman) [in Verbindung bringen], für den das Setting der diegetischen Welt genauso wichtig ist wie die Charaktere und der Plot“.162 In Anlehnung an Frederic Jameson lässt sich dabei konstatieren, dass die zunächst unüberschaubare […] Vielzahl von Schauplätzen […] einem vagierenden Bedürfnis des Publikums entgegen[kommt], etwaige globalisierungsbedingte Orientierungsverluste und Insuffizienzgefühle in der schrittweisen Errichtung einer souveränen Perspektive auf die diegetische Raumzeit affektiv zu kompensieren.163

Diese Kompensationsstrategien verfahren kinematographisch. Die nichtdie­ge­ tische Erzählinstanz des Romans agiert multiperspektivisch und operiert dabei –

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gehen, streben zu einem gemeinsamen Fluchtpunkt. Und bei dir, Semen Ul’janič, schau, da laufen sie auseinander.“ Ivanov 2017, S. 443. „Ihr Volk ist Erbe der Wikinger und Bijarmen.“ So wird Alexander der Große am Amur verortet, vgl. Ivanov 2017, S. 443. Koch 2018, S. 133. Jameson zit. nach Koch 2018, S. 133.

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wie Brössel in anderem Kontext herausgearbeitet hat – auf drei Ebenen: im Abrufen unterschiedlicher Rezeptionsmuster durch den Einsatz verschiedener Zeichensysteme, durch eine polylokale Darstellungsweise und den Einsatz der jeweiligen Figurenperspektiven.164 Die affektive Geographie, die Ivanov durch seine stark szenisch orientierte Erzählform zeichnet, ist allerdings nicht immer kompensatorischer, sondern ebenso konfrontativer Natur. Dies wird besonders deutlich am Schicksal der beiden Zwillinge Ajkoni und Chomani. Beide werden gewaltsam aus ihrem gewohnten ostjakischen Umfeld gerissen und müssen anschließend als Dienerin bzw. Haremsdame ihr Dasein fristen. Die traumatische Vergewaltigungserfahrung, die beide durchleben, bewirkt eine Transformation des Naturraums. Dieser wird zunächst als idyllische Symbiose von Mensch und Natur eingeführt: Люди ушли с берега, и тайга вокруг Айкони доверчиво успокоилась. Маленькие ёлочки облегчённо распушились. Поблизости от Айкони лежала поваленная сосна, и Айкони заметила, что из-под ствола этой сосны на неё смотрит любопытная лисица. Звери не способны читать мысли, с ними надо разговаривать. «Это я, Айкони», – сказала Айкони лисе одними губами. Из тайги на реку плыла тёплая, смолистая, густая тишина, но Айкони умела слышать в ней души звуков.165

Während die Heldin hier den guten Geist der Natur hört, weicht dieser später dem bösen Geist des Vergewaltigers Jurka, der sich Ajkonis bemächtigt: „Чужое хищное вторжение в себя показалось ей нападением злого духа, который вселяется в человека и раздирает его изнутри. Её охватил ужас, и она заколотилась, как рыба.“ 166 Die vormalige Idylle der Natur wird zum Reich der Finsternis: И солнца над Обью больше не было. И лес молчал, замкнувшийся и пустой. И река была глухая, непрозрачная. Просто лес и река – без всего. А далеко от Оби шаман Хемьюга в это время стоял на краю капища и смотрел на ­большой кедр, в ветвях которого вдруг всполошились и зашумели кедровки. 164 Vgl. Brössel 2014, S. 95. 165 Ivanov 2017, S. 60. „Die Leute verließen das Ufer und die Taiga rund um Ajkoni beruhigte sich vertrauensvoll. Die kleinen Birklein blühten erleichtert auf. Nicht weit von Ajkoni lag eine gefallene Kiefer und Ajkoni bemerkte, dass unter ihrem Stamm ein neugieriger Fuchs auf sie blickte. Tiere können keine Gedanken lesen, mit ihnen muss man sich unterhalten: ‚Das bin ich, Ajkoni‘ – sagte Ajkoni dem Fuchs mit ihren Lippen. Von der Taiga hin zum Fluss zog eine warme, harzige, dichte Stille, aber Ajkoni konnte in ihr die Seelen der Laute hören.“ 166 Ivanov 2017, S. 61. „Die fremde, bestialische Invasion erschien ihr als Überfall eines bösen Geistes, der den Menschen überkommt und ihn von innen zerreißt. Sie ergriff ein Schrecken und sie schlug wie ein Fisch hin und her.“

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­ ереполох кедровок – это беда. Значит, там, у русского судна на берегу Оби, всёП таки случилось то, чего Хемьюга так боялся.167

Das Auserzählen solcher Gewaltepisoden ist charakteristisch für Tobol (und noch charakteristischer für die Fernsehverfilmung). Allegorisch verweist die Vergewaltigung Ajkonis durch den russischen Soldaten auf die gewaltsame Kolonisation der indigenen Bevölkerung durch Russland, was durch die militärische Lexik („vtorženie“, „napadenie“) der Passage unterstrichen wird. Für Fredric Jameson sind solche Allegorien charakteristisch für „third-world texts“, in denen „the story of the private individual destiny is always an allegory of the embattled situation of the public third-world culture and society“.168 Die allegorische Dimension wird noch verstärkt durch die naturräumlichen Veränderungen, die im Verlauf der Vergewaltigung vor sich gehen. Die Sonne verdunkelt sich, der Wald schweigt, der Geist weicht aus Fluss und Wald. Das geodeterministische Prinzip, in dem die Natur die Gefühlslage des Menschen bestimmt, wird invertiert. Die Leidenserfahrung Ajkonis schreibt sich in den Naturraum ein. Während in Ivanovs früheren Roman Geograf globus propil (Der Geograph hat den Globus versoffen, 1995) noch Spuren des „Chronotopos der Idylle“ 169 vorkommen, in dessen Fokus das „individuell konstruierte Bild von ‚kleiner‘, ‚persönlicher‘ oder ‚innerer‘ Heimat“ 170 steht, wird der sibirische Naturraum nun deutlich ambivalenter dargestellt und verliert seine Unschuld. Diese Transformation der Natur wiederholt sich nach der ersten Liebesnacht Ajkonis mit dem sie manipulierenden 171 Schweden Tabbert sowie bei der Vergewaltigung ihrer Zwillingsschwester Chomani im Harem des bucharischen Kaufmanns Chodša Kasym. Zwischen Ajkoni und ihrer Schwester besteht hier, 167 Ivanov 2017, S. 61 f. „Und die Sonne über dem Ob war nicht mehr. Und der Wald schwieg, verschlossen und leer. Und der Fluss war taub, undurchdringlich. Nur Wald und Fluss – ohne alles. Und weit vom Ob stand zu jener Zeit der Schamane Chem’juga am Rand der Kapišče [altslawisch, heidnische Kultstätte] und blickte auf die große Zeder, in deren Zweigen es plötzlich aufschreckte und laut zu werden begann. Die Panik der Zedern kündete Unheil. Es bedeutete, dass dort, bei dem russischen Schiff am Ufer des Ob, irgendetwas geschehen war, was Chem’juga so ängstigte.“ 168 Jameson 1986, S. 69. 169 Sirotinina/Weller 2012, S. 137. 170 Sirotinina/Weller 2012, S. 112; ähnlich argumentiert auch Gorski: „The Urals become a powerful formula whose geographic specificity nurtures transfigurations and gives birth to new moral and social structures while itself remaining stable and unchanging“ (Gorski 2018b, S. 173). 171 Vgl. Ivanov 2017, S. 373 f.

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wie im ersten Falle zwischen Ajkoni und dem Schamanen, ein magisches Band, das das Trauma der anderen intersubjektiv erfahrbar macht. В этот час Тобольск заметала ночная вьюга. Она бурлила на Алафейских горах, цепляясь за шатры башен и купола церквей, и протяжно, свободно свистела над крышами Нижнего посада. Айкони лежала в постели Табберта, обнимая своего князя, но сон её был мутным, тревожным. Вьюга шуршала за окном, а дом, остывая, поскрипывал, словно качающийся на волнах корабль. В жаровне по углям ползал красный свет, за стенкой тихо трещал сверчок.172

Der brausende Sturm und das rötliche Licht verleihen dieser Passage einen apokalyptischen Unterton, der die tiefgreifenden und weitreichenden Konsequenzen der als Tabubruch markierten gewaltsamen Aneignung der weiblich konnotierten indigenen Naturharmonie illustriert. Beide hier untersuchten Aspekte, die Montage disparater Erzählstränge und die apokalyptische Affektgeographie, sind bei Ivanov auch kinemagiographisch grundiert. Der Einschluss magischer Elemente ist dabei in beiden Fällen konsti­ tutiv für die historische und politische Aussage des Romans. Dessen Prinzip besteht, so meine abschließende These, in der Entwicklung einer Poetik der Dichte. Theoretisch knüpft diese Diagnose an Nelson G ­ oodman an, der semantische und syntaktische Dichte zu Symptomen des Ästhetischen erklärt,173 vor allem aber an Clifford Geertz, dessen Dichte Beschreibung als ethno­ graphisches Stil- und Schreibprinzip großen Einfluss erlangt hat.174 Dichte soll dabei in Abgrenzung zum Begriff der Komplexität verstanden werden. Während Komplexität rekursiv operiert, operiert der hier angesetzte Begriff von Dichte iterativ. Ivanovs Prosa geht es weniger um eine epistemologische Problematisierung historischer Sinnbildung, sondern darum, das lange Zeit als Terra incognita imaginierte Sibirien aufzufüllen. Tobol soll dichter und dichter werden. Obgleich diese Auffüllung auch semantisch operiert, soll hier dennoch das syntaktische Element pointiert werden. Das bevorzugte Stilmittel des Romans ist die Enumeratio, das endlose Aufzählen von Personen, Gegenständen, Phänomenen. Diese Aufzählungsorgien stehen nicht im Dienst des Plots, sondern verfolgen einen 172 Ivanov 2017, S. 412. „In dieser Stunde erlebte Tobol’sk einen nächtlichen Schneesturm. Er tobte auf den Alefejischen Bergen, klammerte sich an die Zelte der Türme und die Kuppeln der Kirchen und dröhnend und frei pfiff er unter den Dächern des unteren Marktplatzes. Ajkoni lag im Bett Tabberts, ihren Fürsten umarmend, aber ihr Traum war verwirrt, angespannt. Der Schneesturm raschelte hinter dem Fenster, und das Haus, abkühlend, knarrte, als sei es ein von den Wellen geschleudertes Schiff. Im Ofen durch die Kohle zog sich ein rotes Licht, hinter der Wand zirpte leise eine Grille.“ 173 Goodman 1995, S. 232. 174 Geertz 1983.

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eigenen Zweck. Die Logik der Verdichtung ist dabei sowohl in der komplizierten Figurenkonstellation als auch in den Leitdiskursen der Kartographie und Architektur am Werk. Aufzählungen egalisieren dabei distinkte Elemente 175 und stellen die Hierarchiebeziehungen zwischen Personen, Regionen und Narrativen in Frage. Mittels einer Poetik der Dichte emanzipiert Ivanov dabei Sibirien und den Ural vom lange Zeit vorherrschenden Mikrokosmosmodell. Sibirien steht nicht länger für die russische Geschichte in nuce, sondern besitzt eine eigene, eurasisch konnotierte Geographie sowie spezifische Objekte, Ethnien und Geschichten. Die epische Form ist dabei für eine Ästhetik, die historische Verdichtung nicht mittels Intertextualität oder Assoziation generieren möchte, prädestiniert und scheint für den hier untersuchten Zeitraum – schaut man sich die in den vergangenen Jahren prämierten historischen Romane an – eine hegemoniale Stellung einzunehmen.176

Magie und Macht Beide hier diskutierten Werke eint die Herausforderung, eine dem historischen Alltagswissen enthobene Situation begreiflich zu machen. Zulejcha otkryvaet glaza nutzt Kinemagiographie dabei als ethnographische Evidenzstrategie und als emotionalen Katalysator, um die pointiert markierten ethnischen Unterschiede verstehbar zu machen und affektive Kohärenzen zu erzeugen. Ivanovs Tobol hingegen operiert stärker auf der Sujetebene, um verstummte Stimmen retrospektiv in die russische Staatlichkeitsgeschichte einzuschreiben. Als Schriftfläche fungiert dabei die Landschaft, in der individuelle Gewalterfahrungen und kollektive magische Imaginationen sichtbar werden. Abschließend lohnt ein Vergleich mit Aleksandr Ėtkinds Thesen zum postsowjetischen Magischen Historizismus, der für ihn eine der hegemonialen literarischen Strömungen des Umgangs mit der sowjetischen Vergangenheit in der postsowjetischen Literatur ist. Er argumentiert: „The post-Soviet novel does not emulate social reality and does not compete with the psychological novel; what it emulates and struggles with, is history. I believe that a reasonable description for this particular trend in post-Soviet literature is magical historicism.“ 177 Vergangenheit und Gegenwart, Magie und Realismus, Kritik und Affirmation verschränken sich hier und symbolisieren eine distinkte Form postsowjetischer Trauerarbeit. 175 Mainberger 2003, S. 7. 176 Vgl. für eine Diskussion dieser Tendenz Unterkapitel 9.2. 177 Etkind 2009, S.654.

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In Bezug auf diese magisch-historistische Ebene ergeben sich dabei drei interessante Verschiebungen. An die Stelle der in den 2000er Jahren prominent fungierenden Monstergestalten tritt ein Mensch, für den Magie selbstverständlicher Teil seines Alltags ist. Die Vermenschlichung der Magie korrespondiert dabei mit einer Rückbesinnung auf realistische Erzählverfahren, die im Kontrast zur postmodernen Ästhetik des magical historicism steht. Ein weiterer Unterschied lässt sich dahingehend ausmachen, dass bei Letzterem die Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart stets fragil ist. Historische Ereignisse reichen in die Gegenwart hinein und bestimmen diese. Jachinas und Ivanovs Romane hingegen trennen die Ebenen und verzichten auf eine solche Aktualisierung. Damit korrespondiert schließlich die letzte Verschiebung. Der Einsatz von Magie ist in den hier untersuchten Medien nicht länger Attribut der Sphäre der Macht, sondern Ausdrucksmittel subalterner historischer Akteure. Während in Vladimir Sorokins Eis-Trilogie oder Viktor Pelevins Empire V magisches Wissen im Dienst einer im Geheimen die Welt manipulierenden und steuernden Elite steht, dient es in unseren Fällen weniger als Kontroll- denn als Kompensationsmedium im Angesicht einer vor allem mit den Mitteln der nackten Gewalt operierenden Staatsmacht. Historisch gesehen steht die zeitgenössische Kinemagiographie damit im Umfeld des spätsowjetischen Magischen Realismus, verzichtet aber auf dessen nostalgische Geschichtssicht zugunsten der Utopie einer nachträglichen historischen Harmonisierung durch die Verdichtung und Anreicherung der Vergangenheit um die Stimmen und Träume der Unterdrückten der russischen Peripherien.

8.  Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie Die Nachkriegshistoriographie war von einer Polemik gegen die bis dahin vorherrschende Ereignisgeschichte geprägt und privilegierte strukturelle Momente, was zum Aufblühen von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte führte. Literaturgeschichtlich äußerte sich diese Skepsis u. a. in den Formexperimenten des Nouveau Roman, dessen demonstrative ‚Ereignislosigkeit‘ wiederum an Vorläufer sujetloser Prosa erinnert, z. B. in der sowjetischen Avantgarde. Insbesondere in der französischen Tradition, die für die Ereignisproblematik maßgebend ist, setzt um 1970 allerdings eine vielschichtige Rehabilitation des Ereignisses ein, welche selbiges auch als historiographische Größe wieder ins Spiel bringt. Paul Ricœur hat in diesem Kontext ebenso wie Vertreter der Gruppe Poetik und Hermeneutik auf die Erzählbedürftigkeit des Ereignisses hingewiesen und versucht, zwischen Struktur- und Ereignisgeschichte zu vermitteln.1 Im russischen Kontext ist Jurij Lotmans Explosionsphilosophie wichtigster Bezugspunkt einer Wiederaneignung des Ereignisbegriffs. Ereignishaftigkeit zählt zu den Grundthemen der Literaturwissenschaft. An der Stellung des Ereignisses lassen sich Problematisierungsstrategien historischer Erkenntnis scharfstellen. Der methodische Zugriff dieses Kapitels knüpft dabei an jüngere Gattungsdefinitionen des historischen Romans an, die den Verweis auf ‚reale‘ Ereignisse als Bestandteil von Gattungsdefinitionen gestrichen haben und Ereignishaftigkeit selbst zur historiographischen Frage erklärt haben.2 Das Ereignis erscheint dabei nicht mehr als positivistische Einheit oder überschätzte Marginalie der Geschichtsschreibung, sondern wird selbst als historische Wissensfigur erkennbar, mit der sich unterschiedliche Geltungsansprüche verbinden und die in unterschiedlichen Epistemen jeweils andere Funktionen erfüllen kann.3

Um die Herausarbeitung solcher unterschiedlicher Epistemen in ihrer literarischen, gesellschaftlichen und politischen Bedeutung soll es in der Folge gehen. Im Fokus stehen dabei Formen des Ereignishaften, die mit einer spezifischen kulturellen und literarischen Struktur verbunden sind (z. B. die Katastrophe oder die Revolution, siehe 8.1 und 8.3) und das Ereignis als historiographische Ordnungsgröße literarisch problematisieren (8.2).

1 Vgl. zu Ricœur Liebsch 2004; Jauss 1973. 2 Vgl. Nünning 1995a. 3 Nanz/Pause 2015, S. 13.

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8.1  Gestörte Geschichte – Die Katastrophe in Tat’jana Tolstajas Kys’ Die moderne Gesellschaft ist eine gestörte Gesellschaft. Hiermit wird kein sozialpsychologischer Befund attestiert, sondern die Tatsache adressiert, dass ausdifferenzierte Gesellschaften mit Irritationen, Störungen und Perturbationen umgehen und diese gegenüber etablierten Erwartungen und Codierungen prozessieren müssen.4 Dies mag noch als Konstante jeder sozialen Ordnung gelten, für die moderne Gesellschaft kommt jedoch erschwerend hinzu, dass diese selbst zum maßgeblichen Faktor der Umweltveränderung wird (Stichwort Anthropozän) und mit den Rückwirkungen der damit verbundenen Störungen (Stichwort Klima­wandel) umgehen muss. Im Anschluss an Niklas Luhmann hat die Analyse des Umgangs mit Störung(en) als Organisationsprinzip moderner Gesellschaften in den letzten Jahren an Popularität gewonnen. Dieser Popularitätsschub ist von der Überzeugung getragen, dass man anhand „dominante[r] Fiktionen der Störung“ etwas über die Organisation der „affektpolitischen Mechanismen und Strategien der Wahrnehmungskonfiguration“ in einer Gesellschaft lernen kann.5 Der Begriff der Fiktion deutet bereits auf die herausgehobene Funktion kulturell-literarischer Modi für diese Erkenntnissuche hin, die in den Worten von Koch, Nanz und Pause als deren „interdiskursive[] Agentur“ (10) fungieren. Mittels künstlerischer Fiktionen von Störungen, insbesondere ökologischer Natur, wird imaginiert, Dringlichkeit signalisiert, gemahnt, gerechtfertigt, appelliert (11). Mit diesen affektpoetischen Praktiken wird jedoch nicht nur moralisch mobilisiert, sondern es können auch epistemische Effekte generiert werden. Letztere entstehen dadurch, dass Störungsereignisse „die positiven Selbstentwürfe einer Gesellschaft auf ihre Funktionstüchtigkeit prüfen und ihre impliziten Prämissen offenlegen“ (15). Die Prävention und Reaktion auf Störungen sind wesentliche Bestandteile der Legitimität sozialer Ordnungen. Von der Verarbeitungskompetenz von Störfällen und Katastrophen hängt die Stabilität politischer Regime und von Gesellschaftssystemen ab. Schließlich haben künstlerische Artefakte häufig selbst „Störcharakter“, der nicht nur toleriert wird, sondern „in differenter Skalierung [sogar] erwünscht“ ist und zu den Grundfunktionen der Kunst in modernen Gesellschaften zählt.6

4 Vgl. Luhmann 1998, S. 118 ff. 5 Koch/Nanz/Pause 2016, S. 7. 6 Gansel 2013, S. 36.

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Dies führt zu der Frage, wie es um die Störungskompetenz realsozialistischer Gesellschaftsordnungen bestellt war. Die Sekundärliteratur bescheinigt diesen Gesellschaften aufgrund allzu rigider ‚Toleranzgrenzen‘ Defizite.7 Solche Defizite wurden insbesondere im Hinblick auf die gravierenden Mängel in der Prävention im Vorfeld der und Reaktion auf die Atomkatastrophe von Černobyl’ als eine der Hauptursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion ausgemacht.8 Nigel Raab differenziert diese Diagnose in seiner Untersuchung All Shook up. The Shifting Soviet Response to Catastrophes, 1917 – 1991 9 und vergleicht die Störungskompetenz sowjetischer Behörden und der Zivilgesellschaft bei den großen Katastrophen auf der Krim (Erdbeben 1927), in Aşgabat (Erdbeben 1948), in Taschkent (Erdbeben 1966), Černobyl’ (1986) und Armenien (Erdbeben 1988). Auffallend ist, dass sich in der Regierungszeit Leonid Brežnevs der Umgang mit Katastrophen änderte. Insbesondere das Erdbeben von Taschkent und der darauffolgende Wiederaufbau der usbekischen Hauptstadt wurden politisch instrumentalisiert und inszeniert, was im Gegensatz zum eher defensiven Umgang mit Katastrophen in der stalinistischen Zeit stand. In einem kulturwissenschaftlich interessanten Exkurs untersucht Raab die Darstellung von Katastrophen in sowjetischen Filmen und widmet sich der Hochzeit des Katastrophenfilms in den 1970er Jahren. Diese resultierte aus kommerziellen Beweggründen, sie stellte aber auch den vorsichtigen Versuch dar, die sowjetischen Bürger auf eine unsichere Zukunft vorzubereiten (139) und in das sowjetische Fortschrittsprojekt Ambivalenzen einzuschreiben. Diese künstlerischen Darstellungen von Katastrophen lassen sich somit auch als Kristallisationspunkt von kritischen Tendenzen wie der Zerbrechlichkeit des autoritären Staatssystems, der Zeitwahrnehmung oder der Sprachpragmatik lesen (7). Im Anschluss an die historischen Ergebnisse Raabs und eine terminologische Unterscheidung von Koch, Nanz und Pause lassen sich in typologisierender Hinsicht drei sowjetische Reaktionsmechanismen auf Störungen historisch differenzieren. In der stalinistischen Zeit überwiegt die Wahrnehmung der Störung als Sollbruchstörung, ein Terminus, der Störungen bezeichnet, die jederzeit auftreten können.10 Zu Letzteren zählen u. a. Sabotage, feindliche Aggression, der Klassenkampf oder Naturkatastrophen. Für die Behandlung solcher Störungen gibt es etablierte narrative und soziale Modi, wie man sie beispielsweise in den 7 Vgl. Gansel/Ächtler 2013, S. 9. 8 Einflussreich ist auch die These von Murray Feshhach, der den Zusammenbruch der Sowjetunion auf eine ökozidale Selbstzerstörung zurückführt, vgl. Feshbach 1992. 9 Raab 2017. 10 Koch/Nanz/Pause 2016, S. 18.

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Produktionsromanen dieser Jahre erkennen kann. Freilich ändern sich Feindund Bedrohungsbilder über die Jahre, gleich bleibt tendenziell jedoch das Vertrauen in die eigene Reaktionskompetenz. Alle Ereignisse, die nicht im Modus der Sollbruchstörung narrativiert werden können, werden invisibilisiert (so z. B. das Erdbeben von Aşgabat). In der poststalinistischen Zeit rücken adaptive Störungen in den Fokus. Diese „bezeichnen […] Zäsuren, die auf eine andere Art und Weise eintreten und verlaufen, als in den präventiven Maßnahmen einer Gesellschaft angedacht ist“ (19). Reagiert wird hier mittels Deeskalation und flexibler Renormalisierung (vgl. 19), wie man sie beispielsweise in den Reaktionen auf Erdbeben, kleinere Atomunfälle oder soziale Unruhen beobachten kann. Die Fragilität der Ordnung wird hier zwar bereits sichtbar, funktionierende Reaktionsmechanismen und die beherrschbare Größe der Verwerfungen führen allerdings dazu, dass systemische Legitimationsfragen nicht öffentlich verhandelt werden. In die Perestrojka-Zeit fällt schließlich das Aufkommen der Überlastungsstörung, „eine Krise oder Katastrophe, die einer Gesellschaft oder einer Person die Orientierung entzieht und mit einem vollkommenen Unbekannten […] konfrontiert“ (19 f.). Hierfür steht wie kein anderes Ereignis die Atomkatastrophe von Černobyl’ (der Störfall (Christa Wolf ) par excellence), aber auch der Prozess der Auflösung der Sowjetunion, der zu einer psychischen Deformation führt.11 Als Folge der Überlastungsstörungen kollabieren die soziale Ordnung und die Ordnung der Zeichen, ein Topos, der die künstlerische Produktion des Interregnums dominiert. Sollbruchstörung, adaptive Störung und Überlastungsstörung korrespondieren mit den Affektpoetiken der Aufstörung, Verstörung und Zerstörung. Diese drei Begrifflichkeiten sind von Carsten Gansel in die Debatte eingebracht worden und rekurrieren auf eine integrierbare/restituierbare (Aufstörung), reparierbare/ regenerierbare (Verstörung) und nicht integrierbare/irreversible (Zerstörung) Ordnung.12 Die Hypothese dieses Unterkapitels besteht darin, dass sich der russische Störungsdiskurs Anfang der 2000er Jahre dreht. Dies betrifft erstens den Wandel der katastrophischen Bedrohungsszenarien, die nicht mehr vorrangig die kommunistische Vergangenheit als Katastrophe imaginieren, sondern in andere 11 Vgl. hierzu ausführlicher Unterkapitel 5.3. Die katastrophische Grundierung der Perestrojka-Jahre zeigt sich auch im Begriff der ‚Katastrojka‘, der seinerzeit von Kritikern der Maßnahmen geprägt wurde. 12 Vgl. Gansel 2013, S. 35.

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Zeiträume ausgreifen. Eine Besonderheit des russischen Diskurses liegt dabei darin, dass Imaginationen von Störung nicht vorrangig unter dem Zeitvektor der Zukunft als Katastrophe 13 verhandelt werden, sondern über den Vektor der Vergangenheit. Kennzeichnend dafür sind die zahlreichen Retrodystopien der 2000er Jahre, deren historischer Charakter trotz der Zukunftsgerichtetheit der Sujets offensichtlich ist. Als Paradebeispiel dieser These mag Vladimir Sorokins Den’ opričnika (Der Tag des Opritschniks, 2006) dienen. Dies betrifft zweitens einen zunehmend selbstreferentiell operierenden künstle­rischen Störungsdiskurs. Systeminterne Prozesse der Kommunikation und Sinngenerierung werden problematisiert und im Hinblick auf die spezifischen Störungen ausdifferenzierter Gesellschaften hin reflektiert. Auf diesem Aspekt liegt auch der Fokus der Untersuchung. Die einzelnen literarischen Werke sollen nicht allegorisch, psychoanalytisch oder historisierend gelesen werden,14 sondern als epistemologische Beiträge, die den Störungsdiskurs verschieben, indem sie neue gesellschaftliche Selbstbeschreibungen ins Spiel bringen. Die metahistoriographische Relevanz des Themas ergibt sich dabei aus der von Gansel und Ächtler formulierten Vermutung, dass „künstlerische[] ‚Figurationen der Störung‘ […] Beobachtungen zweiter Ordnung provozieren“,15 also Beobachtungsmuster, die Beobachtungen selbst unter Beobachtung nehmen. Solche Muster tragen dazu bei, dass eingeschliffene Reaktionsmechanismen ihre Selbstevidenz verlieren und als historische Größen hinterfragbar werden. Störungen steigern das Katastrophenbewusstsein und führen zur „Selbstirritierung der gesellschaftlichen Kommunikation“ – gerade auch in Bezug auf historiographische Problemlagen.16 Diese Fragestellung soll am Beispiel von Tat’jana Tolstajas im Jahr 2000 veröffentlichten Roman Kys’ diskutiert werden. Der Text unternimmt ein narratives Experiment – die Möglichkeit der Erzählung einer nichtausdifferenzierten Gesellschaft. Als Resultat einer nicht näher spezifizierten Katastrophe ist die 13 Horn 2014. 14 Vgl. für eine solche Lesart im russischen Kontext Borenstein 2015, im weiteren slavischen Kontext Artwinska/Tippner 2017. Letztere definieren postkatastrophisches Erzählen folgendermaßen: „Postkatastrophische Texte nehmen beides in den Blick – die Katastrophe und ihr Nachwirken in Gegenwart und Zukunft, d. h. sie legen vom Standpunkt der Gegenwart Sonden in die Vergangenheit, um deren Rekonstruktion und Analyse sie bemüht sind, aber auch in die Zeit danach, um über die Nachwirkung der Katastrophen nachzudenken und diese zu beschreiben“ (Artwinska/Tippner 2017, S. 16). Erinnerung, Rekonstruktion und Analyse historisch verbürgter Katastrophen spielen im folgenden Unterkapitel eine untergeordnete Rolle. 15 Gansel/Ächtler 2013, S. 12. 16 Vgl. Preyer 2013, S. 28 f.

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Menschheit zivilisatorisch in das Neolithikum zurückgefallen.17 Der Roman spielt auf den Überresten des alten Moskau, das in Fedor Kuzmičsk umbenannt wurde und von seiner Außenwelt abgeschnitten ist. Die Gesellschaft ernährt sich von Mäusen, fürchtet sich vor Ungeheuern und wird mittels Ukasen eines Autokraten regiert, dessen Hauptbeschäftigung die Herausgabe alter Bücher und Gedichte unter seinem eigenen Namen ist. In der Fokussierung auf den Helden Benedikt simuliert der Roman gattungspoetisch einen Bildungsroman. Das Ziel besteht in der Aneignung des ‚Alphabets des Lebens‘, dessen Buchstaben die Kapitelgliederung darstellen. Zwar steigt der Held im Lauf der Romanhandlung durch Heirat in ein höheres gesellschaftliches Segment auf und akkumuliert Wissen, die Prozessierung dieses Wissens erfolgt jedoch nicht. Die Bildung des Helden scheitert, weil das Sujet des Romans, die Katastrophe, Subjektwerdung nicht zulässt.

Die Katastrophe der De-Skribtion Kys’ ist ein postkatastrophischer Text. Etwa 200 Jahre vor der Handlungszeit des Textes hat sich ein Großer Knall (Vzryv, im Original stets großgeschrieben) ereignet, der die Welt – vermutlich radioaktiv – verwüstet hat und die Menschheit auf eine frühere Zeitstufe zurückgeworfen hat. Die dominierenden Nachwirkungen dieser Zerstörung stehen in einem frappierenden Gegensatz zur weitgehenden Invisibilisierung der Katastrophe im Roman. Weder erfährt man etwas über die Gründe, die zum großen Knall geführt haben, noch über die globale Reichweite der Zerstörung. Obwohl die Katastrophe den mutierten Figuren des Romans körperlich eingeschrieben ist, scheint sie doch für deren Selbstverständnis kaum eine Rolle zu spielen. Dies provoziert die Frage nach der erzählerischen Funktion dieser Invisibilisierung. Mit einem Begriff von Maurice Blanchot lässt sich die Katastrophe im Roman als Desaster fassen. Das Desaster zeichne sich dadurch aus, dass es „über Sein und Nichtsein“ hinauszugehen scheine. Es ist daher „nicht Ereignis (das Eigene dessen, was ankommt) – es kommt gar nicht an, so daß ich nicht einmal auf diesen Gedanken komme, es sei denn, ohne es zu wissen und ohne ihn als Wissen anzueignen“.18 Das Desaster sei vom Subjekt räumlich getrennt, die Bewegung

17 Das Neolithikum als zeitkritische Reflexionsfigur nimmt auch die Ausstellung Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 im Haus der Kulturen der Welt (2018) in den Blick, hier allerdings mit einem Schwerpunkt auf Westeuropa. 18 Blanchot 2005, S. 13.

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des Ankommens finde kein Ziel, weil eine Aneignung eine Grenze überschreiten müsse, die sich nicht überschreiten lasse. Vom Desaster gebe es keine Erfahrung und keine Beschreibung, es sei die „Grenze der Schrift“, es „de-skribiert“ (16). Die Katastrophe selbst kann also, vorausgesetzt, es handelt sich um ein Desaster im Sinne einer Auflösung aller Verweisungszusammenhänge, nicht Gegenstand der Erzählung sein. Gegenstand der Erzählung kann nur das Resultat der DeSkribtion des Ereignisses sein, der Prozess der Sinnentleerung. Hier lehne ich mich an Christine Gölz an, die Kys’ als „ein Erzählen nach dem Ende der Entwicklung und damit jedweden Ereignisses“ bezeichnet hat, als „ein[en] Text, der nur noch die zusammengesammelten Reste von Narrativität vorführen kann“.19 Nimmt man diese Deutung ernst und fasst das Desaster als „Grenze“, wird die Rede von einem „postkatastrophischen“ Roman problematisch. Denn das Ereignis ist eben nicht in die Folge des Davor und Danach eingelassen, es stellt eine Zeitgrenze dar, die die Verfahren historiographischer Sinnbildung desavouiert. Laut Niklas Luhmann korreliert Systembildung mit der Einführung des Diffe­ renzschemas Vergangenheit – Zukunft.20 Die in Kys’ geschilderte Gesellschaft entzieht sich der Beschreibung innerhalb dieses Schemas. Die Handlung scheint in einer fernen Zukunft angesiedelt, diese Zukunft hat aber nichts Zukünftiges an sich, sondern entpuppt sich als Amalgam aus Vergangenem. Dies gilt nicht nur für die materielle Ausschmückung des retrodystopischen Raums, sondern verweist auf ein evolutionäres Paradox. Einige der Bewohner des Mikrokosmos Fedor Kuzmičsk, die als „Ehemalige“ Wissen der vorkatastrophischen Welt besitzen, sehen die Zukunft der Zivilisation in einer beschleunigten Rückkehr zum in der Vergangenheit Erreichten. Die Vorstellung von Zukunft verliert hier ihre neuzeitliche Kopplung an die Idee des Neuen. Das Zukünftige ist gerade nicht das Neue, sondern das Alte, das immer schon bekannt ist und nur wieder angeeignet werden muss. Материальная культура, друзья, ежечасно восстанавливается. Вновь изобретено колесо, возвращается коромысло, солнечные часы! Скоро научимся обжигать горшки! Верно, друзья? Придет черед и мясорубки. И пусть сейчас она так же загадочна, как тайна пирамид, – стоят ли они еще, мы не знаем, – так же непостижна уму, как каналы Марса, – но пробьет час, друзья, и она заработает!21 19 Gölz 2004, S. 695. 20 Vgl. Luhmann 1998, S. 1016. 21 Tolstaja 2001, S. 132. „Die materielle Kultur, meine Freunde, regeneriert sich mit jeder Stunde. Das Rad wurde neu erfunden, das Tragjoch und die Sonnenuhr sind zurückgekehrt! Bald werden wir lernen, Töpfe zu brennen! Nicht wahr, meine Freunde? Auch der Fleischwolf wird an die Reihe kommen. Mag er heute noch so rätselhaft sein wie das Geheimnis der Pyramiden – ob sie noch stehen, wissen wir nicht –, oder so u­ nbegreiflich

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Das Wissen um die Vergangenheit ist ein Spezialwissen, das bislang nicht in der Gesellschaft zirkuliert. Hierauf weist die mehrfach evozierte Rätselhaftigkeit der Vergangenheit in der Passage hin. Diese wird in Form des Marsvergleichs als räumliche Grenze narrativiert, ihr Grenzcharakter durch die mehrfache Beschwörung der Unzugänglichkeit („zagadočna“, „tajna“, „ne znaem“, ­„nepostižna umu“) verstärkt. Dieses Programm, das dem Motto „Zurück in die Zukunft“ folgt, wird von Benedikt, dem Prototypen der Gegenwartsgesellschaft, als ­Restauration wahrgenommen: „вот вы хотите прошлое восстанавливать“.22 Die Wiedererrichtung der Vergangenheit erscheint als Raubbau an der Zukunft, dem Leben entgegengesetzt, das Benedikt am Ende seiner Anklage der Restaurationspolitik der Ehemaligen emphatisch beschwört („Ja žit’ choču!“). Mit dieser Emphase ist die Hoffnung auf eine individuelle Zukunft verbunden, auf etwas Neues, auf eine biographische Entwicklung, die allerdings von Benedikt anfangs nicht ausbuchstabiert werden kann. Die Suche nach den Lettern dieses Lebensversprechens wird zum Antrieb seines – am Ende scheiternden – Bildungstriebs. Luhmann bezeichnet Neuheit als „dasjenige Moment, das es überhaupt erst erlaubt, Zukunft von Vergangenheit zu unterscheiden“.23 Nur vor dem Hintergrund eines bekannten Alten wird Neues als Neues denkbar. Der Prozess des Bekanntwerdens des Alten zeitigt dabei den Umschlag von Vergangenheit in Geschichte. Genau dieser Umschlag misslingt im Roman, weil einerseits für die vorkatastrophische Generation das Alte nicht Vergangenheit, sondern Zukunft ist und andererseits die junge Generation das Alte nicht als Vergangenes wahrnehmen kann bzw. darf, weil ein Wissen von diesem Vergangenen zu heikel wäre. Die Katastrophe vernichtet die Möglichkeit von Geschichte, indem sie eine Grenze zur Vergangenheit errichtet. Alles, was jenseits dieser Grenze liegt, kann nicht verstanden und angeeignet werden. Die Verständigung darüber, was Geschichte ist, misslingt, weil sie auf Grundlage eines Ereignisses geschrieben werden müsste, das sich als Ereignis Verschriftlichung und historischer Sinnbildung entzieht.

wie die Mars-Kanäle, doch die Stunde wird schlagen, meine Freunde, da er wieder funktionieren wird“ (Tolstaja 2003, S. 148). 22 Tolstaja 2001, S. 139. „Die Vergangenheit wollt ihr wiedererrichten“ (Tolstaja 2003, S. 155). 23 Luhmann 1998, S. 1005.

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Medialisierte Zeitlogiken Der Zusammenhang von Schrift und Katastrophe bildet das mediologische Zen­ trum des Romans. Benedikt bewegt sich in einer Gesellschaft vor dem Buchdruck, in der die Produktion und Distribution von Büchern monopolisiert und der Privatbesitz von Büchern verboten ist, was mithilfe von sogenannten Sanitätern staatlich durchgesetzt wird. Anspielungen auf die spätsowjetische Untergrundkultur sind offensichtlich. Benedikt ist von Beruf Kopist, er transkribiert alte Bücher und entwickelt im Verlauf der Handlung eine Bibliomanie, die als Parodie auf den Grapho- und Literaturzentrismus der russischen Kultur gelesen werden kann.24 Benedikts Bibliophilie hat jedoch ein großes Defizit. Er transkribiert lediglich den Buchstabenlaut der Erzeugnisse, nicht jedoch deren Bedeutung. Die Gesellschaft, mit Ausnahme der Ehemaligen, kann das Geschriebene nicht in Sinn übersetzen. Schrift fungiert als bloßes Trägermedium, dessen Bedeutungspotential unrealisiert bleibt. Die Liebe des Helden zu den Büchern zeitigt zwar Irritationen in Bezug auf Lebensweg und Lebenssinn, diese scheinen allerdings nur quantitativer, nicht qualitativer Natur. In der Narration überwiegen „Textformen der Deskription: […] Aufzählungen, Glossen und Regelkataloge[ ]“.25 Defizitär sind diese Aufzeichnungen insofern, dass sie Differenzierung vermissen lassen und keine Hierarchisierung zwischen hoher und niedriger Kultur zulassen (704). Nicht zuzustimmen ist der Auffassung, dass sich die Weltordnung der Bücher „jenseits der Zeit“ (692) befindet. Sie folgen zwar nicht der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, etablieren aber eine andere temporale Unterscheidung, die zwischen „eine[r] abzählbare[n], konditionierbare[n] Nahzeit und eine[r] unerreichbare[n], dunkle[n] Fernzeit“.26 Die Orientierung an dieser Differenz ist Kennzeichen vorschriftlicher Kulturen, in denen die Anwesenheit von Gesprächspartnern und Dingen leitend für kommunikative Akte ist. Benedikts Buchepiphanie, die Gegenstand der Kapitel Fert, Cher und Šča ist, rahmt diese evolutionäre Errungenschaft temporaler Differenzierungskompetenz denn auch deutlich. Die Sequenz beginnt mit dem Prozess des Sichabschließens von der Ordnung der Jahreszeiten, die Benedikts Existenz bis dahin gerahmt hat (und auch am Beginn des Romans steht). Der Hegemonie der fernen Naturzeit wird die Nahzeit der Buchlektüre entgegensetzt. Der natürlichen gesellschaftlichen Ordnung des Romans steht das Ordnungsstreben B ­ enedikts gegenüber, der ein eigenes System („sistema“) für das von ihm Gelesene ­f­inden 24 Vgl. hierfür Lipoveckij 2008, S. 399 ff. 25 Gölz 2004, S. 690. 26 Luhmann 1998, S. 252.

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möchte. Als Resultat einer Störung, die die Dominanz des D ­ ifferenzschemas Vergangenheit  ‒ Zukunft bricht 27 (etwa in Form literaturgeschichtlicher Chronologisierungen), lässt sich in der Romankonstellation mit alternativen Ordnungsmustern experimentieren. Benedikt wird zu einem „distant reader“ (Moretti) avant la lettre, der für sein überbordendes Lektürebedürfnis eigene Kategorien sucht und findet. Für ihn steht Čechov neben Černenko und nicht länger neben Gogol’. Das kritische Potential dieser distanzierten Lektüre wird im Roman dabei durch die satirische antikanonische Tendenz, die seine alternativen Ordnungen signalisieren, angedeutet. Laut Lipoveckij wird es aber nicht voll realisiert, da die emphatische Schlusssequenz, in der die alphabetkundigen Ehemaligen die normative Führung übernehmen, ex negativo die Sakralität der alten Ordnung bestätigen: […] чтобы сохранить сакральный статус культуры, чтобы не допустить демона десакрализации, необходима катастрофа – а вернее, сознание того, что все погибло, что все кончено и поэтому теперь можно только запереться в библиотеке, перебирая забытые – но оттого не менее сакральные – смыслы.28

Neben dieser konservativen Intuition leuchtet jedoch im Zuge der Katastrophe auch die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen und zeitlichen Ordnung auf. Die alternativen Ordnungs- und Lesemuster, mit denen ­Benedikt experimentiert, verweisen sowohl zurück auf die mündliche Urgesellschaft der simulierten Handlungszeit des Neolithikums als auch voraus auf die ‚nächste Gesellschaft‘,29 deren Rezeptionsgewohnheiten nicht zwangsläufig etablierten Differenzierungsmustern folgen müssen. Sie dienen somit als Anzeige der Varianz der zeitlichen Logik medialer Verbreitungsmedien. Das schier übermenschliche Lesepensum Benedikts weist dabei nicht zuletzt auf die Datenverarbeitungskompetenzen elektronischer Medien hin, die sich durch die Abwesenheit genau der Kriterien der Urteilskraft auszeichnen, die bislang als rezeptive Leitgrößen formuliert wurden.

27 Die Katastrophe, die Benedikts Existenzentwurf später im Angesicht der Erkenntnis, alle Bücher der Bibliothek gelesen zu haben, ereilt, ereignet sich bezeichnenderweise nach der Lektüre eines Fortsetzungsromans und wird somit auch als impliziter Zeitbruch markiert. 28 Lipoveckij 2008, S. 401 f., Hervorhebung im Original; „um den sakralen Status der Kultur zu bewahren, um nicht den Dämon der De-Sakralisierung durchzulassen, benötigt man die Katastrophe – präziser, ein Bewusstsein davon, dass alles verloren ist, dass alles zu Ende ist und man sich deshalb nur noch in der Bibliothek einschließen kann, um die vergessenen, aber deshalb nicht weniger sakralen, Sinnzusammenhänge zu sortieren“. 29 Baecker 2007.

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Initiiert wird diese Problematisierung der Zeitordnungen durch ein Abgleiten von der Schrift, das den Beginn von Benedikts Lektüre kennzeichnet: „Сначала глаз старопечатные буквы не брал, вроде как соскакивал.“ 30 Dieses Abgleiten lässt sich als Akt der De-Skribtion lesen, als Abkehr von der vorgegebenen Hierarchie des gedruckten Worts, an dessen Stelle ein gesteigertes Sensorium für die Materialität der Bücher tritt, für deren Farbe, Größe, Umfang. Im Anschluss an Gansel lässt sich dies als direkter Effekt der Störung lesen, wenn dieser Störung als Zustand definiert, „der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird“.31 Die Aufmerksamkeit für diese Parameter ist Folge der Irritation nach dem Verlust des für selbstverständlich gehaltenen Sinnprimats des geschriebenen Wortes.

Symptome und Signale Wie lässt sich über ein katastrophales Ereignis sprechen, das sich der direkten Evokation entzieht? Jacques Derrida hat als Lösungsansatz für diese Problemstellung eine Symptomatologie vorgeschlagen. Das Symptom ist für ihn die „Zustellung des Ereignisses, die niemand beherrscht, die kein Bewusstsein, kein bewusstes Subjekt sich aneignen oder bemeistern kann“.32 Symptome sind die sichtbaren und analysierbaren Spuren einer Katastrophe, die sich selbst der Darstellung entzieht. Der Begriff des Symptoms löst sich hier von seiner pathologischen Bedeutung und bezeichnet „etwas, das von oben kommt und über uns hereinbricht“ (50). Eine symptomatologische Deutung kann an dem Komplex der Mutationen im Roman ansetzen. Einer der Ehemaligen beklagt sich, dass in Russland „alles mutiert“ 33 und hat in der erzählten Handlung die Deformationen der Körper, der Sprache und des historischen Prozesses im Sinn. Die Mutationen etablieren eine Zeitdifferenz zwischen dem Früheren und Späteren, deren Sinn für die jeweils Mutierten im Dunkeln bleibt. Insbesondere über die allgegenwärtigen animalischen Mutationen der Körper (die Rede ist von Hahnenkämmen und Schwänzen) findet eine Biologisierung der Katastrophe statt. So stört der Schwanz der Hauptfigur Benedikt diesen weit weniger als die Ehemaligen, die ihm diesen abschlagen möchten, was nach einiger Zeit denn auch in die Tat umgesetzt wird. Die Amputation überzähliger Körperpartien ist jedoch nur ein 30 Tolstaja 2001, S. 194. „Zuerst konnten seine Augen die altgedruckte Schrift nicht aufnehmen, sie rutschten gleichsam ab“ (Tolstaja 2003, S. 219). 31 Jäger zitiert nach Gansel 2013, S. 39. 32 Derrida 2005, S. 49. 33 Tolstaja 2003, S. 257; „отчего это у нас все мутирует, ну все!“ (Tolstaja 2001, S. 229).

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Doktern an Symptomen, lässt sich doch die Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem damit nicht wiederherstellen. Dies liegt daran, dass diese Grenze zeitlicher Natur ist. So beklagt Nikita Ivanyč, ein Ehemaliger, dass der Schwanz ein Merkmal der „Tiefenzeit“ 34 und in der Gegenwart ein Atavismus sei. но что меня беспокоит, так это внезапный возврат именно этого специфического органа. К чему бы это? Все ж таки у нас неолит, а не какое-нибудь дикое общество; к чему бы это?35

Das Symptom ist folglich ein Merkmal, das sich der chronologischen Einordnung entzieht. Die im Text stets groß geschriebenen „Spätfolgen“ („Posledstvie“; Mutationserscheinungen) sind Eigenschaft einer Ursache-Folge-Beziehung sui generis. Sie symbolisieren die Eigenzeit der Störung, deren Kurierung nicht an der Oberfläche vorgenommen werden kann. Nachdem Nikita Benedikt den Schwanz abgenommen hat,36 verfolgt dieser ihn in seinen Träumen. Der überzählige Schwanz wird hier zur Quelle der Irritation, deren Vorhandensein wiederum auch als Zeitbruch (sejčas/vdrug) verhandelt wird: „Как же так: сейчас ведь длинный был, волочился, а тут вдруг короток.“ 37 Der Schwanz bleibt ein temporales Abjekt, ein Symptom einer unheilbaren zeitlichen Störung. Signale sind neben Symptomen ein anderes Verfahren, um Störungen sichtbar zu machen. Signale können präventiv wirken, indem sie vor möglichen Störungen warnen, sie können allerdings auch reaktiven Charakters sein, wenn sie etwa Ausmaß und Reichweite einer Störung anzeigen.38 Die aufstörende Wirkung des Signals steht gegen Ende des Romans im Fokus, wenn Benedikt sich ein 34 Tolstaja 2001, S. 139: „в глубоком прошлом […] хвост был нормальным явлением“. 35 Tolstaja 2001, S. 139. „Was mich beunruhigt, ist die plötzliche Rückkehr gerade dieses spezifischen Organs. Wozu soll das gut sein? Immerhin sind wir im Neolithikum, nicht auf der Entwicklungsstufe irgendwelcher Wilden. Wozu soll das gut sein?“ (Tolstaja 2003, S. 155). 36 Die offensichtlichen Möglichkeiten einer psychoanalytischen Deutung des Ereignisses werden hier nicht verfolgt. In deren Rahmen wären die Kastrationsszene und die darauf anhebende Bibliomanie Benedikts Voraussetzung einer kulturellen Sublimationsleistung, das Lesen der Bücher Kompensation der Reduktion der sexuellen Potenz. 37 Tolstaja 2001, S. 194. „Wie kann das sein: Eben war er doch noch lang, schleifte über den Boden, und jetzt ist er plötzlich kurz“ (Tolstaja 2003, S. 218). 38 Kulturwissenschaftlich ist der kommunikationstheoretische Ansatz von Claude ­Shannon und Warren Weaver einflussreich, der Kommunikation folgendermaßen bestimmt: „Ein Sender enkodiert eine Botschaft in Signale, die über einen Kanal möglichst störungsfrei an einen Empfänger weitergeleitet werden, der die Signale dekodiert“ (Schmidt 2005, S. 93). Vgl. auch den Sammelband Signale der Störung (Kümmel 2003).

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Lager in der Bibliothek einrichtet und dort auf ein Signal wartet: „Вот лежишь. Лежишь. Лежишь. Без божества, без вдохновенья. Без слез, без жизни, без любви. Может, месяц, может, полгода, и вдруг: чу! будто повеяло чем. А это сигнал.“ 39 Das Signal äußert sich als Zeitbruch, das die longue durée der Sinnlosigkeit eines jeden schöpferischen und transzendenten Impulses beraubten Lebens plötzlich („vdrug“) durchbricht. Im Angesicht allumfassender Sinnlosigkeit erwartet Benedikt vom Buch ein „wahrhaftiges Signal“. Imaginiert wird dieses im Modus der Katastrophe: Вот если сигнал истинный, то все это вместе: и бумага, и буквы, и картины, что через буквы видать, и шепоты перебегающие, и гул какой-то, и ветер, что от листаемых страниц подымается – пыльноватый, тепловатый, – все это вместе сгустится, предстанет, нахлынет, воздушной какой-то волной обольет, и тогда знаешь: да! Оно! Иду!40

Die sintflutartige Störung durch das Signal führt zum Zusammenbruch der alten Ordnung, ihrer Buchstaben und Bilder und erzeugt einen Handlungsimperativ, der im Gegensatz zur oben zitierten Passivität der Erwartung des Signals steht. Zum Ende des Buches treten dann in der Tat zwei Ereignisse auf, die einen solchen Signalcharakter besitzen. Benedikts Schwiegervater initiiert einen Umsturz, infolgedessen er sich zum Diktator aufschwingt. Die Hoffnungen auf Liberalisierungen werden dabei enttäuscht, das neue Regime agiert gar noch grausamer als das alte. Als Reaktion auf die Revolution animiert Benedikt Nikita Ivanyč zum Selbstopfer, von dem er sich ein inspirierendes Beispiel für die Gesellschaft verspricht. Die Hinrichtung Nikitas auf einem Scheiterhaufen führt zu einer Feuerkatastrophe, in deren Folge die Siedlung zerstört wird. Das Signal hat nicht zu einer Katharsis, sondern zu einer neuen Katastrophe geführt. Woran liegt das? Da der Text auf eine Spezifizierung des zu Signalisierenden verzichtet, drängt sich der Gedanke auf, dass die dramatische Verschiebung von der erhofften Auf- und Verstörung hin zur Zerstörung vom Signal selbst ausgeht. Ohne Aussicht auf Sinn sind starke Signale wirkungslos, gar kontraproduktiv, 39 Tolstaja 2001, S. 271. „So liegst du da. Und liegst und liegst. Ohne Gottheit, ohne schöpferischen Geist. Ohne Tränen, ohne Leben, ohne Lieb. Vielleicht einen Monat, vielleicht ein halbes Jahr, und plötzlich: Ah! Als hätte dich was angeweht. Das ist das Signal“ (Tolstaja 2003, S. 305). 40 Tolstaja 2001, S. 273. „Wenn also das Signal echt ist, dann fällt alles zusammen: das Papier, und die Buchstaben, und die Bilder, die du durch die Buchstaben siehst, und das umlaufende Gewisper, und irgendein Dröhnen, und der Wind, der sich von den blätternden Seiten erhebt, schwach staubig, lauwarm – alles zusammen verdichtet sich, tritt vor dich hin, kommt herangeströmt, überschwemmt dich mit einer Welle von Luft, und dann weißt du: Ja! Das ist’s! Ich komme!“ (Tolstaja 2003, S. 307).

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sie laufen ins Leere. Dieses Ins-Leere-Laufen liegt allerdings nicht allein daran, dass die Botschaft der Kommunikation unklar ist, sondern auch an der Unklarheit des Empfängers. Impliziter Empfänger der von Benedikt ersehnten Signale ist die Gesellschaft, die sich als deren Folge wandeln soll. Genau diese Form der Kommunikation zu einer als Kollektivkörper verstandenen Gesellschaft muss jedoch scheitern. Die in Kys’ skizzierte geistige und soziale Ordnung ist in einer Weise sprachlich ausdifferenziert, dass allgemein verbindliche Sinnversprechen scheitern müssen.41 Sinnsignale, die an die Gesellschaft adressiert sind, sind unzustellbar. Sie provozieren nur eine Kaskade weiterer Signale, deren Effekte am Ende katastrophal sind. Der Urgrund des Scheiterns besteht im Roman in der anfänglichen Katastrophe, die durch nichts signalisiert wurde und nur retrospektiv erfahrbar ist. Der Kommunikation über Signale entzieht sie sich jedoch, sie de-skribiert und designalisiert. Die dauerhafte Störung der Signalketten weist die in Kys’ beschriebene Gesellschaft damit schlussendlich in ihrer kommunikativen Grundstruktur doch als moderne Gesellschaft aus, deren Decodierungsprozesse des Sinnhaften kontingenten Charakter angenommen haben. Insbesondere die Katastrophen im Buch laden dabei zu einer solchen Vielzahl von Sinnstiftungsangeboten ein, dass eine Verständigung über diese und eine Hierarchisierung von diesen aussichtslos erscheint. Die metaphysische Hoffnung auf ein „echtes Signal“ („istinnyj signal“) ist erloschen. Tolstajas Kys’ ist nicht der einzige Roman, der sich zu Beginn der 2000er Jahre, als es zu einer Renaissance antiutopischer und retrodystopischer Romane kommt,42 mit der Frage nach dem Umgang mit einer Vergangenheit beschäftigt, deren katastrophischer Charakter die Überführung von Vergangenheit in Geschichte verhindert. Die Welt des Helden in Jurij Mamleevs Bluždajuščee vremja (Die irrlichternde Zeit, 2001) gerät aus den Fugen, als dieser durch einen Zeitbruch in eine Vergangenheit vor seiner Geburt geschleudert wird, in der er einen Sohn zeugt. Auf der Suche nach der Lösung seiner dadurch verursachten geistigen Verwirrung gerät er in einen esoterischen Kreis, was sein metaphysisches Koordinatensystem zum Einsturz bringt. Irritiert von einer Vergangenheit, die sich nicht ergründen lässt, wird der Zeitbruch zur Ursache des Bruchs mit seinem bisherigen Leben. Im Zentrum von Vladimir Sorokins Eis-Trilogie (Put’ Bro, Led, 23000, 2002 – 2005) steht der berühmte Tunguska-Meteorit des Jahres 1908, eine Katastrophe, die aufgrund ihres rätselhaften Charakters bis

41 Vgl. für die „Sprachverwirrung“ in Kys’ Gölz 2004, S. 705 ff. 42 Zu dieser Renaissance vgl. Marsh 2007, S. 186 ff.

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heute Anlass zu wissenschaftlichen und literarischen Spekulationen bietet.43 In Sorokins alternativer Geschichte des 20. Jahrhunderts wird die Welt von einer Eis-Bruderschaft regiert, die mit einem Eis-Hammer Menschen traktiert und – sofern diese zu den Auserwählten zählen – deren Herzen zum Sprechen bringt. Die Katastrophe bahnt in der Trilogie dem Anbruch einer neuen Eis-Zeit den Weg und dient als Schlüsselereignis, „die Welt nach 1908 und damit die endgültig etablierte Moderne zu reflektieren“ (337). In beiden Fällen wird mit der Katastrophe ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt, der die sprachlichen und weltanschaulichen Fundamente der Welt ins Wanken bringt. Wie auch Tolstajas Roman verhandeln sie die Frage, was passiert, wenn Geschichte im Ausgang eines katastrophalen Ereignisses erzählt wird bzw. werden muss, das sich der unmittelbaren Narrativierung und Sinngebung entzieht. Die Katastrophe bildet in allen drei Fällen den Ausgangspunkt eines in unterschiedlichen Graden ironisch gebrochenen, transhistorischen Messianismus, im Rahmen dessen sie einen sakralen Status einnimmt. Während Sorokin diesen Anspruch weitgehend ironisiert, verbleiben die Romane Tolstajas und Mamleevs in einer Tradition, in der katastrophale Ereignisse und die von diesen gezeitigten Überlastungsstörungen zum archimedischen Punkt eines historiographischen Prozesses werden, der sich auf die Suche nach der Wiederherstellung einer durch die Katastrophe verlorengegangenen mythischen Einheit begibt.44

8.2  Die Ähnlichkeit der Geschichte – Evgenij Vodolazkins nichtgeschichtliche Romane Als zu Beginn der Perestrojka die Legitimitätsdefizite des Bolschewismus allzu drängend wurden, erlebte die altrussische Kultur und Literatur als Legitimationsressource eine Blüte. Diese Entwicklung kulminierte in den Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Jubiläum der Christianisierung Russlands 1988 und fand ihr Zentrum in der Person Dmitrij Lichačëvs, der in jenen Jahren zu der publi­ zistischen und politischen Autorität wurde. Lichačëv vertrat die Auffassung, dass nur durch eine Wiederaneignung des historischen Erbes, insbesondere der altrussischen Kultur, der geistige Raum geschaffen werden könne, in dem die Fortexistenz Russlands und der russischen Welt gesichert sei.45 1986 beginnt 43 Vgl. Nitzke 2017. 44 Ähnlich funktionieren auch die Ausführungen zur ‚Katastrophe des Kommunismus‘ bei Solženicyn in Unterkapitel 6.3. 45 Vgl. für weitere Informationen zur Rolle Lichačevs während der Perestrojka Zubok 2017.

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Evgenij Vodolazkin, dessen literarische Verarbeitung des Mittelaltertopos in diesem Unterkapitel im Zentrum stehen soll, am Puškinskij Dom seine Aspirantur und tritt in die von Lichačëv geleitete Abteilung zur altrussischen Kultur ein. Vodolazkin stilisiert sich als Schüler Lichačëvs und gibt 2002 einen elogischen Erinnerungsband 46 heraus. Lichačëvs Biographie findet auch Eingang in seinen Roman Aviator, dessen Hauptfigur Lichačëv an vielen Stellen nachempfunden zu sein scheint. Neben Lichačëv ist mit der Wiederaneignung des Denkens Nikolaj Berdjaevs eine weitere für Vodolazkins Mittelalterbild wichtige Referenz in der Periode der Perestrojka situiert. Berdjaevs im Exil verfasste Schriften zum Wesen des russischen Kommunismus, zum Neuen Mittelalter und zum Sinn der Geschichte wurden „in der Perestrojka-Zeit in mehreren hunderttausend Exemplaren nachgedruckt“ 47. In seiner Schrift zum Neuen Mittelalter, auf die Vodolazkin sich mehrfach bezieht, vertritt Berdjaev ein zyklisches Geschichtsbild, das durch den „rhythmische[n] Ablauf der Epochen und einen Wechsel der Kulturtypen“ 48 geprägt ist. Merklich beeinflusst vom Denken Oswald Spenglers,49 sieht Berdjaev das „Ende des Humanismus, des Individualismus, des formalen Liberalismus der neuzeitlichen Kultur und de[n] Beginn einer neuen kollektivistischen religiösen Epoche“ 50 kommen, die er als Neues Mittelalter bezeichnet. Kennzeichnend für dieses „Mittelalter ist die Verbreitung theosophischer Lehren, die Neigung zu okkulten Wissenschaften und die Auferstehung der Magie“ (60). Wenngleich politisch gegeneinander abzugrenzen – Lichačëv vertritt eine liberal-konservative, proeuropäische Haltung, während „der Gegenaufklärer“ (Plotnikov) Berdjaev seit der Perestrojka eher im reaktionär-russophilen Umfeld rezipiert wird –, so beziehen sich beide Denker doch affirmativ auf das Mittelalter als Legitimationsquelle für eine gegen die sowjetische Variante der Moderne gerichtete Gesellschaftsform.51 46 47 48 49 50 51

Vodolazkin 2002. Plotnikov 2016, S. 253. Berdjaev 1949, S. 17. Vgl. für diesen Einfluss Gasimov 2013. Berdjaev 1949, S. 47. Die Nennung Berdjaevs weist darauf hin, dass der Rückgriff auf das Mittelalter als Figur kulturgeschichtlicher Selbstverortung im russischen Kontext historische Vorläufer hat. Allen voran ist hier Michail Bachtin mit seinen Studien zu Volkskultur und Karneval des Mittelalters und der Renaissance zu nennen. Zu verweisen wäre auch auf Pavel F ­ lorenskij, der sich ebenfalls affirmativ auf das ‚Neue Mittelalter‘ bezogen hat und dessen ganzheitliche Weltsicht der individualistischen Renaissance gegenüberstellt (vgl. Hagemeister 2001). Als Beispiel einer negativen Abgrenzung zur gesellschaftlichen

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Vodolazkin beruft sich in seinem publizistischen Werk mehrfach auf diese russischen Theoretiker der mittelalterlichen Kultur und hat sich in seiner 2000 abgeschlossenen Dissertation zur Idee der Weltgeschichte in der Literatur der alten Rus’ auch wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die Schrift lässt sich dabei – worauf wir später zurückkommen werden – im Hinblick auf die Entfaltung geschichtsphilosophischer Schlüsselprinzipien lesen, stellt aber auch einen genuinen Debattenbeitrag zur bereits von Lichačëv begonnenen und in den 1990er Jahren durch Vladimir Bibichins Werk Novyj Renesans (Die neue Renaissance, 1998) erneut dynamisierten Diskussion zur Stellung der russischen Renaissance in der europäischen Geistesgeschichte dar. Die Frage nach der Stellung des russischen Mittelalters bzw. der russischen Vorrenaissance im europäischen Gefüge ist dabei auch ein wichtiger Aspekt in seinem Mittelalterroman Lavr (2012).52 Die kulturgeschichtlichen Konzeptionen des Mittelalters wurden hier resümiert, um anzuzeigen, dass Vodolazkins literarisches Schaffen nicht allein motiv­ geschichtlich und erzähltechnisch von Interesse ist, sondern auch in einem ­breiteren Diskurs verortet ist, in welchem es sowohl um Fragen der epistemischen Ordnung des Mittelalters als auch um Fragen der Möglichkeit des Rückgriffs auf das Mittelalter als Quelle gesellschaftlicher Legitimation und Kritik geht. Dieser konstitutive Zusammenhang von Literatur, Epistemologie und Legitimation soll in der folgenden Analyse im Zentrum stehen. Sie nimmt ihren Ausgang bei einer Lektüre von Vodolazkins Lavr und versucht dann anschließend unter Einschluss seiner Romane Solov’ev i Larionov (Solowjew und Larionow, 2009) und Aviator (Luftgänger, 2016) Schneisen für eine epistemologische Lesart der historiographischen Schlüsselkonzepte von Vodolazkins Prosa und Publizistik zu schlagen.

Ordnung des Mittelalters lässt sich der Roman Trudno byt’ bogom (Es ist schwer, ein Gott zu sein, 1963), der Gebrüder Strugackij lesen, in dem ein an das späte Mittelalter erinnernder Planet als Allegorie totalitaristischer Gesellschaft dient. 52 Nur erwähnt werden soll hier, dass das Mittelalter als Legitimationsquelle auch in anderen Kontexten von großer Relevanz ist. Verwiesen sei z. B.auf die Säkularisierungs­debatte der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, in der das christliche Mittelalter als geistesgeschichtliche Legitimationsquelle beschworen wurde und der Legitimität der Neuzeit (Hans Blumenberg, 1966) eine alternative Legitimität des Mittelalters gegenüberstand. Zur Debatte vgl. die Ausführungen bei Flasch 2017, v. a. S. 473 ff. Zentral ist vor allem die Schlüsselstellung theologischer Tendenzen, die sich gegen eine als destruktiv empfundene, zu weit getriebene Säkularisierung stemmen. Die Renaissance des Mittelalters beschränkte sich dabei nicht auf die BRD, auch in Italien gab es, worauf Karlheinz K ­ asper in einem für dieses Unterkapitel wichtigen Beitrag hingewiesen hat, eine lebhafte Diskussion über Die Zukunft Mittelalter (Roberto Vacca), deren affirmative Grundtöne u. a. auch Umberto Eco teilte (Kasper 2014, S. 121 f.; Eco 1987).

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Die Episteme der Ähnlichkeit in Lavr Als sich Arsenij und Ambrodžo im dritten Buch des Romans Lavr auf einer Pilgerreise nach Jerusalem befinden, formuliert die viernamige Hauptfigur des Romans eine prinzipielle Beobachtung: „Как раз в Венеции я подумал о том, что повторения на свете нет: существует только подобие.“ 53 Die prinzipielle Stellung des Konzepts der Ähnlichkeit, die Arsenij hier formuliert, lässt sich, so die Hypothese dieses ersten Paragraphen, als Leitfaden der Lektüre von ­Vodolazkins bekanntestem und international breitrezipiertem Roman Lavr lesen. Ähnlichkeit fungiert dabei als Mittel der Sujetorganisation ebenso wie als Motiv, aus dessen Darstellung sich wesentliche Elemente der vormodernen Episteme des Romans verstehen lassen. В разное время у него было четыре имени. В этом можно усматривать преимущество, поскольку жизнь человека неоднородна. Порой случается, что ее части имеют между собой мало общего. Настолько мало, что может показаться, будто прожиты они разными людьми. В таких случаях нельзя не испытывать удивления, что все эти люди носят одно имя.54

Bereits der erste Absatz des Romans verweist auf die Idee der Ähnlichkeit und deren Schlüsselstellung. Suggeriert der Titel des Romans noch mit seiner bloßen Nennung des Vornamens die Erwartung eines Bildungsromans, in dessen Zen­trum die biographische Vervollkommnung des Helden steht, so enttäuscht die Einleitungssequenz eben diese. Denn mit der Idee einer unteilbaren Persönlichkeit, deren Wesen sich durch Raum und Zeit hindurch bewahrt, ist die Viernamigkeit des Helden und seine Verschiedenheit unvereinbar. Die Konzeption des Helden konfligiert somit mit dem Prinzip der Individualität, das – in der umstrittenen, aber einflussreichen Deutung Jacob Burckhardts – als einer der Hauptpunkte des modernen Menschenbildes der Renaissance bestimmt wurde. In Lavr haben wir es stattdessen mit einer Form biographischer Inkongruenz zu tun, die – so die unspezifische Datierung der Sequenz („v raznoe vremja“) – dabei nicht nur vormoderne Gültigkeit beanspruchen kann, sondern auch in anderer 53 Vodolazkin 2012, S. 331 f. „Erst neulich habe ich darüber nachgedacht, dass es zwei identische Dinge auf der Welt gar nicht gibt: Es gibt immer nur Ähnlichkeiten“ (Vodolazkin 2016b, S. 310). 54 Vodolazkin 2012, S. 7. „Zu verschiedenen Zeiten trug er vier verschiedene Namen. Das mag man als Vorteil sehen, denn das Leben des Menschen ist uneinheitlich. Bisweilen haben seine einzelnen Teile wenig gemeinsam. So wenig, dass man glauben könnte, verschiedene Leute hätten sie gelebt. In solchen Fällen kann man sich nur wundern, dass all diese Leute denselben Namen tragen“ (Vodolazkin 2016b, S. 9).

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Zeit noch von Interesse ist. Es wäre dabei verkürzt, diese Inkongruenz absolut zu setzen. Vielmehr bleibt ein Rest biographischer Gemeinsamkeit erhalten, für den man allerdings eine spezifische Deutungskompetenz braucht, könnte er doch sonst als prinzipielle Verschiedenheit missdeutet werden. Ist man jedoch offen dafür, Verwunderung auf sich wirken zu lassen, lässt sich die Gleichartigkeit des eigentlich Verschiedenen erkennen. Hier liegt der Nukleus des Ähnlichkeitsparadigmas, das sich schlussendlich, mit Anklängen an die Apophatik („nel’zja ne ispytyvat’“), als Signatur einer höheren Ordnung erweist. Die Eingangssequenz deutet an, dass die gesamte Figurenkonstellation des Romans nach dem Prinzip der Ähnlichkeit aufgebaut ist. Arsenijs Biographie reimt sich mit der seines italienischen Zeitgenossen Ambrodžo, seine Gattin Ustina kommt im letzten Kapitel wieder in Gestalt der jungen Anastasija, die Pilger nach Jerusalem ähneln sich ebenso wie die in rechtlosen Räumen lauernden Räuber­ gestalten. Selbst durch den Tod kann das Prinzip der Ähnlichkeit nicht durchbrochen werden. Arsenij trägt z. B. die Namen seiner gestorbenen Gattin Ustina und seines getöteten Freundes Ambrodžo weiter. Das Prinzip der Ähnlichkeit erstreckt sich auch auf die Tierwelt. Die im Roman mehrfach erwähnten Hundsköpfigen legen dafür ebenso Zeugnis ab wie die Gestalt des Wolfes im ersten Buch, der anthro­pomorphisiert wird, oder das Symbol des Phönix, dessen Lebensweg den Arsenijs widerspiegelt. Tiere sind Menschen ähnlich, die Grenze zwischen beiden ist eine künstliche. Nur eine Form der Ähnlichkeit ist unmöglich: zwischen Menschen und Gott. Arsenij, der sich Ikarus gleich im ersten Buch gen Himmel aufmacht, fällt vom Dach und wird sich durch seine Verletzung seines Menschseins bewusst. Als organisatorisches Prinzip dient die Idee der Ähnlichkeit auch für die Handlungsstruktur des Romans. Lavr ist in vier Bücher unterteilt, zwischen denen in wesentlichen Punkten Analogien bestehen. Das erste Buch zeigt die Welt des nordrussischen Dorfes Rukino, das zweite Buch spielt überwiegend in Pskov, während das dritte Buch die Reise Arsenijs und Ambrodžos nach Jerusalem schildert und das vierte Buch die eremitische Existenz des alternden Lavr darstellt. Die jeweils geschilderten Ereignisse – das Eindringen von Pest und Krankheit, todbringende Gewalt, das Gewinnen neuer Freunde unter den Menschen, das Motiv der Reise – ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Interessant ist, dass der Roman dabei in jedem Buch die Reichweite der Schauplätze erweitert. Die Handlung beginnt in einem Dorf, wechselt dann in eine Großstadt, bevor sie schlussendlich auf den gesamten Kontinent ausgreift. Diese Steigerung legt eine Orientierung an der Stufenfolge von Mikro- und Makrokosmos nahe. Im Großen und im Kleinen herrschen dieselben Gesetze und Bedingungen der menschlichen Existenz. Leitend für diesen Aufbau der erzählten Welt ist das Modell des Mikrokosmos, den Foucault folgendermaßen bestimmt:

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Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie

Als Denkkategorie wendet er auf alle Naturgebiete das Spiel der reduplizierten Ähnlichkeiten an. Er garantiert der Nachforschung, daß jedes Ding in einer größeren Stufenleiter sein Spiegelbild und seine makrokosmische Versicherung findet. Es bestätigt dagegen, daß die sichtbare Ordnung der höchsten Sphären sich in der dunkelsten Tiefe der Erde widerspiegelt.55

Das Mikrokosmosmodell garantiert die Nachvollziehbarkeit der Ausweitung des Raums, die der Roman betreibt. Räumlich berührungslose Einheiten wie Oberitalien und Pskov können so miteinander in Beziehung gebracht werden, denn überall vollzieht sich das gleiche Schauspiel. Bestimmt werden kann diese ortlose Form der Analogie im Anschluss an Foucault als Aemulatio. „In der aemulatio gibt es etwas wie den Reflex oder den Spiegel; in ihr antworten die in der Welt verstreuten Dinge aufeinander“ (49).56 Die Ahnung einer übernatürlichen Macht verbindet Arsenij und Ambrodžo miteinander, die beide die Gabe der Prophetie besitzen. Je größer der örtliche Rahmen wird, desto beweiskräftiger wird das überörtliche Prinzip: „Перемещение в пространстве обогащает опыт, скромно ответил брат. Оно спрессовывает время, сказал Амброджо. И делает его более емким.“ 57 Alternativ zum Mikro­ kosmos-Makrokosmos-Modell könnte man auch im Anschluss an Rudolf Carnap von Ähnlichkeitskreisen sprechen, deren Teilgleichheit als Modell kultureller Integration unterschiedlicher Einheiten von Anil Bhatti in ebendiesem Sinne betont wird.58 Nach welchen Gesetzen aber vollzieht sich diese Konzentration, ein Schlüsselbegriff für das Denken Vodolazkins, der Zeit? Im Roman selbst ist an einer Stelle von einer prästabilierten Harmonie die Rede, die die Ordnung der Welt garantiert. Diese These wird am Beispiel einer von Ambrodžo entwickelten Erdaltertheorie ins Spiel gebracht, wenn es heißt: „Числа, Арсение, имеют свой высший смысл, ибо отражают ту небесную гармонию, о которой ты спрашиваешь.“ 59 Die himmlische Harmonie verweist dabei auf eine göttliche­O ­ rdnung, 55 Foucault 1971, S. 62. 56 Die Idee, dass sich alles auf der Welt reimt, findet sich bereits prominent bei Lev Tolstoj und seinen „situational rhymes“ (Robert Belknap) und wird auch von Maria Stepanova in ihrem Roman Pamjati pamjati (Nach dem Gedächtnis, 2018) an mehreren Stellen prominent artikuliert. 57 Vodolazkin 2012, S. 298. „Ortsveränderungen sind immer bereichernd, antwortete der Bruder bescheiden. Sie komprimieren die Zeit, sagte Ambrogio. Und vergrößern zugleich ihr Volumen“ (Vodolazkin 2016b, S. 279). 58 Bhatti/Kimmich 2015, S. 18. 59 Vodolazkin 2012, S. 248. „Die Zahlen haben einen höheren Sinn, Arsenije, denn sie spiegeln eben jene himmlische Harmonie, nach der du fragst“ (Vodolazkin 2016b, S. 231).

Die Ähnlichkeit der Geschichte433

die die Ordnung der Zeichen und Dinge garantiert.60 Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Signatur‘, die über den Dingen schwebt und diesen ihre Bedeutung verleiht. Das Vorhandensein einer Signatur, die außerhalb des steten Wandels der Zeichen steht, erlaubt es dabei, räumliche und zeitliche Grenzen zu sprengen. Am deutlichsten wird diese Sprengkraft in den Metalepsen der Erzählerfigur, die in mehreren Passagen anachronistische Vorgriffe einschaltet. Die erzählte Welt wird dabei zwar verlassen, die Metalepsen selbst mit ihren Verweisen auf historische Analogien bleiben allerdings in der Logik der Ähnlichkeit, die auch das erzählte Geschehen dominiert. Das dahinterstehende Zeitmodell zeigt sich somit als zyklisches, im Rahmen dessen Ähnlichkeiten zwischen eigentlich verschiedenen Epochen und Akteuren fruchtbar gemacht werden können. Es ist dabei ein dezidiert antilineares Zeitmodell, das mit der chronologischen Darstellungstradition des Bildungsromans bricht und an dessen Stelle eine bruchstückhafte Biographie setzt, deren Fäden von einer übergeordneten Signatur in den Händen gehalten werden.61 Die Stabilisierung dieser Balance von Mikro- und Makrokosmos erfolgt laut Foucault durch eine „unstabile Mischung aus rationalem Wissen, von magischen Praktiken abgeleiteten Begriffen und einem ganzen kulturellen Erbe“.62 Diese Mixtur magischer und mechanischer Erklärungen zeigt sich vor allem in den Diskursen der Medizin im Roman, in denen sich kaum zwischen Beschwörungsformeln und Berufswissen trennen lässt. Diese Auffassung steht auch im Zentrum der Arzttätigkeit Arsenijs. Die Garantie ihrer Wirksamkeit liegt nicht in der Rationalität, sondern in der Spiritualität und im persönlichen Glauben. Im Vertrauen auf den Glauben können alle Widrigkeiten bis zur Pest überwunden werden. Obwohl Arsenij von seinem Großvater Christofor ein Rezeptbuch mit Heilungsanweisungen erbt und sich auch selbst in der Kräuterheilkunde fortbildet, bleibt der Erfolg seines Handelns doch an seine Person und seinen Körper gebunden: „Им было важно, что это делает именно он“.63 Kausale Beziehungen 60 Bhatti et. al. 2011, S. 236. 61 Während die Reisen durch die Zeit im Roman gefahrlos sind, ist jeder Raumwechsel mit Gewalt verbunden. Der Roman ist voller repressiver Grenzregime, die jeden Grenzübertritt mit Gewalt ahnden – vom pesterkrankten wütenden Vater Arsenijs im ersten Buch über die peinlichst ihre Zuständigkeitsbereiche verteidigenden jurodivyj im zweiten Buch bis zu den gewalttätigen Küstenbewohnern Dalmatiens und Palästinas im dritten Buch. Globalität als Denkmodell ist problemlos möglich, als lebensweltliche Realität jedoch gefährlich – wer möchte, kann dies auch politisch im Kontext der Verteidigung der Grenzen in Vodolazkins publizistischen Beiträgen lesen. 62 Foucault 1971, S. 63. 63 Vodolazkin 2012, S. 150. „Wichtig war, dass er es tat“ (Vodolazkin 2016b, S. 141).

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Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie

im Sinne rational verifizierbarer Wirksamkeiten von Therapien existieren nicht, so die Erkenntnis Arsenijs: „В целом же Арсений укреплялся в своем давнем предположении, что в конечном счете лекарства имеют второстепенное значение. Главная роль принадлежит лекарю и его врачующей силе.“ 64 An dieser Konzeption des medizinischen Diskurses lassen sich wiederum Parallelen zur Episteme der Ähnlichkeit erkennen. Bei Bathi et alii heißt es: „‚Ähnlichkeit‘ gilt […] als eine Kategorie, die eher magischen Praktiken verwandt und daher einer vormodernen Episteme zugehörig ist.“ 65 Salutogenetisch kennzeichnend für diese ist ein ganzheitlicher Ansatz, in dem psychische und physiologische Aspekte gleichermaßen in den Heilungsprozess einfließen. Der eben gefallene Begriff der ‚vormodernen Episteme‘ verweist darauf, dass das Leitprinzip der Ähnlichkeit in Lavr in einem größeren ­g eschichtlichen Zusammenhang der Ordnung des neuzeitlichen Wissens steht. Anschluss­fähig scheint für diese die einschlägige Bestimmung der Ähnlichkeit, die Michel ­Foucault in der Ordnung der Dinge gegeben hat: Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat die Ähnlichkeit im Denken (savoir) der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt. Sie hat zu einem großen Teil die Exegese und Interpretation der Texte geleitet, das Spiel der Symbole organisiert, die Erkenntnis der sichtbaren und unsichtbaren Dinge gestattet und die Kunst ihrer Repräsentation bestimmt.66

Foucault differenziert Ähnlichkeit gegen das Prinzip der Repräsentation, das in der Folge einsetzt, und beschreibt Ersteres als Nebeneinander von bezeichnender und bezeichneter Form, das die Erkenntnisform der Zeit determiniert. Er unterscheidet vier Ähnlichkeiten (convenientia, aemulatio, analogia, sympathia), die alle einer bezeichnenden Signatur untergeordnet sind, die sich in Form real existierender und aufspürbarer Ähnlichkeiten zeigt, die es zu erhellen gilt (60 f.). Foucaults Bestimmung ist in jüngerer Zeit von mehreren Denkern aufgegriffen worden, die im Anschluss an das Prinzip der Ähnlichkeit eine „asymmetrische[] Moderne-Erzählung“ 67 entwerfen. In Kontrast zur Konzentration auf Differenz und Identität als Leitgrößen diskursiver Ausdifferenzierung wird u. a. von Bruno Latour auf das Vorhandensein alternativer Wissensformen hingewiesen, „die das Verhältnis von Moderne und Imagination, Natur und Kultur, Mensch 64 Vodolazkin 2012, S. 150. „Insgesamt fand er seine seit längerem gehegte Vermutung bestätigt, dass Medikamente letztlich zweitrangig waren. Die wichtigste Rolle spielten der Arzt und seine heilenden Kräfte“ (Vodolazkin 2016b, S. 141). 65 Bhatti u. a. 2011, S. 236. 66 Foucault 1971, S. 46, Hervorhebung im Original. 67 Bhatti u. a. 2011, S. 242.

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und Ding nicht dichotom, sondern angemessen komplex beschreibbar machen sollen“ (240). Historisch ist vor allem von Interesse, dass hier die Renaissance als Bifurkationspunkt der Weltgeschichte pluralisiert werden soll und eine eurozentrische Sichtweise auf diese Schlüsselperiode erweitert werden soll: „Es geht um die weltweite Pluralität der ‚renaissances‘ “.68 Die Genese der modernen Welt lässt sich also von vielen Standpunkten aus erzählen. Indem Lavr durch die Figur Ambrodžos einen florentinischen Kameraden an die Seite gestellt bekommt, wird die Frage der Renaissance direkt adressiert und im Sinne einer produktiven Verständigung, aber auch des Stehenlassens von Differenz (man beachte das Ende des Romans aus interkultureller Perspektive) verhandelt.69 Vodolazkins Lavr befindet sich also einerseits im Bezugsfeld dieser jüngeren Bewegungen, seine Romane beinhalten andererseits aber auch Differenzen zu diesen. Auf eine dieser Differenzen, der starken Stellung theologischer Denkfiguren, die sich in Latours Aktualisierung vormoderner Wissensordnung so z. B. nicht finden, sind wir bereits gestoßen. Einer anderen Differenz wollen wir uns in Form der Ereigniskritik des Romans zuwenden.

Nichthistorische Ereignishaftigkeit Lavr trägt den Gattungszusatz neistoričeskij roman (nichthistorischer Roman). Vodolazkin verweist zur Erklärung in einem Interview auf den Aktualitätsanspruch des Romans.70 Damit sind neben den Metalepsen des Erzählers, die diesen Anspruch im Roman direkt sichtbar machen, wohl auch prinzipielle Beweggründe gemeint, die auf die Ausarbeitung einer alternativen Episteme, die wir eben kurz zusammengefasst haben, hindeuten. Eine weitere Dimension wird sichtbar bei einem kleinen Seitenblick auf Vodolazkins theoretische Arbeiten. Dort heißt es: „Для средневекового историографа, игнорировавшего причинно-следственную связь событий, не существовало принципиальной разницы между событиями ‚историческими‘ и ‚неисторическими‘.“ 71 Hiermit ist vor allem gemeint, dass die Unterscheidung zwischen quellenbasierter historischer 68 Batthi/Kimmich 2015, S. 24, Hervorhebung im Original. 69 Ein vollständiger Vergleich der russischen und florentinischen Renaissance im Roman kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. 70 „Все мы пишем неисторический роман. Если разобраться, – все мы пишем о современности“ (Vodolazkin 2016c). 71 Vodolazkin 2000, S. 4. „Für den mittelalterlichen Historiker, der die Ursache-FolgeBeziehung des Ereignisses ignorierte, existierte kein prinzipieller Unterschied zwischen historischen und nicht-historischen Ereignissen.“

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Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie

und spekulationsbasierter apokrypher Geschichte für den mittelalterlichen Chronographen keine Relevanz besitzt. So vermischen sich auch im Gattungshybrid Lavr referentialisierbare Objekte und Personen mit hagiographischen Sequenzen, deren magisch-wunderbarer Gehalt nicht faktual festgestellt werden kann und soll. In seinem Roman Aviator wird die Ebene des Nichthistorischen als bestimmter Modus der Beschäftigung der Vergangenheit gar noch expliziter konturiert. Von der Hauptperson heißt es: А ведь я и вправду мыслю неисторически – тут Гейгер, наверное, прав. Исторический взгляд делает всех заложниками великих общественных событий. Я же вижу дело иначе: ровно наоборот. Великие события растут в каждой отдельной личности. В особенности – великие потрясения.72

Der Held des Romans, Innokentij Platonov, ist eine nichthistorische Persönlichkeit im wörtlichen Sinne. Nachdem er auf den Solovki-Inseln in einem grausamen medizinischen Versuch schockgefrostet wurde, erwacht er im ausgehenden 20. Jahrhundert in einem Krankenbett und erinnert sich an sein voriges Leben.73 Angesichts der knapp 70-jährigen Periode der Einfrostung erscheint die geschichtliche Zeit als Ordnungsgröße der Zeiteinteilung obsolet. Platonov durchfriert eine ereignislose Zeit, unter deren longue durée die Ereignisse seines vorherigen Lebens ihre Bedeutung verändern. Angesichts der Erfahrung seiner individuellen Historizität – Platonov kennt keine der Segnungen der technischen Zivilisation seiner Inkubationsperiode – verändert sich sein Blick auf das Erlebte. Erinnerungswürdig ist nicht die ‚große‘ Geschichte, sondern deren vermeintliche Epiphänomene: „звуки […], запахи, манера выражаться, жестикулировать, двигаться“.74 In der Aufwertung körperlicher Kompetenzen lässt sich wiederum ein ideeller Zusammenhang zur Wissensordnung des Romans Lavr herstellen. In beiden Fällen herrscht ein Primat des Körpergedächtnisses, das durch die Zeit hindurch wirkt und für die eigene Identitätsbildung bedeutender als historische Ereignisse ist.

72 Vodolazkin 2016a, S. 93. „Ich denke in der Tat ahistorisch, damit hat Geiger wohl recht. Ein historischer Blick macht jeden zur Geisel großer gesellschaftlicher Ereignisse. Ich dagegen sehe die Dinge anderes: genau umgekehrt. Große Ereignisse entstehen in jedem einzelnen Individuum. Vor allem große Erschütterungen“ (Wodolaskin 2019, S. 97). 73 Ein wichtiger literarischer Vorläufer, der ebenso wie Aviator das Auftauen eines eingefrorenen Menschen als Handlungsmotiv verwendet, ist Vladimir Majakovskijs Klop (Die Wanze, 1929). Ein Vergleich der beiden Werke ist im vorliegenden Kontext nicht angebracht, wäre aber lohnend. 74 Vodolazkin 2016a, S. 307. „Geräusche, Gerüche, die Art wie die Menschen redeten, gestikulierten, sich bewegten“ (Wodolaskin 2019, S. 319).

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Was hat es mit der Selbstcharakterisierung des nichthistorischen Denkens also in literarischer Hinsicht auf sich? Es steht offensichtlich für eine personale Mikrogeschichte in Abgrenzung zur ereignisbasierten Makrogeschichte. Diese Abgrenzung geht im Roman so weit, dass die Sujetanordnung des Aviator sogar mit der radikalen Idee einer enthistorisierten Geschichte als fabula rasa spielt, scheint doch Platonov nach seinem Aufwachen von der Last der ‚großen‘ Ereignisse befreit, wodurch er retrospektiv seine eigene Geschichte aus seiner Erinnerung schreiben kann. Bereits Vodolazkins erster Roman Solov’ev i Larionov hat sich der Herausforderung der Rekonstruktion einer (sowjetischen) Biographie gewidmet, für die keinerlei Quellen und Aussagen zur Verfügung stehen. Die Vergangenheit wird zur Imaginationsfläche, verliert angesichts dessen aber ihren historizistischen Charakter. Insofern scheint es konsequent, wenn Platonov in Aviator darauf beharrt, dass er Künstler und kein Historiker sei: Я ведь художник – художник, а не историк. Мне не важна последовательность событий, меня волнует единственно факт их существования. Пункты плана записываю без всякой логики, по мере припоминания.75

Die Existenz geht dem Ereignis voraus, das Individuum kann befreit von der Logik der Kausalität und den Zwängen der Geschichte nicht nur seine eigene Zukunft, sondern – und hier geht der Roman über bekannte existentialistische Vorläufer hinaus – auch seine Vergangenheit frei entwerfen. Verfolgt man die Spur des Nichthistorischen im Roman weiter, so lässt sich erkennen, dass die Kritik des historischen Denkens bei Vodolazkin schlussendlich auf die Kernkritik des Ereignisses als zentraler Bezugsgröße der Geschichtsschreibung zuläuft. Am deutlichsten wird dies im Roman Aviator. Platonov wird in einem Dialog von Geiger explizit nach dem Ereignis gefragt: – Хорошо, – спрашиваю, – вы признаёте, что история – это цепь событий? – Признаю, – отвечает Иннокентий. – Вопрос только в том, что считать событием. История Иннокентия не только вневременная. Ее особенность еще и в том, что состоит она не из событий, а из явлений.76

75 Vodolazkin 2016a, S. 199. „Ich bin schließlich Künstler – Künstler, kein Historiker. Mir geht es nicht um die Abfolge von Ereignissen, mich interessiert allein die Tatsache, dass sie stattfanden. Ich notierte die Punkte meines Plans ohne jede Logik, wie sie mir gerade einfielen“ (Wodolaskin 2019, S. 210). 76 Vodolazkin 2016a, S. 237. „‚Gut‘, fragte ich, ‚akzeptieren Sie, dass die Geschichte eine Kette von Ereignissen ist?‘ – ‚Das akzeptiere ich‘, antwortete Innokenti [Platonov]. ‚Die Frage ist nur, was als Ereignis gilt.‘ Innokentis Geschichte ist nicht nur zeitlos. Ihre Besonderheit liegt zudem darin, dass sie nicht aus Ereignissen besteht, sondern aus Phänomenen [Erscheinungen]‘“ (Wodolaskin 2019, S. 249).

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Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie

Offensichtlich ist das Ereignis als historische Bezugsgröße fragwürdig. Ereignisse als Elemente historischer Erzählungen werden in klassischen Darstellungen mit Novität, Kausalität und Chronologizität in Verbindung gebracht.77 Diese Größen sind bei Vodolazkin problematisch, gibt es doch im Rahmen eines zyklischen Geschichtsbilds, das von Brüchen und Wechseln der strukturellen Ordnungen (Mikrokosmos-Makrokosmos) durchzogen ist und von Ähnlichkeiten zusammengehalten wird, weder Kausalität noch Novität noch Chronologizität. Folglich ermahnt Platonov: „Главное – не переоценивать событий как таковых. Я думаю, они не являются чем-то внутренне присущим человеку.“ 78 Beide hier zitierten Romanpassagen ähneln sich insofern, als sie dem Ereignis als Bezugsgröße die Erscheinung gegenüberstellen. Geschichte besteht nicht aus Ereignissen, sondern aus Erscheinungen, so die These. Was unterscheidet das Sichereignen vom Erscheinen? Jedes Ereignis befindet sich in Aviator immer schon im Bedingungsfeld der Deutung und Sinngebung. Es verweist als Begriff auf die Möglichkeit des radikal Neuen, das durch gedankliche Anstrengung in eine logische Ordnung, eine Ereigniskette („cep’ sobytij“) gebracht werden kann. Das Ereignis gehört damit zur Sphäre des Zeitlichen, Geschichtlichen und Allgemeinen. Das Erscheinen hingegen gehört zur Sphäre des Nichtzeitlichen (des Ewigen), des Nichtgeschichtlichen und des Personalen. Das Ereignis als solches hat keine Verbindung zur Personalität des Menschen, es kann nicht in die Sphäre des Erscheinens eintreten. Die Formulierung „не являются“, die die Lexik des Erscheinens („javlenie“) aufruft, reproduziert die obige Differenz. Geschichte kann sich nicht ereignen in dem Sinne, dass sie damit in einen Verweisungszusammenhang eingeordnet werden könnte. Sie kann nur etwas Transzendentes zur Erscheinung bringen, das aber nicht näher bestimmt werden kann, sondern nur als personale Reflexion im Modus der Apophatik (des Nichtzeitlichen, Nichtgeschichtlichen) eine Annäherung erfahren kann. Biographien werden determiniert durch wunderähnliche Ereignisse plötzlichen Verschwindens im Eis und Krieg und damit aus dem chronologisch-kausalen Zusammenhang der Zeiten herausgelöst. Eine solche Handlungsstruktur ist insofern unhistorisch, dass in ihr die jeweils erlebte Geschichte nicht Resultat eigener Entscheidungen, sondern Resultat einer prädeterminierten Tragik der menschlichen Existenz ist. Der Prozess der Einsicht in diese metaphysische Verstricktheit der menschlichen Existenz wird in beiden Romanen als Kampf um die Metaperspektive ausgefochten. Beide 77 Vgl. Koselleck 1988, S. 144 ff. 78 Vodolazkin 2016a, S. 380. „Vor allem darf man Ereignisse als solche nicht überbewerten. Ich glaube, sie sind nichts, das dem Menschen innewohnt“ (Wodolaskin 2019, S. 395).

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Romane ­vereint der Motivkomplex des Fliegens, der die Frage nach der Möglichkeit der Einnahme einer übergeordneten Perspektive impliziert. Die Aneignung dieser Metaperspektive ist dem Menschen jedoch verschlossen. Als Lavr in seinen Kinderjahren Ikarus gleich gen Himmel fliegen will, stürzt er böse vom Hausdach und zieht sich Verletzungen zu. Und Platonov, der sich als Aviator imaginiert, ist ebenfalls zum Absturz verdammt. Die Aneignung des Transzendenten ist also verschlossen, nicht allerdings dessen Andeutung im Realen. Von Interesse ist eine geistesgeschichtliche Einordnung dieser Kritik des Ereignisses. Bereits Henri Bergson differenziert in seiner frühen Variante der Ereignisphilosophie ein radikales und absolutes Ereignis, das Neues in die Welt bringt und dem „nichts voraus ging oder nichts folgen kann“ von „relativen Ereignissen […], in denen das Mögliche sukzessive in Erscheinung zu treten hatte“. Abgewertet wird das „bloße[] In-Erscheinung-Treten[]“, aufgewertet eine „genuine Ereignishaftigkeit“.79 Diese Sichtweise wird in der jüngeren französischen Ereignisphilosophie noch radikalisiert. Marc Rölli fasst zusammen: Ereignisse sprengen idealiter den mit konventionellen Mitteln bestimmbaren Erfahrungsraum. In ihrer ganzen unbegriffenen Dichte bringen sie etwas Unerhörtes, nie Gesehenes, Unglaubliches zur Geltung, quasi eine Andersheit, die nur vorläufig und auf Kosten dogmatischer Vorverständnisse verdrängt werden konnte.80

Die Bedeutung des Ereignisses ergibt sich durch seine Singularität, durch das Ereignen eines nicht antizipierbaren Moments, durch das Erlebnis des Unbegreiflichen. Obgleich in Vodolazkins Romanen gegen das Ereignis polemisiert wird, so lassen sich hier doch bedeutende Ähnlichkeiten erkennen. Vodolazkin scheint eine „ganze Reihe struktureller Gesichtspunkte, die den unterschiedlichen Ereignissen [der modernen Ereignisphilosophie] gemeinsam sind: […] Zeitbrechung, Sinnstiftung, Symbolcharakter, Wirklichkeitsverfremdung etc.“ (7), zu teilen, auch im Sinne der Aufwertung dieser Elemente gegenüber einem positivistischen Ereignis- und Geschichtsverständnis.81 Allerdings gibt es auch hier interessante Verschiebungen. An die Stelle einer radikalen Ereignishaftigkeit, die das Außerordentliche zum Auslöser einer Wende erklärt, tritt bei Vodolazkin das vermeintlich radikale Ereignis als Konstante des menschlichen Lebens. Würde auf ein jedes Ereignis eine Konversion folgen, 79 Liebsch 2004, S. 185. 80 Rölli 2004, S. 12, Hervorhebungen im Original. 81 Eben dies kritisiert Vodolazkin in publizistischen Texten, wenn es etwa heißt: „Whereas contemporary historical narration takes as its basic structural unit the event, medieval historical narratives take as their basic structural unit a chronological period.“ ­( Vodolazkin 2016c, S. 32).

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wäre die Folge nicht Erleuchtung, sondern Erratik. Die Verarbeitung des Ereignisses gelingt im Roman gerade dadurch, dass sie keine Konversion in Gang setzt, sondern den eingeschlagenen Weg immer aufs Neue bestätigt. Lavr schreitet auf keiner Linie, auf der er umdrehen könnte, sondern bewegt sich in Kreisen und Spiralen,82 in der sich die vermeintlich einzigartigen Ereignisse immer wieder aufs Neue ereignen. Das Ereignishafte wird damit relativiert und paradoxiert, alle Erfahrungen Lavrs entpuppen sich als jeweils schon Dagewesenes. Dies erklärt die konstitutive Rolle von Motivwiederholungen und Parallelismen im Roman. Entfaltet Lavr die Kritik der Ereignishaftigkeit mittels Multiplikation, so steht in Aviator die Negation des Ereignisses im Mittelpunkt. Während sich die Medien und die Öffentlichkeit auf das sensationale Ereignis des Wiederauftauens konzentrieren, kommt Platonov im Zuge der Reflexion seiner eigenen Biographie zu dem Schluss, dass dieses Ereignis als Ereignis schlussendlich keine Rolle für ihn spielt. Er macht da weiter, wo er seinerzeit aufhörte (Platonov kommt mit der Enkelin seiner damaligen großen Liebe zusammen) und negiert somit die Signifikanz des vermeintlichen totalen Einschnitts seines eigenen Todes. An die Stelle des Ereignisses als zentrale historiographische Bezugsgröße tritt schließlich die Person. Deutlich formuliert wird diese Schwerpunktsetzung im Roman Aviator, in dem es heißt: „Страна – не моя мера, и даже народ – не моя. Хотел сказать: человек – вот мера, но это звучит как фраза. Хотя …“ 83 Alle Romane Vodolazkins kreisen um die Möglichkeit der Rekonstruktion personaler Lebensgeschichten, die es gegen die Ereignisse der Zeit zu konturieren gilt. Dies trifft auch auf den Roman Solov’ev i Larionov zu, der davon handelt, wie der junge Historiker Solov’ev die Lebensgeschichte des Bürgerkriegsgenerals Larionov erforscht. Eine wichtige Rolle nimmt dabei sein Mentor Professor Nikol’skij ein, dessen Geschichtsverständnis für Solov’ev leitend ist: Традиционному выяснению роли личности в истории проф. Никольский предпочел вопрос о том, как история позволяет личности сыграть свою роль. В трактовке исследователя история, по сравнению с личностью, представала чем-то вторичным, в определенном смысле – вспомогательным. История виделась ему рамой – иногда бедной, иногда роскошной, – в которую личность помещала свой портрет.84 82 Vgl. hierzu Bočkina 2017, die auf die Verwandtschaft dieser Zeitauffassung zum mittelalterlichen Zeitbild hinweist. 83 Vodolazkin 2016a, S. 78, Hervorhebung im Original. „Das Land ist nicht mein Maß, nicht einmal das Volk ist es. Beinahe hätte ich gesagt: Der Mensch ist das Maß, aber das klingt wie eine Phrase. Obwohl …“ (Wodolaskin 2019, S. 81). 84 Vodolazkin 2013, S. 340. „Der traditionellen Erklärung über die Rolle der Person in der Geschichte zog Professor Nikol’skij die Frage vor, wie Geschichte der Persönlichkeit erlaube, ihre Rolle in ihr zu spielen. In der Deutung des Forschers erschien die

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Auffallend ist, wie die Darstellung der Hierarchie zwischen Geschichte und Person in diesem Zitat zu einem Akt künstlerischer Modellierung wird. Geschichte ist nicht einfach gegeben, sondern bildet lediglich den Bezugsrahmen, in dem das eigentlich Bedeutsame, die Persönlichkeit, in Erscheinung tritt. Wichtigstes Medium ist dabei die Erinnerung, die die subjektive Bedingtheit des Vergangenen ins Zentrum rückt und insbesondere in Aviator und Solov’ev i Larionov existentiell ist. In einer Fußnote, die unmittelbar vor den eben zitierten Ausführungen auf „Forschung zu einer ähnlichen Problematik“ 85 hinweist, fällt nicht zufällig zum einzigen Male im Roman der Name Nikolaj Berdjaevs. Berdjaev behauptet, dass „in Russland […] die Persönlichkeit immer stärker ausgeprägt [war] als in der nivellierten, entpersönlichten, mechanisierten Zivilisation des modernen Westens“.86 Grundlage dieser Leitstellung des russischen Persönlichkeitsverständnisses ist für den Denker die „Vereinigung des Prinzips von Persönlichkeit und Freiheit mit dem Prinzip der Kommunitarität“, die „in der Idee der Sobornost’ “ (108, Hervorhebung im Original) wurzle. Im Gegensatz zum modernen Westen, in dem ein schrankenloser Individualismus „zur Entpersönlichung, zur Zersetzung der Persönlichkeit“ (119) führe, garantiere die Verbindung zur religiösen und kirchlichen Tradition im russischen Kontext eine höhere geistige Stufe der Persönlichkeit. Die Idee, dass sich die Persönlichkeit in der Geschichte nur durch die Hinwendung zur Kommunitarität entfalten könne, durchzieht auch die Romane Vodolazkins. Deren Helden finden erst durch Freundschaft und Liebe den Schlüssel zur Durchdringung ihrer eigenen Persönlichkeit.

Das politische Feld des Mittelalters Wenn wir an dieser Stelle zurück zu den Ausführungen des Beginns kehren, so soll erinnert werden, dass mit der Bezugnahme auf das Mittelalter bei Bachtin oder Berdjaev nicht nur epistemische und geschichtstheoretische Positionen verhandelt wurden, sondern auch politische Selbstverortungen vorgenommen wurden. Dies soll nun abschließend kurz dargestellt werden. So lehnt sich Vodolazkin auch in jüngeren publizistischen Beiträgen an die Idee eines Neuen Mittelalters an. In politisch-sozialer Hinsicht qualifiziert Vodolazkin das Neue Mittelalter als Geschichte, im Vergleich mit der Persönlichkeit, als etwas zweitrangiges, in einem bestimmten Sinne, als etwas Ermöglichendes. Geschichte erschien ihm als Rahmen, manchmal ärmlich, manchmal luxuriös, in dem die Persönlichkeit ihr Porträt platzierte.“ 85 Vodolazkin 2013, S. 340: „исследования по сходной проблематике“. 86 Berdjaev 2012, S. 107.

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„konservatives Projekt“, das in seiner russischen Ausprägung als globales Vorbild, insbesondere für den Westen dienen könne: „If the West is able to move beyond its geopolitical disagreements with Russia and take a good look at the conservative project that’s taking shape in Russia now, it will see one possible future for our common European civilization.“ 87 Konservatismus steht hier für einen europäisch gesinnten Nationalliberalismus in Tradition Lichačëvs, der von den illiberalen, eher nationalistisch gesinnten Strömungen im heutigen Russland 88 zu unterscheiden ist. Vodolazkin schwebt eine „sozial rekonsolidierte“,89 hierarchisch gegliederte Gemeinschaft vor, die in Abgrenzung zu globalen Positionen Grenzen eine Schlüsselstellung zuspricht (37). Zentral für die Ermöglichung der Ära der „Konzentration“, die er heraufziehen sieht, ist die Wiederentdeckung des Christentums, die Vodolazkin in Tradition Dostoevskijs zum Fatum der europäischen Christenheit erklärt: „If European civilization is fated to survive, it will require a rediscovery of Christianity“ (37). Ästhetisch bedeuten das Mittelalter und seine Literatur bei ­Vodolazkin eine fragmentarische Sicht auf die Wirklichkeit, die Negation des Kausalitätsprinzips, den Verzicht auf Autorschaft sowie das Verschwinden der Grenze zwischen Fakt und Fiktion. Für das Aufkommen des Neuen Mittelalters steht dabei einerseits die Postmoderne mit ihrer Intertextualitätskultur, andererseits aber auch eine Schriftstellerin wie Svetlana Aleksievič mit ihrer Collage verschiedener Stimmen, hinter denen die Autorfigur (vermeintlich) verschwindet. Der Bezug auf das Mittelalter soll dabei dazu beitragen, eine religiöse Sprechfähigkeit wiederzugewinnen, die im Zuge von Individualisierung und Säkularisierung verlorengegangen ist. Diese Tendenzen werden negativ gesehen, wird hier der Mensch doch zum alleinigen Maß, aktiviert den „Mechanismus seiner Selbstzerstörung“ 90 und wird antihumanistisch. Am Ende seines Essays zum Neuen Mittelalter verweist Vodolazkin auf seinen Roman Lavr und leitet aus dessen Verkaufszahlen und internationaler Popularität, vor allem in den USA , die Gültig­keit seiner Diagnose eines Neuen Mittelalters ab. Diese nicht unbescheidene Geste unterstützt die Lektüre der Romane Vodolazkins aus der Perspektive der eben skizzierten Debatte. Vodolazkin ist dabei nicht der einzige Autor, bei dem etwa zur Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends die vorpetrinische russische Geschichte zu einem wichtigen künstlerischen Schauplatz der Aushandlung der L ­ egitimität 87 88 89 90

Vodolazkin 2016c, S. 36. Vgl. für diese Bluhm 2018. Vodolazkin 2017, S. 33. Vodolazkin 2016c, S. 36.

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der ­russischen Gesellschaft wird. Bei Karlheinz Kasper heißt es: „Konzepte eines ‚Neuen Mittelalters‘ bewegen heute auch Schriftsteller, die seit Jahren den Mainstream der seriösen Erzählprosa bestimmen.“ 91 Verortet man Vodolazkins Werk im Hinblick auf seinen politischen Aussagegehalt zwischen den Polen apologetischer Mittelalterfilme wie Dmitrij Korobkins Jaroslav (2010) oder Andrej Kravčuks Blockbuster Viking (2016) auf der einen Seite und mit kritischen Darstellungen wie Vladimir Sorokins Den’ opričnika (Der Tag des Opritschniks, 2008) oder Pavel Lungins Film Car’ (Zar, 2009) auf der anderen Seite, so ergibt sich ein ambivalentes Bild. Dadurch, dass die Legitimität des Mittelalters bei Vodolazkin vorrangig mittels epistemischer Bezugsgrößen wie dem Stellenwert des Ereignisses oder geschichtsphilosophischer Bezugsgrößen wie der Rehabilitation morphologischer Ansätze im Rückgriff auf das Prinzip der Ähnlichkeit verhandelt wird, scheint sein Schaffen in dieser politischen Matrix schwer zuordenbar. Die metaphysische Überformung des Mittelalters sowie dessen nationalgeschichtliche und antimoderne Aufladung in seinen Romanen tragen jedoch tendenziell dazu bei, in der impliziten Aufgabenstellung einer zivilisatorischen Neubegründung Russlands eine politisch mindestens ambivalente Agenda zu betreiben.

8.3  Idologische Inversionen – 19:17h – 1991 – 2017 Laut Niklas Luhmann äußert sich die Idee der Revolution als „Vorstellung einer weltgeschichtlichen Zäsur, die Vergangenheit und Zukunft trennt“.92 Nur vor dem Hintergrund eines Vergangenen, gegen das man die Idee des Zukünftigen abgrenzen könne, entfalte die revolutionäre Idee ihr Sinnpotential. Sie speise sich aus einem negativen Impuls gegenüber dem Vorhergegangenen und reflektiere somit eine „Semantik, mit der die Negation des Systems in das System eingeführt wird“ (208). Die Vorstellung, solche Semantiken innerhalb der Gesellschaft und ihrer Geschichtlichkeit darstellen zu können, ist nicht ohne Paradoxie zu haben. Denn die Zäsuren, die die Revolution als Revolution kennzeichnen, sind als weltgeschichtliche eigentlich nicht beschreibbar. Sobald die Revolution in die Weltgeschichte eingeht, wird sie zu einem historischen Ereignis und ist damit in die Folgen von Ursache und Wirkung, Früherem und Späterem eingelassen, die ein emphatisches Verständnis der Zäsur als Zäsur nicht zulassen. Die Historisierung des Ereignisses laufe Gefahr, „dass die Elemente des Ereignisses so weit zerlegt werden, dass es gerade nichts anderes mehr als 91 Kasper 2014, S. 124. 92 Luhmann 2000b, S. 209.

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die stets unendliche Aufzählung der Gesten, Dinge und Worte ist, die mit ihm koexistieren“,93 mahnt deshalb Alain Badiou. Die „ontologische Wahrheit“ des Ereignisses als Ereignis könne auf diesem Wege nie eingefangen werden. Sie könne nur als „ontologische Illegalität oder […] logische Unentscheidbarkeit“ (173) zum Ausdruck kommen, also gerade nicht als historisches Ereignis. Die Historisierung der Revolution wird zu einem paradoxen Unterfangen, muss sie doch in einem Modus operieren, der dem Gegenstand prinzipiell unangemessen ist. Revolutionen sind, folgt man Alain Badiou weiter, metapolitische Ereignisse, in denen sich die Wahrheit ereignet. Ihre retrospektive Darstellung kann somit, sofern man dem Gedanken der Revolution konsequent die Treue hält, nur metahistorisch operieren. Der bislang angelegte Revolutionsbegriff bezieht sich auf die Revolution als historiographische Kategorie und meint nicht ein konkretes historisches Ereignis. Eine solche Akzentverschiebung ist auch für eine Analyse der Ereignisse von 1917 und ihrer historiographischen Be- und Verarbeitung hilfreich. Die Metapolitisierung und Metahistorisierung der Oktoberereignisse setzen in der Sowjetunion fast unmittelbar nach diesen ein. Metapolitisierung und Metahistorisierung gehen dabei insofern einher, dass sie eine Überdetermination der Revolution darstellen, die diese welt- und wahrheitsgeschichtlich transzendiert.94 Diese Transformationsleistung ist Aufgabe der Kunst und insbesondere der Literatur, was am deutlichsten von Lev Trockij propagiert wird: Viewing the Bolshevik Revolution as more grandiose than the French Revolution, he [Trockij] saw the Civil War as an Armageddon ushering in the end of “prehistory” (in a Marxian sense) […]. In this way, history would transcend itself into “metahistory”, into a “new sky and new earth”. Trotskii clearly displayed this view of the Russian Revolution in his book Literatura i revoliutsiia (Literature and Revolution).95

Kevin Platt knüpft in seiner Studie zur revolutionären Idee in der russischen Literatur indirekt an diese Bestimmung an. Er unterscheidet dabei zwei literarische Pole. Hegemonial ist ein auf Identifikation und Stabilisierung der revolutionären Ereignisse abzielendes Textkorpus, bei dem politische Absichten im Vordergrund stehen. Diese Texte bilden die Revolution nicht ab, sondern erschaffen sie. Sie sind eingebettet in eine historische Mythologie der Revolution und artikulieren 93 Badiou zit. nach Kamecke 2015, S. 173. 94 Zur Konzeption der Metapolitik, die den Begriff der Politik auf einige wenige Perioden vermeintlich ‚emanzipativer Politik‘ (1792 – 1794, 1917, Maoismus u. a.) einschränkt und insbesondere den Ereignischarakter des Politischen ins Zentrum stellt, vgl. Badiou 2003, Marchart 2010, S. 152 – 177. 95 Shlapentokh 1996, S. 437.

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definitive Standpunkte innerhalb der öffentlichen Debatte.96 Diesem Textkorpus stellt er das Genre der revolutionären Groteske entgegen, das solche diskursive Wissensordnungen destabilisiere und spielerisch invertiere (23). The revolutionary grotesque adopts the scene and actors of th[e] standard myth of revolution, the nonequivalent social worlds of Russia’s past and future, yet recasts the romance as a tragic or ironic plot in which the past stubbornly returns to plague the would-be new society, where transcendence of the former social reality is seen to be a distant or even unrealizable goal (22).

Die spannende Frage, die sich für eine Behandlung des Themas der Revolution im Rahmen unserer Untersuchung stellt, lautet, ob mit dieser Gattungsbestimmung bereits der Modus ermittelt ist, mit dem die metahistorische Transformation der Revolution metahistoriographisch reflektiert wird. Auf der einen Seite ist dies zu bejahen, weil der Reentry der Vergangenheit („the past stubbornly returns“) in die zukünftige Gesellschaft die Vorstellung einer weltgeschichtlichen Zäsur als Signum des Revolutionären subvertiert. Andererseits stellt sich nicht nur angesichts der Semantik der Passage, die mit der Substitution der Romanze durch Tragödie und Ironie lediglich einen Wechsel innerhalb der Register der Metahistory (folgt man ihrer Bestimmung bei Hayden White) betreibt, die Frage, ob die Groteske wirklich eine Reflexion des Modus des Metahistorischen betreibt. Freilich stehen Texte wie Andrej Platonovs Kotlovan (Die Baugrube, 1930), Platts Paradebeispiel, quer zum offiziell sanktionierten literarischen Diskurs des Revolutionären. Sie bleiben aber dennoch innerhalb einer eschatologischen Matrix, die mit der Kritik der realen Verhältnisse der frühstalinistischen Sowjetunion noch lange nicht mit der Idee revolutionärer Transformation an sich bricht. Die Revolution ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.97 Ebenfalls diskutiert werden muss an dieser Stelle als Möglichkeit metahisto­ riographischer Reflexion der Revolution deren Historisierung. Die Historisierung wurde am Anfang dieser Ausführungen bereits als antirevolutionärer Modus bestimmt. Am konsequentesten betrieben wird sie bei Aleksandr Solženicyn, der sie in seinem Mammutwerk Krasnoe koleso (Das rote Rad, 1983 – 1991) auf die Spitze treibt. Diese auf zehn Bände angelegte Romanserie multipliziert die die Revolution umgebenden Ereignisse fast ad infinitum und destruiert in diesem Sinne die Idee einer singulären ontologischen Wahrheit des revolutionären Moments. Allein die epische Breite dieses Vorhabens jedoch zeitigt eine ironische Re-Revolution. Die Quantität der geschilderten (nicht-)

96 Platt 1997, S. 21. 97 Vgl. für diese Auffassung Deutungshypothese 2 bei Hodel 2016, S. 335.

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revolutionären E ­ reignisse bestätigt ex negativo die Qualität des revolutionären Einschnitts. Wer sein Hauptwerk vor dem Horizont der Oktoberereignisse plant, misst diesen genau diese metahistorische Bedeutung des Wendepunkts der Weltgeschichte zu, die die konkreten textuellen Ausführungen zu destru­ ieren trachten. Die Perhorreszierung des Revolutionären ist die Rückseite der metahistorischen Medaille der Russischen Revolution, die Negation der Negation des Systems, die jedoch nur das Objekt der Kritik, nicht den Modus der Betrachtung ändert. Erst mit dem politischen Wandel der 1990er Jahre fächern sich Möglichkeiten der revolutionären Betrachtung jenseits des metahistorischen Paradigmas auf.98 Sie betreffen zum einen die sowjetnostalgische Perspektive auf die Revolution, im Rahmen derer die Revolution Pars pro Toto für die sowjetische Periode steht und somit ihren Ereignischarakter verliert. Sie betreffen auch das liberale Modell der Prozessualisierung der Ereignisse 1917, das dem ‚tragischen Oktober‘ einen ‚guten Februar‘ vorschaltet und durch die Verdopplung der Revolution eine Ambivalenz des Konzepts etabliert, die der auf Eindeutigkeit abzielenden emphatischen Ereignishaftigkeit der ‚wahren‘ Revolution entgegenläuft. Auffällig ist jedoch, dass mit der Deutung der ‚Revolution als Katastrophe‘ laut Ekaterina ­Makhotina weiterhin eine Perspektive überwiegt, die den Oktoberereignissen zäsuralen Charakter zuschreibt und – auch aus politischem Interesse einer Vermeidung jedweder weiteren Revolution im In- und benachbarten Ausland – damit „1917“ metahistorischen Eigen- und Ereigniswert zuschreibt.99 Ohne hier eine – lediglich als Desiderat anzumahnende – umfassende Historisierung der literarischen Darstellung der Oktoberereignisse 1917 im postsowjetischen Russland geben zu können,100 werden in der Folge zwei Texte analysiert, die im Umfeld des 100-jährigen Jubiläums 2017 die Idee der Revolution in ihrem Verständnis als „einer weltgeschichtlichen Zäsur, die Vergangenheit und Zukunft trennt“, reflektieren. Sie erörtern die Bedingungen der Möglichkeit der künstlerischen Darstellung der Revolution und stehen damit im Gegensatz zu den hier 98 Vgl. für geschichtspolitische Reinterpretationen der Oktoberrevolution seit 1991 die Ausführungen bei Malinova 2018. 99 Makhotina 2017, S. 229 f. Alle drei hier diskutierten Modelle werden von Makhotina beschrieben. 100 Auffallend ist, dass die Oktoberrevolution im Gegensatz zu den vielen historisch orientierten Sondernummern internationaler Zeitschriften (u. a. Osteuropa 6 – 8 (2017), Slavic Review 76:3 (2017), Scando-Slavica 64:1 (2018)) keine vergleichbare Resonanz bei literarisch orientierten Publikationen erfahren hat. Zwar ist die Behandlung der Revolution in den 1920er Jahren relativ gut erforscht, zu jüngeren Entwicklungen gibt es allerdings kaum Studien (eine positive Ausnahme stellt Černjak 2018 dar).

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bislang diskutierten metahistorischen Modi, in denen die Ereignishaftigkeit des Geschehenen in seiner Sinnhaftigkeit der Darstellung immer schon vorausgeht.

Alisa Ganievas 19 – 17 – Theatrale Inversionen der Revolution Nikolaj Evreinovs berühmtes Reenactment des ‚Sturms auf den Winterpalast‘ im Jahre 1920 mit mehreren Zehntausenden Mitwirkenden und Zuschauern ist wahrscheinlich das erste Ereignis, das einem bei der Kombination der Wörter Theater und Revolution in den Sinn kommt. Obgleich die Oktoberereignisse den Rahmen für das Ereignis absteckten, war, so Sylvia Sasse, die „eigentliche Protagonistin des Massenspektakels jedoch […], wie der Theaterkritiker Nikolaj Šubskij richtig erkannte, die Geschichte. Es sollte gezeigt werden, warum und wie die Revolution erfolgreich war.“ 101 Das auf Immersion abzielende Reenact­ ment theatralisierte die Revolution dabei als „die irdische Heilsgeschichte des Proletariats: der Weg der Sklaven bis zum Aufstand der roten Garden“ (13). Diese Tradition des frühsowjetischen Theaters bezeugt, wie schnell die Oktoberrevolution von einem historischen zu einem metahistorischen Ereignis mutierte. Es kam nicht auf eine detail- und geschichtsgetreue Nachstellung des Umsturzes 1917 an, sondern darauf, einen weltgeschichtlichen Ort zu markieren, von dem aus die sowjetische Geschichte als Heilsgeschichte erzählt werden konnte. Negiert wurde in dieser Darbietung jede Form der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ ( Jacques Rancière), jede Trennung von Theorie und Praxis, von Kontemplation und Partizipation. Die enorme Wirkkraft dieser historischen Transzendierung lässt sich u. a. daran erkennen, dass ein Foto der Theateraufführung den Weg als historisches Dokument in die sowjetischen Schulbücher fand (16). In dieser Tradition der Involvierung des Zuschauers in die revolutionäre Dynamik steht auch Alisa Ganievas Erzählung 19 – 17 (2017). Ihr historischer Charakter ist jedoch anderer Natur. Im Zentrum steht ein Herr Bočkin, der von einem Freund zum Besuch des Theaterstücks 19 – 17 überredet wird. Als dieses um eben diese Uhrzeit beginnt, verliert er jedoch schnell seine Mitbesucher aus den Augen und wird in die revolutionären Aktivitäten hineingezogen. Er trifft auf Lenin, tritt in Dialog mit der provisorischen Regierung und besucht verschiedene Versammlungen. Immer mehr Unbekannte treten auf ihn zu und drängen ihn, sich zu den Ereignissen zu positionieren. Bald kann er nicht mehr zwischen Geschichte und Gegenwart, Realität und Simulation unterscheiden. Er möchte heraus, doch verliert sich im Labyrinth des Theaterbaus und der Ereignisse 1917. 101 Sasse 2017, S. 7.

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Für diese Handlungskonstellation findet die Erzählung eine passende Genrebezeichnung: „Инверсивный театр“ (inversives Theater).102 Der Begriff oszilliert zwischen der etablierten Bezeichnung ‚immersives Theater‘, die für den Einschluss der Zuschauer in die Performance und die Auflösung der trennenden Raumordnungen steht, und dem Neologismus ‚inversives Theater‘, das für den historischen Kern des Dargebotenen steht. „Инверсивный театр, это, дескать, абсолютная вовлеченность в действие, портал во вторую реальность.“ 103 Die hier bestimmte zweite Realität lässt sich somit in doppeltem Sinne verstehen: in einem immersiven, der eine Trennung zwischen der Realität auf der Bühne und der Realität des Zuschauers nicht zulässt; und in einem inversiven, die den historischen Realia und Zeitfolgen eine alternative Chronologie gegenüberstellt. Diese Inversionen gilt es nun in der Folge genauer zu bestimmen. Erstens: Rauminversionen: Die metahistorische Sinngebung der Oktoberrevolution ist auf einen Akt der Verortung angewiesen. Diese Verortung konzentriert sich historisch nicht zufällig auf den Winterpalast in St. Petersburg. Hier manifestiert sich die zaristische Einheit von Ortung und Ordnung (Carl Schmitt), die die Bolschewiken invertieren. Hier findet die Umpolung der Ortslogiken statt: An die Stelle des einen, des Zaren, treten die vielen, an die Stelle des Palasts tritt die Straße. Das revolutionäre Ereignis kennt keinen ‚dritten Raum‘ (Homi Bhabha), der eine Zwischenposition zwischen altem und neuem Ort markieren würde. Seine Logik ist bipolarer Natur. Historisch bemerkenswert ist die Reihenfolge der Verortungsprozesse. Zunächst ereignet sich die Revolution als politischer Bruch, dann wird diese Verortung – im Dienst ihrer historischen Transzendierung – künstlerisch-theatral nachvollzogen. In der Gegenwartsphilosophie wird diese Reihenfolge gemeinhin umgekehrt. Das Theater, so beispielsweise bei Alain Badiou, gilt hier als ein Ort, an dem Inversionen sich künstlerisch ereignen, bevor sie anschließend politisch realisiert werden. Diese Erwartungshaltung einer ‚zweiten Realität‘ steht auch am Anfang der Erzählung von Ganieva. Mit dem Eintritt ins Theater eröffnet sich, so suggeriert der Beginn, eine neue Realität: „Ровно в 19 часов 17 минут раскрылась тяжелая входная дверь из фойе – в мир революции. В послушном молчании зрители в полумасках двинулись внутрь, в темный полумрак.“ 104 Mit der pathetischen 102 Ganieva 2017, S. 179. 103 Ganieva 2017, S. 179. „Inversives Theater, das ist, so kann man sagen, die absolute Einbezogenheit in die Handlung, ein Portal in eine zweite Realität.“ 104 Ganieva 2017, S. 180. „Genau um 19.17h öffnete sich die schwere Eingangstüre aus dem Foyer – in die Welt der Revolution. In gehorsamem Schweigen bewegten sich die

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Formel des Eintritts in die „Welt der Revolution“ wird semantisch ein Ort markiert, der eine revolutionäre Umpolung der Ortslogiken suggeriert. Zunächst wird diese Suggestion auch aufrechterhalten, wenn der Held politische Versammlungen in Sälen und öffentlichen Plätzen besucht. Die revolutionäre Ortung kann jedoch nicht stabilisiert werden, stets drängen sich neue Räumlichkeiten auf, in denen der Held seine Beobachterposition finden muss. Die Ortung der revolutionären Ordnung misslingt und an die Stelle einer metahistorisch markierbaren Räumlichkeit treten Metaphern der Entortung, die sich der bipolaren Invertierung entziehen. Zentral ist hierfür das Theater, das zu einem magischen Raum wird, in dem sich Topographien und Topologien ständig verändern. Die erste Entortung findet statt, als der Held in einen größeren Saalraum eindringt: „Наконец вломились в освещенную залу, из которой разветвлялся лабиринт лестниц.“ 105 Die Metapher des Treppenlabyrinths ist dabei in doppelter Form ent-ortend. Die Treppe als Bindeglied zwischen zwei Räumen ist ein dritter Raum mit Schwellencharakter, der sich nicht in der bipolaren Logik der Revolution verorten lässt: „Бочкин ринулся вверх, но тут же понял, что обознался.“ 106 Die Verwirrung entsteht nicht zuletzt aufgrund des labyrinthischen Charakters, an dem die Logik der Verortung selbst an ein Ende gelangt. Ein Treppenlabyrinth lässt sich nicht metapolitisch bespielen, weil es sich der Form der Verortung verweigert, die für diese Form der Inszenierung notwendig wäre. Eine zweite Entortung findet am Ende der Erzählung statt, als dem Helden der Horizont seiner Wahrnehmung verlorengeht. Die hier aufgerufene Ikonographie des ‚verlorenen Horizonts‘ verweist auf Erik Bulatovs 1972 entstandenes Bild Gorizont (Der Horizont), ein Schlüsselwerk „postutopischer Kunst“.107 Der Verlust des Horizonts wird bei Ganieva nicht als Befreiung, als Eröffnung eines Möglichkeitsraums verstanden, sondern löst Angstzustände aus: „Бочкин крикнул еще и еще. Он бежал и кричал довольно долго, пока не охрип.“ 108 Mit dem Verlust des räumlichen Horizonts entschwindet die Echokammer revolutionärer Proklamationen, diese verhallen ungehört in einem leeren Raum.

Zuschauer in ihren Halbmasken nach innen, in die dunkle Dämmerung.“ 105 Ganieva 2017, S. 185. „Endlich drangen sie in den beleuchteten Saal ein, aus dem sich ein Labyrinth von Treppen verzweigte.“ 106 Ganieva 2017, S. 185. „Bočkin stürzte sich nach oben, aber hier realisierte er, dass er sich irrte.“ 107 Groys 1988, S. 90 ff. 108 Ganieva 2017, S. 199. „Bočkin schrie und schrie. Er lief und schrie so lange, solange er nicht heiser war.“

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Mit dem Verlust des Horizonts als Bedingung der Möglichkeit von Raum- und Weltwahrnehmung (im Horizontverständnis der Phänomenologie Edmund Husserls) geht die Objektebene verloren, die als Gegenstand von Inversionen überhaupt in Frage käme. Der Held ist seines Raumverständnisses beraubt, er verliert den Durchblick: „И было щекотно и мокро и неизвестно.“ 109 Das Unbekannte, das am Ende der Erzählung steht, lässt sich nicht invertieren. Fehlen räumliche und zeitliche Markierungen und Trennungen, wird auch die Möglichkeit politischer Inversion obsolet. Die Verräumlichung des revolutionären Moments mittels der politisch aufgeladenen Metaphorisierung von Ortsveränderungen erweist sich als unmöglicher Auftrag, indem die etablierte bipolare Ortslogik der Revolution in eine tripolare, von ‚dritten Räumen‘ dominierte alternative Topologie transformiert wird und schließlich in der Aporie negativer Immersion im Dunkel des Horizontverlusts kulminiert, die nicht länger sinnstiftend wirken kann. Zweitens: Zeitinversionen: Im Gegensatz zum stark affirmativen Raumbezug unterhält die Idee des Revolutionären ein kompliziertes Verhältnis zur Dimension der Zeit. Die Revolution als singuläres Ereignis steht insbesondere im Gegensatz zu jeder Form der Historisierung, die sie ihres Singularitätscharakters beraubt. Die obige Bestimmung der Revolution als „Zäsur, die Vergangenheit und Zukunft trennt“, deutet das Problem an: Das Ereignis der Revolution lässt sich immer nur in abgeleiteter Form, als Relation zu Vergangenheit und/oder Zukunft fassen, nie in seinem Ereignischarakter selbst, der sich einer zeitlichen Einholung entzieht. Der in Bezug auf die Zeit spannendste Aspekt des Projekts von Evreinov besteht darin, dass er um dieses relationale Problem weiß, das die Revolution ihres Ereignischarakters berauben würde. Das Reenactment vollzieht sich somit in Relation zum Ereignis selbst und wird als ‚dramatische Wiederholung‘110 der revolutionären Zäsur inszeniert. Jedes Jahr scheint es, als ob die Revolution immer wieder aufs Neue stattfinden würde. Diese Relation kann nicht so verfahren, als ob sie die Revolution als bloß historisches Ereignis lesen würde, denn dann würde der exzeptionelle Charakter, seine weltgeschichtliche Zäsur verblassen. Abhilfe schafft hier die Metahistorisierung des Ereignisses. In der ‚dramatischen Wiederholung‘ wird die Dimension des Einschnitts deutlich, der kategoriale Bruch, der eben nicht als ein bloß zeitlicher Bruch markiert werden soll. 109 Ganieva 2017, S. 199. „Und es war kitzlig, und feucht und unbekannt.“ 110 Im Sinne des in Unterkapitel 7.1 referierten Verständnisses der dramatischen Wiederholung bei Gilles Deleuze.

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Eben dieses Problem der Verzeitlichung der Revolution zeigt sich auch in Ganievas Erzählung und wird besonders deutlich bei der Darstellung des ‚revolutionären Moments‘: Потом во тьме загорелся циферблат, запрыгали цифры: 21 – 39 – 57, 21 – 39 – 58, 21 – 39 – 59 и, наконец, 21 – 40 – 00. Хлопнул выстрел. На стенах, в лучах кинопроектора, гордо встала в водах Невы «Аврора». Через секунду все задвигались, зашумели и куда-то помчались, увлекая за собой Бочкина.111

Die Zuflucht zum Numerischen, der Einschub des Wortes „nakonec“, der hypotaktische Satzbau und Konstruktionen wie „čerez sekundu“ – all dies dient dazu, den zeitlich kaum fassbaren Umschlag von Geschichtlichkeit in Ereignishaftigkeit zu literarisieren.112 Der Schuss der Aurora als Wendepunkt der Revolution markiert das Ereignis, dessen Folgen man sich nicht entziehen kann („uvlekaja za soboj Bočkina“). So weit, so revolutionär. Was nicht zur Apotheose des Revolutionären passt, ist die Langeweile, die den Helden beim Betrachten der Ereignisse gleich mehrmals erfasst. Die Langeweile ergibt sich durch die Verdopplung der nur scheinbar revolutionären Ereignisse. Die Zeit läuft leer, das Ereignis tritt nicht ein. Es ist nur ein rhetorisch markierter Aufschub ohne Einlösung des revolutionären Sinnversprechens. Ereignisse werden nicht zu Erlebnissen: „Der Unsinn des Seins enthüllt sich angesichts nicht einer langen, sondern einer endlosen Weile bei etwas, das mit der sogenannten erlebten Zeit nichts mehr zu tun hat“,113 schreibt Jürgen Grosse in seiner Philosophie der Langeweile. Dieses bloße „Bei-etwas-Stehen“, das nie die Form revolutionärer Immersion erreicht, mit dem der Ereignischarakter des revolutionären Moments erlebbar würde, ist chronologisch insofern inversiv, als es die maximale Konzentration des revolutionären Kairos mit der psychischen Distraktion unendlicher Langeweile kontrastiert. Das beschworene „историческое чудо“ 114 (historische Wunder) bleibt aus. Die positive Transzendenz des Historischen zum Metahistorischen entschwindet zu(un)gunsten einer negativen ­Transzendenz

111 Ganieva 2017, S. 184. „Dann leuchtete in der Dunkelheit ein Zifferblatt auf, sprangen die Ziffern: 21 – 39 – 57, 21 – 39 – 58, 21 – 39 – 59 und, endlich, 21 – 40 – 00. Ein Knall ertönte. Auf den Wänden, in den Strahlen des Kinoprojektors, erschien stolz in den Fluten der Neva die ‚Aurora‘. Innerhalb einer Sekunde gerieten alle in Bewegung, sie wurden laut, rannten irgendwohin, Bočkin mit sich reißend.“ 112 Hierbei handelt es sich um ein Paradox, was in der Erzählung dadurch sichtbar gemacht wird, dass just anschließend an diese Stelle, handlungstechnisch unmotiviert, das Paradoxon von Achill und der Schildkröte anzitiert wird. 113 Große 2008, S. 172, Hervorhebung im Original. 114 Ganieva 2017, S. 197.

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des Historischen zum Endlosen. An die Stelle der positiven Unendlichkeit der dramatischen Wiederholung tritt die negative Unendlichkeit (Hegel) der Langeweile, das immerwährende „еще и еще“, dem alle Formen historischer Resonanz abhandengekommen sind. Drittens: Inversion der Massenprozedur: Folgt man Alain Badiou, so ist das revolutionäre Ereignis stets kollektiven Charakters.115 „Politik ist eine Massenprozedur“ (86), weil nur Kollektivität Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüche formulieren kann, die im revolutionären Prozess von der Idee in die Wirklichkeit umschlagen und Wahrheit ereignen lassen. Die Idee der Revolution als Massenprozedur steht auch im Zentrum von Evreinovs theatraler Praxis. Nur als Masse, nur in der Überwindung etablierter Unter- und Aufteilungen lässt sich die Revolution als Revolution verstehen. Die theatrale Konfiguration in Ganievas Erzählung kennt drei Regeln: „никаких мобильных телефонов, полнейшее молчание и невмешательство в игру“.116 Diese drei Regeln kreieren ein Dispositiv der Vereinzelung, das die Überschreitung der Individualität hin zum Kollektiv verunmöglicht. Eine solche Überschreitung ist nur im Modus der Entscheidung denkbar. Eine solche Entscheidung wird auch bereits zu Beginn von Bočkin eingefordert, wenn gefragt wird: „А ты за какую половину? За большевиков или меньшевиков?“ 117 Die Möglichkeit revolutionärer Verbrüderung realisiert sich allerdings nicht, weil der Held nicht weiß, wie er reagieren und sich entscheiden soll. Er verweigert sich dem Eintritt in die Massenprozedur der Politik und blickt ratlos um sich in die Menge. Das Ereignis des Revolutionären wäre angewiesen auf das Brechen des Regelkodex, der als Systemvorgabe die „Negation des Systems im System“ aber nicht zulässt. Die spielerische Konfiguration verbietet die Einmischung in die Revolution und somit auch die Immersion in das Geschehen. An diese Vorgabe hält sich der Held so lange, bis es zu spät ist. Als er im Laufe der Erzählung immer verzweifelter wird und schließlich zu schreien beginnt, hört ihm niemand mehr zu. Was ist also der metahistoriographische Kern der Erzählung Ganievas? Es ist die Inversion der Vorstellung metahistorischer Immersion, der die Inszenierung des Textes dominiert. Die paradigmatische Theatralisierung der Oktoberrevolution bei Efreinov lebt von Effekten der Immersion, die die Grenzen des Systems 115 Badiou 2003, S. 152. 116 Ganieva 2017, S. 197; „keine Mobiltelefone, vollständiges Schweigen und keine Einmischung in das Spiel“. 117 Ganieva 2017, S. 181. „Und für welche Hälfte bist du? Für die Bolschewiken oder die Menschewiken?“

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sprengen und „Politik als Massenprozedur“ ermöglichen. Auf der Raumebene wird Immersion verhindert, indem die Eindeutigkeit binär codierter revolutionärer Ortslogiken durch die Betonung von Zwischenräumen und Figuren des Raumverlusts unterlaufen wird. Auf der temporalen Achse wird die Idee eines zeitlichen Bruchs, in dem sich ein kaum literarisierbarer revolutionärer Kairos ereignet, durch die negative Unendlichkeit endloser Langeweile subvertiert. Und auf der personalen Achse dominiert schließlich eine Anthropologie der Vereinzelung, die eine Überschreitung der individuellen Sinnlosigkeit des Privaten hin zur kollektiven Bedeutsamkeit im Politischen verhindert. Invertiert wird so schließlich die metahistorische Operationslogik des Revolutionären. An ihre Stelle tritt eine reflektierende Verzagtheit, deren Mut zur Urteilslosigkeit historisch ebenso einleuchtend wie auf der politisch-persönlichen Ebene enttäuschend ist. Vor dem Eingang zur „Welt der Revolution“ steht ein Stoppschild, dessen historiographische Reflexionsaufforderung keine sinnstiftende Umleitung mehr bereithält.

Die Idologie der Revolution – Aleksandr Titovs Čičičiletie Ebenso wie in Ganievas Erzählung wählt auch Aleksandr Titov für seine Erzählung Čičičiletie. Povest’ o poslednem bol’ševike (Čičičiletie. Povest’ über den letzten Bolschewiken, 2017) den Zeitraum eines Tages, im Laufe dessen sich die revolutionäre Idee prismatisch bricht. Es ist der 19. August 1991, der Tag des reaktionären Militärputsches gegen die Reformpolitik Gorbačëvs.118 Angesichts dieses Endpunktes ist die Titelgebung der Povest’, die ein 1000-jähriges Jubiläum beschwört, ironisch zu nennen. Čičičiletie ist eine Verballhornung des russischen Wortes tysjačiletie, das die Feier eines 1000-jährigen Jubiläums bezeichnet und im Text für eine dreifache Dezentrierung der Idee der Oktoberrevolution steht.119 Erstens spielt das Wort auf das in der Bibel angekündigte Tausendjährige Reich nach der Wiederkunft Christi an, das im Gegensatz zum säkularen Herrschaftsanspruch der Revolution steht. Ebenfalls lässt es sich lesen als kritische Anspielung auf die Hybris des „Dritten Reiches“, das sich in der Propaganda ebenfalls mit diesem Titel schmückte. Die zweite Dimension der Dezentrierung repräsentieren die 118 Sergej Lebedev wählt für seinen Roman Ljudi avgusta (Menschen im August, 2015) ebenfalls die Augustereignisse, um die sowjetische und postsowjetische Geschichte aufzufächern. 119 Die Genealogie wird bei Titov zum ersten Mal in einer früheren Povest’ aufgeworfen, in der es heißt: „«Идология» не терпит молчания. Он, Пал Иваныч, намолчался за тысячелетие. Слово это выговаривалось у него как ‚чичичилетие‘“ (Titov 2000).

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Die Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie

Feiern zum 1000-jährigen Jubiläum der Christianisierung der Rus’ 1988, die ein wichtiger Meilenstein der Rückbesinnung auf die vorrevolutionäre (alt-)russische Kultur waren und die longue durée der Kontinuitäten russischer Schriftkultur in impliziter Abgrenzung zum Anspruch einer neuen bolschewistischen Kultur nach der Revolution beschworen.120 Schließlich ist die Silbenverdopplung Čiči auch an die Hauptfigur aus Gogol’s Mertvye duši (Die toten Seelen), Pavel Ivanovič Čičikov, angelehnt, dessen Krämergestalt den Antipoden des revolutionären Helden verkörpert und mit dem der Held der Povest’ Vornamen und Patronym teilt.121 Wer dieser revolutionäre Held ist, erfahren wir über Umwege im Untertitel: Povest’ o poslednem bol’ševike (Erzählung über den letzten Bolschewiken). Der letzte Bolschewik, so viel wird schon aus der Titelgebung klar, ist der Gegenspieler des wahrhaftigen Menschen („nastojaščij čelovek“), der im Titel der berühmten gleichnamigen Povest’ von Boris Polevoj aus dem Jahre 1946 steht und Prototyp des stalinistischen Revolutionshelden ist. Zwar wird auch der Held der Erzählung Titovs zunächst als ein solcher „wahrhaftiger Bolschewik“ („nastojaščij bol’ševik“) eingeführt. Diese Charakterisierung negiert er aber schließlich am Ende der Erzählung, als er endlich in der Lage ist, über das Trauma seiner Repression zu sprechen. Die bolschewistische Wahrhaftigkeit erweist sich als Lüge. Als Gegenfigur zum (sozialistischen) Übermenschen (Hans Günther) wird im Titel der ‚letzte Mensch‘ genannt.122 Diese Gegenüberstellung lehnt sich an die von Nietzsche popularisierte Dichotomie von Übermenschen und letzten Menschen an. Der letzte Mensch ist eine kulturkritische anthropologische Figur, die die Sinn- und Ziellosigkeit des menschlichen Daseins verkörpert. Tritt statt des wahrhaftigen der letzte Mensch auf, verschiebt sich die revolutionäre Zäsur. Die wahrhaftige Zäsur in der Weltgeschichte ereignet sich erst nach dem Ableben des letzten Bolschewiken, also erst, nachdem die bolschewistische Revolution an ihr Ende gelangt ist. Diese Rhetorik des nahenden Bruches durchzieht auch die Povest’, die die „letzten Minuten des Sozialismus“ („poslednie minuty socializma“) schildert. Bereits in der Titelgebung wird die Revolution folglich mittels sprachlicher Deformation sowie intertextueller und kulturgeschichtlicher Verweise ihres Zäsurcharakters beraubt. 120 Am deutlichsten ist dies bei Dmitrij Lichačev, dessen einleitender Aufsatz Tysjačeletie kul’tury für den Sammelband des Jubiläums ohne eine Erwähnung der sowjetischen Herrschaftszeit auskommt. 121 Der Text enthält mehrere Anspielungen auf Gogol’, von der expliziten Nennung seines Namens bis hin zu Hinweisen auf seine Erzählungen. Für die Analyse in unserem Rahmen spielen sie allerdings eine untergeordnete Rolle 122 Vgl. zum letzten Menschen als Gegenfigur zum Übermenschen von Wussow 2015.

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Die handlungsarme Povest’ unterläuft in ihrem Aufbau ebenfalls die Vorstellung einer zäsural gegliederten Zeit. Im Mittelpunkt steht das – sicher von Samuel Beckett inspirierte – ziellose Warten auf die Ankunft eines Ereignisses auf dem Marktplatz eines Provinzstädtchens. Als gliederndes Element dienen mit ‚Stimmen‘ betitelte Dialoge der Bevölkerung, die laut der der Povest’ vorangestellten Selbstauskunft des Autors an die antike Tragödie erinnern. Kommuniziert wird vor allem die Erwartung von Bier und Milch der unter der Konsumgüterknappheit der Perestrojka leidenden vorwiegend älteren Bevölkerung. Im Hintergrund der Dialoge der Wartenden steht jedoch die Unsicherheit der Auswirkungen des Putsches im fernen Moskau. Als zweites inhaltliches Element fungieren Rückblicke in die sowjetische Geschichte aus der Perspektive des Helden. Dieser wird wahlweise mit seinem Namen Pal Ivanyč oder mit ‚Starik‘ (alter Mann) angesprochen. Er hat eine bedeutende Vergangenheit, kannte Lenin, arbeitete am Fundament für dessen Mausoleum, wirkte an Entkulakisierungskampagnen mit und erzählt in Schulvorträgen regelmäßig über seine revolutionäre Existenz. Im Gegensatz zu seinen desillusionierten Zeitgenossen verkörpert er fast bis zuletzt revolutionären Enthusiasmus: „А я, товарищ, не простой дедок, но революционер, я должен всегда действовать!“ 123 Die Revolution ist Bedingung der Möglichkeit dieser Szenerie, tritt doch durch diese der Handlungsort von der Nichtexistenz in die Existenz ein. Dieser Umschlag betrifft die Namensgebung des Städtchens. Dieses hieß ursprünglich Ničtožsk (von ničto = nichts; deutsch in etwa Nichtshausen) und wurde von Pal Ivanyč unbenannt: „Городу Ничтожску Пал Иваныч присвоил другое название  – Революционск.“ 124 Aus der beliebigen Stadt Ničtožsk, deren Anfangsbuchstabe die Tradition des Topos der Gorod N. in der russischen Kulturgeschichte evoziert,125 wird eine urbane Metonymie des revolutionären Gedankens, der zum Ende der Perestrojka hin verschwindet. Die Stadt wird in einem Kapitel zu Grabe getragen (Die Beerdigung der Stadt Ničtožsk; Pokorenie goroda Ničtožska) und verliert somit ihre revolutionäre Existenz und damit auch ihren Sinn. Es bleiben „Hitze, Langeweile und Warteschlangen für Milch und Bier“.126 123 Titov 2017. „Und ich, Genosse, bin nicht einfach ein Großväterchen, sondern ein Revolutionär, ich muss immer handeln!“ 124 Titov 2017. „Der Stadt Ničtožsk verlieh Pal Ivanyč einen anderen Namen – Revoljucionsk.“ 125 Herlth 2013. 126 Titov 2017. „Нет больше Революционска. Осталась жара, скука, очереди за молоком и пивом.“

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Ebenso zur Existenz gelangt durch die Revolution der Held der Erzählung. „Богиня Революции, сокращенно БР, вставила мне в грудь железное сердце – я бессмертный!“ 127 Die Göttin der Revolution, die in der Povest’ quasirealen Charakter erlangt, setzt dem bis dato historisch inexistenten Helden ein eisernes Herz ein, durch das er eine humane Transformation vom russischen Jedermann zum revolutionären Übermenschen durchläuft. In Radikalisierung dieses transhumanisierenden Aktes ruft er aus: „Я – Пал Иваныч Металлический! Или просто дядя Паша Социализм! Причем я – Социализм настоящий“.128 Die Transformation des Menschen von „flesh to metal“ 129 ist eine einschlägige Figur revolutionärer Texte der 1920er Jahre, deren Alchemie auf die Umschmiedung (perekovka) des Menschen zum Übermenschen zielt,130 die prototypisch im Namen des Führers, der von Džugašvili zu Stalin wird, vollzogen wird. Ist Pal Ivanyč zu Beginn noch ein „kleines revolutionäres Fischlein“ („melkaja revoljucionnaja soška“), wird er nun zu einem unsterblichen, 1000 Jahre lebenden Dämon.131 In beiden Fällen der Umbenennung wird durch die Revolution somit der bislang historischen Existenz von Stadt und Mensch ein metahistorischer Charakter zugeschrieben. Entscheidend ist nun, dass dieses metahistorische Moment in der Povest’ in mehrfacher Hinsicht gebrochen wird. Als Schlüsselszene erweist sich dabei ein Ball, für den sich Pal Ivanyč als ‚Göttin der Revolution‘ verkleidet. Die traditionsreiche allegorische Verkörperung der Revolution als Göttin und Lichtgestalt spielt in der Erzählung eine große Rolle, ist sie es doch, durch deren Gunst der Held seine Berufung als Revolutionär realisiert. Für seine Verkleidung besorgt er sich das weiße Kleid einer Gräfin, die er in eine Scheune schleppt, dort entkleidet und tötet. Sein Gesicht reibt er mit rotem Rübensaft ein, um dem Geist der Zeit zu entsprechen. Auf dem Ball trifft er den Kommandanten Upyr, eine Vampir­gestalt, der als Rächer verkleidet das weiß-fliederfarbene Kleid mit roten Blutflecken versieht. Diese symbolische Szene der Entmenschlichung durch die Revolution traumatisiert den Helden, der sich noch in hohen Jahren mit der Forderung der ‚Göttin der Revolution‘, ihr ihr Kleid zurückzugeben, konfrontiert sieht: „Богиня Революции требует вернуть ей дворянское платье! – б­ ормочет

127 Titov 2017. „Die Göttin der Revolution, abgekürzt BR, brannte mir ein eisernes Herz in die Brust – ich bin unsterblich!“ 128 Titov 2017. „Ich, Pal Ivanyč der Metallene! Oder einfach Onkel Pascha Sozialismus! Weswegen ich der wahrhaftige Sozialismus bin!“ 129 Hellebust 2003. 130 Hellebust 2003. 131 Titov 2017. „Болтают, что старик бессмертный, никогда не болеет. Тысячу лет живет в образе российского революционного беса“.

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старик. – А платья нет – сгорело в огне, на сеновале.“ 132 Die entkleidete Revolution erweist sich als nackte Gewalt, die der Held in Form eines roten Halstuches, das ihm Schüler bei seinen Vorträgen überreichen, als unbemerktes Kennzeichen stets bei sich trägt.133 Wichtig ist, dass der Mord an der Gräfin lexikalisch verknüpft wird mit der ersehnten Ankunft von Bier und Milch. Diese Verknüpfung wird durch das Polyptoton grafin (Karaffe) – grafinja (Gräfin) erzeugt. Der Held „brüstet sich, dass er tausende Karaffen zertrümmert hat“,134 während er „die Anwesenden in diesen Momenten zu Wahrheit und Gerechtigkeit aufrief “.135 Ein Mord bedingt also die nächsten Morde, die zu einer Kaskade der Gewalt führen. Die Karaffe geht jedoch nur so lange zum Brunnen, bis sie bricht. Das Ausbleiben von Bier und Milch liest sich als späte ­Antwort der Geschichte auf die Zerstörungsexzesse des Revolutionärs Pal Ivanyč, die dazu geführt haben, dass nun eine „trockene“ 136 Zeit angebrochen ist.137 Ein solch subtiles Spiel mit Lexemen ist kennzeichnend für die Povest’, die damit bereits im Titel beginnt. Solche Sprachverdrehungen erinnern an Andrej Platonov, dessen Helden ebenfalls das abstrakte Vokabular der Oktoberrevolutionäre verfremden. Zentral ist die elliptische Verschiebung von ideologija zu idologija. Ideologie als politische Weltanschauung erweist sich als Götzendient, als Idologie (griechisch εἴδωλον = Trugbild). Idologisierung als kritikloses Schwärmen für einzelne Personen oder für die Idee der Revolution ist die Anbetung eines Trugbilds. Epistemologisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Idolenlehre Francis Bacons, der in seinem Novum Organum (1620) gegen Idole als „Störfaktoren des neuartigen, auf Empirie gegründeten naturwissenschaftlichen Denkstils“ polemisiert hatte.138 In ebendiese Tradition der Kritik der Idologie ist der Begriffsgebrauch in der Povest’ einzuordnen, in der sich die kommunistische revolutionäre Ideologie schließlich als idologisches Trugbild entlarvt. 132 Titov 2017. „Die Göttin der Revolution verlangt nach ihrem Adelskleid“, murmelte der Alte. „Aber das Kleid ist nicht mehr, es ist verbrannt im Feuer, auf dem Heuboden.“ 133 Und in dem er einem „wilden Piraten“ („dikogo pirata“) gleicht. 134 Titov 2017; „хвастает, что разбил тысячу графинов“. 135 Titov 2017. „Множество графинов переколотил на своем веку Пал Иваныч, взывая присуствующих в те данные моменты людей к правде и справедливости.“ 136 Ein Schlüsselbegriff der Erzählung, der vor allem auf die Antialkoholgesetzgebung Gorbačevs hinweist. 137 Die der Held jedoch verachtet: „Он, Пал Иваныч, презирает ‚сухую‘ партию, запретившую людям их любимые напитки!“ Die angesprochene „trockene Zeit“ steht in Tradition zu Anna Achmatovas Bezeichnung des „vegetarischen“ Regimes des Poststalinismus. 138 Tepe 2012, S. 81.

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Eine weitere Lexemverschiebung adressiert die Revolution selbst und deren Usurpation durch Gestalten wie Pal Ivanyč, die narzisstisch proklamieren: „Там, где Я, там истинная идологиЯ!“ 139 In einer Passage heißt es: В газетах теперь не величают Ее Богиней Революции, и даже буквы БР не упоминают. Пишут просто – октябрьский перво-род. Родилась она, матушка-воля! Родились комиссары и первые секретари. Одни «перво-роды» в России, нет нормальности и постепенности.140

Der Name der Revolution, deren metapolitischer Charakter durch die Großschrift und den Zusatz Göttin in der gesamten Erzählung ironisch aufgezeigt wird, wird nicht mehr erwähnt, an seine Stelle tritt das Wort pervo-rod, das einerseits an das Adjektiv pervorodnyj (erstgeboren) erinnert, aber auch an das Wort perevorot, das Umsturz bedeutet und ein Gegenbegriff zum heroischen Vokabular der Revolution ist. Während pervorodnyj auf den zäsuralen Charakter des Ereignisses verweist, signalisiert der Begriff perevorot, dass die Legitimität nicht dem Aposteriori des Umsturzes, d. h. der späteren nachrevolutionären Ordnung, sondern dessen Apriori zukommt. Somit beraubt der Begriff perevorot die Revolution ihres transzendenten Charakters. Das Adjektiv pervorodnyj hingegen enthält zudem eine sozialpolitische, elitenkritische Spitze und richtet sich gegen die „Erstgeborenen“, die sich Privilegien sichern, die den Normalsterblichen nicht zustehen. Die Chronologie der Revolution muss, so die Konsequenz des Schlusses der Povest’, neu geschrieben werden. Als Fixpunkt der Geschichtsschreibung taugt sie nicht länger. Vielmehr tauchen nun konkurrierende Einordnungen auf, die den bisher geltenden integrierenden, sinnstiftenden metahistorischen Charakter des Revolutionären in Frage stellen. Gegen Ende der Erzählung reflektiert der Held: „А теперь я никто, все надо мной смеются. Жизнь идет мимо истинного смысла истории.“ 141 Hier fällt die starke Stellung des Begriffs des Lebens auf, der in anderen Sequenzen der Povest’ ebenfalls auftaucht, wenn es beispielsweise heißt: „Народ факт существования истории не признает. Всё, что ­происходит 139 Titov 2017. „Da, wo Ich bin, ist die wahre Idologie!“ 140 Titov 2017. „In den Zeitungen rühmen sie nun nicht mehr Ihre Exzellenz, die Göttin der Revolution, sogar die Buchstaben BR erwähnt man nicht. Sie schreiben einfach – Oktoberereignisse [das russische Wortspiel zwischen den beiden Worten pervo-rod (Ur-Geburt) und perevorot (Umsturz) lässt sich im Deutschen nicht nachmachen]. Sie ist geboren, Mutter-Freiheit! Kommissare und erste Sekretäre wurden geboren. Sie sind die ‚Erstgeborenen‘ in Russland, außerhalb des Normalen und der Allmählichkeit.“ 141 Titov 2017. „Nun bin ich ein Niemand, alle müssen über mich lachen. Das Leben läuft neben dem wahren Sinn der Geschichte her.“

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вокруг них, наши сельские люди именуют простым словом – ‚жизня’!“ 142 Der Dualismus Geschichte/Revolution – Leben korreliert mit dem Gegensatzpaar Schein – Sein. Das Leben fungiert als konkurrierende sinngebende Instanz neben dem Revolutionären. Es kennt keine absoluten Zäsuren, wie sie für die revolutionäre Sicht der Geschichte kennzeichnend sind. Die anfängliche Einheit von Revolution und wahrhaftigem Sein löst sich auf und verliert ihre Gewissheit: „Сам не знаю теперь, что взаправду было, а что померещилось.“ 143 Wahrhaftige Existenz, so die höhere Einsicht der „sel’skie ljudi“, kann nur das Leben beanspruchen, nicht die von einer falschen Id(e)ologie dominierte Revolution. Das dieser zugeschriebene Moment der Wahrheit, im emphatischen Sinne Badious, ist unwahr. Als der Held ganz zum Schluss ängstlich die Frage stellt, wo denn die Revolution nun sei, kann er darauf keine Antwort finden. Was sich am 19. August 1991 abspielt, ist keine Revolution, sondern eine Farce. Als metahistorische Größe hat sie ausgedient, was bleibt, ist das endlose Anstehen um Milch und Bier, das im Gegensatz zur Illusion der revolutionären Ideologie, die Pal Ivanyč zeitlebens beschworen hatte, zeitlos ist: „Всегда одинаковая – Ложь!“ 144

142 Titov 2017. „Das Volk erkennt das Faktum der Existenz der Geschichte nicht an. Alles, was um sie herum geschieht, bezeichnen unsere ländlichen Leute mit dem einfachen Wort – Leben!“ 143 Titov 2017. „Ich weiß nun nicht, was in Wahrheit geschah, und was nur so schien.“ 144 Titov 2017. „Alles gleich – Lüge!“

9.  Verortungen III 9.1  Parahistorisierungen – Zum medialen Wandel der Metahistoriographie Mit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich der mediale Horizont der russischen Historiographie zu verschieben. Stephen Norris spricht von einer Blockbusterisierung der Geschichte, deren Aufkommen er mit dem Aufstieg Putins und dem wiedererstarkenden russischen Nationalismus in Verbindung bringt.1 Als Reaktion auf die Amerikanisierung der postsowjetischen Lebenswelten entsteht ihm zufolge Ende der 1990er Jahre eine von Patriotismus und Nostalgie getragene Geschichtskultur, die zum hegemonialen historio-kinematographischen Modus der Putin-Ära wird. Auch Jeffrey Brooks terminologischer Vorschlag der Parahistory akzentuiert eine Reihe intermedialer Verschiebungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Geschichte ist für ihn durch die neuen Technologien zu einem Spielfeld der globalen Unterhaltungs- und Marketingindustrie geworden, deren historische Repräsentationen auf ein Massenpublikum zielen und der professionellen Geschichtsschreibung den Rang abgelaufen haben.2 Hierzu zählen für Brooks Onlinegames, das Reenactment historischer Schlachten ebenso wie kontrafaktische Erzählungen und die Detektivik Akunins. Das bestimmende Moment dieser Parahistory ist das Spiel, Fakten und historische Authentizität sind unwichtig, was zählt, ist Unterhaltung und Wohlgefallen beim Publikum. Insbesondere im Bereich der Populär- und Massenkultur lässt sich im Rahmen beider Analysen somit eine Abkehr vom Literaturzentrismus beobachten, dessen Folgen für die Organisation historischer Stoffe in dieser Arbeit am Beispiel Akunins, Jachinas und Ivanovs beleuchtet wurden. Die hier bereits anklingende Abschwächung der Leitstellung des Buches hat Julija Ščerbinina in einer umfangreichen Monographie zur russischen Buchkultur unter die Zeitdiagnose einer Vremja biblioskopov (Zeit der ­Biblioskopen) gestellt. Der Biblioskop repräsentiert einen Typus, der Bücher nur noch als Statussymbol, nicht aber als Lektüreobjekt betrachtet. Einer seiner Prototypen ist sicherlich der in dieser Arbeit bereits behandelte Held Benedikt aus Tat’jana Tolstajas Kys’ (2000), dessen Buchgeschmack mehr vom Geruch als vom Gehalt des Gelesenen geprägt ist. Der Funktionsverlust des Buches als

1 Norris 2012, S. 5. 2 Brooks 2016, S. 79.

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Verortungen III

Trägermedium historischer und gesellschaftlicher Erkenntnisbildung zeigt sich auch in weiteren Werken wie Michail Elizarovs Bibliotekar’ (2007) oder ­V ladimir Sorokins Manaraga (2017). In diesen buchzentrierten Werken steht der Inhalt des Gelesenen nicht länger im Vordergrund. Bücher haben zwar weiterhin eine Hülle und Form, die jeweils Energie- und Brennwerte bereithält, allerdings keinen Inhalt mehr, der sich gesellschaftlich übersetzen ließe. Am deutlichsten wird dies bei Elizarov, in dessen Roman das literarische Werk des sowjetischen Durchschnittsschriftstellers Gromov im Zentrum steht. Gromovs Werke, vom Publikum verschmäht und ignoriert ob ihrer typisch sozrealistischen Gestalt, werden zu Energieträgern von Stärke, Macht, Wut, Ausdauer, Freude, Erinnerung und Bedeutung – so die ‚geheimen‘ Titel von Gromovs Werken. Um den Zugang zu diesen Büchern entbrennt ein erbitterter Kampf, in dessen Schlachten sich verschiedene Leseräume gegenüberstehen. Sorokins Manaraga porträtiert das Leben eines Meisterkochs, dessen Beschäftigung die Zubereitung exquisiter Grillgerichte auf Originalausgaben von Klassikern ist. Diese Klassiker werden Museen, Archiven und Antiquariaten entwendet, somit aus dem historischen Verweisungszusammenhang gerissen und von einer dekadenten Oberschicht konsumiert, ohne sich im Geringsten um den Inhalt der Bücher zu kümmern. Im Rahmen dieser biblioskopischen Degeneration werden Bücher ein knappes Medium, zu dem der Zugang umkämpft und stark reguliert ist. Im Gegensatz zur Bibliophilie des spätsowjetischen Samizdat, die alle drei hier genannten Werke mehr oder minder stark parodieren, hält das Buch keine Orientierungswerte mehr bereit, sondern findet seinen Sinn im bloßen Besitz bzw. in dekadenter Verschwendung. Diesen Tendenzen der Auflösung der Leitstellung des Buches als Träger histo­rischer Narration steht ein gleichbleibend hohes Interesse an historischen Romanen gegenüber. Qualitative und quantitative Daten stützen diese Beobachtung. So konstatiert Rosalind Marsh in ihrer bis 2006 reichenden Studie für das beginnende 21. Jahrhundert, dass die Geschichte ihre Attraktivität für den russischen Leser behalten habe.3 Valerija Pustovaja spricht 2016 in ihrer Diskussion gattungspoetischer Tendenzen der russischen Gegenwartsliteratur davon, dass ein „großer Roman heute nur noch als historischer […] möglich ist, mit Bezug zur Vergangenheit, nicht zur Gegenwart“.4 Der Kritiker Nikolaj A ­ leksandrov verweist in seiner Antwort auf die Frage der Zeitschrift Družba narodov, was für ihn die Haupttendenzen des Literaturjahrs 2016 gewesen seien, auf die anhaltende 3 Marsh 2007, S. 139. 4 Pustovaja 2016. „большой роман сегодня возможен только как исторический, эпопейный, семейный и т. п. – относящийся к прошлому, а не к актуальности“.

Parahistorisierungen463

Popularität des historischen Romans und konstatiert: „История […] доминирует сегодня в беллетристике“ 5. Diese Tendenz lässt sich auch quantitativ untermauern. So antworteten 2005 auf eine Befragung nach den Präferenzen bei der Literaturlektüre 17 Prozent der Befragten, Klassiker der Historien- und Abenteuerliteratur zu lesen, und 15 Prozent, zeitgenössische historische Prosa zu lesen. Die Wiederholung der Erhebung im Jahr 2008 bestätigte in der Tendenz diese Zahlen (23 bzw.14 Prozent) und unterstrich die starke Stellung historischer Prosa, die nach dem weiblichen Detektivroman, Liebesromanen und dem Boevik die vierte Stelle auf der Beliebtheitsskala der russischen Leser einnimmt.6 Bemerkenswert ist dabei, dass sich historische Romane vor allem bei über 55-Jährigen und auf dem Lande der Beliebtheit erfreuen (24 f.). Die Zahlen der Erhebung von Boris Dubin und Natal’ja Zorkaja sind relativ verlässlich,7 während sich jüngere Erhebungen auf ein geringeres Datenmaterial stützen. In der Tendenz lässt sich zeigen, dass das Leseinteresse im Allgemeinen seit Ende der 2000er Jahre zurückgegangen ist und die Anzahl der Russen, die gar nicht lesen, gestiegen ist.8 Die Anzahl der publizierten Titel stabilisiert sich allerdings auf hohem Niveau und übertrifft die Zahlen der frühen 1990er Jahre um etwa das Dreifache (121). Folgt man einer unionsweiten Erhebung des Instituts VCIOM (Vserossijskij centr izučenija obščestvennogo mnenija) von 2014, so beträgt die Anzahl der Nichtleser 36 Prozent, während sie 2009 nur 27 Prozent betrug.9

Nach dem Gedächtnis – Vom Buch über das Ding zum Bild Der anhaltende Erfolg historischer Literatur beim Publikum lässt sich nur erklären, wenn man die anfänglich postulierte Verschiebung des medialen Horizonts mitberücksichtigt. Angesichts sich dramatisch verändernder Lesegewohnheiten ändern sich Erzähl-, Distributions- und Rezeptionsstrukturen historischen Erzählens. Diese bringen eine mediale Eigenlogik mit sich, die wiederum metahistoriographische Effekte bereithält, die in der Folge herausgearbeitet werden sollen. 5 Aleksandrov 2017: „Geschichte […] dominiert heutzutage in der Belletristik.“ 6 Vgl. Dubin/Zorkaja 2008, S. 23. 7 Leider fehlen verlässliche Langzeiterhebungen zu Gattungspräferenzen russischer Leser, weshalb die Zusammenstellung der Präferenzen hier auf heterogene Quellen zurückgreift und deshalb nur eingeschränkt aussagefähig ist. 8 Vgl. für eine Diskussion dieser Entwicklung Menzel 2019. 9 Animedia 2014.

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Verortungen III

Historische Erkenntnisbildung war und ist ein textlastiger Prozess. Seit den 1990er Jahren ist allerdings die Text- und Buchzentriertheit geschichtswissenschaftlicher Interpretationen in Kritik geraten und die Ausbildung von Bildkompetenz als Antwort auf den ausgerufenen Pictorial, Iconic oder Visual Turn angemahnt worden.10 Die historische Forschung hat sich seitdem verstärkt dem Verhältnis von historischer Bildforschung und osteuropäischer Geschichte, so der Titel einer Sondernummer der Zeitschrift Zeitenblicke (10:2, 2011), angenommen. „Bilder lösen Texte [zwar] nicht ab“,11 beschränken aber die Reichweite und Aussagekraft Letzterer. Dieser Prozess fordert die etablierte Semantik textlicher Quellen und ihrer Übertragungsmedien, der Bücher, heraus. Gottfried Boehm hat in einem Aufsatz Das Paradigma ‚Bild‘ im Hinblick auf eine ikonische Episteme untersucht und gefordert, die lange diskreditierte bildliche Evidenz des Zeigens gegenüber dem Wahrheitsprimat des Sagens zu rehabilitieren.12 Bereits der Titel von Marija Stepanovas Roman Pamjati pamjati (Nach dem Gedächtnis, 2017) verweist auf eine herausfordernde historiographische Konstel­ lation. Die selbstreferentielle Dopplung des Erinnerungspostulats markiert das Romanprojekt als metahistoriographisches. Im Zentrum steht weniger die vollständige Rekonstruktion der eigenen jüdischen Familiengeschichte – wie etwa in Ljudmila Ulickajas Lestnica Jakova (Die Jakobsleiter, 2017) –, sondern der Prozess der Ermittlung der eigenen Familiengeschichte. Insofern ergibt sich hier eine spezifisch postmemoriale Herausforderung, wie sie etwa auch Natascha Wodins Roman Sie kam aus Mariupol (2017) kennzeichnet. Der Roman setzt ein mit dem Tod der Tante der Ich-Erzählerin, aus deren Nachlass sich eine der metahistoriographisch spannendsten Sujetlinien des Textes ergibt: „Когда несколькими днями спустя я стала разбирать бумаги, среди фотографий и праздничных открыток почти не было письменного.“ 13 Das Fehlen schriftlicher Überlieferungen bzw. der Mangel an diesen erfordert die Wahl einer anderen Methode der Rekonstruktion. Nicht die schriftlichen Mitteilungen der Vorfahren, sondern ihre dinglichen Überreste sind deren „legitime[] und einzige[] Vertreter“.14 Die Erzählerin ist auf Dinge verwiesen, sie drängen sich ihr u­ nvermeidlich

10 11 12 13

Vgl. Hamann 2007, S. 14 ff. Bachmann-Medick 2006, S. 352. Vgl. Boehm 2007, S. 78. Stepanova 2018b, S. 13, Hervorhebung im Original. „Als ich einige Tage später daran ging, [die] Papiere zu ordnen, fand sich zwischen Fotos und Grußpostkarten [exakter wäre Festtagswünschen] fast nichts Schriftliches“ (Stepanova 2018a, S. 14). 14 Stepanova 2018a, S. 88; „их законными и единственными заместителями“ (Stepanova 2018b, S. 60).

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auf und überlagern schriftliche Zeugnisse und Narrativierungen. In Bezug auf die geschichtswissenschaftliche Unterscheidung zwischen Quellen und Überresten herrscht somit eine klare Hierarchie. Dingliche Hinterlassenschaften sind Quellen überlegen, weil sie kein fertiges Skript enthalten, keine Absicht einer bestimmten Erinnerung verfolgen. Dinge haben ein Ursprungspotential, sie kehren in die „Natur“ zurück und enthalten das Versprechen einer höheren historischen Authentizität. Im Roman heißt es: Вещи, вышедшие из обихода, постепенно теряют свою вещественность и оборачиваются к нам новым, нечеловеческим лицом, возвращаясь к своему первоначальному качеству: воска, краски и глины. Прошлое дичает, зарастает беспамятством как лесом.15

Sie werden zu einer Modellierungsmasse – man beachte die Kunstmaterialien Wachs, Farbe, Ton –, mit der sich Geschichten machen lassen. Diese etablierte Metaphorologie dient als künstlerischer Vorlauf der Erörterung der Transformation historischer Trägermedien, mit denen die Erzählerin wenig später ihre Reflexionen fortführt. Dort heißt es: Веер возможностей, которые предоставляют новые носители, меняет способы восприятия: ни история, ни биография, ни свой текст, ни чужой больше не воспринимаются как цепочка – как события, разворачивающиеся во времени, скрепленные клеем причин и следствий. […] Прошлое превращается в прошлые […]. Твердое знание становится пластилиновым – из него можно лепить.16

Die Materialität der Erinnerungsmedien zeitigt eine Dynamik der Diskontinuität, die die Vergangenheit multipliziert und ihres Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs beraubt. Die Metapher der Kette von Ereignissen verliert angesichts des medialen Wandels ihre Gültigkeit. Stepanovas Roman schöpft aus dem von Boehm beschworenen „Potential des Unbestimmten“ in der bildlichen „Anschauungslogik des Zeigens“,17 dessen Relevanz direkt aus der postmemorialen Konstel­ lation limitierter (Aus-)Sagbarkeit resultiert. 15 Stepanova 2018b, S. 68. „Außer Gebrauch gekommene Dinge verlieren mit der Zeit ihren Dingcharakter, sie kehren zurück zu ihrer ursprünglichen Beschaffenheit: Wachs, Farbe, Ton [Lehm]. Die Vergangenheit verwildert, Bewusstlosigkeit überwuchert sie wie ein Wald.“ (Stepanova 2018a, S. 101). 16 Stepanova 2018b, S. 80. „Die Palette der Möglichkeiten, die die neuen Trägermedien bieten, verändert die Wahrnehmung: Die Geschichte, die Biographie, der eigene wie der fremde Text erscheinen nicht mehr als Abfolge, als Reihe von Ereignissen, die sich in der Zeit entfalten und vom Leim der Kausalität zusammengehalten werden. […] Aus der Vergangenheit werden Vergangenheiten. […] Der feste Boden der Tatsachen verwandelt sich in Knetmasse, er lässt sich modellieren.“ (Stepanova 2018a, S. 119 f.). 17 Vgl. Boehm 2007, S. 82.

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Verortungen III

Mediologische Transformationen werden hier zu einem narrativen Fixpunkt, dessen historiographische Umschlagsqualität die Sujetorganisation des Textes prägt. Diese resultiert aus einer Grundspannung zwischen der Skepsis gegenüber erzählerischer Modellierung auf der einen Seite und dem Wissen um die Notwendigkeit dieser Modellierung auf der anderen Seite. Pamjati pamjati stellt einen Roman nach dem Ende des Romans dar, der sich nicht durch die vermeintliche Stringenz narrativer Modellierung verführen lassen möchte. Dies lässt sich einerseits an der sehr essayistischen, theoretisch ambitionierten Kapitelgliederung erkennen, deren roter Faden nicht auf der Ebene der Plotorganisation gestrickt ist. Es lässt sich andererseits auch erkennen an den vielfältigen Enttäuschungen, die die Rekonstruktion der Familiengeschichte für den Leser bereithält. Der gekonnte Einsatz postmemorialer motivischer Stereotype (u. a. die allgegenwärtigen überwucherten und verwilderten jüdischen Friedhöfe Ost(mittel)europas) weckt eine Erwartungshaltung, die regelmäßig durch das Ausbleiben familiengeschichtlicher Erkenntnisse enttäuscht wird. Die Verweigerung kohärenten Erzählens wird somit schlussendlich zur Notwendigkeit erfüllter Erinnerung. Je weniger man erzählen kann, so der Schlusssatz des Romans, desto näher ist man seinen Verwandten.18 Gelingendes Erinnern, so die Moral der Geschichte, bedarf der Anerkennung der Fragmentarität und potentiellen Sinnlosigkeit des Vergangenen und des Muts zum eigenständigen Arrangement der Überreste der Vergangenheit. Die metahistoriograpische Rechenschaftsablage dieses Prozesses wird dabei zur conditio sine qua non des Desiderats der Pluralisierung der Vergangenheit in Vergangenheiten. Ohne Reflexion des eigenen Vorgehens droht das Abgleiten in einen oberflächlichen ‚Erinnerungswahn‘, dessen Resultat das Gegenteil seiner Bestrebungen ist, so die Mahnung der Erzählerin. Mit dem Schlusssatz ist der Roman allerdings noch nicht ans Ende gelangt, folgt ihm doch das einzige Bild des Textes, eine Gruppenaufnahme, vermutlich aus dem Familienarchiv der Autorin. Wozu diese prominente Platzierung des Bildes? Dem Roman ist ein Epigraph Lewis Carrolls vorangestellt, das den Sinn von Büchern, in denen gar keine Bilder vorkommen, bezweifelt. Der Roman rekurriert durchgängig auf Bilder und flicht diese ekphrastisch in die einzelnen Kapitel ein. Das dritte Kapitel des ersten Buches sticht diesbezüglich heraus, enthält dieses doch ausschließlich Bildbeschreibungen, deren Sinn sich dem Leser ohne Vorlage des Bildmaterials zu entziehen scheint. Die privilegierte Stellung des Bildmediums – dessen literarische Modellierung in der postsowjetischen Literatur übrigens Vorläufer hat, man denke nur an Andrej Sergeevs Al’bom 18 Stepanova 2018b, S. 404.

Parahistorisierungen467

dlja marok (Das Briefmarkenalbum, 1995) – ist dabei Signum der Gegenwart und Ausdruck einer Koexistenz von „Gestern und Heute“.19 Der dystopischen Imagination eines Allarchivs im Digitalzeitalter stellt die Erzählerin ihre Vorliebe für Fotographien ohne Adressatenbezug gegenüber. Letztere erscheinen „maximal unpersönlich“ und sinnfrei, was „es möglich [macht], einen eigenen Sinn beizusteuern“.20 Hierbei handelt es sich um eine Spezifik postmemorialer ‚Bildformeln‘. Bildformeln geht es Susi Frank zufolge darum, „eine in anderer Form nicht auszudrückende semantische Komplexität mithilfe von symbolischer Verdichtung und Kodierung […] kommunizierbar zu machen“.21 Die ikonisch eingesetzte Schlussfotographie komplementiert die fragmentarischen Ergebnisse der genealogischen Suche. Die Fotographie spricht für sich und suggeriert eine Unmittelbarkeit des Anschlusses an die Vergangenheit, die narrativ nicht herzustellen ist. Eine ähnliche Funktion erfüllen Fotographien auch in Zachar Prilepins Obitel’ (Das Kloster, 2013) oder in Natascha Wodins Sie kam aus Mariupol (2017) sowie in der gegen Ende der 2000er Jahre aufkommenden Gedenkpraxis des ­Bessmertnyj polk (Unsterbliches Regiment). Bei dieser Erinnerungspraxis im Rahmen der Feiern zum ‚Tag des Sieges‘ am 9. Mai tragen Demonstrierende Fotographien ihrer im Krieg gefallenen Verwandten. Den Fotographien wird hier ebenso wie in den zitierten literarischen Werken eine ikonische Selbstevidenz zugeschrieben, die primär affektiv wirkt.22

Geschichte 2.0 – Interaktion, Immersion und Inversion im Internet Das Internet und die sozialen Medien sind die größte Plattform der von Brooks beschriebenen Parahistorisierung. Die Emergenz einer distinkten Digitalkultur zeitigt dabei, ähnlich anderen Medienrevolutionen, fundamentale Veränderungen des geschichtlichen Bewusstseins. Wulf Kansteiner schreibt, dass Geschichte bei jedem Anschalten des Computers radikal umgeschrieben und 19 Stepanova 2018a, S. 76; „вчера и сегодня стали сосуществовать с небывалой интенсивностью“ (Stepanova 2018b, S. 51). 20 Stepanova 2018a, S. 82; „предельно безличны“. „Свобода от смысла дает шанс добавить сюда свой собственный“ (Stepanova 2018b, S. 56). 21 Frank 2017, S. 11. 22 Das Vertrauen, das solche Praktiken in die Authentizität der Bilder legen, irritiert. Nicht nur in der sowjetischen Geschichte sind Fotographien vielfach zum Gegenstand von Fälschung und staatlicher Vereinnahmung geworden, was in den hier zitierten Werken jedoch kaum problematisiert wird.

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Verortungen III

erfunden ­werde.23 Die Veränderungen, die er im Sinn hat, zielen dabei auf eine verstärkte Interaktion zwischen Usern in digitalen Welten und auf die Zunahme von „counter-factual historical exploration“ (143), durch die ein jeder Nutzer seine eigenen historischen Narrative erschaffen und innerhalb einer Community verbreiten könne (141). Gleichzeitig gibt es aber auch Stimmen, die in digitalen Medien einen Schub für eine Authentifizierung der Geschichte sehen.24 Digitale Historiographie kennzeichnet folglich eine Spannung zwischen Authentizität und Dokumentarizität auf der einen Seite und dem Neuschreiben und Erfinden von Geschichte auf der anderen Seite. Das Internet erscheint hier als Verbreitungsmedium, das einer bislang unsichtbaren Masse eine Plattform für die Verbreitung ihrer Theorien und Ansichten zur Verfügung stellt.25 Allerdings nutzen auch etablierte Autoren Internetblogs als Verbreitungsmedium und kommunizieren auf diesen regelmäßig mit ihren Lesern.26 Das beste Beispiel hierfür ist sicherlich Boris Akunin, der viele seiner historiographischen Projekte über das Internet ankündigt. Historiographisch bemerkenswert sind weiterhin Kollektivprojekte, wie das von Michail Zygar ins Leben gerufene project2017, das dem Revolutionsjahr 1917 gewidmet ist. Auf der Webseite heißt es: „Наша главная цель – сделать историю популярной, показать многоголосие исторических персонажей максимально широкой аудитории.“ 27 Einem dokumentaristischen Anspruch verpflichtet, wird mit der multimedialen Präsentation historischer Artefakte eine Verlebendigung und mediale Aktualisierung der damaligen Ereignisse für ein möglichst breites Publikum verfolgt. Ein weiterer Akteur, der das Internet als historisches Verbreitungsmedium nutzt, ist der Staat. Ulrich Schmid hat gezeigt, wie die Entwicklung von Computerspielen zum Bestandteil einer patriotischen Geschichtsdidaktik geworden ist, im Rahmen derer unter Federführung des Kulturministeriums neue Spiele entwickelt werden, die ein positives Bild der russischen Armee in den beiden Weltkriegen ins Zentrum stellen.28 Hier wird der dokumentaristische Anspruch, wie ihn Geschichtsprojekte wie das Zygars verfolgen, konterkariert und politischen Interessen untergeordnet. Eine weitere Transformation des historischen Feldes zeigt ein Blick auf die Geschichtsdarstellung in russischen Computerspielen. Gernot Howanitz hat in 23 24 25 26 27

Kansteiner 2007, S. 132. Rutten 2017, S. 159. Vgl. Schmidt 2013, S. 20 ff. Howanitz 2020. „Unser hauptsächliches Ziel – eine populäre Geschichte zu verfertigen, vielstimmige historische Akteure einem maximal breiten Publikum zu zeigen.“ 28 Vgl. Schmid 2015, S. 175.

Parahistorisierungen469

einem Aufsatz auf prinzipielle Gemeinsamkeiten zwischen poststrukturalistischer Historiographie und Computerspielen hingewiesen: „Rather than facilitating a repetition or restaging of history, they are always history-altering devices, because the player’s freedom automatically leads to a rewriting of the past.“ 29 Computerspiele besitzen eine spezifische „counterfactual quality“ (184), die sich in den von ihm untersuchten Spielen vor allem in einer Rehabilitierung Stalins äußert. Charakteristisch für Computerspiele ist dabei eine Spannung zwischen Narration und Interaktion. Die von Howanitz untersuchten Spiele besitzen ein lineares Narrativ, im Rahmen dessen das Spiel so lange wiederholt wird, bis das ‚richtige‘ Ende der Geschichte erreicht ist (189). Der Gestaltungsspielraum der User wird dabei limitiert, wird das Spiel doch von der Idee einer allgemeinen Notwendigkeit des historischen Prozesses dominiert. An dieser Stelle scheinen sich die von ihm untersuchten Historienspiele stark von der poststrukturalistischen Historiographie zu unterscheiden, die eine solche Notwendigkeit und Linearität des historischen Prozesses in Frage gestellt hatte. Die Frage nach den historiographischen Konsequenzen der Digitalisierung ist nicht zuletzt auch schon Gegenstand literarischer Darstellungen selbst geworden: „Das Internet ist nicht nur Aktionsort, sondern […] auch Gegenstand der Literatur“,30 schreibt Henrike Schmidt, die verschiedene Formen von Cyber- und Mediafiction untersucht hat. Viktor Pelevin ist dabei der Autor, der die gesellschaftlichen Konsequenzen medialer Verschiebungen seit den 1990er Jahren wahrscheinlich am stärksten in seinem Werk reflektiert hat.31 Michail Ryklin spricht von der „Computer-Ausrichtung“ von Pelevins Prosa, die von der „Verachtung für alles Soziale“ und „dem Wunsch […], die Narration zu überwinden“, geprägt sei.32 In seinem Roman t (Tolstois Albtraum, 2009) wird dieses Vorhaben auf die Spitze getrieben. Im Zentrum des Buchs steht der Tolstoj nachempfundene Held Graf T., der sich auf dem Weg nach Optina Pustyn’ befindet und eine Reihe von Abenteuern bestehen muss. Das Sujet gliedert sich in Handlungsund Reflexionskapitel. Die Handlung ist actiongeladen und enthält vor allem Kampfszenen, die immer wieder von Gesprächen des Helden T. mit seinem vermeintlichen Schöpfer Ariel unterbrochen werden, die um die Handlungsmacht des Autors, Lesers und Helden kreisen. Sally Dalton-Brown hat in einem 29 Howanitz 2013, S. 185. 30 Schmidt 2013, S. 509. 31 Zu Aspekten der Computerisierung und Digitalisierung in Pelevins Werk vgl. Schmidt 2013, S. 522 – 525. 32 Ryklin 2002, S. 31 f.

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Aufsatz darauf hingewiesen, wie die Suche nach einem Schöpfer zum bestimmenden Motiv des Romans wird, der dieses in Form mehrerer rekursiv aufeinander bezogener Loops verarbeitet.33 Im Rahmen unserer Fragestellung ist dabei bemerkenswert, wie sich das Organisationsprinzip der Romanhandlung, das von Ariel verfasst wird, im Laufe des Romans wandelt. Hinter dem Kunstprojekt t steht am Anfang der Plan, „ein einfühlsames Buch“ zu schreiben, „so eine Art alternative Geschichte, […] mit der man dann allmählich die echte Geschichte überdecken und ihre Verfälschungen bekämpfen könnte“.34 Dieses Projekt liegt, darauf weist nicht nur der paradoxe Schlusssatz, mit einer alternativen Geschichte Verfälschungen der echten Geschichte bekämpfen zu wollen, hin, in den Händen von Polittechnologen, bei denen kommerzielle und politische Interessen verschmelzen. Es wird jedoch später aufgegeben und zu einem neuen Projekt, einem „ironische[n] Retro-Shooter auf einer Source-Engine […] in einer Version für PC und für XBOX“ 35 transformiert, dessen Logik der zweite Teil des Romans folgt. Pelevins Roman steht in Verbindung zur oben referierten Analyse des „Computer Game als Historiographic Device“ (Howanitz). Ebenso wie dort werden die Freiheit des Users und seine geschichtsverändernde Agency in Frage gestellt, der Held T. im Roman wirkt machtlos. Er überlebt zwar mit Geschick einzelne brenzlige Situationen, bleibt aber in der Logik einer kommerziellen Narration gefangen, im Rahmen derer er keine Souveränität über seine eigene Geschichte beanspruchen kann. Literaturgeschichtlich erscheint es dabei ironisch, dass gerade Tolstoj – dem Bachtin bekanntlich vorwarf, seine Helden stets der monologischen Modellierung des Autors zu unterwerfen – als literarische Exemplifikation der Handlungsunfähigkeit von Helden und Autoren im Web 2.0 heran­g ezogen wird. Der Machtlosigkeit der User und Helden entgegengesetzt ist die Allmacht einer kleinen mafiösen Elite, in deren Händen das Schicksal der Gesellschaft liegt. Diese Auffassung zieht sich durch fast alle Romane Pelevins, exemplarisch sei hier sein Roman Empire V genannt. Gennadij Barchudaev und Evgenij Krjučko sprechen diesbezüglich von einem „fiktiven Realismus“, als dessen Hauptrepräsentant Pelevin gilt: „Синоним фиктивного реализма – гейм-реализм: все произведения напоминают компьютерные игры, опасно 33 Vgl. Dalton-Brown 2014. 34 Pelewin 2013, S. 114; „прочувствованную книгу […]. Такую, знаете, альтернативную историю, которую потом можно было бы постепенно положить на место настоящей в целях борьбы с её искажением“ (Pelevin 2009, S. 96). 35 Pelewin 2013, S. 166. „Иронический ретро-шутер на движке ‚source‘, выйдет в версиях для писи и иксбокса“ (Pelevin 2009, S. 141 f.).

Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ471

приближаясь к жанровой литературе.“ 36 Innerhalb dieses Gamerealismus spielt das Spielerische selbst nur mehr eine Nebenrolle – „инструкции и подсказки занимают больше места, чем сама игра“.37 Der Schwerpunkt der Betrachtung wird also verlagert. Die Immersion in das Erzählgeschehen wird regelmäßig von reflektierenden Passagen über die Funktionsweise des Plots und dessen Struktur gestört, die in Rätselform dem Leser als Erkenntnisaufgabe gestellt werden. Damit verlagert sich das Gewicht von der Geschichte selbst auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erzählbarkeit. In diesem Sinne kann Pelevins Roman als metahistoriographischer Kommentar zur Frage nach der Rolle von Geschichte in Computerspielen gelesen werden.

9.2  Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ – Die Rückkehr der Großen Erzählungen Einer der Unterschiede, die Jean-François Lyotard in seinem Bericht zum postmodernen Wissen zwischen Moderne und Postmoderne sieht, ist die Rolle einheitstiftender historischer Erzählungen. Während in der Moderne Texte dominieren, die auf „diese oder jene große Erzählung zurückgreif[en]“, veraltet dieses „metanarrative[] Dispositiv[] der Legitimation“ in der Postmoderne, die „narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel“.38 Ein Signum der Postmoderne wird also der Verlust der Größe, gerade und vor allem auch in historischen Entwürfen. An die Stelle des integrierenden und synthetisierenden Epos tritt die Episode mit ihrem Augenmerk fürs Kleine und Fragmentarische. Diesen Wandel hat Albrecht Koschorke in seiner Frankfurter Adorno-Vorlesung für den gegenwärtigen Diskurs konkretisiert. Während sich das Epos durch einen ganzheitlichen Ansatz und den Anspruch, durch seine Erzählung Gemeinschaft zu stiften, auszeichne, komme die Episode bescheidener daher. Sie sei postheroisch geprägt, was heiße, dass in ihr „gewöhnliche, in hohem Maße individualisierte, uncharismatische, mit geringen Spielräumen ausgestattete, zudem in ihren Beweggründen auf sich gestellte und gottferne Akteure“ dominierten. Die 36 Barchudaev/Krjučko 2011. „Ein Synonym des fiktiven Realismus ist der Game-Realismus. Alle Werke erinnern an Computerspiele, die sich auf gefährliche Weise der Genreliteratur nähern.“ 37 Barchudaev/Krjučko 2011. „Instruktionen und Hinweise nehmen einen größeren Raum ein als das Spiel selbst.“ 38 Lyotard 2012, S. 23 f.

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Episode sei als ­identitätspolitische Waffe kaum zu gebrauchen und erscheine auch deshalb „als ideologische Schwäche“.39 Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wird sie von Koschorke affirmativ als der postnationalen Konstellation in der Europäischen Union angemessene historiographische Form verteidigt. In seiner früheren Schrift Wahrheit und Erzählung verteidigt Koschorke hingegen großformatige Erzählungen. Er führt aus: „Wenn die Geschichten in sich selbst einen großen Zeitbogen schlagen“, entstehe eine Art „kultureller Klammer“, die eine legitimatorische und eine reflexive Leistung erbrächten.40 Sie stellten einen „narrative[n] Generalschlüssel“ (210) für die Deutung aller Ereignisse dar. Trotz der epistemischen und politischen Kritik Lyotards, die von diesen legitimatorischen Einwänden unberührt bleibt, lässt sich also ein Weiterleben historischer Großerzählungen erkennen. Auf dieses Nachleben rekurriert auch Robert Berkhofer, wenn er schreibt: „Although historians may be wary of Great Stories, given the profession’s bias against such moral fables and their seemingly poor fit with the postulated big picture of the Great Past, it seems that they cannot do without them.“ 41 Große Erzählungen (auch Meistererzählungen genannt), transportieren einen universalhistorischen Anspruch und können definiert werden als „eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt“.42 Meistererzählungen befinden sich damit in einem natürlichen Spannungsfeld zur Metahistoriographie, bei der Kontingenz an die Stelle von Kontinuität und Kohärenz tritt und die Perspektivität der Historiographie zum Gegenstand der Erzählung wird. Die sowjetische Geschichte kennt in Form des sogenannten Kratkij kurs istorii VKP , der unter Stalins Ägide 1938 zum Referenzwerk der sowjetischen Geschichtsbetrachtung avanciert, einen Idealtypus einer solchen Meistererzählung. Der Kratkij kurs schrieb dabei im Rückgriff auf die Große Erzählung des Dialektischen Materialismus eine verbindliche Sicht auf die russisch-sowjetische Geschichte vor. Obgleich die Geltung des Werks im Post­ stalinismus zurückging, blieb die Idee eines „Soviet metanarrative“, wie Th ­ omas Sherlock in seiner einflussreichen Untersuchung Historical Narratives in the Soviet Union and Post-Soviet Russia (2007) gezeigt hat, bis zur Perestrojka erhalten. Mark ­Lipoveckij geht sogar so weit zu behaupten, dass die gesamte sowjetische 39 40 41 42

Koschorke 2015, S. 223. Koschorke 2012, S. 213. Berkhofer 1995, S. 44. Jarausch/Sabrow 2002, S. 16.

Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ473

I­ deologie ein ­System von Metanarrativen gewesen sei.43 An die Stelle der sowjetischen Meistererzählung trat nach dem Systemzerfall eine Vielzahl konkurrierender historischer Großentwürfe, die im Anschluss an vorrevolutionäre Traditionen entwickelt wurden. Zu nennen sind hier Vorstellungen einer in der Geschichte waltenden russischen Idee, Opfernarrative, Sonderwegsthesen oder Europäisierungsnarrative.44 Keine dieser Ideen erlangte allerdings in den 1990er Jahren diskursive Hegemonie. In der Folge soll nun gezeigt werden, wie die Vorstellung einer Meistererzählung, wonach die russische Geschichte von einer allgemeinen Logik und einer gemeinsamen Idee getragen werde, seit Beginn der 2000er Jahre politisch propagiert und mittlerweile institutionalisiert wurde. Anschließend sollen kurz künstlerische Entwürfe präsentiert werden, die eine Kritik und Reflexion der Möglichkeit solcher universalhistorischer, auf die russische Nation bezogener Entwürfe darstellen.

Metamoderne Metanarrative Bestrebungen, die russische Geschichte zu vereinheitlichen und einer einzigen Logik unterzuordnen, sind eine zentrale Tendenz der Geschichtspolitik unter der Präsidentschaft Putins. Philipp Bürger, der jüngst in einer Studie Traditionen und Ziele der russländischen Geschichtspolitik seit 2000 (2018) untersucht hat, sieht in dieser Tendenz zur Metanarrativisierung gar ihr Hauptmoment: „Als Eckpunkte der russländischen Geschichts- und Erinnerungspolitik in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts lassen sich so vor allem die Versuche feststellen, eine kohärente, bruchlose Geschichte über mehr als 1000 Jahre zu etablieren.“ 45 Im Rahmen dieser Arbeit interessiert dabei nicht der Blick auf einzelne Ereignisse und Perioden, sondern die narrative Logik hinter diesen Bestrebungen. Festhalten lässt sich dabei mit Nikolaj Koposov, dass die Geschichtspolitik eine große Rolle für die Legitimierung der Putin’schen Herrschaft spielt. Koposov geht sogar so weit, dass er sie im Anschluss an Gleb Pavlovskij als Hauptelement politischer Ideologiebildung im gegenwärtigen Russland ansieht: „После распада традиционных политических идеологий политика памяти стала единственно возможной формой политики.“ 46 Mittlerweile haben das patriotische Geschichtsbild der 43 44 45 46

Lipovetsky 1999, S. 5. Vgl. Marsh 2007, S. 143. Bürger 2018, S. 304. Koposov 2011, S. 143. „Nach dem Zerfall der traditionellen politischen Ideologien ist die Erinnerungspolitik zur einzig möglichen Form der Politik geworden.“

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Machtadministration und das Verbot gegen dessen vermeintliche Falsifizierung gar Verfassungsrang erhalten.47 Maria Engström hat vorgeschlagen, die Rehabilitierung von ­Metanarrativen als Teilelement eines umfassenderen ‚Metamodernismus‘ in der russischen Gesellschaft zu betrachten: Metamodernism is characterised by interest in the mythological and archetypal. It postulates the need to restore the metanarratives and build new major narratives. ‘Deconstruction is followed by reconstruction’ is the mantra of metamodernism.48

Hauptverfahren des Metamodernismus sind Hybridisierungen verschiedener Stile und Ideologien, die zu einer postironischen Selbstrelativierung der jeweiligen Erzählungen beitragen. In Bezug auf den Postmodernismus behält der Metamodernismus dabei die Elemente der Dekonstruktion binärer Oppositionen und des Antiessentialismus, „überwindet“ aber dessen Misstrauen gegenüber Metanarrativen.49 Künstlerische Vorläufer dieser laut Engström zur Ideologie der vierten Amtszeit Putins geronnenen Haltung seien dabei Künstler wie Timur Novikov oder der Popstar Monetočka.50 Die Rückkehr zum Prinzip einer „großen“ und einheitlichen historischen Erzählung kontrastiert mit Tendenzen der 1990er Jahre. Joseph und Rea Zajda konstatieren für diese Phase eine Tendenz zur Präsentation unterschiedlicher Sichtweisen und Interpretationen historischer Ereignisse.51 Putin hatte bereits in seiner Antrittsrede im Jahre 2000 eine stärkere Akzentuierung der Geschichtspolitik angedeutet,52 blieb in seinem Plädoyer für ein einheitliches Metanarrativ der russischen Geschichte aber zunächst ambivalent. So heißt es über eine Rede des Jahres 2003: Президент высказался против попыток политизации исторических знаний. Отметив положительную сторону того, что больше нет однопартийного и моноидеологизированного освещения истории страны, он предостерег от другой крайности.53

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Kolesnikov 2020, S. 5. Engström 2018b. Engström 2018a. Letztere singt in ihrem 2018 veröffentlichten Song Post-post: „Ja takaja post-post, ja takaja meta-meta“ („Ich bin so post-post, ich bin so meta-meta“), und bricht durch ihre Attitüde adoleszenter Naivität und die Reduplikation der Präfixe den reflexiven Ernst der Metaterminologie, die hier zum Relikt einer überlebten Moderne wird. 51 Zajda/Zajda 2005, S. 713. 52 Vgl. Bürger 2018, S. 10. 53 Putin 2003. „Der Präsident sprach sich gegen Versuche der Politisierung historischen Wissens aus. Bezugnehmend auf die positive Entwicklung, dass es keine von einer ­Partei

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Es ist interessant, diese Äußerung mit einer Rede Putins aus dem Jahre 2013 zu vergleichen, in der er die entgegengesetzte Meinung vertritt: Возможно, стоит подумать о единых учебниках истории России для средней школы, рассчитанных на разные возрасты, но построенных в рамках единой концепции, в рамках единой логики непрерывной российской истории, взаимосвязи всех её этапов, уважения ко всем страницам нашего прошлого.54

Bürger spricht im Hinblick auf ähnliche Ideen der Unterordnung der russischen Geschichte unter eine einheitliche Logik vom „2013er Standard“,55 der sich geschichtspolitisch im Zuge der „patriotischen Wende“ in der dritten Amtsperiode Putins herauskristallisiert habe.56 Es wäre dabei falsch, diese Agenda allein auf den Präsidenten zurückzuführen. So lohnt beispielsweise ein Seitenblick auf Vladimir Medinskij, der bis zu seinem Amtsantritt als Kulturminister 2012 Geschichtsprofessor an der renommierten MGIMO-Universität in Moskau war und dort auch als Verfasser historischer Romane hervortrat. In einem Interview 2012 fragte er: „Больше государство исторической политикой не занимается, оно ушло в плюрализм, а если этот плюрализм, например, проникает в область школьного образования, то что же в результате будет в головах наших сограждан?“ 57 Diese antipluralistische Einstellung steht in Einklang zu seiner Forderung nach einheitlichen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht in Russland, die wenig später dann auch vom Präsidenten öffentlich artikuliert wurde. Zwar kam es – nach Protesten aus den Regionen und wenig schmeichelhaften Vergleichen dieser Bestrebungen mit sowjetischen Traditionen der Geschichtsfälschung 58 – nicht zur Implementierung einheitlicher Lehrbücher, die dahinter

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und einer Ideologie getragene Beleuchtung der Geschichte des Landes mehr gebe, warnte er vor dem anderen Extrem.“ Putin 2013. „Es ist möglicherweise lohnend, über einheitliche Lehrbücher der russischen Geschichte für die Mittelschule nachzudenken, angepasst für verschiedene Altersgruppen, aber konstruiert im Rahmen einer einheitlichen Konzeption, im Rahmen einer einheitlichen Logik einer ununterbrochenen russischen Geschichte, des Zusammenhangs aller ihrer Abschnitte, des Respekts gegenüber allen Seiten unserer Vergangenheit.“ Bürger 2018, S. 149. Man kann Ansätze zur Vereinheitlichung des Geschichtsbilds auch schon früher beobachten, so warnte David Brandenberger bereits 2009 in einem Aufsatz vor einem ‚New Short Course‘ (vgl. Brandenberger 2009). Pravoslavie.ru 2012. „Der Staat beschäftigt sich nicht länger mit Geschichtspolitik, er ist zum Pluralismus übergegangen, aber wenn dieser Pluralismus, zum Beispiel, in das Feld der schulischen Ausbildung übergreift, zu was für einem Ergebnis wird das in den Köpfen unserer Mitbürger führen?“ Bürger 2018, S. 150 f.

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stehende geschichtliche Tendenz blieb davon aber unberührt. Ihr Hauptelement stellt ein starker Prozessbegriff dar, der bestrebt ist, gesamtgesellschaftliche und wissenschaftliche Reflexion kategorial zu integrieren. Diese kategoriale Integration steht im Gegensatz zu relationalen Konzepten, die auf eine solche Vereinheitlichung unter eine übergreifende Logik verzichten und Differenzen zwischen den verschiedenen Einzelattributen an Stelle ihrer Identität fokussieren.59 Welche praktischen Möglichkeiten sind nun mit dem Beharren auf prozessuale Reintegration des historischen Prozesses im Dienst eines Metanarrativs gegeben? Eine wenig ausdifferenzierte, zum Beispiel eine national oder sozial interessierte (nationalistische, sozialistische) Geschichtswissenschaft müßte […] dazu tendieren, die Kategorie des historischen Prozesses in der vollen Breite gesellschaftlicher Reflexionserfordernisse durchzuhalten. Die historischen Materialien müßten dann im Hinblick darauf arrangiert werden, daß die Kategorie des Prozesses, soll sie konkrete gesellschaftliche Plausibilität behalten, keine allzu großen Zeitdistanzen zuläßt, daß sie Handlungsnähe oder doch Bewußtseinsnähe erfordert und daß sie in Bedeutungszusammenhängen artikuliert wird, die Kontinuität und Diskontinuität übergreifen, also einen späteren Zustand auch dann noch prägen, wenn er (mehr oder weniger bewußt) mit dem früheren Zustand bricht (181).

Die hier zitierten Reflexionen Niklas Luhmanns verweisen auf zwei mögliche Handlungsoptionen: Integration mittels Affektsteuerung (Handlungsnähe, Bewusstseinsnähe u. a.) und der Verstärkung der „Selektivität von Ereignissen durch sequentielle Interdependenz“ (188). Die Tendenz zur Affektsteuerung wurde im Rahmen dieser Arbeit bereits kurz erwähnt 60 und wird prominent von Serguei Oushakine vertreten, der von einem „performative patriotism“ spricht und auf das „emotional encoding“ 61 von Geschichtspraktiken verweist. ­Oushakine und Philipp Bürger, der sich diesem Trend stärker deskriptiv widmet, fassen eine beeindruckende Fülle von Beispielen zusammen, die von den Gedenkpraktiken des 9. Mai über neue Fernsehformate, patriotische Bikeshows bis zur Heroenbildung auf YouTube reichen. Sichtbar wird an diesen Beispielen die Negation zeitlicher Distanz als Spezifikum historischer Vermittlung. Traditions- und Sinnbildung erfolgen unter weitgehendem Verzicht auf die Durchdringung einzelner historischer Ereignisse oder Personen. Im Fokus steht vielmehr die Interdependenzbildung zwischen heterogenen Ereignissen, die selektiv aufeinander bezogen werden. Bürger gibt hierfür im Rahmen einer Analyse des Gedenktags des 7. Novembers ein Beispiel: 59 Vgl. Luhmann 1982, S. 181 ff. zur Gegenüberstellung von kategorial-prozessualer und relationaler Integration der Gesellschaft. 60 Vgl. Unterkapitel 7.3. 61 Oushakine 2013, S. 274, Hervorhebung im Original.

Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ477 Die Kriegsgeneration von 1941 wird in die Tradition von 1812 gestellt und so mit den Legitimitätsvorstellungen des Vaterländischen Kriegs verbunden. Die heutige „Generation des 21. Jahrhunderts“ wird in eine Tradition mit 1941 gestellt und wird so mit den Legitimitätsvorstellungen des Großen Vaterländischen Kriegs verbunden.62

Solche Versuche der sequenziellen Interdependenzbildung leiden freilich unter Widersprüchen sui generis. Die gesellschaftliche Plausibilisierung, die zumindest bei einem Teil des Publikums verfängt,63 geht auf Kosten der historischen Plausibilisierung. Geschichtspolitik wird zur Gesellschaftspolitik und lässt in dieser Verschiebung genau den Raum frei, den sie eigentlich zu besetzen reklamiert. Damit scheinen sich die Frontstellungen zu reduplizieren, die bereits für die spätsowjetische Zeit und ihre – durchaus mit der Gegenwart verwandten – geschichtspolitischen Praktiken galten. Die staatliche Geschichtspolitik wird als solche zum Mythos und die Literatur (bzw. die Kunst im Allgemeinen) zum Adressaten einer ‚wahrhaftigen‘ Geschichtskultur. Dies konstatiert etwa Nikita Aleksandrov: „Забавно, что сегодня литература и история как бы меняются местами. История (если учесть государственный заказ) выступает за миф, а литература – за факты и правду“.64 Literatur artikuliert damit genau die Reflexionserfordernisse, die gesellschaftlich natürlich weiterhin vorhanden sind, geschichtspolitisch jedoch nicht adressiert werden können und wollen. Freilich überschreitet Literatur damit erneut die Grenzen des eigenen Funktionssystems und greift in das Feld der Wissenschaft über. Die offizielle Geschichtspolitik wirkt somit als Katalysator gesellschaftlicher Entdifferenzierung.

Vom Größten und Kleinsten – Meistererzählungen in Literatur und Kultur Literarische Entwürfe reagieren auf vielfältige Weise auf die Bestrebungen der Regierung, Geschichte zu singularisieren und einer patriotischen Sinngebung russischer historischer Größe unterzuordnen. Sie können dabei auf ein Arsenal histo­ risch etablierter Praktiken zurückgreifen, haben solche ­Sinngebungsversuche 62 Bürger 2018, S. 86. 63 Sowohl im Hinblick auf positive Bezugnahmen als auch im Hinblick auf eine von kritischer Seite wahrnehmbare Selbstentlarvung der Herrscher, wenn diese sich bereitwillig zu tyrannischen Gestalten wie Stalin oder Ivan Groznyj in Analogie setzt. 64 Aleksandrov 2017. „Es ist amüsant, dass Literatur und Geschichte heute gewissermaßen die Plätze getauscht haben. Geschichte (wenn man den staatlichen Auftrag beachtet) tritt ein für den Mythos – und die Literatur für Fakten und Wahrheit“.

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von oben im Rahmen der russisch-sowjetischen Geschichte doch eine lange Tradition.65 Ihre politischen Haltungen changieren dabei zwischen literarischem Zuspruch, ironischem Einspruch und offenem Widerspruch. Im selben Großmaßstab operieren intervenierende literarische Großentwürfe der Geschichte, wie sie idealtypisch im Werk Boris Akunins zu finden sind. In einem Post auf seinem Blog inszenierte sich Akunin am 20. März 2013 als ‚neuer Karamzin‘ und kündigte den Beginn einer mehrteiligen Serie unter dem Titel Istorija rossijskogo gosudarstva (Geschichte des russischen Staates) an, deren Neutralität und Objektivität nützlich erscheinen könne.66 Stand Oktober 2020 sind sieben Bände erschienen. Die ostentative Betonung von Neutralität und Objektivität ist eine kaum versteckte Polemik gegen die zeitgleich zunehmenden Bestrebungen des russischen Staates, das Geschichtsbild zu vereinheitlichen und einer gemeinsamen Logik unterzuordnen. В этом смысле Б. Акунин опередил государственный заказ на единый учебник истории и создает в XXI веке, возможно, первый «авторский учебник истории», альтернативный государственному проекту.67

Ein systematischer inhaltlicher Vergleich von Akunins Projekt mit staatlichen Lehrbüchern würde den Umfang dieser Arbeit sprengen, von Interesse im gegebenen Rahmen sind vor allem sein didaktischer und populär ausgerichteter Charakter sowie die geschichtswissenschaftliche Selbststilisierung des Autors. Neben Akunin gibt es auch andere Autoren, die in den vergangenen Jahren verstärkt als Historiker aufgetreten sind. Zu nennen wäre hier zuvörderst Aleksej Ivanov, dessen hier bereits besprochenes, intermedial ausgerichtetes Tobol-Projekt ebenfalls geschichtswissenschaftlich komplementiert wurde.

65 Das soll allerdings nicht neue Metaphoriken und Sinngebungsmuster des Historischen negieren, wie sie etwa Il’ja Kalinin in Bezug auf die Äquivalenz von Geschichts- und Rohstoffsdiskurs herausgearbeitet hat. Seine Hauptthese lautet dabei, das im gegenwärtigen Russland „the sphere of cultural values is perceived, conceived, and described in terms of natural resources“ (Kalinin 2014, S. 65). 66 Akunin 2013; „нейтральная и объективная «История российского государства» может оказаться полезной“. Der wichtigste Vorläufer mehrbändiger Werke zwischen Literatur und Geschichtsschreibung ist sicherlich Aleksandr Solženicyn mit seinem letztendlich unvollendet gebliebenen Mammutprojekt Krasnoe koleso (Das rote Rad ), das im Rahmen der Arbeit schon verschiedentlich Erwähnung gefunden hat. 67 Snigireva/Podčinenov/Snigirev 2015, S. 275, Hervorhebung im Original. „In diesem Sinne kam B. Akunin dem staatlichen Auftrag für ein einheitliches Geschichtsbuch zuvor und schuf im 21. Jahrhundert womöglich das erste ‚autorbasierte Geschichtslehrbuch‘, eine Alternative zum staatlichen Projekt.“

Von der Metahistoriographie zum Metanarrativ479

Ein weiteres jüngeres Beispiel stellt Michail Šiškins Multimediaprojekt Tote Seelen, lebende Nasen 68 (2018) dar. Dieses intermediale Projekt, das aus Essays, Kommentaren, Bildern, Musik und Filmauszügen besteht, ist nur in digitaler Form zugänglich und sucht nach einer neuen Form historischer Darstellung. Ebenso wie Akunin setzt sich Šiškin das Ziel, die russische Geschichte attraktiver und spannender zu erzählen, ein Unterschied liegt im bescheidener formulierten Deutungsanspruch, der nicht bestrebt ist, die Gesamtheit der russischen Geschichte abzubilden. Eine Gemeinsamkeit zwischen den hier erwähnten Projekten liegt darin, dass sie sich allesamt in der von Andrew Wachtel beschriebenen intergenerischen Tradition der russischen literarischen Historiographie verorten lassen,69 im Rahmen derer Autoren selbst geschichtswissenschaftliche Ansprüche reklamieren und diese in dezidiert nichtliterarischen Veröffent­lichungen artikulieren. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt darin, dass alle, Akunin, ­Ivanov und Šiškin, einen populärwissenschaftlichen Zugang wählen, Geschichte spannend und interessant gestalten möchten und eine breite Leserschaft für ihr Werk gewinnen möchten. In Bezug auf die staatlichen Bestrebungen, eine neue russische Meistererzählung zu etablieren, verbleiben sie im selben Bezugsfeld, akzentuieren in ihren Entwürfen jedoch alternative nationale, regionale und internationale Perspektiven, womit sie sich in mehr oder weniger offen artikuliertem Widerspruch zur antipluralistischen Agenda des 2013er-Standards befinden. Einen anderen Zugang wählt Lev Rubinštejn in seinem Werk Celyj god. Moj kalendar’ (Ein ganzes Jahr. Mein Kalender, 2017). Das Werk ist als Kalender konzipiert und enthält 366 Einträge, die in jeweils zwei Abschnitte unterteilt sind. Zunächst wird ein Ereignis der Weltgeschichte genannt, das am jeweiligen Tag stattgefunden hat, anschließend folgt eine mehrzeilige Erinnerung des Autors, die zum Teil direkt auf die Ereignisse bezogen ist, in der Mehrzahl der Fälle jedoch auf Grundlage freier Assoziationsbeziehungen mit dem erwähnten Ereignis entstanden ist. Die Breite der erwähnten Ereignisse ist sowohl zeitlich als auch räumlich bemerkenswert, decken die in der Regel außerhalb des kollektiven Gedächtnisses befindlichen Ereignisse doch mehrere Jahrhunderte und Kontinente ab. Bereits im Titel wird durch das Adjektiv celyj (ganz) ein ganzheitlicher Anspruch markiert und damit eine Verbindung zu größeren gesellschaftlichen Debatten um die Möglichkeit und Ausgestaltung eines ganzheitlichen Blicks auf die Geschichte hergestellt. Die einzelnen Kurzeinträge bewegen sich dabei jenseits des staatlich etablierten und gepflegten Gedenkkalenders. So wird am 9. Mai 68 Eine Website zum Projekt findet sich unter https://www.schischkin.net/. 69 Wachtel 1994.

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Verortungen III

der Geburt Adam Opels 1837 gedacht, am 22. Juni der Geburt John ­Dillingers 1903 und am 7. November der Eröffnung der ersten Ausnüchterungszelle Russlands in Tula im Jahre 1902. Celyj god. Moj kalendar’ steht somit in doppelter Hinsicht in einem Spannungsverhältnis zur offiziellen Geschichtspolitik. Auf der weltgeschichtlichen Ebene akzentuiert das Werk globalgeschichtliche, häufig humanistisch konnotierte Ereignisse, die der stark auf Aspekte nationaler Selbstbehauptung fokussierten offiziellen Erinnerungskultur entgegenlaufen. Auf der personalen Ebene schildert der Erzähler Ereignisse, die auf persönlichen Erfahrungen, Bekanntschaften und Assoziationen aufbauen. Beide Ebenen finden in der offiziellen Gedenkkultur nur wenig Platz und können in ein national ausgerichtetes Metanarrativ auch nicht integriert werden. Auf der Ebene des Sujets stellen der fragmentarische Charakter des Werks und sein Beharren auf der Kürze der Anekdote und Meldung das Gegenteil des um Kohärenz bemühten und auf epische Größe verpflichteten nationalen metanarrativen Unternehmens dar. Das Kriterium der Kürze hängt mit einer weiteren Besonderheit des Werks Rubinštejns zusammen, dem Verzicht auf kollektive Sinngebung. Bereits in der Einleitung heißt es lakonisch: „И четверг, невзирая ни на какие тектонические сдвиги истории, все еще следует после среды.“ 70 Der historischen Zeit und ihren Veränderungen wird die unveränderbare zyklische Zeit des Kalendarischen gegenübergestellt. Die Werthaftigkeit einzelner Ereignisse und ihre Schönheit ist relativer Natur; was für den einen absolut sinnlos erscheint, ist für den anderen von unschätzbarem Wert.71 Jeder lebt in seiner eigenen Welt, und deren historische Bedeutsamkeit kann von Versuchen kollektiv orientierter Geschichtsschreibung und Sinngebung nicht eingefangen werden. Das von Koschorke betonte Potential großer Geschichtsentwürfe, eine kulturelle Klammer herzustellen, wird hier bewusst nicht realisiert. Gerade die Skepsis gegenüber narrativen Verknüpfungen, auf die Celyj god. Moj kalendar’ weitestgehend verzichtet, führt im Werk dazu, dass an Stelle des großen Bilds der Geschichte ein Mosaik vieler kleiner und potentiell unendlicher Bilder entsteht, deren gegenseitige Anschlussfähigkeit kaum gegeben ist. Während die hier diskutierten großen Entwürfe Akunins, Ivanovs und Šiškins das staatlich aufgespannte Feld historischer Großentwürfe mit anderen Inhalten bespielen, dessen didaktische und popularisierende Stoßrichtung aber durchaus teilen und Größe als angemessene Form der Geschichtsdarstellung rehabilitieren, 70 Rubinštejn 2018, S. 8. „Und Donnerstag, ungeachtet aller tektonischen Verschiebungen der Geschichte, folgt immer noch auf den Mittwoch.“ 71 Vgl. Rubinštejn 2018, S. 9.

Jenseits der Metahistoriographie?481

verlässt Rubinštejns Werk dieses Spielfeld und weist auf parallel stattfindende weltgeschichtliche und individuelle Geschichte(n) hin, die jenseits vereinfachender, homogenisierender Kollektiventwürfe stehen. Die Spannung zu national ausgerichteten Projekten erwächst dabei nicht durch direkten Widerspruch in der Deutung einzelner Episoden, sondern durch ein demonstratives Ignorieren vom und Vorbeierzählen am nationalen metanarrativen Vorhaben.

9.3  Jenseits der Metahistoriographie? Refunktionalisierungen historischen Erzählens Die abschließenden funktionstheoretischen Überlegungen schließen an die Ausführungen der vorangegangenen Verortungen an, deren zentrale Thesen deshalb kurz rekapituliert werden sollen. In Bezug auf den Spätsozialismus wurde gezeigt, wie sich im historischen Erzählen ein langsamer Abschied von der Organisationsgesellschaft ankündigt, deren gesellschaftlicher Steuerungsanspruch angesichts der Realität funktionaler Differenzierungen in eine Krise gerät. Niklas ­Luhmann fasst das in lakonischer Radikalität zusammen: „Das Riesenexperiment des Sowjetimperiums scheiterte am Widerspruch zu der bereits funktional differenzierten Weltgesellschaft.“ 72 Das Kunstsystem ist eines der Felder, an dem sich die neue, nun konstitutive Polykontexturalität der Gesellschaft paradigmatisch zeigen lässt, was im Rahmen der Arbeit stellvertretend für das Bezugsfeld Literatur und Geschichte probiert wurde. In der Periode des Interregnums manifestiert sich dann der latent bereits im Spätsozialismus angelegte Zerfall der kommunistischen Organisationslogik, der ein Vakuum gesellschaftlicher Selbstbeschreibung hervorbringt, das die allgegenwärtige Metapher des „Chaos“ semantisch symbolisiert. Literarische Reaktionsmechanismen auf diese gesellschaftliche Gegenwart wurden im Rahmen des Spannungsfelds von Reintegration und Reflexion interpretiert, wobei insbesondere an das Fortwirken reintegrativer Auffangsemantiken erinnert werden soll. Dies ist bedeutsam, da diese Semantiken seit Beginn der 2000er Jahre eine politische Relevanz gewonnen haben, die zu einem unerwarteten Wiedererstarken der Logik der Organisationsgesellschaft geführt hat. Nicolas Hayoz argumentiert, dass sich am Beispiel Russlands „zeigen [lässt], dass und wie mehr oder weniger autoritäre Regimes in der Lage sind, über politische Macht, somit über Organisation, zentrale funktionale Differenzen auf ihrem H ­ errschaftsgebiet zu 72 Luhmann 2000a, S. 385.

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Verortungen III

neutralisieren“.73 Die starke Stellung hierarchisch organisierter, exklusiver und informeller Organisationen und Netzwerke in Russland, die in der Sekundärliteratur wahlweise als sistema 74 oder Putinismus 75 konzipiert werden, bedingt dabei eine „Entdifferenzierung“,76 die zur „Behinderung oder Blockierung von funktionaler Differenzierung auf einer regionalen Ebene“ 77 führt. Die Instrumentalisierung einzelner Funktionsbereiche – z. B. durch ein selektives Wahrheitsverständnis wissenschaftlicher Tatsachen oder politische Steuerungsansprüche wirtschaftlicher Investitionen bei Großprojekten – ist dabei selbstverständlich kein russisches Partikularphänomen und wäre auch als solches noch kein Argument gegen die Tatsache funktionaler Differenzierung, setzt doch die Möglichkeit der Instrumentalisierung die Existenz eben dieser Differenzierung voraus (vgl. 164). Vielmehr ist von Interesse, wie Unterscheidungen einzelner Funktionsbereiche (wie z. B. die zwischen Regierung und Opposition in der Politik) in Organisationsgesellschaften transformiert werden und welche alternativen Binaritäten Organisationen ausbilden (z. B. die Unterscheidung zwischen Formalität und Informalität [Korruption] oder die zwischen Institutionalisierung und Personalisierung, 165 f.). Aufmerksamen Beobachtern ist nicht entgangen, wie stark diese Konstellation – trotz aller Unterschiede 78 – an die spätsowjetische Zeit erinnert. Mark Lipoveckij hat in einem Artikel den Diskurs der technischen Intelligenzija der 1960er Jahre mit dem im neuen Millennium verglichen und auf grundsätzliche Parallelen verwiesen. Zugespitzt formuliert er: all cultural authorities of the liberal mainstream act as substitutes for late Soviet cult figures: Bykov as a substitute for Yevtushenko, Shenderovich – for Zhvanetskii, L ­ ukianenko – for the Strugatskys, Shevchuk – for Vysotsky, and so on …79

Neben sicherlich vorhandenen Analogien in der Selbststilisierung einzelner Autoren lassen sich weitere Indizien für diese Zeitschleifenthese finden. So lässt sich gattungspoetisch eine solche in der Dominanz der Antiutopie ausmachen, aber auch in den wieder an Dynamik gewonnenen Debatten um eine durch den 73 74 75 76

Hayoz 2007, S. 164. Ledeneva 2013. Laqueur 2015. Diese Form der Entdifferenzierung ist zu unterscheiden von global orientierten Dia­ gnosen von Entdifferenzierung, die vor allem mediologisch argumentieren, vgl. Baecker 2007; Stichweh 2014. 77 Hayoz 2007, S. 164. 78 Vgl. für diese Reddaway 2012. 79 Lipovetsky 2013, S. 119.

Jenseits der Metahistoriographie?483

Autor verbürgte Aufrichtigkeit lassen sich Anknüpfungen an die spätsozialistische Zeit herstellen.80 Interessanter als der Versuch der Untermauerung solcher historiosophisch angehauchter Thesen ist die Ursachenforschung hinter diesen Reaktionsmechanismen. Lipoveckij spricht von „‚organic‘ resistance to complexity“,81 deren naives Vertrauen in Aufklärung – didaktisch wie geschichtsphilosophisch – gesellschaftliche Analyse und Gestaltungsmöglichkeiten behindere. In Ergänzung zu diesen eher kulturpessimistischen Denkfiguren soll nun gezeigt werden, welche funktionstheoretischen Wandlungsprozesse sich in Bezug auf den ebenfalls organisationsstrukturell geprägten historiographischen Diskurs ergeben.

Abschied von der Metahistoriographie? Ein 2017 von Andrew Johnston und Kai Wiegandt herausgegebener Sammelband trägt den provokanten Titel The Return of the Historical Novel? Thinking about Fiction and History after Historiographic Metafiction. In der Einleitung begründen sie die These, wonach sich historiographic metafiction sowohl theoretisch als auch literarisch zu erschöpfen beginne. Ihnen scheint, „that we are entering into a new phase in the critical reception of historical fiction as the discussion of the historical novel is rapidly becoming more inclusive, more tolerant and, above all, more diverse“.82 Ihre Überlegungen knüpfen dabei an Elodie Rousselot an, die von „neo-historical fiction“ spricht und diese Spielart des englischen historischen Romans von metahistoriographischen Vorläufern abgrenzt: „the mode of ‘verisimilitude’ in which the neo-historical operates distinguishes it from the more explicitly self-reflective mode of postmodern parody“. Der neohistorische Roman verfolgt dabei eine Synthese zwischen historischer Akkuratesse und der gleichzeitigen Anerkennung und Reflexion der Grenzen dieses Anspruchs.83 Eine ähnliche Spannung zwischen dem Streben nach historischer Authentizität und den Möglichkeiten fiktionalisierter Aneignung historischer Stoffe lässt sich auch in der global boomenden Erinnerungsliteratur beobachten. Aleida Assmann, eine ihrer führenden Theoretikerinnen, spricht von einem „Primat der Erfahrung“, das den Zugang der Erinnerungsliteratur von früheren 80 Vgl. Rutten 2017. 81 Lipovetsky 2013, S. 119. 82 Johnston/Wiegandt 2017, S. 14. Die identitätspolitischen Begriffe der Inklusivität, Toleranz und Diversität deuten dabei auf die gesamtgesellschaftliche Aufwertung der Identitätspolitik hin, die in der Tat einen Abschied von der differenzdominierten historiographic metafiction einzuläuten scheint. 83 Rousselot 2014, S. 4.

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Verortungen III

­ onzeptionalisierungen ästhetischer Autonomie unterscheide. Man habe es hier K mit einem „neuen Genre“ zu tun, in dem zu „Aufmerksamkeit, Sprachvermögen und Fantasie als den primären Antriebskräften der Literatur […] die eigene Erfahrung hinzu[tritt], die zum Anstoß oder Rohstoff der Literatur wird“.84 Der spielerisch-parodistische Modus der von Hutcheon theoretisierten historiographic metafiction scheint dem existentiellen Zeugenschaftsanspruch der Erinnerungsliteratur unangemessen, geht es Letzterer doch um Vergegenwärtigung mit all ihren politisch-moralischen Implikationen, gegenüber der epistemologische Aspekte zurücktreten. Alle drei hier zitierten Diagnosen zielen dabei weniger auf eine Ablösung des metahistoriographischen Paradigmas ab, sondern sind um dessen Komplementierung bemüht. Seine reflexiv-epistemologischen Ansprüche werden zwar weiterhin aufrechterhalten, Authentizität nimmt jedoch eine weitaus wichtigere Rolle ein, was zu einer Neubewertung des Verhältnisses von historischer Faktualität und literarischer Fiktionalität führt. Nun lassen sich diese Diagnosen aus dem angloamerikanischen und deutschen Kontext nicht eins zu eins auf die russische Literatur übertragen. Historiographic metafiction hatte dort, wie in dieser Arbeit bereits mehrfach ausgeführt, weder in der Literaturtheorie noch in der literarischen Praxis jene hegemoniale Stellung inne wie im angelsächsischen Raum. Die Konzentration auf Erinnerungsliteratur erscheint in Teilen als deutsches Spezifikum. Die allgemeine Stoßrichtung einer Transformation des metahistoriographischen Leitparadigmas lässt sich allerdings auch in Russland beobachten. Insgesamt lassen sich dabei für den hier im Fokus stehenden Zeitraum bereits erste Unterscheidungen vornehmen. So heißt es in einem Band zur Zwischenzeit (Nina Weller) der 2000er Dekade noch: „Filme und Romane der Dekade Null haben ein markantes Zeitprofil. Die Vergangenheit hat – als Tradition, als genealogischer Rückhalt, als Gegenstand kollektiver und individueller Erinnerung – eine geringere Bedeutung als in der vorhergegangenen Dekade.“ 85 Während die 2000er Jahre in metahistoriographischer Hinsicht vor allem in Hinsicht auf mediale Erweiterungen des Historischen (vgl. 9.1) und der Frage nach dem Verhältnis von Geschichtlichkeit und Popularität (vgl. 7.1 und 7.2) von Bedeutung sind, steht die nachfolgende Dekade für die literarische Ausarbeitung einer komplementären Metahistoriographie, die historische Geltungsansprüche mit epistemischen Reflexionsansprüchen verbindet. 84 Wie sie etwa René Wellek und Austin Warren vertreten, die Assmann mit der Aussage zitiert, dass zwischen Aufrichtigkeit und Kunst keine Beziehung bestehe (Assmann 2011, S. 216). 85 Witte/Lange/Weller 2012, S. 9.

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Hierfür sind die Projekte Boris Akunins und Aleksej Ivanovs ebenso repräsentativ wie die postmemorialen Werke der Erinnerungsliteratur, die am Beispiel Ljudmila Ulickajas und Marija Stepanovas untersucht wurden. Die Verschiebung hin zur historischen Verisimilitude lässt sich auch in werkbiographischen Entwicklungen erkennen, z. B. bei Aleksej Slapovskij, dessen Roman Neizvestnost’. Roman veka. 1917 – 2017 (Unbekanntheit. Roman eines Jahrhunderts. 1917 – 2017, 2017) sich von der spielerisch-parodistischen Ironie seines Frühwerks merklich unterscheidet. In Unterkapitel 9.2 wurde gezeigt, wie diese Rückbesinnung auf realistische Erzählverfahren mit ihren Wahrheitsansprüchen epische Großformen begünstigt, die in den vergangenen Jahren eine Renaissance erfahren haben. Dies lässt sich auch bei den Literaturpreisen beobachten, wo Werke wie Andrej Volos’ Vozvraščenie v Pandžrud (Rückkehr nach Pandschrud, Buker-Sieger 2013), Zachar Prilepins Obitel’ (Archipel Solovki, Buker-Finalist 2014) oder Michail Gigolašvilis Tajnyj god 86 (Das geheime Jahr, Buker-Finalist 2017) nominiert und prämiert wurden. Als neueres Phänomen soll schließlich auch der Erfolg populär-patriotisch orientierter Autoren genannt werden, die in Russland vielgelesene historische Romane schreiben und sich explizit an die Tradition des 19. Jahrhunderts anlehnen. Hierauf rekurriert Dmitrij Volodichin in seinem Artikel Istoričeskij roman, poterjannyj i vozvraščennyj (Der historische Roman, verloren und zurückgekehrt), wenn er auf den anhaltenden Erfolg von Autoren wie Aleksandr Segen’, ­Gennadi Praškevič, Ol’ga Eliseeva, Leonid Borodin oder Michail Ščukin verweist, dessen Ursachen er in der Zurückweisung des Liberalismus der 1990er Jahre und der Rückbesinnung auf die nationale Erzähltradition des 19. Jahrhunderts ausmacht.87

Metahistoriographie nach der Postmoderne Linda Hutcheons Bestimmung der postmodernen historiographic metafiction scheint wenig geeignet, um diese jüngeren Verschiebungen im Bereich historischen Erzählens einzufangen, was für den russischen Fall noch stärker als für Entwicklungen in westlichen Ländern zutrifft. Die literarisierte Kritik epistemischer Ordnungen, die Hutcheon in ihrer Analyse emanzipatorisch verteidigt hatte, scheint angesichts eines von oben betriebenen Metamodernismus als literarisches Programm weniger attraktiv als noch in den 1990er Jahren. Folgt man Mark 86 Vgl. hierzu Lunde 2019. 87 Volodichin 2008.

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Verortungen III

Amusin, der sich in einem Aufsatz metaprosaischen Tendenzen in der russischen Literaturgeschichte widmet, versinnbildlichen metafiktionale Erzählstrategien momentan epistemische Obdachlosigkeit: Резюмируя, скажем, что в новейшей российской литературе ходы и приемы метапрозы используются преимущественно для сгущения той атмосферы зыбкости, двойственности, которая и является духовной средой обитания человека постмодерна.88

Metahistoriographie wird in einem solchen Umfeld – zugespitzt formuliert – zu einer Verhaltenslehre der Verzweiflung und Verlegenheit, so die Implikation von Amusins Lektüre Pelevins, oder zum Ausdruck einer fast ‚dämonischen‘ Lust am Abgrund.89 Hier stellt sich weniger die Frage, ob und, wenn ja, auf welche Repräsentanten sich solche Zuschreibungen sinnvoll beziehen lassen. Vielmehr geht es darum, dass solche Auffassungen Schlaglichter auf Diskursivierungen von Metafiktion werfen, die deren Prekarität anzeigen. Im Rahmen der von Nünning beschriebenen Funktionspotentiale historischen Erzählens lässt sich folglich eine Refunktionalisierung beobachten. Seit Beginn der 2000er Jahre werden didaktische, hedonistisch-emotionale sowie moralisch-sozial bilanzierende und orientierende Funktionen historischen Erzählens sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption historischen Erzählens vermehrt aktualisiert, während das kognitive Reflexionspotential an Bedeutung verliert. Zeigen lässt sich dies beispielsweise an der Stellung ‚alternativer‘ oder kontrafaktischer Geschichten, deren kritisch-reflexive Potentiale in der Periode des Interregnums, man denke etwa an ein Werk wie Valerij Zalotuchas Velikij pochod za osvoboždenie Indii (Der Große Feldzug zur Befreiung Indiens, 1995), noch bedeutend größer einzuschätzen waren. Mittlerweile sind kontrafaktische Geschichten zum Einfallstor nationalistischer und verschwörungstheoretischer Narrative geworden,90 deren mobilisierende Wirkung deren eher bescheidene kognitiv-kritische Elemente überragen. Diese Entwicklung ist in der kulturwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnose häufig als Resultat einer zynischen Usurpation postmoderner Episteme durch Polittechnolog(i)en gedeutet worden. Ursache dieser Usurpation ist dabei laut Natalia Roudakova der epistemologische Rahmen („epistemological frame“) des 88 Amusin 2016, S. 203. „Resümierend lässt sich sagen, dass in der jüngeren russischen Literatur die Züge und Verfahren der Metaprosa vorrangig als Konzentrat der Atmosphäre der Unsicherheit und Doppeldeutigkeit fungieren, die als geistiger Lebensraum des postmodernen Menschen erscheint.“ 89 Amusin 2016, S. 203. 90 Vgl. hierzu Obermayr/Nicolosi/Weller 2019, S. 2.

Jenseits der Metahistoriographie?487

Kapitalismus, der auf die Schaffung von falschen Werten hinauslaufe.91 Kulturelle Strömungen, die diese Epistemologie teilen, werden zu Ermöglichungsfaktoren des Autoritarismus (159). Die Problematisierung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion wird in Post-Truth Russia (Roudakova) somit, so die Insinuation solcher Argumentationen, zur indirekten Bestätigung einer von oben betriebenen relativistischen Agenda, die sich auch maßgeblich auf die Vergangenheit bezieht. Epistemologische Relativierungen werden auf der einen Seite verkürzt als „constitutive component“ (1) demokratischer Degradation kritisiert, während auf der anderen Seite die Rückbesinnung auf den kritischen Sinn des ursprünglichen Postmodernismus – was auch immer damit gemeint ist – angemahnt wird. Auch Mark Lipoveckij beschwört am Schluss seines Artikels zur postmodernen Pseudomorphose der russischen Politkultur „культурные силы, которые смогут вернуть постмодернизму его смысл, а лучше – вдохнуть в него новые, нецинические и неимперские значения“.92 Was passiert hier? Literarische Verfahren werden repolitisiert und im Rahmen einer moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse (wobei meist der Zynismus das „Böse“ repräsentiert) gedeutet. Daraus folgt indirekt die Aufhebung der spätsozialistischen „Trennung der Verfahren selbst von ihrer ideologischen Funktionalisierung“.93 Postmoderne wird zum literaturgeschichtlichen Sinnbild der politisch gescheiterten Transformation, was implizit und explizit die mit ihr assoziierten Verfahren in Misskredit bringt und die ideologische Refunktionalisierung der Verfahren begünstigt. Damit wird die gesellschaftliche Relevanz dieser Verfahren, zu denen wirkmächtige Spielarten der Metahistoriographie selbstverständlich zählen, zwar ex negativo bestätigt, allerdings auch moralpolitisch vereinnahmt. Das Kontingenz- und Wirkungspotential der Metahistoriographie wird damit beschnitten, womit weniger reale Rezeptionsprozesse gemeint sind (denn diese Behauptung bedürfte einer separaten Untersuchung) als die wissen­schaftlichen Versuche klassifikatorischer Vereinnahmung. Das alles bestätigt freilich die Gültigkeit und Reichweite der Entdifferenzierungsthese, die – so die Ironie der Literaturgeschichtsschreibung – dahin zurückzuführen scheint, wo diese Untersuchung ihren Ausgang genommen hat.

91 Roudakova 2017, S. 222. 92 Lipoveckij 2018. „Kulturelle Kräfte, die dem Postmodernismus seinen Sinn zurückgeben können, oder noch besser – ihm neue, nichtzynische und nichtimperiale Bedeutungen verschaffen können.“ 93 Waschik 2000, S. 82.

Die Intransitivität der Geschichte

Ich möchte zum Schluss der Untersuchung noch einmal einen Schritt zurücktreten und die anfänglich formulierte Leitfrage nach den Formen und Funktionen von Literatur als Medium gesellschaftlicher Selbstbeschreibung im Lichte der Ergebnisse wieder aufnehmen. Eva Horn verweist in ihrer Antwort auf die Frage, ob es Gesellschaft im Text gebe, auf die „spezifisch literarische[] Inszenierung von Wissen“, durch die „Literatur die Konstitutionsbedingungen, Wirkungen und nicht zuletzt die blinden Flecken von Wissensformen sichtbar“ mache.1 Geschichte ist dabei, so meine Ausgangshypothese, keine Wissensform unter vielen, sondern privilegiertes Aushandlungsmedium „epistemologischer Fiktionen“.2 Um diese Aussage vom Verdacht der Dogmatik zu befreien, lohnt ein Seitenblick auf Horns programmatischen Kronzeugen Joseph Vogl. Dieser wählt in seinem grundlegenden Plädoyer Für eine Poetologie des Wissens (1997) ebenfalls die Epistemologie der Geschichte als Ausgangspunkt. In Polemik gegen die von Wilhelm Dilthey vertretene Auffassung der „Vorherrschaft der Referenz“ zeigt er auf, dass der damit verbundene „ontologische[] Vorzug der Geschichtlichkeit nur durch den logischen Vorsprung einer repräsentativen Dimension erhältlich“ sei, ein Vorzug, durch den „die Geschichte im Zentrum ihrer Verfertigung zum Stillstand kommt“.3 Eine Poetologie des Wissens lässt sich hier nicht schreiben, bleibt sie doch an die Vorstellung einer identischen Realität gebunden. Um eine solche schreiben zu können, muss das Abbild im Prozess seiner Verfertigung sichtbar gemacht, von Vorannahmen wie Teleologie und identitärer Korrespondenz sowie von seiner referentiellen Funktion befreit werden (117). Die Vergangenheit ist dabei nicht nur das Objekt, an dem sich dieser Auftrag exerzieren ließe, sondern in Form der Forderungen nach Genealogisierung und Historisierung auch das Medium einer Poetologie des Wissens. Aus diesem Doppelcharakter resultiert ihre dominante Stellung. Mit der Abkehr von der „Vorherrschaft der Referenz“ teilt diese Arbeit die zentrale Prämisse Vogls. In der vorliegenden Arbeit ging es nicht darum, historische Literatur als Medium der Erkenntnisbildung über die Vergangenheit zu rehabilitieren. Ebenso ging es – wie Teilen der erinnerungskulturellen Literaturforschung – nicht darum, mit dem Fokus auf Fragen gesellschaftlicher Identität Literatur als eines der Aktionsfelder größerer gesellschaftlicher Grabenkämpfe zu illustrieren. Diese Forschungsagenda verbleibt im Horizont des von Vogl verabschiedeten „Fluchtpunkt[s] […] einer identischen Realität“ (117). Sie orientiert sich in ihrem Vorrang identitätspolitischer Fragestellungen an einer normativ und 1 Horn 2008, S. 374. 2 Klinkert 2010. 3 Vogl 1997, S. 108.

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Die Intransitivität der Geschichte

als regulativer Idee problematischen Imagination der Möglichkeit gesellschaftlicher Einheit bzw. der Korrespondenz von Text- und Gesellschaftsstrukturen. Die Vorstellung einer solchen Einheit erscheint allerdings im Angesicht hyperkomplexer, polykontexturaler und heterarchischer Gesellschaft 4 überholt, weil sie deren wesentliche Konstitutions- und Funktionsbedingungen unsichtbar macht. In Abgrenzung hierzu hat die Studie die Abkehr von der Referenz und damit verbunden von der Möglichkeit identitärer Stabilisierung als heuristischen Ausgangspunkt gewählt. Im Anschluss an Vogl wird die „Intransitivität“ der Literatur zu deren Grundmerkmal. Literatur generiert als „Auflösungspunkt des Wissens“ ein „atopische[s] Moment“, durch das gesellschaftliche Wissensordnungen reflexiv fassbar werden.5 Dieser Gedankengang weist ins Paradoxe und unterstützt die Annahme, dass Gesellschaft nur ex negativo, aus der Unmöglichkeit ihrer Gesamtbeschreibung beschreibbar wird. Diese (Un-)Möglichkeit der Erreichbarkeit der Gesellschaft findet ihr Analogon, so die Hypothese, in der (Un-)Möglichkeit der Erreichbarkeit von Geschichte. In beiden Fällen lautet die Forschungsagenda, „den Vorrang des Objekts in der diskursiven Dichte der Signifikanten [aufzulösen] und eine Zurückstellung des Wahrheitskriteriums“ (117) zu vollziehen. Hierfür wurde mit dem metahistoriographischen Analysefokus eine Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung gewählt, in deren Zentrum die Reflexionsleistungen der Literatur standen. Mit dieser wissenspoetologischen Akzentverschiebung eröffnet sich ein spezifisches Funktionspotential der Literatur: „Literatur wird so lesbar als Reflexion gesellschaftlicher Transformationen, die zuallererst die Transformation dessen ist, was eine Gesellschaft über sich weiß und wie sie sich epistemisch selbst faßt“. Horn formuliert diese Annahme unter der Prämisse, dass sich in Texten „in nuce die epistemische Struktur sozialer Selbstbeschreibung analysieren“ 6 lässt. Mit dieser epistemischen Struktur ist weder 4 Vgl. hierzu Fuchs 1992. 5 Vogl 1997, S. 125 6 Horn 2008, S. 375, Hervorhebung im Original. Historiographie ist dabei nur eine mögliche Orientierungsgröße, um die Rolle der Literatur als Reflexion gesellschaftlicher Transformationen in den Blick zu nehmen. Mit der Ökologie und der Ökonomie seien nur zwei Komplexe genannt, die in dieser Arbeit wiederholt in ihrer epistemologischen Bedeutsamkeit zur Sprache kamen. Hier könnten künftige wissenspoetologische Forschungen ansetzen und die Thesen der vorliegenden Arbeit zu Figuren der Selbstbeschreibung im russischen Kontext komplementieren bzw. vielleicht auch revidieren. Für den spätsowjetischen Untersuchungszeitraum sei hier als Beispiel das dynamische Forschungsfeld spätsozialistischer Kybernetik genannt, dessen epistemische Potentiale bereits umrissen, allerdings kaum in Bezug auf die Rolle künstlerischer und literarischer Imaginationen und Reflexionen hin untersucht worden sind.

Die Intransitivität der Geschichte493

eine ­objektiv beschreibbare Referenz noch eine strukturdeterminierende Größe gemeint, sondern das Aufspannen eines Bezugsfeldes, aus dem sich die Bedingungen der Möglichkeit von Aussagen (über Geschichte) rekonstruieren lassen.7 Im Teil zur Metahistoriographie im Spätsozialismus wurde in Anknüpfung an jüngere interdisziplinäre Forschungen zur spätsowjetischen Kultur jenseits des „binären Sozialismus“ (Alexei Yurchak) dafür plädiert, diese Periode als Latenzzeit epistemologischer Paradigmenwechsel zu rekonzeptualisieren. Ausgehend von einem breiteren Historical Turn im Spätsozialismus wurde aufgezeigt, wie sich im Poststalinismus ein historiographischer Revisionismus formiert, der über die phantastische Erweiterung der Geschichte (1.1), die Reflexion alltagsspezifischer Aporien historiographischer Forschung (1.2) bis zu den Experimenten mit Zeit-, Gattungs- und Handlungskonventionen (1.3) im Mauvismus reicht und eine autonome Sphäre literarischer Historiographie reklamiert. Mittels eines scaling räumlicher Betrachtungsperspektiven wurde außerdem gezeigt, wie auf Basis einer Wiederaneignung lokaler, regionaler und nationaler Traditionen und Formen eine Vielfalt neuer Weisen historiographischer Welterzeugung entstehen, die die jeweiligen Dispositive poetologisch fruchtbar machen, sei es über die Entwicklung einer mikrologischen Dinghistoriographie (2.1), die Entwicklung alternativer fragmentarischer provinzieller Existenzweisen (2.2) oder über das Schöpfen historiographischer Potentiale aus Übersetzungsprozessen (2.3). Die spätsowjetische Literaturgeschichte wurde auf diese Weise als Teil globaler „Kontinentalverschiebungen“ lesbar, die sich von etablierten deformationstheoretischen Lesarten emanzipieren und neue gesellschaftliche Funktionspotentiale des Literarischen eröffnen. Der Teil zur Metahistoriographie im Interregnum widmete sich historiographischen Vergegenwärtigungen während des Zeitraums der Perestrojka und des ersten postsowjetischen Jahrzehnts, der im Rückgriff auf Antonio Gramsci epochal rekonzeptualisiert wurde. Im Kontext der faktographischen Euphorie der Perestrojka-Jahre standen literarische Verhandlungen von Artefaktualität in ihrer Doppelrolle als Generator ästhetischer Autonomieansprüche und als Beispiel der Entwicklung neuer gesamtgesellschaftlicher Geltungsansprüche und Auffang­ semantiken im Fokus und wurden am Beispiel poetischer Dokumentarizität (4.1), literarischer Manuskriptfiktion (4.2) und des Umgangs mit ­Fußnoten (4.3) 7 Beispiele aus der vorliegenden Arbeit wären die Ausführungen zur mauvistischen Kritik der Zeitbegrifflichkeit (1.3), zum Archiv als Ermöglichungsgröße der Historiographie (5.1) sowie strukturgenerierende Konzepte wie Serialität (7.1), Ereignis (8.), Störung/ Katastrophe (8.1) oder Revolution (8.3).

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Die Intransitivität der Geschichte

­synchron und diachron situiert. In Weiterführung des raumpoetischen Ansatzes des zweiten Kapitels wurden in der Folge das Archiv, das Museum und das Irrenhaus als paradigmatische Orte institutioneller Verschiebungen der Historiographie untersucht, wobei neue Archivverständnisse (5.1) sowie Möglichkeiten metaphysischer (5.2) bzw. religiöser Sinngebung (5.3) in Museum und Irrenhaus an einem intermedialen Korpus extrapoliert wurden. Die historiographische Binnendynamik des Interregnums wurde abschließend als Zusammenspiel neuer ökonomischer, politischer und rezeptionsgeschichtlicher Einflussgrößen erklärt und im Spannungsfeld von Reflexion, Reintegration und Restauration trianguliert. Der Teil zur „Metahistoriographie in der Metamoderne“ fokussierte die Entwicklungen seit der Millenniumswende, die als Metamoderne konzeptionialisiert wurde. In Weiterführung der in Unterkapitel 6.1 entwickelten Gedanken zur Bedeutung neuer marktbasierter Rezeptionshorizonte wurde aufgezeigt, wie die populärkulturellen Erzählformen der Serialität (7.1), des Kriminalromans (7.2) und der Kinemagiographie (7.3) auf virtuose Weise als Generatoren und reflektierende Instanzen von historiographischen Unbestimmtheiten fungieren. Die globale Renaissance des Ereignisparadigmas wurde am Beispiel der Kategorien der Störung (8.1), der Ähnlichkeit (8.2) und der Revolution (8.3) als historische Wissensfigur für den russischen literarischen Kontext konturiert. Abschließend wurde gezeigt, wie mediale Verschiebungen (9.1) hin zu Parahistorisierung und Plurimedialisierung sowie die Rückkehr metanarrativer Großformen (9.2) in der Metamoderne einen Entdifferenzierungsprozess in Gang setzen, der Refunktionalisierungen historischen Erzählens jenseits der Metahistoriographie (9.3) befördert. Wie lassen sich die Untersuchungsergebnisse der Arbeit nun aus diesen wissens­poetologisch reformulierten Analyseperspektiven lesen? Hierfür möchte ich abschließend die drei in der Einleitung genannten Untersuchungsdimensionen adressieren und einige für den spezifischen russischen sowie den allgemeineren theoretischen Kontext weiterführende Schlussgedanken formulieren.

Poetologische Schlussfolgerungen Eine der poetologischen Prämissen der Arbeit entkoppelte das Metapräfix vom Epochenparadigma der Postmoderne und plädierte stattdessen einerseits für Metaizität als narratologischen Grundbegriff und andererseits für dessen konsequente Historisierung. Insbesondere Letzteres scheint für den russischen Kontext zielführend und hat erste Anhaltspunkte für eine noch zu schreibende Begriffsgeschichte des Metapräfixes in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte geliefert.

Poetologische Schlussfolgerungen495

Begrifflichkeiten wie historiographic metafiction oder Metamoderne wurden hierbei als analytische Begrifflichkeiten historisch wie diskursiv kontextualisiert. In Bezug auf eine mögliche Erweiterung der narratologischen Theoriebildung der Metahistoriographie, die vor allem mit dem Schaffen Ansgar Nünnings verbunden ist, fällt im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung vor allem die starke Stellung räumlicher Aspekte ins Auge. Diese wurden im Rahmen dieser Arbeit im Feld postkolonialer Raumtheorien im Hinblick auf die Eigenlogiken dörflicher, regionaler, (multi-)nationaler und eurasischer Semantisierungen untersucht. Im weiteren Umfeld umweltreferentieller Metahistoriographie eröffnen sich hier Vergleichshorizonte innerhalb und außerhalb des russisch-sowjetischen Kontexts. Dies betrifft rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen nach der sowje­ tischen Aneignung der Microstoria oder des Magischen Realismus ebenso wie weltliterarisch orientierte mögliche Projekte einer komparatistischen Reflexion der Kategorien kolonialer und postkolonialer Metahistoriographie. Im Lichte der sowjetischen Kulturgeschichte erscheint der Zusammenhang von „innerer Postkolonialisierung“ (Kukulin) und Historiographie als lohnendes Untersuchungsfeld. Ein weiterer raumpoetischer Aspekt der Metahistoriographie betrifft die institutionelle Komponente. In Bezug auf das Museum und das Irrenhaus ist in der slavistischen Forschung in den vergangenen Jahren motivgeschichtliche Pionierarbeit geleistet worden, die sich erweitern und im Hinblick auf historiographische Aspekte der Erkenntnis- und Bewusstseinsbildung konkretisieren ließe. Auch an dieser Stelle scheint ein Vergleich russischer Raumsemantisierungen mit Entwicklungen in anderen postsowjetischen Staaten und auf globaler Ebene lohnend. Dieser Aspekt leitet über zur Aufforderung, Metahistoriographie stärker als literarische Strategie der Problematisierung konkreter institutioneller und textueller Wissensordnungen zu betrachten. Dass Literatur auch im Hinblick auf geschichtswissenschaftliche Arbeitstechniken wie den Umgang mit Manuskripten, Oral-History-Quellen oder Fußnoten ein epistemisches Reflexionspotential besitzt, gilt es anzuerkennen, an einem erweiterten Werkkorpus zu studieren und um weitere mögliche Untersuchungskategorien wie den epistemischen Status nichttextueller Überlieferungen zu ergänzen. In Bezug auf Fragen konkreter Textorganisation, wie sie insbesondere das Unterkapitel zu den Fußnoten behandelte, kann die weiterhin virulente Debatte um das Verhältnis von literarischer Historiographie und Geschichtswissenschaft bereichert werden. Orientiert man sich an dem von Hayden White entwickelten und von Ansgar Nünning weiterentwickelten Katalog archetypischer historiographischer Kategorien, wäre zu überlegen, inwiefern dieses Korpus an bestimmten Stellen um einzelne Elemente – z. B. in Bezug auf Whites Tropologie der Historiographie

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Die Intransitivität der Geschichte

um die Enumeratio (7.3) – bzw. um ganze Untersuchungskategorien wie die der Emotionalität erweitert werden könnte. Affektpoetiken wie Melancholie oder Nostalgie wird traditionell ein hohes historiographisches Reflexionspotential 8 zugeschrieben, das sich systematisieren ließe. Die Ausführungen haben ebenfalls erkennen lassen, dass eine stärkere narratologische Berücksichtigung der quantitativen Dimension (Größe, Länge) der Historiographie, die bei Dmitrij G ­ alkovskij, aber auch bei Aleksej Ivanov eine zentrale Rolle spielt, sinnvoll sein könnte. Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Bereich historischen Erzählens, die durch Prozesse der Intermedialisierung und gattungspoetischen Entgrenzung geprägt sind, erscheint die spezifische Sujetstruktur serialisierter Erzählformen oder die Fabelbildung kinematographischer Erzählformen in ihrem historiographischen Funktionspotential unterbestimmt. Deren Einflüsse wirken dabei weit über (in-)direkte textuelle oder motivische Anspielungen hinaus. Die interaktive Komponente an Computerspielen orientierter Erzählformen, vor allem aber die auch von russischen Schriftstellern verfolgten historiographischen Webprojekte stellen ein neues Untersuchungskorpus dar, das sich mit den Kategorien der traditionellen Narratologie kaum mehr beschreiben lässt. Angesichts einer in Russland deutlich erkennbaren Tendenz zur Parahistorisierung eröffnet sich hier eine eigene, zwingend popkulturell sensibilisierte, Forschungsagenda.

Literaturgeschichtliche Schlussfolgerungen In Bezug auf die literaturgeschichtlichen Konsequenzen der Untersuchung steht in erster Linie ein Plädoyer für eine umfassende Rehabilitation der Gattungsgeschichtsschreibung. Insbesondere für die spätsowjetische Zeit erscheint sie als unverzichtbare Grundlage für eine Reevaluation und globale Reintegration der sowjetischen Literaturgeschichte. Dies gilt für den historischen Roman im Allgemeinen und seine Unterformen wie den dokumentarischen historischen Roman oder den phantastischen historischen Roman im Besonderen. Durch das Fehlen solcher Gattungsgeschichten bleiben Untersuchungen, die sich einzelnen Autoren bzw. einzelnen Motiven im Umfeld der Historiographie widmen, zu häufig in literaturgeschichtlicher Selbstisolation gefangen und realisieren ­wertvolle Vergleichspotentiale nicht. Als Ausgangspunkt dieser Bemühungen, die die ­vermeintliche Epochengrenze des Zerfalls der Sowjetunion weitaus weniger 8 Deren werturteilsfrei zu würdigendes Potential gilt es herauszuarbeiten, wird doch gerade die Nostalgie gegenwärtig als bloßes Regressionsphänomen verurteilt (z. B. in Zygmunt Baumans Essay Retrotopia [2017]).

Literaturgeschichtliche Schlussfolgerungen497

ernst nehmen sollte, als dies momentan literaturgeschichtlich der Fall ist, bietet sich der Zeitraum ab Mitte der 1960er Jahre als Umschlagspunkt und Zäsur sowjetischer Selbstbeschreibungen an. Dies gilt es, analog zu den Hypothesen einer metakulturellen Wende in der vorliegenden Arbeit, für weitere Gattungen wie die dokumentarische Literatur zu konkretisieren. In Bezug auf entwicklungsgeschichtliche Trajektionslinien lässt sich aus der vorliegenden Arbeit ein Plädoyer für eine vektorielle Literaturgeschichtsschreibung ableiten. So würde es sich anbieten, den Raumvektor peripherer Historiographie, der hier von der Dorfprosa des Spätsozialismus bis zur zeitgenössischen Kinemagiographie aufgespannt wurde, in theoretischer Hinsicht zu systematisieren und an einem erweiterten Werkkorpus zu beleuchten. An die Stelle einer Gesamtintegration heterogener literarischer Phänomene träten so „mehrere[] miteinander verknotete[] Mikro-Literaturgeschichten“,9 die sich an einzelnen Knotenpunkten schneiden und gesellschaftlich wirkmächtig werden würden. Die teleologischen Untertöne, die der systemtheoretische Ansatz mit sich bringen mag,10 sollen dabei zwar reflektiert, nicht aber unbedingt zum Verstummen gebracht werden, stellen sie doch ein kategoriales Gegengewicht zum Ausrufen immer neuer literaturgeschichtlicher „Zwischenzeiten“ im Tynjanov’schen Sinne dar, das in jüngster Zeit beobachtet werden konnte und in der Multiplikation seiner epochalen Diagnosen den ursprünglichen evolutionsgeschichtlichen Sinn dieser Kategorie ad absurdum zu führen droht. Als drittes literaturgeschichtliches Desiderat sei schließlich die Aufwertung rezeptionsgeschichtlicher Fragen genannt. Die russistische Forschung privilegiert innerrussische Intertextualitätslinien und scheint die Wirkmächtigkeit ausländischer sowie populärkultureller Einflussgrößen systematisch zu unterschätzen. Für die postavantgardistische sowjetische Zeit scheinen weiterhin Gedanken einer Schließung des literarischen Feldes leitend, die die Rezeption zeitgenössischer westlicher Literatur weitgehend ignorieren.11 In der vorliegenden Arbeit konnten Spuren einzelner Rezeptionslinien gezeichnet werden, die man in Bezug auf die untersuchten Autoren sowie auf ein anderes Korpus weiterführen sollte. Dies könnte auch dazu beitragen, die sowjetisch-russische Literatur international anschluss­ fähiger zu machen und aus dem isolierten sowjetischen Bezugsfeld zu lösen. Im Hinblick auf die zeitgenössische Literatur wird außerliterarischen ­Orientierungsgrößen wie dem Fernsehen, Computerspielen oder dem Kino nicht die Aufmerksamkeit gezollt, die ihnen bei intermedial sozialisierten Autoren zukommt. 9 Kazalarska 2018, S. 31. 10 Vgl. für diese Kritik Wagner-Egelhaaf 2015, S. 34. 11 Eine Ausnahme wäre Gilburd 2018.

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Die Intransitivität der Geschichte

Gesellschaftspoetische Schlussfolgerungen Die Einnahme einer Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung etabliert eine Ebenendifferenz zwischen Beobachter und Beobachtetem, die konstitutiv für meine methodologische Konfiguration ist. Die zweite Ordnung sieht die blinden Flecken auf der Ebene der ersten Ordnung, prägt gleichzeitig aber auch eigene blinde Flecken aus, die der Selbstbeobachtung unzugänglich sind. Die Orientierung an solchen textintern und textextern ausgehandelten Differenzen und Paradoxien setzt den Ansatz der Arbeit in Spannung zu Fragestellungen, die sich vorrangig auf die Suche nach textuellen und gesellschaftlichen Identitäten begeben. Hieraus folgt ein Plädoyer für die Aufwertung der Form gegenüber inhaltlich orientierten Fragestellungen. Das dem Mittelalter gewidmete Unterkapitel mag hier zur Veranschaulichung dienen. Hier ging es weniger darum, die Bedeutsamkeit einzelner (vermeintlicher) Epochencharakteristika für die Gegenwart zu aktualisieren, als vielmehr darum, die epistemischen Implikationen des Mittelaltertopos herauszuarbeiten und auf der Formebene sichtbar zu machen. Die Beschreibung einzelner Figuren und Epochen wird ersetzt durch die Untersuchung der poetischen Verarbeitung sujetbildender Kategorien (z. B. Ähnlichkeit, Revolution), die als Strukturierungsinstanz fungieren. Was-Fragen weichen Wie-Fragen, die weniger starke normative, referentielle und ontologische Vorannahmen mit sich bringen. Eine Schwachstelle des systemtheoretischen Ansatzes betrifft die Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse der Entdifferenzierung. Lässt sich im ersten und zweiten Teil der Untersuchung die Dynamik des künstlerisch-literarischen Systems noch gut mit Funktionszuschreibungen und evolutionären Grundannahmen aus der Systemtheorie fassen, so sind wir im dritten Teil auf eine Reihe nicht nur literarischer Phänomene gestoßen, die sich dieser Einordnung entziehen. Deren ästhetische Komplexität und gesellschaftliche Bedeutsamkeit verbietet es, sie als verspätete Regressionsphänomene abzuqualifizieren. Die Selbstbeschreibungsmuster der jüngsten russischen Literatur stellen in dieser Hinsicht eine literaturtheoretische Herausforderung dar, die weder mit der unentschiedenen Prolongierung von Zwischenräumen und Zwischenzeiten noch durch ein Recycling immer neuer Postpräfixe bewältigt werden kann. Dabei sind solche Phänomene der Entdifferenzierung keine Rückkehr zum status quo ante, sondern wirken als Generatoren neuer ästhetischer Weltverhältnisse. Um diese zu konturieren, ist eine Reihe werkbiographischer und gattungspoetischer Studien vonnöten, um die hier formulierten ersten Ergebnisse in einem breiten Vergleichshorizont zu situieren. Durch diachrone Vergleichsfolien zu früheren Formen des „Literaturzentrismus“ könnten auf diesem Wege die Prozesse der Entdifferenzierung genauer bestimmt werden.

Gesellschaftspoetische Schlussfolgerungen499

Mein letzter Hinweis geht in eine ähnliche Richtung. Die Untersuchung zur Metahistoriographie könnte als Ausgangspunkt dienen, analoge Metabegrifflichkeiten zu bilden und ihre Funktion als Instanz der Reflexion gesellschaftlicher Transformation auf eine breitere empirische Basis zu stellen. Hierfür bieten sich – den hier angesetzten Untersuchungszeitraum überschreitend – ökologische und ökonomische Fragestellungen an. In Anknüpfung an jüngere Forschungen zur literarischen Meteorologie 12 ließe sich etwa fragen, wie Literatur als Metameteorologie Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation über Wetter und Klima reflektiert. Metaisierung wird damit aus dem postmodernen Bezugsfeld herausgelöst und als reflexive Grundinstanz von Transformationsprozessen lesbar. Diese Funktion an einem paradigmatischen Untersuchungsfeld aufzuzeigen, war die Absicht der Arbeit.

12 Gamper 2014.

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