Die Leugnung von historischen Tatsachen als Straftatbestand im internationalen Vergleich [1 ed.] 9783428585953, 9783428185955

Die Arbeit liefert eine umfangreiche rechtsvergleichende Behandlung der Pönalisierung der Leugnung historischer Tatsache

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Die Leugnung von historischen Tatsachen als Straftatbestand im internationalen Vergleich [1 ed.]
 9783428585953, 9783428185955

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 307

Die Leugnung von historischen Tatsachen als Straftatbestand im internationalen Vergleich Von

Afroditi Voli

Duncker & Humblot · Berlin

AFRODITI VOLI

Die Leugnung von historischen Tatsachen als Straftatbestand im internationalen Vergleich

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 307

Die Leugnung von historischen Tatsachen als Straftatbestand im internationalen Vergleich Von

Afroditi Voli

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, München Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-18595-5 (Print) ISBN 978-3-428-58595-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Februar 2020 als Dissertation angenommen. Später erschienene Quellen konnten vereinzelt noch bis Mai 2022 berücksichtigt werden. Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinem hochverehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin. Er hat das Entstehen dieses Werkes über die Jahre hinweg mit immensem Engagement gefördert. Dank seiner Begeisterung für die Einblicke in möglichst viele Rechtskreise und seiner scharfsinnigen Auseinandersetzung mit anspruchsvollen dogmatischen Fragen durfte ich nicht nur neue wissenschaftliche Herausforderungen kennenlernen, sondern auch Begeisterung für die Wissenschaft entwickeln. Seine sorgfältige Betreuung, seine konstruktiven Anregungen, seine Ermutigung und seine stete Gesprächsbereitschaft haben das Gelingen meiner Arbeit gewährleistet und meine wissenschaftliche Integrität geprägt. Meine Dankbarkeit kann nicht in Worte gefasst werden. Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens und dessen rasche Erstellung. Frau Professorin Dr. Petra Wittig und Herrn Professor Dr. Ulrich Schroth danke ich für die interessante Diskussion im Rigorosum am 3. September 2021. Besonders zu danken habe ich Frau Dr. Imme Roxin für ihre Hilfe bei der Verwirklichung meines Rigorosums inmitten der Pandemie. Für die großzügige finanzielle Unterstützung während meines Promotionsstudiums bedanke ich mich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zudem möchte ich mich bei der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg bedanken, die meine Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss gefördert hat. Für die Aufnahme in die renommierte Schriftenreihe „Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge“ danke ich den Herausgebern Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Friedrich Christian Schroeder und Herrn Professor Dr. Andreas Hoyer. Für die Hilfe bei der Recherche der italienischen Literatur möchte ich Herrn Professor Antonio Cavaliere herzlich danken. Herrn Ilias Fountoglou, der mir während meines Promotionsstudiums mit väterlicher Fürsorge zur Seite gestanden hat, danke ich herzlich. Sehr zu danken habe ich zudem meinen Freunden und Kollegen Herrn Nikolaos Pavlakos und Frau Olga Kakouri. Die vorliegende Arbeit wurde am 21. Oktober 2022 mit dem Fakultätspreis 2021 der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München ausge-

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Vorwort

zeichnet. Der Fakultätspreis ist Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin gewidmet, der mir den Weg gezeigt hat. Der allergrößte Dank gebührt meiner Familie: meiner Mutter, Aikaterini Alexopoulou-Saromata, meinem Bruder, Theodoros Volis, und meiner Großmutter, Eleni Alexopoulou-Saromata (in memoriam). Ohne ihre bedingungslose Unterstützung in guten und in schwierigen Lebenslagen hätte ich diesen langen Weg nicht gehen können. Diese Arbeit widme ich meiner Mutter: Ich verdanke ihr alles. Athen, im Dezember 2022

Afroditi Voli

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die „Leugnung von historischen Tatsachen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Themeneingrenzung und -abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stand der rechtswissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinte Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken . . . 3. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz . . . . . . . . . . . . 4. Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsakte des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Zusatzprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Rahmenbeschluss 2008/913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kritische Einschätzung des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – die Aufnahme des Negationismus in die angelsächsische gerichtliche Sphäre und die Spruchpraxis internationaler Organisationen als Indikator der inkohärenten frühen Phase der Menschenrechtskommission 2. Die ersten Urteile: Das Verbot der Holocaustleugnung als erforderlicher Schutz demokratischer Prinzipien – Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entwicklung der Rechtsprechung durch kumulative Anwendung des Art. 10 EMRK und der Missbrauchsklausel (Art. 17 EMRK) . . . . . . . . . . . a) Die Berufung auf die Art. 10 und 17 EMRK als nächste Phase der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik der zweiten Phase der Spruchpraxis der Menschenrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Leugnung historischer Tatsachen als grundlegenden Werten der Konvention widersprechende Äußerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das obiter dictum im Fall Lehideux als Orientierungspunkt der jüngsten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Garaudy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

IV.

5. Die historische Erinnerung als „Res judicata“: die geschichtsbezogene Rechtsprechung des EGMR als historische Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . 6. Das obiter dictum Lehideux als allgemein geltender Ansatz? – Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbegrenzung in Fällen zur Leugnung von unbestreitbaren historischen Fällen außer dem Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Bestreiten der rechtlichen Charakterisierung als negationistische Äußerung: der Fall Perinçek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Art. 17 EMRK durch die obiter dicta des EGMR zur Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . Einzelne Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Albanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Andorra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Armenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bangladesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bosnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Bulgarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Chile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geschichtliche Entwicklung des Tatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die ersten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die zweite Phase: die ausdrückliche Erfassung der Genozidleugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI . . . . . . . . . . . . 10. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Kolumbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Malta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Nordmazedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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27. Ruanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 28. Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 29. Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 30. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 31. Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 32. Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 33. Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 34. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts (Tribunal Constitucional) als Wendepunkt der Debatte über die Kriminalisierung des Leugnens von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 35. Tschechien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 36. Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 37. Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 38. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 39. Zypern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 40. Andere Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich . . . . . . . . . 114 1. Handlungsvariante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Historische Materie als Tatbestandsmerkmal der Leugnungstatbestände (g.a.: gerichtlich anerkannt, p.a.: parlamentarisch anerkannt) . . . . . . . . . . . 115 3. Kommunikationsmittel der Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . . . 117 4. Identifizierungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Was darf der Staat unter Strafe stellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Alternative Ansätze zur Legitimation von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Jakobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Hörnles Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Harm Principle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 d) Die Sozialschädlichkeit als Legitimationskriterium bei Amelung . . . . . 127 e) Mediating principles als Strafbarkeitsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 f) Verfassungsrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 g) Die Rechtsgutstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Die frühe Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 bb) Die Rechtsgutstheorie heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (1) Die systemimmanente Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (2) Die personale Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (3) Die gesetzgebungskritische Rechtsgutstheorie . . . . . . . . . . . . . . 136 cc) Kritik der Rechtsgutstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhaltsverzeichnis II. III. IV.

Das geschützte Rechtsgut der Bestrafung der Holocaustleugnung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Das geschützte Rechtsgut der Bestrafung der Holocaustleugnung in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Der öffentliche Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Der Begriff des öffentlichen Friedens in der Rechtsprechung . . . . . . . . 156 b) Der öffentliche Frieden im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 c) Der öffentliche Frieden als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Die Eignung zur Friedensstörung als Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Die Konturlosigkeit des Begriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 cc) Feststellbarkeit der subjektiven und objektiven Komponente des öffentlichen Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 dd) Kein Schutz von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 ee) Der Schutz vor einer Vergiftung des psychischen Klimas . . . . . . . . 170 ff) Die Vagheit des Friedensbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 gg) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Der Inhalt des Begriffes der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 aa) Die Menschenwürde nach Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Der moderne Begriff der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc) Verankerung der Menschenwürde im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . 182 dd) Der Inhalt der Menschenwürde im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 ee) Die Menschenwürde in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 d) Die Menschenwürde als Rechtsgut im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 e) Zur Argumentation über die Ablehnung der strafrechtlichen Schutzwürdigkeit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 f) Die Legitimation der kollektiven Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 g) Verletzung der Menschenwürde durch Äußerungen? . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Herangehensweise der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 bb) Die Bejahung eines Menschenwürdeangriffes bei Äußerungen als „kleine Münze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 h) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1, 3 StGB 202 aa) Angriff auf die Menschenwürde bei Aufstachelung zum Hass . . . . . 202 bb) Angriff auf die Menschenwürde bei Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 cc) Angriff auf die Menschenwürde bei Beschimpfung, böswilliger Verächtlichmachung und Verleumdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Inhaltsverzeichnis

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dd) Angriff auf die Menschenwürde beim „schlichten“ Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 i) Das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde als Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Die Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 aa) Allgemeine Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Die Erinnerung als Bestandteil der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 cc) Die Identität als Rechtsgut im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 dd) Zabels Identitätsschutz qua Erinnerungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Das Recht auf Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 c) Die Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 aa) Der Begriff der Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Die Ehre als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 cc) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 (1) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB . . . . 224 (2) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB . . . . 225 (a) Die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Beeinträchtigung der Kollektivehre? . . . . . . . . . 225 (b) Die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Beeinträchtigung der Ehre unter einer Kollektivbezeichnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 d) Postmortaler Persönlichkeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 aa) Standpunkt der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Der Begriff des postmortalen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . 230 cc) Das postmortale Persönlichkeitsrecht als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 dd) Das postmortale Persönlichkeitsrecht als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4. Die historische Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Der Schutz der Wahrheit im Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 b) Die Pflicht zur Wahrheit als moralische Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c) Die Bestrafung der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Wahrheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 d) Die historische Wahrheit als symbolisches Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Roxin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Fronza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 cc) Die Bestrafung der Leugnung historischer Tatsachen als Symbolik in den Gesetzesmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

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Inhaltsverzeichnis 5. Andere Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 V. Die Ermittlung des geschützten Rechtsgutes des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . 251 VI. Wirkung der Tathandlungen auf die Angriffsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Der Begriff des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . 255 2. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Rechtsgut . . . . . . . . 256 3. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 VIII. Die Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Sicherheit als Staatsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Das Grundrecht auf Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Sicherheitsverwahrung als Feindrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 5. Sicherheit als Verfassungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 6. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Grundrecht auf Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Recht auf Sicherheit als Feindrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 7. Verfassungsrechtliche Grundlage eines Rechtes auf Sicherheit – Schutzpflicht des Staates als Recht auf Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 8. Die Sicherheit als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Die öffentliche Sicherheit als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 b) Die persönliche Sicherheit als Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 9. Die Sicherheit als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . 279 IX. Freiheit von Furcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Entstehungsgeschichte des Rechts auf Freiheit von Furcht . . . . . . . . . . . . . 280 2. Die Freiheit von Furcht im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 3. Die Freiheit von Furcht in der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . 283 4. Die Herleitung der Freiheit von Furcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 5. Die Freiheit von Furcht als Rechtsgut im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 6. Die Freiheit von Furcht als Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . 291 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 X. Straftheoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Verzicht auf Vergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 2. Die Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 a) Das schlichte Bestreiten von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Das aufhetzende Bestreiten von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . 294 3. Die Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . 295

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b) Die schlichte Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . 297 4. Die expressive Funktion der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 XI. Deliktssystematische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Die Einteilung des § 130 Abs. 1 und 3 StGB im Schrifttum . . . . . . . . . . . . 300 2. Die Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB in der Rechtsprechung . . . 302 3. Kritische Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4. Die Eignungsklausel als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 5. Gefahrmaßbestimmung durch die Eignungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 6. Die „Eignungsdelikte“ in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Die Ansicht Schröders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Kritik an Schröders Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Die Auffassung von Gallas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 d) Kritik am Gallas’schen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 e) Hoyers Eignungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 f) Kritik an Hoyers Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 g) Weitere Auffassungen in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 h) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7. Die einzelnen Deliktsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 a) Konkrete Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 b) Abstrakte Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 c) Abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 8. Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) Der § 130 Abs. 1 StGB als Verletzungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 b) Der § 130 Abs. 1 StGB als Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 c) Der § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 d) Der § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 e) Die Volksverhetzung als Vorbereitungshandlung eines Völkermords . . . 328 f) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 C. Verfassungsrechtliche Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 I. Die schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB) . . . . 331 1. Der Standpunkt der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Der Standpunkt im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 3. Schutzbereich des Art. 5 GG – Tatsachenbehauptungen und Werturteile 332 4. Kritik der Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen – Die historische Tatsache als Grauzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Die Sonderrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 b) Die Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 c) Die Kombinationslehre des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . 337

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Inhaltsverzeichnis d) Würdigung der Kombinationslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 aa) Kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 bb) Lösungsansatz: Gesetzgebungskritische Kombinationsformel . . . . . 340 II. Die Schranke des Jugendschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 III. Weitere verfassungsrechtliche Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 IV. Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. § 130 Abs. 1 StGB als allgemeines Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2. Verhältnismäßigkeit des § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 a) Die Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Die Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 c) Die Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 V. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Die Bestrafung des Negationismus als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 3. § 130 Abs. 1, 3 StGB und Wissenschaftsfreiheit – Stellungnahme . . . . . . . 351 a) § 130 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 b) § 130 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 VI. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 VII. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

D. Zusammenfassung und Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 II. Kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 1. Vorschläge an den Rechtsanwender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2. Vorschläge an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 a) Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 aa) Friedensklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 bb) Menschenwürdeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 cc) § 130 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 dd) Reformvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Abkürzungsverzeichnis DtA a.a.O. Abs. AEUV a.F. AG AktG Antragsnr. AöR Art. AT Aufl. BA BayObLG BayObLGSt

Dijai~lata tou Amhq~pou am angegebenen Ort Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtgericht Aktiengesetz Antragsnummer Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bundesarchiv Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen BayVBI Bayerische Verwaltungsblätter BBC British Boradcasting Corporation Bd. Band BeckOK DatenschutzR Beck’scher Online-Kommentar Datenschutzrecht BeckOK InfoMedienR Beck’scher Online-Kommentar Informations- und Medienrecht BeckRS Beck-Rechtsprechung BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BR Bundesrat BT Bundestag/Besonderer Teil BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGG Gesetz über das Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts CCPCG Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide CCPR Human Rights Committee CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CE Communauté Européenne COE Council of Europe CSU Christlich Süddeutsche Union DB Deutscher Bundestag DC décision de conformité

16 DDHH ders. dies. DIMR Drs. DtZ d. Übers. DW ebd. ECRI EGMR EJIL EMRK et al. EU EUV e.V. f. FAZ FBiH FDP ff. Fn. FS g.a. GA GG gr. GRUR GS GSSt Hdb. HGB HK-GS HRRS Hrsg. i.Br. i. e. S. Ifex Ifop IJCJS IMT Inc. i.S. i.V.m. JA

Abkürzungsverzeichnis derechos humanos derselbe dieselbe Deutsches Institut für Menschenrechte Drucksache Deutsch-Deutsch Rechts-Zeitschrift deutsche Übersetzung Deutsche Welle ebenda European Commission against Racism and Intolerance Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of International Law Europäische Menschenrechtskonvention et aliae Europäische Union Vertrag über die Europäische Union eingetragener Verein folgende (Seite) Frankfurter Allgemeine Zeitung Föderation Bosnien und Herzegowina Freie Demokratische Partei fortfolgende Fußnote Festschrift gerichtlich anerkannt Goltdammer’s Archiv Grundgesetz griechisch Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Großer Senat in Strafsachen Handbuch Handelsgesetzbuch Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, Handkommentar Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (CHB) Herausgeber im Breisgau im engen Sinne International Freedom of Expression Exchange Institut français d’opinion publique International Journal of Criminal Justice Internationaler Militärtribunal Incorporation im Sinne in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter

Abkürzungsverzeichnis JCP JI JR JuS JW JZ JZG Kap. KG KK-OWiG KOM KPD KritV KZ LebMG LG LK-StGB LPK-StGB MDR MMR MüKoStGB m.w.N. NJ NJW NJW-RR NK-StGB No. NPD Nr. NS NSDAP NStE NStZ NStZ-RR NVwZ NZA OLG OVG p.a. QPS RechtsA RegE RES RG RGSt Rn. S.

17

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18 s. SK-StGB SK-StPO sog. span. SPD SS Ss SSW-StGB StGB StPO StR StraFo StrÄndG StV tsch. u. a. UdSSR UN UN Doc. US USA USAK v. Chr. VerbotsG VG vgl. VOA Vol. Vor vs. oder v. VStGB VVD VVDStRL WpHG WW2 ZaöRV z. B. ZIS zit. ZRP ZStW ZUM-RD

Abkürzungsverzeichnis siehe Systematischer Kommentar zum StGB Systematischer Kommentar zur StPO sogenannte spanisch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Schriftsatz Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafrecht Strafverteidiger Forum Strafrechtsänderungsgesetz Strafverteidiger tschechisch unter anderen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Document United States United States of America Uluslararası Stratejik Aras¸tırma Kurumu vor Christus Verbotsgesetz Verwaltungsgericht vergleiche Voice of America Volume Vorbemerkung versus Völkerstrafgesetzbuch Volkspartij voor Vrijheid en Democratie Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wertpapierhandelsgesetz Zweiter Weltkrieg Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

Einleitung I. Die „Leugnung von historischen Tatsachen“ Darf es eine strafrechtlich abgesicherte historische Wahrheit geben? Um zum Kern der Problematik dieser Arbeit zu gelangen, ist eine Aufklärung dieses Begriffes erforderlich. Die Darstellung einer historischen Tatsache ist zeitgebunden. Der Peloponnesische Krieg war für Thukydides „groß“ und „denkwürdiger“ als andere Kriege, und „nie wurden so viele Städte erobert und entvölkert […]; nie gab es so viel Flüchtlinge, so viele Tote, durch den Krieg selbst und in den Parteikämpfen“1. Ein moderner Historiker würde gewiss anstatt des Peloponnesischen Krieges den Zweiten Weltkrieg so beurteilen. Historische Tatsachen und Werturteile sind keine festen Gegebenheiten, sondern werden im Licht neuer Quellen und Erfahrungen von Wissenschaftlern revidiert. Man könnte sagen, dass das Bestreiten einer historischen Tatsache Bestandteil der historischen Forschung sein kann. Laut einer Umfrage in Frankreich im Jahr 1945, welcher Staat am meisten zur Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg beigetragen habe, wurde von 57 % der Befragten die Sowjetunion und von 20 % die Vereinigten Staaten genannt; 2015 hatten die USA für die Mehrheit der Befragten (54 %) den größten Anteil am Sieg und nur für 23 % die Sowjetunion2. Diese revidierte Einschätzung wäre unter anderen Umständen strafrechtlich relevant gewesen, da 2014 ein Gesetzentwurf in Russland vorgelegt wurde, der die Leugnung und Verharmlosung des positiven Beitrags der sowjetischen Armee zum Sieg über die nationalsozialistischen Streitkräfte unter Strafe stellte. Die Leugnung bezieht sich allerdings nicht nur auf die historische Tatsache, sondern auch auf ihre Protagonisten. Leugnet man einen Genozid, dann wird der betroffenen Gruppe gleichzeitig ihr Opferstatus abgesprochen3. Die Leugnung eines solchen Verbrechens ist für die Opfer so traumatisch, dass sie als aussagekräftiger Indikator für zukünftige Genozide angesehen wird4. Mit Blick auf das Strafrecht nimmt sich die – aus feindlicher Ignoranz oder Unwissenheit – betriebene Verfälschung der Geschichte prima facie als Fremdkörper aus. Ein Blick in die internationale Bibliographie zeigt, dass die Kriminalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen eine weltweit beliebte Aufarbeitung der his1

Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, eingeleitet und übertragen von Georg Peter Landmann, 2. Auflage 1976, Erstes Buch, Rn. 23. 2 Dabi/Fourquet, La nation qui a le plus contribué à la défaite de l’Allemagne, Ifop pour Metronews, Mai 2015, S. 5. 3 Pruitt, IJCJS 2017, 270. 4 Stanton, The Ten Stages of Genocide, Genocide Watch, 2016.

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Einleitung

torischen Wahrheit darstellt. Leugnungstatbestände tauchen überwiegend in europäischen Staaten, aber auch in Rechtsakten von internationalen und supranationalen Institutionen, auf. Der Umgang mit negationistischen Aussagen auf strafrechtlichem Wege spielt eine bedeutende Rolle im Deutschland der Nachkriegszeit. Das menschenverachtende NS-Regime, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist5. Die entsprechenden Strafvorschriften lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Vorschriften, die die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen unter Strafe stellen (§ 130 Abs. 1 StGB), und Vorschriften, die das „bloße Leugnen einer historischen Tatsache ohne Agitationscharakter“6 bestrafen (§ 130 Abs. 3 StGB). Die noch nicht befriedigend beantwortete Frage lautet: Sind derartige Gesetze legitim? Der französische Philosoph Jacques Rancière betont die Erforderlichkeit solcher Vorschriften: „Es ist also nötig, dass das Gesetz verbietet, die Geschichte zu fälschen. Kurz, das Gesetz muss die Arbeit leisten, die der Historiker nicht tun kann, der beauftragt war, zu tun, was das Gesetz nicht tun kann.“7 Es ist allerdings fraglich, ob diese „Aporie“8 die Leugnungstatbestände legitimieren darf. Diese Frage hängt insbesondere mit der Problematik zusammen, anhand welcher Kriterien die Strafbefugnis eingeschränkt werden kann.

II. Themeneingrenzung und -abgrenzung. Die Kriminalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen kann einen stark interdisziplinären Charakter aufweisen. Sozialwissenschaftliche, philosophische und historische, aber auch rechtliche Annäherungen sind denkbar; eine Eingrenzung der Arbeit erscheint daher geboten. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Leugnung von historischen Tatsachen als Tatbestand. Die sozialwissenschaftliche, historische und philosophische Dimension bleibt nicht unerörtert, sie steht allerdings nicht im Mittelpunkt der Arbeit. Wie schon der Titel sagt, ist Gegenstand der Arbeit die Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich. Die rechtsvergleichende Analyse der Tatbestände nimmt eine zentrale Rolle bei der Behandlung der Leugnung von historischen Tatsachen ein. Im Fokus dieser Arbeit steht zum einen zunächst die sog. „schlichte“ Leugnung von historischen Tatsachen, die ausdrücklich in 5 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 49; BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 2018, 1 BR 2083/15, JuS 2019, 277. 6 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 684. 7 Rancière, Das Unvernehmen, 2002, S. 141. 8 Rancière, Das Unvernehmen, 2002, S. 141.

III. Stand der rechtswissenschaftlichen Forschung

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mehreren Tatbeständen weltweit strafrechtlich erfasst wird. Im Fokus steht ferner zum anderen die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen, nämlich das Bestreiten von historischen Tatsachen, welches in Verbindung mit Werturteilen über die Opfer oder ihre Nachkommen ausgedrückt wird. Diese Form von Leugnung wird entweder ausdrücklich kriminalisiert oder von Tatbeständen erfasst, die die Aufstachelung zum Hass unter Strafe stellen. Nicht untersucht werden dagegen andere Kategorien von Hassrede, wie beispielsweise die Verwendung verfassungswidriger Symbole (§ 86a StGB) oder andere Erscheinungsformen der Aufstachelung zum Hass außer der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen. Grundlegender Ausgangspunkt der Arbeit ist die Befassung mit der Frage, was der Staat unter Strafe stellen darf; eine der wichtigsten Fragen des Strafrechts, die allerdings noch nicht endgültig beantwortet worden ist. Die Kriminalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen wird aus freiheitsrechtlicher Perspektive erforscht. Sie geht nicht von der Strafbedürftigkeit der Holocaustleugnung aus, sondern versucht durch eine systematische Untersuchung herauszufinden, ob ein solcher Tatbestand den Anforderungen eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutskonzeptes genügt. Maßgebend für diese Untersuchung ist das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Friedensstörung. Nicht untersucht werden dagegen einzelne Aussagen, die etablierte historische Tatsachen bestreiten9. Im Kern der Arbeit steht nicht ein vergleichender Überblick der negationistischen Bibliographie. Ziel der Arbeit ist vielmehr, sich mit dogmatischen Fragen zu befassen, die in den einzelnen Staaten auftreten können.

III. Stand der rechtswissenschaftlichen Forschung Die bisherige Literatur hat sich vornehmlich mit der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des deutschen Tatbestandes und der Systematisierung der Rechtsprechung befasst10. Bereits in den ersten Monographien steht die Aufklärung von 9 Jean-Marie Le Pen, Roger Garaudy, Fredrick Töben, David Irving und Ursula Haverbeck sind nur einige Beispiele. Ein Überblick findet sich in Wistrich (Hrsg.), Holocaust Denial: The Politics of Perfidy, 2012. 10 Vgl. Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen (§ 130 StGB), 1970; Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Berücksichtigung der soziologischen, psychologischen und sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten des zugrunde liegenden Aggressionsprozesses sowie des historischen und kriminologischen Hintergrundes von § 130 StGB, 1979; Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung: der strafrechtliche Schutz von Bevölkerungsgruppe durch die §§ 185 ff. und § 130 StGB, 1994; Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000; Wandres, Die Strafbarkeit des AuschwitzLeugnens, 2000; Leukert, Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, 2005; von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht: die §§ 86, 86a StGB und § 130 StGB zwischen der Abwehr neonazistischer Gefahren und symbolischem Strafrecht, 2006; Jacobi, Das Ziel des Rechtsgüterschutzes bei der Volksverhetzung, 2010; Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeits-

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Einleitung

Begriffen wie der „Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören“, oder der „Aufstachelung zum Hass“ im Mittelpunkt der Untersuchung. Eine eingehende rechtsvergleichende Aufarbeitung der Leugnung von historischen Tatsachen findet sich allerdings im deutschen Schrifttum nicht. In der frühen Bibliographie wird der Frage eingegangen, ob die Leugnung einer historischen Tatsache unter den Beleidigungstatbestand subsumiert werden kann. Auch die Rechtsgutsfrage ist in mehreren Werken erörtert worden. Trotz der langjährigen Behandlung der Thematik im Schrifttum und in der Rechtsprechung ist keine befriedigende Antwort ermittelt worden. Unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien und der Rechtsprechung wird in den Monographien überwiegend auf den vieldiskutierten „öffentlichen Frieden“ zurückgegriffen, ohne sich aus gesetzgebungskritischer Perspektive mit diesem Begriff als Legitimationskriterium einer Strafnorm auseinanderzusetzen. Gleiches gilt für die kollektive Menschenwürde, die kollektive Scham und die historische Wahrheit als Legitimationskriterien eines Leugnungstatbestandes. Die Deliktsart des Tatbestandes ist anschließend nur eingeschränkt thematisiert worden. In Anlehnung an das Tatbestandsmerkmal der Eignung der Handlung, den öffentlichen Frieden zu stören, wird in Theorie und Rechtsprechung die formmäßige These wiederholt, dass es sich bei § 130 Abs. 1 und 3 StGB um ein Eignungsdelikt handelt.

IV. Gang der Untersuchung Die Leugnung von historischen Tatsachen wird aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Die Autorin will ausgehend vom deutschen Straftatbestand einzelne dogmatische Fragen erörtern. Das rechtliche Instrumentarium zur Leugnung von historischen Tatsachen besteht aus einem Palimpsest von nationalen, internationalen und supranationalen Vorgaben. Im Fokus der Untersuchung steht eine rechtsvergleichende und kritische Auseinandersetzung mit den zahlreichen nationalen Tatbeständen, die die Leugnung von verschiedenen historischen Tatsachen unter Strafe stellen. Im rechtsvergleichenden Abschnitt werden anschließend die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie Rechtsakte von internationalen und supranationalen Organen besprochen. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der in Deutschland strafbaren schlichten und aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die gesetzgebungskritische Rechtsgutstheorie. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die staatliche Strafbefugnis anhand von bestimmten Legitimationskriterien eingeschränkt werden darf. Es wird untersucht, ob der Bestrafung der aufhetzenden (130 Abs. 1 StGB) und schlichten (130 Abs. 3 StGB) Leugnung von historischen Tatsachen durch verschiedene Rechtsgüter Legitimation verliehen verbrechen, 2014; Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit: strafrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung des § 130 Abs. 4 StGB, 2017.

IV. Gang der Untersuchung

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werden kann. In diesem Abschnitt finden sich des Weiteren straftheoretische Gedanken sowie eine Besprechung der Vorverlagerung der Strafbarkeit durch § 130 Abs. 1 StGB. Der dritte Teil der Arbeit nimmt die Leugnung von historischen Tatsachen aus verfassungsrechtlicher Perspektive in den Blick. In diesem Abschnitt wird untersucht, ob die Pönalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen einen gerechtfertigten Eingriff in die Meinungsfreiheit und die Wissenschaft darstellt. Es wird anschließend erneut der Frage nachgegangen, ob die Äußerung zu einer historischen Tatsache ein Werturteil oder eine Tatsachenbehauptung darstellt, und ob eine Abgrenzung zwischen diesen möglich ist. Die Arbeit schließt mit eigenen Vorschlägen sowie einer Zusammenfassung der ermittelten Ergebnisse.

A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich I. Einleitung Nach dem Sturz der Schreckensherrschaft der Dreißig Tyrannen im Jahre 403 v. Chr. durch demokratische Gegner unter Führung des Thrasybulos fasste die Ekklesia (Volksversammlung) von Athen einen Beschluss zur Amnestie („peq_ lg lmgsijaje_m“), wonach es den Bürgern der Stadt öffentlich verboten wurde, sich an die während der Tyrannei begangenen Verbrechen zu erinnern und über sie zu diskutieren1. Die Instrumentalisierung des Rechts zum Schutz der kollektiven Erinnerung ist daher kein neugefasstes Konzept der Nachkriegszeit. Vielmehr wird dem Angriff auf das historische Gedenken wie im Fall der Leugnung von historischen Tatsachen in einem globalisierten Umfeld auf mehreren Ebenen entgegengetreten. Die supranationalen und völkerrechtlichen Rechtsakte gegen Negationismus, wie der umsetzungsbedürftige Rahmenbeschluss 2008/913/JI2, führen zu Überschneidungen mit den selektiven Pönalisierungen einzelner Staaten. Dabei treten Fragen zur Vereinbarkeit der einschlägigen Vorschriften mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung auf, die in der geschichtsbezogenen Rechtsprechung des EGMR der letzten dreißig Jahre und der Verfassungsgerichte europäischer und nordamerikanischer Länder erörtert worden sind. Recht und Erinnerung überschneiden sich weiterhin sowohl supranational als auch innerstaatlich in der Form der parlamentarischen Anerkennung von historischen Tatsachen wie Genoziden oder Verbrechen gegen die Menschheit. Auf innerstaatlicher Ebene tritt die gegenwärtig zunehmende Tendenz der Pönalisierung leugnender Äußerungen in Varianten auf, die auf die geschichtliche und geographische Besonderheit des jeweiligen Staates zurückzuführen sind: Obwohl in den meisten Staaten die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen grundsätzlich unter Strafe steht, beziehen sich andere Länder angesichts ihrer geschichtlichen Identität auf historische Ereignisse wie den armenischen Genozid, die

1 Carawan, The Athenian Amnesty and Reconstructing the Law, 2013, S. 56 – 65; Diodoros, Griechische Weltgeschichte, Buch XIV–XV, Band 55, 2001, S. 56 f.; Settis, I Greci. Storia, cultura, arte, società. Band 2/2: Una storia greca. Definizione, 1997, S. 1305 – 1322; Wolpert, Remembering Defeat. Civil War and Civic Memory in Ancient Athens, 2002, S. 75 ff. 2 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. 11. 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Union, L 328/55.

II. Internationale Vorgaben

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Verbrechen der Roten Khmer oder den Völkermord an den Griechen von Pontus, wie im Folgenden dargestellt wird.

II. Internationale Vorgaben 1. Vereinte Nationen In den ersten Übereinkommen der neunziger Jahre zur Fremdenfeindlichkeit wird die Leugnung des Holocaust nur unauffällig unter die fremdenfeindlichen Phänomene subsumiert. In der Erklärung der Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993 werden im Kapitel über „Gleichheit, Menschenwürde und Toleranz“ alle Regierungen dringend aufgefordert, „Sofortmaßnahmen zu ergreifen und wirksame Konzepte zu entwickeln, um alle Formen und Manifestationen des Rassismus, der Xenophobie und ähnlicher Arten der Intoleranz zu bekämpfen, und zwar nötigenfalls durch Erlassung entsprechender Gesetze, einschließlich Strafmaßnahmen, und durch Errichtung nationaler Institutionen zur Bekämpfung solcher Erscheinungen.“3 Diese Erklärung wurde im selben Jahr von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Resolution A/RES/48/121 inhaltlich bestätigt4. Das Grundkonzept der Erklärung, dass die Mitgliedstaaten aufgerufen werden, Strafmaßnahmen einzuleiten, um Intoleranzmanifestationen zu bekämpfen, wird auch in den späteren internationalen oder supranationalen Übereinkommen adoptiert. Am 26. Januar 2007 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 61/255 zur Leugnung des Holocaust verabschiedet, mit der sie „ohne jeglichen Vorbehalt jede Leugnung des Holocausts verurteilt“ (Stelle 1) und „alle Mitgliedstaaten nachdrücklich auffordert, jede vollständige oder teilweise Leugnung des Holocausts als eines geschichtlichen Ereignisses oder jede darauf gerichtete Tätigkeit vorbehaltlos zurückzuweisen“ (Stelle 2)5. Mit der Resolution vom 1. November 2005 (60/7) hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen alternative Auseinandersetzungsmöglichkeiten empfohlen, die von der Aufforderung zur Kriminalisierung durch die späteren Rechtsakte abweichen6. Mit der Resolution wird der 27. Januar zum internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt; die Leugnung des Holocaust wird zurückgewiesen, während das transnationale Erinnern bei den jungen Generationen durch die Erarbeitung von Erziehungsprogrammen verstärkt wird, die „die Lehren des Holocausts im Bewusstsein künftiger Generationen verankern werden“. Es werden übrigens „alle Manifestationen von religiöser Intoleranz, Verhetzung, Be3

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (Hrsg.), Dokumente zur Menschenrechtsweltskonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, 1994, S. 30. 4 UN Doc. A/RES/48/121 vom 20. 12. 1993 § 8. 5 UN Doc. A/RES/61/255 vom 26. 1. 2007. S. auch die Resolution der Generalversammlung zur Holocaustleugnung vom 13. 1. 2022 (A/76/L.30). 6 UN Doc. A/RES/60/7 vom 1. 11. 2005.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

lästigung oder Gewalt gegenüber Personen oder Gemeinschaften auf Grund ihrer ethnischen Herkunft oder religiösen Überzeugung“ verurteilt. Angesichts der herausragenden Rolle der UNESCO in Kultur- und Bildungsangelegenheiten wurde bei der Generalkonferenz am 8. Oktober 2007 die Resolution 34/c erlassen7, mit der der Generaldirektor aufgefordert wurde, sich mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen im Hinblick auf eine Kooperation zu beraten, bei der die UNESCO durch Bildung und die Bekämpfung aller Formen der Holocaustleugnung für den Holocaust sensibilisiert. Der Holocaust ist nicht die einzige historische Tatsache, die zum Objekt gesetzgeberischer Vorgaben wurde. Mit der Resolution 2150 (2014) des Sicherheitsrats wurde jede Leugnung dieses Genozids verurteilt und wurden alle Mitgliedstaaten aufgefordert, Bildungsprogramme für die künftigen Generationen zu entwickeln8. Eine Resolution des Sicherheitsrats, mit der das Massaker von Srebrenica als Völkermord anerkannt und seine Leugnung verurteilt werden sollte, wurde 2015 von Russland blockiert9. 2. Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken Im Jahr 2016 veröffentlichte die Internationale Allianz zum Holocaustgedenken10 eine Arbeitsdefinition zum Begriff des Antisemitismus11. In dieser Arbeitsdefinition wird unter den Beispielen für Antisemitismus auch die Leugnung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes gegen die Juden genannt. Zeitgenössische Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben sind unter anderem „die Leugnung der Tatsache, des Umfangs, der Mechanismen (zum Beispiel der Gaskammern) oder der Absicht des Genozids am jüdischen Volk durch nationalsozialistisches Deutschland und seiner Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust)“ und „Anschuldigungen gegen die Juden als Volk oder Israel als Staat, sie erfänden den Holocaust oder übertrieben ihn betreffend“. 7

UNESCO Doc. 34c/61 (2007). UN Doc. S/RES/2150 (2014) vom 16. 4. 2014. 9 UN Doc. S/2015/508 vom 8. 7. 2015; Russland blockiert UN-Resolution zu Massaker von Srebrenica, ZEIT ONLINE vom 8. 7. 2015. Eine ähnliche Entschließung zum Gedenken an Srebrenica, mit der die Leugnung des Völkermords verurteilt wird, wurde vom Europäischen Parlament am 9. 7. 2015 verabschiedet (2015/2747(RSP)). 10 Kaiser/Storeide, International Journal of Cultural Policy, 2018, 798 – 810; Meyer, Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 2011, 105 – 112; Sigel, in: Matthes/Meilhammer (Hrsg.), Holocaust Education im 21. Jahrhundert: Holocaust Education in the 21st Century, 2015, S. 57; Kroh, in: Eckel/Moisel, Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, 2008, S. 156 ff.; Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus; Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 5, 2012, S. 595. 11 Die Arbeitsdefinition vom 26. 5. 2016 hat die Bundesregierung 2017 übernommen, s. Bundesregierung beschließt einheitliche Antisemitismus-Definition, Die Zeit vom 20. 9. 2017. 8

II. Internationale Vorgaben

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Da es keine allgemein akzeptierte Definition des Antisemitismus gibt, lässt sich ein Verhalten nicht problemlos in diese Kategorie einordnen. Abgesehen von unbestreitbar als Hassrede zu betrachtenden Äußerungen, die zu Gewalt aufstacheln, treten auch Redeweisen auf, die nicht ohne Widerspruch als antisemitisch charakterisiert werden, entweder mangels einer direkten Aufstachelung zu Gewalt oder weil die einschlägigen Behauptungen kodifiziert geäußert werden. Es wird nämlich die Frage gestellt, ob der Negationismus ohne Weiteres in den Kontext der internationalen Übereinkommen über Antisemitismus fällt, wenn die leugnenden Äußerungen nicht die Unterstellung in sich bergen, dass „die Juden“ einen Vorteil aus dem Holocaust ziehen, sondern ein historisches Ereignis schlicht bestreiten.12 3. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz Im Jahr 1993 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten des Europarats gegründet, ist die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz13 auf die Bekämpfung von Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz spezialisiert. Mit der Leugnung des Holocaust als antisemitisches Phänomen beschäftigt sie sich in zweien ihrer Allgemeinen Politischen Empfehlungen. Die Allgemeine Politische Empfehlung Nr. 7 über „nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung“14 empfiehlt den Regierungen der Mitgliedsstaaten: a. Gesetze gegen Rassismus und Rassendiskriminierung zu erlassen, wenn eine solche Gesetzgebung noch nicht existiert oder unvollständig ist; b. sicherzustellen, dass die unten dargelegten Schlüsselelemente in einer solchen Gesetzgebung vorgesehen werden.15

12 Die Abgrenzung zwischen der einfachen und aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen verliert ihre Konturen auch im Leitfaden „Antisemitischen Hassverbrechen begegnen – jüdische Gemeinden schützen“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (2017, S. 8). 13 Stavros, Religion and human rights, 2014, 139 – 150; Möschel, Fighting discrimination in Europe : the case for a race-conscious approach, 2013; Kicker, Standard-setting through monito ring?: the role of Council of Europe expert bodies in the development of human rights, 2012 S. 64 ff.; Hüfner/Sieberns/Weiß (Hrsg.), Menschenrechtsverletzungen: was kann ich dagegen tun? : Menschenrechtsverfahren in der Praxis, 2012, S. 396 ff.; Hollo, in: de Beco, Human rights monitoring mechanisms of the Council of Europe, 2012, S. 127 ff.; Hannikainen, in: International human rights monitoring mechanisms (2009), S. 541 ff. 14 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 7 von ECRI über nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung, vom 13. 12. 2002, CRI(2003)8. 15 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 7 von ECRI über nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung, vom 13. 12. 2002, CRI(2003)8, S. 4.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Unter den vorsätzlich begangenen Handlungen, die unter Strafe gestellt werden sollten, wird unter IV. 18 (e) das „öffentliche Bestreiten, die Verharmlosung, Rechtfertigung oder stillschweigende Duldung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen aus rassistischen Gründen“ als strafbedürftig genannt.16 Um die Strafverfolgung zu erleichtern, wird im erläuternden Text empfohlen, dass die Mitgliedsstaaten sicherstellen sollten, dass es nicht allzu schwierig ist, die Bedingung der Öffentlichkeit zu erfüllen, wie beispielsweise bei Diskussionsforen im Internet oder bei Treffen von Neonazi-Organisationen.17 Mit gewisser Skepsis wird die Stellung des erläuternden Textes der Allgemeinen Politischen Empfehlung aufgenommen, dass das Strafrecht einen symbolischen Charakter habe18. Die Problematik der Leugnung von historischen Tatsachen wurde erneut von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz in der Allgemeinen Politischen Empfehlung Nr. 9 zur Bekämpfung des Antisemitismus erörtert.19 Mit der Empfehlung Nr. 9 wurde den Regierungen der Mitgliedsstaaten empfohlen, der Bekämpfung von Antisemitismus durch gesetzgeberische Maßnahmen große Priorität einzuräumen. Dabei muss von den Mitgliedsstaaten sichergestellt werden, dass das Strafrecht bei der Bekämpfung von Rassismus auch antisemitische Vorfälle umfasst und unter anderem die folgenden antisemitischen Handlungen, wenn sie vorsätzlich verübt werden, unter Strafe stellt: e. das öffentliche Leugnen, die Trivialisierung, Rechtfertigung oder das Beschönigen der Shoah; f. das öffentliche Bestreiten, Trivialisieren, Rechtfertigen oder Beschönigen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, die an Personen aufgrund ihrer jüdischen Identität oder Herkunft verübt wurden, aus antisemitischen Gründen;20

16 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 7 von ECRI über nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung, vom 13. 12. 2002, CRI(2003)8, Schlüsselelemente der nationalen Gesetzgebung gegen Rassismus und Rassendiskriminierung, S. 8. Die historischen Tatsachen des Punktes (e) beziehen sich auf „Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“, so wie diese im Artikel II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords und in den §§ 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs definiert werden. Mehr dazu im Erläuternden Text zur Allgemeinen Politischen Empfehlung Nr. 7 von ECRI über die innerstaatliche Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung, S. 19 f. 17 Erläuternder Text zur Allgemeinen Politischen Empfehlung Nr. 7, S. 19. 18 Ebenda, S. 11. 19 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 9 von ECRI: Bekämpfung des Antisemitismus, vom 25. 6. 2004. 20 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 9 von ECRI: Bekämpfung des Antisemitismus, vom 25. 6. 2004, S. 5 f.

II. Internationale Vorgaben

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Gleichzeitig werden in der Empfehlung alternative Bekämpfungsmethoden vorgeschlagen, wie etwa die Förderung des Wissens über die Shoah und die Erforschung der Tötung und systematischen Verfolgung von Juden und anderen Personen unter den totalitären Regimen nach dem zweiten Weltkrieg.21 4. Europarat a) Rechtsakte des Europarats Die im Jahr 1946 im Schatten der Kriegserfahrungen entstandene Initiative mit dem Ziel der engeren Zusammenarbeit der europäischen Länder, der Europarat, hat mit besonderem Interesse die Leugnung des Holocaust als Form von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erörtert. Die erste Erwähnung der Leugnung des Holocaust findet man in den Rechtsakten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, in der Empfehlung 1438 vom 25. 1. 200022. In der Empfehlung wird die Holocaustleugnung als Erscheinungsform des Antisemitismus, dem der Meinungsfreiheitsschutz entzogen wird, dargestellt: 8. Um den populistischen und allzu stark simplifizierten Aussagen dieser extremistischen Parteien und Bewegungen zu begegnen, müssen die im Zusammenhang mit der Einwanderung aufgeworfenen Fragen verbundenen Tatsachen wieder zu Recht gerückt werden, unzureichend dargestellte Probleme in zusammenhängender Form angesprochen und unlogische Behauptungen mit logischen Argumenten widerlegt werden. 9. Wo dies noch nicht geschehen ist, sollten Gesetze verabschiedet werden, um die Anstiftung zum Rassismus, zum Antisemitismus und zur Fremdenfeindlichkeit in Wort und Schrift zu verbieten. Die Meinungsfreiheit kann dafür nicht als Entschuldigung herhalten. Die geltenden Gesetze sollten in vollem Umfang angewandt werden. In diesem Zusammenhang sollte die öffentliche Leugnung des Holocausts als Ausdruck des Antisemitismus betrachtet werden. Die Nutzung des Internets für rassistische Zwecke sollte als Straftatbestand gelten.23

Am 12. 4. 2006 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarats die Resolution 1495.24 Mit dieser Entschließung äußerte die Parlamentarische Versammlung ihre Sorge über bestimmte Entwicklungen, die auf rechtsradikale Bewegungen hinweisen, wie die Versuche, den Nationalsozialismus „zu rehabilitieren, zu rechtfertigen oder sogar zu glorifizieren“.25 Darüber hinaus ist die Ver21 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine PolitikEmpfehlung Nr. 9 von ECRI: Bekämpfung des Antisemitismus, vom 25. 6. 2004. S. 7. 22 Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 1438 (2000) betreffend die Bedrohung der Demokratie durch extremistische Parteien und Bewegungen in Europa vom 25. 1. 2000. 23 Die vorliegende Übersetzung der Empfehlung in die deutsche Sprache findet sich in: Drs. 14/5007 vom 20. 12. 2000, S. 14. 24 Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 1495 (2006) betreffend die Bekämpfung des Wiederentstehens der NS-Ideologie vom 12. 4. 2006. 25 Drs. 16/1805, S. 14, Punkt 10.2.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

sammlung besonders besorgt über die „Leugnung oder Verharmlosung der Bedeutung der von dem NS-Regime begangenen Verbrechen, insbesondere der Shoah“26. Es werden verstärkte koordinierte Maßnahmen gefordert, um diesen Bewegungen entgegenzutreten. Obwohl die gebührenden Maßnahmen nicht konkretisiert werden, wird betont, dass bei diesem Versuch der Europarat eine bedeutende Rolle übernimmt. Die Thematik der Leugnung wird erneut in der Entschließung 1563 (2007) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit dem Titel „Bekämpfung des Antisemitismus in Europa“ aufgegriffen.27 Dort wird die Feststellung getroffen, dass kein Mitgliedsstaat vor antisemitischen Vorfällen geschützt ist. Dementsprechend werden die Regierungen der Mitgliedsstaaten aufgefordert, systematisch Gesetze zu verabschieden, die „antisemitische und andere Hassreden, insbesondere jegliche Aufstachelung zur Gewalt, als Straftatbestand festlegen“ (12.1); zudem wird den Regierungen der Mitgliedsstaaten empfohlen, „die mit rassistischen Zielen verbundene öffentliche Leugnung, Trivialisierung, Rechtfertigung oder Verherrlichung von Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen gemäß der Allgemeinen Politischen Empfehlung Nr. 7 von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz in Bezug auf nationale Gesetze zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung, die im Dezember 2002 verabschiedet wurde, zu einem Straftatbestand zu machen“ (12.3). Anschließend werden neben den empfohlenen Maßnahmen weitere, alternative, nicht juristische Instrumentarien vorgeschlagen, wie die Förderung des Schulunterrichts „über die Geschichte und die Kultur der Hauptreligionen, gemäß der Empfehlung 1720 (2005) über Bildung und Religion, um Toleranz zu verstärken und gegen Unwissenheit vorzugehen, die so oft eine Quelle der Intoleranz ist“. Weiter fordert die Versammlung die Regierungen der Mitgliedsstaaten des Europarats auf, „die Umsetzung der Empfehlung Rec(2001)15 des Ministerkomitees zur Vorbereitung und Abhaltung eines ,Gedenktags für den Holocaust und die Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ in ihren Schulen fortzusetzen, um auf diese Weise zu weltweiten Maßnahmen zur Förderung der Toleranz, der Menschenrechte und der Bekämpfung aller Formen des Rassismus beizutragen“ (12.15) sowie „aktiv und energisch alle Staaten zu verurteilen28, die den Antisemitismus und die Leugnung des Holocaust fördern und zum Völkermord aufrufen“ (12.19). b) Das Zusatzprotokoll Das internationale Übereinkommen, das als Modell für die meisten europäischen Straftatbestände diente, ist das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Com26

Drs. 16/1805, S. 15, Punkt 10.4. Parlamentarische Versammlung, Entschließung 1563 (2007) „Bekämpfung des Antisemitismus in Europa“ vom 27. 6. 2007. 28 Im Sinne einer politischen Verurteilung in Form einer Soft-Law Allgemeinerklärung. 27

II. Internationale Vorgaben

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puterkriminalität29. Das Zusatzprotokoll wurde am 28. Januar 2003 vom Europarat verabschiedet, als Ergänzung zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität30. Beide Verträge zielten auf eine Zusammenarbeit bezüglich der Verfolgung von Straftaten ab, die mittels Computersystemen begangen werden. Bei den Verhandlungen wurde keine Einigung über die strafrechtliche Verfolgung von rassistischen Äußerungen zu historischen Tatsachen erzielt, weil einige Staaten argumentierten, dass solche Strafnormen mit der verfassungsrechtlich verankerten Meinungsfreiheit unvereinbar seien. Deshalb übergab der Ausschuss, der das Übereinkommen erstellte, die Erstellung des Zusatzprotokolls dem Europäischen Ausschuss für Strafrechtsfragen.31 Zur Durchsetzung der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats wurde das Expertenkomitee zur Kriminalisierung rassistischer oder fremdenfeindlicher Handlungen mit Hilfe von Computernetzen (PC-RX) mit der Abfassung des Zusatzprotokolls32 beauftragt. In der Präambel des Zusatzprotokolls wird einerseits auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit als einer „wesentlichen Grundlage einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden Menschen“ hingewiesen, aber gleichzeitig wird die Gefahr wahrgenommen, dass „diese Computersysteme missbraucht werden, um rassistische und fremdenfeindliche Propaganda zu verbreiten“. Also muss der Artikel zur Kriminalisierung der Leugnung, groben Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit unter Berücksichtigung der Einsicht der Präambel so ausgelegt werden, dass „mit diesem Protokoll die im innerstaatlichen Recht verankerten Grundsätze in Bezug auf die Freiheit der Meinungsäußerung nicht beeinträchtigt werden sollen“. Die Leugnung von historischen Tatsachen wird in Kapitel II, § 6 erörtert: 1] Jede Vertragspartei trifft die erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen, um folgende Handlungen, wenn vorsätzlich und unbefugt begangen, nach ihrem innerstaatlichen Recht als Straftaten zu umschreiben: das Verbreiten oder anderweitige Öffentlich-verfügbar-Machen von Material folgender Art über ein Computersystem: Material, das Handlungen leugnet, grob verharmlost, billigt oder rechtfertigt, die den Tatbestand des Völkermords oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Völkerrechts erfüllen und die als solche festgestellt wurden in rechtskräftigen Endentscheidungen des durch das Londoner Abkommen vom 8. April 1945 errichteten Internationalen Militärgerichtshofs oder eines anderen internationalen Gerichts, 29

COE, Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art vom 28. 1. 2003 in: Sammlung Europäischer Verträge Nr. 189. 30 COE, Übereinkommen über Computerkriminalität vom 23. 11. 2001 in: Sammlung Europäischer Verträge Nr. 185. 31 Explanatory Report to the Additional Protocol to the Convention on Cybercrime, concerning the criminalization of acts of a racist and xenophobic nature committed through computer systems vom 28. 1. 2003 in: European Treaty Series Nr. 189, S. 2. 32 A.a.O.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich das durch einschlägige internationale Übereinkünfte errichtet wurde und dessen Zuständigkeit von der betreffenden Vertragspartei anerkannt worden ist. 2] Eine Vertragspartei kann a. entweder verlangen, dass die Leugnung oder grobe Verharmlosung nach Absatz 1 in der Absicht begangen wird, zu Hass, Diskriminierung oder Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gegen eine Person oder Personengruppe aufzustacheln, b. oder sich das Recht vorbehalten, Absatz 1 insgesamt oder teilweise nicht anzuwenden.

Das Zusatzprotokoll sieht im § 6 II eine aufhetzende Leugnung vor, die nämlich in der Absicht begangen wird, zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung aufzustacheln33. Nach dem erläuternden Bericht beleidigt eine solche Meinungsäußerung die Opfer der bestrittenen Verbrechen, ihre Verwandten und die Erinnerung an die Opfer und bedroht die Menschenwürde.34 Im Bericht wird die Vereinbarkeit der Kriminalisierung von historischen Tatsachen mit der verankerten Meinungsfreiheit betont, indem auf die Entscheidung Lehideux und Isorni des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen wird35: Der Gerichtshof hat in seinem Urteil bestätigt, dass es „eine Kategorie klar etablierter historischer Tatsachen – wie den Holocaust – gebe, deren Leugnung und Revision durch Art. 17 EMRK dem Schutz des Art. 10 EMRK entzogen werde“. 5. Das Europäische Parlament Auf supranational institutioneller Ebene wurde die Holocaustleugnung von dem Organ erörtert, aus dem sich die demokratische Legitimität der Europäischen Union ableitet36. Tatsächlich begrüßt die Entschließung zu der Mitteilung der Kommission über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus37 den „Beschluss des Rates der Justiz- und Innenminister vom 19./20. März 1996 […], eine gemeinsame Aktion zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einzuleiten“. Dabei wird gewünscht, dass „in diesem Zusammenhang das Verbot der Leugnung 33 Im erläuternden Bericht wird übrigens der Strafgrund der Leugnung erwähnt. „Sie (die Leugner) zielen tatsächlich auf die Unterstützung und Förderung der politischen Beweggründe, die zum Holocaust führten“, und ermutigen rassistische oder fremdenfeindliche Gruppen (S. 7). 34 Explanatory Report to the Additional Protocol to the Convention on Cybercrime, concerning the criminalization of acts of a racist and xenophobic nature committed through computer systems vom 28. 1. 2003 in: European Treaty Series Nr. 189, S. 7. 35 Explanatory Report to the Additional Protocol to the Convention on Cybercrime, concerning the criminalization of acts of a racist and xenophobic nature committed through computer systems vom 28. 1. 2003 in: European Treaty Series Nr. 189, S. 8. 36 Kohler-Koch/Rittberger, Debating the Democratic Legitimacy of the European Union, 2007, S. 4. 37 Entschließung zu der Mitteilung der Kommission über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (KOM95) 0653 – C4-0250/96), Amtsblatt Nr. C 152 vom 27. 5. 1996, S. 0057.

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des Holocaust in sämtlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gesetzlich verankert wird“.38 Mit der Entschließung vom 27. Januar 2005 zum Gedenken an den Holocaust sowie Antisemitismus und Rassismus39 gedenkt das Europäische Parlament „aller Opfer des Nationalsozialismus und ist überzeugt, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur möglich ist, wenn seine Geschichte nicht in Vergessenheit gerät“.40 Außerdem lehnt das Europäische Parlament „revisionistische Auffassungen sowie die Leugnung des Holocaust als schändlich und historisch unwahr ab und verurteilt sie; ist besorgt über den Zulauf zu extremistischen und ausländerfeindlichen Parteien sowie über die wachsende Akzeptanz ihrer Auffassungen in der Öffentlichkeit.“41 Das Europäische Parlament hat weiterhin durch die Entschließung vom 15. 4. 2015 zum Internationalen Roma-Tag42 die historische Materie erweitert, deren Leugnung durch Strafmaßnahmen bekämpft werden soll. Es erkennt „offiziell die historische Tatsache des Völkermords an den Roma im zweiten Weltkrieg“ an und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Leugnung und die grobe Verharmlosung des Völkermords an den Roma unter Strafe zu stellen.43

38 Entschließung zu der Mitteilung der Kommission über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (KOM95) 0653 – C4-0250/96), Amtsblatt Nr. C 152 vom 27. 5. 1996, S. 0057, M. 20. 39 Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus, P6_TA(2005)0018 vom 27. 1. 2005. 40 Ebenda, F1. 41 Ebenda, F1. 42 Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. 4. 2015 zum Internationalen Roma-Tag – Antiziganismus in Europa und Anerkennung durch die EU des Tags des Gedenkens an den Völkermord an den Roma während des Zweiten Weltkriegs (2015/ 2615(RSP)). Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. 10. 2017 zu Grundrechtsaspekten bei der Integration der Roma in der EU: Bekämpfung des Antiziganismus (P8_TA(2017)0413) fordert erneut die Mitgliedsstaaten auf, die Leugnung des Roma-Holocaust klar zu verurteilen und zu bestrafen, „da durch dieses Verhalten der Antiziganismus in der Gesellschaft unmittelbar verstärkt wird“ (Punkt 16). Der Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments zur „verstärkten Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie, Transphobie und allen Formen von Hassverbrechen und Hassreden“ vom 6. 3. 2013 (2013/2543(RSP)) äußert sich übrigens zum Urteil des spanischen Verfassungsgerichts und verweist auf den Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) über Spanien (2011), mit dem Besorgnis ausgedrückt wird, dass nach dem Urteil der Straftatbestand der Holocaustleugnung für verfassungswidrig erklärt wird. Gleichzeitig wird Bedenken geäußert, dass „diesem Urteil zufolge die einfach neutrale Bestreitung von Tatbeständen ohne die Absicht, diese zu rechtfertigen oder zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufzurufen, keine strafrechtliche Relevanz hat“. 43 Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. 4. 2015 zum Internationalen Roma-Tag – Antiziganismus in Europa und Anerkennung durch die EU des Tags des Gedenkens an den Völkermord an den Roma während des Zweiten Weltkriegs (2015/ 2615(RSP)), Punkt 8 und 12.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Aufgrund der europäischen Verträge widmen die zuständigen Organe der Europäischen Union der strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit große Aufmerksamkeit mit dem Ziel, bezüglich der justiziellen Zusammenarbeit eine breite Konvergenz zu erreichen. Vorläufer der europäischen Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zu einer Annäherung und Harmonisierung der Strafvorschriften verpflichtet, ist die aufgrund von ex-Art.K.3 des EUV erlassene Gemeinsame Maßnahme vom 15. Juli 1996, die abzielt auf „die Aufstellung von Regeln für die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, um zu verhindern, dass die Täter sich den Umstand, dass rassistische und fremdenfeindliche Handlungen in den einzelnen Staaten strafrechtlich unterschiedlich eingestuft werden, zunutze machen, indem sie den Staat wechseln, um sich der Strafverfolgung oder der Urteilsvollstreckung zu entziehen und so ungestraft weitere derartige Handlungen zu begehen“.44 Zum Zweck der besseren Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die „öffentliche Leugnung der Verbrechen im Sinne von § 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. April 1945, unter Strafe zu stellen, sofern dies eine Verhaltensweise umfasst, die Verachtung einer auf Hautfarbe, Rasse, Religion oder nationale oder ethnische Herkunft definierten Gruppe ausdrückt oder eine solche Gruppe herabwürdigt.“45 Die erwünschte justizielle Zusammenarbeit im Bereich der Harmonisierung der Strafnormen zu historischen Tatsachen ist nicht auf die Leugnung der im § 6 des Internationalen Militärtribunals aufgezählten Verbrechen beschränkt, sondern fordert eine Strafandrohung der „öffentlichen, auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit abzielenden Verteidigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie von Menschenrechtsverletzungen“.46 Die Typologie der Delikte, die in der Gemeinsamen Maßnahme als harmonisierungsbedürftig bezeichnet werden, besteht in der Verteidigung und der Leugnung von bestimmten historischen Tatsachen: I Die öffentliche, rassistisch motivierte Verteidigung von Verbrechen gegen die Menschheit (wie der Menschenhandel oder die Apartheid) und von Menschenrechtsverletzungen. Als „Verteidigung“ kann sowohl die Rechtfertigung als auch die Billigung bezeichnet werden. II Die öffentliche Leugnung der Verbrechen im Sinne von § 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. April 1945, sofern diese Verhaltensweise sich gegen eine Gruppe richtet oder fremdenfeindlich oder ras44 Gemeinsame Maßnahme vom 15. 7. 1996 – vom Rat aufgrund von § K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – betreffend die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 185, 24. 7. 1996, Präambel. 45 Ebenda, A.c. 46 Ebenda, A.b.

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sistisch motiviert ist; die unter Punkt (b) gemeinten historischen Tatsachen sind die Verbrechen gegen die Menschheit, die Verbrechen gegen den Frieden und die Kriegsverbrechen, die im Nürnberger Prozess anerkannt wurden. Daraus ergibt sich, dass der einzige Völkermord, dessen Leugnung nach der Gemeinsamen Maßnahme unter Strafandrohung gestellt werden soll, der Holocaust sei. Im Fall von anderen Genoziden, wie in Ruanda oder des armenischen Genozids, gilt nicht die Leugnung, sondern nur die Verteidigung als straf- und harmonisierungsbedürftig.

Die Gemeinsame Maßnahme darf als Vorläufer des Rahmenbeschlusses angesehen werden. Dabei muss ihre Rechtsform geprüft werden. Die Anwendbarkeit der Gemeinsamen Maßnahme ist eng mit der Problematik verbunden, inwieweit die Rechtsakte unter dem Maastrichter Vertrag rechtsverbindlich seien. Darüber herrscht keine Einigkeit47: Es wird einerseits behauptet, dass die Gemeinsamen Maßnahmen keine erhebliche Rechtsverbindlichkeit erzeugen. Eine im Rahmen der dritten Säule erstellte Gemeinsame Maßnahme muss als gemeinsame Erklärung oder Entschließung ohne Rechtsverbindlichkeit verstanden werden48. Es wird jedoch auch die Auffassung verteidigt, dass die Gemeinsame Maßnahme ein bindendes Instrument des Unionsrechts sei49. Die abweichenden Ansichten zur Problematik machen auf die begrenzte Dynamik und den begrenzten Einfluss der Gemeinsamen Maßnahme auf das Recht der Mitgliedsstaaten aufmerksam. Die mangelnde Umsetzungspflicht und die umstrittene Rechtsverbindlichkeit hat zur aposteriorischen Betrachtung der Gemeinsamen Maßnahme nicht als ersten Schritt, sondern als eine vorläufige Bearbeitung der Harmonisierungsakte für die europäischen Rechtsordnungen beigetragen. An der begrenzten Dynamik und Umsetzung der Gemeinsamen Maßnahme hat neben dem Rechtsinstrument, das für diese Harmonisierungsbestrebung genutzt wurde, auch die unterschiedliche politische und gesetzliche Stellung der Mitgliedsstaaten gegenüber Hassrede und Negationismus mitgewirkt. Die kontinentale verschärfte Strafbereitschaft wird der Meinungseinschränkung entgegengestellt, auch in Fällen, in denen die Äußerung einen verbalen Angriff darstellt. 6. Der Rahmenbeschluss 2008/913 Am 28. November 2001 legte die Kommission einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vor,50 der durch einen umfassenden Begründungsbericht erläutert wird. Die rassis47 Müller, Die Innen- und Justizpolitik der Europäischen Union, 2003, S. 136; Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung in der Praxis, 2018, S. 44. 48 Obokata, Trafficking of human beings from a human rights perspective: towards a more holistic approach, 2006, S. 97; Müller-Graff, Common Market Law Review, 1994, 493 ff. 49 Walther, Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr, 2011, S. 34. 50 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, S. 269 ff. Der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss wird aufgrund des ex-Artikels 29 EUV (2002) vorgelegt, der sich auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

tischen und fremdenfeindlichen Verhaltensweisen stellen einen unmittelbaren Verstoß gegen die demokratischen Prinzipien dar, die die Quintessenz des europäischen Konzepts beschreiben und in den europäischen Verträgen verankert sind.51 Mit dem vorgeschlagenen Rahmenbeschluss soll durch die Annäherung der Rechtsvorschriften zu rassistischen und fremdenfeindlichen Delikten der Schutz der Grundrechte gewährleistet werden, der von solchen Verhaltensweisen beeinträchtigt wird.52 Weiter wird darauf gezielt, die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung solcher Delikte zu fördern.53 Durch Berichte der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz wird belegt, dass kein Mitgliedsstaat gegen dieses Phänomen gefeit ist, obwohl positive Schritte vollgezogen worden sind;54 die Feststellung der Häufigkeit der Fälle wird durch die mangelnde Erfassung von Daten über rassistische Vorfälle erschwert. Die Berichte zeigen außerdem, dass Angriffe von extremistischen Gruppen gegen ethnische oder rassische Minderheiten zugenommen haben, obwohl ihre Anzahl den Behörden nicht immer bekannt sei55. Obwohl die Gemeinsame Maßnahme auf EU-Ebene als erster wichtiger Schritt zur Bekämpfung des durch Leugnung historischer Tatsachen ausgedrückten Rassismus bei der Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gilt, möchte die Kommission die erheblichen Unterschiede der Gesetze in Bezug auf Umfang, Inhalt und Durchsetzung abschwächen56. Mit dem Ziel der Rassismusbekämpfung und der Förderung der justiziellen Zusammenarbeit wurde der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zur Angleichung der Gesetze der Mitgliedsstaaten betreffend rassistische und fremdenfeindliche Straftaten eingebracht. Die Minimalannäherung in bezieht. Die Entwicklung des gemeinsamen Vorgehens der Mitgliedsstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit und die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dienen dazu, „den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten“. Dieses Ziel wird sowohl durch die Zusammenarbeit der zuständigen Behörden, als auch durch die Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedsstaaten erreicht. 51 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, S. 269. 52 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, S. 270. 53 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, S. 269 f. 54 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, Begründung. 55 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, Begründung. 56 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, Begründung.

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Bezug auf einen gemeinsamen strafrechtlichen Ansatz wird auf weitere Verhaltensformen erweitert57. In ihrem am 14. November 2007 erlassenen Bericht hat die Berichterstatterin Martine Roure mit Befriedigung festgestellt, dass der Rat endlich zu einer politischen Einigung über den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gelangt ist.58 Nach der Minderheitenansicht, dargelegt von Koenraad Dillen, kann der gesetzliche Schutz gegen rassistische Taten hervorragend von den Mitgliedsstaaten erreicht werden, weshalb die EU-Maßnahmen auf diesem Gebiet das Subsidiaritätsprinzip verletzen.59 Nach dieser Ansicht sei der Rahmenbeschluss ein Angriff auf die freie Meinungsäußerung, da „der Begriff Rassismus auf verwirrende Weise für eine berechtigte öffentliche Debatte, beispielsweise über den Widerstand gegen Islamisierung oder die Verteidigung der nationalen Identität verwendet wird“. Nach langjährigen Verhandlungen wurde eine partielle politische Einigung erreicht und am 27. November 2008 wurde der Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vom Rat angenommen.60 Der Negationismus wird im ersten Artikel mit dem Titel „Rassistische und fremdenfeindliche Straftaten“ erfasst. Jeder Mitgliedsstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden: c) das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Sinne der §§ 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, das gegen eine Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe gerichtet ist, die nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationaler oder ethnischer Herkunft definiert werden, wenn die Handlung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt; 57 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, CE 75, 26. 3. 2002, Begründung. 58 Bericht vom 14. 11. 2007 über den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (11522/2007 – C6 – 0246/2007 – 2001/0270(CNS)), S. 15. 59 Bericht vom 14. 11. 2007 über den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (11522/2007 – C6 – 0246/2007 – 2001/0270(CNS)), S. 17. 60 Fronza, Memory and punishment, 2018, S. 56; Pech, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide denials and the law, 2011, S. 223; Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. 11. 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Amtsblatt der Europäischen Union, L 328, 6. 12. 2008, S. 55 ff.; Weiß/Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 67 Rn. 35; Hellmann/ Gärtner, NJW 2011, 961 ff.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich d) das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Verbrechen nach § 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. August 1945 gegenüber einer Gruppe von Personen oder einem Mitglied einer solchen Gruppe, die nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definiert werden, wenn die Handlung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt.

7. Kritische Einschätzung des Rahmenbeschlusses61 Der Rahmenbeschluss weist bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit dem Zusatzprotokoll auf. Beide Leugnungstatbestände stellen die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen unter Strafe. Das Zusatzprotokoll beinhaltet allerdings neben der Leugnung, Billigung und Verharmlosung die Handlungsvariante der Rechtfertigung der entsprechenden historischen Tatsachen. Unterschiede gibt es weiterhin in Bezug auf die erfassten historischen Tatsachen der Leugnungstatbestände. Anders als beim Rahmenbeschluss erfasst das Zusatzprotokoll die Leugnung nur von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit und nicht von Kriegsverbrechen62. Übrigens beziehen sich die Handlungsvarianten des Rahmenbeschlusses auf die nationalsozialistischen Verbrechen, während das Zusatzprotokoll auch die Leugnung von Verbrechen unter Strafe stellt, die von einem internationalen Gericht anerkannt worden sind,63 wie etwa der Völkermord in Ruanda, Srebrenica und Kambodscha. Aus dem Wortlaut ergibt sich, dass der Rahmenbeschluss nicht das Bestreiten per se als strafwürdig erachtet. Entscheidend ist stattdessen die Frage, ob die in Frage stehende Leugnung als Vehikel dient, um eine Personenmehrheit oder eine dieser angehörige Person verbal anzugreifen. Im vierten Absatz des ersten Artikels wird unverändert die Möglichkeit vorgesehen, die Leugnung oder gröbliche Verharmlosung der unter c) und d) genannten historischen Tatsachen unter der Bedingung der endgültigen Feststellung dieser Verbrechen von einem nationalen oder internationalen Gericht zu kriminalisieren. Obwohl diese Regelung als Sicherheitsventil gegen eine übermäßige Kriminalisierung funktionieren kann, ist sie nicht von allen Mitgliedstaaten angenommen worden; demzufolge wird die Beeinträchtigung des Bestimmtheitsgebots der harmonisierungsbedürftigen Strafnorm dadurch verschärft, dass der Kreis der historischen Ereignisse, die als Ausgangspunkt von Straftatbeständen dienen, erweitert wird. Die Ausdehnung der historischen Materie wird in diesem Sinne durch die Bezeichnung historischer Tatsachen als Verbrechen im Sinne von § 1c, d sowohl durch historische Quellen als auch von parlamentarischen Erklärungen in Gesetzesform erreicht, in 61 Eine Würdigung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses ins deutsche Recht findet sich bei Bock, ZRP 2011, 46 ff. 62 Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 963. 63 Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 963.

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denen verschiedene historische Tatsachen als Verbrechen anerkannt werden. Die conditio der rechtsgültigen Anerkennung der Verbrechen wird somit durch unbefugte Organe beeinträchtigt. Im Fall der nationalen Vorschriften, die die schlichte Leugnung bestrafen und keine gerichtliche oder parlamentarische Anerkennung der entsprechenden historischen Tatsachen fordern, dominiert der Richter das Narrativ64: er bestimmt die schützenswerte historische Wahrheit und wählt die kollektive Erinnerung aus, die mit strafrechtlichen Mitteln bewahrt wird. Im Fall der parlamentarisch anerkannten historischen Tatsachen weist die entsprechende, gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßende Entschließung jegliche Normativität von sich und nimmt eine gerichtliche Natur an. Die Einführung des Instrumentes des Rahmenbeschlusses hat das Harmonisierungsverfahren vereinfacht, da er keiner Ratifizierung bedarf65. Als die rechtlich stärkste Handlungsform der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist der Rahmenbeschluss hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich66, überlässt den innerstaatlichen Stellen allerdings die Wahl der Form und der Mittel.67 Die Struktur der Rahmenbeschlüsse ist also klar und eindeutig: mit diesem Instrument wird ein Rahmen gesetzt, dessen Anwendung und Konkretisierung den Staaten freigestellt wird. Der erste Artikel des Rahmenbeschlusses 2008/913 ist jedoch eine Überschreitung der verankerten Einzelermächtigung: Im Rahmenbeschluss wird nicht nur die Thematik und das Ziel des Rechtsaktes dargestellt, sondern sowohl die Mittel als auch die Form des Harmonisierungsaktes ausführlich präzisiert. Einerseits wird die Bekämpfungsart des Rassismus dadurch konkretisiert, indem die Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, die unter § 1 genannten vorsätzlichen Handlungen unter Strafe zu stellen. Andererseits sollte die übermäßig konkrete Aufforderung zur Kriminalisierung im dritten und vierten Absatz als eine unzulässige Präzisierung beachtet werden, mit der die Form und das Ziel der legislativen Grundlage überschritten werden. Der empfohlene Straftatbestand der Kriminalisierung der Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von bestimmten Verbrechen ist tatsächlich so ausführlich formuliert, dass die Beteiligung des Mitgliedsstaats de facto auf ein Mindestmaß verringert wird. Denn der harmonisierungsbedürftige Rechtsakt ist so konkret, dass er den Rahmen von Initiativen und Formen wesentlich einschränkt und von einem aktiven Gestaltungsspielraum zu einer einfachen Eingliederung des Rahmenbeschlusses ins nationale Recht umwandelt. Wegen der detaillierten Formulierung der umzusetzenden Vorschriften kommt den Mitgliedsstaaten keine gleichwertige Rolle zu. Die Absätze c, d sind nämlich so präzise und 64

Fronza, Memory and punishment, 2018, S. 61. Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, 2008, S. 93. 66 Obwexer, in: Hummer (Hrsg.), Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, 2010, S. 73. 67 Zur rechtlichen Bedeutung, besonders den Rechtswirkungen des Rahmenbeschlusses, s. Schönberger, ZaöRV 2007, 1120 ff. und besonders 1125 f. 65

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

ausführlich, dass die Gesetzesinitiative auf nationaler Ebene eher einem Ratifizierungsverfahren als einer frei gestaltbaren harmonisierenden Gesetzgebung ähnelt.

III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Leugnung von historischen Tatsachen 1. Einführung – die Aufnahme des Negationismus in die angelsächsische gerichtliche Sphäre und die Spruchpraxis internationaler Organisationen als Indikator der inkohärenten frühen Phase der Menschenrechtskommission In der gerichtlich äußerst produktiven Dekade der neunziger Jahre sind die Gegensätze der Rechtssysteme zur Würdigung der Leugnung historischer Tatsachen weltweit aufgebrochen, sowohl auf nationaler, höchstrichterlicher Ebene als auch im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und in internationalen Organisationen. Parallel zu den Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte fanden in Kanada zwei viel diskutierte Prozesse statt, deren in Widerspruch stehende Schlussfolgerungen genau jene unterschiedlichen Herangehensweisen der Rechtsordnungen betonen, nämlich die Fälle R. vs. Keegstra und R. vs. Zündel. R. vs. Keegstra ist ein richtungsweisendes Urteil des kanadischen Bundesgerichtshofes zur Holocaustleugnung. Der Beklagte, James Keegstra, Lehrer an einer öffentlichen Schule, vermittelte in seinem Unterricht antisemitische Ansichten und beschrieb die jüdische Bevölkerung als ein übles Volk, das den Holocaust erfand, um Sympathie zu gewinnen. Keegstra wurde unter § 281 Abs. 268 des kanadischen StGB wegen Aufstachelung zum Hass gegen eine identifizierbare Gruppe durch Verbreitung von antisemitischen Aussagen an seine Schüler verurteilt. Das Gericht nahm einstimmig an, dass die Hasspropaganda vom Grundsatz der Meinungsfreiheit gemäß Art. 2b der Kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten als Ausübung dieses Rechts garantiert wird. Daher beeinträchtigte § 319 Abs. 2 des StGB den Art. 2b der Charta, allerdings war diese Einschränkung gerechtfertigt. Die internationalen Verpflichtungen Kanadas als Vertragspartei im Bereich der Menschenrechte orientieren und bestimmen die Auslegung sowohl der Charta der Rechte und Freiheiten als auch den Begriff der dringenden und erheblichen Zielsetzungen, die gewisse Einschränkungen dieser Rechte begründen können. Vor allem lasse sich der in Betracht kommende Eingriff durch Art. 15 (Gleichheit) und 25 (Multikulturalismus) durch eine angemessene und verhältnismäßige Einschränkung rechtfertigen69. Be68 69

Heute § 319 Abs. 2 StGB. R. vs. Keegstra [1990] 3 S.C.R. 697.

III. Rechtsprechung des EGMR zur Leugnung von historischen Tatsachen

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merkenswert ist, dass im Urteil dem europäischen Ansatz zur Hasspropaganda gefolgt wurde, während das amerikanische Konzept der Straffreiheit im abweichenden Votum vertreten wurde70. Zwei Jahre später schuf der kanadische BGH mit einer liberalen Argumentation einen Präzedenzfall für die Freiheit auf Meinungsäußerung. Der wegen Verbreitung falscher Aussagen verurteilte Holocaustleugner Ernst Zündel legte beim kanadischen BGH wegen Meinungsfreiheitsverletzung Revision ein. Einem anderen Gedankengang folgend, stellte das Gericht die verfassungswidrige Unbestimmtheit des § 181 StGB fest und erkannte an, dass Zündels Verurteilung nicht durch Art. 1 der Charta gerechtfertigt war71. Allerdings wurde die Leugnung historischer Tatsachen zum Gegenstand der Auseinandersetzung nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in den Rechtsprechungsorganen internationaler Organisationen, wie beispielsweise im Fall der Prüfung der von Robert Faurisson vorgelegten Mitteilung durch den Menschenrechtsausschuss, das Kontrollorgan des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte72 im Jahre 1996. Der UN-Menschenrechtsausschuss gelangte zu der Schlussfolgerung73, dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit des Antragstellers zulässig war, weil seine Äußerungen, in ihrem Kontext gelesen, zu antisemitischen Gefühlen aufstacheln können. Demzufolge diente dieser Eingriff in Form einer Verurteilung der Erwartung der jüdischen Bevölkerung, ihr Leben frei von Angst vor einer antisemitischen Atmosphäre zu führen. Zudem wurde die Erforderlichkeit der Verurteilung des Antragstellers sowie der Verabschiedung des Gayssot-Gesetzes zur Holocaustleugnung anhand der Stellungnahme eines französischen Regierungsmitglieds gewürdigt, demzufolge die Holocaustleugnung das Hauptvehikel des Antisemitismus sei. Obwohl das Gayssot-Gesetz durch Faurissons Mitteilung nicht angefochten wird, betonte der Ausschuss74, dass das Gesetz in gewissen Fällen zu Entscheidungen oder Maßnahmen führen könne, die unvereinbar mit der Konvention sind. Obwohl dieses obiter dictum nicht die konkrete Rechtsfrage der Vereinbarkeit des Gayssot-Gesetzes mit der Konvention klärt, eröffnen die von der Kommission geäußerten Vorbehalte einen Spielraum für eine potentielle Neubewertung der Inkompatibilität der den Negationismus kriminalisierenden Gesetze mit der Meinungsfreiheit, die sich unterschwellig in der höchstrichterlichen 70 Von den Richtern McLachlin J., Sopinka und La Forest JJ geäußert: In ihrer Ausgangsposition ist der amerikanische Ansatz zusammengefasst: „Wenn die Gewährleistung der Meinungsfreiheit etwas bedeuten soll, dann sollte es Äußerungen schützen, die die Grundidee unserer Gesellschaft bestreiten. Ein echtes Engagement zur Achtung der Meinungsfreiheit fordert nichts Geringeres.“ 71 R. v. Zundel [1992] 2 S.C.R. 731, mit der Bemerkung im abweichenden Votum, dass das Gericht an den Präzedenzfall R. vs. Keegstra gebunden sei. 72 Robert Faurisson vs. Frankreich, Mitteilung Nr. 550/1993, UN. DOC. CCPR/C/58/D/ 550/1993 (1996). 73 Robert Faurisson vs. Frankreich, Mitteilung Nr. 550/1993, 9.6. 74 Robert Faurisson vs. Frankreich, Mitteilung Nr. 550/1993, 9.3.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Rechtsprechung verschiedener Länder bemerken ließ, wie etwa die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der die Leugnung von Genoziden pönalisierenden Strafnorm des § 607 Abs. 2 des span. StGB durch das dortige Verfassungsgericht75, die Entscheidung des französischen Conseil Constitutionnel zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Ahndung der Leugnung von gesetzlich anerkannten Völkermorden76 sowie auf europäischer Ebene das Urteil Perinçek vs. Schweiz77, das besonders deutlich machte, dass es sich beim Bestreiten der Fakten oder der rechtlichen Würdigung eines Genozids nicht um eine eigenständige Rechtsverletzung handle. Bereits in den achtziger Jahren wurden Fälle zur Leugnung von Genoziden – meistens des Holocaust – in innerstaatlichen Gerichtsverfahren in Europa behandelt, jedoch nicht anhand von Rechtsvorschriften, die explizit leugnende Äußerungen kriminalisieren, sondern anhand von Rechtsnormen gegen die Aufstachelung zu Hass oder Gewalt, Verbreitung von Hasspropaganda oder Hassrede. Nach und nach wurden in den meisten europäischen Staaten Gesetze verabschiedet, die ein breites Spektrum von Tathandlungen zur historischen Materie umfassten, nämlich zur Leugnung, Billigung, Trivialisierung und Rechtfertigung von durch internationale Gerichte anerkannten oder von durch die herrschende Auslegung historischer Quellen charakterisierten Genoziden oder Kriegsverbrechen. Während dieser langjährigen Gesetzgebungsphase wurden mehrere Entscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren und freie Meinungsäußerung angefochten. Sie umspannen inhaltlich unterschiedliche Fälle, wie etwa Veröffentlichungen, die den Holocaust leugnen, Äußerungen, die die wissenschaftlich anerkannte Version von Fakten des zweiten Weltkriegs verdrehen oder die strafrechtliche Beurteilung des armenischen Falles als Völkermord bestreiten. 2. Die ersten Urteile: Das Verbot der Holocaustleugnung als erforderlicher Schutz demokratischer Prinzipien – Art. 10 EMRK In der Frühphase der Rechtsprechung der Menschenrechtskommission wurde die Leugnung historischer Tatsachen als Randthema antisemitischer Vorfälle wahrgenommen und jedenfalls nicht eingehend behandelt. Die wenigen, lakonischen Entscheidungen haben nicht die Gestalt eines ausführlichen und ausgewogenen Lösungsansatzes angenommen. Im Fall X. vs. Bundesrepublik Deutschland vom 16. Juli 198278 wurde der Antrag eines deutschen Bürgers geprüft, gegen den auf Antrag des Nachkommens eines 75 76 77

2015.

Tribunal Constitucional, Urteil Nr. 235/2007 vom 7. 11. 2007. Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 2012-647 DC vom 28. 2. 2012. EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10.

78 EKMR, X. vs. Bundesrepublik Deutschland, Antragsnr. 9235/81, Entscheidung vom 16. 7. 1982.

III. Rechtsprechung des EGMR zur Leugnung von historischen Tatsachen

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Holocaust-Opfers eine einstweilige Verfügung wegen Verbreitung von den Holocaust als eine „bloße Erfindung“, „inakzeptable Lüge“ und „zionistischen Schwindel“ bezeichnenden Druckschriften gemäß §§ 1004, 823 Abs. 2 BGB und 185 StGB erlassen worden war, und der nach dem Erlass der Entscheidung des BGH vom September 1979 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. In ihrer Begründung beruft sich die Kommission nicht auf Art. 17 EMRK, auf den in der späteren Phase der Rechtsprechung des EGMR verwiesen wird. Die Würdigung des Antrags erfolgte gemäß Art. 10 EMRK79 mit der Feststellung, der deutsche Rechtsrahmen sei gesetzlich vorgeschrieben, und die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit der Verurteilung in einer Gesellschaft seien durch die Erforderlichkeit des kollektiven Schutzes vor Verleumdung zu begründen, die durch das entstellte Bild der in Betracht kommenden historischen Tatsachen und die Verletzung des guten Rufes der betroffenen Personen entsteht80. Darüber hinaus merkte die Kommission an, dass das Gebot eines fairen Verfahrens nicht durch die Ablehnung beeinträchtigt werde, Beweismittel für offenkundige historische Tatsachen anzunehmen: Die Feststellung des BGH wiederholend gelangte die Kommission zu der Auffassung, dass eine objektive Kritik der Historiographie einschließlich der Zahlenangaben der Opfer zulässig sei; abgegrenzt vom Delikt der üblen Nachrede sei im Fall der Beleidigung die Erweislichkeit der bestrittenen Tatsachen kein Strafausschlussgrund, da die einschlägigen Äußerungen in der Form von beleidigenden Werturteilen ausgedrückt wurden. Eine charakteristische Besonderheit der Frühphase der Rechtsprechung der Menschenrechtskommission81 besteht darin, dass die Eingriffe in die Rechte der Antragsteller ausschließlich anhand des Verhältnismäßigkeitsgebots und der Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft geprüft werden82 und nicht gemäß der Missbrauchsklausel des Art. 17 EMRK, die erst später in Betracht kommt.

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Eine entsprechende Argumentation ist im EKMR, T. vs. Belgien, Antragsnr. 9777/82, Entscheidung vom 14. 7. 1983 zu finden, nach der eine Verurteilung wegen Veröffentlichung von Broschüren, die die nationalsozialistischen Verbrechen bestreiten und billigen, für die Aufrechterhaltung der Ordnung gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK erforderlich war. 80 Es ist erwähnenswert, dass die Menschenrechtskommission dabei den Schutz der historischen Wahrheit und der Ehre der betroffenen Personen als Strafgrund der aufhetzenden Leugnung des Holocausts nennt („the pamphlets in question not only gave a distorted picture of the relevant historical facts, but also contained an attack on the reputation of all those who were described as liars and swindlers“). 81 Auch in EKMR, Lowes vs. Vereinigtes Königreich, Antragsnr. 13214/87, Entscheidung vom 9. 12. 1988, wobei die leugnenden Behauptungen im Fall ein Randthema sind. 82 EKMR, X. vs. Bundesrepublik Deutschland, Antragsnr. 9235/8, Entscheidung vom 16. 7. 1982 (eine demokratische Gesellschaft beruhe auf den Prinzipien der Toleranz und dem offenen Geist).

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

3. Die Entwicklung der Rechtsprechung durch kumulative Anwendung des Art. 10 EMRK und der Missbrauchsklausel (Art. 17 EMRK) a) Die Berufung auf die Art. 10 und 17 EMRK als nächste Phase der Rechtsprechung In den darauffolgenden Urteilen hat das Gericht seine Argumentation ausführlich, wenn auch widersprüchlich, erläutert. Auf die Missbrauchsklausel wird zunächst nicht zurückgegriffen, um den betreffenden Behauptungen den Schutz der Konvention zu verweigern, sondern um den ad hoc-Schutzbereich des Meinungsfreiheitsrechtes zu begrenzen. Einer der ersten Fälle dieser Phase war der F.P. vs. Deutschland83. Der Antragsteller, der bei einer privaten Versammlung den Holocaust sowie andere Umstände historischer Fakten in aufhetzender Weise leugnete und somit seine Pflicht, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, auf gravierende Weise verletzte und die Ideale des Staates nicht aktiv verteidigte, wurde im Jahre 1989 gemäß §§ 7, 8, 10 Abs. 6 Soldatengesetz vom Truppendienstgericht wegen Unterstützung von die öffentliche Ordnung gefährdenden Zielen verurteilt. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs reichte er bei der Menschenrechtskommission einen Antrag ein, in dem er geltend machte, dass die schwerwiegende Disziplinarmaßnahme des Verlustes des Dienstgrades seine Gewissens- und Meinungsfreiheit (Art. 9 und 10 EMRK) verletzte. Hinsichtlich dieser Argumente griff die Kommission in diesem Zusammenhang auf Art. 10 Abs. 2 EMRK zurück. Der einschlägige Eingriff sei anhand von Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, während die Notwendigkeit der Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft gemäß der Missbrauchsklausel von Art. 17 EMRK geprüft wurde: die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen stelle einen Missbrauch der Meinungsfreiheit dar, der der Schuldbefreiung des nationalsozialistischen Regimes diene84. Im Januar 1995 prüfte die erste Kammer der Europäischen Kommission für Menschenrechte den am 23. September 1992 eingereichten Antrag des Herausgebers der Zeitschrift „Historische Wahrheit“, Udo Walendy85. Der Antragsteller machte vor 83

EKMR, F.P. vs. Deutschland, Antragsnr. 19459/92, Entscheidung vom 29. 3. 1992. „These statements did according to the German courts not only deny historical facts but were aimed at cleansing the totalitarian Nazi regime of the stain of mass murder and therefore discriminated against Jewish people“. 85 EKMR, Walendy vs. Deutschland, Antragsnr. 21128/92, Entscheidung vom 11. 1. 1995. Im Heft Nr. 36 mit dem Titel „Ein Prozeß, der Geschichte macht“ führte der Kläger an, dass er als Sachverständiger im kanadischen Prozess gegen Zündel tätig war, der wegen der Veröffentlichung des Artikels „Starben wirklich sechs Millionen?“ angeklagt wurde. Der Artikel wurde als Verletzung des öffentlichen Friedens beurteilt, die durch die Verbreitung falscher Informationen gemäß § 177 des kanadischen Strafgesetzbuches begangen wurde. Am 26. 4. 1989 wurde vom Landgericht Bielefeld ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer erlassen und das Heft Nr. 36 mit der Begründung beschlagnahmt, dass die in der Publikation vertretenen 84

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der Europäischen Kommission für Menschenrechte geltend, dass die Beschlagnahme der Zeitschrift gegen das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK verstoße. Hinsichtlich der Frage der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft und der Verhältnismäßigkeit angesichts des verfolgten Ziels berief sich die Kommission auf Art. 17 EMRK zur missbräuchlichen Verwendung der Garantien der EMRK, indem sie betonte, dass Art. 10 nicht im Widerspruch zu Art. 17 EMRK in Anspruch genommen werden dürfe. Im vorliegenden Fall war die Leugnung des Holocaust eine Beleidigung für das jüdische Volk, und somit wird der Eingriff angesichts des verfolgten Ziels verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig beurteilt. Mit dieser Begründung wurde Walendys Antrag zurückgewiesen86. Ansichten („Der Verfasser findet nach Studium der verfügbaren Literatur, der vorhandenen Stätten in Auschwitz, Birkenau und Majdanek, seiner Kenntnis der Konstruktionskriterien für den Betrieb von Gaskammern, Untersuchung der Krematoriumstechnik und Prüfung moderner Krematorien keinen Beweis dafür, dass irgendeine der Einrichtungen, von denen normalerweise behauptet wird, sie seien Gaskammern gewesen, jemals als solche benutzt worden sind… diese Stätten [hätten] schon von ihrer Konstruktion und Ausstattung her nicht als Gaskammern für Menschentötung verwendet werden können. Darüber hinaus beweisen die Krematoriumseinrichtungen schlüssig, dass jene angebliche Vielzahl von Leichen in den behaupteten Zeiträumen nicht hätte verbrannt werden können.“) den Holocaust bestritten und somit unter § 185 StGB fallen. Allerdings lehnte das Landgericht die Einleitung eines Verfahrens gegen den Beschwerdeführer mit der Begründung ab, dass die im Artikel vertretenen Äußerungen keine Hassrede darstellten, mit der die Ehre und Würde jüdischer Bürger beleidigt wäre, sondern eine Debatte über bewiesene historische Tatsachen darstellten, die zwar von bestimmten Lesern als moralisch oder politisch verwerflich charakterisiert werden kann, jedenfalls aber die Menschenwürde nicht beleidigt, sodass keine Verletzung des Rechtsguts gemäß § 185 StGB besteht („Die wiedergegebenen Aussagen, so wenig nachvollziehbar und sogar empörend sie auch erscheinen mögen, können insgesamt gesehen jedoch noch nicht als Angriff auf Persönlichkeit und Menschenwürde der durch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich belasteten jüdischen Mitbürger … angesehen werden, sondern haben … [nach] ihrem Wortlaut und ihrem Sinngehalt bei objektiver Betrachtungsweise lediglich die Auseinandersetzung mit geschichtlich gesicherten Tatsachen zum Gegenstand und nicht die Diskriminierung einer Menschengruppe. Auch wenn der hier unternommene Versuch der Korrektur des Geschichtsbildes in moralischer und politischer Hinsicht in höchstem Maße mißbilligenswert erscheinen mag, ist nach Auffassung der Kammer somit eine Verletzung der Menschenwürde der jüdischen Mitbürger und damit in strafrechtlicher Hinsicht die Erfüllung des Tatbestandes der Beleidigung gem. 185 StGB nicht gegeben.“ Diese Entscheidung wurde im Berufungsverfahren vom Oberlandesgericht abgeändert: „Mit dem Leugnen der systematischen Judenvernichtung im ,Dritten Reich‘ wird dieser Achtungsanspruch verletzt. Damit erfolgt zugleich ein Angriff auf die Menschenwürde jedes einzelnen Juden, zumal darin auch eine Fortsetzung der früheren Diskriminierung des jüdischen Volkes zu sehen ist … Nach allem liegen Gründe für die Annahme vor, dass die sichergestellten Druckschriften im objektiven Verfahren der Einziehung unterliegen werden“.) Die Beschwerde Walendys wurde im Juni 1992 vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen, mit der Begründung, dass unwahre Tatsachenbehauptungen nicht dem Schutzfeld der Meinungsfreiheit und der akademischen Freiheit unterfallen. 86 So auch in der Entscheidung Remer vs. Deutschland (Antragsnr. 25096/94, Entscheidung vom 6. 9. 1995). Die Kommission bejahte auch hier eine Rechtsverletzung, die aber gesetzlich vorgeschrieben war (Art. 10 Abs. 2 EMRK). Im Rahmen der anschließenden Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft hat sie Art. 17 EMRK

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Im Jahre 1996 äußerte sich die Kommission im Urteil Marais vs. Frankreich87. Vier Jahre früher hatte der Beschwerdeführer mit einem dreiseitigen Artikel88 in der Zeitschrift „Revision“ die Existenz der Gaskammern in Struthof-Natzweiler geleugnet89. Auch im vorliegenden Fall wird nicht eigenständig auf Art. 17 EMR verwiesen. Die Kommission wiederholte an dieser Stelle ihre in ständiger Spruchpraxis getroffene Aussage, eine negationistische Äußerung werde nicht a priori als den Zwecken der Konvention zuwiderlaufend betrachtet; im letzteren Fall wäre bereits am Anfang eine Prüfung der Erfüllung der Rechtfertigungsanforderungen unnötig90. Die Berufung auf Art. 17 EMRK erst in der Phase der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des einschlägigen Eingriffs betone immerhin, dass das in Form eines wissenschaftlichen Aufsatzes erfolgte Bestreiten einer historischen Tatsache als Vorwand diente, um die Verbreitung wissenschaftlich umstrittener Aussagen in einem breiteren Lesekreis zu ermöglichen, ohne gleichzeitig potenziellen strafrechtlichen Sanktionen zu unterliegen. Auch hier gelang es der Kommission nicht, ihre Argumentation ohne die Heranziehung der beiden in Kontrast stehenden Artikel zu gestalten.91

herangezogen; Weiterhin s. EKMR, Honsik vs. Österreich, Antragsnr. 25062/94, Entscheidung vom 18. 10. 1995: „Das Verbot von Aktivitäten einschließlich der Äußerung von nationalsozialistischen Ideen ist rechtmäßig und angemessen in Österreich und kann, angesichts der historischen Vergangenheit, die den unmittelbaren Hintergrund der Konvention gestaltet, in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig im Interesse der nationalen Sicherheit und der territorialen Integrität sowie der Verhütung von Straftaten gerechtfertigt werden“. Auch im EKMR, Rebhandl vs. Österreich (Antragsnr. 24398/94, Entscheidung vom 16. 1. 1996) dient Art. 17 EMRK nachdrücklich als Indikator für die Anwendbarkeit des Art. 10 EMRK und wird so mit dem Mantel der Ambivalenz überzogen. 87 EKMR, Marais vs. Frankreich, Antragsnr. 31159/96, Entscheidung vom 24. 6. 1996. 88 Der Verfasser schrieb unter anderem im Artikel: „Diese Recherche strebt keine wissenschaftliche Genauigkeit an. […] Der Autor hat sich … darum bemüht, eine Lücke der Geschichte der Deportationen durch leicht provozierende Argumente zu füllen, welche eine Response erzeugen sollten, die dazu beitragen kann, die Wahrheit über die angeblichen Vergasungen bei Struthof-Natzweiler festzustellen. […] Obwohl das grundlegende chemische Prinzip solide ist, zeigt meine Forschung, dass es unplausibel ist, dass es für den Zweck der Durchführung einer zügigen und gleichzeitigen Erstickung von dreißig Menschen, in Anbetracht der enormen Wassermenge angewendet wurde, die für eine solche Operation erforderlich gewesen wäre.“ 89 Marais wurde wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt (§ 24bis des Pressegesetzes vom 29. 7. 1881) und legte der Europäischen Kommission für Menschenrechte einen Antrag vor. 90 Es wird übrigens darauf hingewiesen, dass die Kommission anmerkt, der strafrechtliche Eingriff soll bei der schlichten Leugnung der Existenz der Gaskammern Störungen oder Verbrechen verhüten („the interference also pursued legitimate aims under the Convention, i. e. ,the prevention of disorder or crime‘„). 91 Ähnlich auch EKMR, Nachtmann vs. Österreich, Antragsnr. 36773/97, Entscheidung vom 9. 9. 1998.

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b) Kritik der zweiten Phase der Spruchpraxis der Menschenrechtskommission Ein bezeichnendes Element der Argumentation der Menschenrechtskommission ist die Begründung der Notwendigkeit des meinungsfreiheitsbeschränkenden Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft durch die Assoziierung der Leugnung und Trivialisierung der nationalsozialistischen Verbrechen mit der Bekräftigung von totalitären, nationalsozialistischen Ideen, die unvereinbar mit den demokratischen Werten und den Menschenrechten seien.92 Diese erfahrungsgemäß korrekte, jedoch in Einzelfällen nicht ausführlich begründete Identifizierung der Holocaustleugnung mit der Förderung von nationalsozialistischen Ideen dient der Aufnahme von nicht de facto festgestellten Gesinnungsmerkmalen als Maßstab der Prüfung der Kompatibilität der Leugnung von historischen Tatsachen mit der Konvention. Wichtigster Bezugspunkt der Rechtsprechung der Kommission ist die kumulative Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit aufgrund der Art. 10 Abs. 2 und 17 EMRK. Mit dieser vagen Begründung wird sowohl der grundsätzliche Ausschluss des Negationismus vom Regelungsbereich des Art. 10 ELRK als missbräuchlich verhindert, und andererseits bejaht die Kommission zugleich eine Rechtsverletzung und verschiebt somit die Prüfung der Vereinbarkeit der Verurteilung mit der Konvention auf die Phase der Prüfung der Rechtfertigung der Maßnahmen in concreto, und lässt somit eine zukünftige Stattgabe ähnlicher Beschwerden offen. Ohne Kritik lässt sich auch die Rechtfertigung eines Eingriffs aufgrund seiner Notwendigkeit in einer Gesellschaft nicht darstellen. Eine konkrete Gefährdung des demokratischen Charakters der Gesellschaft wird in den Urteilen nicht erläutert, sodass die Bejahung der Kompatibilität des Eingriffs mit der Konvention anhand der Erforderlichkeit in einer Gesellschaft als willkürlicher Maßstab der jeweiligen Verhältnismäßigkeit dienen kann. Aus der Spruchpraxis dieser Phase lässt sich ableiten, dass der EGMR den Art. 17 EMRK nicht als Missbrauchsklausel, sondern im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK als Abwägungsfaktor auslegt93. Nach diesem Rechtfertigungsmodell94 – in Abgrenzung zum Nichtanwendungsmodell der späteren Rechtsprechung des EGMR – wird der Schutz der Konvention den einschlägigen Äußerungen nicht verweigert.

92 Vgl. EKMR, Rebhandl vs. Österreich, Antragsnr. 24398/94, Entscheidung vom 16. 1. 1996: „Die Kommission stellt fest, dass die Veröffentlichungen des Antragstellers den Grundideen der Konvention zuwiderlaufen, so wie diese in der Präambel zum Ausdruck gekommen sind, nämlich Gerechtigkeit und Frieden. […] Das Urteil des Schwurgerichts […] kann deswegen als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden“. Auch EKMR, Nachtmann vs. Österreich, Antragsnr. 36773/97, Entscheidung vom 9. 9. 1998. 93 Mensching, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Auflage 2022, Art. 17 Rn. 9. 94 Hong, ZaöRV 2010, 76.

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4. Die Leugnung historischer Tatsachen als grundlegenden Werten der Konvention widersprechende Äußerung? a) Das obiter dictum im Fall Lehideux als Orientierungspunkt der jüngsten Rechtsprechung Das oft in anderen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte herangezogene obiter dictum im Fall Lehideux und Isorni vs. Frankreich95 eröffnete eine neue Phase des Ansatzes zur Leugnung historischer Tatsachen. Die Beschwerdeführer Lehideux und Isorni veröffentlichten im Jahre 1984 in der Zeitung Le Monde einen die Öffentlichkeit adressierenden Artikel zur Wiederherstellung der Reputation des Politikers Philippe Pétain.96 Im Artikel wurde das Profil Pétains als öffentliche Persönlichkeit der Ära 1916 – 1945 revidiert, der demnach für die Befreiung des Landes kämpfte. Die Verfasser des Artikels wurden im Rechtsmittelverfahren sowohl anhand ihrer revisionistischen Darstellung als auch des von ihnen eingereichten Antrags zur Wiederaufnahme des Verfahrens Pétains wegen Rechtfertigung der Verbrechen der Kollaboration mit Nazis verurteilt. In ihrer Beschwerde zogen die Beschwerdeführer den Art. 10 EMRK mit der Begründung heran, dass der einschlägige Eingriff infolge ihrer Aussage zu einer historischen Persönlichkeit und nicht wegen der Verdrehung einer historischen Tatsache auferlegt wurde, sodass die Parallele mit revisionistischen Autoren unbegründet sei. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Verfasser in ihrem Aufsatz die in der Wissenschaft nicht verbreitete Doppelspiel-Theorie verträten97. Allerdings sei es keine Aufgabe des Gerichtes, die historischen Umstände aufzuklären, die im Mittelpunkt einer laufenden Debatte zwischen Historikern stehen98; als solche unterliegen derartige Gegenstände nicht der Kategorie der offenkundigen Tatsachen, wie der Holocaust, dessen Leugnung dem Schutz des Art. 10 EMRK durch Art. 17 EMRK entzogen wird. Bemerkenswert ist auch die eindeutige Aussage des EGMR, der trotz seiner Weigerung, sich zu historischen Fragen zu äußern, zwischen offenkundigen und umstrittenen historischen Tatsachen unterscheidet99 und sich somit selbst widerspricht. Die Kollaboration Petains mit den Nazis wurde vom Gericht allerdings trotz ihrer gerichtlichen Anerkennung nicht als offenkundige historische Tatsache charakterisiert. Die Verurteilung wurde als mit der Konvention unvereinbar und deshalb als in einer de-

95

EGMR, Lehideux und Isorni vs. Frankreich, Antragsnr. 24662/94, Urteil vom 23. 9. 1998. Die Tageszeitung Le Monde veröffentlichte am 13. 7. 1984 eine ganzseitige Anzeige mit dem Titel „Französisches Volk, Du hast ein kurzes Gedächtnis“, dazu EGMR, Lehideux und Isorni vs. Frankreich, Antragsnr. 24662/94, Urteil vom 23. 9. 1998, Rn. 10 ff. 97 EGMR, Lehideux und Isorni vs. Frankreich, Antragsnr. 24662/94, Urteil vom 23. 9. 1998, Rn. 47. 98 „The Court considers that it is not its task to settle this point, which is part of an ongoing debate among historians about the events in question and their interpretation.“ (Rn. 47). 99 „It does not belong to the category of clearly established historical facts“. 96

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mokratischen Gesellschaft wegen der Unverhältnismäßigkeit der verhängten Strafe nicht erforderlich erklärt.100 Das obiter dictum des EGMR zum Thema der Leugnung historischer Fakten lässt seine Betrachtungsweise hinsichtlich des Umfangs des Schutzes der Leugnung von bestimmten historischen Tatsachen im Licht des Missbrauchs von Rechten (Art. 17 EMRK) erkennen; gleichzeitig werden weitere Fragen gestellt, die in der zukünftigen Rechtsprechung aufgeklärt werden könnten. An erster Stelle macht der EGMR die Vereinbarkeit des Eingriffs von der Charakterisierung der jeweiligen historischen Tatsache als „offenkundig“ abhängig, was unter anderem für den Holocaust gilt, sodass künftig die Strafbarkeit der Leugnung auch eines anderen historischen Faktums als dem Holocaust für gerechtfertigt gehalten werden könnte101. Zunächst schränkt der EGMR den Regelungsbereich des Art. 10 EMRK ein, indem die Verurteilung sowohl der Leugnung als auch der Revision einer historischen Tatsache als mit der Konvention kompatibel erklärt wird. Darüber hinaus ist das Gericht entgegen seiner ständigen Rechtsprechung, die die Rechtmäßigkeit des Eingriffs bejaht und die Maßnahme gemäß Art. 17 EMRK rechtfertigt, der Auffassung, dass der Schutz des Art. 10 EMRK bei Fällen von Leugnung und Revision offenkundiger Tatsachen durch Art. 17 EMRK entzogen wird. b) Der Fall Garaudy Der im obiter dictum aus dem Jahr 1998 empfohlene Lösungsansatz wurde im bekannten Urteil Garaudy vs. Frankreich102 herangezogen. Gegen den Akademiker und Schriftsteller des Buches „Gründungsmythen des modernen Israel“ wurden im Jahr 1996 fünf einzelne Strafverfahren wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit, Veröffentlichung von diffamierenden, rassistischen Behauptungen und Aufstachelung zu rassistischem oder religiösem Hass eröffnet. Die ersten drei Strafverfolgungen betreffend Aussagen aus seinen Büchern endeten mit der Verurteilung des Angeklagten wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit gemäß § 24 bis des Pressegesetzes von 1881. Mit dem vierten eingeleiteten Strafverfahren wurde Garaudy wegen öffentlicher Verleumdung einer Gruppe von Personen gemäß §§ 23, 29 Abs. 1, 32 Abs. 2 des Pressegesetzes von 1881 (im vorlie100 „… freedom of expression is applicable not only to ,information‘ or ,ideas‘ that are favourably received or regarded as inoffensive or as a matter of indifference, but also to those that offend, shock or disturb; such are the demands of that pluralism, tolerance and broadmindedness without which there is no ,democratic society‘ … the Court considers the applicants’ criminal conviction disproportionate and, as such, unnecessary in a democratic society. There has therefore been a breach of Article 10“, Rn. 55, 58. 101 Vgl. Die übereinstimmende Meinung des Richters Jambrek (S. 27): „The events in question and their interpretation in the Court’s view do not belong to the category of established historical facts whose negation or revision would in itself aim at the destruction of certain rights and freedoms set forth in the Convention or at their limitation to a greater extent than is provided for in the Convention; they rather represent a part of an ongoing debate among historians.“. 102 EGMR, Garaudy vs. Frankreich, Antragsnr. 65831/01, Urteil vom 24. 6. 2003.

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genden Fall der jüdischen Gemeinde) zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe verurteilt, während das fünfte und letzte Strafverfahren mit der Verurteilung Garaudys wegen Veröffentlichung diffamierender, rassistischer Äußerungen und Aufstachelung zu Hass endete. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges erhob Garaudy eine Beschwerde vor dem EGMR unter Bezugnahme auf Art. 6, 9, 10 und 14 EMRK. Garaudys Beschwerde vor dem EGMR wurde, dem obiter dictum des Urteils Lehideux und Isorni vs. Frankreich folgend, im Licht des Art. 17 EMRK untersucht. Das Gericht betonte, dass die Leugnung offenkundiger Tatsachen wie des Holocaust keine historische Forschung darstelle, da sie Werte untergrabe, auf denen der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus basiere und die öffentliche Ordnung bedrohe.103 In diesem Sinn seien solche Äußerungen mit den demokratischen Grundwerten und Menschenrechten unvereinbar. So gelangte das Gericht zu der Auffassung, dass die im Buch vertretenen negationistischen Stellungen den grundlegenden Werten der Konvention zuwiderlaufen, nämlich Gerechtigkeit und Frieden. Das Gericht führt also an, dass der Beschwerdeführer versucht habe, den Art. 10 EMRK zweckwidrig zu gebrauchen, indem er sein durch diesen garantiertes Recht auf Meinungsfreiheit zu Zwecken verwendete, die mit dem Wortlaut und Geist der Konvention unvereinbar seien. Dementsprechend vertritt das Gericht die Ansicht, dass der Beschwerdeführer sich nicht auf Art. 10 EMRK berufen dürfe104. Die angefochtene Verurteilung Garaudys wegen Veröffentlichung von rassisch diffamierenden Aussagen und Aufstachelung zu Rassenhass darf als ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung angesehen werden, der zwei schutzbedürftige Ziele verfolgte: die Verhütung 103 „There can be no doubt that denying the reality of clearly established historical facts, such as the Holocaust, as the applicant does in his book, does not constitute historical research akin to a quest for the truth. The aim and the result of that approach are completely different, the real purpose being to rehabilitate the National-Socialist regime and, as a consequence, accuse the victims themselves of falsifying history. Denying crimes against humanity is therefore one of the most serious forms of racial defamation of Jews and of incitement to hatred of them. The denial or rewriting of this type of historical fact undermines the values on which the fight against racism and anti-Semitism are based and constitutes a serious threat to public order. Such acts are incompatible with democracy and human rights because they infringe the rights of others. Their proponents indisputably have designs that fall into the category of aims prohibited by Article 17 of the Convention.“ 104 So auch EGMR, Witzsch vs. Deutschland, Antragsnr. 7485/03, Urteil vom 13. 12. 2005. Der Beschwerdeführer bestritt in einem Brief an Professor Wolfssohn die Verantwortung Hitlers und der NSDAP für den Holocaust. Nach Einreichung des Briefes bei der Polizei und nachdem ein Strafantrag gestellt wurde, wurde Witzsch wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) verurteilt. Im Urteil Witzsch vs. Deutschland wird nicht nur erneut der rechtsprechende Wendepunkt des obiter dictum aus dem Jahre 1998 angenommen, sondern vielmehr wird der Ausschluss von leugnenden Äußerungen anhand des Nichtanwendungsmodells auf weitere erhebliche Umstände außer dem Holocaust erweitert. Der EGMR geht davon aus, dass die Aussagen des Autors den Opfern gegenüber verächtlich gewesen seien und dem Wortlaut und Zweck der Konvention zuwiderlaufen. Folglich kann sich der Beschwerdeführer gemäß Art. 17 EMRK nicht auf Art. 10 EMRK stützen, sodass dieser Teil der Beschwerde als ratione materiae zurückgewiesen werden soll.

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von Straftaten und den Schutz der Persönlichkeitsrechte anderer, sodass die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen werden sollte. 5. Die historische Erinnerung als „Res judicata“105 : die geschichtsbezogene Rechtsprechung des EGMR als historische Schiedsgerichtsbarkeit Die gerichtliche Auseinandersetzung mit der Geschichtsfälschung als Res judicata ist durch die Rechtsprechung des EGMR über die Leugnung von Kriegsverbrechen hinaus in weiteren Fällen veranschaulicht worden. Dieser Kategorie unterfällt der Fall Chauvy und andere vs. Frankreich106. Der Beschwerdeführer Gerald Chauvy bestritt in seinem Buch „Aubrac, Lyon 1943“ die offizielle Version eines Ereignisses aus der Ära der französischen Widerstandsbewegung107. Das Gericht verurteilte die Beschwerdeführer wegen öffentlicher Verleumdung der Eheleute Aubrac hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft in der Résistance gemäß §§ 29 Abs. 1, 31 Abs. 1 des Pressegesetzes vom 29. Juli 1881. Nach erfolgloser Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges reichten die Beschwerdeführer eine Beschwerde beim EGMR ein. Das Gericht stellte die Vereinbarkeit der Verurteilung der Beschwerdeführer mit der Konvention durch eine ausführliche Argumentation zum Kriterium für die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft fest108, wenn auch mit einer widersprüchlichen Argumentation: Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Erforschung der historischen Wahrheit ein wesentlicher Bestandteil der Meinungsfreiheit sei und es keine Aufgabe des Gerichts sei, über historische Geschehnisse zu entscheiden, die einen Aspekt einer anhaltenden Debatte zwischen Historikern darstellen. Dabei bezieht sich das Gericht auf das sog. ,Barbie-Testament‘, das nicht wie der Holocaust, dessen Leugnung gem. Art. 17 EMRK vom Schutz des Art. 10 EMRK ausgenommen wird, in die Kategorie der offenkundigen historischen Tatsachen falle.109. 105

Fronza, JZG 11 (2010), 258. EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004. 107 Insbesondere untersuchte er die Verhaftung von zwei führenden Widerstandskämpfern in Caluire-et-Cuire, Jean Moulin und Raymond Aubrac vom Leiter der Gestapo Klaus Barbie und hauptsächlich, ob die festgenommenen Personen mit Hilfe eines Doppelagents gefangen worden waren. Im Buch des Beschwerdeführers wurde laut einer schriftlichen Stellungnahme Barbies Aubrac als der Verräter genannt, obwohl gleichzeitig betont wurde, dass keine Beweise zur Untermauerung der Vorwürfe vorlagen. 108 EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004, Rn. 62 ff. 109 EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004, Rn. 69: „The Court considers that it is an integral part of freedom of expression to seek historical truth and it is not the Court’s role to arbitrate the underlying historical issues, which are part of a continuing debate between historians that shapes opinion as to the events which took place and their interpretation. As such, and regardless of the doubts one might have as to the probative value or otherwise of the document known as ,Barbie’s written submissions‘ or the ,Barbie 106

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Allerdings übernimmt der EGMR damit genau die Rolle des Prüfers der historischen Wahrheit und somit des historischen Richters, die nach Auffassung des Gerichts außerhalb des Rahmens seiner Befugnisse liegt, wenn er die in concreto kollidierenden Rechte auf Information bezüglich eines wichtigen Umstands der französischen Widerstandsbewegung und des Schutzes des guten Rufes des Ehepaars Aubrac abwägt. Im vorliegenden Fall wurde nämlich der EGMR angerufen, um zu prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte zwischen den jeweils geschützten Rechten ein angemessenes Gleichgewicht sicherstellten. Dazu ging der EGMR auf den zentralen Gegenstand des Falles ein, indem er die Stellungnahmen der nationalen Gerichte hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit den einschlägigen Fakten prüfte, nämlich sowohl die Festnahme von Aubrac als auch die Behauptungen Barbies. Um seinen Argumenten Schlagkraft zu verleihen, analysiert der EGMR ausführlich die entsprechenden Ausschnitte der innerstaatlichen Urteile und zitiert gleichzeitig historische Quellen zur Überprüfung der fraglichen historischen Tatsachen und kommt somit zur Schlussfolgerung, dass der Eingriff in die Meinungsfreiheit in angemessenem Verhältnis zum angestrebten Ziel des Schutzes des Rufes von Aubrac steht110. „Besonders fällt hierbei die Meinung des Richters Thomassen auf. Er bemerkt, dass der Autor es versäumt habe, in seinem Buch die Grundprinzipien der historischen Methode zu beachten111, und stellt zugleich fest, dass solche Prinzipien, da sie der Tätigkeit des EGMR fremd sind, bei der Bestimmung der Reichweite eines geschützten Rechts keine entscheidende Rolle spielen dürfen. Trotzdem stimmt Thomassen letztlich der von ihm beanstandeten Position zu112. Denn er stellt die Frage, ob der einschlägige Eingriff allein mit der Notwendigkeit der Aufklärung von historischen Geschehnissen oder mit der Bedeutung anderer Interessen oder Freiheiten gerechtfertigt wird.“ Der EGMR befasste sich auch mit einem umgekehrten Fall historisch geprägter Gesetzgebung, namentlich mit dem Straftatbestand des § 301 des türkischen StGB, der die Anerkennung des armenischen Genozides mit einer Freiheits- oder Geldstrafe bedroht. Im Fall Altug˘ Taner Akçam vs. Türkei113 behauptete der Beschwerdeführer unter Berufung auf Art. 7, 10 und 14 EMRK eine anhaltende Strafverfolgungsandrohung gemäß § 301 des türkischen StGB wegen seiner akademischen Tätigkeit testament‘, the issue does not belong to the category of clearly established historical facts – such as the Holocaust – whose negation or revision is removed from the protection of Article 10 by Article 17 of the Convention.“ 110 EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004, Rn. 76 ff. 111 EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004, Rn. 77: „The author had failed to respect the fundamental rules of historical method in the book and had made particularly grave insinuations.“ 112 EGMR, Chauvy und andere vs. Frankreich, Antragsnr. 64915/01, Urteil vom 29. 6. 2004, übereinstimmende Meinung des Richters Thomassen, „I agree with that conclusion because the book is a little more than pure conjecture.“ 113 EGMR, Altug˘ Taner Akçam vs. Türkei, Antragsnr. 27520/07, Urteil vom 25. 10. 2007.

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zum Thema des armenischen Völkermords114. Die türkische Regierung argumentierte, der Beschwerdeführer habe nicht den Opferstatus gemäß Art. 35 EMRK; folglich sei seine Beschwerde eine actio popularis. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung115 wiederholte der EGMR, dass der Opferstatus auch ohne bestimmten Eingriff bejaht werden könne, wenn die einschlägige Gesetzgebung unvereinbar mit der EMRK sei und der Beschwerdeführer sein Verhalten wegen einer Strafverfolgungsandrohung anpassen solle. Im vorliegenden Fall unterliege das eingeleitete Ermittlungsverfahren dieser Kategorie. Obwohl die einschlägige Vorschrift in seinem Fall nie angewandt wurde, waren die aufeinanderfolgenden Strafanzeigen äußerst belästigend und angsteinflößend. Der Opferstatus ergebe sich folglich aus der Strafandrohung, und in diesem Sinn bestehe ein Eingriff in die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK. Die Unbestimmtheit der Strafvorschrift116 stelle eine ständige Androhung an Personen dar, die die Rechtsfolgen ihrer Handlungen nicht vorhersehen könnten. Daher entspreche der § 301 des türkischen StGB nicht der Qualität der Rechtsvorschriften, die von der Rechtsprechung des Gerichtes gefordert werde, und folglich sei der Eingriff nicht gerechtfertigt. 6. Das obiter dictum Lehideux als allgemein geltender Ansatz? – Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbegrenzung117 in Fällen zur Leugnung von unbestreitbaren historischen Fällen außer dem Holocaust a) Das Bestreiten der rechtlichen Charakterisierung als negationistische Äußerung: der Fall Perinçek Das obiter dictum Lehideux, das den Schutz des Art. 10 EMRK in Fällen von unbestreitbaren historischen Tatsachen wie dem Holocaust verweigert, fand in den geschichtsbezogenen Urteilen nach dem Jahr 1998 Anwendung. Der Anwendungsbereich des obiter dictum wurde erst im Jahr 2013 geklärt, als sich der EGMR zu einem negationistischen, nicht holocaustbezogenen Sachverhalt äußern sollte: Die jüngste Entscheidung des EGMR zum Thema der Kriminalisierung der Leugnung historischer Tatsachen ist das Urteil Perinçek vs. Schweiz118. Am 17. Dezember 2013 entschied der EGMR mit einer Mehrheit von fünf zu zwei 114

Der Beschwerdeführer veröffentlichte im Jahre 2006 einen Artikel als Historiker in der bilingualen türkisch-armenischen Zeitung AGOS, in dem er die Strafverfolgung des Redakteurs Hrant Dink wegen Herabsetzung des Türkentums beanstandete und gleichzeitig seine Solidarität mit der Forderung zum Ausdruck brachte, wegen seiner Aussagen zum armenischen Thema strafverfolgt zu werden. 115 EGMR, Klass und andere vs. Deutschland, Urteil vom 6. 9. 1978, Rn. 38. 116 EGMR, Altug˘ Taner Akçam vs. Türkei, Antragsnr. 27520/07, Urteil vom 25. 10. 2007, Rn. 77. 117 Mensching, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2015, Art. 17 Rn. 9. 118 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013.

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Stimmen, dass das schweizerische Urteil das Recht auf Meinungsfreiheit des Chefs der türkischen Arbeitspartei Dog˘ u Perinçek durch seine Verurteilung wegen öffentlicher Leugnung des armenischen Genozids verletzt hatte. Der Fall geht auf das Jahr 2005 zurück, als der türkische Politiker den armenischen Genozid als eine „internationale Lüge“ beschrieb und öffentlich bestritt, dass das Osmanische Reich das Verbrechen des Genozids begangen hatte119. Im Jahr 2007 wurde Perinçek wegen Rassendiskriminierung gemäß § 261bis des schweizerischen StGB verurteilt.120 Das Gericht wies darauf hin, dass der armenische Genozid ein vom Schweizer Parlament anerkannter Genozid sei, sodass keine Bezugnahme auf historische Quellen zur Belegung des Völkermords erforderlich wäre. Nachdem seine Revision verworfen worden war, erhob Perinçek eine Beschwerde vor dem EGMR und machte geltend, dass die Entscheidung, die auf dem, dem Bestimmtheitsgebot widersprechenden § 262bis Abs. 4 des schweizerischen StGB beruhte, sein Recht auf Meinungsfreiheit verletze und kein legitimes Ziel innerhalb einer demokratischen Gesellschaft verfolge. Von entscheidender Bedeutung ist die vom Gericht dargelegte Unterscheidung bei der Feststellung der Verletzung des Meinungsfreiheitsrechts von Perinçek: die Beeinträchtigung des Rechts durch die Verurteilung des Beschwerdeführers lässt sich nicht durch die lato sensu Auslegung des Art. 10 EMRK begründen, die auch die Leugnung eines historischen Ereignisses schützt, sondern durch die Erläuterung der Reichweite des Begriffs der Leugnung. Die rechtliche Einordnung einer historischen Tatsache ist im vorliegenden Fall nicht geeignet, zu Hass aufzustacheln121 oder Verachtung gegen die Opfer zu wecken, denn es besteht über die Qualifizierung der Ereignisse aus dem Jahr 1915 als Genozid kein allgemeiner Konsens122. Die Ablehnung des Missbrauchsarguments mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer nicht die Tatsachen selbst, sondern ihre rechtliche Qualifizierung bestritt123, trägt zu einem tieferen Verständnis der Grenzlinie des Pluralismuskonzepts bei, wie es vom EGMR entwickelt wird.

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EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 7. EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 9. 121 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 52 („the rejection of the legal characterisation of the events of 1915 was not in itself sufficient to amount to incitement of hatred towards the Armenian people“). 122 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 117. 123 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 117. Anders als Perinçek, hatte etwa Faurisson nicht die rechtliche Qualifizierung, sondern die offenkundige historische Tatsache selbst bestritten („Firstly, the applicants in those cases had not disputed the mere legal characterisation of a crime but had denied historical facts, sometimes very concrete ones, such as the existence of gas chambers. Secondly, their denial concerned crimes perpetrated by the Nazi regime that had resulted in convictions with a clear legal basis […]. Thirdly, the historical facts challenged by the applicants in those cases had been found by an international court to be clearly established“). 120

III. Rechtsprechung des EGMR zur Leugnung von historischen Tatsachen

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Dem Argument der De-facto-Etablierung einer historischen Version wird vom EMRK die Bemerkung gegenübergestellt, dass, „obwohl die Suche nach der historischen Wahrheit ein integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit ist, es nicht die Rolle des Gerichts ist, die historischen Fragen zu klären, die Bestandteil einer laufenden Debatte zwischen Historikern sind“.124 Es obliegt dem Gericht, die Verhältnismäßigkeit der betreffenden Maßnahmen zu prüfen, ohne auf die Problematik einzugehen, ob der Schutz der kollektiven Erinnerung als legitimes Ziel der Vorschrift dienen kann. Insbesondere wurde die Erfüllung der Bedingung der dringenden sozialen Notwendigkeit des Eingriffs geprüft, indem der Anspruch auf Schutz der Ehre der Nachkommen der Opfer gegen die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers abgewogen wird.125 Von herausragender Bedeutung im Gedankengang des Gerichts ist der „allgemeine Konsens“ der Wissenschaft in Bezug auf die rechtliche Qualifikation der Ereignisse aus dem Jahre 1915 als Genozid126. Denn der EGMR bemerkte, dass es fraglich sei, ob überhaupt ein wirklicher, allgemeiner Konsens über eine historische Tatsache bestehen kann, da die historische Forschung per definitionem eine erneuernde Annäherung an bestimmte Aspekte historischer Tatsachen anbieten soll.127 Die Erfüllung der Bedingung der dringenden sozialen Notwendigkeit der Verurteilung als Voraussetzung des Eingriffes in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers wurde anhand der Geeignetheit der Äußerung geprüft, Hass aufzustacheln. Einen Meilenstein zum kausalen Zusammenhang zwischen der revisionistischen Rede und der Aufstachelung zum Hass stellte die im Perinçek vs. Schweiz zitierte Entscheidung 235/2007 des spanischen Verfassungsgerichts128, die zwischen der schlichten Leugnung eines Genozids, nämlich einem einfachen Bestreiten einer bestimmten historischen Tatsache, und der aufhetzenden Leugnung unterscheidet; 124

EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 99. EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 111. 126 In voller Kenntnis der Konsequenzen der Annahme des allgemeinen Konsenses als Maßstab für die Verhältnismäßigkeit der die Meinungsfreiheit einschränkenden Verurteilungen bemerkt der EGMR, dass ein echter allgemeiner Konsens über historische Tatsachen eigentlich kaum vorstellbar sei, außer beim Holocaust – und mit dieser Schlussfolgerung distanziert sich der EGMR vom Syllogismus des spanischen Verfassungsgerichts, nach dem die einfache Leugnung aller historischer Tatsachen, unabhängig vom historischen oder sozialen Konsens, verfassungsrechtlich zulässig sei. Auf jeden Fall entsteht ein Widerspruch bei ungleicher Beurteilung der Leugnung historischer Tatsachen anhand der Reichweite des historischen oder gesellschaftlichen Konsenses; das bekannteste Beispiel dieses Widerspruchs war die Erklärung des Gesetzes vom 23. 1. 2012 zur Leugnung des armenischen Genozids für verfassungswidrig, während das Gayssot-Gesetz identischen Wortlauts in Kraft bleibt, sodass, wenn auch subtil, auf das Kriterium des Konsenses über jede historische Tatsache verwiesen wird. 127 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 117 („In any event, it is even doubtful that there can be a ,general consensus‘, particularly among academics, about events such as those in issue in the present case, given that historical research is by definition subject to controversy and dispute and does not really lend itself to definitive conclusions or the assertion of objective and absolute truths“). 128 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 34 ff. 125

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

eine solche nämlich dient einer indirekten Relativierung der Ereignisse oder der politischen Identifikation mit den Tätern129. Eine ähnliche Argumentation mit unterschiedlicher Schlussfolgerung ist im Fall Faurisson vom UN-Menschenrechtsausschuss zu finden,130 nach dem die entsprechende französische Strafvorschrift „unter anderen Umständen zu Urteilen oder Maßnahmen führen könnte, die mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte unvereinbar sind“.131 Begründungsberichte von Gesetzentwürfen oder die Rechtsprechung selbst lassen also eine Inkongruenz sehen, die zwischen der zentralen Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs und seiner mangelhaften Darstellung bei den Debatten über das in concreto geschützte Rechtsgut besteht. Sie weist ausdrücklich eine deregulierende Tendenz der sogenannten symbolischen Gesetzgebung hinsichtlich grundlegender Prinzipien des Strafrechts auf. Aus dieser Sicht folgen die Schlussfolgerungen des EGMR erwartungsgemäß jener dogmatischen Haltung der nationalen Gesetzgebungen. Der EGMR weist die Erfüllung der Bedingung der „dringenden sozialen Notwendigkeit“ als Kriterium für die Abwägung in Konflikt stehender Rechte und als gerechtfertigte Schranke der Meinungsfreiheit zurück. Obwohl das Gericht die Genozid-Leugnung nicht ohne Weiteres als Wahrnehmung der Meinungsfreiheit betrachtet, kommt es zu dem Schluss, dass das von den nationalen Behörden vorgelegte Beweismaterial unklar und ungenügend war. Insbesondere gelang es den Behörden nicht zu beweisen, „dass die Verurteilung des Beschwerdeführers notwendig in einer demokratischen Gesellschaft für den Schutz der Ehre und Gefühle der Nachkommen der Opfer waren“, da die Leugnung oder das Bestreiten der rechtlichen Qualifizierung sich auf Ereignisse zu Anfang des 20. Jahrhunderts bezog.132 Das Urteil des EGMR wurde am 15. Oktober 2015 von der Großen Kammer bestätigt133. In einem ausführlichen Entscheid von 134 Seiten bestätigte sie, dass die strafrechtliche Verurteilung Perinçeks mangels einer Aufstachelung zu Hass in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich war134. Die Große Kammer wiederholte die erstinstanzliche Feststellung, nicht zu der Entscheidung, ob es sich bei den Massenmorden um einen Genozid gehandelt hat, befugt zu sein135. Abweichend von der Argumentation des Urteils vom 13. Dezember 2013 prüfte die Große 129

EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 37. EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 117; s. auch die gemeinsame übereinstimmende Meinung der Richter Raimondi und Sajó. 131 Robert Faurisson vs. France, Communication No. 550/1993, U.N. Doc. CCPR/C/58/D/ 550/1993(1996), Rn. 9.3. 132 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, Rn. 129. 133 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015. 134 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 295 („The Grand Chamber fully agrees with the Chamber’s assessment“). 135 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 214. 130

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Kammer die dringende soziale Notwendigkeit des Eingriffs nicht (nur) anhand des umstrittenen Kriteriums des Konsenses über die historische Tatsache136, sondern auch anhand des geographischen, historischen137 und zeitlichen138 Faktors. Nach Auffassung der Großen Kammer liege die Erforderlichkeit der Kriminalisierung der Holocaustleugnung nicht darin, dass die in Frage stehende historische Tatsache offenkundig sei, sondern vielmehr darin, dass ihre Leugnung besonders in Staaten, die den Nazischrecken erlebt haben, antidemokratisch und antisemitisch sei139. Dagegen sei die Polemik, die Perinçeks Äußerung ausgelöst habe, dem schweizerischen politischen Leben fremd und die strafrechtliche Verurteilung wegen des Bestreitens der rechtlichen Qualifizierung des armenischen Genozids daher nicht durch den innenpolitischen Kontext gerechtfertigt140. Darüber hinaus war der Zeitablauf zwischen den Ereignissen und der Äußerung des Beschwerdeführers kritisch, da es 90 Jahre später fast keine Überlebenden mehr geben kann.141 Außerdem bemerkte die Große Kammer, dass dem Bestreiten deswegen keine besonders erschütternde Wirkung zugeschrieben werden kann, weil der Beschwerdeführer die Grausamkeiten nicht rechtfertigte, sondern ihre Qualifikation als Genozid bestritt. Die Große Kammer war im vorliegenden Fall ebensowenig der Überzeugung, dass eine Äußerung zu traumatischen historischen Tatsachen die Würde der von diesen Ereignissen betroffenen Gruppen verletzen kann142, wie die Kommission und der EGMR im Fall der Leugnung des Holocaust angenommen haben. Abweichend von ihrer ursprünglichen Begründung der Nichterfüllung einer dringenden sozialen Notwendigkeit mangels Konsenses zu den historischen Ereignissen zwischen den Hohen Vertragsparteien äußerte sich die Große Kammer skeptisch zum Kriterium der rechtsvergleichenden Betrachtung und zur Erforderlichkeit der Kriminalisierung der Leugnung des armenischen Genozids gemäß den internationalen Verpflichtungen der Schweiz.143

136 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 257 („the comparative-law position cannot play a weighty part in the Court’s conclusion with regard to this issue“). 137 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 242 ff. 138 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 249 f. 139 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 243. 140 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 244 ff. 141 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 250. 142 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 156. 143 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 257.

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Unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte ist die Große Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass es in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich war, den Beschwerdeführer zum Schutz der Rechte der armenischen Gemeinde einer strafrechtlichen Sanktion zu unterwerfen.144 Die inkohärente Anwendung des Art. 17 EMRK in geschichtsbezogener Rechtsprechung zeigte sich im Urteil daran, dass ein Teil der Richter in einem Sondervotum argumentierte, dass das Massaker und die Abschiebungen des armenischen Volkes ein Genozid waren145, was als unbestreitbare historische Tatsache angesehen werden sollte, sodass deren Leugnung Offensichtliches leugne und folglich dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK als missbräuchlich entzogen werden sollte.146 b) Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Art. 17 EMRK durch die obiter dicta des EGMR zur Leugnung von historischen Tatsachen Der Anwendungsbereich der Missbrauchsklausel zu geschichtsbezogenen Äußerungen wurde durch das obiter dictum aus dem Urteil Orban u. andere vs. Frankreich147 erweitert, sodass auch eine Rechtfertigung von Kriegsverbrechen wie Folter und Massenexekutionen dem Art. 17 EMRK unterfällt. Das obiter dictum des Lehideux-Urteils wurde anschließend in der erstinstanzlichen Entscheidung Janowiec und andere vs. Russland148 wiederholt. Die Beschwerdeführer, Nachkommen von 1940 in Katyn hingerichteten polnischen Armeeangehörigen, machten eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) hinsichtlich der Verpflichtung des Staates geltend, eine angemessene und effektive Untersuchung des Todes ihrer Angehörigen durchzuführen.149 Weiter machten sie eine Verletzung von Art. 3 EMRK geltend, da sie keine Informationen über den Tod ihrer Angehörigen erhalten und die russischen Behörden ihre Anträge abgelehnt hätten150. Der EGMR führte aus151, dass die Leugnung von Verbrechen gegen die

144 EGMR, Perinçek vs. Schweiz (Große Kammer), Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 15. 10. 2015, Rn. 280. 145 Sondervotum der Richterinnen und Richter Spielmann, Casadevall, Berro, De Gaetano, Sicilianos, Silvis und Ku¯ris. 146 Sondervotum des Richters Silvis, unterstützt durch die Richterinnen und Richter Casadevall, Berro und Ku¯ris. 147 EGMR, Affaire Orban et autres vs. Frankreich, Antragsnr. 20985/05, Urteil vom 15. 1. 2009: „Il n’est pas douteux que des propos ayant sans équivoque pour but de justifier des crimes de guerre tels que la torture ou des exécutions sommaires sont pareillement caractéristiques d’un détournement de l’article 10 de sa vocation.“ 148 EGMR, Janowiec und andere vs. Russland, Antragsnr. 55508/07 und 29520/09, Urteil vom 16. 4. 2012. 149 EGMR, Janowiec und andere vs. Russland, Antragsnr. 55508/07 und 29520/09, Urteil vom 16. 4. 2012, Rn. 112. 150 EGMR, Janowiec und andere vs. Russland, Antragsnr. 55508/07 und 29520/09, Urteil vom 16. 4. 2012, Rn. 143.

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Menschheit wie des Holocaust nach ständiger Auffassung des Gerichtshofs den grundlegenden Werten der Konvention und der Demokratie, nämlich Gerechtigkeit und Frieden, zuwiderläuft. Dies gilt auch in Fällen von Aussagen, die das Ziel der Rechtfertigung von Kriegsverbrechen wie Folter oder Massenexekutionen verfolgen. Mit der Behauptung, dass die Angehörigen der Beschwerdeführer als Gefangene in den sowjetischen Lagern festgehalten wurden, und die Erklärung, dass ihr weiteres Schicksal nicht aufgeklärt werden könnte, leugneten die russischen Justizbehörden die Massenexekutionen von Katyn und widersprächen den grundlegenden Werten der Konvention152. Obwohl dieses obiter dictum aus dem Urteil Janowiec vs. Russland als ständige Auffassung des EGMR bekräftigt wird, ist es nicht mit dem zu Lehideux identisch: Im Janowiec-Urteil wird der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK neu definiert153, indem leugnenden Äußerungen zu Kriegsverbrechen und nicht, wie im Lehideux-Urteil, offenkundigen historischen Tatsachen der Schutz der Konvention verweigert wird. Aus einer systematischen Auslegung der drei dicta und der tatsächlich uneinheitlichen Rechtsprechung des EGMR lässt sich ableiten, dass sich die Missbrauchsklausel des Art. 17 EMRK zu einem Schutzbereichsbegrenzungsinstrument gewandelt hat, das einen wesentlichen Bereich des historischen Spektrums umfasst, nämlich die Leugnung und Rechtfertigung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und unbestreitbarer historischer Tatsachen, zu denen nicht ausschließlich der Holocaust gehört. Allerdings beeinträchtigt die sich wandelnde und auf Expansion ausgerichtete Missbrauchsklausel des Art. 17 EMRK damit das Gebot der zurückhaltenden Anwendung des Artikels. Bereits 1976 hat der EGMR im Urteil Handyside gegen Vereinigtes Königreich154 vorgebracht, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft darstellt. Es gilt daher nicht nur für günstig aufgenommene oder als unschädlich oder unwichtig angesehene „Informationen“ oder „Ideen“, sondern auch für solche, die den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen. Die Konventionsrechte dürfen allerdings nicht in Anspruch genommen werden, um Handlungen vorzunehmen oder Äußerungen zu machen, die den Grundwerten der Konvention widersprechen155. Die Idee eines Missbrauchsverbots, die auch in der deutschen Rechtsordnung durch den Grundsatz der wehrhaften Demokratie verankert ist, entstand nach den extremisti151

EGMR, Janowiec und andere vs. Russland, Antragsnr. 55508/07 und 29520/09, Urteil vom 16. 4. 2012, Rn. 165. 152 Österreichisches Institut für Menschenrechte, Recht der Hinterbliebenen auf Aufklärung des Massakers von Katyn Janowiec u. a. vs. Russland, Antragsnr. 55.508/07 und 29.520/09, Urteil vom 16. 4. 2012, Kammer V, S. 125. 153 Lobba, EJIL 2015, 249. 154 EGMR, Handyside vs. Vereinigtes Königreich, Antragsnr. 5493/72, Urteil vom 7. 12. 1976, Rn. 49. 155 Neidhardt, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK 2017, Art. 17 Rn. 1 ff.

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schen Erfahrungen des Zweites Weltkriegs und zielte auf die Verweigerung der Berufung auf die in der Konvention verankerten Freiheiten durch einzelne Personen, die ebendiese Freiheiten zerstören möchten. Die Anwendung des Art. 17 EMRK durch die Menschenrechtskommission und den EGMR hat sich in Fällen von totalitären Äußerungen als uneinheitlich erwiesen. Der EGMR hat auf die Missbrauchsklausel zurückgegriffen, um Äußerungen, die zu Hass oder Intoleranz aufstacheln oder sie rechtfertigen, oder Anmerkungen, die den Grundwerten der Konvention zuwiderlaufen,156 den Schutz zu verweigern157. Art. 17 EMRK unterfallen außerdem zu ethnischem Hass aufstachelnde Äußerungen158, Aufstachelung zu Rassenhass159, Aufstachelung zu religiösem Hass160, Äußerungen, die eine totalitäre Doktrin propagieren oder eine Gefahr für die Demokratie darstellen161. Andererseits haben die Menschenrechtskommission und der EGMR durch ihre meinungsbezogene Vorgehensweise andere Fälle von Hassrede oder Gewaltaufruf nicht aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK ausgeschlossen, allerdings anhand der Rechtfertigungsgründe des Art. 10 Abs. 2 EMRK für konventionswidrig erklärt wie die Rechtfertigung von Gewalt und Aufstachelung zu Feindseligkeit162, Verbreitung von homophoben Flugblättern163, Billigung von Terrorismus164, Billigung von Kriegsverbrechen165, Verunglimpfung der nationalen Identität166, Aufsta156

EGMR, Seurot vs. Frankreich, Antragsnr. 57383/00, Urteil vom 18. 5. 2004. EGMR, Erbakan vs. Türkei, Antragsnr. 59405/00, Urteil vom 6. 7. 2006. 158 EGMR, Pavel Ivanov vs. Russland, Antragsnr. 35222/04, Urteil vom 27. 8. 2004; W.P. und andere vs. Polen, Antragsnr. 42264/98, Urteil vom 2. 9. 2004; M’BalaM’Bala vs. Frankreich, Antragsnr. 25239/13, Urteil vom 20. 10. 2015. 159 EKMR, Glimmerveen und Hagenbeek vs. Holland, Antragsnr. 8348/78 und 8406/78, Entscheidung vom 11. 10. 1979. 160 EGMR, Norwood vs. Vereinigtes Königreich, Antragsnr. 23131/03, Urteil vom 16. 11. 2004. 161 EKMR, Kommunistische Partei Deutschlands vs. Bundesrepublik Deutschland, Antragsnr. 250/57, Entscheidung vom 20. 7. 1957; EKMR, B.H., M. W., H.P. und G.K. vs. Österreich, Antragsnr. 12774/87, Urteil vom 12. 10. 1989; EKMR, Nachtmann vs. Österreich, Antragsnr. 36773/97, Entscheidung vom 9. 9. 1998; EGMR, Schimanek vs. Österreich, Antragsnr. 32307/96, Urteil vom 1. 2. 2000. 162 EGMR, Sürek vs. Türkei, Antragsnr. 26682/95, Urteil der Großen Kammer vom 8. 7. 1999; EGMR, Özgür Gündem vs. Türkei, Ersöz und andere, Antragsnr. 23144/93, Urteil vom 16. 3. 2000; EGMR, Medya FM Reha Radyo ve y¨letiy¨im Hizmetleri A.y¨. vs. Türkei, Antragsnr. 32842/02, Urteil vom 14. 11. 2006; EGMR, Gündüz vs. Türkei, Antragsnr. 59745/00, Urteil vom 13. 11. 2003; EGMR, Gündüz vs. Türkei, Antragsnr. 35071/97, Urteil vom 4. 12. 2003; EGMR, Faruk Temel vs. Türkei, Antragsnr. 16853/05, Urteil vom 1. 2. 2011; EGMR, Dicle (Nr. 2) vs. Türkei, Antragsnr. 46733/99, Urteil vom 11. 4. 2006; EGMR, Erdal Tas¸, Antragsnr. 77650/01, Urteil vom 19. 12. 2006. 163 EGMR, Vejdeland und andere vs. Schweden, Antragsnr. 1813/07, Urteil vom 9. 2. 2012. 164 EGMR, Leroy vs. Frankreich, Antragsnr. 36109/03, Urteil vom 2. 10. 2008. 165 EGMR, Lehideux und Isorni, Antragsnr. 55/1997/839/1045, Urteil vom 23. 9. 1998. 166 EGMR, Dink vs. Türkei, Antragsnr. 2668/07, 6102/08, 30079/08, 7072/09 and 7124/09, Urteil vom 14. 9. 2010. 157

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chelung zu Rassendiskriminierung oder Rassenhass167, Aufstachelung zu ethnischem Hass168, Anstiftung zu religiöser Intoleranz169, Hassrede im Internet170. Der uneinheitliche Charakter der Linie der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zeigt sich allerdings besonders beim Thema der Würdigung der Leugnung von historischen Tatsachen.171 Während es sich beim Holocaust um eine historische Tatsache handelt, deren Leugnung den grundlegenden Werten der Konvention widerspricht und die deshalb auch nicht durch Art. 10 EMRK geschützt wird, blieb die Frage offen, ob dieser Ansatz bei anderen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit anwendbar sei. Entscheidend ist dabei abzuklären, ob die Leugnung des Holocaust – und nicht etwa auch anderer historischer Tatsachen – wegen der häufigen Assoziierung ihrer Befürworter mit antisemitischen oder nationalsozialistischen Ansichten von Art. 17 EMRK erfasst ist, oder ob diese leugnende Äußerung einen eigenständigen Unwert trägt, der diese juristische Würdigung der Schutzbereichsbegrenzung rechtfertigt. Der EGMR wird in seiner zukünftigen Rechtsprechung erläutern müssen, wie der Begriff einer unbestreitbaren historischen Tatsache definiert wird und ob eine solche anhand von historischen Quellen oder der gerichtlichen oder parlamentarischen Anerkennung als offenkundig charakterisiert wird. Das Bestreiten der juristischen Würdigung als konventionswidrige Handlung sowie die Eingrenzung des historischen Materials als Objekt geschichtsbezogener juristischer Beurteilung bedürfen einer weiteren Untersuchung. Unter Berücksichtigung der inkohärenten Auslegung des Art. 17 EMRK durch die Menschenrechtskommission, zuerst durch die Nicht-Anwendung des Art. 17 EMRK in der frühen Rechtsprechung der Menschenrechtskommission, sodann durch die verwirrende Anwendung der Missbrauchsklausel als Abwägungsregel im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung und schließlich in der späteren Rechtsprechung des EGMR durch den kategorischen Ausschluss des Leugnens bestimmter historischer Tatsachen, dessen faktischer Charakter keine Regel für die zukünftige Rechtsprechung schafft, wird eine vereinheitlichende Spruchpraxis hinsichtlich der Auslegung der Art. 10 Abs. 2, 17 EMRK dringend erforderlich. Hauptsächlich besteht durch die Aufnahme des Negationismus in die gerichtliche Sphäre das Erfordernis der Wiedererlangung der Eigenständigkeit von zwei einzelnen wissenschaftlichen Gegenständen: Einerseits der historischen Forschung 167 EGMR, Jersild vs. Dänemark, Antragsnr. 15890/89, Urteil vom 23. 9. 1994; EGMR, Soulas und andere vs. Frankreich, 15948/03, Urteil vom 10. 7. 2008; EGMR, Féret vs. Belgien, Antragsnr. 15615/07, Urteil vom 16. 7. 2009. 168 EGMR, Balsyt-Lideikien vs. Litauen, Antragsnr. 72596/01, Urteil vom 4. 9. 2008. 169 EGMR, I.A. vs. Türkei – Antragsnr. 42571/98, Urteil vom 13. 9. 2005. 170 EGMR, Delfi AS vs. Estonia, Antragsnr. 64569/09, Urteil vom 16. 6. 2015. 171 Die uneinheitliche Annäherung des EGMR in Bezug auf die Leugnung von historischen Tatsachen betont auch das Sondervotum des Richters Silvis, unterstützt durch die Richterinnen und Richter Casadevall, Berro und Ku¯ris (Perinçek Urteil): „It is true that, in relation to genocide denial and (other) forms of hate speech, the Strasbourg approach to Article 17 has not been uniform“.

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bzw. der Geschichtsschreibung, die sich in einem Lernprozess und mit der Aufnahme durch ihren Leserkreis frei entwickelt, und andererseits der Rechtsprechung des EGMR, die, indem sie die Geltendmachung von Verletzungen der in der Konvention verankerten Rechte prüft, über die Befugnis ihrer Tätigkeit hinausgreift172, Leitlinien zur korrekten historischen Methode entwickelt und sich so in einen historischen Schiedsrichter verwandelt.

IV. Einzelne Staaten 1. Albanien Der Leugnungstatbestand Albaniens wurde bei der Umsetzung des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Computerkriminalität von 2003 verabschiedet173. § 74a StGB sieht eine Freiheitsstrafe von drei bis sechs Jahren vor für das „Angebot in der Öffentlichkeit oder die absichtliche Verbreitung in der Öffentlichkeit durch Computersystemen von Materialien, die Handlungen, die Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit sind, leugnen, gröblich verharmlosen, billigen oder rechtfertigen“.174 Der albanische Gesetzgeber lässt offen, welche historischen Tatsachen vom Tatbestand als Genozid oder Verbrechen gegen die Menschheit erfasst sind. Um das breite Anwendungsspektrum des Gesetzes aufzuzeigen, sei auf die strafrechtliche Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur Albaniens175 hingewiesen. Mit dem sogenannten „Genozidgesetz“ wurde die politische Repression der kommunistischen Ära als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet176.

172 Vgl. etwa das Sondervotum des Richters Morenilla im Urteil Lehideux und Isorni vs. Frankreich (EGMR, Lehideux und Isorni vs. Frankreich, Antragsnr. 24662/94, Urteil vom 23. 9. 1998, S. 32): „assessment of how a country’s history should be presented and of the effect of a publication on the feelings of the population in an important sector of society, with a view to determining the necessity in a democratic society of imposing a restriction like the one in issue, is a matter for the judicial authorities of that country“; dazu Sondervotum Casadevall (S. 34): „6. It is not for me to judge the text of the advertisement, still less to make a historical analysis of the content, for which I would not be qualified“. 173 Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 171. 174 Der Tatbestand wurde mit dem Gesetz Nr. 10023 vom 27. 11. 2008 („On some additions and amendments to Law no. 7895, dated 27. 1. 1995 ,Criminal Code of the Republic of Albania‘ as amended“) eingeführt. 175 Glos/Godole, Länderbericht. Albanien: Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 12. 12. 2007. 176 Gesetz Nr. 8001 vom 22. 9. 1995 „Über die unter kommunistischer Herrschaft aus politischen, ideologischen und religiösen Gründen begangenen Verbrechen des Völkermords und gegen die Menschlichkeit, FAZ Nr. 21, September 1995, 923 ff.“; Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 157; de Nève, Sozialdemokratische und sozialistische Parteien in Südosteuropa, 2002, S. 115; Küpper, ZaöRV 1999, 141.

IV. Einzelne Staaten

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2. Andorra In dem im Jahr 2014 modifizierten Strafgesetzbuch werden unter anderem zwei neue Straftatbestände eingeführt, die sowohl die Rechtfertigung als auch die Leugnung von Genoziden pönalisieren177. § 457 des andorranischen Strafgesetzbuches bezieht sich nicht wie die Strafnormen anderer Rechtsordnungen auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Verbrechen gegen den Frieden oder Genozide im Allgemeinen. Der Titel der Strafnorm selbst konzentriert sich auf die Rechtfertigung von Genoziden, wie diese in § 456 des andorranischen Strafgesetzbuches definiert werden. „Wer auf irgendeiner Weise eine Ideologie oder Doktrin verbreitet, die auf die Rechtfertigung eines Genozids oder eines Regimes, einer Partei oder einer Organisation, die sie begangen oder unterstützt hat, zielt, wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis drei Jahren bestraft.“

Der Straftatbestand zur Leugnung von historischen Tatsachen (§ 458 StGB) erfasst die Leugnung von ausschließlich gerichtlich anerkannten Genoziden: „Wer über Medien die in diesem Kapitel als Genozid beschriebenen Tatsachen leugnet, die als zutreffend gerichtlich erklärt und geprüft wurden, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft.“

3. Armenien Der § 397.1 des armenischen StGB wurde im Jahr 2006 eingeführt178 und bezieht sich, im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnungen wie die für verfassungswidrig erklärte französische Strafvorschrift, mit der die Leugnung des armenischen Genozids strafbar wurde, nicht explizit auf den Völkermord an den Armeniern179. „Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung und Rechtfertigung von Völkermord und anderen Verbrechen gegen den Frieden und die menschliche Sicherheit: Die Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung eines Genozides und anderer Verbrechen gegen den Frieden und die menschliche Sicherheit gemäß anderer Artikel dieses Kapitels durch die öffentliche Verbreitung von Materialien durch Computer oder ein sonstiges Medium, werden mit einer Geldstrafe von 100 bis 300 Mindestlöhnen oder Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren bestraft, wenn sie aufgrund der Volkszugehörigkeit, der Hautfarbe, des nationalen oder ethnischen Hintergrundes oder der Religionszugehörigkeit zum Zweck der Aufstachelung zum Hass gegen eine Person oder Gruppe von Personen, zur Diskriminierung oder Gewalt gegen sie begangen werden.“

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Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 94. Kharatyan, International Center for Law and Religion Studies, 2010, 82. 179 Legislative approach or national agenda?: Armenian Genocide denial should be punished first of all in Armenia, ArmeniaNow.com vom 30. 11. 1999. 178

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4. Bangladesch Ein besonders interessantes – und weniger bekanntes – Beispiel der Kriminalisierung von Negationismus in asiatischen Rechtskreisen ist der Fall von Bangladesch. Das in Rede stehende Gesetz stellt ein weiteres Beispiel der Verrechtlichung von historischen Tatsachen dar. Es befasst sich mit dem Genozid in Bangladesch, bei dem 1971 drei Millionen Hindus und bengalische Muslime in Ostpakistan ermordet wurden180. Im Jahr 2016 hat die bangladesische Gesetzeskommission ein Vernehmlassungsverfahren zu einem Entwurf („Liberation War Denial Crimes Act“) eröffnet, mit dem die ungenaue Darstellung von historischen Tatsachen bestraft wird. Insbesondere macht sich nach § 4 strafbar, wer historische Tatsachen des Befreiungskrieges leugnet (a, b, c), böswillige Aussagen dazu in den Medien macht, die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Befreiungskrieg schmälert (d) oder die Geschichte des Befreiungskriegs ungenau oder mit Halbwahrheiten in Lehrbüchern oder jedem anderen Medium darstellt (f)181. Die Geschichte Bangladeschs wird schließlich auch im Digitalen Sicherheitsakt vom 2018 aufgenommen. § 21 sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vor, wenn eine Person eine digitale Propaganda gegen den Befreiungskrieg von Bangladesch betreibt.182 5. Belgien Das belgische Gesetz zur Leugnung von historischen Tatsachen mit dem Titel „Gesetz zum Verbot der Leugnung, groben Verharmlosung, Rechtfertigung oder Billigung der Völkermorde, die durch das deutsche NS-Regime im Zweiten Weltkrieg begangen wurden“, wurde am 23. März 1995 verabschiedet. Der von Claude Eerdekens und Yvan Mayeur von der sozialistischen Partei verfasste und am 30. Juni 1992 vor der Abgeordnetenkammer (Chambre des Représentants) eingebrachte Gesetzentwurf wurde am 2. Februar 1995 verabschiedet und am 30. März 1995 im belgischen Amtsblatt veröffentlicht.

180 Shah, The Foreign Policy of Pakistan: Ethnic Impacts on Diplomacy, 1971 – 1994, 1997; Sisson/Rose, War and secession: Pakistan, India, and the creation of Bangladesh, 1990. 181 Für eine Besprechung des Entwurfes vgl. Bergman, The Politics of Bangladesh’s Genocide Debate, The New York Times, vom 5. 4. 2016; Bergman, Bangladesh Liberation War (Denial, Distortion, Opposition) Crime Law, Bangladesh Politico, vom 10. 4. 2016. 182 Riaz, How Bangladesh’s Digital Security Act Is Creating a Culture of Fear, Carnegie Endowment For International Peace, vom 9. 12. 2021. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Akt vgl. Human Rights Watch, Bangladesh: New Law Will Silence Critics, vom 24. 9. 2018.

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Der § 1 des Gesetzes „zur Ahndung der Leugnung, Verharmlosung, Rechtfertigung oder Billigung des während des zweiten Weltkrieges vom deutschen nationalsozialistischen Regime begangenen Völkermordes“183 lautet wie folgt: „Wer unter einem der in § 444 des Strafgesetzbuches erwähnten Umstände184 den während des zweiten Weltkrieges vom deutschen nationalsozialistischen Regime begangenen Völkermord leugnet, grob verharmlost, zu rechtfertigen versucht oder billigt, wird mit einer Gefängnisstrafe von acht Tagen bis zu einem Jahr und einer Geldbuße von sechsundzwanzig bis zu fünftausend [EUR] bestraft. Für die Anwendung des vorhergehenden Absatzes ist der Terminus Völkermord im Sinne von § 2 der internationalen Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zu verstehen.“185

2019 wurde vom belgischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem sich strafbar macht, wer „(…) Tatsachen, die einem Völkermord, einem Verbrechen gegen die Menschheit oder einem Kriegsverbrechen i. S. des § 136quater StGB entsprechen, bestreitet, grob verharmlost, rechtfertigt oder billigt, die durch eine endgültige Entscheidung eines internationalen Gerichts festgestellt worden sind, in der Kenntnis, oder trotz ihrer Pflicht zu wissen, dass ein solches Verhalten eine Person, eine Gruppe, eine Gemeinschaft oder einen Angehörigen Diskriminierungen, Hass oder Gewalt aussetzen kann, wegen der geschützten Kriterien oder Religion, i. S. des Art. 1 (3) des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“.186 Die neue Vorschrift erfasst nicht nur die nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch die Genozide von Ruanda und Srebrenica187. 6. Bosnien Nach mehreren gescheiterten Gesetzesinitiativen188 wurde 2014 in Bosnien nach einer dreijährigen Debatte189 ein Tatbestand eingeführt, mit dem die aufhetzende Leugnung bestraft wird. § 163 Abs. 5 StGB190 lautet wie folgt: 183 Loi tendant à réprimer la négation, la minimisation, la justification ou l’approbation du génocide commis par le régime national-socialiste allemand pendant la seconde guerre mondiale, Article 1. Die inoffizielle Übersetzung in deutscher Sprache ist von der Zentralen Dienststelle für Deutsche Übersetzungen in Malmely erstellt worden (Moniteur Belge vom 1. 4. 2010). 184 Gemeint ist „öffentlich“. 185 Zu dem bekanntesten Fall zum belgischen Negationismus (Fall Verbeke), siehe Atkins, Holocaust Denial as an International Movement, 2009, S. 130 f. 186 Sabiiti, Belgium Parliament Adopts Law On Genocide Denial, KTPress vom 26. 4. 2019. 187 Karuhanga, Rwanda welcomes Belgium parliament’s vote to criminalise denial of Genocide against Tutsi, The New Times vom 26. 4. 2019; Hope, Law would make it illegal to deny the Rwanda and Srebrenica genocides, The Brussels Times vom 7. 4. 2019. 188 Dazu Memisˇevic´, Journal of Muslim Minority Affairs, 2015, 391 ff.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich „Wer die in Absatz 1 dieses Artikels genannte Straftat191 durch öffentliche Leugnung oder Rechtfertigung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen begeht, die durch ein endgültiges Urteil des Internationalen Gerichtshofes, des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien oder eines innerstaatlichen Gerichts festgestellt wurden, wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis drei Jahren bestraft.“

Darüber hinaus wurde vom Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft Valentin Inzko im Jahr 2021 ein neuer Tatbestand eingeführt, mit dem die Leugnung des Völkermords in Srebrenica unter Strafe gestellt wurde. § 145a Abs. 3 StGB sieht vor: „Wer öffentlich einen Völkermord, ein Verbrechen gegen die Menschheit oder ein Kriegsverbrechen, die durch ein endgültiges Urteil gemäß des Statuts des Internationalen Militärtribunals, festgehalten im Londoner Abkommen vom 8. August 1945 oder vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder vom Internationalen Strafgerichtshof oder einem innerstaatlichen Gericht in Bosnien und Herzegowina festgestellt wurden, billigt, leugnet, gröblich trivialisiert oder rechtfertigt, gerichtet gegen eine Gruppe von Personen oder ein Mitglied dieser Gruppe, die sich aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft oder nationalen oder ethnischen Herkunft identifiziert, wenn diese Handlung in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder ein Mitglied solch einer Gruppe aufzustacheln, wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft“.192

7. Bulgarien Am 13. April 2011 hat die bulgarische Nationalversammlung den Rahmenbeschluss durch Modifikationen des Strafgesetzbuches umgesetzt. Nach § 419a StGB, der am 27. Mai 2011 in Kraft trat, wird mit einer Gefängnisstrafe von einem bis fünf Jahren bestraft, wer „in irgendeiner Art ein Verbrechen gegen den Frieden oder ein Verbrechen gegen die Menschheit rechtfertigt, leugnet oder verharmlost, in einer Art, die eine Gefahr einer Gewaltausübung oder einer Aufstachelung zum Hass gegen Einzelpersonen oder Gruppen oder Personen, die durch Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit vereint sind, darstellen kann“193. Am 14. Dezember 2010 wurde der Europäischen Kommission von sechs Ministern aus sechs ehemals kommunistischen Ländern (Bulgarien, der Tschechischen 189 Memisˇevic´, Journal of Muslim Minority Affairs, 2015, 394; FBiH Law Prohibiting Denial of Genocide and War Crimes Entered Into Force, Serajevo Times vom 7. 10. 2014. 190 Memorial Center Srebrenica, Srebrenica Genocide Denial Report 2021, Heinrich Böll Stiftung, S. 45. 191 Der erste Absatz des Artikels stellt die Aufstachelung zu Intoleranz und Hass unter Strafe. 192 Pistan, VerfBlog, 23/8/2021, aufrufbar hier: https://verfassungsblog.de/call-it-by-itsright-name/ (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 193 Koposov, Memory laws, Memory wars, 2018, S. 175.

IV. Einzelne Staaten

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Republik, Ungarn, der Republik Lettland, Litauen und Rumänien) ein Vorschlag zur Kriminalisierung der „öffentlichen Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von totalitären Verbrechen“ in der gesamten Europäischen Union zugeleitet194. Nach dieser Initiative sollte die Europäische Union eine Vorschrift gegen die Leugnung oder Verharmlosung von Verbrechen kommunistischer Regime erlassen. Dabei sollte nach dem gemeinsamen Schreiben der Außenminister, das der EU-Justizkommissarin Viviane Reding vorgelegt wurde, „die Leugnung eines Verbrechens nach gleichen Maßstäben neben der Strafverfolgung und der Bestrafung beurteilt werden, um günstige Bedingungen für die Rehabilitation und Wiedergeburt von totalitären Ideologien zu vermeiden“195. Der Vorschlag wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass bis 2012 keine europäische Rechtsordnung die Leugnung von Verbrechen kommunistischer Regime kriminalisiert hatte196. 8. Chile Am 19. Dezember 2018 hat die Menschenrechtskommission von Chile nach langer Debatte einen Entwurf genehmigt, der die Aufforderung zu Gewalt unter Strafe stellt.197 Der bereits 2017 vorgelegte Entwurf wurde modifiziert und erfasste zusätzlich einen Tatbestand, der die Leugnung von Menschenrechtsverletzungen pönalisiert. Nach dem vorgelegten § 161 E StGB macht sich strafbar, „wer die in Chile zwischen 11. September 1973 und dem 11. März 1990 begangenen Menschenrechtsverletzungen, die im Bericht der Nationalen Kommission der Wahrheit und Versöhnung, im Bericht der Nationalen Kommission für Wiedergutmachung und Versöhnung, im Bericht der Politischen Gefängnis- und Folterkommission und im Bericht des Beratenden Ausschusses für die Qualifizierung verschwundener Gefangener, hingerichteter Politiker und Opfer politischer Gefängnis- und Folteropfer genannt werden, rechtfertigt, billigt oder bestreitet“.198

194 Mälksoo, in: Belavusau/Gliszczynska-Grabias, Law and Memory: Towards Legal Governance of History, 2017, S. 97. 195 EU newcomers demand ban on communist crime denial, EUbusiness vom 14. 12. 2010. 196 Philipps, EU rejects eastern states’ call to outlaw denial of crimes by communist regimes, The Guardian vom 21. 12. 2010. 197 Comisión de Derechos Humanos despachó proyecto que tipifica delito de incitación a la violencia, Camara de diputados de Chile, vom 20. 12. 2018; Proyecto de Ley que sanciona el negacionismo de los crímenes de la dictadura es aprobado por la Comisión de DDHH, El Desconcierto, vom 20. 12. 2018. 198 Primer trámite constitucional/C. Diputados, Primer informe de comisión (de Derechos Humanos, Nacionalidad y Ciudadanía), S. 79. Reiches Gesetzesmaterial findet sich unter folgendem Link: https://www.camara.cl/pley/pley_detalle.aspx?prmID=11939&prmBOLE TIN=11424-17 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022).

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

9. Deutschland a) Geschichtliche Entwicklung des Tatbestandes aa) Die ersten Jahre Die Geschichte der Kriminalisierung der Leugnung historischer Tatsachen in Deutschland beginnt im Jahr 1950 mit dem von der SPD-Fraktion vorgelegten Gesetzentwurf „gegen die Feinde der Demokratie“.199 In den Paragraphen 9 und 10 werden der Angriff und die Aufforderung zu Gewalt gegen bestimmte Gruppen in einer die Menschenwürde verletzenden Weise sowie die Leugnung nicht der nationalsozialistischen Verbrechen selbst, sondern der Verwerflichkeit der Verbrechen unter Strafe gestellt200: „Abs. 9 (1) Wer öffentlich eine durch ihre Rasse, ihren Glauben oder ihre Weltanschauung gebildete Gruppe von Menschen in Deutschland als solche oder in einem ihr angehörigen Einzelnen durch Verletzung der Menschwürde oder der Menschenrechte angreift, wird wegen Bruch des Rechtsfriedens mit Gefängnis nicht unter 3 Monaten bestraft. Gleiches gilt, wenn sich die Handlung gegen Bräuche der Gruppe oder gegen Sachen, die ihren Bräuchen dienen, richtet. (2) Wird die Handlung unter Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Personen oder Sachen begangen oder wird zugleich zu Gewalttaten aufgefordert oder hat die Handlung für einen Verletzten eine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben zur Folge, so ist auf Zuchthaus zu erkennen. Abs. 10 (1) Wer durch eine Äußerung die Achtung vor den Menschen verletzt, die infolge ihres Widerstandes oder wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft den Tod erlitten, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer durch eine Äußerung die Verwerflichkeit des Völkermords oder der Rassenverfolgung leugnet oder in Zweifel zieht.“

In der besonders anregenden201 Bundestagssitzung vom 16. März 1950 wird zwar die Notwendigkeit eines wirksamen strafrechtlichen Schutzes der rechtsstaatlichen Demokratie anerkannt202, jedoch werden erhebliche Zweifel am vorliegenden Entwurf geäußert203. Darüber hinaus wird betont, dass die Demokratie nicht durch das

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Für eine umfangreiche historische Entwicklung des Volksverhetzungsparagraphen s. Rohrßen, Von der Anreizung zum Klassenkampf zur Volksverhetzung (§ 130 StGB), 2009. 200 BT-Drs. 563, 1. Wahlperiode 1949, §§ 9, 10. 201 BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1596A („Wer heute von Widerstandskämpfern gegen das nationalsozialistische System im In- und Ausland, wer von den Verfolgten des sogenannten Dritten Reichs, wer insbesondere von den Juden anders spricht als mit Respekt und zugleich mit dem Gefühl tiefer Beschämung, der verdient nach unserer Auffassung nicht den Schutz dieses Staates und seiner Einrichtungen“). 202 BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1601D. 203 BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1602A.

IV. Einzelne Staaten

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Strafrecht geschaffen werde204. Die Notwendigkeit der Bekämpfung der Feinde des Staates werde zwar anerkannt, diese müsse allerdings nach den Grundsätzen des Rechtsstaates geschehen205 und in das Strafgesetzbuch eingebaut werden, und zwar nicht durch ein zeitbedingtes Sondergesetz, das das politische System in polizeistaatliche Vorstellungen zu verstricken suche. Die Bekanntmachung der Bearbeitung eines Entwurfes wird im Lichte der aktuellen Gefahrensignale und der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus entschieden: „das Moralische, im politischen Raum zumal, versteht sich gar nicht mehr von selbst. […] Wir glauben nicht mehr an den guten Menschen. Wir sind keine Jünger Jean Jaques Rousseaus. […] Wir wissen, was der Mensch ist.“206 Der Entwurf ist außerdem auf heftige Kritik gestoßen, er sei „aus jakobinischem Geiste hervorgegangen“; außerdem sei es nicht möglich, durch Gesetze sittliche Grundlagen zu errichten207. Angesichts der Ankündigung eines Regierungsentwurfs wurde der Entwurf der SPD-Fraktion nicht verabschiedet und dem Ausschuss für Verfassungsschutz sowie dem Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht überwiesen. Die gescheiterte Vorgeschichte der Fassung der deutschen Strafvorschrift zur Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen208 endete nicht hier: Am 4. September 1950 wurde dem Bundestag von Kanzler Adenauer der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches übersendet, in dem unter anderem eine Novellierung des § 130 StGB vorgeschlagen wurde. Dementsprechend wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten bestraft, 1. wer gegen eine Bevölkerungsgruppe hetzt, die durch Abstammung, Herkunft, Religion oder Weltanschauung ihrer Mitglieder bestimmt ist, 2. wer eine nicht erweisliche Tatsache behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, eine solche Bevölkerungsgruppe verächtlich zu machen, oder 3. wer eine solche Bevölkerungsgruppe beschimpft. In der Begründung des Entwurfes wird die Notwendigkeit eines neuen Straftatbestands betont, mit dem in Zukunft volksverhetzende Äußerungen bekämpft werden sollen, die als Spätfolgen des Nationalsozialismus „zu Auseinandersetzungen führen, die die Grundlagen der deutschen Lebensgemeinschaft schwer erschüttern könnten“209. Die im neuen Paragraphen erfassten Bevölkerungsgruppen sind insbesondere, aber nicht ausschließlich, Juden und Vertriebene210. Die Handlung des ersten Absatzes besteht im Hetzen gegen eine Bevölkerungsgruppe, also in beson204

BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1597D. BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1597D. 206 BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1599B. 207 BT-Drs. 563, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1605. 208 Ein Überblick der Gesetzesinitiativen zur Novellierung des § 130 StGB in den Jahren 1950 bis 1959 in: Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979. 209 BT-Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 43. 210 BT-Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 444. 205

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

ders starken, auf die Sinne und Leidenschaften wirkenden Anreizen211. Der sich an den Rufgefährdungstatbestand anlehnende zweite Absatz des vorgelegten Volksverhetzungsparagraphen stellte die Behauptung oder Verbreitung einer nichterweislich wahren Tatsache, die geeignet ist, eine Bevölkerungsgruppe verächtlich zu machen. Obwohl das Leugnen der Verbrechen des NS-Regimes weder im Gesetzestext noch in der Begründung als Tatbestandselement genannt wird, ist die Berufung auf den zweiten Absatz tauglich, da die Leugnung des Holocaust durch die Verbreitung oder Behauptung einer nicht erweislichen Tatsache, die geeignet ist, die einschlägige Bevölkerungsgruppe verächtlich zu machen, vorstellbar ist. Der dritte Absatz erfasst das nicht auf Tatsachenbehauptungen beruhende Beschimpfen. Weiter wurde mit dem zweiten Artikel des Entwurfes eine einzelne Strafvorschrift vorgeschlagen, die sich auf die Herabsetzung des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime bezieht.212 Die vorgeschlagene Vorschrift trägt zur Verrechtlichung eines weiteren Aspektes der deutschen Geschichte bei. Sie soll verhindern, „daß die Erörterung des Widerstandes zu einer hetzerischen und geschichtsfälschenden politischen Agitation mißbraucht wird“213. Trotz der geringen Änderungen, die seitens des Bundesrats verlangt und von der Bundesregierung angenommen wurden, gelang die Verabschiedung des Volksverhetzungsparagraphen aufgrund der Änderung der politischen Stimmung nicht. Die Berlin-Blockade (oder erste Berlin-Krise) und der Korea-Krieg sowie der beginnende Kalte Krieg führten durch das antikommunistische Klima zu einer Verlagerung des gesetzgeberischen Schwerpunkts auf linksextreme verfassungsfeindliche Elemente214, sodass das Erste Strafrechtsänderungsgesetz im Jahre 1951 ohne die oben aufgeführten geschichtsbezogenen Vorschriften verabschiedet wurde. Die lebhaften Beratungen im Plenum der Bundestagssitzung vom 8. April 1959 belegen die kritische Stellung eines Teils der Abgeordneten zum Entwurf, bei dem es sich um eine Ausnahmegesetzgebung im Sinne eines Gruppenschutzgesetzes handle215 oder dessen Eignung zur Bekämpfung des Antisemitismus bezweifelt wird216. Nach mehreren Sitzungen des Rechtsausschusses wurde eine Einigung erzielt, die am 20. Mai 1960 durch die Verabschiedung des Sechsten Strafrechtsänderungsge211

BT-Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 44. „Wer den aus Überzeugung geleisteten Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft öffentlich oder in einer Versammlung verächtlich macht, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“, Begründung unter BT-Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 50 f. 213 BT-Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 50. 214 ˇ Copic´, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, 1967, S. 9 f.; Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 23 f.; Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 1996, S. 323. 215 Plenarprotokoll Nr. 03/68 vom 8. 4. 1959, 3624A. 216 Plenarprotokoll Nr. 03/68 vom 8. 4. 1959, 3624D. 212

IV. Einzelne Staaten

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setzes besiegelt wurde217. Damit war der neue § 130 StGB unter dem Titel „Volksverhetzung“ geschaffen. bb) Die zweite Phase: die ausdrückliche Erfassung der Genozidleugnung Die zweite Phase der Gesetzgebung war auf die Verschärfung der Kriminalisierung des Negationismus ausgerichtet, der nun ausdrücklich unter Strafe gestellt und nicht als volksverhetzende Handlung gedeutet werden sollte. Mit dem Entwurf eines 21. Strafrechtsänderungsgesetzes218 durch die Fraktion der SPD wurde eine Gesetzeslücke bei der strafrechtlichen Ahndung der Leugnung und Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen geschlossen. Es wurde zunächst im § 1 Abs. 4 des Entwurfes die Schaffung eines Paragraphen zur Leugnung vorgeschlagen219. Dies geschah unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. September 1979220, das jene Gesetzeslücke offenbart: Obwohl im Urteil ausgeführt wird, dass der Kläger jüdischer Abstammung als Nachgeborener aufgrund seines Persönlichkeitsrechtes in der Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus habe, sodass die Leugnung der Verfolgungen des Dritten Reiches ihn persönlich betreffe und beleidige, werde laut der Begründung des Entwurfes ein Strafrechtsschutz nicht ausreichend gewährleistet, da eine Strafverfolgung nur nach Antragstellung des Berechtigten erfolgen könne. Die Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen verletze gemäß der Begründung den öffentlichen Frieden und somit ein überindividuelles Rechtsgut, dessen Verletzung unabhängig von einer privaten Willensentschließung strafbar sein müsse. Zweitens sei die Leugnung nationalsozialistischer Untaten explizit durch eine Vorschrift strafbedürftig, weil der BGH die Antragsberechtigung in seinem Urteil nur für Personen jüdischer Abstammung anerkannt habe. Da aber die nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen sich nicht in der systematischen Judenverfolgung erschöpften, wird die Frage gestellt221, ob die Entscheidung des BGH für weitere nationalsozialistische Verbrechen Bedeutung erlangen kann. Die entstandene Gesetzeslücke wird außerdem laut Begründung dadurch offenbar, dass der § 130 StGB im Fall der Leugnung oder Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen nur anwendbar sei, wenn diese durch Beschimpfungen erfolgen oder zu Hass oder Gewalt aufstacheln. 217

Plenarprotokoll Nr. 03/116 vom 20. 5. 1960, 6667; Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses, Drs. Nr. 03/1746 vom 22. 3. 1960. 218 Drs. 9/2090 vom 10. 11. 1982. 219 § 140 Abs. 2 StGB: Ebenso wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene, in § 220 a Abs. 1 genannte Handlung 1. belohnt oder 2. in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) billigt, leugnet oder verharmlost. 220 BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 1980, 45 ff. 221 Begründung zum Entwurf eines Einundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes, Drucksache 9/2090 vom 10. 11. 1982.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Infolge der ernsthaften Bedenken des Bundesrats222 hinsichtlich der Eignung einer Strafnorm, die Geschichtsverfälschung zu erfassen, sowie des „Mangels an tatbestandlicher Bestimmtheit“ wurde die gesetzliche Bestrebung erst zwei Jahre später mit einer dem Entwurf der SPD-Fraktion vom 18. Januar 1984223 ähnlichen Formulierung fortgesetzt, ohne dass sie im Bundestag beraten wurde, da die Bundesregierung am 11. April 1984 einen Regierungsentwurf vorlegte. Beide Entwürfe eines Einundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes wurden in der Sitzung vom 12. April beraten, in der die Ausweitung des im Mittelpunkt stehenden geschichtlichen Stoffes kritisiert wurde224. Nach mehreren Sitzungen des Rechtsausschusses und des Bundestags hat sich die Koalition darauf geeinigt, statt einen Straftatbestand zur Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen zu verabschieden, das Antragserfordernis in speziellen Fällen der Beleidigungstatbestände zu modifizieren (§ 194 StGB) und die Strafverfolgung von Amts wegen in den Fällen zuzulassen, in denen der Verstorbene sein Leben als Opfer der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft verloren hat und in diesem Zusammenhang beleidigt, verleumdet oder verunglimpft worden ist225, ohne zu bestimmen, welche historischen Ereignisse außer dem Holocaust gemeint werden und welche Opfergruppen dieser Kategorie unterfallen. Es musste fast ein Jahrzehnt vergehen, bis der Novellierung des Volksverhetzungsparagraphen erhöhte Aufmerksamkeit zugekommen ist. Die Reform begann mit einem Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen zu einem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes226, mit dem § 86a StGB zur Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und § 130 StGB modifiziert werden sollten. In § 130 StGB sollte das Wort „Menschenwürde“ durch „Würde“ ersetzt werden, sodass laut der Begründung der Anwendungsbereich der Volksverhetzung maßvoll erweitert wird227. Nach Auffassung des Gesetzgebers kann die Würde einer Person auch durch Missachtung, Geringschätzung oder Nichtachtung228 verletzt werden. Der § 131 StGB zur Aufstachelung zum Rassenhass sei auch wegen seiner Orientierung an den von Dritten nicht ohne Weiteres wahrnehmbaren Gefühlen nicht 222

Stenographischer Bericht, 516. Sitzung vom 29. 10. 1982, Plenarprotokoll 516, S. 390A. Entwurf eines Einundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes (21. StrÄndG), 10. Wahlperiode, Drucksache 10/891. 224 Unter anderem Plenarprotokoll Nr.: 10/67, S. 4759, Schmidt (SPD): „Herr Kollege Götz, nach dem, was Sie gesagt haben, und nach Ihrem Entwurf müsste künftig jemand bestraft werden, der leugnet, dass Karl der Große in Verden an der Aller die Sachsen hingeschlachtet hat. […] Wollen Sie das haben?“. 225 Plenarprotokoll Nr.: 10/126 vom 14. 3. 1985, S. 9319B. Kritisch zu dieser Novellierung Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB § 194 Rn. 1 („Verlegenheitslösung“). 226 BR-Drs. 887/92 vom 10. 12. 1992. 227 BR-Drs. 887/92 vom 10. 12. 1992, Begründung S. 6, mit Verweisung auf 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S), NStZ 1981, 258. 228 BR-Drs. 887/92 vom 10. 12. 1992, Begründung S. 10. 223

IV. Einzelne Staaten

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anwendbar; entsprechend kommt § 185 StGB wegen der mangelhaft erkennbaren Abgrenzung des Kreises der jeweils beleidigten Personen wie beispielsweise bei pauschalen Beleidigungen, mit denen nicht konkretisierbare Gruppen wie Ausländer einbezogen werden, nicht in Betracht. Neben dem vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwurf vom 29. April 1993229 wurde am 18. Februar 1994 ein Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebracht, der auf die wirksamere Bekämpfung rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Kriminalität zielt230. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit sowie die Erhaltung des Vertrauens der Bürger in den Rechtsstaat rechtfertigt laut Begründung die Maßnahmen, die notwendig und geeignet seien, um der rechtsextremistischen Kriminalität zu begegnen. Als Anlass der Gesetzesinitiative diente eine den inneren Frieden bedrohende Welle von Gewalt gegen Ausländer sowie gegen jüdische Gedenkstätten zwischen 1991 und 1993231, die verschiedene problematische Aspekte rechtlicher und tatsächlicher Art beleuchtete, denen durch eine Modifizierung des zur Verfügung stehenden gesetzlichen Instrumentariums begegnet werden sollte. Sowohl der Verzicht auf das zusätzliche Merkmal des Angriffs auf die Menschenwürde in der ersten Handlungsvariante des ersten Absatzes, der der Erleichterung der Anwendung des Tatbestands dienen sollte, als auch die Einstellung des § 131 StGB zur Aufstachelung zum Rassenhass in den modifizierten Volksverhetzungsparagraphen mit einem erhöhten Strafrahmen dienen laut Begründung der Optimierung der generalpräventiven Wirkung der Vorschriften232. Das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde in der zweiten Handlungsvariante war eine zusätzliche Einschränkung, um eine Begrenzung des Tatbestandes auf besonders massive Schmähungen sicherzustellen, die Menschen als minderwertig darstellen und ihnen das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestreiten233.

229 BR-Drs. 12/4825 vom 29. 4. 1993, in der Bundestagssitzung vom 28. 10. 1993 behandelt (DB Stenographischer Bericht, 185. Sitzung, Plenarprotokoll 12/185, S. 1651 ff.), in der eine Gesetzeslücke festgestellt wird (Mahlo, CDU/CSU), jedoch wird der Vorschlag der Erweiterung des Anwendungsbereiches des Volksverhetzungsparagraphen kritisch diskutiert und die Überweisung des Entwurfes in den Ausschuss beschlossen. 230 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz), Drs. 12/6853 vom 18. 2. 1994. 231 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz), Drs. 12/6853 vom 18. 2. 1994, S. 18. 232 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz), Drs. 12/6853 vom 18. 2. 1994, S. 23 f. 233 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Drs. 12/6853 vom 18. 2. 1994, S. 24.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Neben dem von der Regierungsfraktion CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Verbrechensbekämpfungsgesetzes wurde am 27. April 1994 ein Gesetzentwurf234 von der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt, dessen erster Artikel die schriftliche Verbreitung und das öffentliche Leugnen des nationalsozialistischen Völkermordes unter Strafe stellt. Unter direkter Bezugnahme auf die Rechtsprechung235 wurde deutlich, dass der Rechtsrahmen unzureichend ist, um der Leugnung oder Billigung der systematischen Judenvernichtung zu begegnen. Mit dem eingebrachten Entwurf sollte die Leugnung oder Billigung des nationalsozialistischen Völkermordes, unter den auch die systematische Vernichtung von Sinti und Roma fällt236, den §§ 130, 131 StGB zugeordnet werden. Damit wird „neben dem Gefühl der Rechtssicherheit und dem Friedensgefühl die Würde des Einzelmenschen“237 gegen eine „friedensstörende Verschleierung von offenkundigen historischen Tatsachen“238 geschützt. In den in zeitlicher Nähe zu den Beschlussempfehlungen des Rechtsauschusses239 in breitem Konsens verlaufenden Bundestagssitzungen240 wurde der Entwurf der Regierungsfraktionen zu einem Verbrechensbekämpfungsgesetz behandelt. Dank der geäußerten Einigkeit in der strafrechtlichen Bekämpfung der sogenannten Auschwitz-Lüge erfolgte die Annahme der Änderungen des § 130 StGB241, denen

234

Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes, Drs. 12/ 7421 vom 27. 4. 1994. 235 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421. 236 Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes, Drs. 12/ 7421 vom 27. 4. 1994, S. 4. 237 Drs. 12/7421 vom 27. 4. 1994, S. 4. 238 Der Gesetzentwurf wurde für erledigt erklärt, nachdem sich die Fraktionsvertreter im Rechtsausschuss einvernehmlich auf eine Beschlussempfehlung geeinigt hatten (Rohrßen, Von der Anreizung zum Klassenkampf zur Volksverhetzung (§ 130 StGB), S. 207), mit der die folgende Formulierung des § 130 Abs. 3 StGB empfohlen wurde: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220a Abs. 1 bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“ Im darauffolgenden Bericht des Rechtsausschusses vom 20. 10. 1994 (Drucksache 12/8588) wird die Beschlussempfehlung bezüglich der neuen Paragraphen des § 130 StGB begründet. In Bezug auf die Qualifikation der Eignung der Tatbegehung, den öffentlichen Frieden zu stören, wird bemerkt, dass diese die Strafbarkeit zu weit ausdehnen würde. 239 Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, Drs. 12/7584 vom 18. 5. 1994, in der der neue Absatz 3 empfohlen wird (S. 4). 240 Plenarprotokoll 12/229, Bundestagssitzung vom 20. 5. 1994, S. 19867 ff. 241 BT-Drs. 12/229 vom 20. 5. 1994, S. 19907.

IV. Einzelne Staaten

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jedoch der Bundesrat nicht zustimmte242. In der Beschlussempfehlung243 des von der Bundesregierung angerufenen Vermittlungsausschusses wird die Strafobergrenze um zwei Jahre erhöht. Nach dieser Verschärfung des Strafrahmens stimmte der Bundesrat dem Verbrechensbekämpfungsgesetz am 23. September 1994 zu244. Durch das Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26. Juni 2002 wurde der in § 130 StGB verwendete Begriff der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Handlung in § 6 VStGB anstelle von § 220a StGB eingefügt245. Neben der Leugnung von unter der nationalsozialistischen Herrschaft begangenen Handlungen, die bereits durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 1994 strafbar war, wurde der Volksverhetzungstatbestand mit dem 4. Absatz zur Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Verbrechen246 erweitert. cc) Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI Die nächste – und bis heute vorletzte – Änderung des Volksverhetzungsparagraphen erfolgte im Jahre 2011 mit dem Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003247. Da das deutsche Strafrecht den Anforderungen des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls bereits weitgehend entsprach, ergab sich Umsetzungsbedarf nur in Bezug auf den Kreis der schutzbedürftigen Angriffsobjekte248. Schutzbedürftig ist gemäß Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eine „nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definierte Gruppe von Personen oder […] ein Mitglied einer solchen Gruppe“. In der bis 2011 geltenden Fassung des § 130 StGB wurden explizit Teile der Bevölkerung, nicht aber Einzelpersonen erfasst, die sowohl nach dem Rahmenbeschluss als auch nach dem Zusatzprotokoll als schutzbedürftig gelten 242

BR-Plenarprotokoll 670 vom 10. 6. 1994, S. 301, 317. Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) BT-Drs. 12/7837 vom 19. 9. 1994, S. 2. 244 BR-Plenarprotokoll 674 vom 23.9.94, S. 521; König/Seitz, NStZ 1995, 1 ff.; Dahs, NJW 1995, 553 ff. 245 Krauß, in: LK-StGB, 12. Auflage 2009, § 130, Entstehungsgeschichte; BT-Drs. 14/246, Stenographischer Bericht, Sitzung vom 28. 6. 2002, S. 24975. 246 Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vom 24. 3. 2005. 247 BT-Drs. 17/3124, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/ 913/JI des Rates vom 28. 11. 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzprotokolls vom 28. 1. 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. 11. 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art vom 1. 10. 2010. 248 BT-Drs. 17/3124 S. 6 (Begründung) und BT-Plenarprotokoll 17/81 vom 16. 12. 2010, S. 9086C (Kommentar von Ansgar Heveling). 243

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

können. Wie sich aus der Debatte ergibt, bestand überparteiliche Einigkeit über die Notwendigkeit der Angleichung und Vereinheitlichung der strafrechtlichen Zielvorgaben des Rahmenbeschlusses249. Der § 130 Abs. 1, 2 StGB zur Aufstachelung zum Hass oder Aufforderung zu Gewalt entspricht inhaltlich den Anforderungen des ersten Artikels des Rahmenbeschlusses zur Aufstachelung zu Hass oder Gewalt (a), durch öffentliche Verbreitung oder Verteilung von Material (b), und zur Leugnung oder gröblichen Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen (c). Die Leugnung von Verbrechen als Form von Aufstachelung zu Hass fällt unter Abs. 1, dessen Wortlaut keine konkrete Form der Aufstachelung zu Hass oder Gewalt anführt, sodass diese in der Form der Leugnung eines Verbrechens auftreten könnte. Gleichzeitig entspricht § 130 StGB den Vorgaben des Zusatzprotokolls, das in seinem Art. 3 Abs. 1 die Kriminalisierung der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über Computersysteme fordert. Der § 130 Abs. 1 StGB schützte bis 2011 „Teile der Bevölkerung“ gegen zu Hass oder Gewalt aufstachelnde Handlungen. Jedoch erfasste Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmte, aufgrund von in Art. 1 genannten Kriterien definierte Gruppen und Einzelpersonen, denen gemäß der Fassung von 2005 kein Schutz gewährt wurde. Daher war es zur Umsetzung erforderlich, den Wortlaut der Strafvorschrift auf bestimmte Gruppen und Einzelpersonen zu erweitern. Die Erweiterung des Schutzrahmens des Volksverhetzungsparagraphen durch eine explizite Berücksichtigung von Einzelpersonen und bestimmten Gruppen wurde trotz der aus dem Jahr 1967 stammenden höchstrichterlichen Entscheidung für erforderlich erachtet250, da diese Einzelentscheidung nicht das europarechtliche Gebot der klaren und bestimmten Umsetzung des Rahmenbeschlusses erfüllte und keinen zukünftigen Schutz der Menschenrechte gewährte. Im neugefassten § 130 Abs. 1 StGB werden ausdrücklich folgende Fälle als schutzbedürftig ergänzt: 1. Eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe:

249 BT-Plenarprotokoll 17/81, vom 16. 12. 2010, Kommentar von Heveling, CDU und Strässer, SPD, S. 9087. 250 In BGH, Urteil vom 15. 11. 1967 – 3 StR 4/67, NJW 1968, 309 ging es um den Fall des Wahlspruches eines Kandidaten, der während des Bürgerschaftswahlkampfes mit der Überklebung des Wortes „Jude“ geändert wurde. Die vom wegen Volksverhetzung verurteilten Täter geänderte Plakataufschrift enthielt eine konkrete Gedankenäußerung, die darauf zielte, dem jüdischen Wahlbewerber die Eignung für das Amt abzusprechen. Die erzielte Disqualifizierung durch die agitierende Aufstachelung zu aggressiven Gefühlsreaktionen richtete sich zwar gegen den jüdischen Bürger Dr. W., gleichzeitig wurde allerdings auch der jüdische Bevölkerungsteil in seiner Gesamtheit angegriffen.

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Unter einer Gruppe ist eine durch gemeinsame Merkmale und deren subjektive Entsprechung verbundene Mehrzahl von Menschen, die sich hierdurch von den anderen abhebt, zu verstehen251. In der Debatte im Bundestag, in der im Allgemeinen Einigkeit über die Mindestharmonisierung mittels der Angleichung von Strafvorschriften herrschte252, stieß die Verwendung des extrem belasteten Begriffs der „Rasse“, gegen dessen Verwendung sich die UNESCO bereits im Jahr 1950 geäußert hatte253 und der als wissenschaftlich entkräftet gilt und das Konzept der Existenz menschlicher Rassen perpetuiert254, auf starke Bedenken255. Darüber hinaus wurde, ohne ausführlich auf Einzelheiten einzugehen, der Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erörtert, der eine Erweiterung der aufgezählten Gruppen um die Merkmale der sexuellen Identität, des Alters und der Behinderung vorsah256, jedoch abgelehnt wurde, um eine klare und eindeutige, von Irritationen freie Umsetzung der Zielvorgaben zu erfüllen, ohne dass den ausdrücklich erwähnten Bevölkerungsgruppen gegenüber den nicht explizit einbezogenen Vorrang eingeräumt wird. Außerdem wird die Einbeziehung der im Änderungsantrag aufgezählten Bevölkerungsteile auch deshalb als nicht erforderlich angesehen, weil sie im neugefassten § 130 Abs. 1 StGB als Teile der Bevölkerung oder als Einzelne wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem Teil der Bevölkerung vom Schutzbereich der Vorschrift erfasst werden257. 2. Teile der Bevölkerung als zahlenmäßig nicht unerhebliche Personenmehrheiten258 :

251 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB, 4. Auflage 2021, § 130 Rn. 28; Krauß, in: LK-StGB, 12. Auflage 2009, § 130 Rn. 75. 252 BT-Plenarprotokoll 17/87, Stenographischer Bericht vom 16. 12. 2010, S. 9088B. 253 UNESCO and its programme III, The race question, 1950. 254 Cremer, Ein Grundgesetz ohne „Rasse“, Ein Grundgesetz ohne ,Rasse‘ – Vorschlag für eine Änderung von Art. 3 Grundgesetz, Policy Paper No. 16, DIMR, 2010 S. 4. 255 Der frühere Begriff des „Rassenhasses“ wurde wegen seiner Unschärfe nicht als Tatbestandsmerkmal übernommen, da seine inhaltliche Bestimmung an die Begriffswelt rassischer Ideologien anknüpfte, vgl. Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 75. Auf den Begriff „Rasse“ wurde trotzdem nicht verzichtet, da es aus dem Zusammenhang hinreichend klar war, dass der Gesetzgeber nicht vom Bestehen verschiedener Rassen ausgeht, vgl. Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 964. 256 Drs. 17/4226 vom 15. 12. 2010, nach dem § 130 Abs. 1 Satz 1 StGB wie folgt modifiziert werden sollte: „gegen eine nationale, rassische oder durch ihr Geschlecht, ihre ethnische Herkunft, ihre Religion oder ihre Weltanschauung, ihre Behinderung, ihr Alter oder ihre sexuelle Identität bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder“. 257 BT-Protokoll 17/81, vom 16. 12. 2010, S. 9089C; Auch Fischer (StGB, 69. Auflage 2022, § 130 Rn. 4) bemerkt, dass die nationalen, rassischen, religiösen und ethnischen Gruppen Teile der Bevölkerung sind. 258 Drs. 17/3124 vom 1. 10. 2010, S. 10; Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 130 Rn. 4.

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Personenmehrheiten, die nicht zu der vorigen Kategorie gehören, können als Teil der Bevölkerung geschützt sein259. Als ein solcher gilt jede Personenmehrheit, die sich „durch irgendein festes äußeres oder inneres Unterscheidungsmerkmal als erkennbare Einheit“ heraushebt260. Damit eine Personenmehrheit als „Teil der Bevölkerung“ anerkannt werden kann, muss sie über eine geringfügige Zahl hinausgehen261 und von einiger Erheblichkeit sein, so dass sie nicht mehr überschaubar ist262. In diesem Sinn bilden Asylbewerber263, Juden264, Afroamerikaner265, Migranten266 jeweils Teile der Bevölkerung. Keine Teile der Bevölkerung sind dagegen „Linke“, „Antifa“ oder „Kommunisten“267, Schüler mit Migrationshintergrund268, „die Repräsentanten des Staats“, die „sich beruflich mit der Verfolgung politisch motivierter Gewalttäter befassen“269, „Volksverräter“270. 3. Ein Einzelner wegen seiner Zugehörigkeit zu einer nationalen, rassischen, oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmten Gruppe und 4. Ein Einzelner wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Teil der Bevölkerung: Die wichtigste Modifikation des Paragraphen271 war die Erweiterung der Norm durch die Einbeziehung einzelner Personen gemäß den entsprechenden Vorgaben des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls zur Aufstachelung zu Gewalt oder Hass. Der erste Absatz erfasst als Angriffsobjekt auch Einzelpersonen, die bisher durch den Tatbestand nur mittelbar geschützt waren, wenn sich der Angriff zugleich gegen einen Bevölkerungsteil richtete272. Dabei handelt es sich nicht um eine Aktion gegen nur eine Einzelperson aufgrund individueller Eigenschaften; vielmehr hat der Täter den Angriff vordergründig und 259

Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB § 130 Rn. 10. Drs. 17/3124 vom 1. 10. 2010, S. 10; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 26. 261 Aus diesem Grund können Angehörige des deutschen Volkes keine „Teile der Bevölkerung“ i. S. des § 130 Abs. 1 StGB sein, wie der von AfD vorgelegte Entwurf vorschlägt (Drs. 19/1842 vom 24. 4. 2018). 262 Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 27; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/ Schröder § 130 Rn. 3. 263 AG Duisburg, Urteil vom 8. 12. 2017 – 81 Ds 433/16. 264 OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III-1 RVs 66/15. 265 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088. 266 VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. 5. 2019 – 20 L 1449/19; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. 5. 2019 – 3 B 155/19; BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 15. 5. 2019 – 1 BvQ 43/19, NVwZ 2019, 963. 267 BGH, Urteil vom 3. 4. 2008 – 3 StR 394/07. 268 Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 5. 12. 2011 – (1) 53 Ss 121/11 (85/11). 269 BGH, Urteil vom 30. 1. 1979 – 5 StR 642/78. 270 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 23. 5. 2019 – 10 CE 19.997. 271 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 36. 272 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 3. 260

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formal nur gegen eine Einzelperson mit dem Ziel gerichtet, gegen den entsprechenden Bevölkerungsteil durch die Auslösung von Hassgefühlen zu agitieren (Abs. 6)273. Daraus ergibt sich, dass der neugefasste Paragraph keinen individuellen Ansatz verkörpert, sondern eine Einzelperson nur aufgrund konkreter Gruppenbezogenheit in den Schutzbereich der Vorschrift als Bestandteil einer Gesamtheit einfügt274. 10. Frankreich275 Mehr als jedes andere Land hat Frankreich sowohl in der Form von Erinnerungsgesetzen, als auch in der Form der Pönalisierung der Leugnung276 das Gesetz als Hauptinstrument zum Schutz der Erinnerung durch extensive Erweiterung der historischen Materie durchgesetzt. Das Gesetz Nr. 90 – 615 vom 13 Juli 1990 zur Verhinderung von rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Handlungen277, das vom Abgeordneten der kommunistischen Partei Jean-Claude Gayssot und im Senat von Senator Charles Lederman vorgelegt wurde, modifizierte das Gesetz vom 29. Juli 1881 über die Freiheit der Presse durch folgende Ergänzung des § 9 vom § 24bis: „Wer die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschheit in Frage stellt, definiert in § 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals, festgehalten im Londoner Abkommen vom 8. August 1945 und welche von Mitgliedern einer als kriminell unter § 9 des genannten Statuts genannten Organisation oder einer Person, die unter französischer oder internationaler Gesetzgebung solcher Verbrechen schuldig befunden wurde, ausgeführt wird,“

wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe von 45.000 Euro bestraft. Im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen, die keine gerichtliche oder parlamentarische Anerkennung der historischen Tatsachen voraussetzen, weist die französische Vorschrift direkt auf die „prozessuale Wahrheit“278 hin, die zum Gegenstand 273 „der Einzelne werde gerade wegen seiner Zugehörigkeit als hassenswert usw. eingestuft“, Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 36. 274 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 36; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 3. Angriff auf Einzelne wegen ihrer Homosexualität oder Behinderung ist ein von der Gesetzesbegründung genanntes Beispiel, welches vom Wortlaut der Vorschrift erfasst wird (Drs. 17/3124, S. 10); Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 963 f. 275 Feldman, Recueil Dalloz, 1999, Chronique, 8 ff.; Roumelian, Petites affiches 21 (1996), 10; Korman, (JCP) 1989, I. Doctr., 3404. 276 Zum Phänomen der Holocaustleugnung in Frankreich, vgl. Vidal-Naquet/Ya¯gîl, Holocaust Denial in France: Analysis of a Unique Phenomenon, 1995; Vidal-Naquet, Assassins of Memory: Essays on the Denial of the Holocaust, 1992. 277 Loi n8 90 – 615 du 13 juillet 1990 tendant à réprimer tout acte raciste, anti-Semite ou xénophobe. 278 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 147.

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der Leugnung wird. Darüber hinaus setzt sie nicht das subjektive Unrechtselement des böswilligen Charakters der Leugnung voraus, sondern kriminalisiert die Leugnung per se, indem der leugnenden Äußerung ein eigenständiger Unwert zugeschrieben wird. Das Gayssot-Gesetz wurde im Verfahren des Faurisson-Falls angewandt, der am 13. April 1991 vom 17. Chambre Correctionelle du Tribunal de Grande Instance de Paris wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt wurde279. Nach dem gescheiterten Gesetzentwurf aus dem Jahr 2006 zur Leugnung des armenischen Genozids280 wurde am 23. Januar 2012 vom Senat ein Gesetz erlassen, dessen § 1 in das Gesetz über die Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 einen § 24c einfügte; demgemäß wurde mit einem Jahr Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von 45.000 Euro bestraft, wer in irgendeiner Art „einen oder mehrere gemäß § 211 – 1 des Strafgesetzbuches definierte und als derartige Verbrechen vom französischen Gesetz anerkannte Völkermorde […] leugnet oder grob bagatellisiert“281. Am 28. Februar 2012 erklärte das Conseil Consitutionnel die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes282, da es gegen die in Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschützte Meinungs- und Kommunikationsfreiheit, den Gleichheitsgrundsatz sowie das Legalitätsprinzip aus Art. 8 der besagten Erklärung verstoße; außerdem stellte das Verfassungsgericht fest, dass eine „gesetzliche Bestimmung, die einen Völkermord anerkennt, als solche nicht den normativen Charakter haben kann, der mit einem Gesetz einhergeht; dass der § 1 des zur Prüfung vorgelegten Gesetzes jedoch die Leugnung oder grobe Bagatellisierung eines oder mehrerer und „als derartige Verbrechen vom französischen Gesetz anerkannte[r]“ Völkermorde ahndet“, und weiter, „dass der Gesetzgeber durch die Ahndung der Leugnung von Verbrechen und der gesetzlichen Einordnung solcher Taten, die er selbst als Verbrechen anerkannt und qualifiziert hat, einen verfassungswidrigen Eingriff in die Ausübung der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit vorgenommen hat“. Frankreich hat weiterhin den armenischen Genozid am 29. Januar 2001 gesetzlich anerkannt283. Vier Monate später wurde das Gesetz Taubira erlassen284, nach dem 279

Dhommeaux, Revue Juridique de l’Ouest, 1997, 252. „Sont punis des peines prévues par l’article 24 bis de la loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse ceux qui auront contesté, par un des moyens énoncés à l’article 23 de ladite loi, l’existence du genocide arménien de 1915.“ § 2 aus dem von der französischen Generalversammlung am 12. 10. 2006 gebilligten Gesetz, der vom Senat nicht ratifiziert wurde und deshalb nicht in Kraft trat. 281 Proposition de loi visant à réprimer la contestation de l’existence des génocides reconnus par la loi (Gesetzentwurf zur Leugnung von gesetzlich anerkannten Genoziden), vom 23. 1. 2012. 282 Conseil Constitutionnel, Urteil Nr. 2012 – 647 vom 28. 2. 2012. 283 Gesetz Nr. 2001 – 70 zur Anerkennung des armenischen Genozids vom 1915 (Loi n. 2001 – 70 du 29 janvier 2001 relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915): „§ 1: 280

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(§ 1) die Französische Republik anerkannte, dass der im 15. Jahrhundert begangene transatlantische Sklavenhandel und die Sklaverei Verbrechen gegen die Menschheit gewesen seien. Mit dem 2005 erlassenen Gesetz Makachera285 zum französischen Kolonialismus drückte die Republik ihre Dankbarkeit gegenüber den Frauen und Männern aus, „die an den Aktivitäten Frankreichs in den früheren französischen Abteilungen in Algerien, Marokko, Tunesien und Indochina und in den anderen Territorien, die früher unter französischer Oberhoheit gestanden haben, beteiligt waren“. Der fünfte Absatz des Gesetzes schreibt ein geschichtsbezogenes Verbot vor, das sich sowohl auf die Beleidigung oder Verleumdung einer Person oder Gruppe von Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Harkis286 als auch auf die Rechtfertigung von Verbrechen bezieht, die gegen die Harkis nach dem Vertrag von Evian287 begangen wurden, ohne jedoch die vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen anzuführen. Der Imperativ der Erinnerung hat sich in Frankreich sogar auf historische Tatsachen ausgedehnt, die zur Quelle intensiver Auseinandersetzungen geworden sind: Am 21. Februar 2007 haben neun Abgeordnete der Volksversammlung einen Gesetzentwurf zur Anerkennung des Genozids der Vendée288 („reconnaissance du génocide vendéen“) vorgelegt289 ; es folgten zwei gescheiterten Entwürfe ähnlicher Formulierung im Jahre 2012 und 2013290. Der Conseil Constitutionnel äußerte sich am 8. Januar 2016 durch Ablehnung des Antrags eines Bürgers zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gayssot-Gesetzes291 erneut zur grundlegenden Frage des Schutzes des Gedenkens durch das Recht. Das Verfassungsgericht unterschied zwischen dem gerichtlich anerkannten Frankreich erkennt öffentlich den armenischen Genozid vom 1915 an.“ (Article 1: La France reconnaît publiquement le génocide arménien de 1915.) 284 Gesetz Nr. 2001 – 434 vom 21. 5. 2001: „La République française reconnaît que la traite négrière transatlantique ainsi que la traite dans l’océan Indien d’une part, et l’esclavage d’autre part, perpétrés à partir du xve siècle, aux Amériques et aux Caraïbes, dans l’océan Indien et en Europe contre les populations africaines, amérindiennes, malgaches et indiennes constituent un crime contre l’humanité.“ 285 Gesetz Nr. 2005 – 158 vom 23. 2. 2005. 286 Hilfstruppen, die der französischen Armee während des Algerienkriegs (1954 – 1962) dienten und als Kollaborateure der Kolonialmacht wahrgenommen wurden. 287 Mit den am 18. 3. 1962 unterzeichneten Verträgen von Evian wurde der Algerienkrieg beendet. 288 Der Aufstand der Vendée war ein Bürgerkrieg (1789 – 1796) nach der Französischen Revolution zwischen der katholischen Landbevölkerung der Vendée und Truppen der Ersten Französischen Republik. 289 Gesetzentwurf Nr. 3754 („proposition de loi relative à la reconnaissance du génocide vendéen de 1793 – 1794“). 290 Gesetzentwurf Nr. 4441 vom 6. 3. 2012 („visant à reconnaître officiellement le génocide vendéen de 1793 – 1794“) und Nr. 607 vom 16. 1. 2013 („relative à la reconnaissance du génocide vendéen de 1793 – 1794“). 291 Conseil Constitutionnel, Urteil Nr. 2015 – 512 QPC vom 8. 1. 2016.

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Holocaust und dem armenischen Genozid, dessen Leugnungstatbestand im Jahre 2012 als verfassungswidrig erklärt worden war: Im ersten Fall handle es sich um ein gerichtlich anerkanntes Verbrechen, während im zweiten Fall der armenische Genozid durch ein Gesetz anerkannt worden sei. Ein Genozid könne allerdings nur durch ein gerichtliches Urteil anerkannt werden; dem Gesetz, das ein Verbrechen anerkennt, fehle der normative Charakter. Diese Unterscheidung, die implizit auch in der Rechtsprechung des EGMR292 vorgenommen wird, manifestiert, dass der Gesetzgeber durch anerkennende Resolutionen keine „korrekte historische Methode“ zur Aufklärung der Geschichte entwickeln kann. Die letzte Modifizierung des § 24bis des Gesetzes über die Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 trat im Januar 2017 in Kraft293. Dem Gesetz wurde folgender Absatz hinzugefügt: „Mit der gleichen Strafe wird bestraft, wer die Existenz eines anderen als die im ersten Absatz dieses Artikels genannten Völkermords, eines anderen Verbrechens gegen die Menschheit, der Versklavung oder eines Kriegsverbrechens, das in § 6, 7 und 8 des Internationalen Strafgerichtshofs… und in den §§ 211.1 bis 212.3, 224.1 A bis 224.1C und 461.1 bis 461.31 des StGB definiert wird, leugnet, verharmlost oder grob trivialisiert, wenn 1. Dieses Verbrechen von einem französischen oder internationalen Gericht verurteilt worden ist 2. Oder wenn die Leugnung, Verharmlosung oder Trivialisierung dieses Verbrechens zur Gewalt oder Hass gegen eine Personengruppe oder einen Angehörigen einer solchen Gruppe aufstachelt, der sich anhand von seiner Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft oder ethnischen Herkunft identifiziert“294.

In seiner letzten Auseinandersetzung mit dem Negationismus erklärte das Conseil Constitutionnel den Absatz 2 als verfassungswidrig295. Insbesondere ist auf den Einwand des Verfassungsgerichts hinzuweisen296, dass der Richter zur Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit aufgefordert werde, über das Vorhandensein eines Verbrechens zu entscheiden, obwohl kein Gericht es anerkannt habe. Diese Bestimmung verletze daher das Bestimmtheitsgebot hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Kommentaren zu Tatsachen, die Gegenstand einer historischen Debatte sein können.

292

Lehideux, Perinçek. Einen gelungenen Überblick des Gesetzgebungsverfahrens des sogenannten BoyerGesetzes liefert Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 105 ff. 294 Gesetz Nr. 2017 – 86 vom 27. 1. 2017. 295 Conseil Constitutionnel, Urteil Nr. 2016 – 745 DC vom 26. 1. 2017. 296 § 196. 293

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11. Griechenland Mit dem Gesetz Nr. 4285/2014 setzte der griechische Gesetzgeber den Rahmenbeschluss 2008/913/JI um und modifizierte das Gesetz 927/1979297. Im Rahmen der internationalen Rechtspflichten wird davon ausgegangen, dass der griechische Staat mit der Umsetzung des Rahmenbeschlusses dazu beitrage, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. Angesichts der Gefahr einer Verletzung wird die Harmonisierung im Begründungsbericht298 nur dann als erfolgreich betrachtet, wenn keine Äußerungen unter Strafe gestellt werden, die ungeeignet sind, bestimmte Gruppen oder Personen zu viktimisieren. Daher wird die Eignung jeder Handlung zu einer direkten und immanenten Gefahr für das „friedliche soziale Zusammenleben“ in concreto überprüft. § 2 Abs. 1 des Gesetzes mit dem Titel „Öffentliche Billigung oder Leugnung von Verbrechen“ lautet wie folgt: „Wer vorsätzlich, öffentlich, mündlich oder durch die Presse, durch das Internet oder ein anderes Medium oder auf andere Art die Begehung oder die Bedeutung von Genoziden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, des Holocaust und von Verbrechen des Nationalsozialismus, die von internationalen Gerichten oder vom griechischen Parlament anerkannt worden sind, billigt, verharmlost oder böswillig leugnet und seine Handlung sich gegen eine Gruppe von Personen oder ein Mitglied der Gruppe wendet, die sich aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, genealogischen Herkunft, nationalen oder ethnotischen Herkunft, sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder Behinderung identifiziert, wenn dieses Verhalten in einer Art geäußert wird, die zu Gewalt oder Hass aufstacheln kann oder einen bedrohlichen oder beleidigenden Charakter gegen eine solche Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe hat“ wird mit einer Gefängnisstrafe von drei Monaten bis drei Jahren und mit einer Geldstrafe von 5.000 bis 20.000 Euro bestraft.“

Die Frage der Strafbarkeit der Leugnung historischer Tatsachen rückte in den Vordergrund, als das erste Gerichtsverfahren, in dem das modifizierte Gesetz Anwendung fand, am 10. Februar 2016 abgeschlossen wurde. Ursache des Verfahrens am Amtsgericht Rethymnon war das Buch „Operation Merkur“ des Historikers Heinz Richter, das sich mit der Eroberung Kretas durch deutsche Fallschirmtruppen befasste und die Schlacht um Kreta „den Beginn der ,schmutzigen‘ Kriegsführung, die durch Partisanenüberfälle und Repressalien geprägt“ gewesen sei, nennt299. Der emeritierte Prof. Richter wurde wegen Leugnung von Verbrechen der Nazis zulasten des kretischen Volkes angeklagt und am 10. Februar 2016 wegen der Verfassungs297 Nach § 2 des Gesetzes 927/1979 (alte Fassung) machte sich strafbar, „wer öffentlich, mündlich oder durch die Presse oder durch Schriften oder Skizzen oder ein anderes Mittel beleidigende Ideen gegen eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer rassischen oder ethnischen Herkunft ausdrückt“. 298 Der Begründungsbericht ist elektronisch zugänglich unter dem Link http://www.hellenic parliament.gr/UserFiles/2f026f42-950c-4efc-b950-340c4fb76a24/t-l328-eis.PDF (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 299 Schlötzer, Warum die griechische Justiz einen deutschen Historiker verfolgt, Süddeutsche Zeitung vom 6. 1. 2016.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

widrigkeit des Gesetzes freigesprochen300. Die Gesetze und Präsidialverordnungen, durch welche gewisse Verbrechen anerkannt werden, zu denen die von den Besatzungstruppen begangenen Verbrechen gehören, qualifizieren vergangene Ereignisse rechtlich; ungeachtet ihres politischen Symbolismus fehle ihnen ein normativer Inhalt, mit dem sie als bindende Rechtsvorschriften rechtliche Wirkung entfalten können. Mit der Einfügung der parlamentarisch anerkannten Verbrechen werde das Gewaltenteilungsprinzip beeinträchtigt, indem das Parlament Funktionen übernehme – nämlich die Befugnis zur rechtlichen Anerkennung eines Verbrechens –, die seinen rechtlichen Kompetenzen nicht entsprechen. Gleichzeitig habe der Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses seine Zuständigkeitsgrenzen überschritten, indem er mit der Einfügung der Kategorie der parlamentarisch anerkannten Verbrechen den Zweck der gesetzlichen Harmonisierung auf europäischer Ebene verfehle. Darüber hinaus verletze das Konzept einer De-facto-Strafnorm zur Kriminalisierung der Leugnung von Verbrechen die Meinungsfreiheit und akademische Freiheit, da Gesetze, die historische Fakten anerkennen, in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht als Grundlage bindender Vorschriften dienen können, die strafrechtliche Sanktionen verhängen. Infolgedessen sei fraglich, ob diese Entwicklung den neugefassten Rechtsrahmen de facto außer Kraft setzt oder den Weg zu einer neuen Gesetzesinitiative für eine verfassungsmäßige Erfassung der Leugnung von Verbrechen ebnet, wie im Falle Frankreichs nach der Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Leugnung des armenischen Genozids301. 12. Israel Es überrascht nicht, dass auch Israel im Jahr 1986 ein ad-hoc-Gesetz verabschiedet hat.302 Mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wird bestraft (§ 2), wer „schriftlich oder durch das gesprochene Wort irgendeine Aussage veröffentlicht, die Taten, die in der Zeit des Nationalsozialismus begangen wurden, leugnet oder ihren Umfang relativiert, die Verbrechen gegen das jüdische Volk oder die Menschheit sind, mit dem Ziel, die Täter zu verteidigen, Sympathie auszudrücken, oder sich mit ihnen zu identifizieren“. Der § 3 sieht die Handlungsvariante des Billigens der vorgeführten Verbrechen vor.303 Eine sonst strafbare Veröffentlichung wird nicht als Vergehen erfasst, „solange es nicht zum Ziel hat, Sympathie oder Identifikation mit den Tätern von Verbrechen gegen jüdische Menschen oder gegen die Menschheit auszudrücken“ (§ 4). 300

AG Rethymnon, Urteil vom 2383/2015. Es ist auf jeden Fall erwähnenswert, dass es seitdem keine neuen Strafverfahren wegen Leugnung von historischen Tatsachen gegeben hat. 302 Hennebel/Hochmann, Genocide Denials and the Law, 2011, S. 267; Das Gesetz 5746 – 1986 vom 8. 7. 1986 ist hier in englischer Sprache aufrufbar: https://www.sissco.it/articoli/nega zionismi-legislazioni-1151/normative-1153/israel-1166/ (zuletzt aufgerufen: 3. 5. 2022). 303 „[…] Aussage des Lobes, der Sympathie oder der Identifizierung […]“. 301

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13. Italien Die Pönalisierung des Negationismus in Italien war ein jahrelanger Prozess, in dem seit 2007 verschiedene Entwürfe erfolglos vorgelegt und debattiert wurden304. Im Januar 2007 wurde vom Justizminister Clemente Mastella angekündigt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die aufhetzende Leugnung von Genoziden und Verbrechen gegen die Menschheit bestraft, die durch ein endgültiges Urteil eines italienischen oder internationalen Gerichtshofes anerkannt worden sind305. Der Entwurf, der von der wissenschaftlichen Gemeinde scharf kritisiert wurde306, wurde nie vom Parlament verabschiedet. Im März 2013 wurde ein modifizierter Entwurf vorgelegt und im Jahr 2015 erneut modifiziert307. Er ist am 13. 7. 2016 in Kraft getreten308. Der aktuelle § 604bis (b) StGB („Propaganda und Aufforderung zu Gewalttaten aus rassischen, ethnischen und religiösen Diskriminierungsgründen“) lautet wie folgt: „Eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren wird vorhergesehen, wenn die Propaganda oder die Aufforderung und Aufstachelung, die in einer Weise begangen wird, die eine echte Gefahr für ihre Verbreitung darstellt, ganz oder teilweise auf der Leugnung, gröbliche Verharmlosung oder die Rechtfertigung der Shoah oder der Verbrechen des Genozides, der Verbrechen gegen die Menschheit und der Kriegsverbrechen, im Sinne der §§ 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes beruht.“309 Besonders erwähnenswert ist die Anmerkung von Luigi Cajani, dass die Bestrafung der Leugnung von historischen Tatsachen nicht als eigenständiger Tatbestand – wie es in anderen Ländern der Fall sei – eingeführt werde. Stattdessen stelle die tatbestandsmäßige Handlung einen erschwerenden Umstand der rassischen Aufstachelung dar310. Die Leugnung wird also im italienischen Tatbestand nicht per se bestraft. Folglich wird nicht das schlichte Bestreiten der erfassten historischen Tatsachen kriminalisiert, sondern die aufhetzende Leugnung dieser Verbrechen.

304 Cavaliere, Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale, 2016, 999 ff.; Fronza, Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale, 2016, 1016 ff. 305 Puglisi, Diritto Penale Contemporaneo vom 15. 7. 2016, 17. 306 Das Memorandum vom 22. 1. 2007 von Historikern, die sich kritisch zu der Auferlegung einer staatlichen historischen Wahrheit äußern, ist unter folgendem Link zugänglich: https://stor icamente.org/02negazionismo (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 307 Puglisi, Diritto Penale Contemporaneo vom 15. 7. 2016, S. 20. 308 Legge 16. Giugno 2016, n. 115, Gazzetta Ufficiale della Republica Italiana, https://www. gazzettaufficiale.it/eli/id/2016/06/28/16G00124/sg (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 309 Der Artikel und seine Analyse sind in italienischer Sprache hier zugänglich: http://mela project.org/sites/default/files/2018-05/Italian%20Criminal%20Code%20-%20Article%2 0604%20bis.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 310 Cajani, Italy and the law on denialism, Free Speech Debate, vom 14. 4. 2015.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

14. Kambodscha Mit der Aufnahme zunehmend erweiterter historischer Materie in geschichtsbezogene Straftatbestände wird die Vergangenheit in Form kollektiver Erinnerung als Imperativ der vergangenheitsgeprägten Selbstidentifikation aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang lässt sich das am 7. Juni 2013 von der kambodschanischen Nationalversammlung verabschiedete Gesetz betrachten, mit dem die Leugnung der Verbrechen der Roten Khmer bestraft wird311. Der § 2 des „Gesetzes gegen Nichtanerkennung der begangenen Verbrechen während der Demokratischen Kambodschanischen Periode“ sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren für folgende Handlungen vor: „Jede Nichtanerkennung, Verharmlosung, Leugnung der Existenz der Verbrechen oder jedes Bestreiten oder Lob der während der Demokratischen Kambodschanischen Periode begangenen Verbrechen, die durch ein Gesetz oder rechtskräftige Urteile von Gerichten anerkannt worden sind, die befugt sind, sie im Hoheitsgebiet des Königreichs von Kambodscha umzusetzen, bildet die Handlung der öffentlichen Nichtanerkennung der während der Demokratischen Kambodschanischen Periode begangenen Verbrechen“.312

Wie in anderen Ländern, ist auch der kambodschanische Tatbestand auf heftige Kritik gestoßen313.

15. Kolumbien Besondere Aufmerksamkeit verdient der § 102 StGB („Apología del genocidio“)314. Nach diesem Artikel wird bestraft, „wer auf irgendeine Weise Ideen oder Doktrinen verbreitet, die Völkermord oder Antisemitismus auslösen oder fördern oder in irgendeiner Weise Regimes oder Institutionen, die Erzeugungspraktiken 311

Cambodia criminalises Khmer Rouge atrocity denial, BBC vom 7. 6. 2013; Johnson, Cambodia: Criminalizing Denial of Atrocities, Library of Congress, vom 12. 6. 2013; Reaksmey/Khemara, Assembly Approves Law Against Denial of Khmer Rouge Crimes, VOA Khmer, vom 8. 6. 2013. 312 Eine ausführliche Erläuterung des kambodschanischen Gesetzes liefert die interessante Arbeit der Gruppe „Article 19“ mit dem Titel „Cambodia: Law Against Non-Recognition of the Crimes Committed During Democratic Kampuchea“ vom Juni 2013, aufrufbar hier: https: //www.article19.org/data/files/medialibrary/37127/13-06-27-cambodia-LA.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 313 Chhang, The Law on the Denial of the Khmer Rouge Crimes: Truth Does Not Need the Law for Protection, The Documentation Center of Cambodia, vom 2. 6. 2013; Seiff, The denial law dilemma, The Phnom Penh Post, vom 7. 6. 2013; Zsombor/Phorn, Critics Say Genocide Denial Law Carries ,Great Risks‘, The Cambodia Daily, vom 3. 6. 2013; Kimseng, Khmer Rouge Denial Law Critisized as Political Tool, VOA Khmer, vom 7. 6. 2013; Cambodian Center of Human Rights, Khmer Rouge crimes denial law could negatively impact on free expression in Cambodia, ifex, vom 6. 6. 2013. 314 Der Artikel zur Rechtfertigung von Genoziden wurde mit dem Gesetz 1482/2011 eingeführt, mehr dazu Parra Dussan, Ley antidiscriminación en Colombia, Asuntos Legales, vom 27. 9. 2012.

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schützen, die dazu führen, rechtfertigt oder zu rehabilitieren sucht“315. Auffallend ist zunächst die Vagheit des Gesetzes316. Obwohl der Artikel den Titel „Rechtfertigung des Genozides“ trägt, ergibt sich aus dem Wortlaut keine derartige Tatbestandsalternative. Die Handlung der Rechtfertigung oder Rehabilitation bezieht sich auf Regimes oder Institutionen, die Erzeugungspraktiken befürworten, die zu einem Völkermord führen. Eine Leugnungsalternative ist zwar vom Tatbestand nicht ausdrücklich erfasst. Es ist allerdings fraglich, ob die Leugnung eines Genozides von den Tatbestandsmerkmalen der „Rehabilitation von Regimen“ oder der „Verbreitung von Ideen oder Doktrinen“ erfasst werden kann, die den Antisemitismus fördern. Wenn man insbesondere bedenkt, dass das Bestreiten eines Genozides als eine Bestrebung angesehen wird, die Täter moralisch von ihrer Schuld zu befreien und ihr politisches Erbe wiederherzustellen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Tatbestand die aufhetzende (oder auch schlichte) Leugnung von Genoziden erfasst. Unerörtert bleibt weiterhin, welche historischen Tatsachen vom kolumbianischen Tatbestand einbezogen werden. Es bleibt offen, ob der Richter die Rolle eines historischen Schiedsrichters übernehmen soll oder ob unter dem „Genozid“ die vom kolumbianischen Senat anerkannten Genozide gemeint sind. Im letzteren Fall sei darauf hingewiesen, dass unter den parlamentarisch anerkannten Genoziden der Holodomor317, das Massaker von Chodschali318 und der vom Osmanischen Reich begangene armenische Genozid319 zählen. 16. Kroatien Der Straftatbestand des vierten Paragraphen des § 325 StGB wurde im Jahr 2012 eingeführt: „Mit der Strafe des ersten Paragraphen [bis zu drei Jahren] wird bestraft, wer einen Völkermord, ein Verbrechen der Aggression, ein Verbrechen gegen die Menschheit oder ein Kriegsverbrechen öffentlich billigt, leugnet oder grob verharmlost und sich gegen eine Gruppe von Personen oder ein Mitglied einer Gruppe wegen ihrer Rasse, Religion, nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, Herkunft oder Hautfarbe richtet, in einer Art, die 315 § 102 StGB ist in spanischer Sprache hier verfügbar: https://leyes.co/codigo_penal/ 102.htm (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 316 So auch Pruitt, IJCJS 2017, 276 f. 317 Das Repräsentantenhaus von Kolumbien hat den Holodomor 2007 mit einer Resolution anerkannt (Liste der Staaten, die den Holodomor als Genozid anerkannt haben: https://holodomormuseum.org.ua/en/recognition-of-holodomor-as-genocide-in-the-world/, zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 318 Der kolumbische Senat hat 2012 das Massaker von Chodschali als Genozid anerkannt, dazu s. Colombian Senate passes decision on Khojaly genocide, Azerbaijan State News Agency, vom 23. 4. 2012 (https://azertag.az/en/xeber/Colombian_Senate_passes_decision_on_Khojaly_ genocide-222524, zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 319 Das Andenparlament hat den armenischen Genozid im Jahr 2016 anerkannt, dazu Gaceta Oficial del Parlamento vom September 2016, Proyecto de Resolución No. 7. 9. 2016 Mediante la cual se reconoce y condena el genocidio del pueblo armenio, S. 39 ff.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich geeignet ist, Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder ihre Mitglieder aufzustacheln.“320

17. Lettland Wie andere Erinnerungsgesetze spiegelt auch der lettische Tatbestand die historischen Erfahrungen des Landes wider. Insbesondere macht sich nach 74.1 StGB strafbar, wer „Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit, Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen verherrlicht, oder wer einen begangenen Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit, Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen, einschließlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit, Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen, die von der UdSSR oder Nazideutschland gegen die Republik Lettland und ihre Bewohner begangen wurden, öffentlich verherrlicht, leugnet, freispricht oder gröblich trivialisiert“.321 18. Liechtenstein Nach § 283 Abs. 1 S. 1 und 5 StGB zur Rassendiskriminierung ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen, wer: 1. öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Sprache, Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung, ihres Geschlechts, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Ausrichtung zu Hass oder Diskriminierung aufreizt, und 1. öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, über elektronische Medien übermittelte Zeichen, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen versucht322.

320

Vladisavljevic, Croatia: Crimes Denied and Criminals Praised, Balkan Transitional Justice vom 26. 12. 2018; Opacˇ ic´, Selektive Amnesie: Kroatiens Holocaust- Leugner, Erste Stiftung vom 11. 1. 2018. 321 Das lettische Strafgesetzbuch ist in englischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: https://likumi.lv/ta/en/id/88966-the-criminal-law (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 322 Das Strafgesetzbuch ist unter folgendem Link verfügbar: https://wipolex.wipo.int/en/ text/234957 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Eine Erläuterung des Tatbestandes findet sich im Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein Nr. 24/1999, S. 24 ff.; Marxer, Extremismus in Liechtenstein – Monitorbericht 2017, Liechtenstein-Institut 2018; ECRI-Bericht über Liechtenstein vom 15. 5. 2018.

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19. Litauen Im Jahr 2009 wurde der Gesetzentwurf, mit dem der europäische Rahmenbeschluss in der litauischen Gesetzgebung umgesetzt wurde, vorgelegt und wegen heftiger Debatten erst im Folgejahr verabschiedet. Der § 1702 des litauischen Strafgesetzbuches zur „öffentlichen Billigung von internationalen Verbrechen, öffentlichen Billigung von Verbrechen, die von der UdSSR oder vom nationalsozialistischen Deutschland gegen die litauische Republik oder ihre Einwohner begangen wurden, Leugnung oder Verharmlosung dieser Verbrechen“, der am 26 Juni 2010 in Kraft trat, sieht vor: 1. Wer öffentlich das Verbrechen des Genozids und andere Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen, die in den litauischen Gesetzen, in Akten der Europäischen Union, endgültigen Entscheidungen von litauischen Gerichten oder internationalen Gerichten bestätigt worden sind, billigt, leugnet oder gröblich trivialisiert, in einer drohenden, missbräuchlichen oder beleidigenden Art, oder in einer Art, mit der der öffentliche Frieden gestört wird; auch wer den Angriff der UdSSR oder des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Republik von Litauen sowie den Genozid oder andere Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen, die von der UdSSR oder dem nationalsozialistischen Deutschland im Hoheitsgebiet der Republik von Litauen oder gegen die Einwohner der Republik von Litauen […] begangen wurden, öffentlich billigt, leugnet oder gröblich trivialisiert, in einer drohenden, missbräuchlichen oder beleidigenden Art oder in einer Art, mit der der öffentliche Frieden gestört wird, wird mit einer Geldbuße, Freiheitsbeschränkung, Verhaftung oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft. 2. Eine juristische Person kann auch für eine solche Handlung haften323.

20. Luxemburg Die Leugnung von historischen Tatsachen ist im sechsten Kapitel „über Rassismus, Revisionismus und andere Diskriminierungen“ enthalten, das mit dem Gesetz vom 19. Juli 1997 modifiziert wurde. § 457.3 des luxemburgischen Strafgesetzbuches bestraft die Leugnung von bestimmten historischen Tatsachen wie folgt: „Mit einer Freiheitsstrafe von acht Tagen bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe von 251 bis 25.000 Euro, oder einer dieser Strafen, wird bestraft, wer durch Reden, Schreien oder Drohungen an öffentlichen Orten oder Versammlungen, schriftlich oder durch veröffentlichte Zeichnungen, Gravuren, Malereien, Symbole, Bilder oder andere Schriftarten, Sprachen oder Art von Bildern, die verkauft oder geliefert werden oder zum Kauf angeboten 323

Das Strafgesetzbuch Litauens ist in englischer Fassung unter folgendem Link verfügbar: https://www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/17/Lithuania/show (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Zˇ ilinskas, Jurisprudence 19, no. 1 (2012), 315 ff.; Fijalkowski, International Journal of Law in Context, 10 (2014), 304 f.; ECRI Report on Lithuania vom 13. 9. 2011, S. 7, 15.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich werden oder an öffentlichen Orten oder Versammlungen angezeigt werden, sei es mit Plakaten oder Postern, die in der Öffentlichkeit präsentiert werden, oder mit audiovisuellen Kommunikationsmitteln, ein oder mehrere Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen, so wie diese im § 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. August 1945 definiert werden, bestreitet, grob verharmlost, rechtfertigt oder leugnet und die von Mitgliedern einer Vereinigung begangen worden sind, die laut § 9 der Charta als kriminell erklärt worden ist oder von einer Person, die wegen dieser Verbrechen von einem luxemburgischen, ausländischen oder internationalen Gerichtshof verurteilt worden ist. Mit der gleichen Strafe oder einer dieser Strafen wird bestraft, wer mit den Mitteln des vorigen Paragraphen einen oder mehr Genozide, wie diese im § 136bis StGB definiert werden sowie Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen im Sinne der §§ 136ter bis 136quinquies StGB und von einem Gericht in Luxemburg oder im Ausland anerkannt worden sind, bestreitet, grob verharmlost, rechtfertigt oder leugnet.“324

21. Malta Die Billigung, Leugnung und grobe Verharmlosung von historischen Tatsachen wurde nach der Modifizierung des Strafgesetzbuches vom März 2009 durch § 82b kriminalisiert: „Wer öffentlich Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen gegen eine Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe, die sich aufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit, Herkunft oder nationalen oder ethnischen Herkunft identifizieren, billigt, leugnet oder gröblich trivialisiert, wenn die Handlung in einer Art begangen wird, a. die zu Gewalt oder Hass gegen solch einer Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe aufstacheln kann, b. die die öffentliche Ordnung stören kann, oder die drohend, missbräuchlich oder beleidigend ist, wird mit einer Freiheitsstrafe von acht Monaten zu zwei Jahren bestraft. Für die Zwecke dieses Artikels haben ,Genozid‘, ,Verbrechen gegen die Menschheit‘ und ,Kriegsverbrechen‘ die gleiche Bedeutung wie in § 54a.“325

Darüber hinaus sieht § 82c StGB vor:

324

Das Strafgesetzbuch von Luxemburg ist in französischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: https://www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/16/Lu xembourg/show (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Cajani, in: Belavusau/Gliszczyn´ska-Grabias, Law and Memory: Towards Legal Governance of History, 2017, S. 132; Cajani, Historein, 11 (2012), 24. 325 Das Strafgesetzbuch Maltas ist auf englisch unter folgendem Link verfügbar: https: //www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/15/Malta/show (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 95; Fronza, Memory and Punishment, 2018, S. 11, 16, 59, 60.

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„Wer öffentlich Verbrechen gegen den Frieden gegen eine Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe, die sich aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, nationalen oder ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Religion, Gesinnnung, oder politischen oder anderen Überzeugung identifizieren, billigt, leugnet oder gröblich trivialisiert, wenn die Handlung in einer Art begangen wird, a. die zu Gewalt oder Hass gegen solch einer Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe aufstacheln kann, b. die die öffentliche Ordnung stören kann, oder die drohend, missbräuchlich oder beleidigend ist, wird mit einer Freiheitsstrafe von acht Monaten zu zwei Jahren bestraft.“

22. Nordmazedonien Der § 407a des mazedonischen Strafgesetzbuches mit dem Titel „Billigung oder Rechtfertigung eines Genozids, Verbrechens gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechens“ sieht vor: „1. Wer öffentlich die Verbrechen der §§ 403 bis 407 durch ein Informationssystem leugnet, grob verharmlost, billigt und rechtfertigt, wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft. 2. Wenn die Leugnung, Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung mit der Absicht begangen wird, Hass, Diskriminierung oder Gewalt gegen eine Person oder Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Hautfarbe, nationalen, ethnischen Herkunft, Religion oder Überzeugung, geistigen oder körperlichen Behinderung, Geschlecht oder sozialem Geschlecht, sexuellen Orientierung und politischen Überzeugungen aufzustacheln, wird der Täter mit einer Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren bestraft.“326

23. Österreich Das österreichische Bundesverfassungsgesetz aus dem Jahr 1947, das ein erstes strafrechtliches Instrumentarium zum Verbot von nationalsozialistischen Organisationen und der Entnazifizierung bot, beinhaltet eine Strafvorschrift, mit der die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen bestraft wird. Der Straftatbestand des § 3h des Verbotsgesetzes wurde im Jahre 1992 eingeführt: „Nach 3g327 wird auch bestraft, wer in einem Druckwerk, im Rundfunk oder in einem anderen Medium oder wer sonst öffentlich auf eine Weise, dass es vielen Menschen zu326 Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 169; Das Strafgesetzbuch von Nordmazedonien ist in englischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: https://www.ref world.org/docid/5aa108434.html (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 327 „Wer sich auf andere als die in den §§ 3a bis 3f bezeichnete Weise im nationalsozialistischen Sinn betätigt, wird, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung strenger

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich gänglich ist, den nationalsozialistischen Völkermord oder andere nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschheit leugnet, gröblich verharmlost, gutheißt oder zu rechtfertigen sucht.“

Wie die deutsche sieht die österreichische Strafvorschrift eine Strafe explizit für die Leugnung von nationalsozialistischen Verbrechen vor. Die österreichische Strafnorm unterscheidet sich von der deutschen in mehreren wesentlichen Punkten. Erstens muss die Handlung des deutschen Straftatbestandes in einer Art begangen worden sein, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Bei der österreichischen Strafvorschrift ist die Eignung zur Friedensstörung dagegen kein Tatbestandsmerkmal. Zweitens stehen im Mittelpunkt der deutschen Vorschrift die unter der nationalsozialistischen Herrschaft begangenen Genozide, während die historischen Tatsachen der österreichischen Strafnorm sich nicht auf den Fall der Genozide beschränken, denn strafbar ist auch die Leugnung von nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit.328 Der österreichische Straftatbestand bezieht sich daher nicht nur auf eine strafrechtliche Würdigung von Kriegsverbrechen, sondern auch auf Verbrechen, die ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen von staatlichen Organen begangen wurden329.

24. Peru Im Jahr 2012 wurde ein Entwurf vorgelegt, nach dem die öffentliche Billigung, Rechtfertigung, Leugnung oder Verharmlosung von terroristischen Straftaten mit einer Freiheitsstrafe von vier bis acht Jahren bestraft wird.330 Dem neuen § 316-A strafbar ist, mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, bei besonderer Gefährlichkeit des Täters oder der Betätigung bis zu 20 Jahren bestraft.“ 328 Die Europäische Kommission für Menschenrechte befasste sich mit der Vereinbarkeit des Art. 3g VerbotsG mit der EMRK. Der Antrag (EKMR, Honsik vs. Österreich, Antragsnr. 25062/94, Entscheidung vom 18. 10. 1995) des im Jahre 1992 gemäß § 3g des Verbotsgesetzes verurteilten österreichischen Bürgers Gerd Honsik wurde im Jahre 1995 von der Europäischen Kommission für Menschenrechte geprüft. Nach erfolgloser Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges erhob der Autor einen Antrag unter Bezugnahme auf §§ 6, 10 EMRK vor der Kommission, die feststellte, dass die Verurteilung des Antragsstellers auf § 3g des Verbotsgesetzes gestützt war und deshalb durch Gesetz vorgeschrieben war. Bald darauf verwies sie auf ihre ständige Rechtsprechung, die im Lichte des Art. 17 EMRK gelesen werden sollte. Angesichts des polemischen und befangenen Charakters der Veröffentlichungen wiederholte die Kommission, dass gleichartige Äußerungen gegen die Grundideen der Konvention verstoßen, sodass der einschlägige Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK als notwendig angesehen werden kann. Weiterhin s. EKMR, Nachtmann vs. Österreich, Antragsnr. 36773/97, Entscheidung vom 9. 9. 1998. 329 Grießer, Verurteilte Sprache: zur Dialektik des politischen Strafrechts in Europa, 2012, S. 93 ff.; Müller, Das Verbotsgesetz im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, 2005. 330 Mehr zu dieser Gesetzinitiative, siehe Herencia Carrasco, in: Belavusau/GliszczynskaGrabias (Hrsg.), Law and Memory, 2017, S. 404 ff.; Fronza, Memory and Punishment, 2018, S. 19.

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StGB wurde mit Skepsis begegnet331, so dass seine modifizierte Fassung vom Jahr 2017 auf das Tatbestandsmerkmal des Bestreitens verzichtet hat332. 25. Polen Am 18. Dezember 1998 wurde das Institut für Nationales Gedenken gegründet. Sein Ziel ist die Untersuchung von Verbrechen, Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen, die im Staat von nationalsozialistischen, sowjetischen und polnischen kommunistischen Regimen begangen wurden333. Deren Leugnung wurde mit dem Gesetz vom 18. Dezember 1998 kriminalisiert, das von der Kommission zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnische Nation des Instituts für Nationales Gedenken verabschiedet wurde334. Der § 55 des Gesetzes335 sieht vor: 331

Human Rights Watch, Peru: Reject „Terrorism Denial“ Law, vom 9. 4. 2013. Ley que modifica el artículo 316 e incorpora el artículo 316-A al Código Penal, tipificando el delito de apología de terrorismo-LEY-N8 30610, El Peruano, 19. 7. 2017, S. 4. („Artículo 316-A. Apología del delito de terrorismo: Si la exaltación, justificación o enaltecimiento se hace del delito de terrorismo o de cualquiera de sus tipos, o de la persona que haya sido condenada por sentencia firme como autor o partícipe, la pena será no menor de cuatro años ni mayor de ocho años, trescientos días multa e inhabilitación conforme a los incisos 2, 4, 6 y 8 del artículo 36 del Código Penal. Si la exaltación, justificación o enaltecimiento del delito de terrorismo se realiza: a) en ejercicio de la condición de autoridad, docente o personal administrativo de una institución educativa, o b) utilizando o facilitando la presencia de menores de edad, la pena será no menor de seis años ni mayor de diez años e inhabilitación, conforme a los incisos 1, 2, 4 y 9 del artículo 36 del Código Penal. Si la exaltación, justificación o enaltecimiento se propaga mediante objetos, libros, escritos, imágenes visuales o audios, o se realiza a través de imprenta, radiodifusión u otros medios de comunicación social o mediante el uso de tecnologías de la información o de la comunicación, del delito de terrorismo o de la persona que haya sido condenada por sentencia firme como autor o partícipe de actos de terrorismo, la pena será no menor de ocho años ni mayor de quince años e inhabilitación, conforme a los incisos 1, 2, 4 y 9 del artículo 36 del Código Penal“.) 333 Paczkowski, in: Tismaneanu/Bogdan (Hrsg.), Remembrance, History, and Justice: Coming to Terms with Traumatic Pasts in Democratic Societies, 2015, S. 243. 334 Kulesza, in: FS-Szwarc, 2009, S. 338 ff.: Rechtsgut der Vorschrift sei „die Würde der Nation“, weil die historische Wahrheit über die während des 2. Weltkrieges begangenen Verbrechen ein Teil des nationalen Bewusstseins sei, das die Grundlage für das Gefühl der Würde der einzelnen Personen bilde, die zu einer Nation gehören. 335 Das Gesetz erstreckt sich, nach dem ersten Artikel, auf: 1. die Registrierung, Sammlung, den Zugang, die Verwaltung und die Benutzung von Dokumenten der Organe der Staatssicherheit zwischen dem 22. 7. 1944 und dem 31. 12. 1989 sowie die Dokumente des Dritten Reiches und der Sowjetunion betreffend: a) Verbrechen ausgeführt gegen Personen polnischer Nationalität sowie polnische Bürger anderer Ethnien und Nationalitäten in der Zeit vom 1. September 1939 bis zum 31. 12. 1989: – Naziverbrechen, – kommunistische Verbrechen, 332

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich „Wer öffentlich und entgegen den Fakten die Verbrechen genannt in § 1 (a) bestreitet, wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Das Urteil wird veröffentlicht.“

Neben der Kriminalisierung der Leugnung der angeführten historischen Tatsachen dienen die Erklärungen, die vom polnischen Parlament verabschiedet wurden und sich auf kontroverse historische Tatsachen beziehen, als gesetzliche Quelle für Beispiele von historischen Tatsachen, die durch die normative Stellung vermittels eines Gesetzes eine offizielle historische Version darstellen. So wurde im April 1998 das sowjetisch besetzte Polen vom Senat zu einem nicht-demokratischen und totalitären Staat erklärt336. Zwei Monate später, im Juni 1998, wurde ein Gesetz verabschiedet, das die kommunistische Diktatur verurteilt, die Polen mit Gewalt und gegen den Willen des Volkes von der Sowjetunion und Joseph Stalin aufgezwungen wurde337. Mit der Erklärung vom September 2009 wurde der Einmarsch sowjetischer Truppen am 17. September 1939 in Polen verurteilt sowie jeder Geschichtsverfälschungsversuch338 ; zudem werden gemeinsame Maßnahmen mit Russland gefordert, um die Verbrechen der Stalin-Ära zu untersuchen. Außerdem bekräftigte die am 26. November 2010 verabschiedete Erklärung der Duma „Über die Katyn-Tragödie und ihre Opfer“ nochmals, dass „dieses Verbrechen auf direkte Weisung von Stalin und anderen Vertretern der sowjetischen Führungsspitze begangen wurde“339. Das erste in Polen anhängige Verfahren seit dem Inkrafttreten des Gesetzes lief im Jahr 1999 gegen den Historiker und Dozenten an der polnischen Universität Opole Dariusz Ratajczak, der in seinem Buch „Gefährliche Themen“ die Anzahl der Opfer des Holocaust und die Verwendung von Zyklon B in den Gaskammern bestritten – Verbrechen gegen den Frieden, die Menschheit oder Kriegsverbrechen b) andere politisch motivierte repressive Handlungen ausgeführt von Funktionären polnischer Strafverfolgungsbehörden, der Justiz oder von ihnen beauftragte Personen entsprechend dem Gesetz vom 23. 2. 1991 zur Bestätigung der Null und Nichtigentscheidungen für Personen verfolgt wegen Aktivitäten im Sinne eines unabhängigen polnischen Staates (Gesetzblatt 1993 No. 34, § 149, von 1995 No. 36, § 159, No. 28, § 143 und 1998 No. 97, § 604), 2. die Durchführungsbestimmungen betreffs der Verfolgung von Verbrechen spezifiziert in Pkt. 1 a), 3. den Schutz der Personendaten Verfolgter, und 4. die Aktivitäten zur öffentlichen Bildung. 336 Stan (Hrsg.), Transitional Justice in Eastern Europe and the Former Soviet Union: Reckoning with the communist past, 2009, S. 91. 337 Stan (Hrsg.), Transitional Justice in Eastern Europe and the Former Soviet Union: Reckoning with the communist past, 2009, S. 91. 338 Kiepuszewski/Illmer, 70 years on, Polish resolution condemns crimes under Stalin, DW vom 25. 9. 2009; McLaughin, Polish parliament condemns 1939 invasion by Soviet Union, The Irish Times vom 25. 9. 2009; Russia condemns Polish WW2 resolution as blow to ties, Reuters vom 24. 9. 2009. 339 Bidder, Putin Gesture Heralds New Era in Russian-Polish Relations, Spiegel vom 8. 4. 2010.

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hatte. Das Verfahren wurde jedoch wegen der „geringen gesellschaftlichen Schädlichkeit“ der Tat mit der Begründung eingestellt, dass von den 350 herausgegebenen Büchern nur fünf verkauft wurden340. Besonders heftige Debatten löste die Änderung zum Gesetz über das Institut für nationales Gedenken vom 6. Februar 2018 aus341. Mit dem Änderungsgesetz wurde unter anderem der kontroverse § 55a § 1 eingefügt: „1. Wer öffentlich und faktenwidrig der polnischen Nation oder dem polnischen Staat die Verantwortung oder Mitverantwortung zuschreibt für die durch das Dritte Reich begangenen nationalsozialistischen Verbrechen nach § 6 der Charta des Internationalen Militärtribunals, Annex zum Internationalen Gesetz über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse, das am 8. August 1945 in London unterzeichnet wurde (Gesetzblatt von 1947 § 367), oder für andere Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, oder wer auf andere Weise die Verantwortung der wirklichen Täter dieser Verbrechen massiv herabmindert, unterliegt einem Bußgeld oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.“342.

Nach scharfen internationalen Reaktionen343 wurde der Artikel im Juni 2018 entfernt344. Seitdem dürfen nur zivilrechtliche Ansprüche entstehen, wenn „das polnische Volk“ fälschlich für Verbrechen im zweiten Weltkrieg beschuldigt wird. 26. Portugal Nach § 240 II b StGB wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bestraft, „wer in einer öffentlichen Versammlung, schriftlich zwecks Verbreitung oder mit irgendwelchen Mitteln der sozialen Kommunikation oder Computersystem, eine Person oder Personengruppe aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, ethnischen oder nationalen Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexuellen Orien-

340

Atkins, Holocaust Denial as an International Movement, 2009, S. 139. Belavusau/Wójcik, Archives de politique criminelle, n840, 2018, 175 ff.; Klein, MMRAktuell 2018, 405400. 342 Bucholc/Komornik, Cultures of History Forum vom 19. 2. 2019. 343 Huth, Das neue Gesetz ist eine Verhöhnung der jüdischen Opfer, Die Welt, 3. 2. 2018; Polens Senat verabschiedet umstrittenes Holocaust-Gesetz, Der Spiegel, 1. 2. 2018; Dudek, Polnisches KZ-Gesetz geht Kritikern zu weit, Der Spiegel, 31. 1. 2018; Israel kritisiert polnisches Gesetz zu NS – Todeslagern, Die Welt vom 28. 1. 2018; Gnauck, Israel empört über polnischen Gesetzentwurf, Die Welt, 30. 1. 2018; Warum das umstrittene Gesetz einen Keil zwischen Polen und die Ukraine treibt, Sputnik Deutschland, 2. 2. 2018; John, Poland just passed a Holocaust Bill that is causing outrage. Here’s what you need to know, Time, 1. 2. 2018. 344 Koschyk, Holocaust law: Poland, Israel reconcile in German Media, Deutsche Welle, 4. 7. 2018; Davies, Poland makes partial U-turn on Holocaust law after Israel row, The Guardian, 27. 6. 2018; Santora, Poland’s Holocaust Law weakened after „Storm and Consternation“, New York Times, 27. 6. 2018; Easton, Poland Holocaust law: Government U-turn on jail threat, BBC News, 27. 6. 2018. 341

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

tierung, diffamiert oder verletzt, insbesondere durch die Negation von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden und die Menschheit“.345 27. Ruanda Einzigartig ist vielleicht im Falle Ruandas, dass die Bekämpfung der Leugnung des Völkermords, der 11 % der Bevölkerung vernichtete, verfassungsrechtlich verankert ist. In der Präambel der Verfassung liest man: „Wir, das Volk von Ruanda, […] verpflichten uns dazu, das Verbrechen des Völkermords zu verhindern und zu bestrafen, den Völkermord – Negationismus und Revisionismus zu bekämpfen und die Völkermord-Ideologie346 und alle ihre Manifestationen […] auszurotten“.347 Diese Verpflichtung wiederholt Art. 10 der Verfassung, der auf die Bekämpfung von Leugnung und Revisionismus von Völkermord aufmerksam macht. Seit 2003 sind mehrere Gesetze zur Bekämpfung des Völkermords in Ruanda verabschiedet worden. Nach mehreren Gesetzinitiativen wurde das frühere Rechtsinstrumentarium348 im Jahr 2013 durch das Gesetz 84/2013 ersetzt349. Das Gesetz 84/2013 stellt die Negation (§ 5), die Verharmlosung (§ 6) und die Rechtfertigung des Völkermords350 unter Strafe. Insbesondere wird die Negation von Völkermord wie folgt pönalisiert: „Negation des Völkermords ist jede vorsätzliche Handlung, die in der Öffentlichkeit begangen wird, um: 1. Anzugeben oder zu erklären, dass Völkermord kein Völkermord ist; 2. Die Tatsachen über Völkermord absichtlich misszudeuten, um die Öffentlichkeit irrezuführen; 3. Eine Doppel-Völkermord-Theorie für Ruanda zu unterstützen,

345

Gesetz Nr. 59/2007 vom 4. 9. 2007 („Vigésima terceira alteração ao Código Penal“), verfügbar hier: https://dre.pt/pesquisa/-/search/640142/details/maximized (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 346 Eine Definition des Begriffes findet sich im § 3 Gesetz No 84/2013 vom 11. 9. 2013. 347 The Constitution of The Republic of Rwanda of 2003, Revised in 2015, Official Gazette Nr. Special of 24. 12. 2015. 348 Die frühere Rechtslage schildern die Beiträge von Parmar, Barry und Kabatsi, in: Behrens/Terry/Jensen (Hrsg.), Holocaust and Genocide Denial: A Contextual Perspective, 2017, S. 94 ff., 118 ff., 132 ff. Eine ausführliche Befassung mit der aktuellen und früheren Gesetzeslage überschreitet den Rahmen dieser Arbeit. Jedoch ist erwähnenswert, dass das frühere Gesetz Nr. 33n bis/2003 eine Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren vorsah, vgl. Barry, in: Behrens/Terry/Jensen (Hrsg.), Holocaust and Genocide Denial, 2017, S. 120. 349 Law No 84/2013 of 11. 9. 2013 on the crime of genocide ideology and other related offences, Official Gazette No 43bis of 28.10.13. 350 Unter „Völkermord“ wird nach § 2 der gegen die Tutsi begangene Völkermord oder jeder anderer von den Vereinten Nationen als solcher anerkannte Völkermord verstanden.

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4. Anzugeben oder zu erklären, dass der gegen die Tutsi begangene Völkermord nicht geplant war.“351

28. Rumänien Rumänien hat das Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art ratifiziert, demgemäß die Vertragsparteien das Zusatzprotokoll innerstaatlich umsetzen sollen. Innerstaatlich hat Rumänien das Notfallgesetz Nr. 31/2002 „zum Verbot von faschistischen, rassistischen, fremdenfeindlichen Organisationen und Symbolen, sowie von Organisationen und Symbolen, und der Verbreitung eines Kultes von Personen, die Verbrechen gegen die Menschheit und gegen Frieden begangen haben“, verabschiedet. Das aktuelle Erinnerungsgesetz 217/2015 hat die frühere Gesetzeslage352 wie folgt modifiziert353 : „1. Das öffentliche Leugnen, Infragestellen, Billigen oder Rechtfertigen des Holocaust oder dessen Auswirkungen mit jedwedem Mittel wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren bestraft. 2. Das öffentliche Leugnen, Infragestellen, Billigen, Rechtfertigen oder gröbliche Verharmlosen in irgendeiner Weise eines Genozids, eines Verbrechens gegen die Menschheit oder eines Kriegsverbrechens im Sinne des Völkerrechts, des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und der Charta des durch das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 errichteten Internationalen Militärgerichtshofes, und anerkannt als solches durch ein rechtskräftiges Urteil vom Internationalen Strafgerichtshof, dem durch das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 errichteten Internationalen Militärgerichtshof, dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda oder einem anderen, durch entsprechende internationale Gremien errichteten internationalen Strafgerichtshof, dessen Zuständigkeit vom rumänischen Staat anerkannt ist, oder von ihren Auswirkungen wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft“.

351

Jansen, Northwestern Journal of International Human Rights, 12/2014, 191 ff.; Kabatsi, in: Behrens/Terry/Jensen (Hrsg.), Holocaust and Genocide Denial: A Contextual Perspective, 2017, S. 141 ff. 352 Das Notfallgesetz Nr. 31/2002 bestrafte nur das Bestreiten des Holocaust und dessen Auswirkungen. Das Notfallgesetz wurde anschließend durch die Gesetze Nr. 107/2007 vom 27. 4. 2996, Nr. 278/2006 vom 4. 7. 2006 und Nr. 217/2015 vom 23. 7. 2015 modifiziert, siehe dazu Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 166 ff. 353 Einen Hintergrund der Novellierung liefern Taylor, Why Romania had to ban Holocaust denial twice, The Washington Post, 27. 7. 2015 und Winston, Romania ensures Holocaust denial is against the law, War History Online vom 24. 8. 2015.

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29. Russland Ein besonders interessanter Fall ist die rechtliche Aufarbeitung der historischen Erinnerung in Russland. Die entsprechenden Gesetze der Putin-Ära sind eine Bemühung, die sowjetische Periode zu rehabilitieren354. Diese Rehabilitation diente als Grundlage für den nationalen Zusammenhalt355. Kurz nach der Annexion der Krim verabschiedete das russische Parlament den § 354.1 StGB („Rehabilitation des Nationalsozialismus“), der eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe oder Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren vorsieht für die „Leugnung der Tatsachen, die durch das Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Hauptkriegsverbrecher der Länder der europäischen Achse festgestellt und bestraft wurden, die Billigung der Verbrechen, die durch das Urteil festgestellt wurden, sowie die Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Aktivitäten der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges, die öffentlich begangen wurden“356. Ein weiterer Entwurf von 2014 erweiterte das Gesetz über das Fortbestehen des Sieges des Sowjetvolkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 – 1945 um einen neuen Paragraphen, der die Leugnung des positiven Beitrags des sowjetischen Volkes und der sowjetischen Armeen zum Sieg über die deutschen faschistischen Armeen und die Armeen der deutschen Alliierten pönalisierte357. 30. Schweiz In der Schweiz macht sich nach § 261bis Abs. 4 StGB strafbar, „wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstoßenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht“358. Der ad-hoc-Straftatbestand enthält keine ausdrückliche Bezugnahme359 auf ein Urteil eines Internationalen Strafgerichtshofs oder eine international anerkannte Definition des Völkermords und überlässt somit die Begriffsdefinition dem Richter. Bisher hat die Rechtsprechung den Anwendungsbereich der Strafvorschrift nicht nur auf den Holocaust, sondern auch auf den armenischen Genozid und den Völkermord 354

Koposov, Memory laws, Memory wars, 2018, S. 238. Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 239. 356 Gesetzentwurf Nr. 197582 – 5 vom 27. 2. 2014; Der § 354.1 StGB ist in russischer Sprache hier zugänglich: http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/be763c1 b6a1402144cabfe17a0e2d602d4bb7598/ (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 357 Koposov, Memory laws, Memory wars, 2018, S. 297. 358 Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR, Übersicht der Fälle zu § 261bis StGB. In 63 % der 876 Fälle zwischen 1995 bis 2018 kam es zu einer Verurteilung. 359 Hennebel/Hochmann, Genocide Denials and the Law, 2011, S. 261. 355

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von Srebrenica360 ausgedehnt. Daher bleibt die zukünftige Auslegung der Vorschrift offen. 31. Serbien Nach § 387 Abs. 5 StGB wird mit einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren bestraft, „wer die Schwere von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen, die gegen eine Gruppe von Personen oder einen Angehörigen einer Gruppe begangen wurden, wegen ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Staatsangehörigkeit, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, öffentlich billigt, leugnet oder grob verharmlost, in einer Weise, die zu Gewalt oder Hass gegen eine solche Gruppe von Personen oder ein Mitglied dieser Gruppe führen kann, wenn diese Straftaten durch ein rechtskräftiges Urteil eines serbischen Gerichts oder des Internationalen Strafgerichtshofs festgestellt worden sind“.361 Vom Wortlaut der Vorschrift wird unter anderem die Leugnung des Völkermords in Srebrenica erfasst362, obwohl die serbische Regierung ihn nicht als Genozid anerkannt hat363. 32. Slowakei Mit der Modifizierung des Strafgesetzbuches im Jahr 2011 wurde der § 422d mit dem Titel „Leugnung und Billigung des Holocausts und anderer Verbrechen von politischen Regimen“ eingefügt364 : 360 Ein Politiker veröffentlichte im 11.2012 in einer Tessiner Zeitung einen Artikel, in dem die offizielle Version der Geschehnisse in Srebrenica bestritten wird. Seine Verurteilung, die vom Appellationsgericht des Kantons Tessin bestätigt worden war, wurde vom Bundesgericht in seinem Entscheid vom 6. 12. 2018 aufgehoben (6B_805/2017, auf italienisch), dazu Alder, Bundesgericht hebt Verurteilung wegen Rassendiskriminierung auf, Neue Zürcher Zeitung, vom 27. 12. 2018. 361 Die aktuelle Fassung (Mai 2022) des StGB ist hier in serbischer Sprache zugänglich: https://www.paragraf.rs/propisi/krivicni_zakonik.html (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); vgl. Serbia’s Proposed Srebrenica „Genocide Denial“ Law, Globalsearch vom 21. 11. 2016. 362 Legal protection for the denial of genocide in Srebrenica, Humanitarian Law Center vom 17. 11. 2016. 363 Vgl. das Interview der serbischen Premierministerin Ana Brnabic´ (Brnabic´ : „Verbrechen von Srebrenica war kein Genozid“, DW vom 15. 11. 2018; Pantovic, Serbia to punish genocide denial, says minister, Balkan Transitional Justice vom 16. 11. 2016. 364 Die Pönalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen wurde in der Slowakei zunächst im Jahr 2001 mit dem Gesetz 485/2001 eingeführt. Das Gesetz Nr. 485/2001 vom 8. 11. 2001 ist unter folgendem Link verfügbar: https://www.noveaspi.sk/products/lawText/1/52 048/1/2 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Criminal defamation and „insult“ laws: A summary of free speech developments in the Czech Republic vom 9. 1. 2002, verfügbar unter folgendem Link: https://www.csce.gov/international-impact/criminal-defamation-and-insult-laws-summa ry-free-speech-developments-czech?page=7 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); European

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„1. Wer öffentlich den Holocaust oder Verbrechen von Regimen, die auf einer faschistischen Ideologie beruhen, Verbrechen von Regimen, die auf kommunistischer Ideologie beruhen oder Verbrechen von ähnlichen Bewegungen, die durch Gewalt, Gewaltdrohung oder Drohung mit anderem seriösen Schaden dazu führt, die Grundrechte und -freiheiten von Personen zu unterdrücken, öffentlich leugnet, bestreitet, billigt oder rechtfertigt, wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren bestraft. Wie in Abs. 1, wird eine Person bestraft, die öffentlich Völkermord, Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen leugnet, billigt, bestreitet, grob verharmlost, oder rechtfertigt, in einer Weise, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt gegen eine Personengruppe oder einen Angehörigen aufzustacheln, wenn der Täter oder Teilnehmer [dieser Verbrechen] durch ein rechtskräftiges Urteil eines internationalen Gerichtshofes verurteilt wurde, dessen Zuständigkeit von der Slowakischen Republik anerkannt wurde, oder wenn er durch ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichts der Slowakischen Republik verurteilt wurde.“365

33. Slowenien Slowenien hat das Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die

Commission against Racism and Intolerance, National legal measures to combat racism and intolerance in the member states of the Council of Europe – Slovakia, vom 31. 12. 2002. Im Jahr 2005 wurde das neue Strafgesetzbuch eingeführt, in dem ein neuer Straftatbestand zur Leugnung von historischen Tatsachen enthalten war. § 424a des Strafgesetzbuches lautete wie folgt: 1. Wer öffentlich: a) zu Gewalt oder Hass gegen eine Gruppe von Personen oder eine Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einer Staatsangehörigkeit, Hautfarbe, ethnischen Gruppe, familiären Herkunft oder Religion aufstachelt, wenn diese als Vorwand für die Aufstachelung aus den oben genannten Gründen dienen oder b) eine solche Gruppe oder Person verleumdet, oder sie mit einer Beleidigung bedroht, die als Genozid, ein Verbrechen gegen die Menschheit oder ein Kriegsverbrechen gemäß Art. 6, 7, 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs gilt, oder mit einer Beleidigung, die als Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschheit gemäß Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs, das dem Abkommen vom 8. August 1945 über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse beigefügt wurde, wenn ein solches Verbrechen gegen eine solche Gruppe von Personen oder Person begangen wurde, oder wenn der Täter oder der Anstifter eines solchen Verbrechens mit einer rechtskräftigen Entscheidung eines Internationalen Gerichtes verurteilt worden ist, es sei denn, es wurde in gesetzmäßigem Verfahren für nichtig erklärt, ein solches Verbrechen öffentlich leugnet oder verharmlost, wenn es gegen eine solche Person oder ein Individuum begangen worden ist, wird mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren bestraft.“ 365 Steuer, Sociologia 49, 2017, No. 6, 685 Fn. 19; European Commission against Racism and Intolerance, ECRI Report on Slovakia vom 16. 9. 2014, S. 13; Das aktuelle slowakische Strafgesetzbuch findet sich unter folgendem Link: https://www.zakonypreludi.sk/zz/2005-300 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022).

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Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art ratifiziert. Außerdem hat das slowenische Parlament 2008 einen Tatbestand eingeführt, mit dem die Leugnung von bestimmten historischen Tatsachen kriminalisiert wird. § 297 des slowenischen Strafgesetzbuches zur Aufstachelung zum Hass, zur Gewalt oder zur Intoleranz sieht vor: 1. Wer öffentlich ethnischen, rassistischen, religiösen oder anderen Hass, Konflikt oder Intoleranz hervorruft oder aufstachelt, oder eine Ungleichheit aufgrund der physischen oder geistigen Behinderung oder sexuellen Orientierung verursacht, wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft. 2. Mit der gleichen Strafe wird bestraft, wer öffentlich Ideen zur Überlegenheit einer Rasse über eine andere verbreitet, oder in irgendwelcher Art bei rassistischen Aktivitäten mitwirkt oder Genozide, den Holocaust, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen, Angriffe oder andere strafbare Handlungen gegen die Menschheit leugnet, verharmlost, billigt, missachtet, lächerlich macht oder rechtfertigt366.

34. Spanien a) Vorgeschichte Ausgangspunkt der spanischen Rechtslage war der Fall Violetta Friedman. Im Jahr 1985 veröffentlichte der ehemalige SS-General Leon Degrelle rassistische und antisemitische Kommentare in einer spanischen Zeitschrift, worin er die Existenz der Gaskammern leugnete. Als Holocaust-Überlebende führte Violetta Friedman wegen Verletzung ihrer Ehre durch Degrelles Kommentare einen sechsjährigen strafrechtlichen Prozess gegen den Verfasser367. Am 11. November 1991 entschied das spanische Verfassungsgericht positiv für Violetta Friedman368 : Obwohl die Leugnung der Geschichte dem Schutz der Meinungsfreiheit unterliegt, unterscheidet das Verfassungsgericht zwischen der schlichten Leugnung und der aufhetzenden Leugnung. Insbesondere wird im achten Absatz die Stellungnahme des Gerichtshofs in Bezug auf die einfache Leugnung erklärt. Darin wird betont369, dass der Fall der 366 Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 168 f.; Das Strafgesetzbuch ist in englischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: https://www.wipo.int/edocs/lexdocs/laws/ en/si/si045en.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); International Holocaust Remembrance Alliance, Slovenian Delegation to the IHRA issue statement against Holocaust denial vom 29. 5. 2017. 367 Baer/Sznaider, Memory and Forgetting in the Post-Holocaust Era: The Ethics of Never Again, 2017, S. 90; Mendonca, in: Sellers (Hrsg.), Law, Reason and Emotion, 2017, S. 154. 368 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 214/1991, vom 11. 11. 1991. 369 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 214/1991, vom 11. 11. 1991 (inoffizielle englische Übersetzung): „it is clear that the statements, doubts and opinions on the Nazi’s actions towards Jews an the concentration camps, however reprehensible or distorted they maybe – and indeed they are by denying the evidence of history – are protected by the right of

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schlichten Leugnung als strafrechtlich neutrale und subjektive Äußerung geprüft werden sollte. Doch waren Degrelles Bemerkungen nicht auf ein schlichtes Bestreiten der historischen Tatsachen beschränkt, sondern enthielten auch für das jüdische Volk beleidigende Kommentare370, die in diesem Kontext als Aufstachelung zum Hass bezeichnet wurden. In diesem Sinne steht im Mittelpunkt nicht der revisionistische Charakter der historischen Äußerung, sondern die Kommentare, mit denen die Opfer der NS-Verbrechen verächtlich gemacht werden, sodass sie den Geltungsbereich der in der spanischen Verfassung verankerten Meinungsfreiheit überschreiten. Die Position, dass die Meinungsfreiheit nicht als Medium fremdenfeindlicher Ideen gebraucht werden darf, legte als Ausgangspunkt die Bedingungen für die Verabschiedung des spanischen Tatbestands zur Holocaustleugnung fest, die vier Jahre später erfolgte. Die im Jahre 1995 ergänzte Strafnorm des 1971 verabschiedeten Anti-Genozid-Gesetzes bestrafte mit Gefängnis von einem bis zwei Jahren die Verbreitung jeder Art von Ideen oder Doktrinen, welche Verbrechen (im Sinne der vorherigen Ziffer371 dieses Artikels) leugnen oder rechtfertigen, sowie den Versuch der Wiedererrichtung von Regimen oder Institutionen, welche diese schützen oder gewähren lassen.372 b) Das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts (Tribunal Constitucional) als Wendepunkt der Debatte über die Kriminalisierung des Leugnens von historischen Tatsachen Das Tribunal Constitucional befasste sich 2007 mit der Vereinbarkeit des § 607 Abs. 2 des spanischen StGB mit der verfassungsrechtlich verankerten Meinungsfreiheit373. Es führt aus, dass Aussagen über nationalsozialistische Verbrechen, „so verwerflich und verfälscht sie auch sein mögen (und tatsächlich sind sie das, denn sie bestreiten geschichtliche Zeugnisse) von der Meinungsäußerungsfreiheit“ als subjektive Auffassungen über historische Aussagen gedeckt seien374. Von zentraler

freedom of expression (§ 20 SC), in relation to the right to ideological freedom (§ 16 SC), as irrespective of the evaluation made of these, something which is not the task of this Court, they can only be understood as being what they are, which is subjective and interested opinions on historical events.“ 370 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 214/1991, vom 11. 11. 1991 (inoffizielle englische Übersetzung): „if there are so many of them now it is hard to believe that they came out so alive from the crematorium ovens“, „they always want to be the victims, the eternally persecuted, if they have to enemies, they invent them.“ 371 In der das Verbrechen des Genozids definiert wird. 372 Gómez Navajas, Revista jurídica española de doctrina, jurisprudencia y bibliografía 3 (1999), 1839 ff. 373 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007 (inoffizielle englische Übersetzung), zugänglich hier: https://www.tribunalconstitucional.es/ResolucionesTra ducidas/235-2007,%20of%20November%207.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 374 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007, Rn. 4.

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Bedeutung ist im Urteil die vom Gericht in der Rechtsgrundlage Nr. 7 vorgenommene Unterscheidung375 zwischen Leugnung und Rechtfertigung von Genoziden: „Leugnen wird verstanden als bloßer Ausdruck einer Auffassung über bestimmte Handlungen, wobei behauptet wird, dass diese Handlungen auf eine Weise realisiert worden seien, die sie nicht als Völkermord qualifiziere“; „Rechtfertigen hingegen schließt nicht das gesamte Leugnen, dass ein bestimmtes Völkermordverbrechen begangen worden sei, ein, sondern dessen Relativierung oder die Leugnung seiner Rechtswidrigkeit und geht daher von einer gewissen Identifizierung mit den Tätern aus“.

Entscheidend für die Erklärung der Verfassungswidrigkeit sei also gewesen, ob die zwei Straftatbestände direkt zur Gewalt gegen Personen oder Gruppen von Personen anreizen376. Als Werturteil sei die Rechtfertigung geeignet, zu Gewalt anzureizen, während eine bloße Leugnung die Bedingung der Verfolgung der Schaffung eines feindlichen Klimas nicht erfülle. Weiter ist zu untersuchen, ob die beiden Tatbestände als eine Art Hassrede betrachtet werden können. Im Fall der Leugnung von Genoziden sei die Antwort negativ, denn „das bloße Ziehen von Schlüssen darüber, ob bestimmte Tatsachen stattgefunden haben oder nicht, ohne diese Tatsachen oder ihre Rechtswidrigkeit zu beurteilen, liegt noch in der Zielsetzung der wissenschaftlichen Freiheit“, da die historische Forschung „per definitionem argumentativ und bestreitbar ist, weil sie auf Ansichten und Urteile gerichtet ist, deren objektive Wahrheit niemals mit voller Sicherheit erreichbar ist.“377 Außerdem sei das Einschreiten des Strafrechts ungerechtfertigt, da durch eine einfache Leugnung faktisch keine potenzielle Gefahr für die durch das Gesetz geschützten Interessen entstehe, sodass der § 607 Abs. 2 des spanischen StGB den Art. 20 der Verfassung verletze378. Diese Argumentationslinie des Verfassungsgerichts wurde bei der Überarbeitung des Strafgesetzbuches vom 2015 berücksichtigt. Mit dem neuen Artikel wurde nicht mehr das schlichte Bestreiten, sondern die gegen Minderheiten aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen kriminalisiert. Insbesondere sieht der § 510 Abs. 1c span. StGB eine Geldstrafe und eine Gefängnisstrafe von einem bis vier Jahren für Personen vor, die „die Verbrechen des Völkermords, die Verbrechen gegen die Menschheit, oder gegen Personen und Eigentum, die im Falle eines bewaffneten Konflikts geschützt werden, öffentlich bestreiten, gröblich trivialisieren oder verherrlichen oder ihre Täter verherrlichen, wenn sie gegen eine Gruppe oder einen Teil dieser begangen wurden, oder gegen eine Person, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit bestimmt wird, aus rassistischen, antisemitischen oder anderen Gründen im Zusammenhang mit der Ideologie, Religion oder Weltanschauung, dem Familienstand oder der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu einer ethnischen 375 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007, Rn. 7; Fronza, JZG, 11 (2010), 264. 376 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007, Rn. 8. 377 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007, Rn. 8. 378 Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 235/2008 vom 7. 11. 2007, Rn. 8.

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Gruppe, Rasse oder Nation, ihrer nationalen Herkunft, dem Geschlecht, der Orientierung oder sexuellen Identität, aus Gründen des sozialen Geschlechts, Krankheit oder Behinderung, wenn auf diese Weise ein Klima der Gewalt, der Feindseligkeit, des Hasses oder der Diskriminierung von ihnen gefördert oder begünstigt wird“.379

Nach § 510 Abs. 1a StGB macht sich strafbar, wer öffentlich aus rassistischen, antisemitischen oder anderen Gründen, die sich auf die Ideologie, Religion, Weltanschauung, Familienstand, ethnischer Zugehörigkeit oder Rasse, Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität, Krankheit oder Behinderung beziehen, direkt oder indirekt zum Hass oder zu Gewalt gegen eine Gruppe, einen Teil einer Gruppe oder ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt. 35. Tschechien Der Fall der tschechischen Gesetzgebung dient als Beispiel der erweiterten Verrechtlichung der antikommunistischen Debatte. „Angesichts des Heroismus, mit dem die Rote Armee und das russische Volk die Naziinvasion bekämpfen, erscheint unser Urteil über die Sowjetunion in mancher Hinsicht revisionsbedürftig. Gewisse Tendenzen und Aspekte der Kreml-Politik, an denen wir Anstoß zu nehmen pflegten, werden erst jetzt verständlich. Wie steht es etwa, im Licht der heutigen Ereignisse, um jene berüchtigten Prozesse von 1937? Die summarisch-rigorose Liquidierung der militärischen und ,trotzkistischen‘ Opposition wurde damals in liberalen Kreisen als unerträglicher Skandal empfunden. Ohne die Prozesse von 1937 gäbe es heute, 1942, vielleicht keinen russischen Widerstand.“380

Der Text vom 12. Januar 1942 ist nicht einem revisionistischen Politiker zuzuschreiben, sondern ein Ausschnitt aus dem Tagebuch von Klaus Mann, der sich mit ausgewogener und sachlicher Vorgehensweise in seinen Schriften mit aktuellen politischen Fragen seiner Ära auseinandergesetzt hatte. Allerdings wäre eine Behauptung, dass die Einschätzung der Politik Stalins gegenüber der trotzkistischen Opposition revisionsbedürftig sei, heutzutage in mehreren Staaten der Europäischen Union strafbar. Mit dem § 405 tsch. StGB381 („Leugnen, Anzweifeln, Billigen und Rechtfertigen eines Genozids“) wird die Leugnung von historischen Tatsachen wie folgt bestraft: 379 Das spanische Strafgesetzbuch (2015) ist unter folgendem Link verfügbar: https://www. boe.es/buscar/act.php?id=BOE-A-1995-25444&tn=1&p=20150331 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022); Bernal Del Castillo, Revista para el Análisis del Derecho, 2/2016, 1 ff.; Gascón Cuenca, Cuadernos electrónicos de filosofía del derecho, 32/2015, 78 ff.; Spigno, Cuestiones Constitucionales, 36/2017, 167 ff. 380 Klaus Mann, Der Wendepunkt, 1989, S. 569. 381 Mit dem § 405 StGB wurde der frühere § 261a StGB mit dem Titel „Unterstützung und Propagierung einer Bewegung, die sich auf dem Abbau von Menschenrechten und -freiheiten richtet“ ersetzt. § 261a StGB wurde mit dem Gesetz Nr. 405 vom 25. 10. 2000 eingeführt, mehr dazu in: Kaposov, S. 163 f. Der Wortlaut der Vorschrift bezog sich auf nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen („Die Person, die den Nazi- oder kommunistischen Genozid

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„Wer öffentlich einen nationalsozialistischen, kommunistischen oder anderen Genozid oder nationalsozialistische, kommunistische oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden leugnet, anzweifelt, gutheißt oder zu rechtfertigen versucht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft“.382

Die vagen Termini „kommunistischer Genozid“ und „nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen“, die nicht weiter spezifiziert werden, zeigen die problematische Komplexität eines Konzeptes auf, das der juristischen Auseinandersetzung mit historischen Fragestellungen und Schlussfolgerungen dienen soll. 36. Türkei Der türkische Straftatbestand stellt ein einzigartiges Paradigma der umgekehrten Leugnung einer historischen Tatsache vor. Im Gegensatz zu den europäischen Gesetzgebungen oder den Rechtsvorschriften anderer Staaten, wie Ruanda oder Kambodscha, handelt es sich in diesem Fall nicht um eine Pönalisierung der Leugnung einer historischen Tatsache, sondern um eine staatliche, rechtlich bindende Äußerung über das vom türkischen Staat als nicht geschehen angesehene Genozid an den Armeniern und dementsprechend um die Kriminalisierung einer Äußerung, mit der die Vertreibung der Armenier als Genozid bezeichnet wird383. Die Strafverfolgung wegen Beleidigung der türkischen Nation, des Staates, der türkischen Republik sowie seiner Institutionen und Organe erfolgt durch den § 301 des türkischen Strafgesetzbuches mit einem Titel, der auf den § 159 StGB, vom Codice Rocco Mussolinis beeinflussten, Strafgesetzbuches zurückgeht. In einem Versuch, die entsprechende Gesetzgebung zur Meinungsfreiheit mit den europäischen Leitlinien zu harmonisieren, hat die Große Nationalversammlung mit dem Gesetz Nr. 5759 den § 301 StGB zum neunten Mal geändert384. Nach seiner öffentlich verneint, in Zweifel zieht, billigt oder zu rechtfertigen sucht, oder andere Verbrechen der Nazis oder Kommunisten, wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren bestraft“). Mehr zu § 261a StGB in: Ministry of the Interior of The Czech Republic – Security Policy Department, Information on the issue of extremism in the Czech Republic in 2005, Prague 2006; Commission on Security and Cooperation in Europe, Criminal and „Insult“ laws: A summary of free speech developments in the Czech Republic, vom 9. 1. 2002, aufrufbar hier: https://www.csce.gov/international-impact/criminal-defamation-and-insult-laws-summary-freespeech-developments-czech (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 382 Sieber/Albrecht (Hrsg.), Strafgesetzbuch der Tschechischen Republik, 2017, Deutsche Übersetzung von Susanne Altmann, S. 391. 383 Bekannt ist der Fall des renommierten Schriftstellers Orhan Pamuk, der im Jahr 2005 wegen seiner Äußerungen zum armenischen Genozid angeklagt wurde, vgl. Ghazaryan, in: Behrens/Jensen/Terry, Holocaust and Genocide Denial: A Contextual Perspective, 2017, S. 181. 384 Tate, Georgia Journal of International and Comparative Law, 2008, 181 ff.; Ozcan, USAK Yearbook Of International Politics and Law, 2009, 379 ff.; Algan, German Law Journal, 2008, 2237 – 2252.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Genehmigung durch den Präsidenten trat er am 8. Mai 2008 in Kraft. Die neue Strafnorm lautet: Herabsetzung der türkischen Nation, des Staats der Republik Türkei, der Institutionen des Staates und seiner Organe: 1. Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. 2. Wer die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird gemäß Abs. 1 bestraft. 3. Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar. 4. Die strafrechtliche Verfolgung wegen dieser Handlung hängt von der Ermächtigung des Justizministers ab.

In seinem Urteil Akçam vs. Türkei385 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schlussfolgerung gezogen, dass die Strafnorm trotz der Umformulierungen des „Türkentums“ und der „Republik“ nur scheinbar verändert worden sei, da der Kassationshof die neuen Begriffe „türkische Nation“ und „Staat der Republik Türkei“ ähnlich interpretiert hat. In diesem Sinne war die neue Formulierung, die auf eine eindeutige Auslegung zielte, unnötig. Die vage Auslegung dieser Begriffe führt den Gerichtshof zu der Schlussfolgerung, dass der breite und abstrakte Anwendungsbereich der Begriffe die Meinungsfreiheit gefährdet. Aus diesem Grund wird im Urteil betont, dass § 301 des türkischen Strafgesetzbuches nicht mit der Qualität der Rechtsetzung, so wie diese vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefordert wird, harmonisiert sei, und aus diesem Grund nicht mit Art. 10 EMRK vereinbar sei. Der problematische Wortlaut des Straftatbestands durch die Verwendung vager Begriffe wie „Republik“, oder „türkische Nation“, die in einigen Quellen mit dem vorigen Begriff des „Türkentums“ gleichgesetzt werden386, führt zur Anwendung des Straftatbestands auch in Fällen, die nicht vom Wortlaut der Vorschrift erfasst sind; der wichtigste davon ist das Strafverfahren gegen Schriftsteller, Historiker und Journalisten, die in ihren Arbeiten behaupten, dass das Massaker an den Armeniern 385 EGMR, Altug˘ Taner Akçam vs. Türkei, Antragsnr. 27510/07, Urteil vom 25. 10. 2011. Der Beschwerdeführer, Professor für Geschichte an der Clark University, USA, befasste sich mit den historischen Ereignissen von 1915 um die Armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich, welche er in seinen Büchern klar als Genozid bezeichnete. Am 6. 10. 2006 publizierte Akçam ein Kommentar mit dem Titel „Hrant Dink, 301 und eine Strafanzeige“ in der damals vom ermordeten Hrant Dink herausgegebenen armenisch-türkischen Zeitung „AGOS“, in dem er die Verfolgung des Herausgebers der Zeitung wegen Herabsetzung des Türkentums gemäß § 301 StGB kritisierte und gleichzeitig als Ausdruck der Solidarität forderte, dass auch er strafrechtlich verfolgt werde. 386 Algan, German Law Journal, 2009, 2242.

IV. Einzelne Staaten

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ein Völkermord gewesen sei387. In diesem Fall werden die Begriffe des Türkentums und später der türkischen Nation so weit ausgelegt, dass in ihnen nicht nur humanitäre, religiöse, kulturelle, historische und moralische Werte inbegriffen sind, sondern auch eine rechtlich bindende Betrachtung der Geschichte, durch die eine umgekehrte Form der Leugnung von historischen Tatsachen entsteht. Im türkischen Beispiel stellt die Leugnung des Völkermords an den Armeniern selbst eine offizielle, eindeutige, historische Version dar, dergemäß die Behauptung des nicht-geschehenen Völkermords etabliert worden ist388. Einen ausdrücklichen Straftatbestand zur Behauptung des armenischen Genozids gibt es zwar nicht, doch ist der gegebene Straftatbestand vom türkischen Obersten Gerichtshof bisher in diese Richtung interpretiert worden, sodass die Behauptung, die Massaker an den Armeniern seien ein Genozid gewesen, nach § 301 des türkischen Strafgesetzbuches strafbar ist. Eine Äußerung, die dieser staatlich festgelegten Anführung nicht entspricht, verunglimpft die türkische Nation389. Der Vergleich von § 301 des türkischen StGB, aufgrund dessen renommierte Autoren wegen ihrer Auseinandersetzung mit der Thematik des Genozids an den Armeniern angeklagt wurden, mit dem schweizerischen oder dem – 2012 als verfassungswidrig erklärten – französischen Straftatbestand390, durch welche die Leugnung des armenischen Völkermords strafbar wurde, dient als Beispiel dafür, wie der Geschichtsforschung ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit entzogen und ihr mit Hilfe von Gesetzen eine „Wahrheit“ aufgezwungen wird. 37. Ungarn Im Jahr 2010 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, mit dem der Straftatbestand „Öffentliche Leugnung des Holocausts“ (§ 269c) mit der Begründung ins Strafgesetzbuch eingeführt wurde, dass durch diese Straftat die Würde der Opfer öffentlich verletzt wird, indem die Tatsache des Holocaust geleugnet oder in Frage wird, oder seine Bedeutung verharmlost wird391. Der Straftatbestand wurde 387

Der Schriftsteller Orhan Pamuk wurde von einem Bezirksstaatsanwalt wegen Verstoß gegen § 301 StGB angeklagt, dazu Spiegel, Istanbuls Staatsanwalt klagt Orhan Pamuk an, FAZ vom 31. 8. 2005; Elif Shafak wurde weiterhin wegen Ausschnitten ihres Buches angeklagt, in denen die Massaker explizit als Genozid bezeichnet werden, dazu Sommerbauer, Elif Shafak hat das Türkentum nicht beleidigt, FAZ vom 21. 9. 2006. 388 Die Deportationen werden nach der offiziellen Auffassung als Notmaßnahmen betrachtet, die vorsätzliche und geplante Vernichtung wird von den türkischen Wissenschaftlern verneint. 389 Ghazaryan, in: Behrens/Terry/Jensen, Holocaust and Genocide Denial, 2017, S. 185. 390 Orhan Pamuk wurde wegen seiner Kommentare über den Völkermord einer schweizerischen Zeitung gegenüber in der Türkei angeklagt, und der türkische Politiker Dog˘ u Perinçek wurde in der Schweiz strafrechtlich verfolgt, weil er auf einer Tagung behauptete, dass die Ereignisse von 1914 – 1918 nicht als Genozid qualifiziert werden dürften. 391 Koltay, Hate speech and the protection of communities in the Hungarian legal system, 2013.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

jedoch nie angewandt, da er im Juni desselben Jahres grundsätzlich modifiziert wurde. Die explizite Einbeziehung des Holocaust fehlt im neugefassten Text, der mit seinem erweiterten Wortlaut in mehreren Fällen und nicht nur im Fall des Holocaust anwendbar ist. Der neue Straftatbestand des § 333 des ungarischen StGB mit dem Titel „öffentliche Leugnung der nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen“, lautet wie folgt: „Wer öffentlich die Genozide und andere Verbrechen gegen die Menschheit, die von nationalsozialistischen und kommunistischen Regimen begangen wurden, leugnet oder bezweifelt oder impliziert, dass sie unbedeutend sind oder versucht, sie zu rechtfertigen, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.“392

Die Rechtfertigung der oben genannten Verbrechen wird im Begründungsbericht des Gesetzentwurfs als erforderlich bezeichnet, „weil selbst die Handlung der Rechtfertigung, neben der Leugnung, eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt“393. 38. USA Die strafrechtsdogmatische Bewertung der Leugnung historischer Tatsachen ist in den nordamerikanischen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich. Äußerungen, die in vielen europäischen Staaten die einschlägigen Straftatbestände erfüllen würden, fallen unter die Meinungsfreiheit, so wie diese durch den Ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten gewährleistet wird394. Angesichts des breiteren Spektrums und der Tatsache, dass – im Vergleich zu europäischen Rechtsquellen – seltener Einschränkungen der Meinungsfreiheit vorgesehen sind, bedarf es einer umfassenden Untersuchung des Ersten Zusatzartikels: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen“395. Gemäß der Entscheidung Police

392 Der Artikel ist in englischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: http://melaproject. org/sites/default/files/2018-05/Hungarian%20Criminal%20Code%20-%20Section%20333.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). Der Straftatbestand zur Leugnung von nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen wurde 2014 im bekannten Fall von Bela Biszku angewandt, dazu Hungary 1956 revolt: Bela Biszku jailed for war crimes, BBC News vom 13. 5. 2014. 393 Koltay, Hate speech and the protection of communities in the hungarian legal system, 2013. 394 Eine gründliche Untersuchung der Redefreiheit im amerikanischen Recht liefert Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1992, S. 94 ff. 395 „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.“

IV. Einzelne Staaten

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Dep’t of Chicago vs. Mosley396 bedeutet „der Erste Zusatzartikel vor allem, dass die Regierung keine Macht hat, die freie Meinungsäußerung aufgrund ihrer Botschaft, Gegenstands oder ihres Inhalts einzuschränken397„, während mit der Entscheidung Regan vs. Time Inc.398 jede Diskriminierung aufgrund des Inhalts der Nachricht verboten wird399. Der Umfang der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten besteht also darin, dass sie einerseits die Anwendung beleidigender Mittel für die Verbreitung einer politischen Nachricht schützt, wie beispielsweise die Verbrennung einer Flagge400 und andererseits direkt jeder Art von Straftatbeständen widerspricht, mit denen die Meinungsäußerung kriminalisiert wird. Die Konsolidierung eines derartigen Umfangs des Schutzes der Meinungsfreiheit und der Grundprinzipien des Liberalismus trägt zur Schaffung eines Begriffs der Freiheit bei, dem das Konzept der Kriminalisierung einer Leugnung eines historischen Ereignisses fremd ist und der Idee einer loi mémorielle diametral entgegensteht401. Im Gegensatz zur deutschen Rechtsprechung402, würde der amerikanische Oberste Gerichtshof ein Gesetz zur Pönalisierung des Negationismus für verfassungswidrig erklären403. Der liberale Ansatz der US-amerikanischen Rechtsordnung ist auf das Schadensprinzip von John Stuart Mill zurückzuführen, wie es in seinem Werk „Über die Freiheit“ (On Liberty) und in der Rechtsprechung weiterentwickelt wurde. Es handelt sich dann um das sogenannte Prinzip des „marketplace of ideas“, das zum ersten Mal durch den Richter Oliver Wendell Holmes jr. im Fall Abrams vs. US404 angeführt wurde. Nach diesem Konzept ist die Äußerung der Leugnung einer historischen Tatsache oder sogar einer Meinung, die zum Hass aufstacheln kann, mit jeder anderen neutral geäußerten Meinung gleichwertig. Dem Modell des freien Marktes folgend, sei die Intervention des Staates in Form von intensiver Kriminalisierung im öffentlichen Dialog selten erforderlich. Die Befürworter der Hassrede und der Leugnung von Genoziden und ihre politischen Gegner konkurrieren öffentlich auf Augenhöhe miteinander. Die Pönalisierung und das Verbot von bestimmten, sozial inakzeptablen Äußerungen werden von einem freien öffentlichen Dialog ersetzt, nach dem das Rationalitätsprinzip einen demokratischen und gleichberechtigten Dialog ermöglicht. Aus diesem Grund fehlt der Thematik eine a priori Verbindung der Leugnung einer historischen Tatsache und des potenziellen 396

Police Dep’t of Chicago vs. Mosley, 408 US 92, 95 (1972). „Above all else, the First Amendment means that the government has no power to restrict expression because of its message, its ideas, its subject matter or its content.“ 398 Regan vs. Time Inc. 468, US 641, 648 – 49 (1984). 399 „Regulations which permit the Government to discriminate on the basis of the content of the message cannot be tolerated under the First Amendment.“ 400 Texas vs. Johnson, 491 US 397, 420 (1989). 401 Eine rechtsvergleichende Studie der Haßrede findet sich bei Brugger, AöR, 2003, 373 ff. 402 BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2858. 403 So auch der spanische Tribunal Constitucional (Nr. 235/2007) und der französische Conseil Constitutionnel (N. 2012 – 647 DC, 28. 2. 2012). 404 Abrams vs. US, 250 US 616, 630 (1919). 397

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Schadens, der den Äußerungen häufig axiomatisch in den Analysen der europäischen Rechtsordnungen zugeschrieben wird. Darüber hinaus fehlt auch ein axiomatischer Zusammenhang der historischen Leugnung mit der Aufstachelung zu Gewalt oder Hass. Die US-amerikanische Rechtsordnung räumt den umstrittenen Äußerungen einen absoluten Schutz der Meinungsfreiheit mit Ausnahme einzelner Kategorien ein, die auf Rechtanwendungsebene gestaltet worden sind und sehr streng ausgelegt werden. So wird die Anstiftung zum Aufruhr unter bestimmten Voraussetzungen bejaht: Nach dem Obersten Gerichtshof sei die Anstiftung zur Gewalt nicht schützenswert, wenn sie auf die Aufstachelung einer bevorstehenden gesetzwidrigen Handlung zielt. Die Auslegung dieser Ausnahme ist so eng, dass der Oberste Gerichtshof 1969 die Verurteilung einer Gruppe des Ku-Klux-Klans mit dem Argument aufhob405, dass die Anstiftung zu Gewalt als Mittel einer politischen Reform keine direkte oder bevorstehende Absicht einer Gewalttat äußere. Wenn die rassistische und aggressive Vorgeschichte einer Gruppe wie dem KuKlux-Klan eine Verurteilung wegen Anstiftung zur Gewalt nicht rechtfertigt, dann ist a maiori ad minus anzunehmen, dass eine strafrechtliche Einschränkung wegen Anstiftung zu Gewalt der Äußerung einer Leugnung verfassungswidrig sein muss, deren politisches Motiv und Absicht einer Anstiftung zu Hass nur behauptet und schwer bewiesen werden kann. Im Fall einer schlichten Leugnung wäre dies noch schwerer beweisbar. Des Weiteren fragt sich, ob die Leugnung einer historischen Tatsache im USamerikanischen Recht als falsche Äußerung (false statement of fact) kriminalisiert werden darf. Im Urteil Gertz v. Robert Welch, Inc.406 wird bemerkt, dass „falsche Äußerungen keinen konstitutionellen Wert haben. [Eine] bewusste Unwahrheit […] fördert nicht wesentlich das Interesse der Gesellschaft an einer […] offenen Debatte über öffentliche Angelegenheiten“. Die potenzielle moralische Schädigung (moral injury) der Holocaust-Überlebenden sei somit kein ausreichender Grund für eine Kriminalisierung der Leugnung des Verbrechens. Außerdem geht die Entscheidung R.A.V. vs. City of St. Paul407 davon aus, dass ein amerikanischer Straftatbestand, mit dem die Leugnung einer historischen Tat pönalisiert würde, gegen den Grundsatz, der sich aus dem Ersten Zusatzartikel ergibt, verstieße, nach dem eine Gleichstellung der Ideen, einschließlich rassistischer Auffassungen, gewährleistet wird (equality of status in the field of ideas) wie im Fall der rassistischen Äußerung durch die Leugnung eines historischen Ereignisses. Besonders interessant ist das Urteil United States v. Alvarez, in dem sich der Oberste Gerichtshof 2012 mit der Frage auseinandergesetzt hat, inwiefern ein Recht

405 406 407

Brandenburg vs. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). Gertz vs. Robert Welch, Inc. 418, US 323, 349 (1974). R.A.V. vs. City of St. Paul, 505 U.S. 377 (1992).

IV. Einzelne Staaten

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auf Lüge besteht408. „Das Statut würde mit gleicher Kraft auf persönliche, geflüsterte Gespräche innerhalb eines Hauses angewendet“, schreibt Richter Kennedy. „Wahrheit braucht weder Handschellen noch ein Abzeichen für ihre Rechtfertigung. […] Würde die Regierung diese Rede als strafbare Handlung bezeichnen, sei es von jedem Hausdach gerufen oder ein kaum hörbares Flüstern, würde die Regierungsbehörde befürworten, eine Liste von Themen zu erstellen, über welche falsche Angaben strafbar sind. Diese Regierungsmacht hat kein klares einschränkendes Prinzip. Unsere Verfassungstradition steht der Vorstellung entgegen, dass wir das ozeanische Ministerium für Wahrheit brauchen“409. Weiterhin fragt sich, ob die Leugnung eines Genozids im US-amerikanischen Strafrecht als Obszönität oder beleidigende Äußerung kriminalisiert werden darf. Dem Richter Frank Murphy zufolge haben Obszönitäten und beleidigende Äußerungen keinen sozialen Wert im Feld der Suche nach der Wahrheit. „Ihre Äußerungen selbst verursachen Verletzungen oder neigen dazu, den Frieden zu beeinträchtigen. Es ist beobachtet worden, dass solche Äußerungen kein wesentlicher Bestandteil einer Darstellung von Ideen sind, und sie haben einen so geringen sozialen Wert als ein Schritt zur Wahrheit, dass jeder Vorteil, der sich daraus ergeben kann, vom sozialen Interesse an Ordnung und Moral überwogen wird. Der Rückgriff auf Beschimpfungen ist in keinem Fall Verbreitung von Informationen oder Meinungen, die von der Verfassung geschützt wird, und ihre Pönalisierung würde keine Frage hinsichtlich dieses Instruments aufwerfen.“410 Die Perspektive der US-amerikanischen Betrachtung ist eher rechtsphilosophisch als strafrechtlich. Sie bietet ein liberales Kriterium, nach dem die Freiheit des Individuums und strafrechtliche Verbote sich in bestimmten Fällen ausschließen411. 39. Zypern Das am 21. Oktober 2011 verabschiedete Gesetz 134(I)/2011 setzte den Rahmenbeschluss 2008/913/JI um, dessen § 3 Abs. 2 die Leugnung historischer Tatsachen wie folgt unter Strafe stellt: Nach Maßgabe der Bestimmungen unter Abs. 2 wird jede Person bestraft, die mit vorsätzlichen Handlungen und in einer Weise, die die öffentliche Ordnung stört oder die Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen in jeder Art darstellt: 408

United States vs. Alvarez, 567 U.S. 709 (2012). Mit diesem Urteil hob das Verfassungsgericht den „Stolen Valor Act“ als verfassungswidrig auf. Das Gesetz stellte es unter Strafe fälschlicherweise zu behaupten, dass man mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet worden ist. 409 Dazu Lewy, Outlawing genocide denial, 2014, S. 143. 410 Chaplinsky vs. New Hampshire, 1942. 411 Ein Pönalisierungsbedürfnis lehnt auch Barendt ab (Freedom of Speech, 2005, S. 176 f.), der als geeignetes Mittel für die Bekämpfung der Holocaustleugnung die Bildung und die Verstärkung des historischen Gedächtnisses nennt.

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

(a) die Verbrechen des Völkermords, die Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen im Sinne der §§ 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs öffentlich billigt, leugnet oder gröblich verharmlost und sich somit gegen eine Personengruppe oder einen Angehörigen einer Personengruppe richtet, die sich nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft identifiziert, und ihre Handlung in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufzustacheln oder (b) die Verbrechen nach § 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs, dessen Originaltext in Teil I des Anhangs und dessen griechische Übersetzung in Teil II des Anhangs zu lesen sind, öffentlich billigt, leugnet oder gröblich verharmlost und sich gegen eine Personengruppe oder einen Angehörigen einer solch Gruppe richtet, die sich nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft identifiziert, und ihre Handlung in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufzustacheln, wird mit einer Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe bis zu 10.000 Euro oder beiden Strafen bestraft. 3. Die Leugnung oder gröbliche Verharmlosung der unter Punkt a und b des Abs. 2 genannten Verbrechen ist nach Abs. 2 strafbar, nur wenn die genannten Verbrechen durch eine rechtskräftige Entscheidung eines Internationalen Gerichtshofs oder durch eine einstimmige Entschließung412 des Repräsentantenhauses anerkannt worden sind.

40. Andere Länder Schweden413, Estland414, Canada415, das Vereinigte Königreich416, Holland417 und Australien418 gehören dem Rechtskreis an, der keinen Straftatbestand zur Leugnung 412 Das Gesetz Nr. 134(I)/2011 stellt im § 3 Abs. 1 die Aufstachelung zum Hass und Aufforderung zu Gewalt unter Strafe und ist in griechischer Sprache unter folgendem Link verfügbar: http://cylaw.org/nomoi/enop/non-ind/2011_1_134/full.html (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). Die ursprüngliche Fassung des Gesetzes bezog sich nur auf die Leugnung von gerichtlich anerkannten historischen Tatsachen. Um auch den Genozid an den Griechen von Pontus sowie den armenischen Genozid zu erfassen, wurde das Gesetz modifiziert und erfasste nun auch die Leugnung von parlamentarisch anerkannten Verbrechen; Demetriou, Recognizing and denying Armenian losses in Cyprus, OpenDemocracy vom 23. 4. 2015; Kambas, Cyprus criminalizes denial of 1915 Armenian genocide by Turks, Reuters vom 2. 4. 2015; bemerkenswert ist, dass das zyprische Parlament den armenischen Genozid und den Genozid an den Pontusgriechen anerkannt hat, mehr dazu hier: Vardanyan, 19th of May is Remembrance Day of Pontiac Greek Genocide, The Armenian Genocide Museum-Institute Foundation, vom 19. 5. 2016; Cypriot Parliament’s Speaker calls on international community to recognize Armenian Genocide, Armenpress vom 8. 4. 2017. 413 Nach 16. Kapitel, § 8 des schwedischen StGB macht sich strafbar, wer „durch eine verbreitete Mitteilung oder ein verbreitetes Schreiben, eine nationale, ethnische oder andere Gruppe von Personen solcher Art, die sich durch die Rasse, Hautfarbe, nationale oder ethnische Herkunft oder Religion identifiziert, bedroht oder verachtet.“, aufrufbar hier: https://www.legis

IV. Einzelne Staaten

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von historischen Tatsachen erlassen hat. Dieser strafrechtlich neutrale Raum spiegelt nicht einen von den Vereinigten Staaten übernommenen absoluten Schutz der Meinungsfreiheit wider, sondern eine weite Auslegung des bestehenden Straftatbestands zur Aufstachelung zu Hass. Obwohl die Leugnung einer historischen Tatsache nicht ausdrücklich strafrechtlich erfasst wird, wird der Straftatbestand von der Rechtsprechung weit ausgelegt, sodass die Leugnung oder die Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen als drohender Angriff gilt, der sich gegen die von der leugnenden Äußerung betroffene ethnische Gruppe richtet. In der Ukraine wurde der Holodomor mit dem Gesetz Nr. 376-V im Jahr 2006 als Genozid anerkannt419. Am 16. 1. 2014 wurde der § 436.1 StGB eingeführt, der eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vorsah für „die öffentliche Leugnung oder Rechtfertigung von faschistischen Verbrechen gegen die Menschheit, die während des zweiten Weltkrieges begangen wurden, einschließlich der Verbrechen, die von den Waffen-SS und den ihnen nachgeordneten Strukturen und von denjenigen, die gegen die Anti-Hitler Koalition kämpften und mit den faschistischen Besatzern kollaborierten, begangen wurden, sowie die Propaganda der Neo-Nazi Ideologie und die Herstellung und/oder die Verbreitung von Materialien, die die Verbrechen der Faschisten und ihrer Kollaborateuren rechtfertigen“420. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde der Tatbestand einige Tage später abgeschafft421. Im Jahr 2017 wurde schließlich ein Entwurf mit dem Namen „Gesetz zur Verhinderung und Verurteilung der Leugnung von Völkermord und Verbrechen“ in Argentinien vorgelegt, nach dem sich strafbar macht, „wer jede Form von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit öffentlich bestreitet, verharmlost, lationline.org/documents/section/criminal-codes/country/1/Sweden/show (zuletzt aufrufbar am 3. 5. 2022). 414 § 151 StGB („Aufstachelung zum Hass“), aufrufbar in englischer Sprache hier: https: //www.riigiteataja.ee/en/eli/522012015002/consolide (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 415 In Canada gibt es keinen Strafbestand, der die ausdrückliche Genozidleugnung unter Strafe stellt. Die relevanten Fälle werden unter den Tatbestand zur Aufstachelung zum Hass subsumiert (§ 319 Abs. 2 StGB). Seit 2018 findet allerdings eine Debatte zur strafrechtlichen Erfassung der Leugnung des Genozids in Srebrenica, vgl. Savic, Canada could legislate against denial of Srebrenica genocide, Ricochet vom 27. 1. 2019. 416 JPR Law Panel, Combating Holocaust denial through law in the United Kingdom, 2000, S. 9 f.; vgl. R v Alison Chabloz, Southwark Crown Court vom 13. 2. 2019. 417 § 137d StGB; vgl. Denying holocaust „not a crime“: VVD, DutchNews.nl vom 27. 5. 2009. 418 Collins, Holocaust denial would not become legal under my new laws, Business Insider Australia, vom 26. 3. 2014; der „Racial Discrimination Act 1975“ ist hier verfügbar: https: //www.legislation.gov.au/Details/C2016C00089 (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 419 Law of Ukraine No 376-V „On Holodomor of 1932 – 33 in Ukraine“. 420 Law No.729-VII „On amendments to the Criminal Code of Ukraine regarding responsibility for denial and excuse of fascist crimes“. 421 Koposov, Memory Laws, Memory Wars, 2018, S. 199. Im Abschnitt „Memory Laws in Ukraine“ liefert Koposov einen Überblick der späteren Gesetzesinitiativen (S. 177).

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A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

rechtfertigt oder billigt“.422 Bemerkenswert ist besonders, dass als Anlass für den Entwurf die Aussagen von zwei Regierungsbeamten dienten, die den von der letzten argentinischen Militärdiktatur begangenen Völkermord öffentlich leugneten423.

V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich Die Aufarbeitung der historischen Wahrheit erfolgt im Strafrecht durch verschiedene Handlungsvarianten. Gegenstand dieser Arbeit ist zwar nur die Leugnung von historischen Tatsachen; folgende Tabelle bietet allerdings einen nützlichen Überblick der rechtsvergleichenden Verrechtlichung der historischen Materie: 1. Handlungsvariante Aufhetzende Leugnung424

Schlichte Leugnung

Bestreiten

Billigung

Armenien Bosnien Bulgarien Griechenland Israel Italien Kroatien Litauen Malta Nordmazedonien Portugal Schweiz Serbien Slowakei Zypern

Albanien Andorra Belgien Deutschland Frankreich Kambodscha Lettland Liechtenstein Luxembourg Nordmazedonien Österreich Ruanda Rumänien Russland Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn

Belgien425 Frankreich Kambodscha Luxembourg Polen Rumänien Serbien Slowakei Spanien426 Tschechien Ungarn

Albanien Armenien Belgien Bosnien Deutschland Griechenland Israel Kambodscha Kroatien Litauen Malta Nordmazedonien Österreich Rumänien Russland Serbien Slowakei Slowenien Tschechien Zypern

422 423

2017. 424

Fronza, Memory and Punishment, 2018, S. 19. Argentine Deputy Submits Bill to Criminalize Genocide Denial, Asbarez vom 15. 2.

Genannt werden hier nur Straftatbestände, die die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen ausdrücklich erfassen, und nicht Tatbestände (z. B. § 130 Abs. 1 StGB) die die aufhetzende Leugnung zwar unter Strafe stellen, ohne sie explizit zu erfassen. 425 Aufhetzendes Bestreiten. 426 Aufhetzendes Bestreiten.

V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich Rechtfertigung

Verharmlosung

Trivialisierung Verherrlichung Andere Varianten

Albanien Andorra Armenien Belgien Bosnien Bulgarien Deutschland Israel Italien Kolumbien Liechtenstein Luxembourg Nordmazedonien Österreich Ruanda Rumänien Schweiz Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn

Albanien Armenien Belgien Bulgarien Deutschland Frankreich Griechenland Israel Italien Kambodscha Kroatien Liechtenstein Luxembourg Nordmazedonien Österreich Ruanda Rumänien Schweiz Serbien Slowakei Slowenien Ungarn Zypern

Bosnien Frankreich Lettland Litauen Malta Slowenien Spanien

Lettland Spanien

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Nicht-Anerkennung Kambodscha Verfälschung Ruanda Russland Freisprechen Lettland Lächerlich machen Slowenien

2. Historische Materie als Tatbestandsmerkmal der Leugnungstatbestände427 (g.a.: gerichtlich anerkannt, p.a.: parlamentarisch anerkannt) Genozid

Kriegsverbrechen Verbrechen gegen die Menschheit Albanien Belgien (g.a.) Albanien Andorra (g.a.) Bosnien (g.a.) Belgien (g.a.) Armenien Bulgarien Bosnien (g.a.) Belgien (g.a.) Frankreich (g.a.) Bulgarien Bosnien (g.a.) Griechenland Frankreich (g.a.) Frankreich (g.a.) (g.a.+ p.a.) Griechenland Griechenland Italien (g.a. + p.a.) (g.a.+ p.a.) Kroatien Israel Italien Lettland Italien Kolumbien Litauen (g.a.+ Kroatien Kroatien p.a.) Lettland Lettland Luxembourg (g.a.) Liechtenstein Liechtenstein Malta

Andere – Verbrechen gegen die menschliche Sicherheit (Armenien) – NS-Völkermord (Belgien) – NS-Handlung i.S. § 6 VStGB (Deutschland) – Verbrechen gegen die Menschheit – § 6 IMT, Frankreich) – Versklavung (g.a.) (Frankreich)

427 Eine Kategorisierung der Staaten aufgrund der verrechtlichten historischen Materie findet sich auch bei Pruitt, IJCJS, 2017, 273.

116

A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Genozid Litauen (g.a. + p.a.) Luxembourg (g.a.) Malta Nordmazedonien Ruanda (p.a.) Rumänien (g.a.) Schweiz Serbien (g.a.) Slowakei (g.a.) Slowenien Spanien Tschechien Zypern (g.a. + p.a.)

Kriegsverbrechen Verbrechen gegen die Menschheit Nordmazedonien Litauen (g.a. + Polen p.a.) Portugal Luxembourg Rumänien (g.a.) (g.a.) Serbien (g.a.) Malta Slowakei (g.a.) Nordmazedonien Slowenien Polen Tschechien Portugal Zypern (g.a. + Rumänien (g.a.) p.a.) Schweiz Serbien (g.a.) Slowakei (g.a.) Slowenien Spanien Tschechien Zypern (g.a. + p.a.)

Andere

– Holocaust (Griechenland, Rumänien, Slowakei, Slowenien) – NS-Verbrechen (Griechenland) – NS-Taten, Verbrechen gegen das jüdische Volk (Israel) – Shoah (Italien) – Verbrechen in Kambodscha (g.a. + p.a.) (Kambodscha) – Aggression (Kroatien) – Kriegsverbrechen von UdSSR/NS-Deutschland in Lettland (Lettland) – Angriff von UdSSR+ NSDeutschland gegen Litauen (Litauen) Verbrechen gegen – Genozid/Verbrechen gegen die Menschheit/Kriegsverden Frieden brechen von UdSSR/NSArmenien Deutschland in Litauen Bulgarien (Litauen) Lettland – Verbrechen gegen die Malta Menschheit/KriegsverbrePortugal chen – § 6 IMT (LuxemSlowakei (g.a.) bourg) Tschechien – Aggression, Verwendung von unerlaubten Kampfmitteln (Nordmazedonien) – NS-Völkermord, NS-Verbrechen gegen die Menschheit (Österreich) – NS-Verbrechen, kommunistische Verbrechen (Polen) – Tutsi-Genozid (Ruanda) – Durch die Nürnberger Prozesse festgestellte Tatsachen (Russland) – Aktivitäten der UdSSR im Krieg (Russland) – Holocaust, Verbrechen von Regimen (Slowakei) – Holocaust, Angriff (Slowenien) – Kriegsverbrechen gegen Personen und Eigentum (Spanien)

V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich Genozid

117

Kriegsverbrechen Verbrechen gegen Andere die Menschheit – NS-/kommunistischer Genozid und Verbrechen gegen die Menschheit (Tschechien) – NS-/kommunistische Verbrechen gegen die Menschheit – Völkermord (Ungarn) – NS-Verbrechen (Zypern)

3. Kommunikationsmittel der Leugnung von historischen Tatsachen428 In irgendeiner Weise Andorra Bulgarien Griechenland Kambodscha Kolumbien Liechtenstein Rumänien Schweiz

428

Öffentlich

Schriftlich

Albanien Belgien Bosnien Deutschland Frankreich Griechenland Kroatien Liechtenstein Litauen Luxembourg Malta Nordmazedonien Österreich Polen Portugal Ruanda Rumänien Schweiz Serbien Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Ungarn Zypern

Israel Liechtenstein Österreich Portugal

Pruitt, IJCJS, 2017, 280.

Mündlich

Durch Informationssysteme Griechenland Albanien Armenien Israel Kambodscha Griechenland Liechtenstein Liechtenstein Luxembourg NordmazedoSchweiz nien Portugal

Medien Andorra (§ 458) Armenien Griechenland Kambodscha Österreich

118

A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Mehrere Staaten, die eine aufhetzende Form der Leugnung von historischen Tatsachen unter Strafe stellen, konkretisieren näher die Identifizierungsmerkmale der Bevölkerungsteile, derentwegen sie oder ihre Angehörigen verbal angegriffen werden. 4. Identifizierungsmerkmale Staaten

Identifizierungsmerkmale

Armenien

Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, nationaler oder ethnischer Hintergrund, Religionszugehörigkeit

Belgien

Religion und Identifizierungsmerkmale des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 913/2008 (Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft)

Bulgarien

Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Nationalität, ethnische Zugehörigkeit

Bosnien

Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, nationale oder ethnische Herkunft

Deutschland

Nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe

Griechenland

Rasse, Hautfarbe, Religion, genealogische Herkunft, nationale oder ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Behinderung

Kroatien

Rasse, Religion, nationale oder ethnische Zugehörigkeit, Herkunft oder Hautfarbe

Liechtenstein

Rasse, Sprache, Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung, Geschlecht, Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung

Malta

Rasse, Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit, Herkunft, nationale oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Geschlechtsidentität, dsexuelle Orientierung, Sprache, Gesinnnung, oder politischen oder anderen Überzeugung

Nordmazedonien

Rasse, Hautfarbe, nationale/ethnische Herkunft, Religion, Überzeugung, geistige oder körperliche Behinderung, Geschlecht oder soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung, politische Überzeugung

Portugal

Rasse, Hautfarbe, ethnische/nationale Herkunft, Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung

Schweiz

Rasse, Ethnie, Religion, sexuelle Orientierung

Serbien

Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Staatsangehörigkeit, ethnische oder nationalen Zugehörigkeit

Spanien

Ideologie, Religion, Weltanschauung, Familienstand, Zugehörigkeit zu ethnischer Gruppe, Rasse oder Nation, nationale Herkunft, Geschlecht, Orientierung oder sexuelle Identität, soziales Geschlecht, Krankheit oder Behinderung

Zypern

Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung, nationale oder ethnische Herkunft

V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich

119

Die Leugnung ist die beliebteste Handlungsalternative in Erinnerungsgesetzen. Der Begriff des Leugnens ist neu429. Unter Leugnen ist das Bestreiten, In-AbredeStellen oder Verneinen von geschichtlichen Tatsachen zu verstehen430, also die Behauptung, die Völkermordtat sei tatsächlich nicht begangen worden431. Die Äußerung bloßer Zweifel genügt nicht432. Wenn auch die Tatvariante des Leugnens auf den ersten Blick unproblematisch scheint, wirft die Frage des Vorsatzes kaum lösbare Probleme auf433. Der Vorsatz setzt in der Leugnungsvariante voraus, dass der Täter entweder weiß oder zumindest billigend in Kauf nimmt, dass die Völkermordhandlung entgegen seiner Behauptung tatsächlich stattgefunden hat434. Fraglich ist dann, wie der Täter strafrechtlich beurteilt werden soll, der subjektiv von der geschichtlichen Wahrheit seiner Äußerungen überzeugt ist435. Um die Schwierigkeiten des Vorsatzerfordernisses zu mildern, hat der BGH ausgeführt, dass es bei der Äußerung, die den Holocaust betrifft, nicht darauf ankomme, ob der Täter die erwiesene historische Tatsache „in revisionistischer Verblendung negiert“. Es reicht aus, wenn sich der Täter der sozialen Relevanz seiner leugnenden Äußerung bewusst ist, er also weiß, dass er sich gegen die Geschichtsschreibung wendet436. Diese Auffassung ist mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Schuldstrafrechts unvereinbar437. Obwohl das Vorsatzerfordernis ein bewusst wahrheitswidriges Leugnen voraussetzt438, würde die Vorschrift die mit ihr vom Gesetzgeber verfolgten Zwecksetzung439 verfehlen, wenn sie sich nur gegen die bewusste Lüge richten würde440. Auch wenn diese Auffassung rechtspolitisch sinnvoll ist441, ist die Bestrafung des Leugnens aus 429

Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 19. Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 106; Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 80; Lohse, in: SSW-StGB, 5. Auflage 2021, § 130 Rn. 35; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 19; Stein, in: SK-StGB, 9. Auflage 2017, § 130 Rn. 46. 431 Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 46. 432 Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 35; Fischer, StGB § 130 Rn. 30; Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 46. 433 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 20; Rechtsvergleichend auch Kulesza, in: FS-Szwarc, 2009, S. 337 f. 434 Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 130. 435 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 103. 436 Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 130; vorsätzliches Leugnen sei das „bewusste Abstreiten des bekanntermaßen historisch anerkannten Holocaust“, denn „wer vor der historischen Wahrheit die Augen verschließt und sie nicht erkennen will, verdient dafür keine Strafmilderung“. 437 Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 130; Fischer, StGB § 130 Rn. 47; Sternberg-Lieben/ Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 20; Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 51. 438 Fischer, StGB § 130 Rn. 48. 439 Für den Gesetzgeber galt, dass „neben einer mutigen, offensiven politischen Auseinandersetzung […] Unbelehrbaren auch mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden muss“, BT-Drs. 12/7960, S. 4; 12/8411 S. 3. 440 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 20. 441 Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 51. 430

120

A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

Dummheit, Unwissenheit oder feindseliger Ignoranz442 mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar443. Eine erste Kategorisierung der Leugnungstatbestände ist die Einteilung in schlichte444 und aufhetzende445 Leugnung. 46 % der Staaten mit entsprechenden Leugnungsvorschriften stellen die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen unter Strafe, während 56 % der Staaten das schlichte Leugnen unter Strafe stellt. Ein Dissens besteht auf rechtsvergleichender Ebene hinsichtlich der historischen Materie, die von den entsprechenden Gesetzen erfasst wird. Eine Gruppe von Staaten stellt die Leugnung von Völkermord im Allgemeinen unter Strafe, ohne Einzelheiten anzugeben, also ohne die in Betracht kommende historische Materie auf die gerichtlich oder parlamentarisch anerkannten historischen Tatsachen einzuschränken446. Dabei handelt sich um äußerst problematische Tatbestände, bei denen es fraglich ist, ob sie dem Bestimmtheitsgebot gerecht werden. Denn es obliegt dem zuständigen Richter festzustellen, welche historischen Tatsachen als Genozid zu qualifizieren sind. Besonders bei historischen Tatsachen, deren Interpretation unter Historikern strittig ist, wie etwa dem Aufstand der Vendée, wird der nationale Richter mangels einer gerichtlichen oder parlamentarischen Anerkennung eines Genozids damit beauftragt, die in Betracht kommende historische Tatsache strafrechtlich endgültig aufzuarbeiten. Insofern hängt der Inhalt des Tatbestandsmerkmals „Genozid“ von den eigenen historischen Ansichten des Richters ab. Es bleibt also offen, welche historische Materie in diese Gruppe der verrechtlichten historischen Wahrheit eingeordnet wird. Andere Staaten setzen eine gerichtliche447 oder parlamentarische448 Anerkennung des Völkermords voraus. Eine entsprechende Kritik wird an den Tatbeständen vorgebracht, die die Leugnung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Verbrechen gegen den Frieden kriminalisieren. Eine Fallgruppe stellt die Leugnung von Kriegsverbrechen unter Strafe, ohne die erfassten historischen Tatsachen näher zu

442

Fischer, StGB § 130 Rn. 48. Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 51. 444 Albanien, Andorra, Belgien, Deutschland, Frankreich, Israel, Nordmazedonien, Lettland, Liechtenstein, Luxembourg, Österreich, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Kambodscha, Ruanda, Russland. 445 Armenien, Bosnien, Bulgarien, Griechenland („böswillig“), Italien, Nordmazedonien, Kroatien, Litauen, Malta, Portugal, Schweiz, Serbien, Slowakei, Zypern. 446 Albanien, Andorra, Italien, Kolumbien, Lettland, Armenien, Nordmazedonien, Kroatien, Liechtenstein, Malta, Slowenien, Schweiz. 447 Belgien, Bosnien, Griechenland, Andorra, Litauen, Luxembourg, Rumänien, Serbien, Slowakei, Zypern. 448 Griechenland, Ruanda (Anerkennung durch die Vereinten Nationen), Litauen, Zypern. 443

V. Leugnung von historischen Tatsachen im internationalen Vergleich

121

konkretisieren449. Andere Staaten fordern eine gerichtliche450 oder parlamentarische451 Anerkennung der Kriegsverbrechen, deren Leugnung bestraft wird. Eine entsprechende Kategorisierung findet sich bei den Verbrechen gegen die Menschheit452 und den Verbrechen gegen den Frieden453, deren Bestreiten pönalisiert wird. In wenigen Staaten wird die historische Tatsache des Holocaust einbezogen454. Die Tathandlung des Leugnens muss sich in mehreren Fällen auf den „nationalsozialistischen Völkermord“ beziehen455; es werden dann also vom Völkermordtatbestand nur Taten erfasst, die gegen eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe gerichtet sind456. Darunter fallen das Verfolgungsschicksal der Juden457, aber auch die Verfolgung und Ausrottung von Sinti und Roma, Polen, Russen, Ukrainern und anderen Ethnien der früheren Sowjetunion458. Die nationalsozialistische Periode wird anschließend durch weitere Tatbestandsmerkmale einbezogen, wie etwa „Taten in der Zeit des Nationalsozialismus“459, „Verbrechen gegen das jüdische Volk“, „Tatsachen, die durch die Nürnberger Prozesse festgestellt wurden“460, die allesamt durch einen höheren Abstraktionsgrad gekennzeichnet sind. Der Fallgruppe der verrechtlichten historischen Materie der ehemaligen kommunistischen Staaten gehören die nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen an, die auch meistens kumulativ erwähnt werden. So finden sich Tatbestände über die Leugnung des sowjetischen und nationalsozialistischen Angriffes sowie des Genozids, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen der UdSSR und des nationalsozialistischen Deutschlands gegen Litauen, des national449

Albanien, Bulgarien, Italien, Kroatien, Lettland, Malta, Nordmazedonien, Polen, Slowenien, Tschechien. 450 Belgien, Bosnien, Frankreich, Griechenland, Litauen, Luxembourg, Rumänien, Serbien, Slowakei, Zypern. 451 Griechenland, Litauen, Zypern. 452 Ohne weitere Konkretisierung: Albanien, Bulgarien, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Malta, Nordmazedonien, Portugal, Schweiz, Slowenien. Parlamentarisch anerkannte Verbrechen gegen die Menschheit: Griechenland, Litauen, Zypern; gerichtlich anerkannte Verbrechen gegen die Menschheit: Belgien, Bosnien, Frankreich, Griechenland, Litauen, Luxembourg, Rumänien, Serbien, Slowakei, Zypern. 453 Ohne weitere Konkretisierung der in Betracht kommenden historischen Tatsachen: Albanien, Armenien, Bulgarien, Lettland, Malta, Polen, Portugal, Tschechien. Gerichtlich anerkannte Verbrechen gegen den Frieden: Slowakei. 454 Griechenland, Slowakei, Slowenien. Der italienische Tatbestand verwendet den genaueren Terminus „Shoah“. 455 Österreich, Tschechien, Ungarn, Belgien, Litauen, Deutschland („unter die Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 VStGB bezeichneten Art und Weise“). 456 Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 43; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 108. 457 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 16. 458 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 16, Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 24; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 108. 459 Israel. 460 Russland.

122

A. Die Leugnung von historischen Tatsachen im int. Vergleich

sozialistischen und kommunistischen Genozids461, der nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen gegen die Menschheit462, der Verbrechen der UdSSR und des nationalsozialistischen Deutschlands in Lettland oder der kommunistischen und nationalsozialistischen Verbrechen463. Der entsprechenden historischen Materie werden schließlich weitere einzelne historische Tatsachen angeschlossen: Verbrechen von verschiedenen Regimen464, die parlamentarisch und gerichtlich anerkannten Verbrechen in Kambodscha465, der sogenannte Tutsi-Genozid oder anderer von den Vereinten Nationen anerkannte Völkermorde466, Aktivitäten der UdSSR im Krieg467, Verbrechen gegen die menschliche Sicherheit468, gerichtlich anerkannte Versklavung469, das Verbrechen des Angriffs470 oder der untersagten Kampfmitteln471.

VI. Zwischenergebnis In diesem Kapitel wurden die Tatbestände zur Leugnung historischer Tatsachen verschiedener Staaten und internationaler Rechtsakte rechtsvergleichend erörtert. Die internationalen Rechtsakte, die ausschließlich die Leugnung von historischen Tatsachen mit Agitationscharakter sanktionieren, sollten als kompromissbereiter Konsens zwischen sehr unterschiedlichen Rechtstraditionen verstanden werden472: Im angelsächsischen Rechtskreis findet sich eine liberale Herangehensweise, während in kontinentalen Staaten der Schutz der historischen Wahrheit in die Strafbefugnis fällt. Die Einteilung in schlichte und aufhetzende Leugnung ist geboten, weil jede Handlungsvariante einem anderen Zweck dient. Welche Zwecksetzungen dies sind, wird im nächsten Kapitel diskutiert.

461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472

Tschechien, Ungarn. Ungarn. Polen. Slowakei. Kambodscha. Ruanda. Russland. Armenien. Frankreich. Nordmazedonien, Slowenien. Nordmazedonien. Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 965.

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen I. Was darf der Staat unter Strafe stellen? Die Frage nach der Zulässigkeit der Bestrafung der Leugnung von nationalsozialistischen Verbrechen setzt eine Antwort auf die Vorfrage voraus, anhand welcher Kriterien die staatliche Strafbefugnis eingeschränkt werden kann. Selbstbindung und Selbstbeschränkung des Gesetzgebers sind nicht vorgegeben. Bis zur Aufklärung war strafwürdig, was der Souverän dafür erklärte1. Erst mit der Aufklärung erfolgten eine Rationalisierung des Strafrechts2 und eine Orientierung seiner Legitimation am Schutz der Freiheit der Bürger. Demgemäß ist zunächst auch hier die Frage zu stellen, ob die Pönalisierung im freien Belieben der Legislative steht, oder ob die staatliche Strafbefugnis begrenzt ist – und wenn ja, wo diese Grenze liegt. 1. Alternative Ansätze zur Legitimation von Strafe a) Jakobs Die Rechtsgutslehre hat entscheidend zur Entkriminalisierungstendenz – nur ein Beispiel ist die Entkriminalisierung der Homosexualität3 – im modernen Strafrecht beigetragen. Doch ist die Annahme des Rechtsgüterschutzes als Aufgabe des Strafrechts nicht unumstritten4. Einen Gegenentwurf zum Rechtsgutsdogma liefert die systemtheoretisch fundierte Strafrechtskonzeption von Jakobs. Bei ihm liegt die Legitimation allein in der Normstabilisierung – und zwar unabhängig vom Inhalt dieser Normen5. Die materielle Legitimation der Strafvorschriften besteht also in der Erforderlichkeit der Erhaltung staatlicher und gesellschaftlicher Form. Als Strafrechtsgut definiert Jakobs also die Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen, die für das Funktionieren des sozialen Lebens unabdingbar

1 Wesel, Geschichte des Rechts, 2014, S. 329 ff.; Thäle, Die Verdachtsstrafe in der kriminalwissenschaftlichen Literatur des 18. Und 19. Jahrhunderts, 1993; Maass, Halsgericht, Kriminalität und Strafjustiz in alter Zeit, 1968; Achter, Geburt der Strafe, 1951. 2 Schaffstein, in: GS-Kaufmann, 1989, S. 35 ff. 3 Roxin, JuS 1966, 377; ders., GA 2013, 433; Greco, ZIS 2008, 234; Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat, 2017, S. 120. 4 Roxin, GA 2013, 434. 5 Jakobs, AT I, 1993, 2/1; Vogel, ZStW 129 (2017), 629 ff.

124

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

seien6. Das Strafrecht habe nicht als Aufgabe den Schutz von Gütern – denn diese können auch durch natürliche Abläufe beeinträchtigt werden –, sondern gegen die Negation der Geltung des entsprechenden Norminhalts7. Die strafende Reaktion bekräftige das Festhalten an der Normbedeutung. Die Bestrafung beziehe also ihre Legitimation allein aus der Sicherung der Geltung der Norm.8 Systemtheoretisch konsequent verzichtet Jakobs auf eine Konkretisierung der zu schützenden Güter9, zieht allerdings genau deswegen aus gutem Grund Kritik auf sich: die Gleichsetzung der formellen Legitimation – also des verfassungsgemäßen Zustandekommens der Strafnorm – mit der materiellen Legitimation – die Geltung der güterschützenden Norm als Bedingung der normativen Ordnung – legitimiert jede beliebige Gesetzgebung totalitärer, menschenrechtsverachtender Regime so sehr wie die Kriminalpolitik eines freiheitlichen Staates10. Jakobs erkennt dieses Argument durchaus an und bemerkt, dass es trotz der von ihm angedeuteten Mängel der Rechtsgutslehre nicht geboten sei, sie insgesamt zu verwerfen11. Jenen Einwänden begegnet man damit, dass die Strafbarkeit am Kriterium der Sozialschädlichkeit ausgerichtet werde, jedoch nicht in einer strafrechtsdogmatisch relevanten Funktion, sondern im Sinne einer politischen Vordiskussion über Norminhalte12. Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit Jakobs’ Strafrechtskonzeption wird zunächst von Roxin13 der Einwand erhoben, dass das Verständnis des Deliktes als Normgeltungsschaden keinen empirisch fassbaren Gehalt habe, sondern eine reine, formale Zuschreibung sei. Denn der strafrechtlich relevante Schaden liege per se nicht in der Erschütterung der Normgeltung, sondern in der konkreten Beeinträchtigung eines Rechtsgutes. Wäre das Delikt als Normgeltungsschaden umzuschreiben, dann hätte man die Negation der Normgeltung bei einer unentdeckten Straftat verneinen müssen14. Daraus erhellt, dass die Quintessenz der Straftat zu einer formellen Negation von Normen verfälscht wird, wenn man die reelle Dimension des Deliktes verneint und die faktische Realität ihrer Auswirkung verbirgt.15 Entsprechendes gilt für den Zweck der Strafe nach der Konzeption von Jakobs. Wenn diese nur einen öffentlichen Widerspruch gegen die Geltungsverneinung bezweckt, dann erklärt sich nicht, warum eine schlichte Missbilligung der Straftat nicht ausreicht und eine Strafverhängung erforderlich ist. Denn die formelle Sicherung der Normgeltung findet ihre reelle Konkretisierung in der Sicherung von schutzwürdigen Rechtsgü6

Jakobs, AT I, 1993, 2/2. Jakobs, Strafrechtswissenschaftliche Beiträge, 2017, S. 82 8 Polaino Navarrete, in: FS-Jakobs, 2007, S. 529 ff. 9 Swoboda, ZStW 122 (2010), 43. 10 Swoboda, ZStW 122 (2010), 44. 11 Jakobs, AT I 1993, 2/24. 12 Swoboda, ZStW 122 (2010), 44. 13 Roxin, GA 2011, 690; Auch Roxin, ZStW 116 (2004), 940 ff. 14 Roxin, GA 2011, 691. 15 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Feindstrafrecht findet sich in Morguet, Feindstrafrecht – Eine kritische Analyse, 2009, S. 256 ff. 7

I. Was darf der Staat unter Strafe stellen?

125

tern. Die Bestätigung, dass konkrete Rechtsgüter nicht beeinträchtigt werden dürfen, wird nicht das Vertrauen wecken, dass diese Staatsaufgabe in ihrer reellen Dimension erfüllt wird. Die Betrachtung des Strafrechts als Mittel zur Aufrechterhaltung der Normgeltung ist zwar nicht völlig zu bestreiten; das Strafrecht, sowie andere Teilbereiche, wie etwa das Zivilrecht und das Verwaltungsrecht, bezwecken auch die Bestätigung der Normgeltung. Kein Rechtsbereich existiert allerdings um seinetwillen, sondern zum Zwecke des Schutzes schutzwürdiger Güter. Die normativistische Betrachtung des Strafrechts als reine Normstabilisierung führt weiterhin zum Ergebnis, dass die Strafbefugnis ihre Konturen neben den anderen Rechtsbereichen verliert. Betrachtet man das Strafrecht als reine Normstabilisierung, dann verkennt man die unerträgliche Schädlichkeit der in Betracht kommenden Tathandlungen, die legitime Rechtsgüter beeinträchtigen. Die Anerkennung des Strafrechts als Normstabilisierung macht demnach die Besonderheit der Strafwürdigkeit zur Leerformel. Die Argumente gegen die Gesamtkonzeption von Jakobs werden deutlicher durch das Beispiel der Übertragung dieser Gedanken auf die Thematik der Kriminalisierung des Negationismus16. Alle Tathandlungen des § 130 StGB dienten nach diesem Konzept der Bestätigung der Normgeltung. Demnach bringen die Tatbestände der Aufhetzung zum Hass, der schlichten Leugnung sowie der Rechtfertigung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes den gleichen Normgeltungsschaden zum Ausdruck. Wegen des positivistischen Ausgangspunktes der Konzeption von Jakobs wird nicht gefragt, ob jede einzelne Tathandlung eine legitime Zielsetzung umschreibt17. Nach seiner undiskutierten Annahme ist der Gesetzgeber selbst der Träger der Legitimität. Dieser entscheidet, welche Normen schutzwürdig seien – und sie werden als solche nur wegen ihrer Geltung verachtet. Diese Betrachtung verfälscht den Begriff der Legitimität. Sie kehrt zu absolutistischen Herrschaftsmodellen zurück, indem sie die Anerkennungswürdigkeit positivistisch postuliert und die Norm zum Selbstzweck ernennt. Folgt man dieser Auffassung von Normen, dann ist die historische Wahrheit eine genauso legitime Zielsetzung wie jede andere. Aber der Verzicht auf den Schutz schutzwürdiger Rechtsgüter und die Anerkennung der Norm als Selbstzweck macht das Strafrecht zum Unterdrückungsmittel, statt zu einem Mittel zum Schutze der Rechte und Freiheiten der Bürger.

16

Jakobs lehnt zwar die Strafwürdigkeit der Leugnung von historischen Tatsachen ab (Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 30 f.); es ist aber unklar, wie seine berechtigte Ablehnung aus seinem legitimierenden Ansatz herzuleiten ist. 17 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 111.

126

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

b) Hörnles Ansatz Hörnle kritisiert am Rechtsgutsbegriff, dass er mit politisch geprägten Inhalten ausgefüllt werden könne.18 Sie will den Begriff „von unten materialisieren“19 und als ausfüllende Wertungen die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension gegenüber staatlichen Straf- und Verbotseingriffen nutzen mit besonderer Berücksichtigung der Schranke der „Rechte Anderer“ im Sinne von subjektiven, individuellen Rechten anderer Rechtsgutsträger.20 Ihr Legitimationskonzept knüpft insofern an die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs an und erachtet als strafrechtlich schützenswert die vernünftigen, verallgemeinerbaren, dauerhaften und gewichtigen Sicherheitsinteressen, die von den nicht schützenswerten Leistungsinteressen zu unterscheiden seien. Kollektivgüter seien nach Hörnle nur dann legitim und schutzbedürftig, wenn sie zur Ausübung individueller Freiheitsrechte dienen.21 Entsprechend sei der Tabuschutz sowie der Schutz von Gefühlen und Werten unzulässig.22 Hörnles Ansatz stoßt auf die berechtigte Kritik, dass er zur Gestaltung eines liberalen, strafbegrenzenden Kriteriums auf unscharfe Begriffe zurückgreift.23 Daran wird weiterhin auch kritisiert, dass es ihm nur schwer gelingt, allen Herausforderungen des modernen strafrechtlichen Umfelds gerecht zu werden24. c) Harm Principle Obwohl das Konzept des Rechtsgüterschutzes im angelsächsischen Rechtskreis unbekannt ist, fehlt es nicht an entsprechenden Bemühungen um die legitime Begrenzung der strafrechtlichen Befugnis25. Das von John Stuart Mill im Jahre 1859 artikulierte Schädigungsprinzip sieht vor, „daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung“26. In den achtziger Jahren setzte sich der amerikanische Rechts18

Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 14. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 18. 20 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 43 ff. 21 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 87 f. 22 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 78 ff., 108 ff. 23 Kritisch Bloy, GA 2006, 658 f. 24 Swoboda, ZStW 122 (2010), 41. 25 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 123; Seher, Liberalismus und Strafe: zur Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg, 2000; von Hirsch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 14; Seher, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 46; Hörnle, in: Simester/von Hirsch, Incivilities: Regulating Offensive Behaviour, S. 133 ff; von Hirsch, in: FS-Schünemann, 2014, S. 83 ff. 26 John Stuart Mill, Über die Freiheit, 1988, S. 16 f. 19

I. Was darf der Staat unter Strafe stellen?

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philosoph Joel Feinberg ausführlich mit dem Schädigungs- und Belästigungsprinzip in seinem vierbändigen Werk „The Moral Limits of the Criminal Law“ auseinander. Ausgangsfrage seiner Untersuchung ist die Grenze der staatlichen Autorität zur Verhängung von Strafen27. Nach seinem Harm- bzw. Offence Principle dürfe ein Verhalten nur dann bestraft werden, wenn es den lebenswichtigen Grundinteressen (welfare interests) einer anderen Person Schaden zufüge28. Gleichzeitig entwickelte er ein selbstständiges Belästigungsprinzip, das auch die Bestrafung von abstoßendem Verhalten unter besonders qualifizierten Voraussetzungen legitimiert, sofern es bei anderen Personen negative Empfindungen von erheblicher Intensität wie Abscheu, Furcht oder Ekel hervorruft29. Neben fremden lebenswichtigen Grundinteressen plädiert Feinberg für ein legitimes paternalistisches Strafrecht, sofern diese Normen nur berechtigte Zielsetzungen zugunsten der betroffenen Person verfolgen. Das Harm- und Offence Principle muss sich der Kritik stellen30, dass es offen lässt, welche „lebenswichtigen Grundinteressen“ strafrechtlich schutzwürdig sind. Das Belästigungsprinzip verschärft umso mehr die Vagheit der strafrelevanten Materie. Besonders der nach dem Belästigungsprinzip legitime Gefühlsschutz ermöglicht eine Pönalisierung ohne Bezug auf eine konkrete Beeinträchtigung bestimmter Rechte oder Freiheiten. Insofern erscheint die Bestrafung der Leugnung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes oder auch anderer historischer Tatsachen, über die kein historischer Konsens herrschen mag, wie etwa dem Völkermord an den Armeniern und den Pontosgriechen durch das Osmanische Reich, durch diesen Ansatz legitim. Mangels einer konkreten Eingrenzbarkeit der strafrechtlich schützenswerten Interessen, könnte der Gesetzgeber in die Kriminalisierung illegitimer Rechtsgüter zurückgleiten. Allein die Feststellung, dass das Harm- und Offence Principle an sich keinen befriedigenden Maßstab für die Legitimität der strafrelevanten Materie anbietet, reicht aber nicht aus, um ihm seine bedeutende Rolle als analytischen Ansatz für die Kriterien der Pönalisierung abzusprechen, die es besonders im angelsächsischen Rechtskreis spielt. d) Die Sozialschädlichkeit als Legitimationskriterium bei Amelung Einen alternativen funktionalistischen Ansatz vertritt Amelung ausgehend von der Sozialschädlichkeitslehre des 18. Jahrhunderts, die als Aufgabe des Strafrechts 27 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law: Vol. 1, Harm to Others, 1984; ders., Vol. 2, Offence to Others, 1985; ders., Vol. 3, Harm to Self, 1986; ders., Vol. 4, Harmless Wrongdoing, 1988; Dalton, Faculty Scholarship Series, 1987, 2047. 28 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law: Vol. 1, Harm to Others, 1984, S. 55 ff.; von Hirsch, FS-Schünemann, 2015, S. 83 ff.; Hassemer, in: Simester/du Bois-Pedain/Neumann, Liberal Criminal Theory, 2014, S. 187. 29 Swoboda, ZStW 122 (2010), 38. 30 Ausführlicher dazu Kahlo, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 31; Hörnle, in: Simester/du Bois-Pedain/Neumann, Liberal Criminal Theory, 2014, S. 172 ff.

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die Sicherung der Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens sah31. Der Rechtsbruch als solcher widerspreche demnach institutionalisierten Normen, die für die Bewältigung des Bestandsproblems der Gesellschaft nötig seien32, und stelle dementsprechend die faktische Geltung von Normen in Frage, die den Fortbestand des sozialen Systems gewährleisten33. Für Amelung wird der strafrechtliche Eingriff durch diese Störung des sozialen Systems legitimiert. Seine Funktion sei, dysfunktionalem Verhalten entgegenzuwirken und den Fortbestand des menschlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Die Verfassung als Ausdruck der strukturellen Grundentscheidungen spiele eine bedeutende Rolle hierbei zur Positivierung sozialschädlicher Phänomene34. In diesem Sinne wird das Konzept des Rechtsguts von Amelung nicht völlig abgelehnt, sondern mit dem Dogma der Sozialschädlichkeit verknüpft, indem es als Lehre vom Verbrechen als Störung des sozialen Systems untersucht wird. Betrachtet man die Legitimität der Strafe als Reflexion auf die Funktionsbedingung der Sozialordnung35, ergeben sich mehrere Kritikpunkte. An erster Stelle ist festzuhalten, dass Amelung auf ein konkretes Legitimationskriterium für das strafwürdige sozialschädliche Verhalten verzichtet. Es lässt offen, wie der Maßstab der Eingrenzung des strafrechtlich relevanten Verhaltens gestaltet werden muss, um einen soliden Schritt zur Klärung des materiellen Verbrechensbegriffs leisten zu können. Nicht nur aber ist sein Konstrukt zur Strafwürdigkeit sozialschädlicher Verhalten materiell inhaltsleer36; die Strafe als Aufrechterhaltung der sozialen Systemstrukturen wird wie Jakobs Theorie zum Normgeltungsschaden dadurch kritisiert, dass die vorgegebene soziale Struktur als Selbstzweck des strafrechtlichen Eingriffes geschützt werde und den Menschen zum Instrument zur Erhaltung der schutzwürdigen Strukturen mache. Diese Herangehensweise verkennt aber die Einsicht, dass der Staat für den Einzelnen existiert37 und nicht um seiner selbst willen. Die Theorie der Sozialschädlichkeit kann also nicht als befriedigendes Legitimationskriterium des Strafrechts dienen. e) Mediating principles als Strafbarkeitsbegrenzung Die mediating principles vermögen, als Maßstab der Strafbarkeitsbegrenzung zu dienen38, nach dem ein Verhalten als strafwürdig gilt, wenn es nicht durch andere Mittel – wie etwa zivilrechtliche Ansprüche – bewältigt werden kann. Diese angelsächsisch beeinflusste Konzeption soll nämlich das Rechtsgutskonzept mit sub31 32 33 34 35 36 37 38

Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 367. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 361. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 367. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 370. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 394. Swoboda, ZStW 122 (2010), 43. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 116. Hefendehl, GA 2007, 6.

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sidiaritätsrelevanten Kriterien39 anreichern, um die Strafwürdigkeit zu präzisieren. Der Ansatz erweist sich allerdings als nicht hilfreich. Statt eine konkrete, begrenzende Funktion zu übernehmen, führt es ein äußerst exzessives Kriterium ein, um die Strafbarkeit von verschiedenen Belästigungen durch „mediating principles“ auszuschließen. Dies gibt Raum für ernsthafte Bedenken. An erster Stelle steht diese Vorgehensweise dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts entgegen. Der Rückgriff auf jegliche Belästigungen als potentielle Quelle strafrelevanten Verhaltens öffnet die Büchse der Pandora, indem es diese Prinzipien zur Strafbarkeitsbegrenzung in Fällen heranzieht, die prima facie strafrechtlich neutral sind. Greift man aber auf ein weites Feld potentieller Straftaten zurück, um danach ihre Strafwürdigkeit auszuschließen40, dann schafft dieses Kriterium eine Form von Schuldvermutung, die durch verfassungsrechtliche und andere Prinzipien widerlegt wird. Die Konstruktion ist freilich nicht kategorisch abzulehnen. Der Rückgriff auf verfassungsrechtlich verankerte Rechte oder das – oft vom Gesetzgeber vernachlässigte – Subsidiaritätsprinzip kann eine Entkriminalisierungstendenz legitimieren, die besonders bei den Aussagedelikten diskussionswürdig wäre. Man könnte freilich argumentieren, dass dieselben Ergebnisse durch die Rechtsgutstheorie und das Subsidiaritätsprinzip erzielt werden können, ohne strafrechtlich irrelevante Tathandlungen unter die Lupe nehmen zu müssen. Den Mediating Principles ist allerdings nicht nur entgegenzuhalten, dass sie eine zweifelhafte Methodologie zur Strafbarkeitsbegrenzung einsetzen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass der in Betracht kommende Ansatz zu unscharfen Ermittlungen führt. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hat beispielsweise die Leugnung des armenischen Völkermordes als zulässige Meinungsäußerung beurteilt41. In Fällen, die sich mit der Leugnung des Holocaust befassen, hat der EGMR einen Missbrauch der im Vertrag verankerten Rechte festgestellt42. Dem Ansatz der Mediating Principles ist demnach eine Janusköpfigkeit der angeführten Prinzipien entgegenzusetzen: Die Holocaustleugnung kann nach diesem Konzept sowohl als Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, als auch als Missbrauch des Rechts beurteilt werden. Einen befriedigenden Ansatz zur Strafbarkeitsbegrenzung liefern die Mediating Principles angesichts der vorgeführten Gedanken nicht.

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Swoboda, ZStW 122 (2010), 40; von Hirsch/Seelmann/Wohlers, Mediating Principles, 2006; Simester/von Hirsch, Crimes, Harms and Wrongs: On the Principles of Criminalisation, 2011. 40 Hörnle, in: Simester/von Hirsch, Incivilities: Regulating Offensive Behaviour, S. 145. 41 EGMR, Urteil vom 15. 10. 2015 – 27510/08, NJW 2016, 3353. 42 EGMR, Urteil vom 15. 10. 2015 – 27510/08, NJW 2016, 3353.

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f) Verfassungsrechtlicher Ansatz Ein weiterer, zur Rechtsgutslehre alternativer Ansatz findet sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts43. Ausgangspunkt der kritischen Auseinandersetzung des BVerfG ist die Ablehnung der Rechtsgutslehre als Maßstab für die Legitimation von Strafdrohungen44. In seinem vieldiskutierten „Inzestbeschluss“ räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber erneut das Monopol der verbindlichen Festlegung des strafbaren Handelns ein45. Der Gesetzgeber sei grundsätzlich frei bei der Entscheidung, „ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will“. Der weit reichende Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Einschätzung der schützenswerten Zwecke findet seinen Ausdruck im Fehlen strenger Anforderungen hinsichtlich der mit den Strafnormen verfolgten Zwecke, die sich ohnehin nicht aus der Rechtsgutslehre ableiten lassen, die keine positiven inhaltlichen Maßstäbe zur verfassungskonformen Begrenzung der strafrechtlichen Befugnis bereitstelle. Als Prüfungsmaßstab dient für das BVerfG das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wodurch kontrolliert werden solle, ob die Strafvorschrift ein geeignetes und erforderliches Mittel zum Schutz der verfolgten Zwecke sei. Genau aber durch dieses Vorgehensmodell bleibt die Verhältnismäßigkeit eine bloße Leerformel. Von der These ausgehend, dass der Strafgesetzgeber frei bei der Wahl der Anlässe und der Ziele seines Handelns sei, bekennt sich das BVerfG zu einer großzügigen Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der die Verhältnismäßigkeit der Strafsanktionen zur widerleglichen Vermutung wird, der dennoch nicht ausführlich nachgegangen wird46. Derselben fraglichen Vorgehensweise folgt das BVerfG bei der 43

In der Theorie wird der Ansatz unter anderem von Appel (Verfassung und Strafe, 1998, S. 514 ff.) und Lagodny (Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996) vertreten. 44 BVerfG, Beschluss vom 26. 2. 2008 – 2 BvR 392/07, NJW 2008, 1137, 1138 („Inzestbeschluss“); Ausführlicher bei Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 144 ff. 45 Siehe auch Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 65 ff. 46 Auch Swoboda, ZStW 122 (2010), 47. Besonders anschaulich, BVerfG, Beschluss vom 26. 2. 2008 – 2 BvR 392/07, in dem das BVerfG ausdrücklich zugibt, dass die Inzest-Strafvorschrift auf einer kulturgeschichtlich überlieferten Verbotsnorm beruht. Anschließend bezieht es sich auf mehrere soziologische und psychiatrische Sachverständige, die sich kritisch zur Beibehaltung der Strafbarkeit im Rahmen der umfassenden Überarbeitung des Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 23. 11. 1973 (BGBI I S. 1725) äußerten. Nach ihrer Meinung sei der Inzest eine traumatische Begebenheit, die als Symptom einer bereits gestörten Ordnung der Therapie bedürfe. Trotz dieser Anmerkungen postuliert das BVerG die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit ohne weitere Begründung und räumt somit dem Strafgesetzgeber einen de facto erweiterten Einschätzungsraum hinsichtlich der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der Strafvorschriften zum Erreichen der postulierten Schutzziele. Siehe auch BVerfG, Beschluss vom 29. 6. 2004 – 2 BvL 8/02 (Cannabis-Beschluss), in der (Rn. 45 ff.) die Verhältnismäßigkeit als die vorgenommene konkrete Zielsetzung des Schutzes der Gesundheit umschrieben wird.

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Prüfung der Geeignetheit der Strafvorschrift, indem es dem Strafgesetzgeber eine erweiterte Entscheidungsprärogative bei der Wahl zwischen mehreren potentiell geeigneten Wegen zur Erreichung eines Gesetzesziels erkennt, ohne dennoch diese potentielle Geeignetheit näher zu betrachten47, so dass dieser Prüfungsmaßstab letztendlich nur bei der offenbaren Überschreitung äußerster Grenzen sinnvoll ist. Der vom BVerfG entwickelte Legitimationsansatz wird zu Recht in der Literatur und auch von Richtern des BVerfG kritisiert. Zu Recht bemerkt Hassemer48, der verfassungsrechtliche Legitimationsansatz segne „schwere Fehler und Versäumnisse des Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab“ und „überdehne den legislativen Spielraum im Strafrecht auf Kosten der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts“. Anschließend bestreitet Hassemer in seiner abweichenden Meinung zum InzestBeschluss die absolute Freiheit des Strafgesetzgebers in der Wahl der Anlässe und der Ziele seines Handelns. Er, so Hassemer, sei beschränkt auf den Schutz elementarer Werte des Gemeinschaftslebens, auf die Sicherung der Grundlagen einer geordneten Gesellschaft und die Bewahrung wichtiger Gemeinschaftsbelange. Der verfassungsrechtliche Legitimationsansatz setzt sich der unvermeidbaren Kritik aus, die auch von den Kritikern der Rechtsgutslehre geäußert wird49 : es gelinge ihm nicht, positive Aussagen zu strafrechtlich schutzwürdigen Gütern zu machen. Reduziert sich die Strafwürdigkeit auf eine rein verfassungsrechtliche Kontrolle der verfolgten Ziele, dann kennt die strafrechtliche Befugnis keine Grenze. Nur Zielsetzungen, die unmittelbar dem Grundgesetz zuwiderlaufen, können nach diesem Legitimationskriterium als illegitim zurückgewiesen werden. Die unbegrenzte Entscheidungsprärogative des Strafgesetzgebers als Kritikpunkt des Prüfungsmaßstabs offenbart sich besonders in der Rechtsprechung des BVerfG zur Bestrafung von geringfügigen Verstößen gegen das Verbot von Cannabisprodukten und vom Beischlaf zwischen Geschwistern. In beiden Fällen handelt es sich um Moralvorstellungen, die als verfolgte Zielsetzungen umschrieben werden, deren Legitimität das BVerfG bejaht. Genau in diesem erweiterten Ermessensspielraum liegt die Schwäche des Ansatzes: wird dem Gesetzgeber eine unbegrenzte Freiheit bei der Auswahl der schutzwürdigen Güter eingeräumt, dann dürfen auch Tabus, Moralvorstellungen oder eher symbolische Zielsetzungen zu Strafdrohungen umformuliert werden. Die Prüfungsmaßstäbe der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit schließen auch in diesem Fall die Legitimität derartiger Vorschriften nicht aus, da diese großzügig ausgelegte Subsidiarität vom BVerfG zugunsten des Ermessensspielraums des Gesetzgebers geprüft wird, so dass am Ende die Kriterien der Geeignetheit und der Verhältnismäßigkeit eine bloße Leerformel darstellen. Als Ergebnis des verfassungsrechtlichen Ansatzes ist festzuhalten, dass die Herangehensweise des verfas47

BVerfG, Beschluss vom 29. 6. 2004 – 2 BvL 8/02, NJW 2004, 3622. Abweichende Meinung zum Beschluss des Zweiten Senats vom 26. 2. 2008 – 2 BvR 392/ 07, NJW 2998, 1142. 49 Swoboda, ZStW 122 (2010), 44; kritisch auch Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 45 ff.; Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 147 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 24 f. 48

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sungsrechtlichen Ansatzes dem ultima-ratio-Charakter des Strafrechts entgegenläuft und nur diejenigen Rechtsgüter als illegitim ausschließen kann, die offensichtlich verfassungswidrig sind. Im Hinblick auf die Bestrafung der Leugnung von historischen Tatsachen, erweist sich der verfassungsrechtliche Legitimationsansatz als kein befriedigendes Kriterium für die Überprüfung der Strafwürdigkeit des § 130 Abs. 3 StGB. Da der Gesetzgeber frei bei der Wahl der schutzwürdigen Zielsetzungen und der Einschätzung der Geeignetheit der jeweiligen Strafdrohung ist, liefert der verfassungsrechtliche Ansatz kein fest umrissenes Eingrenzungskriterium50, das das strafwürdige Verhalten von neutralen Handlungen unterscheidet. g) Die Rechtsgutstheorie aa) Die frühe Phase Die Ausweglosigkeit der bereits diskutierten Legitimationskriterien, besonders ihre Ungeeignetheit, die Grenzen der strafrechtlichen Staatsbefugnis zu konturieren51, fordert noch emphatischer die Untersuchung der materiellen Grenzen der Strafdrohung. Aus diesem Grund ist es geboten, der Frage nachzugehen, inwiefern die Rechtsgutstheorie, die als nahezu unumstrittener Legitimationsansatz gilt, diese Begrenzungsfunktion übernehmen kann. Von der positivistischen, unbegrenzten Deutung des Verbrechens als „jede boshafte Übertretung eines Gesetzes“52 bis zum gesetzgebungskritischen Verständnis des Rechtsguts traten bedeutende gesellschaftliche Wandlungen ein, die den modernen Verbrechensbegriff herauskristallisierten und rationalisierten. Der freiheitliche, vielfältige Geist der Aufklärung, erfasste bald die Rechtswissenschaft und besonders das Strafrecht im Streben nach Befreiung der Gerechtigkeit von der Willkür des Gesetzgebers53. Obwohl Birnbaum der Vater des Rechtsgutskonzepts ist, finden sich schon bei Feuerbach die ersten systematischen Spuren der dogmatischen Konfrontation mit der Willkür der frühen Strafrechtswissenschaft. Feuerbach liefert ein genuin liberales, gesellschaftsvertragliches Legitimationskonzept54, indem er als Ausgangspunkt seines Ansatzes die bürgerliche Gesellschaft wählt, die in der „Vereinigung der Kräfte und des Willens Einzelner zur Erhaltung des rechtlichen 50

Zum Begriff des Rechtsguts als Bezugspunkt einer strafrechtlich sanktionierten Verhaltenserwartung, Bunzel, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 98 ff. 51 Bacigalupo, in: FS-Jakobs, 2007, S. 1 ff. 52 Wieland, Geist der peinlichen Gesetze/1, 1783, S. 275. 53 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 6, mit weiteren Nachweisen auf Aufklärerphilosophen, wie etwa Beccarias Werk und auf den „Plan einer Gesetzgebung“ von Marat. 54 Swoboda, ZStW 122 (2010), 26; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 39 ff.

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Zustandes unter Allen besteht“. Zweck des Staates, also „der organisierten bürgerlichen Gesellschaft“, ist die „Errichtung eines rechtlichen Zustandes, der Schutz der wechselseitigen Freyheit Aller“55. Ausgehend vom Gesellschaftsvertrag als Zweck des Staates definiert Feuerbach die rechtliche Strafe im Staat als „die rechtliche Folge eines, durch die Nothwendigkeit der Erhaltung äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Übel bedrohenden, Gesetzes“56. Den Begriff des „Gutes“ prägt im Jahre 1834 Birnbaum57 bei seiner Auseinandersetzung mit Feuerbachs Lehre. Birnbaum kritisiert dessen Ergebnisse58, da das Recht bei Verletzung des Gegenstands des Rechts weder vermindert noch entzogen werden kann. Aus diesem Grund greift er zum Verbrechensaufbau auf den Begriff des Gutes zurück. Obwohl Birnbaum ihn nicht ausführliche erläutert59, unterscheidet er zwischen Gütern, die „Menschen schon von der Natur gegeben“, und Gütern, die „Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung des bürgerlichen Vereins“ sind. Es ist umstritten, ob Birnbaums Konzept eine gesetzgebungskritische Funktion hat. Sein Ansatz sollte vielmehr als eine systematische Bearbeitung eines Verbrechensaufbaus sowie als eine Bemühung angesehen werden, der strafrechtlichen Willkür des 19. Jahrhunderts zu begegnen. Wegen seines liberalen Gehalts sowie seiner Auseinandersetzung mit dem rein positivistischen Geist seiner Zeit gilt er als Schöpfer des Rechtsgutsbegriffs. Der Begriff des rechtlichen Gutes erfuhr in der hegelianischen Verbrechenslehre eine eher formale Wende, da sie das Verbrechen als Negation des Rechts und entsprechend, die Strafe als „Negation der Negation des Rechts“ verstand60. In der Verbrechenslehre der hegelianischen Schule wurde der Begriff des Verbrechens von der Verletzung eines Rechtes getrennt und durch die Verletzung des allgemeinen Willens bestimmt. Es war Binding, der dem Rechtsgutsdogma „Bürgerrecht in der Strafrechtsdogmatik“61 verschafft hat. Die Normen seien den Strafgesetzen vorgelagerte Rechtssätze. Ein Delikt sei entsprechend die Missachtung der Normen, während ein Verbrechen eine schuldhafte Normübertretung sei, die vom Gesetzgeber für strafbar erklärt worden sei. Bindings Verbrechensbegriff versteht sich als eine „Schale des Ungehorsams“, in der sich eine „Gutsverletzung als Kern“ verbirgt62. Um dem 55

§ 9.

Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1801,

56 Feuerbach, a.a.O., § 23. Zur Kritik der konzeptionellen Inkonsequenz Feuerbachs in Bezug auf die Strafwürdigkeit von Sittlichkeitsdelikten, Swoboda, ZStW 122 (2010), 26 f., Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2016, S. 51 ff. 57 Birnbaum, Neues Archiv des Criminalrechts 15 (1834), 175 f. 58 Birnbaum, in: Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, 2011, S. 150 ff. 59 Trotz der fehlenden Beschreibung des Begriffes, verweisen mehrere Stellen auf das moderne Verständnis des Rechtsgutsbegriffes: „Gut, welches uns rechtlich zusteht“ (S. 172), „Begriff eines durch die Gesetze zu schützenden Guts“ (S. 176). 60 Baermann, Sittlichkeit und Verbrechen bei Hegel, 1980, S. 32. 61 Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 69. 62 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I. Band, 1922, S. 365.

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Vorwurf des Formalismus zu begegnen, erfasst Binding nämlich das Verbrechen nicht nur als Gehorsamsverletzung, sondern auch als Rechtsgutsverletzung63. Nach seiner positivistischen Ansicht ist ein Rechtsgut „alles, was selbst kein Recht, doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist“64. Es obliege dem freien Belieben des Gesetzgebers, durch „eigene Erwägung“ und „durch die Logik“65 zu beurteilen, welche Zielsetzungen als „Bedingungen des gesunden Gemeinlebens“ gelten. Das Kriterium zur Positivierung ist demnach ein Werturteil, „zweifellos das einzige Motiv gesetzgeberischen Rechtsschutzes“66. Insofern ist die Bezeichnung der Strafrechtslehre Bindings als „formal-normlogischer Positivismus“67 aus heutiger Sicht berechtigt68. Als dogmatischer Gegenpol zu Bindings Verbrechenslehre galt die Auseinandersetzung Liszts mit dem Verbrechen als Verletzung rechtlich geschützter Interessen69. Das Recht sei um des Menschen willen da70 zur Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen der staatlichen Gemeinschaft und dem Schutz menschlicher Lebensinteressen. Das für die Zeitgenossen revolutionäre71 Verständnis des Begriffes des Rechtsgutes bestand in seiner Bemühung, den Begriff vorpositiv auszurichten. Von Liszt distanziert sich zwar von der von Binding befürworteten inhaltlichen Beliebigkeit, den materiellen Inhalt des Rechtsgutes bestimmt er allerdings anhand von vorpositiven, sozialen Interessen72. Die teleologische Eingrenzung seiner Lehre lässt daher die Frage offen, anhand welcher Kriterien ein Lebensinteresse als strafrechtlich schutzwürdig erachtet werden soll73.

63

Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 46. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I. Band, 1916, S. 353. 65 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I. Band, 1916, S. 340. 66 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I. Band, 1916, S. 357. 67 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 65. 68 Zur Rechtsgutslehre Bindings, siehe Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 73. 69 Hilgendorf/Weitzel, Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, 2007, S. 127; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 82 ff.; Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1905, S. 212 ff. 70 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 52. 71 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 48. 72 von Liszt, ZStW 3 (1882), 33. 73 Swoboda, ZStW 122 (2010), 31. 64

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bb) Die Rechtsgutstheorie heute (1) Die systemimmanente Rechtsgutslehre Der heutige Forschungsstand kennzeichnet sich durch die Uneinigkeit seiner Anhänger hinsichtlich seines Inhaltes, die wiederum mit der Frage der Funktion des Rechtsgutes als Eingrenzung der Strafbefugnis oder als bloßes Auslegungsmittel der Tatbestände zusammenhängt74. Nach der systemimmanenten Rechtsgutslehre75 reduziert sich das Rechtsgut auf eine Funktion eines Anknüpfungspunktes für die teleologische Auslegung der Vorschrift. Da der Gesetzgeber mit einer Vorschrift immer einen Zweck verfolgt76, wird das Rechtsgut mit der ratio legis gleichgesetzt. Es ist offensichtlich, dass das Rechtsgut in diesem hermeneutischen Verständnis keine kriminalpolitische Bedeutung aufweist und keine strafrechtsbegrenzende Rolle übernehmen kann. Weiterhin kann dieses Verständnis des Rechtsgutes zu hermeneutischen Fehlern in der Form eines Teufelskreises führen: der methodische Rechtsgutsbegriff soll als Mittel zur Auslegung der Vorschrift dienen. Um das geschützte Rechtsgut zu ermitteln, ist aber eine Auslegung erforderlich. Eine teleologische Auslegung durch einen Rückgriff auf den methodischen Rechtsgutsbegriff ist also nicht fehlerfrei. (2) Die personale Rechtsgutslehre Nach einem personalen Rechtsgutsverständnis ist ein Rechtsgut nur dann legitim, wenn es aus individuellem Interesse ableitbar ist77. Diese These ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das soziale Konstrukt des Staates dient der Gewährleistung der Rechte und Freiheiten des Menschen78 und nicht der Aufrechterhaltung der staatlichen Willkür. Dies verdeutlicht, dass der Maßstab der Ableitbarkeit der kollektiven Rechtsgüter aus Individualinteressen erheblichen Bedenken ausgesetzt ist. Zunächst ist die strenge Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Charakter eines Rechtsgutes grundsätzlich schematisch: die Steuerpflicht ist zwar kein individuelles Rechtsgut, allerdings finanziert sie die Ressourcen des Staates und demnach die öffentlichen Behörden, die um des Bürgers willen da sind. Entspre74 Seelmann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 261 ff.; Frisch, in: FS-Stree/Wessels, S. 71 ff.; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 357 ff., 381 ff.; Frisch, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 216 ff.; Wohlers, ebenda, S. 281; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 147; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 14 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, StR AT I, 2011, § 2 Rn. 7. 75 Auch als methodischer Rechtsgutsbegriff bekannt, s. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 4. 76 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 4. 77 Vgl. Marx, der die Rechtsgüter als die Gegenstände bezeichnet, die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht (Marx, Rechtsgut, S. 62). Auch Hassemer lehnt die kollektiven Rechtsgüter nicht ab; er verlangt nur, dass sie aus Interessen des Individuums ableitbar sind; dazu Hassemer, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 57 ff.; Hassemer, in: FS-Androulakis, 2002, S. 207 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB, 2013, Vor § 1 Rn. 144; Martins, ZStW 125 (2013), 234 ff. 78 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 11.

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chend hat das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Eigentum eine nicht ausschließlich individuelle Dimension: es fördert das wirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand der Gesellschaft und hat deshalb auch eine überindividuelle Dimension. Weiterhin ist die Ableitbarkeit des kollektiven Rechtsgutes aus individuellen Interessen kein Maßstab für die Legitimität des Rechtsgutes. Der Fall kollektiver Rechtsgüter, die sich zwar als individuelle Interessen nachweisen lassen, aber zugleich als Scheinrechtsgüter zu bezeichnen sind, ist nämlich durchaus denkbar. Beispiele dafür sind die Volksgesundheit79 und die öffentliche Sicherheit. Die erste gibt es im reellen Sinne nicht: sie ist die Summe der Gesundheit jeder einzelnen Person der inländischen Bevölkerung. Die zweite ist auch ein vages Konstrukt und umschreibt die Summe einzelner Rechtsgüter sowie des Sicherheitsempfindens jedes einzelnen Bürgers. Daraus folgt, dass die Ableitbarkeit aus individuellen Interessen die Plausibilität der in Betracht kommenden Rechtsgüter nicht gewährleisten kann. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Konzept der kollektiven Menschenwürde, die inhaltlich aus der persönlichen Würde ableitbar, aber gleichzeitig in ihrer kollektiven Dimension inhaltslos ist. (3) Die gesetzgebungskritische Rechtsgutstheorie Dieser Unschärfe begegnet Roxin mit seiner gesetzgebungskritischen Rechtsgutslehre. Sie wagt eine Überwindung der Reduzierung des Rechtsgutsbegriffs auf ein positivistisches Auslegungsmittel, die dem Gesetzgeber bei der Ausübung seines Bestrafungsrechtes Grenzen setzen will80 und als plausibler Prüfungsmaßstab für die Unterscheidung zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Rechtsgütern dienen soll. Roxin leitet den Rechtsgutsbegriff aus der Aufgabe des Strafrechts ab, die darin bestehe, den Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sichern. Entsprechend werde unter Rechtsgut eine Gegebenheit oder Zwecksetzung verstanden, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sei81. Die gesetzgebungskritische Präzisierung der schutzwürdigen Gegebenheiten oder Zwecksetzungen erfolge anhand von zwölf kriminalpolitischen Richtlinien, die bei der Erörterung der Frage helfen, ob die jeweils in Betracht kommenden Zielsetzungen des Gesetzgebers die Anforderungen für ihre Zulässigkeit erfüllen82.

79 Ein Volkskörper existiere nicht, vgl. Greco, in: FS-Roxin, I, 2011, S. 208; Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 46. 80 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 12. 81 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 7. 82 Eine detaillierte Erläuterung dieser Richtlinien geht über das Ziel dieser Arbeit hinaus. Ausführlicher: Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 13 ff. und ders., in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 671 ff.; dazu auch Baumann/Weber/Mitsch/ Eisele, Strafrecht AT, 2021, § 2 Rn. 9 ff.

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(a) Willkürliche, rein ideologisch motivierte oder gegen Grundrechte verstoßende Zielsetzungen sind keine legitimen Rechtsgüter. Diese Richtlinie kann nicht mit überzeugenden Argumenten beanstandet werden. Das Strafrecht ist weder ein Instrument für die Durchsetzung von ideologischen Positionen noch darf es für die Beeinträchtigung von Grundrechten oder die Einschränkung der persönlichen Autonomie instrumentalisiert werden83. (b) Die Umschreibung gesetzlicher Zielvorstellungen begründet noch kein tatbestandslegitimierendes Rechtsgut84. Die Konstruktion von Rechtsgütern in der Form der bloßen Umschreibung gesetzlicher Zielvorstellungen übernimmt nicht ohne Weiteres eine legitimierende Funktion. Dieses wird besonders anschaulich bei der Ermittlung der Rechtsgüter von wirtschaftsstrafrechtlichen Vorschriften: Rechtsgüter wie „die Wahrheit und Zuverlässigkeit der Preisbildung an Börsen und Märkten“ (§§ 38 II, 20a I WpHG)85, das „Vertrauen in die Richtigkeit und die Vollständigkeit bestimmter Informationen über die Verhältnisse der Kapitalmarktgesellschaft“86 (§§ 331 HGB, 399 AktG), das „Vertrauen in die Richtigkeit und Vollständigkeit der Prüfung von Abschlüssen, Lageberichten und Zwischenabschlüssen durch ein unabhängiges Kontrollorgan“87 (§§ 332 HGB, 403 AktG) und „das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Korrektheit der Handelsregistereintragungen und der ihnen zugrundeliegenden Unterlagen sowie der öffentlichen Ankündigungen“88 (§ 399 AktG) sind nur einige Beispiele dafür. Die Umschreibung der gesetzgeberischen Zielsetzungen als Schutzgüter der Vorschrift, die dem systemimmanenten Verständnis des Rechtsgutsbegriffs folgt, stößt auf berechtigte Kritik: zunächst führt sie zu der Feststellung, dass die Legitimation der Vorschrift auf eine Gesetzesinitiative zurückzuführen sei. Die Schwäche der a priori 83 Nicht unbeachtet sollte freilich das enge oder exzessive Verständnis der entsprechenden Grundrechte in verschiedenen Rechtskreisen bleiben. Relevant wird das besonders bei der Holocaustleugnung: in angelsächsischen Rechtssystemen wird auf eine Pönalisierung der Leugnung des Holocausts mit der Begründung verzichtet, dass eine Kriminalisierung unvereinbar mit dem First Amendment wäre. Bekanntlich räumt der nordamerikanische Gesetzgeber dem verfassungsrechtlich anerkannten Recht auf freie Meinungsäußerung einen absoluten Schutz ein. Nach diesem uneingeschränkten Verständnis verstieße ein Leugnungstatbestand gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. 84 Diese kriminalpolitische Richtlinie findet besondere Berücksichtigung im Rahmen der Besprechung verschiedener vertretener Rechtsgüter des § 130 Abs. 1 und 3 StGB, besonders die Verhinderung der Wiederbelebung des nationalsozialistischen Regimes, dazu D.6. 85 Eichelberger, Verbot der Marktmanipulation, 2006, S. 96; „der überindividuelle Funktionsschutz der Leistungsfähigkeit der kapitalmarktbezogenen Einrichtungen und Ablaufmechanismen“. 86 Klinger, in: MüKoStGB HGB, 4. Auflage 2020, § 331 Rn. 1; auch Eidam, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Auflage 2019, HGB § 331 Rn. 3. 87 Klinger, in: MüKoStGB HGB § 332 Rn. 1; auch OLG Hamm, Urteil vom 3. 2. 2014 – 8 U 47/10. 88 Eidam, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, AktG § 399 Rn. 3; Spindler/Stilz/Hefendehl, AktG 4. Auflage 2019, § 399 Rn. 1 – 2.

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Legitimation der gesetzlichen Zielsetzung liegt darin, dass diese die Schutzwürdigkeit der in Betracht kommenden Zielsetzungen postuliert, ohne ihre Erforderlichkeit für das unbeeinträchtigte Zusammenleben der Bürger zu begründen. Daraus folgt, dass diese Vorgehensweise keine äußere Grenze kennt: alles, was der Gesetzgeber bestrafen will, ist per definitionem strafbedürftig. Dieses Verständnis der Strafbefugnis führt aber zur Willkür und zu einer unbegründeten Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Person. (c) Unmoral, Unsittlichkeit oder sonstige Verwerflichkeit eines Verhaltens begründen als solche noch keine Rechtsgutsverletzung. Eine dritte Folge der Ableitung des Rechtsgutsbegriffes aus der Aufgabe des Strafrechts, den Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sichern, ist, dass die Bestrafung bloßer Unmoral keine Strafdrohung legitimieren kann.89 Das bedeutet freilich nicht, dass das Recht und die Moral einander entgegengesetzt sind. Es deutet allerdings darauf hin, dass das Strafrecht nicht darauf zielt, Handlungsorientierungen, Verhaltensregeln, Werte oder Tugenden durchzusetzen. Eine strafbare Handlung wie eine Tötungshandlung mag in vielen Fällen zugleich sittenwidrig sein, sie wird aber nicht wegen ihrer Unsittlichkeit bestraft, sondern weil sie das friedliche Zusammenleben beeinträchtigt. Entsprechend gilt, dass sittenwidrige Handlungen, die das freie Zusammenleben nicht stören, straffrei bleiben müssen. (d) Der Verstoß gegen die eigene Menschenwürde oder die „Würde der Menschheit“ ist noch kein hinreichender Grund für eine Bestrafung. Die Menschenwürde in verschiedenen Alternativen wie dem Verstoß gegen die eigene Menschenwürde, die quantitative bzw. kollektive Menschenwürde oder die Würde der Menschheit90 wird immer häufiger zu einem beliebten Legitimationskriterium von Strafdrohungen91. Diese beliebte Tendenz ist nicht unproblematisch: die Selbstentwürdigung stellt als solche keine Schädlichkeit dar. Aber auch die kollektive Dimension der Menschenwürde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen stößt auf berechtigte Kritik, die bei der Herausarbeitung des Zweckes der Leugnungstatbestände besonders aktuell wird92. Der inflationäre Rückgriff auf derartige Bestrafungsgründe wandelt den Menschenwürdebegriff in ein willkürliches Postulat um, das die Schädlichkeit des pönalisierten Verhaltens nicht begründet. Daraus darf nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Menschenwürde kein legitimer Zweck sein kann: der Schutz der Menschenwürde ist vielmehr eine elementare Bedingung des unbeeinträchtigten Zusammenlebens in einer demokratischen und freien Gesellschaft. Nichtsdestotrotz ist es geboten, auf einen Rückgriff auf ein unscharfes und moralistisches Verständnis des Menschenwürdebegriffes zu 89

Köhler, NJW 1985, 2389. Dazu siehe C.II.4.d); Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 678. 91 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 20. 92 Dazu IV.2.f). 90

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verzichten, der durch diesen inflationären und unbegründeten Gebrauch bagatellisiert oder zu „kleiner Münze“ wird93. (e) Gefühle können nicht als Rechtsgut anerkannt werden94. Das freie und friedliche Zusammenleben beruht nicht auf den unbeeinträchtigten Emotionen seiner Bürger. Der Bürger hat keinen Anspruch an den Staat auf Schutz seines Optimismus oder seiner Gelassenheit; entsprechend kann die Erregung von Gefühlen wie Ekel, Scham oder Enttäuschung keine Strafdrohung legitimieren. Die menschliche Koexistenz setzt die Toleranz gegenüber Verhaltensweisen voraus, die mit dem eigenen ethischen Standpunkt unvereinbar sind95 und mit Abscheu wahrgenommen werden. Die Unzulässigkeit des Gefühlsschutzes ist aber von der Schutzwürdigkeit des Sicherheitsgefühls96 zu unterscheiden. Denn die Koexistenz der Menschen in einer Gesellschaft, in der man angstfrei und harmonisch mit seinen Mitmenschen leben darf, leitet sich tatsächlich aus der Aufgabe des Strafrechts ab, das harmonische Zusammenleben unter Verwirklichung der Grundrechte des Bürgers zu gewährleisten. Deshalb ist die Verankerung des Sicherheitsgefühls nicht als bloßer Gefühlsschutz zu verstehen: bei dem Schutz des Sicherheitsgefühls geht es nicht um ein Gefühl der Geborgenheit, sondern um den Eingriff des Gesetzgebers im Vorfeld von Rechtsgüterverletzungen. Nach diesem Verständnis wird das Sicherheitsgefühl nicht als Emotion geschützt, sondern als eine elementare Bedingung der friedlichen Koexistenz, die die freie Entfaltung der Person ermöglicht. Dieses enge Verständnis des Sicherheitsgefühls umfasst nicht jegliche Unsicherheit oder Furcht. Wäre dies der Fall, dann wäre jede willkürliche Einschränkung der persönlichen Autonomie zum Zwecke des Schutzes jeder denkbaren Beeinträchtigung legitim. Eine äußerst exzessive Schutzwürdigkeit des Sicherheitsgefühls würde eine unmittelbare Verletzung der verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte voraussetzen, die nicht in einen Rechtsstaat gehört. Sie ist also nur dann legitim, wenn sich die Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls aus einer realistischen Bedrohungslage ergibt, die die Person an ihrer Persönlichkeitsentfaltung hindert97. (f) Die bewusste Selbstschädigung, deren Ermöglichung und Unterstützung legitimiert keine Strafdrohung98. 93 So auch Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 23 ff., der den unnötigen Rückgriff auf die Menschenwürde im Medizinstrafrecht kritisch betrachtet. 94 Zum Schutz von Gefühlen im Strafrecht, siehe Hörnle, in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 268 ff.; Papageorgiou, Schaden und Strafe, 1994, S. 263 ff.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 78 ff. 95 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 26 (s. auch Vorauflage). 96 Aus der englischen Übersetzung des Wortes („sense of security“) wird deutlich, dass es sich beim Sicherheitsempfinden nicht um den Schutz eines Gefühls handelt. 97 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 27. 98 Dazu siehe von Hirsch/Neumann, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht. Die Kriminalisierung selbstschädigenden Verhaltens, 2010, S. 99; Neumann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus. Ulrich Schroth zum 60. Geburtstag, 2010, S. 245.

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Diese kriminalpolitische Richtlinie betont die Voraussetzung der Rechtsgutsverletzung gegen den Willen des Geschädigten99. Wird die Person gemäß ihrem Willen geschädigt, dann liegt keine Erschütterung der menschlichen Koexistenz vor: Der Eingriff in die Lebenssphäre der geschädigten Person findet nach ihrem Willen statt. Die Problematik der Zulässigkeit eines paternalistischen Strafrechts findet besondere Beachtung unter anderem bei der umstrittenen Frage der Strafbedürftigkeit des Erwerbs und Besitzes von leichten Drogen. (g) Überwiegend symbolische Strafrechtsnormen haben keine rechtsgüterschützende Funktion100. Eine weitere Form moderner Gesetzgebung sind die symbolischen Strafrechtsnormen101. Über den Inhalt der sogenannten symbolischen Gesetzgebung herrscht keine Einigkeit. Unter diesem Begriff werden Strafvorschriften verstanden, die keine reelle Schutzfunktion von Rechtsgütern übernehmen, sondern eine politische Deklaration abgeben wollen. Derartige Normen mit Appellcharakter sollen sich somit zu bestimmten Werten bekennen und das Vertrauen eines Kollektivs darin bestärken, dass bestimmte unerwünschte Phänomene wie historische Ignoranz oder Intoleranz gegenüber Minderheiten durch das Recht effektiv bekämpft werden können102. Das Fehlen der Eignung der Vorschrift zum Rechtsgüterschutz sowie ihre betonte kommunikative Wirkung103 deuten auf eine symbolische Dimension der Vorschrift, die innerhalb des Rechts im Allgemeinen nicht unbekannt ist. Denn das Strafrecht will nicht nur speziell auf den Täter durch seine Abschreckung und Resozialisierung, sondern auch auf die Allgemeinheit einwirken104. Symbolische Elemente finden sich auch im positiven Aspekt der Spezial- und Generalprävention: in der Belehrung und Abschreckung der Bürger, in der Verstärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Durchsetzungskraft des Rechts sowie in der Übernahme der Verantwortlichkeit durch den Täter, der sich mit den Folgen seiner Taten auseinandersetzt und den dem Opfer zugefügten Schaden anerkennt. Weiterhin sind symbolische Spuren im sozialethischen Charakter des Urteils und in der Beförderung der allgemeinen Gesetzesachtung festzustellen105. Daraus folgt freilich nicht, dass sich die Aufgabe einer Strafrechtsnorm in dieser symbolischen Funktion erschöpft. Die entscheidende Frage besteht darin, inwieweit die in Betracht kommende Vorschrift zum Zweck 99 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 681; Roxin, NStZ 2016, 185 ff. 100 Diese kriminalpolitische Richtlinie findet besondere Aufmerksamkeit beim Tatbestand der Auschwitz-Lüge (130 Abs. 3 StGB), dazu siehe D.IV.4. 101 Zum symbolischen Strafrecht, siehe auch Schroeder, in: FS-Hassemer, 2010, S. 617. Eine Befürwortung der symbolischen Gesetzgebung findet sich in Seibert, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 345 ff.; Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 271 ff. 102 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 683. 103 Lauterwein, Symbolische Gesetzgebung, 2006, S. 29. 104 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 3 Rn. 21. 105 Hassemer, NStZ, 1989, 553, 555.

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eines reellen Rechtsgüterschutzes geeignet ist106. Dieser Ansatz, der bei der Abgrenzung zwischen legitimer und symbolischer Gesetzgebung herangezogen wird, kann auch als eine Prüfung des Subsidiaritätsprinzips umschrieben werden, und zwar besonders im Hinblick auf die Frage, ob die fragliche Vorschrift die Anforderungen der Erforderlichkeit und Geeignetheit zum Rechtsgüterschutz erfüllt107. (h) Tabus sind keine Rechtsgüter108. Von einem rechtlich geschützten Tabu ist die Rede, wenn von der Strafbedürftigkeit ausgegangen wird, ohne die konkrete Schädigung des friedlichen Zusammenlebens der Bürger nachweisen zu können. Ein deutliches Beispiel ist der Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB)109: Die Kriminalisierung des Inzests greift auf moralische Argumente oder Scheingüter wie die Verhinderung von Erbschädigungen zurück, um die Inkriminierung des Verhaltens zu begründen. Dass aber ein Verhalten als absolut inakzeptabel beurteilt wird, ist an sich kein Indiz für dessen unerträgliche Schädlichkeit, die eine friedliche Koexistenz verhindert. Dieser kriminalpolitischen Richtlinie wird eine hohe Relevanz auch bei der Erörterung des § 130 Abs. 3 StGB als Schutz eines Tabus110 beigemessen. (i) Schutzobjekte von ungreifbarer Abstraktheit sind keine Rechtsgüter.

106 Als Kriterium der Legitimität oder Illegitimität eines Gesetzes führt auch Roxin (Roxin/ Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 39) aus, inwiefern die Vorschrift neben ihren bewusstseinsbildenden Zielen und der bekenntnishaften Demonstration von Werthaltungen auch zum realen Schutz eines friedlichen Zusammenlebens wirklich nötig ist. Im Schrifttum werden weitere Kriterien zur Bestimmung des symbolischen Charakters vertreten wie etwa die Anlassbezogenheit oder die beschränkte Anwendbarkeit der Vorschrift (Rohrßen, S. 268). Diesen weiteren Vorschlägen kann ich nicht zustimmen: das Merkmal der Anlassbezogenheit als solches reduziert nicht den bereits vorliegenden rechtsgüterschützenden Charakter der Vorschrift. Aus verschiedenen auftretenden Aktualitätsproblemen wird der Gesetzgeber auf eine Gesetzeslücke oder ein unzureichendes rechtliches Instrumentarium aufmerksam, das die Beeinträchtigung von Rechtsgütern nicht erfolgreich steuert. Solche Fälle dürfen instruktiv als Anlässe zur Verbesserung der Gesetzeslage fungieren. Werden also durch anlassbezogene Vorschriften reale Bedrohungssituationen bekämpft und somit legitime Rechtsgüter geschützt, dann kann nicht mehr die Rede von einem symbolischen Gesetz sein. Ebenso wenig überzeugend finde ich das Kriterium der statistischen Unbedeutsamkeit im Sinne eines seltenen Rückgriffes auf die Vorschrift in der Strafverfolgungspraxis. Nur weil die Beeinträchtigung eines Rechtsgutes selten auftaucht, ist das an sich kein wahres Indiz dafür, dass die fragliche Norm eine überwiegend symbolische Rolle übernimmt. Somit kehren wir zum entscheidenden Faktor der Abgrenzung zwischen symbolischer und legitimer Gesetzgebung, dem geeigneten und effektiven Rechtsgüterschutz durch die Vorschrift zurück, nämlich zu der Problematik, ob eine Strafnorm tatsächlich zur Aufrechterhaltung der friedlichen Koexistenz der Bürger beiträgt. 107 So auch Rohrßen, Von der Anreizung zum Klassenkampf zur Volksverhetzung (§ 130 StGB), 2009, S. 267. 108 Einen Tabuschutz bekräftigen Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 57 ff., und Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter, S. 52 ff. 109 Dazu ausführlicher Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 43 ff.; Zabel, JR 2008, 453 ff. 110 Auch Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 73 ff.; Hörnle, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 278 ff.

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Das gesetzgebungskritische Verständnis der Rechtsgutstheorie setzt voraus, dass das Rechtsgut, das eine Strafdrohung legitimiert, sich auf einen konkreten Schaden des friedlichen Zusammenlebens beziehen soll111. Schutzobjekte, die auf eine unbestimmte Schädlichkeit hinweisen, schwanken zwischen einer moralistischen Rechtfertigung und einer symbolischen Deklaration; sie stellen eine bloße Umschreibung gesetzlicher Zielsetzungen dar, die allein zur Legitimation einer Vorschrift nicht ausreicht. Besonders erhellend ist das Beispiel der „Volksgesundheit“112, die zur Legitimation des Drogenstrafrechts herangezogen wird. Ein Volkskörper existiert freilich nicht113 ; der Begriff kommt nur metaphorisch zur Bestrafung des Drogenkonsums in Betracht. Das aber reicht für eine begründete Bestimmung des konkreten Schadens der menschlichen Koexistenz nicht aus. Ähnliche Beispiele sind die öffentliche Sicherheit und der öffentliche Frieden114. Vage Schutzobjekte, die sich nicht auf eine konkrete Schädlichkeit beziehen können, sind keine Legitimationskriterien eines freiheitlichen Strafrechts. Vielmehr sind sie geeignete Instrumente zur willkürlichen Einschränkung von Rechten und Freiheiten. Wie wir in Kürze sehen werden, ist diese Richtlinie besonders bedeutend bei der Besprechung des geschützten Rechtsgutes des Volksverhetzungsparagraphen, da der öffentliche Frieden von der herrschenden Meinung als Schutzgut herangezogen wird. Die Kritikpunkte, die man bei einem derartigen Legitimationsversuch bedenken muss, sind unwiderlegbar: Reicht ein bloßer Rückgriff auf den öffentlichen Frieden zur Legitimation eines Tatbestandes aus, dann ist die Ermittlung der konkreten Beeinträchtigung des friedlichen Zusammenlebens auch nicht erforderlich. Das ist auch die Schwäche solcher Begriffe: sie sind Bestrafungsgründe, die als „Allheilmittel“ eingreifen und jede vorstellbare Pönalisierung rechtfertigen können, auch wenn diese keinen reellen Bedrohungszustand eines unentbehrlichen Gutes darstellen. Demnach dient jedes äußerst abstrakte Schutzobjekt als ein Korpus, der entweder vereinzelten Schaden umfasst – und daher hilft die Erwähnung des Begriffes nicht bei der Präzisierung des konkreten Schadens – oder vage Pseudo-Beschädigungen verkörpern will – und in diesem Fall stellen diese Abstrakta keine Verankerung, sondern eine Gefährdung des freien und friedlichen Zusammenlebens, hinter der sich eine potentielle Beeinträchtigung anderer, individueller oder kollektiver, Rechtsgüter verstecken kann. (j) Fairness ist kein Rechtgut. Zur Rechtfertigung einiger „moderner“ Straftatbestände wird auf die im Verhalten verkörperte Unfairness zurückgegriffen115, wie im Fall des sog. Insiderhandels (§ 38 I WpHG) und des Eigendopings durch den Sportler (§ 4 I Nr. 4, 5, § 3 AntiDopG). 111

Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 685. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 46. 113 Greco, in: FS-Roxin, I, 2011, S. 208. 114 Zum Verhältnis dieser zwei Begriffe, siehe Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 288 ff. 115 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49b. 112

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Aus einer rechtsgutsorientierten Perspektive reicht eine schlichte Berufung auf die Unfairness eines Verhaltens nie aus, um eine Kriminalisierung zu legitimieren116. Fairness ist eine Qualität eines Verhaltens, die in einem rechtsgutsorientierten Strafrecht ein Fremdkörper bleiben muss, die Rechtsgutsbeeinträchtigung dagegen eine Folge des Verhaltens117. (k) Die Erleichterung der Strafverfolgung ist kein Grund, ein Rechtsgut zu postulieren. Das Erfordernis einer Rechtsgutsbeeinträchtigung bedeutet auch, dass die inkriminierte Tätigkeit ein eigenständiges Unrecht verkörpern soll118. Eine Pönalisierung ist nicht bloß deshalb legitim, weil ansonsten ein anderes Verhalten straflos bleibt119. Die offene Berufung auf die Überwindung von Beweisproblemen, die im Wirtschaftsstrafrecht ein treibender Motor ist120, gerät in einen Konflikt mit dem traditionellen Bild eines rechtsstaatlichen Strafrechts und ist in ihrer Zweckmäßigkeit zweifelhaft121. (l) Das Bestehen übernationaler „Schutzaufträge“ begründet kein Rechtsgut. Internationale Rechtsakte legen häufig Deutschland eine Bestrafungsverpflichtung auf, der der deutsche Gesetzgeber durch die Schaffung der entsprechenden Strafbestimmungen nachkommt122. Dabei fragt sich, ob die übernationalen „Schutzaufträge“ bedeuten, dass der Einsatz des Strafrechts bereits deshalb legitim ist, weil es geboten ist123. Auch hier bietet die Rechtsgutslehre einen Maßstab, um die Angemessenheit der von außen aufoktroyierten Kriminalisierungen zu beurteilen124. Das Vorhandensein eines Schutzauftrags darf per se keine Bestrafung legitimieren. cc) Kritik der Rechtsgutstheorie Nun stellt sich die Frage, ob das gesetzgebungskritische Rechtsgutskonzept zu Recht Kritik erfahren hat. Seine Kritiker haben immer wieder gegen das Konzept verschiedene Einwände erhoben. Als erstes ist seine „begriffliche Unschärfe“ zu erwähnen125. Auch Dubber126 stellt fest, dass man bei Roxin keine Auflistung von 116

Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49d. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49c. 118 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49g. 119 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49g. 120 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49h. 121 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49k. 122 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49m. 123 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49n. 124 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 49p. 125 Swoboda, ZStW 122 (2010), 34; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB Vor § 1 Rn. 118; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 377; Jakobs, AT 2/7; Rudolphi, in: FS-Honig, 1970, S. 151; Stratenwerth, in: FS-Lenckner, 1998, S. 378. 126 Dubber, ZStW 117 (2005), 502. 117

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Rechtsgütern findet. Das trifft zwar zu, aber trotzdem reduziert das Fehlen einer Liste die erforderliche Klarheit des Begriffes nicht. Denn das Rechtsgutskonzept ist wandelbar, und in diesem Wandelprozess lässt es die gesellschaftlichen Bedürfnisse nicht außer Acht. Dabei berücksichtigen die polemischen Stimmen nicht, dass es sich bei dem Rechtsgut um einen 300-jährigen Begriff handelt127. Er wurde in einem anderen Zeitalter geschaffen, in dem sich Technik und Wissenschaft noch in einer Frühphase befanden, und in einer Ära, in der die Schaffung von Risikozonen wegen technologischer und anderer Fortschritte sehr beschränkt war; entsprechend befand sich auch der Anspruch auf Privatsphäre oder sexuelle oder eine andere Selbstbestimmung in einer Embryonalphase. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass ein Anspruch auf eine Auflistung der schutzwürdigen Rechtsgüter nicht nur unrealistisch ist, sondern auch der Aufgabe des Rechtsgutskonzeptes nicht gerecht wird. Es hat nicht zum Ziel, dem Gesetzgeber seine Arbeit zu diktieren, sondern eine rationale Bestrafungsbefugnis zu legitimieren. Die vorgeführten Richtlinien tragen zur Klärung der Legitimität strafrechtlicher Vorschriften bei, und zwar nicht nur bei denjenigen, die als „exotisch oder obsolet“128 bezeichnet werden, sondern auch bei Vorschriften, die Gegenstand lebhafter Diskussion sind129. Es trifft zu, dass es zahlreiche Definitionsversuche für das Rechtsgutskonzept gibt – fast so viele, wie Anhänger130. Das ist aber an sich kein plausibler Grund zur Ablehnung der Rechtsgutstheorie. Denn ein uneinheitliches Verständnis findet sich bei zahlreichen Begriffen, etwa „Menschenwürde“ oder „Terrorismus“. Solcher Streit sollte eher als Anlass für hermeneutische Aufklärung und nicht bloße Ablehnung dienen, besonders wenn die Legitimationsgrundlagen, die an Stelle des Rechtsgutsbegriffs empfohlen werden, keinen soliden Bezugspunkt anbieten. Ebenso wenig überzeugend ist der Einwand, bei der Rechtsgutslehre handele es sich um ein Konstrukt ohne klare Legitimation, der als alternative Legitimationsgrundlage die verfassungsrechtliche Herleitung entgegengehalten wird131. Das Recht auf Bestrafung ist aus der Verfassung herzuleiten. Die verfassungsrechtliche Autorität der Strafe liefert aber keinen inhaltlichen Maßstab, und eine gesetzgebungskritische Rolle übernimmt sie nur dann, wenn die in Betracht kommenden Tatbestände eindeutig verfassungswidrig sind. Die Ablehnung der Rechtsgutstheorie in 127

Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 51. Dubber, ZStW 117 (2005), 508. 129 Roxin, GA 2013, 440; zur Verdeutlichung der praktischen Bedeutung des Rechtsgutskonzepts bei der Erörterung strafrechtlicher Vorschriften setzt sich Roxin kritisch mit der Strafwürdigkeit mehrerer Problemfälle auseinander, die in der Vergangenheit lebhafte Diskussionen hervorgerufen haben oder deren Pönalisierungsgebot noch umstritten ist, nämlich das sexuelle Verhalten Erwachsener, der Drogenbesitz, die Organspende unter Lebenden, der Inzest zwischen Geschwistern, die Leugnung historischer Tatsachen und die Jugendpornographie. 130 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 381 ff.; Rönnau, JuS 2009, 210; Wohlers, GA 2002, 16 f. 131 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 377. 128

I. Was darf der Staat unter Strafe stellen?

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Rückgriff auf die Verfassung verleitet zu der Fehlkonzeption, dass die Aufgabe des Strafrechts in nichts anderem als der bloßen Umschreibung der verfassungsrechtlichen Imperative läge. Eine solche Beschreibung der strafrechtlichen Aufgabe lässt den Sinn und Zweck der Strafe außer Acht. Gleichzeitig verkennt dieser Ansatz die Besonderheit des sozialethischen Unwerturteils der Strafe. Leitet man übrigens den inhaltlichen Maßstab der Strafbefugnis aus der Verfassung her, dann verliert die Diskussion um die Kriminalpolitik ihren Zweck: nimmt man an, dass der Gesetzgeber seine Entscheidungsprärogative in der Verfassung findet, dann wird die Kriminalpolitik auf eine verfassungsrechtliche Abwägung reduziert. Von Rechtsgutsskeptikern wird die Rechtsgutstheorie weiterhin dahingehend kritisiert, dass der gesetzgebungskritische Maßstab nicht vorgegeben und eigenständig ist, sondern ihre gesetzgebungskritische Funktion von äußeren Maßstäben132 abhängig macht, wie etwa von außerrechtlichen Wertordnungen, Systembedingungen der Gesellschaft und Wertvorgaben des Grundgesetzes133. In diesem Zusammenhang wird das Beispiel der Entkriminalisierung der Homosexualität mit der Begründung herangezogen, diese gesetzgeberische Entscheidung sei nicht auf das Rechtsgutskonzept, sondern auf gewandelte gesellschaftliche Anschauungen134 zurückzuführen. Das Recht und die Moral sind natürlich einander nicht fremd. Die Reduzierung aber des Rechtsgutes auf eine flexible Leerformel, die mit aktuellen orientierenden Wertvorstellungen ausgefüllt wird, verkennt den Prozess der Schaffung der Kriminalpolitik und der Rationalisierung der Gesetzgebung. An erster Stelle lässt diese Ansicht die Bedeutung der Schädlichkeit einer Handlung für die menschliche Koexistenz außer Acht. Der Auffassung, dass die Entkriminalisierung der Homosexualität in der Wandlung der sozialen Moralvorstellungen begründet liegt, ist entgegenzuhalten, dass das Fehlen einer wahren Schädlichkeit zur Toleranz gegenüber sexueller Selbstbestimmung beigetragen hat135. In diesem Sinne ist der Inhalt des Rechtsgutes nicht vorgegeben; wäre es ein enger und streng bestimmter Begriff, dann reichte seine Anpassungsfähigkeit an die immer neuen Herausforderungen der Zukunft nicht aus. Aus diesem Grund entwertet die Anerkennung eines gesetzgebungskritischen Gestaltungsspielraums den Rechtsgutsbegriff nicht. Dies wird besonders anschaulich in Fällen, in denen ein Rechtsgutsbezug auf den ersten Blick fehlt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Besitz von Kinderpornographie: man könnte in diesem Fall behaupten, durch die Weiterleitung des Materials wird per se niemand geschädigt; der schwere Kindesmissbrauch liegt bereits in der Vergangenheit. Nach dieser Auffassung handelt es sich bei der Bestrafung kinderpornographischer Schriften um einen Tabuschutz, der mit dem leitenden, gesetzgebungskritischen 132 Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 281; Swoboda, ZStW 122 (2010), 35. 133 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 358. 134 Wohlers, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 281. 135 Roxin, GA 2013, 437.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Maßstab der Rechtsgutslehre unvereinbar ist. Bevor man aber die Strafwürdigkeit des Besitzes von Kinderpornographie ohne weiteres ablehnt, sollte man noch bedenken, dass sich jedes Angebot eine eigene Nachfrage schafft und die ratio des Tatbestandes in der Verringerung der Nachfrage nach Kinderpornographie liegt136. Diese kriminalpolitische Einschätzung verleiht dem Rechtsgutsbegriff seine fortbestehende Effizienz und Flexibilität, um auf gesellschaftliche Störungen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips reagieren zu können. Mit Hilfe der vorgestellten zwölf kriminalpolitischen Richtlinien soll nun die Strafwürdigkeit des schlichten und aufhetzenden Leugnens von historischen Tatsachen geprüft werden. Insbesondere ist die konkrete Schädlichkeit der in Betracht kommenden Handlungen, die eine Pönalisierung rechtfertigen kann, diskussionswürdig.

II. Das geschützte Rechtsgut der Bestrafung der Holocaustleugnung in der Rechtsprechung In der Rechtsprechung wie in der Theorie wird sowohl vor als auch nach der Verabschiedung des Leugnungstatbestandes der öffentlichen Frieden – entweder als Hauptschutzgut oder als einziges Rechtsgut – als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen betrachtet137. In frühen Urteilen wurde der öffentliche Frieden in nicht leugnungsbezogenen Fällen als Schutzgut des § 130 StGB herangezogen. Im Urteil des OLG Hamburg vom 18. Februar 1975138 gilt der öffentliche Frieden als das geschützte Rechtsgut des § 130 StGB. In seinem Beschluss vom 10. Februar 1986139 lässt hingegen der OLG Karlsruhe die Rechtsfrage offen, ob und inwieweit neben dem öffentlichen Frieden auch die Menschenwürde des Einzelnen geschütztes Rechtsgut des § 130 StGB sei. Diese Frage verneint das OLG München in seinem Beschluss vom 25. März 1985140, der als geschütztes Rechtsgut gemäß § 130 StGB allein den öffentlichen Frieden ansieht141. Der öffentliche Frieden als Schutzgut steht auch im Mittelpunkt der Rechtsprechung des BGH. Im Jahre 1993

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Roxin, GA 2013, 443. Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB §130 Rn. 1 ff.; Ostendorf, in: NK-StGB 2017 § 130 Rn. 4 ff.; Krauß, in LK-StGB §130 Rn. 1 ff. 138 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088. Der Fall setzte sich mit der Beschimpfung und Verächtlichmachung von angereizten Teilen der Bevölkerung auseinander. 139 OLG Karlsruhe, Beschluß vom 10. 2. 1986 – 1 Ws 7/86, NJW 1986, 1276, 1277. Im Beschluss wird eine diskriminierende Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ erörtert. 140 OLG München, Beschluß vom 25. 3. 1985 – 2 Ws 242/85, NJW 1985, 2430 – 2431. 141 Den öffentlichen Frieden („gesellschaftlichen Frieden“) bestimmt als geschütztes Rechtsgut das Urteil des OLG Celle vom 14. 1. 1997 – 1 Ss 271/96 NStZ 495 – 496 sowie das OLG Stuttgart in seinem Beschluss vom 10. 4. 1992 – 1 Ws 44/92, Justiz 1992, 186 – 187. 137

II. Bestrafung der Holocaustleugnung in der Rechtsprechung

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befürwortete der BGH im Fall einer „qualifizierten Ausschwitzlüge“142, die er unter § 130 StGB subsumierte, den öffentlichen Frieden als Schutzgut der Tatbestände. Anders äußerte sich der BGH in der Phase143 vor der Einfügung des Leugnungstatbestands zur nicht endgültig beantworteten Frage des geschützten Rechtsguts im Jahre 1994 mit der Anmerkung, § 130 StGB schütze sowohl den öffentlichen Frieden als auch die Menschenwürde. Der öffentliche Frieden gilt in der Rechtsprechung als herrschendes Rechtsgut auch nach der Einfügung des Leugnungstatbestandes. Das OLG Stuttgart ließ in einem Beschluss aus dem Jahre 2002144 die nach der Neufassung des § 130 StGB umstrittene Frage offen, ob diese Bestimmung neben dem öffentlichen Frieden auch die Menschenwürde von Einzelpersonen schützt. Das LG Bochum bezeichnete 2005145 als Schutzgut des § 130 StGB „das Allgemeininteresse an einem friedlichen Zusammenleben“. Anders äußerte sich ein Jahr später das OLG Stuttgart146, nach dem § 130 StGB den öffentlichen Frieden, die Menschenwürde sowie den persönlichen Achtungsanspruch der Betroffenen schütze. Weiterhin sollte das Urteil des OLG Stuttgart aus dem Jahre 2011147 nicht unbemerkt bleiben. Das Urteil weist auf Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 24. September 2009148 hin, der in § 130 StGB ein dem Schutz der Menschlichkeit dienendes Gesetz sieht. In Bezug auf den Leugnungstatbestand hat das LG Regensburg 2013149 den bisherigen Standpunkt der Rechtsprechung bestätigt: Schutzgut des § 130 Abs. 3 StGB sei der öffentliche Frieden. Der BGH folgte in seinem Urteil vom 6. April 2000150 abweichend von der herrschenden Meinung, die als Schutzgut des Volksverhetzungstatbestandes den öffentlichen Frieden sieht, einer anderen Herangehensweise: nach dieser Auffassung bestätigte der Gesetzgeber mit der Einfügung des Leugnungstatbestandes des § 130 Abs. 3 StGB die Intention, „eine Vergiftung des politischen Klimas durch die Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zu verhindern“151; außerdem vermag der Gesetzgeber „einen Beitrag zur Verhinderung rechtsextremistischer Propaganda zu leisten. Wegen deren gefährlicher Auswirkungen auf das politische Klima sollte die Anwendung des § 130 Abs. 3 StGB in der 142

BGH, Beschluss vom 16. 11. 1993 – 1 StR 193/93, NStZ 1994, 140. BGH, Urteil vom 15. 12. 1994 – 1 StR 656/94, NJW 1995, 340 – 341. 144 OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. 1. 2002 – 1 Ws 9/02, NJW 2002, 2893 – 2894. 145 LG Bochum, Urteil vom 9. 9. 2005 – 1 KLs 33 Js 248/04, BeckRS 2007, 04974. 146 OLG Stuttgart, Urteil vom 24. 4. 2006 – 1 Ss 449/05, MMR 2006, 387, 389. 147 OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2011 – 1 Ss 175/11, NJW-Spezial 2011, 505. 148 BVerfG, Beschluss vom 24. 9. 2009 – 2 BvR 2179/09, NJW 2009, 3504. 149 LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09. 150 BGH Urteil vom 6. 4. 2000 – 1 StR 502/99, NJW 2000, 2217. 151 Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 12/8588, S. 8; vgl. auch Bundesministerin der Justiz bei der 1. Beratung des Gesetzentwurfs zur Strafbarkeit der Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes (BT-Drucks. 12/7421 vom 18. 5. 1994), Plenarprotokoll der 227. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 19671. 143

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Praxis erleichtert und die generalpräventive Wirkung der Strafvorschrift der Volksverhetzung erhöht werden, namentlich im Blick auf die Diffamierung und Diskriminierung jüdischer Mitbürger“. Trotz einer indirekten und nicht expliziten Erwähnung des öffentlichen Friedens im Sinne des politischen Klimas als Schutzgut des § 130 StGB ist im Urteil ein politischer Schutzzweck im Sinne der Bekämpfung des Rechtsextremismus zu erkennen. Außerdem geht der BGH ohne Begründung davon aus, dass als primär oder sekundär geschützte Rechtsgüter die Ehre und der Achtungsanspruch der Mitglieder der jüdischen Gemeinde anzunehmen seien. Im Urteil vom 10. April 2002152 griff der BGH auf eine ähnliche Argumentation zurück und stellte fest: Durch die Pönalisierung des zur Friedensstörung geeigneten öffentlichen Billigens, Leugnens oder Verharmlosens „soll rechtsextremistische Propaganda, die zur Vergiftung des politischen Klimas geeignet ist, verfolgt und verhindert werden. […] Sie tangieren nicht nur Würde und Ansehen der Überlebenden sowie insbesondere der Ermordeten und ihrer Angehörigen in einem für das ganze Gemeinwesen unerträglichen Maße. Sie stellen auch sonst eine Gefährdung für ein friedliches Zusammenleben dar“. Im Jahre 2000 bemerkte der BGH zur Frage des Eintretens des zum Tatbestand gehörenden Erfolgs im Inland beim Einstellen von holocaustleugnenden Äußerungen auf einem ausländischen, in Deutschland zugänglichen Server153, dass bei abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten ein Erfolg dort eingetreten sei, wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten könne; bei § 130 Abs. 1, 3 StGB sei das die konkrete Eignung zur Friedensstörung in der Bundesrepublik Deutschland. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, mit der Schaffung des Leugnungstatbestandes eine Vergiftung des politischen Klimas zu verhindern. Unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien bleibt offen, ob die Eignung zur Friedensstörung als Vergiftung des politischen Klimas verstanden wird. Offen bleibt außerdem, ob die Menschenwürde als sekundäres Rechtsgut des § 130 StGB gilt, da im Urteil durch holocaustleugnende Behauptungen ein Angriff gegen die Menschenwürde vorliege154. Die Betrachtung des öffentlichen Friedens als Hauptschutzgut neben der Menschenwürde befürwortete außerdem das BVerwG in seinem Urteil vom 5. August 2009155 und stellte fest, dass § 130 Abs. 3 StGB zunächst das Rechtsgut des öffentlichen Friedens schütze. Die unter Strafe gestellten Äußerungen tangierten zudem „die Würde und das Ansehen der Überlebenden sowie der Ermordeten und ihrer Angehörigen in einem für das ganze Gemeinwesen unerträglichen Maße. Die Strafvorschrift dient deshalb auch dem Schutz der Menschenwürde dieser Personen“. 152

BGH, Urteil vom 6. 4. 2000 – 1 StR 502/99, NJW 2000, 2217, 2218. BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 624. 154 § 63: Die Schaffung des Volksverhetzungstatbestandes sollte im Vorfeld von unmittelbaren Menschenwürdeverletzungen dem Ingangsetzen einer historisch als gefährlich nachgewiesenen Eigendynamik entgegenwirken und schon den Anfängen wehren. 155 BVerwG, Urteil vom 5. 8. 2009 – 6 A 3/08, NVwZ 2010, 446, 448. So auch OLG Koblenz (1. Strafsenat), Beschluss vom 28. 4. 2021 – 1 Ws 513/20. 153

III. Bestrafung der Holocaustleugnung in der Theorie

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III. Das geschützte Rechtsgut der Bestrafung der Holocaustleugnung in der Theorie Obwohl der öffentliche Frieden in der Rechtsprechung als herrschendes Schutzgut bezeichnet wird, ist diese Zuordnung im Schrifttum lebhaft umstritten. Im breiten Spektrum der vertretenen Ansätze werden die Legitimationskriterien des öffentlichen Friedens als einzigen Schutzzweckes oder Hauptschutzzweckes, der Menschenwürde, der Ehre oder der historischen Wahrheit vertreten. Ein oft in Betracht kommender Schutzzweck des § 130 Abs. 3 StGB ist laut Gesetzesmaterialien die ratio des Gesetzgebers, die Vergiftung des politischen Klimas zu verhindern156. Obwohl der Begriff der Vergiftung des politischen Klimas als verwandt mit dem subjektiv verstandenen öffentlichen Frieden als Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtssicherheit erscheinen kann, sollten die Begriffe getrennt betrachtet werden, und zwar besonders hinsichtlich der Einschränkung der Vergiftung des politischen Klimas auf die politische Sphäre, um damit auch die Rechtswidrigkeit von Äußerungen auszuschließen, die im wirtschaftlichen Bereich oder im Schulunterricht gemacht werden157. Dieses politische Ziel, das an entsprechender Stelle besprochen wird158, stößt eben als politisches Ziel auf berechtigte Kritik, da es nicht als legitimer Rechtsgrund dienen kann,159 und ermöglicht Einwände besonders hinsichtlich seiner Eignung zur Legitimation des Erlasses von entsprechenden Strafvorschriften160. Nach einer Auffassung161 wird durch § 130 StGB einschließlich des Leugnungstatbestandes ausschließlich der öffentliche Frieden geschützt162. Entsprechend dieser Meinung soll die Menschenwürde als eigenständiges Schutzobjekt des § 130

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BT-Drs. 12/8588, S. 8. Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 3. Auflage 2018, § 130 Rn. 10.2. 158 IV.1.c)ee). 159 Lackner/Kühl, StGB § 130 Rn. 1; kritisch auch Fischer, StGB § 130 Rn. 24; Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 2; Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB §130 Rn. 5. 160 Entsprechende Bedenken gelten gegenüber der Feststellung von Maiwald (BT/2 § 60 Rn. 64), das „einfache“ Leugnen diene vielfach dazu, NS-Gedankengut den Boden zu bereiten. 161 Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 1a; Leukert, Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, 2005, S. 96 (Schutzgut des § 13 Abs. 3 StGB). 162 Als einziges Rechtsgut des § 130 StGB sehen Maurach/Schroeder/Maiwald (Strafrecht BT II, Straftaten gegen Gemeinschaftswerte, 2012, § 60 Rn. 58) mangels eines Merkmales des Angriffs gegen die Menschenwürde den öffentlichen Frieden, den sie aber in seinem vom Gesetzgeber erfassten Verständnis als Schutz vor einer Vergiftung des politischen Klimas als einschränkend kritisieren: ein Schutz sei nämlich auch dann geboten, wenn eine Äußerung gem. Abs. 3 außerhalb des politischen Bereichs wie im Schulunterricht abgegeben wird. Allerdings befürworten die Autoren den öffentlichen Frieden und die Menschenwürde als Schutzgüter der anderen Paragraphen des § 130 StGB; Huster, NJW 1996, 488; Beisel, NJW 1995, 1000. 157

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

StGB abgelehnt werden163. Dieses Argument wird auch von der ratio der Schaffung des 130 Abs. 3 StGB bekräftigt, da durch das Fehlen eines Angriffs auf die Menschenwürde das Ziel verfolgt werden sollte, die Anwendbarkeit der Strafvorschrift zu erleichtern164 und somit das Leugnen des Holocaust explizit zu erfassen, nachdem sich bei der alten Fassung Probleme wegen des Erfordernisses eines Angriffs auf die Menschenwürde ergeben hatten. Bei § 130 Abs. 1 StGB liege die Beeinträchtigung165 des öffentlichen Friedens „in der öffentlichen Solidarisierung mit bevorstehenden oder begangenen Verbrechen, also im Angriff auf den Wertkonsens der Rechtsgemeinschaft“. Bei § 130 Abs. 3 StGB gehe es entsprechend nicht ausdrücklich um den Schutz des öffentlichen Friedens; dabei sei die einbezogene Friedensstörung nicht als echtes Tatbestandsmerkmal zu verstehen, sondern als gesetzgeberischer Hinweis auf die Kriminalisierung des einschlägigen Verhaltens166. Daraus lässt sich ableiten, dass der als Klimadelikt verstandene Paragraph nicht nur einen vergiftenden Angriff unter Strafe stellt, sondern auch politische Korrektheit als Aspekt des politischen Klimas demonstriert167.Von Anhängern168 des öffentlichen Friedens als alleinigen Schutzgutes des § 130 Abs. 3 StGB wird der Schutz der persönlichen Ehre und der Menschenwürde abgelehnt. Die persönliche Ehre als Schutzgut wird von Huster zunächst anhand der Entstehungsgeschichte des § 130 Abs. 3 StGB kritisch betrachtet. Er weist ebenfalls die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut unter Berücksichtigung der Weigerung des BGH zurück, die einfache Leugnung des Holocaust im Deckert-Fall unter den Volksverhetzungsparagraphen zu subsumieren: Treffend hat der BGH bei einem bloßen Bestreiten des Holocaust keinen Angriff auf die Menschenwürde ohne das Hinzutreten weiterer Umstände festgestellt. Genau diese Gesetzeslücke der Voraussetzung eines Angriffs auf die Menschenwürde wollte der Gesetzgeber durch die Einführung des § 130 Abs. 3 StGB schließen. Somit sei das bloße Bestreiten des Holocaust als Straftat gegen die öffentliche Ordnung durch einen Rückgriff auf das überindividuelle 163 Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB 2022, § 130 Rn. 1 ff.: Kindhäuser bekräftigt ausdrücklich die Schutzwürdigkeit des öffentlichen Friedens beim § 130 Abs. 1, 3 StGB, nicht aber ohne Widerspruch: er verweist auf die herrschende Meinung, die auch für den neugefassten § 130 Abs. 1 StGB, der in der Nr. 1 keinen Angriff auf die Menschenwürde mehr voraussetzt, indes die Menschenwürde als mittelbar geschütztes Rechtsgut befürwortet. Die Ermittlung des geschützten Rechtsgutes des § 130 Abs. 3 StGB erfolgt lapidar (Rn. 3), jedoch nicht unproblematisch: Nach Kindhäuser soll der Leugnungstatbestand vor einer „Vergiftung des politischen Klimas“ schützen und dient somit der Bewahrung des öffentlichen Klimas. Dabei ist bedenklich, ob der Begriff des öffentlichen Friedens synonym für ein vergiftungsfreies politisches Klima ist, besonders angesichts der Unklarheit des Begriffes der „Vergiftung“. 164 Drs. 12/6853 vom 18.2.94, S. 19. 165 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT 2021, § 44 Rn. 35. 166 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT 2021, § 44 Rn. 46. 167 Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht BT, a.a.O., Fn. 128. Obwohl der Feststellung der politischen Korrektheit als Hintergrund der Verabschiedung des einschlägigen Tatbestandes zuzustimmen sei, wird nicht auf die mangelnde Legitimierbarkeit des Begriffes eingegangen. 168 Huster, NJW 1996, 487 ff.

III. Bestrafung der Holocaustleugnung in der Theorie

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Rechtsgut des öffentlichen Friedens strafbar. Nach dieser Meinung lässt sich die zugrunde liegende individuelle Kränkung als Eignung zur Gefährdung eines kollektiven Rechtsgutes umschreiben. Nach anderer Auffassung ist der Zweck des § 130 StGB der weit vorverlagerte Schutz von Leib, Leben und Freiheit potentieller Diskriminierungsopfer169. Daher sei legitimer Zweck der Norm die Vermeidung von aufstachelnden Verhaltensweisen gegenüber denjenigen, die durch ein tatbestandmäßiges Verhalten „in ihrem Wert und ihren Rechten erneut in Frage gestellt werden“170. Ein Rückgriff auf Individualgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit sowie Eigentum und Vermögen als geschützte Rechtsgüter schüfe allerdings einen äußerst vagen Vorfeldtatbestand und würde außerdem den eigenständigen Charakter einer Gefährdung des öffentlichen Friedens beeinträchtigen171. Fischer172 vertritt die Auffassung, § 130 StGB schütze das Allgemeininteresse an einem friedlichen Zusammenleben im Staat, soweit es sich auf Teile der Bevölkerung bezieht, nicht aber im Sinne eines Schutzes des politischen Klimas vor Vergiftung, sondern als vorverlagerter Schutz von Individualrechtsgütern der Betroffenen und zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit als Zustand eines von Gewalthandlungen und Selbsthilfe freien gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dabei sei die Menschenwürde nur mittelbar geschützt im Sinne eines Schutzgebots des friedlichen Zusammenlebens. Allerdings scheint im Schrifttum, anders als in der Rechtsprechung, die Betrachtung des öffentlichen Friedens als das Hauptschutzgut neben anderen Schutzgütern zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Nach dieser Auffassung soll der öffentliche Frieden als Hauptschutzgut des § 130 Abs. 1 StGB und als sekundäres Schutzgut die Würde des Einzelmenschen173 mit Betonung des individualschüt169

Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB 2020, § 130 Rn. 3. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 53. 171 So aber in Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB 2020, § 130 Rn. 3, der als Schutzgut der Paragraphen 1, 3 und 4 der Strafvorschrift nach herrschender Meinung in erster Linie den öffentlichen Frieden erwähnt mit Einbeziehung der Menschenwürde (Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 Var. 3), der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen (Abs. 2 Nr. 1c) oder der Ehre (Abs. 3). Der Verfasser sieht nämlich im vorverlagerten Schutz des als Gewährleistung der Friedlichkeit verstandenen öffentlichen Friedens einen vorverlagerten Schutz von Leib, Leben und Freiheit potentieller Diskriminierungsopfer und konkludent einen indirekten aber nicht explizit bezeichneten Schutz des historischen Selbstbewusstseins („(Zwar) gründet ihre Existenz auf der erhöhten Sensibilität gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus und der ,für die Identität der Bundesrepublik Deutschland prägenden Bedeutung dieser Vergangenheit‘“). Ablehnend Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 4. 172 Fischer, StGB § 130 Rn. 2. 173 Kühl (Lackner/Kühl, StGB § 130 Rn. 1) sieht zurückhaltend auch in der Vorschrift einen Schutz in ersten Linie des öffentlichen Friedens und sekundär der Würde des Einzelmenschen: Ohne die Menschenwürde in ihrer Funktion als Legitimationsbasis zu bestreiten, weist er darauf hin, dass die Würde des Einzelmenschen nur im § 130 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 ausdrücklich geschützt wird und verweist auf Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 285, die in § 130 Abs. 3 StGB die Verletzung eines nicht legitimierbaren „Sprechtabus“ sieht. Krauß (LK/Krauß, § 130 Rn. 2 ff.) bezeichnet entsprechend den öffentlichen Frieden und die Würde 170

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

zenden Charakters174 der Vorschrift fungieren. Nach dieser Auffassung lässt sich der Rückgriff auf den friedensschützenden Schutzzweck aus dem Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Friedensstörung ableiten175. Wie im Fall des öffentlichen Friedens, dessen vages Verständnis ein breites begriffliches Spektrum umfasst, lässt sich auch das in Betracht kommende Rechtsgut in verschiedenen Auffassungen176 darstellen wie in Gestalt der Menschenwürde177, der quantitativen Menschenwürde178, der Würde des einzelnen Menschen179, der Würde der einzelnen Gruppenmitglieder, der Menschenwürde als Individual- und Gemeinschaftswert180 oder der persönlichen Würde181. Beim hier geschützten Begriff der Menschenwürde handelt es sich nach Ostendorf182 nicht um die Würde des des einzelnen Menschen als Schutzgüter des § 130 Abs. 1 StGB. Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 2 bezeichnen den öffentlichen Frieden als Hauptschutzgut des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB und sekundär die Würde des einzelnen Menschen; Stegbauer, Rechtsextremistische Propaganda im Lichte des Strafrechts, 2000, S. 172, 246; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 1a; Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB 2020, § 130 Rn. 3, der für den § 130 Abs. 1, 3 und 4 StGB als geschütztes Rechtsgut in erster Linie den öffentlichen Frieden bezeichnet. Allerdings sieht der Verfasser den öffentlichen Frieden als ein Zwischenziel für das Unterbleiben von Angriffen auf Leib, Leben und Freiheit der Diskriminierten; Auf einen kumulativen Schutz des öffentlichen Friedens und sekundär der Menschenwürde durch die alte Fassung des § 130 StGB greift Römer in NJW 1971, 1735 zurück. Der Schutz des öffentlichen Friedens lässt sich aus der systematischen Stellung des Paragraphen ableiten. Auch Lohse (NJW 1985, 1678 ff.) befürwortet, angesichts der doppelten Angriffsrichtung der alten Fassung, die sowohl einen Angriff der Menschenwürde als auch eine Störung des öffentlichen Friedens unter Strafe stellte, als Hauptschutzgut des § 130 StGB a. F. den öffentlichen Frieden und zusätzlich die Menschenwürde; so auch Wehinger, Kollektivbeleidigung-Volksverhetzung, 1994, S. 88, 95. 174 Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 4; Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 2021, § 130 Rn. 10 f., nach dem § 130 Abs. 1 den Individualschutz der Angehörigen der jeweiligen Bevölkerungsteile bezweckt und § 130 Abs. 3 StGB den öffentlichen Frieden an erster Stelle und sekundär die persönliche Würde der Betroffenen schützt. 175 Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 2021, § 130 Rn. 10: „die Tathandlungen nach Abs. 1 und 3 müssen geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören (…), worin sich zeigt, dass dieser geschützt ist“. 176 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 2. 177 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 683. 178 Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 4. 179 So Gössel/Dölling, Strafrecht BT 1 – Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 2004, § 48 Rn. 25. Der als Schutzgut ermittelte öffentliche Friede ergibt sich aus dem Erfordernis, dass die Tathandlungen zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet sein müssen. Aus der ausdrücklichen Einbeziehung der Menschenwürde im ersten und zweiten Absatz ergibt sich laut den Verfassern der Schutz der Menschenwürde durch die Vorschrift. 180 Krupna, in: HK-GS/Rössner, 2022, § 130 Rn. 1; die Autoren halten die Menschenwürde für das Schutzgut des gesamten Tatbestandes neben dem Schutz des friedlichen Zusammenlebens im freiheitlichen multikulturellen Rechtsstaat, auch wenn die Menschenwürde nur in Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und Abs. 4 explizit erwähnt wird. 181 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 5. 182 Ostendorf will anhand dieses kollektiv erfassten Verständnisses der Menschenwürde der Argumentation von Sternberg-Lieben in Bezug auf die Ablehnung der Menschenwürde als

III. Bestrafung der Holocaustleugnung in der Theorie

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Einzelnen, sondern um eine quantitative Menschenwürde von zu Bevölkerungsteilen zusammengefassten Menschen183. Wegen des überpersönlichen Charakters des hier geschützten Rechtsgutes kann die Einwilligung des Empfängers der verhetzenden Äußerung in keiner der Modalitäten des § 130 StGB die Rechtswidrigkeit ausschließen, auch wenn der Empfänger dem geschützten Bevölkerungsteil zugehört184. Das Ansehen der Würde des einzelnen Menschen als (sekundäres) Schutzgut bleibt nicht ohne Widerspruch185. Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB wird mit der Begründung verneint, bei der Neufassung des Paragraphen durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 wäre auf das Tatbestandsmerkmal des Angriffs auf die Menschenwürde verzichtet worden, was konkludent zur Schlussfolgerung führt, der Gesetzgeber habe auch nicht die Menschenwürde angreifende Verhaltensweisen unter Strafe stellen wollen. Diesem Argument wird entgegengesetzt, das Tatbestandsmerkmal des Angriffs auf die Menschenwürde habe der Gesetzgeber aus verfolgungspragmatischen Gründen weggelassen, obwohl erfahrungsgemäß regelmäßig ein Angriff gegen die Menschenwürde vorliegt. Des Weiteren dient § 130 StGB a. F. nach anderer Meinung186 unmittelbar dem Menschenwürdeschutz. Der Stellenwert des Menschenwürdeschutzes ergibt sich daher unabhängig von der ausdrücklichen Erwähnung der Menschenwürde im Gesetz aus der Gesetzgebungsgeschichte der Norm. Im Gesetzgebungsverfahren wurde der Menschenwürdeschutzcharakter der Norm aufgezeigt, indem die Volksverhetzung als Delikt gegen die Menschlichkeit charakterisiert wurde187. Unter Berücksichtigung der geschichtlichen Erfahrungen können nach dieser Auffassung Angriffe gegen sensible Bevölkerungsteile als beabsichtigte Vernichtung oder Erniedrigung verstanden werden. Die als friedensgefährdende Äußerungen getarnten menschenwürdefeindlichen Handlungen entsprechen der den Gesetzgebungsinitiativen zugrundeliegenden Handlungsmotivation, die im Mittelpunkt der Strafwürdigkeit die abscheuliche Gesinnung der Täter stellt:188 „… im Grunde geht es doch nicht darum, daß solche Äußerungen den Frieden gefährden, sondern darum, daß sie eine abscheuliche Gesinnung offenbaren, deren Ausdruck wir dieser Abscheulichkeit wegen als unerträglich empfinden“. Daher „besteht ein Strafbedürfnis, das nur durch Schutzgut entgegenstellen. Die Neufassung, so Ostendorf, des § 130 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB ohne das Tatbestandsmerkmal des Angriffs auf die Menschenwürde war auf verfolgungspragmatische Gründen zurückzuführen; letztlich wird aber ein Angriff gegen die Menschenwürde kriminalisiert, was auch das Gebot nach Bestimmtheit des Schutzgutes erfüllt. 183 Die Auslegung erklärt aus systematischer Sicht die Eingliederung der Vorschrift in die nicht personenbezogenen Straftaten gegen die öffentliche Ordnung. 184 Maurach/Schroeder/Maiwald, a.a.O. § 60 Rn. 58. 185 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 3. 186 Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 506. 187 Schriftlicher Bericht des Abgeordneten Benda, Drs. 1746, S. 3. 188 Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 503, 507 unter Verweis auf Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 13. Bd., BT, 2. Lesung, 1960, S. 121.

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eine solche Vorschrift befriedigt werden kann, die […] die abscheuliche Äußerung einfach wegen ihrer Abscheulichkeit mit Strafe bedroht“. Daraus lässt sich übrigens ableiten, dass die von Gallas189 vorgeschlagene Einführung des Tatbestandsmerkmals der Eignung zur Friedensstörung sowohl „die faktische Erschütterung“ als auch den „berechtigten Unwillen, der sich an solche Verhaltensweisen knüpft“, wiederspiegelt190. § 130 StGB erfasst somit eine janusköpfige Mission des Menschenwürdeschutzes: geschützt werden sowohl die Menschenwürde des Einzelnen als auch die Menschenwürde in ihrer kollektiven Dimension als oberste Zielsetzung und oberster verfassungsrechtlich abgeleiteter Wert sowie das gesellschaftliche Vorverständnis in Bezug auf die Strafwürdigkeit unmenschlicher Gesinnung, die den Menschen aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit objektiviert und entindividualisiert. Nach derselben Auffassung ist der öffentliche Frieden durch jedes Strafbedürfnis nur mittelbar neben wichtigen Individualrechtsgütern geschützt191. § 130 Abs. 1 StGB soll nach anderer Meinung192 den Schutz von individuellen Rechtsgütern der angegriffenen Bevölkerungsgruppe bezwecken. Die hiermit gemeinten individuellen Rechtsgüter umfassen einerseits Individualrechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Ehre, Freiheit oder Eigentum, deren Schutzwürdigkeit durch den Täter in Frage gestellt wird und andererseits das existenzielle Grundvertrauen der Angehörigen der angegriffenen Bevölkerungsgruppe darin, innerhalb der Gesellschaft als schutzwürdige Träger von Rechtsgütern anerkannt zu sein und als Gewährleistung der personalen Entfaltung auch zu bleiben. Der dritte Absatz des § 130 StGB dient nach dem Verfasser dem Schutz derselben Rechtsgüter wie § 130 Abs. 1 und 2 StGB. Einen Rückgriff auf Individualrechtsgüter bekräftigt Junge193, die den öffentlichen Frieden als Schutzgut des Straftatbestandes ablehnt und bei Abs. 1 einen Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit und bei Abs. 3 einen Schutz der Ehre favorisiert194. Als wesentliche Begründung der Strafbarkeit des § 130 § 3, 4 StGB ist nach anderer Meinung der Schutz der geschichtlichen Identität der Opfer des Nationalsozialismus195 und daher ist § 130 StGB ein Delikt gegen die Menschlichkeit196.

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Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 503 unter Verweis auf Gallas, Niederschriften, S. 122 f. Gallas hatte zunächst laut Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 503 auch das noch abstraktere Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Friedensgefährdung vorgeschlagen. 191 Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 509 – 510. 192 Jacobi, Das Ziel des Rechtsgüterschutzes bei der Volksverhetzung, 2010, S. 280 f. 193 Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 124. 194 So auch Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 181 f.; vgl. weiterhin die Stellungnahme von Leutheusser-Schnarrenberger (BT-12, S. 19671). 195 Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 4; SK-Rudolphi/Stein, § 130 Rn. 1c. 196 Die historische Wahrheit als Schutzgut lehnt Fischer, StGB § 130 Rn. 25 ab; so aber Stegbauer, NstZ 2000, 281. 190

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Neben dem öffentlichen Frieden soll nach Lohse197 § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB die Würde des einzelnen Menschen schützen, während § 130 Abs. 3 StGB neben dem öffentlichen Frieden einschränkend zu Abs. 1 die persönliche Würde der Betroffenen198 sowie als postmortaler Achtungsanspruch das Andenken der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen umfasst199. Die Benennung des öffentlichen Friedens, der Menschenwürde sowie des persönlichen Achtungsanspruchs der Betroffenen200 bringt somit sowohl friedensschützende als auch opferbezogene Komponenten zum Ausdruck. Nach einer anderen Auffassung201 wird die Erfassung des Leugnungstatbestandes vom Zusammenhang solcher Äußerungen mit der Anwendung physischer Gewalt legitimiert. Diese Stellungnahme geht allerdings von der Annahme aus, dass das „einfache“, nämlich das sich auf die historische Tatsache bezogene Leugnen per definitionem geeignet ist, zu gewalttätigen Angriffen gegen Angehörige von Bevölkerungsteilen aufzustacheln. Als Schutzzweck wird außerdem die kollektive Erinnerung202 sowie die Verhinderung der Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur in den Gesetzesmaterialien203 und im Schrifttum204 erwähnt. Beim § 130 Abs. 3 StGB handele es sich um eine Tathandlung, die mittels einer Revision der geschichtlichen Wahrheit auf die Entlastung des Nationalsozialismus ziele. Daher diene die geschützte historische Wahrheit nur als Mittel zum Schutz der mittelbar geschützten freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Gegen diese Auffassung spricht eine systematische Auslegung der Vorschrift, da diese nicht in die Straftaten zur Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates eingestuft wurde. Außerdem205 muss nach dieser Auffassung für die Anwendung der Vorschrift eine Verbotsentscheidung vorliegen, die 197

Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 2. Mrosk, NJ 2009, 149; Stegbauer, NStZ 2000, 281; Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 2021, § 130 Rn. 10. 199 So Stegbauer, NStZ 2000, 282, der als Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB den persönlichen Achtungsanspruch hinsichtlich des erlittenen Leidens der Opfer staatlicher Willkür sieht; ähnlich Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 10 f., der als geschütztes Rechtsgut den öffentlichen Frieden, aber auch die persönliche Würde der Überlebenden des Holocaust und den persönlichen Achtungsanspruch der Ermordeten und ihrer Angehörigen und somit die gem. Art. 1 GG verankerte Anerkennung der persönlichen Betroffenheit der Opfer staatlicher Menschenwürdeverletzungen sieht. Der Verfasser nimmt allerdings keine eigene Stellung zur Problematik der Geeignetheit der Verhinderung einer politischen Klimavergiftung, als Schutzgut zu dienen; Fischer (StGB § 130 Rn. 24) findet den Verweis auf einen postmortalen Achtungsanspruch der Opfer inkonsistent mit der Bedingung eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung. 200 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 5. 201 Fischer, StGB § 130 Rn. 24a; Kübler, AöR 2000, 109, 126. 202 Matuschek, Erinnerungsstrafrecht, 2012, S. 146. 203 BT-Drs. 12/7421 vom 27. 4. 1994, S. 4. 204 Hufen, JuS 1995, 638; Ostendorf, NJW 1985, 1062. 205 Kritik zum demokratischen Rechtsstaat als Schutzgut des § 130 Abs. 3 StGB in Stegbauer, NStZ 2000, 281 ff. 198

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im Tatbestand nicht vorausgesetzt wird. Daher ist die demokratische Rechtsordnung nicht als bezwecktes Schutzgut, sondern als „bloße Reflexwirkung“206 der Strafvorschrift anzusehen. Streng207 lehnt den öffentlichen Frieden als geschütztes Rechtsgut der Neufassung des Volksverhetzungsparagraphen ab mit der Begründung, es handele sich dabei um ein unbefriedigendes, unscharfes meta-Rechtsgut, dessen Abstraktheit keine Legitimationsbasis für einzelne Vorschriften schafft, da das Strafrecht insgesamt dem Schutz des öffentlichen Friedens dient. Stattdessen bekräftigt Streng den Schutz einer im Mittelpunkt stehenden moralischen Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, nämlich die kollektive Scham über die Massenvernichtung im Dritten Reich, die als gemeinsame Grundlage des Selbstverständnisses der Gesellschaft die Rückkehr Deutschlands als akzeptiertes Mitglied in die Völkergemeinschaft ermöglicht hat. Sekundär lässt sich durch den Leugnungstatbestand das durch das Verfolgungsschicksal geprägte Selbstverständnis der im Dritten Reich verfolgten Gruppen schützen. Vereinzelt wird in Zweifel gezogen, ob § 130 Abs. 3 StGB ein rechtlich legitimes Rechtsgut schützt208. Nach dieser Auffassung209 ist der öffentliche Friede das Schutzgut des § 130 Abs. 3 StGB, jedoch sei der Rechtsgüterschutz vom Gesetzgeber zu weit ausgedehnt worden. Die laut Gesetzesmaterialien mögliche Eignung der Beschönigung oder Leugnung der Verbrechen des NS-Regimes, das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung zu kränken, stelle keine legitimierbare Eigenschaft des Begriffes dar, da jedes Delikt auf das Rechtsbewusstsein der Bürger und die Rechtssicherheit einwirkt. Insofern stellen die von den betroffenen Personen als unerträgliche Missachtung empfundenen Äußerungen keinen Aspekt des öffentlichen Friedens, sondern der Menschenwürde dar. Die Verabschiedung des § 130 Abs. 3 StGB wandelte nach dieser Auffassung den Bestandteil der Menschenwürde, nämlich die Missachtung der Betroffenen, in ein Element des öffentlichen Friedens um.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen 1. Der öffentliche Frieden a) Der Begriff des öffentlichen Friedens in der Rechtsprechung Eine Definition des öffentlichen Friedens im subjektiven Sinne findet man erst im Urteil des Reichsgerichts vom 22. Dezember 1886210 : Der „öffentliche Friede besteht 206 207 208 209 210

So Stegbauer, NStZ 2000, 281 ff. Streng, JZ 2001, 2005. Bertram, NJW 2005, 1476. Beisel, NJW 1995, 1000. RG, Urteil vom 22. 12. 1886 – 3085/86, RGSt 15, 117.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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[…] in dem Zustande des beruhigenden Bewusstseins der Staatsangehörigen, in ihren durch die Rechtsordnung gewährleisteten berechtigten Interessen geschützt zu sein und zu bleiben“. Das RGSt hat diesen rein subjektiv angesehenen Begriff des öffentlichen Friedens mit seinem Urteil vom 17. Dezember 1888211 erweitert. Obwohl in der Rechtsprechung das dualistische (subjektiv-objektive) Verständnis des Begriffs aufgenommen wird, kommt in Einzelfällen nur das objektive oder nur das subjektive Element in Betracht212. Somit entsteht ein uneinheitliches Bild des Begriffs. Eine nähere Betrachtung zeigt die Schwächen dieser Uneinheitlichkeit auf. Das dualistische Verständnis des öffentlichen Friedens basiert auf dem Diptychon des objektiven Elementes des Zustands der allgemeinen Rechtssicherheit und des subjektiven Elementes des Vertrauens in diese Rechtssicherheit213. Das herrschende dualistische Verständnis wird allerdings nicht ohne Abweichungen aufgenommen. Der öffentliche Frieden findet sich in mehreren Entscheidungen ohne Berücksichtigung des subjektiven Elementes des Vertrauens in seiner rein objektiven Dimension. Eine solche objektiv-orientierte Auffassung hebt das Urteil des OLG Hamm vom 28. September 1979 hervor214, indem die allgemeine Bereitschaft zur Begehung der erfassten Delikte durch die Verherrlichung von Straftaten gefördert und ein 211 RG, Urteil vom 17. 12. 1888 – 2802/88, RGSt 18, 316 („äußere Existenz des Gemeinwesens“ und „Vertrauen in den Bestand“ der geschützten staatlichen Ordnung). 212 Fischer, NStZ 1988, 159 ff. 213 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088, 1089, das subjektive Verständnis des vorgehenden Urteils vom 18. 2. 1975 des OLG Hamburg ablehnend, formuliert das Urteil das subjektive Element des Vertrauens als „Gefühl der öffentlichen Sicherheit“ und die Verletzung des objektiven Elementes als Neigung zur Beschimpfung und böswilligen Verächtlichmachung; OLG Köln, Urteil vom 11. 11. 1981 – 3 Ss 704/81, NJW 1982, 657 nach dem ein Angriff gegen den öffentlichen Frieden sowohl das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert, als auch das friedliche Nebeneinander der durch ein gemeinsames Bekenntnis verbundenen Bevölkerungsteile stört bzw. „das berechtigte Vertrauen der Betroffenen in die Respektierung ihrer Überzeugung beeinträchtigt wird, als auch dadurch, daß eine Äußerung geeignet ist, bei Dritten Intoleranz gegenüber den Anhängern des beschimpften Bekenntnisses zu fördern“; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. 10. 1995 – 3 Ss 9/95, NStZ-RR 1996, 58, 59 („Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts“); LG Berlin, Urteil vom 12. 5. 2004 – (563) 81 Js 1640/02 (20/03); VG Bayreuth, Beschluss vom 25. 7. 2005 – B 1 S 05.634, MMR 2005, 791, 793; LG München I, Beschluss vom 3. 5. 2006 – 9 O 8051/06, ZUM 2006, 578: wobei es auf die Formulierung des objektiven Elementes des Zustandes der allgemeiner Rechtssicherheit verzichtet wird und stattdessen die Eignung zur Friedensstörung als Anheizen der Neigung zu Rechtsbrüchen sieht; OLG Rostock, Beschluss vom 19. 7. 2007 – 1 Ss 107/07 I 50/07, Stra. F.o 2007, 515 – 516; BGH Beschluss vom 30. 11. 2010 – 3 StR 428/10, NStZ-RR 2011, 109; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. 5. 2019 – 3 B 155/19 (Rn. 6: „solche Äußerungen seien geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtssicherheit zu erschüttern, eine latent vorhandene Gewaltbereitschaft insbesondere rechtsradikal gesinnter Personen gegenüber Migranten zu stärken, Abneigungen hervorzurufen und die Gewaltschwelle herabzusetzen und damit den öffentlichen Frieden zu gefährden“); Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. 4. 2019 – 5 B 543/19; BGH, Beschluss vom 28. 6. 2018 – AK 26/18. 214 OLG Hamm, Urteil vom 28. 9. 1979 – 4 Ss 1584/79, MDR 1980, 159; BGH, Beschluss vom 3. 5. 2019 – AK 15/19 (Rn. 23: Förderung der Bereitschaft zur Begehung von Straftaten).

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psychisches Klima geschaffen wird, das die Nachahmung gleichartiger Delikte begünstigt. Die gleiche Perspektive des öffentlichen Friedens tritt im Beschluss vom 25. August 1988 des LG Bochum auf215, nach dessen Auffassung die Annahme einer Störung bejaht werden soll, wenn eine Störung des friedlichen Nebeneinanders der durch ein gemeinsames Bekenntnis verbundenen Bevölkerungsteile befürchtet wird. Eine objektive Betrachtung des Begriffes lässt sich, grob formuliert, vom Standpunkt der Verhinderung grober Klimavergiftungen als Schutzgut des Volksverhetzungsparagraphen in mehreren Urteilen herleiten216. Ein subjektives Verständnis des öffentlichen Friedens wird abweichend von der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Einzelfällen befürwortet. In seinem Urteil vom 21. April 1961217 führte der BGH in einer These, die in den Folgejahren mehrmals übernommen wurde218, aus, dass bei einer antisemitischen Hetzschrift 215

LG Bochum, Beschluss vom 25. 8. 1988 – 6 Qs 174/88, NJW 1989, 717, 728. AG Linz, Urteil vom 26. 8. 1996 – 2101 Js 17375/93 3 Ds, NStZ-RR 1996, 358, 359. Auf ein objektives Element bezieht sich das KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94), JR 1998, 213, mit der Annahme, dass ein volksverhetzender Angriff das öffentliche Klima vergiftet; mit dem öffentlichen Frieden als allgemeine Rechtssicherheit befasst sich der BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95, NJW 2001, 61; weitere objektiv-orientierte Ansätze in BGH, Urteil vom 10. 4. 2002 – 5 StR 485/01 –, JuS 2002, 1127, 1128 (Eignung zur Friedensstörung als Vergiftung des politischen Klimas), BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. 11. 2002 – 1 BvR 232/97, NStZ 2003, 655, 656 (Frieden sei gestört, wenn mit überzogenen Formulierungen Feindseligkeit und ablehnende Aggressionen hervorgerufen würden); Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 8. 3. 2010 – 10 B 09. 1102, 10 B 09.1837, NJW 2011, 793, 795 (Eignung zur Friedensstörung, wenn sie ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen hin angelegt ist, d. h. den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markiert); LG Aachen, Urteil vom 5. 9. 2012 – 94 Ns 27/12, MMR 2013, 269, 270; AG Wolfratshausen, Urteil vom 25. 3. 2013 – 2 Cs 11 Js 27699/12, MMR 2014, 206 (Störung des öffentlichen Friedens bei Eintritt allgemeiner Beunruhigung der Bevölkerung); OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III – 1 RvS 66/15, (Aufheizung des psychischen Klimas und Erregung von Unfrieden in der Bevölkerung); OLG Karlsruhe, Urteil vom 7. 2. 2017 – 2 (7) Ss 624/16; LG Potsdam, Urteil vom 21. 2. 2017 – 27 Ns 73/16 (Vergiftung des politischen Klimas). 217 BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3 StR 55/60, NJW 1961, 1365, 1365. 218 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088; OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76, MDR 1977, 334 – 335; BGH, Urteil vom 20. 6. 1979 – 3 StR 131/79 (S), NJW 1979, 1992 (der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern, und Teile der Bevölkerung werden in ihrem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt); BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, MMR 2001, 228, 230 („Seine ins Internet gestellten Artikel seien geeignet gewesen, das Sicherheitsempfinden und das Vertrauen in die Rechtssicherheit insbesondere der jüdischen Mitbürger empfindlich zu stören“); BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 305, 396; BGH, Urteil vom 8. 8. 2006 – 5 StR 405/05, NStZ 2007, 216, 217; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 10. 8. 2006 – 24 CS 06.1965, BayVBI 2006, 760 – 762; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 3. 11. 2006 – 24 CS 06.2930; AG Münster, Urteil vom 13. 9. 2007 – 52 Ds 540 Js 1896/06 AK 218/07; LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09, NJ 2014, 305; OLG Karlsruhe, Urteil vom 7. 2. 2017 – 2 (7) Ss 624/16; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. 5. 2019 – 20 L 1449 (Rn. 37); VG Mainz, Beschluss vom 26. 4. 2019 – 4 L 437/19.MZ; AG Mannheim, Urteil vom 7. 1. 2019 – 20 Cs 806 Js 10181/18 (Vertrauen auf die Fortdauer eines 216

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über angebliche Bankierverschwörungen nicht vorausgesetzt wird, dass der öffentliche Friede schon gefährdet worden ist. Es genügt, dass „berechtigte Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern“, sei es auch nur bei der Bevölkerungsgruppe, gegen die er sich richtet. Eine weitere Definition des öffentlichen Friedens, die von der herrschenden, rein objektiven und subjektiven Komponente des Begriffes abweicht, ist die Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit durch Schaffung eines „psychischen Klimas“219. Der Formulierung der ständigen Rechtsprechung folgend, die das subjektive Element des öffentlichen Friedens als eine fiktive, kollektive Anknüpfung an und das Vertrauen in die Anwendung eines Gesellschaftsvertrags auffasst, die in der apriorischen Annahme der Regeln eines sicheren kollektiven Zusammenlebens besteht, zielt der deskriptive Begriff des psychischen Klimas erfolglos auf eine alternative Formulierung des objektiven Elementes des öffentlichen Friedens. Obwohl mit dem psychischen Klima eine externe, objektive Definition des öffentlichen Friedens erstrebt wird, gelingt es dem Begriff nicht, ein bewertbares, objektiv fassbares Kriterium darzustellen. Mit dem Rückgriff friedlichen Zustands), Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. Juni 2021 – 5 A 1386/20, Rn. 136. 219 BGH, Urteil vom 9. 8. 1977 – 1 StR 74/77, NJW 1978, 58, 59; OLG Celle, Urteil vom 16. 7. 1970 – 1 Ss 114/70, NJW 1970, 2257 („Die Störung des öffentlichen Friedens kann sowohl durch Aufhetzung der den spanischen Gastarbeitern übel gesonnenen Personen wie auch durch die Erschütterung des Gefühls der Sicherheit bei den Spaniern erfolgen“); LG Frankfurt, Beschluss vom 6. 10. 1981 – 50 Js 19/81 – 915 Ls 5/24 Qs 16/81, NJW 1982, 658, 659 (Vertrauen in die Sicherheit der Rechtsordnung erschüttern, Ärgernis erregen); OLG Köln, Urteil vom 11. 11. 1981 – 3 Ss 704/81, NJW 1982, 657 (Beeinträchtigung des berechtigten Vertrauens der Betroffenen in die Respektierung ihrer Überzeugung dadurch, dass eine Äußerung geeignet ist, bei Dritten Intoleranz gegenüber den Anhängern des beschimpften Bekenntnisses zu fördern); OLG Celle, Urteil vom 8. 10. 1985 – 1 Ss 154/85, NJW 1986, 1275, 1276 (Erschüttern des Vertrauens und Förderung der Bereitschaft zu Intoleranz); BGH, Urteil vom 2. 4. 1987 – 4 StR 55/87, NStZ 1987, 364 (Störung des öffentlichen Friedens durch Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung und Schaffung eines psychischen Klimas); Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. 11. 1993 – 2 EO 147/93 (Eignung zur Störung durch Erschütterung des Vertrauens in die Rechtssicherheit oder durch Aufheizung des psychischen Klimas); LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92, NJW 1994, 2494, 2496 (Aufheizung des psychischen Klimas und Erregung von Unfrieden in der Bevölkerung); Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 17. 8. 1994 – 4 St RR 105/94, NJW 1995, 145, 146; OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94; OLG Nürnberg, Beschluss vom 23. 6. 1998 – Ws 1603/97, MMR 1998, 525, 536; OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/ 00, NStZ-RR 2000, 368, 369; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. 8. 2007 – 2 M 252/07; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 453, 455; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010 – 2 Ws 323/09; BGH, Beschluss vom 19. 5. 2010 – 1 StR 148/10, NStZ 2010, 570; BGH, Beschluss vom 20. 9. 2010 – 4 StR 395/10, NStZRR 2011, 273, 274; OLG Hamm, Beschluss vom 10. 9. 2013 – 3 Ws 259/13, ZUM-RD 2014, 358, 360; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III – 1 RVs 66/15 (Aufhetzung des psychischen Klimas und Erregung von Unfrieden in der Bevölkerung); AG Duisburg, Urteil vom 8. 12. 2017 – 81 Ds 433/16, Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. September 2021 – 6 B 360/21, Rn. 34.

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auf eine negative Definition, die sich durch seine Ungenauigkeit erweist, wird die gezielte dualistische Unterscheidung erschwert. Insbesondere besteht die Betrachtung des objektiven Elementes des öffentlichen Friedens nicht in der Schilderung eines fassbaren, aufgrund von messbaren Kriterien anwendbaren, Begriffes, sondern vielmehr in der Pseudo-Objektivierung einer kollektiven, innerlichen Vorstellung einer psychischen Beunruhigung. In diesem Sinne wird eine innerliche, kollektive psychische Anspannung zum objektiv wahrnehmbaren Element ernannt, das nicht einer feststellbaren äußeren Schilderung entspricht wie beispielsweise einer individuellen Rechtsverletzung. Die in Betracht kommende, als Äußerung getarnte Innerlichkeit wandelt den öffentlichen Frieden in ein Gefühl um, dessen strafrechtlicher Schutz unvereinbar ist mit der Grenze der Strafe und der Legitimation der Bestrafung durch die Rechtsgutslehre. Die Ungeeignetheit der unpräzisen, subjektiven, innerlichen Charakteristika und deren subjektiver Wahrnehmung, ein legitimes Schutzgut zu rechtfertigen, wird anschaulich im Beschluss des BVerfG vom 4. November 2009, worin dem Begriff des öffentlichen Friedens ein eingegrenztes Verständnis zugrunde gelegt wird220. Im Beschluss, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB befasst, werden die Tragfähigkeit des subjektiv verstandenen Friedensbegriffes sowie das subjektive Element des öffentlichen Friedens für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit abgelehnt. Die subjektive Beunruhigung von Bürgern durch Konfrontation mit provokanten Äußerungen ist die notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit eines freiheitlichen Staates und kann somit keine strafrechtliche Einschränkung legitimieren. In diesem Sinn seien polemische, subjektiv verstandene Beeinträchtigungen des öffentlichen Friedens wie die „Vergiftung des geistigen Klimas“ oder die Kränkung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung durch totalitäre Ideologien kein Eingriffsgrund. Einen zumutbaren Strafzweck erkennt der BVerfG in der objektiven Dimension des als Gewährleistung von Friedlichkeit verstandenen öffentlichen Friedens221. Mit diesem Eingriffsgrund wird vor Äußerungen strafrechtlich geschützt, die den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren222. Das eingegrenzte Verständnis des öffentlichen Friedens sei an den Außenwirkungen von Meinungsäußerungen orientiert, die bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen; zudem sei das Tatbestandsmerkmal der Störung des öffentlichen Friedens (Rn. 92 ff.) im Kontext des § 130 Abs. 4 StGB mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar223. Trotz der bejahten Geeignetheit des hinreichend begrenzten öffentli220

52.

BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, und besonders ab

221 Dieses Verständnis des öffentlichen Friedens wurde auch in der neueren Rechtsprechung des BVerfG bestätigt, vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2858. 222 OLG Frankfurt a. M. Urt. v. 8. 2. 2022 – 2 Ss 164/21, BeckRS 2022, 2937. So auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2859; LG Münster, Urteil vom 29. 3. 2017 – 13 Ns – 81 Js 3303/15 – 15/16. 223 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 54.

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chen Friedens, ein Schutzgut darzustellen, werden ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich des exzessiven Rückgriffs auf den öffentlichen Frieden geäußert. Insbesondere seien die durch Berufung auf den öffentlichen Frieden eigenständige Strafbegründung oder der Rückgriff auf den öffentlichen Frieden als ergänzendes Tatbestandsmerkmal in Straftatbeständen, die nicht schon durch andere Tatbestandsmerkmale grundsätzlich tragfähige und hinreichend begrenzte Konturen erhalten, hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot Bedenken ausgesetzt, da der Begriff vielfältig offen für unterschiedliche, subjektiv wahrnehmbare Deutungen sei. Die Bedenken werden, wie der BVerfG ausführt, ausgeräumt, wenn die strafwürdige Störung des öffentlichen Friedens durch andere, hinreichend bestimmte Tatbestandsmerkmale konkret beschrieben werde224. Im Fall eines Rückgriffs auf den öffentlichen Frieden in Form eines Korrektivs wird dieser als zusätzliches Tatbestandsmerkmal herangezogen, dessen Inhalt sich aus dem jeweiligen Normenzusammenhang bestimmen lasse; er diene somit als eine Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle225. Aus kritischer Distanz lässt sich der Beschluss auf mehreren Ebenen betrachten. Zunächst ist die Beurteilung des Merkmals „öffentlich“ bedeutend: Im Beschluss wird das Öffentliche des Friedens mit Offenkundigkeit gleichgesetzt226, so dass bei einem erweiterten Kreis von einer Angst vor zukünftiger Viktimisierung ausgegangen werden kann227. Die einschlägige Gleichsetzung der Begriffe ist auf Rechtsanwendungsebene nicht beispiellos: Das „öffentliche“ Merkmal wird als Offenkundigkeit im Urteil des BGH vom 14. Januar 1981 verstanden228, in dem von einer Störung des (hier subjektiv verstandenen) öffentlichen Friedens ausgegangen wird, wenn es unabhängig vom Sicherheitsgefühl der unmittelbaren Adressaten genügen kann, „dass nach den konkreten Umständen damit zu rechnen ist, der Angriff werde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden“. Die Bekanntgabe gegenüber einem breiteren Adressatenkreis als Bejahung einer Störung des öffentlichen Friedens wird entsprechend im Beschluss des OLG Hamm vom 9. Juni 1992 angenommen229, der zur Friedensstörung ausführt, eine Störung könne auch durch eine Ankündigung gegenüber einem Einzelnen bejaht werden, wenn nach den konkreten Umständen damit zu rechnen sei, dass der in ihr angekündigte Angriff einer breiten Öffentlichkeit bekannt werde. Eine offenkundigkeitsbezogene Friedensstörung liege laut differenzierter Formulierung230 vor, „wenn eine allgemeine 224

BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 54. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 54. 226 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 43, „Die Veranstaltung wäre voraussichtlich in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben“. Zum Thema der Behandlung des Merkmals „öffentlich“ siehe u. a. Fischer, NStZ 1988, 159. 227 LG Neuruppin, Urteil vom 7. 11. 2016 – 14 Ns 25/16 (es besteht die Gefahr, „dass von der Botschaft des Angeklagten überzeugte Zuhörer diese weitertragen“). 228 BGH, Urteil vom 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S), NStZ 1981, 258. 229 OLG Hamm, Beschluss vom 9. 6. 1992 – 3 Ss 191/92. 230 OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. 10. 1995 – 3 Ss 9/95, NStZ-RR 1996, 58, 59. 225

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Beunruhigung der Bevölkerung innerhalb der Bundesrepublik, und zwar unter einer nicht unbeträchtlichen Personenzahl“231 eintrete. In einem anderen Beschluss232 bejaht das BVerfG eine Eignung zur Friedensstörung, wenn die Schlagzeile in der Zeitung auch ein breites Publikum erreiche und mit der öffentlichen Verwendung dieses Nazi-Jargons die allgemeine Rechtssicherheit erschüttern könne233. b) Der öffentliche Frieden im Schrifttum Die dogmatische Befassung mit dem Friedensbegriff geht auf die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurück. Schon ab dieser Periode konzentriert sich die Diskussion auf das Verständnis seiner objektiven und subjektiven Komponenten, die Kumulation und den Zusammenhang dieser Komponenten und die entsprechende Auslegung des Begriffes im Lichte eines objektiven, subjektiven oder dualistischen Verständnisses.234

231 VG München, Urteil vom 6. 4. 2016 – M 7 K 15.200; BGH, Beschluss vom 28. 6. 2018 – AK 26/18. 232 BverfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95. 233 Eine ähnliche Gleichsetzung des Öffentlichen mit der Offenkundigkeit drückt der BGH in seinem Urteil vom 12. 12. 2000 aus [BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 624, 625], in dem die Eignung zur Friedensstörung bei Bekanntgabe der Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland vorliegt. Eine Bejahung der Eignung wegen der Wahrnehmbarkeitsbreite der einschlägigen Äußerung findet man weiter in BGH, Urteil vom 8. 8. 2006 – 5 StR 405/05, NStZ 2007, 216, 217; AG Schwedt, Urteil vom 6. 3. 2007 – 12 Ds 256 Js 42294/06 (272/06). 234 Oppenheim (Die Objekte des Verbrechens, 1894, S. 21) versteht den öffentlichen Frieden als einen Zustand, dessen Träger der Staat ist, der Sicherheit des Zusammenlebens auf der Grundlage der staatlichen Rechtsordnung. Aus diesem Zustand entspringt das Sicherheitsbewusstsein der Bevölkerung – aber dieses ist nicht der öffentliche Frieden; „Gefahr der Begehung von Gewalttätigkeiten“ (v. Hippel, in: Birkmeyer et al. (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform herausgegeben auf Anregung des Reichs-Justizamtes von den Professoren Besonderer Teil, Bd. 2: Verbrechen und Vergehen wider die Öffentliche Ordnung, Berlin 1906, S. 52); die objektive Komponente des öffentlichen Friedens ist ein Zustand, der verlangt, dass „die Durchführung aller staatlichen Aufgaben, das Leben des Einzelnen und der Allgemeinheit in geordneten Bahnen verlaufe und gesichert sei“, während die subjektive Komponente eine Reflexerscheinung des Angriffes auf den Friedenszustand sei (Lifschütz, ZStW, 36 (1915) 356 ff., 359); Rechtsgut der Gesamtheit, dessen objektives Element in der „schützenden Macht der in der Rechtsordnung verkörperten Staatsgewalt“ besteht, während es subjektiv als „Vertrauen der Rechtsgenossen in diese Macht, also in den ungestörten Fortbestand der Rechtsordnung“ gilt (v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1927, S. 592, 799); Friedenszustand-Friedenszuversicht (Weil, Die Aufreizung zum Klassenkampf, 1905, S. 20; Sicherheitsbewusstsein der Staatsangehörigen (von Buri, Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafsetzbuche, 1894, S. 2, 4); „Zustand des beruhigenden Bewusstseins der Staatangehörigen, in ihren berechtigten Interessen genügend geschützt zu sein und zu bleiben“, Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 1888, S. 322; Fischer, Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung, 1986, S. 247 f.

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Die moderne herrschende Literatur versteht den öffentlichen Frieden in seiner dualistischen Dimension, nämlich sowohl „als Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit als auch das Gefühl der Bevölkerung, im Schutz der Rechtsordnung zu leben“235. Trotz dem ungeklärten Verhältnis zwischen dem öffentlichen Frieden und der öffentlichen Sicherheit liefert Rudolphi236 eine an die öffentliche Sicherheit anknüpfende Definition des öffentlichen Friedens. Nach dieser Auffassung sei unter öffentlichem Frieden ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand zu verstehen, der gestört ist, wenn eine unbestimmte Vielzahl von Personen erhebliche rechtswidrige Angriffe auf Individualrechtsgüter in einem Ausmaß zu befürchten hat, das über das auch in ruhigen Zeiten unvermeidliche Maß hinausgeht (sog. objektive öffentliche Sicherheit), wenn ein Großteil der Bevölkerung solche Angriffe befürchtet (sog. subjektive öffentliche Sicherheit) oder wenn das gesellschaftliche Klima durch allgemeine Unruhe, Unsicherheit oder Ausgrenzung und Diffamierung von Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist (subjektiver öffentlicher Friede i. e. S.). Auch hier handelt es sich um einen Versuch, den öffentlichen Frieden anhand von subjektiven Elementen (Befürchtung, Unruhe, Unsicherheit), undeutlichen Begriffen (Klima) und Rückgriff auf Individualrechtsgüter festzulegen. Statt aber die Vagheit des Begriffes aufzuklären, wird er noch undeutlicher.237 235 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 2: Die Verfasser lehnen ausdrücklich den rein subjektiv verstandenen öffentlichen Frieden ab; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 3; Lohse, NJW 1985, 1679; Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 2; Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1 Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 2004, § 48 Rn. 24; Wehinger, Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung: Der strafrechtliche Schutz von Bevölkerungsteilen durch die §§ 185 ff. und § 130 StGB, 1994, S. 85: Wehinger betrachtet die subjektive Komponente, nämlich die innere Vertrauenshaltung der Menschen in den Friedenszustand, als eine wesentliche Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Zustand des einträchtigen Zusammenlebens. Daher bedeutet ein Angriff auf die innere Vertrauenshaltung der Menschen auch eine Beeinträchtigung der objektiven Komponente des öffentlichen Friedens. Nach dieser Auffassung seien die subjektive und objektive Komponente nicht unterscheidbar. Einen relativierend dualistisch verstandenen öffentlichen Frieden befürwortet Vogelgesang (NJW 1985, 2388), der für die Konkretisierung des Begriffes auf das subjektive Element der Erschütterung des Vertrauens sowie die undeutliche Weckung einer „Neigung“ zur Beschimpfung zurückgreift. Von der herrschenden Meinung abweichend, sieht Altenhain den öffentlichen Frieden einschränkend wegen Art. 5 Abs. 1 GG als „Gewährleistung von Friedlichkeit“ (Altenhain, in: Matt/Renzikowski, StGB 2020, § 130 Rn. 3). 236 Stein, in: SK-StGB § 130 Rn. 9. 237 Die lapidare Aufklärung des Friedensbegriffes im Schrifttum ist zunächst auf die ungeeignete Terminologie zurückzuführen, durch welche der Begriff erörtert wird: „Da die Vorschrift eine Vergiftung des politischen Klimas durch die Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft verhindern soll, muß die Tatbegehung geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören“ (Bericht des Rechtsausschusses, Drs. 12/8588 vom 20. 10. 1994, S. 8). Zweitens lässt sich der Friedensbegriff im Lichte der zunehmenden ausländerfeindlichen gewalttätigen Ausschreitungen sowie der rechtsextremen Hassrede auslegen. Denn wenn als Störung des öffentlichen Friedens die Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda verstanden wird, die die menschliche Existenz entindividualisiert, dann lässt sich der öffentliche Frieden entsprechend umgekehrt im Lichte dieses Verständnisses auslegen: Kon-

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c) Der öffentliche Frieden als Rechtsgut Angesichts der wesentlichen Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt des Begriffes ist es sinnvoll, die Legitimität aller in Schrifttum und Judikatur vertretenen Deutungen zu überprüfen. aa) Die Eignung zur Friedensstörung als Postulat Zunächst fällt auf, dass auf eine tatsächliche Begründung der Eignung zur Friedensstörung als fast überflüssig verzichtet wird.238 Die gegebenen Begründungen wiederholen sich in bezeichnenden Formulierungen: Die Störung des öffentlichen Friedens „bedarf nach den geschichtlichen Erfahrungen keiner weiteren Begründung“239, „begegnet unter den gegebenen Umständen keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken“240, „wird durch die bisherigen Feststellungen belegt“241, besteht „ohne jeglichen Zweifel“242 oder wird in ihrer lakonischen Darlegung als selbstverständlich bejaht, wie es sich im Urteil des BGH vom 9. August 1977 zeigt: „Das Buch behandelt Vorgänge der jüngsten Zeitgeschichte, die – ebenso wie die kludent versteht man den öffentlichen Frieden als eine Bekämpfung der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und der Gewaltbereitschaft gegen Schutzbedürftige, so dass damit die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der bedrohten Bevölkerungsgruppen im Inland und so das friedliche Zusammenleben aller Bürger gewährleistet wird. Auf das Tatbestandsmerkmal der „Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören“, greift mehrmals der Gesetzentwurf zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. 11. 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzprotokolls vom 28. 1. 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. 11. 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art zurück (Drs. 17/ 3124 vom 1. 10. 2010). Auch im Rahmen dieser auf europäischer Ebene koordinierten Gesetzgebung übernimmt der Friedensbegriff die Rolle eines Korrektivs im Lichte des Zieles der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. 238 Unter anderem Gössel/Dölling, Strafrecht BT I Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 2004, § 48 Rn. 25; Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 2021, § 130 Rn. 10 („Die Tathandlungen nach Abs. 1 und 3 müssen geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören […], worin sich zeigt, dass dieser geschützt ist.“). 239 BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3 StR 55/60 (Störung liegt bei einer zur Verbreitung bestimmten antisemitischen Hetzschrift vor); BGH, Urteil vom 25. 7. 1963 – 3 StR 4/63, NJW 1963, 2034 („Daß der Film als nationalsozialistischer antisemitischer Hetzfilm geeignet sei, den öffentlichen Frieden zu stören, bedarf nach den geschichtlichen Erfahrungen keiner weiteren Begründung.“); KG Berlin, Beschluss vom 15. 3. 2000 – (5) 1 Ss 33/98 („dazu bedurfte es keiner näheren Ausführungen im Urteil“); AG Oranienburg, Urteil vom 22. 12. 2015 – 18 Ds 356 Js 34867/15 (368/15) („fraglos“). 240 BGH, Urteil vom 6. 4. 2000 – 1 StR 502/99, NJW 2000, 2217, 2218. 241 BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 624, 626. 242 AG Wismar, Urteil vom 18. 1. 2007, 15 Cs 758/06. Das Urteil wurde gem. § 349 Abs. 4 StPO mit OLG Rostock, Beschluss vom 19. 7. 2007 – 1 Ss 107/07 I 50/07, Stra. F.o 2007, 515 – 516 aufgehoben, mit der Begründung, dass eine konkrete Störung des öffentlichen Friedens jeweils nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt und empirisch festgestellt werden muss.

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zeitlich noch weiter zurückliegenden nationalsozialistischen Gewaltverbrechen noch so aktuell sind, dass ihre Billigung geeignet sein kann, den öffentlichen Frieden zu stören“243. Die Annahme einer Störung des öffentlichen Friedens ist häufig nicht begründungsbedürftig: „Die Beschimpfung war zudem geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. Denn sie gefährdete das friedliche Zusammenleben von Bevölkerungsteilen mit unterschiedlichen Bekenntnissen“244. Kennzeichnend für diesen Lakonismus ist im Allgemeinen die Tendenz auf Rechtsanwendungsebene, das Vorliegen der Störung des öffentlichen Friedens oder der Eignungsstörung ohne weitere Ausführung zu bejahen245. Die auf der Rechtsanwendungsebene bestehende Selbstverständlichkeit des Vorliegens einer Eignung zur Friedensstörung besteht nach einer bestimmten Auffassung246 auch im Fall der Leugnung des Holocaust. Die selbstverständliche, auf historische Thematik eingegrenzte Annahme der Eignung stößt auf Einwände hinsichtlich des Tatbestandsmerkmales des öffentlichen Friedens: denn wenn die Holocaustleugnung selbstverständlich zur Störung des öf243

BGH, Urteil vom 9. 8. 1977 – 1 StR 74/77, NJW 1978, 58, 59, wobei die Formulierung der potenziellen und nicht konkreten Eignung („geeignet sein kann …“) nicht unbemerkt bleibt. Auch LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09, nach dem eine Eignung zur Friedensstörung bei einer Holocaustleugnung selbstverständlich besteht. Die a-priori-Annahme einer Friedensstörung bei der Leugnung einer bestimmten historischen Thematik ist nicht unerklärlich. Sie ist nicht auf den historisch willkürlichen und unbegründeten Charakter der Behauptungen zurückzuführen, sondern auf das politisch subtile Kennzeichen des Negationismus. Ziel des Negationisten ist, dieser Meinung nach, nicht nur die Verdrehung der historischen Wahrheit. Vielmehr geht der Rechtsanwender davon aus, dass die Holocaustleugnung systematisch sowohl auf die Dekonstruktion des historischen Selbstbewusstseins des jüdischen Volkes als auch auf die ideologische, politische, moralische und historische Rehabilitation des Nationalsozialismus im kollektiven Gewissen zielt. Dem Friedensbegriff kommt de facto das Element eines stillschweigenden Konsenses der Bürger über demokratische Prinzipien, die Zurückweisung von Rassentheorien sowie eine kollektive moralische Aufforderung zum Engagement der Gesellschaft gegen den Wiederaufstieg des Totalitarismus. So auch BGH, Urteil vom 15. 12. 1994 – 1 StR 656/94, NJW 1995, 340 – 341 („Der Massenmord an Juden in den Gaskammern von Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkrieges ist als geschichtliche Tatsache offenkundig. Wenn sich der Angeklagte bei seiner politischen Agitation über diese offenkundige Tatsache hinwegsetzt, so ist das nicht geeignet, sein Tun in milderem Licht erscheinen zu lassen. Wer vor der historischen Wahrheit die Augen verschließt und sie nicht anerkennen will, verdient dafür keine Strafmilderung […]“). 244 KG Berlin, Beschluss vom 15. 3. 2000 – (5) 1 Ss 33/98 (19/98). 245 Die Urteile, die entweder die Störung des öffentlichen Friedens lapidar annehmen bzw. sich nicht mit dem Begriff des öffentlichen Friedens auseinandersetzen, sind zahlreich: BGH, Urteil vom 24. 8. 1977 – 3 StR 229/77; BVerwG, Urteil vom 9. 5. 1978 – 2 WD 7/78, BVerwGE 63, 69 – 72; BGH, Urteil vom 10. 10. 1978 – 1 StR 318/78, AfP 1979, 303; BGH, Beschluss vom 19. 5. 1980 – 3 StR 193/80; OLG Hamm, Urteil vom 24. 9. 1980 – 4 Ss 1410/80; OLG München, Beschluss vom 25. 3. 1985 – 2 Ws 242/85 – NJW 1985, 1430, 2431; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. 6. 1993 – 3 Ws 99/93; BGH, Beschluss vom 26. 2. 1999 – 3 StR 613/98 – NJW 1999, 1561; VG Berlin, Beschluss vom 24. 9. 2004 – 1 A 262.04; BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 16. 4. 2005 – 1 BvR 808/05 – NJW 2005, 3203, 3203; OLG Stuttgart, Urteil vom 24. 4. 2006 – 1 Ss 449/05 – MMR 2006, 387, 388; AG Schwedt, Urteil vom 6. 3. 2007 – 12 Ds 256 Js 42294/ 06 (272/06); AG Wolfratshausen, Urteil vom 25. 3. 2013 – 2 Cs 11 Js 27699/12. 246 LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09.

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fentlichen Friedens als geeignet gilt, dann ist die Einfügung des Tatbestandsmerkmales der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens nicht sinnvoll, sondern überflüssig. bb) Die Konturlosigkeit des Begriffes Die oft auftauchende mangelnde Begründung des Vorliegens hat zu einem irritierenden Rückgriff auf verwandte Begriffe beigetragen wie beispielsweise durch das Verständnis der Neigung247 als Synonym für die Eignung zur Friedensstörung. Auffällig ist ferner, dass die Unterscheidung von Eignung, Störung und weiteren verwandten Begriffen unklar ist. Das zeigt sich in der jeweiligen Ausführungen der Gerichte: Eine Eignung kann nämlich vorliegen, bei „Befürchtung eines Erschütterns des Vertrauens“248, bei „Weckung der Neigung zur Beschimpfung“249, als „Erschüttern des Gefühls der Sicherheit“250, als „Erregung von Ärgernis“251 oder bei „Förderung von Intoleranz“252. Sowohl in der Theorie als auch in der Rechtsprechung fehlen beschreibende Begriffe, die eine klare Abgrenzung des öffentlichen Friedens ermöglichen würden. Umgekehrt wird der Begriff in erster Linie im Schrifttum aber auch in der Rechtsprechung anhand von vagen, subjektiven und wertenden Begriffen aufgeklärt, die, statt den Terminus zu konkretisieren, sein Verständnis erschweren: solche Begriffe sind beispielsweise das oft herangezogene „Klima“, die „Neigung“, die in ihrer objektiven Komponente die Erwartung der Begehung eines Deliktes und in ihrer subjektiven Komponente ein einer Untersuchung unterzogenes forum internum als Tendenz zur Begehung eines Deliktes schildert. Übrigens wird in erster Linie in der Rechtsprechung zur Beschreibung von Beeinträchtigungen des öffentlichen Friedens auf nicht messbare und nur vermittels psychologischer Einsichten wahrnehmbare Elemente zurückgegriffen wie etwa die Erschütterung des Vertrauens oder der öffentlichen Sicherheit253, die Untergrabung der Rechtstreue der Bevölkerung254, die Förderung von Hass und Verachtung255, die Förderung der Bereitschaft 247

OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088. BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3 StR 55/6 – NJW 1961, 1364, 1365. 249 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088. 250 OLG Celle, Urteil vom 16. 7. 1970 – 1 Ss 114/70, NJW 1970, 2257. Nicht unbeachtet bleibt hiermit die schwere Abgrenzung der schutzwürdigen subjektiven Komponente des Rechts auf Sicherheit von dem subjektiv verstandenen öffentlichen Frieden in der Rechtsprechung. 251 LG Frankfurt, Beschluss vom 6. 10. 1981 – 5/24 Qs 16/81, NJW 1982, 658, 659. 252 OLG Köln, Urteil vom 11. 11. 1981 – 3 Ss 704/81, NJW 1982, 657; OLG Celle, Urteil vom 8. 10. 1985 – 1 Ss 154/85, NJW 1986, 1275, 1276; ähnlich Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. 5. 2019 – 3 B 155/19. 253 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088. 254 BGH, Urteil vom 29. 10. 1975 – 3 StR 369/75. 255 LG Göttingen, Urteil vom 27. 12. 1984 – Ns 33 Ds 6 Js 7953/84 – 338/84, NJW 1985, 1652, 1653; OLG Celle, Urteil vom 8. 10. 1985 – 1 Ss 154/85, NJW 1986, 1275, 1276. 248

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zu Intoleranz256, eine direkte Feindseligkeit, die Haß schürt und auch Nährboden für Vorurteile schafft257, die „Erregung von Unfrieden in der Bevölkerung“258, grobe Klimavergiftungen259, Befürchtung einer Störung des friedlichen Nebeneinanders der durch ein gemeinsames Bekenntnis verbundenen Bevölkerungsteile260, Beunruhigung261 und die Beeinträchtigung des Friedensgefühls der Bevölkerung oder des Sicherheitsgefühls262. cc) Feststellbarkeit der subjektiven und objektiven Komponente des öffentlichen Friedens Geprüft wird zunächst, ob ein subjektiv verstandener öffentlicher Frieden überhaupt vorstellbar ist263. Diese Ansicht kann man nicht ohne Bedenken zustimmen. Die Mitglieder einer Gesellschaft setzen nicht ein unteilbares, vages Ganzes zusammen, sondern eine Einheit, die umgekehrt in unterscheidbare Bestandteile auf256 OLG Celle, Urteil vom 8. 10. 1985 – 1 Ss 154/85, NJW 1986, 1275; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 10. 5. 2016 – 1 Rev 70/15. 257 LG Hannover, Urteil vom 4. 3. 1994 – 36 c 4/94. 258 LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92. 259 Die Störung des öffentlichen Friedens als Klimavergiftung unter anderem in: BGH, Urteil vom 9. 8. 1977 – 1 StR 74/77, NJW 1978, 58, 59; BGH, Urteil vom 28. 2. 1979 – 3 StR 14/ 79 (S), NJW 1979, 1556; OLG Hamm, Urteil vom 28. 9. 1979 – 4 Ss 1584/79; BGH, Urteil vom 2. 4. 1987 – 4 StR 55/87, NJW 1987, 1898; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. 11. 1993 – 2 EO 147/93; LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92, NJW 1994, 2494, 2496, 2497; BayObLGSt 1994, 146, 151; OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/ 94; AG Linz, Urteil vom 26. 8. 1996 – 2101 Js 17375/93 3 Ds; KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94); OLG Nürnberg, Beschluss vom 23. 6. 1998 – Ws 1603/97, MMR 1998, 535, 536; OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/00, NStZ-RR 2000, 368, 369; BGH, Urteil vom 10. 4. 2002 – 5 StR 485/01, NJW 2002, 2115; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. 8. 2007 – 2 M 252/07; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010, 2 Ws 323/09; BGH, Beschluss vom 19. 5. 2010 – 1 StR 148/10, NStZ 2010, 570; BGH, Beschluss vom 20. 9. 2010 – 4 StR 395/10, NStZ-RR 2011, 273, 274; OLG Hamm, Beschluss vom 10. 9. 2013 – 3 Ws 259/13, ZUM-RD 2014, 358, 360; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III – 1 RVs 66/15, 1 RVs 66/15. 260 LG Bochum, Beschluss vom 25. 8. 1988 – 6 Qs 174/88, NJW 1989, 727, 728; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. 7. 2018 – 2 Rv 4 Ss 192/18 („Gegenstand öffentlicher, friedensstörender Auseinandersetzungen“). 261 BGH, Beschluss vom 30. 11. 2010 – 3 StR 428/10, NStZ-RR 2011, 109; LG Aachen, Urteil vom 5. 9. 2012 – 94 Ns 27/12, MME 2013, 269; AG Wolfratshausen, Urteil vom 25. 3. 2013 – 2 Cs 11 Js 27699/12. 262 OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1088; BGH, Urteil vom 20. 6. 1979 – 3 StR 131/79 (S), NJW 1979, 1992; OLG Celle, Urteil vom 16. 7. 1970 – 1 Ss 114/ 70, NJW 1970, 2257; BGH, Urteil vom 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S), NStZ 1981, 258; OVG Münster, Beschluss vom 22. 6. 1994 – 5 B 193/94, NJW 1994, 2909, 2910; BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, MMR 2001, 228, 230; OLG Frankfurt, Beschluss vom 24. 4. 2002 – 2 Ss 71/02, NStZ-RR 2002, 209, 210. 263 Kritisch Hörnle, in: Simester/von Hirsch, Incivilities: Regulating Offensive Behaviour, S. 135; Fischer, in: FS-Puppe, 2011, S. 1127 ff.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

gelöst werden kann. Nach dieser Meinung ist das Vertrauen in die Rechtssicherheit kein überindividuelles Gefühl der Allgemeinheit264: es ist ein addierbares265 Gefühl einer Vielzahl von Individuen, der einer Vielzahl von einzelnen Vertrauen in die Rechtssicherheit entspricht. In diesem Fall kann die Rede nicht von einem Gefühl einer Gesamtheit von Personen sein, sondern einer Vielzahl von Gefühlen. Sollte man von dieser Vielzahl ein Ganzes zusammensetzen, dann entsteht ein empirischer überindividueller Zustand266. Das Konzept ist weder messbar noch bestimmt und entspricht einer vagen Phantasie. Überdies wirft die Vagheit des Begriffes die Frage auf, wann man von einer Beeinträchtigung des Vertrauens in die Rechtssicherheit reden darf. Es muss wohl nicht das Vertrauen aller Mitglieder der Bevölkerung beeinträchtigt worden sein; dabei erhebt sich aber die Frage, bei wie vielen Angehörigen des betroffenen Bevölkerungsteiles eine Erschütterung des Vertrauens vorliegen sollte. Würde die Erschütterung des Vertrauens von nur einer Person ausreichen oder sollte das Vertrauen der ganzen inländischen Bevölkerung erschüttert werden?

264 Das Thema der Feststellbarkeit der Eignungsstörung kommt auch in den Gesetzesmaterialien in Betracht. Besonders problematisch ist für Arndt (Arndt, Sten. Ber. BT, 191. Sitzung vom 7. 2. 1957, S. 10916 A), dass die den inneren Frieden gefährdende Weise zu einem Tatbestandsmerkmal wird, dessen Feststellung dem Richter aufgegeben wird. Wegen ihrer mangelnden Feststellbarkeit im Wege des gerichtlichen Beweises und der Subjektivität des Merkmals ergibt sich aus der Argumentation Arndts, dass das Merkmal der Friedensgefährdung als reines Werturteil charakterisiert wird, da sich das Vorliegen einer Friedensgefahr und somit die Strafwürdigkeit der Äußerung je nach Beurteiler variiert („Der Unterschied liegt ausschließlich in den Gedanken.“): „Meine Damen und Herren, stellen Sie sich doch bitte einmal vor: Wie und mit welchen Beweismitteln soll das Schöffengericht in Siegburg oder der Amtsrichter in Regensburg oder die Strafkammer in Schleswig in einer allgemeingültigen und objektiv feststellbaren Weise darüber urteilen, ob der innere Friede gefährdet ist? Das ist restlos unmöglich. Das ist ein rein subjektives Werturteil, das der eine Mann in Siegburg völlig anders fällen wird als der andere in Regensburg oder in Schleswig. Ob man bestraft wird, hängt also ausschließlich vom Zufall ab, nämlich davon, wie der Richter in Schleswig oder der in Siegburg darüber denkt. Ob der innere Friede gefährdet ist, läßt sich eben, wie jedermann einsieht, mit rechtsstaatlichen Beweismitteln nicht mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ermitteln. An die Stelle der Wahrheit, die in einem freiheitlichen Rechtsstaat allein die Grundlage für eine Strafe bilden kann, tritt hier das reine Werturteil; der eine glaubt, daß eine Handlung den inneren Frieden gefährde, und der andere hält sie für unbedeutend und belanglos.“ Zweitens wird die Frage der Feststellbarkeit der Friedensgefährdung auch in den Niederschriften mit Bedenken erörtert. Besonders wird die Schwierigkeit betont, sowohl objektiv eine Gefährdung des öffentlichen Friedens festzustellen, als auch nachzuweisen, dass der Täter hinsichtlich der Gefährdung mindestens mit dolus eventualis gehandelt hat. Zur Beseitigung dieser Hindernisse wurde von Gallas die Einführung des abstrakteren Merkmales der „Eignung, den öffentlichen Frieden zu gefährden“ vorgeschlagen. Dieser Vorschlag sollte dazu dienen, anhand der abstrakten Gewichtigkeit der Handlung auf die Feststellung der konkreten Gefährdung zu verzichten, dazu Fritz, Gallas, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 13. Bd., Besonderer Teil, 2. Lesung, S. 120, 122. 265 Fischer, GA 1989, 451. 266 „Empirische Gegebenheit“ nennt ihn Fischer, siehe Fischer, GA 1989, 451.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Auch wenn man diese Schwierigkeit überwindet, stellt sich die – mit dem Thema ihrer Vagheit verwandte – Problematik der Nachweisbarkeit einer Beeinträchtigung der subjektiven Komponente. Da es sich um ein innerliches Element handelt, ist sie kaum möglich. Anders als bei Individualrechtsgütern wie dem Leben, bei denen der Nachweis einer Verletzung unproblematisch erscheint, ist eine Beeinträchtigung der innerlichen Komponente des Friedens nur mit psychischen Mitteln möglich. Die Schwierigkeit wird verschärft, wenn man bedenkt, dass es auch unklar ist, bei wie vielen betroffenen Angehörigen von Bevölkerungsteilen eine Erschütterung ihres Vertrauens ermittelt werden soll. Noch problematischer wird diese Ermittlung, wenn man den genauen Wortlaut des Tatbestandsmerkmals bedenkt: nicht eine Störung oder Gefährdung, sondern eine Eignung zur Störung ist nachzuweisen267. Entsprechend können auch gegen die objektive Komponente Bedenken erhoben werden. Eine absolute Abwesenheit von Rechtsverletzungen und somit eine Existenz des objektiv verstandenen öffentlichen Friedens in Reinform ist keine realistische Erwartung, sodass man im Voraus von einem nur ideell vorhandenen Zustand einer Rechtssicherheit reden kann. Aus diesen Argumenten ergibt sich eine Eingrenzung des öffentlichen Friedens. Wie es sich aus der vorgeführten Diskussion ergibt, verfügt auch die subjektive Komponente des Begriffes wie das „psychische Klima“ oder das Vertrauen in die Rechtssicherheit nicht über die minimale Klarheit, um mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar zu sein. Diese Unbestimmtheit verhindert anschließend auch den Nachweis einer Beeinträchtigung, sodass man diese Komponente ablehnen muss. dd) Kein Schutz von Gefühlen Der Erlass von Strafdrohungen dient der Koexistenz der Bürger in Frieden und Freiheit. Der Gesetzgeber handelt allerdings auf dieser Mission nicht willkürlich. Er ist vielmehr rechtsstaatlich begrenzt auf Eingriffe zum Schutz von Rechtsgütern in der Sphäre der Äußerlichkeit268. In Anbetracht dessen ist die Rechtsgutsqualität des öffentlichen Friedens umstritten. Die problematische Rechtsgutsqualität der subjektiven Komponente des öffentlichen Friedens lässt sich weiter anhand der Grenzen des Rechtsgutsbegriffes darlegen. Die erforderliche Äußerlichkeit des Schutzes von Rechtsgütern schließt, wie bereits erwähnt, Gefühle vom Kreis der legitimen Rechtsgüter aus. Wie verwerflich Eingriffe in das Innerliche der Bürger auch sein mögen: der strafrechtliche Schutz dieser Emotionen ist nicht legitim. Auch im Fall einer breiten Auslegung des Friedens, muss eine Legitimation verweigert werden. Definiert man die Beeinträchtigung des subjektiv verstandenen öffentlichen Friedens – laut den Ergebnissen der Materialien der Großen Straf267 Zur Problematik der Abgrenzung zwischen der Gefährdung und der Störung des öffentlichen Friedens, vgl. Fischer, NStZ 1988, 161. 268 BVerfG, 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, JuS 2010, 558, 560.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

rechtskommission – als Gefühl des Abscheus in der Bevölkerung269, ist auch in diesem Fall eine Rechtsgutsqualität zu bestreiten. Denn genauso wie bei Gefühlen kann ein Schutz von moralischen Vorstellungen oder Sitten keine Strafdrohung legitimieren. Das Gleiche gilt für den als „Wertkonsens“270 interpretierten öffentlichen Frieden oder „das, was alle wollen sollen“271. Eine Wahl zwischen Gefühlsorientierung und einem kollektiven Diktat von Werten legitimiert eine Strafandrohung nicht. ee) Der Schutz vor einer Vergiftung des psychischen Klimas Der Schutz vor einer Vergiftung des psychischen Klimas ist in den Gesetzesmaterialien ein Topos zur gesetzlichen Zielsetzung gewesen. Die bloße Erwähnung des Ziels genügt jedoch nicht, um die jeweilige Strafvorschrift zu rechtfertigen. Zunächst ist der Begriff des „psychischen Klimas“ viel zu unbestimmt, um für eine Vorschrift dienen zu dürfen272. Wie im Fall des Vertrauens in die Rechtssicherheit, ist eine Beeinträchtigung genau wie bei jedem anderen innerlichen Element nicht feststellbar, sodass ihre Bejahung vom jeweiligen Rechtsanwender und seinen Moralvorstellungen abhängt. Die Tautologie des Begriffes ist deutlich: als geschütztes Rechtsgut wird die in anderen Worten umschriebene Mission des gesamten Strafrechts dargestellt. Eine so abstrakte Zielsetzung darf keine legitimierende Rolle übernehmen, auch wenn sie in den Gesetzesmaterialien als ratio legis zum Ausdruck gebracht wird. Oder, anders formuliert: Ein Rechtsgut lässt sich nicht durch seine bloße Einbeziehung in einen Gesetzestext als solches legitimieren, sondern es übernimmt eine legitimierende Rolle, weil es dem friedlichen Zusammenleben der Bevölkerung dient. Der Schutz des psychischen Klimas der Bevölkerung kann weiter auch aus einem anderen Grund keine strafbegrenzende Funktion übernehmen – und hier ist der Auffassung des BVerG zuzustimmen273 : eine Beunruhigung im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung ist eine zulässige Kehrseite der Meinungsfreiheit. Zunächst muss auf die problematische Formulierung der Klimavergiftung hingewiesen werden, die zu einer Erfassung eines legitimen Rechtsgutes und einer zulässigen Würdigung ungeeignet ist. Dieses zeigt sich durch die Verwendung des Wortes „Vergiftung“. Mit der Formulierung soll die nicht fassbare Erschütterung 269

Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 13. Bd., BT, 2. Lesung, 1960, S. 121. 270 Fischer, NStZ 1988, 163. 271 Fischer, Warum Volksverhetzung strafbar ist, DIE ZEIT ONLINE vom 27. 10. 2015. 272 Hörnle (Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 98) hält das Rechtsgut eines toleranten Zusammenlebens nur dann für selbstständig, wenn es sich um den Schutz vor Verletzungen von Rechten bestimmter Menschen handelt. Kritisch auch Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 299. Nach Hefendehl weise eine vage Bezeichnung als „Klimadelikt“ auf die Fragwürdigkeit des Straftatbestandes hin. 273 BVerfG, 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 52, 53.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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eines psychischen oder politischen Klimas zum Ausdruck kommen. Die Bewahrung des gesellschaftlichen Klimas ist aber an sich nicht schutzwürdig274. Klimavergiftungen können in Zeiten von politischer Agitation wie etwa vor den Wahlen oder einem Referendum entstehen. Soweit sie das Ergebnis heftiger politischer Diskurse ist, ist eine temporäre „Klimavergiftung“ ein Indiz eines unbeeinträchtigten demokratischen Dialoges und folglich einer gesunden politischen Auseinandersetzung – soweit sie eine bloße Klimavergiftung bleibt. Eine Konfrontation mit störenden Ansichten gehört zum freiheitlichen demokratischen Staat, der die Auseinandersetzung mit allen Ideen fördert. Ein Verbot derartiger Auseinandersetzung zugunsten einer Verhinderung einer Provokation beeinträchtigt den pluralistischen Charakter einer demokratischen Gesellschaft; es dient nicht dem friedlichen Zusammenleben der Bürger, sondern es ermöglicht als Trojanisches Pferd die Schaffung eines polizeistaatlichen Strafrechts. Die Klimavergiftung im Sinne einer Anreizung des psychischen Klimas in der Gesellschaft ist kein Resultat von Beeinträchtigungen von Rechtsgütern. Sollte eine Beeinträchtigung von Rechtsgütern gleichzeitig eine Klimavergiftung bewirken, dann wird sie nicht als solche sanktioniert, sondern als Bereitschaft zur Begehung von weiteren Straftaten, die die Rechtsgüter des angegriffenen Kollektivs berührt. ff) Die Vagheit des Friedensbegriffes Die ungreifbare Vagheit des öffentlichen Friedens hebt zunächst Roxin275 hervor. Ausgangspunkt ist die These, dass Straftatbestände, die vage Zielsetzungen schützen, nicht legitim seien. Dies lässt sich anhand von Beispielen wie der Pönalisierung jeglichen Umganges mit Drogen oder der Volksverhetzung darlegen. Fiktive Rechtsgüter wie die „Volksgesundheit“ oder der „öffentliche Friede“ können Strafvorschriften nicht legitimieren. Diese These wird von allen Vorschriften des Strafgesetzbuches unterstützt, die genau diesen Zweck verfolgen: die Gewährleistung der Rechtssicherheit und des harmonischen Zusammenlebens durch die Abwesenheit von Rechtsgutsverletzungen. Die Vorschriften beispielsweise, die das Leben oder die körperliche Unversehrtheit schützen, greifen nicht auf den Begriff des öffentlichen Friedens zurück, um ihren Zweck zu begründen, sondern auf viel konkretere, deutliche Rechtsgüter276. Ihre Beeinträchtigung verletzt tatsächlich den öffentlichen Frieden, aber nur mittelbar277: eine Gesellschaft, in der beispielsweise das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum nicht geschützt werden, kann nicht das harmonische Zusammenleben und den öffentlichen Frieden gewährleisten. Man sieht also, dass der öffentliche Frieden allen Strafvorschriften

274 275 276 277

Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 71. Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 685 f. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 46 ff. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 47.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

zugrunde liegt und als Endziel des gesamten Strafrechts festgelegt ist278. Strafvorschriften, die nicht konkretere Rechtsgüter, sondern den vagen „öffentlichen Frieden“ schützen, sind also Leerformeln279. Eine Rechtfertigung von Vorschriften durch den öffentlichen Frieden ist nicht möglich. Sie muss auf eine konkretere Zielsetzung orientiert sein. Daraus ergibt sich ein weiterer Grund der Ungeeignetheit des öffentlichen Friedens, Strafvorschriften zu rechtfertigen. Die Legitimation einer Vorschrift anhand des öffentlichen Friedens ist nach diesem Kritikpunkt irreführend und tautologisch. Die bloße Umschreibung der Aufgabe des Strafrechts, also der harmonischen Koexistenz aller Bürger durch die Abwesenheit von Rechtsbrüchen280, d. h. zum öffentlichen Frieden, gestaltet nicht automatisch den letzteren als legitimes Rechtsgut. Eine Strafvorschrift kann nämlich kein legitimes Rechtsgut schützen, wenn dies eine Paraphrase der Summe aller Strafvorschriften darstellt. Denn in diesem Fall handelt es sich um eine getarnte Tautologie: laut gesetzgeberischem Willen wird auf den öffentlichen Frieden zurückgegriffen, um den Zustand der Rechtssicherheit zu gewährleisten. Mit anderen Worten: ein Mittel des Schutzes der Rechtssicherheit wäre der Schutz der Rechtssicherheit selbst. Dass diese Konstruktion sinnlos ist, ist offensichtlich. Ebenso ablehnend setzt sich Roxin mit der zur Legitimation von Strafnormen herangezogenen Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens auseinander281. In Fällen, in denen keine konkrete Beeinträchtigung des friedlichen Zusammenlebens dargetan ist, ist das Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens unverständlich. Sollte die Eignungsklausel als eine Missbilligung des Verhaltens oder Aufregung darüber seitens eines Teiles der Bevölkerung verstanden werden, dann kann dieses Element keine legitimierende Funktion übernehmen. Denn die Aufregung über eine Äußerung oder ein Verhalten eines Dritten stellt keinen Grund zur Bestrafung dar. Aus diesem Grund lässt sich ableiten, dass eine Strafdrohung nicht auf das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens zurückgreifen sollte. Die Pönalisierung eines strafwürdigen Verhaltens ist anhand von fassbaren, verständlichen Merkmalen zu legitimieren. Dies zeigt sich besonders im Fall des Volksverhetzungstatbestands: Entweder liegt eine Beeinträchtigung der friedlichen Koexistenz der Bürger durch die Hetze gegen Minderheiten (§ 130 Abs. 1 278 Wie bereits erwähnt weist auch Streng auf die Unzulänglichkeit des Begriffes des öffentlichen Friedens hin (JZ 2001, 205). Nach Streng ist der öffentliche Frieden ein unscharfes Meta-Rechtsgut, das ungeeignet sei, eine Legitimationsrolle für Strafvorschriften zu übernehmen. Der Begriff sei tatsächlich unbefriedigend, einzelne Vorschriften zu legitimieren, da das gesamte Strafrecht wie auch das Polizeirecht dem Schutz des öffentlichen Friedens als Aufrechterhaltung aller Normen dient. 279 Die Funktion des öffentlichen Friedens als Endzieles der Summe aller Strafnormen hebt auch Beisel hervor (NJW 1995, 997, 1000). 280 Dass eine objektive Rechtssicherheit niemals in Reinform in einer Gesellschaft existiert, ist auch ein weiteres Argument gegen die Rechtsgutsqualität des öffentlichen Friedens (So besonders Kargl, Jura, 2001, 176, 180). 281 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 47 ff.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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StGB) vor, so dass der Rückgriff auf einen unverständlichen Begriff zur Legitimation der Vorschrift überflüssig und irreführend ist, oder es liegt keine Gefährdung oder Störung vor, wie im Fall der im § 130 Abs. 3 StGB geschützten historischen Wahrheit, so dass der Rückgriff auf die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens, um ein zur Kriminalisierung ungeeignetes Verhalten zu legitimieren, nicht überzeugend ist282. Unter Berücksichtigung der Unschärfe des Begriffes ist es erstaunlich, dass eine kritische Stellung nicht von der herrschenden Meinung, sondern nur vereinzelt hinsichtlich der Eigenständigkeit des öffentlichen Friedens geäußert wird283. Fischer weist zunächst auf das Verhältnis der objektiven und subjektiven Komponente hin284. Kritisch werden der Zustand der Rechtssicherheit und das Bewusstsein von diesem Zustand, die eines inneren Bezuges entbehren, sowie die Unselbstständigkeit des objektiven öffentlichen Friedens betrachtet. In Frage wird anschließend der objektiv als Gesichertheit des Rechts verstandene öffentliche Frieden gestellt. Zutreffend wird hervorgehoben, dass der öffentliche Frieden als die Summe der aufrechterhaltenen Rechtsvorschriften begriffen wird und umgekehrt durch jeden Rechtsbruch beeinträchtigt wird285. Daraus ergibt sich ein ausschließlich positivistisch wahrgenommener Begriff, außerhalb dessen keine Friedensstörung denkbar ist. Somit zeigt sich, dass mangels der Eigenständigkeit des zu schützenden Rechtsgutes auch die Pönalisierung der als Friedensstörung getarnten Rechtsverletzungen der Eigenständigkeit entbehrt, da in den friedensschützenden Strafvorschriften die Summe der schon pönalisierten Handlungen inbegriffen ist286. Kritisch betrachtet Fischer nicht nur den objektiv verstandenen öffentlichen Frieden, sondern auch seine subjektive Komponente287. Kritik wird hier an der Vagheit des sozialempirischen Elementes des Bewusstseins sowie am kaum auszumachenden Unterschied zwischen der unmessbaren Gefährdung und der Störung 282

Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 48. Streng, in: FS-Lackner, S. 501, 510; Fischer, NstZ 1988, 159. 284 Fischer, NstZ 1988, 161. 285 Fischer, NstZ 1988, 161. 286 Die Inkonsistenz wird lakonisch von Schroeder als „Straftaten gegen das Strafrecht“ dargestellt: Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 28. 11. 1984, 1985; Fischer, NstZ 1988, 162. 287 Fischer, NstZ 1988, 162. Eine erwähnenswerte Abweichung von der herrschenden Auslegung des Begriffes des öffentlichen Friedens findet man auch bei Lömker (Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen § 130 StGB, 1970). Der Verfasser vertritt die Überzeugung, dass die subjektive Komponente abzulehnen sei, weil die subjektive Theorie auch nicht schutzwürdige Fälle erfasst, in denen die Gefahr für das Friedensgefühl der Bevölkerung auf Über- oder Unempfindlichkeit beruht (S. 188). Lömker lehnt somit ausdrücklich die subjektive Komponente des öffentlichen Friedens ab und definiert den öffentlichen Frieden (S. 189 f.) als eine objektiv-rechtliche Vorstellung vom friedlichen Zusammenleben der Bevölkerung einer Gebietseinheit ohne Rücksicht auf tatsächliche Friedensempfindungen in der Bevölkerung. Daher ist klar, dass dieses Verständnis des Begriffes sich am Polizeirechtsbegriff der öffentlichen Sicherheit orientiert. 283

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

des öffentlichen Friedens geübt. Mit Bedenken wird insbesondere die auf Rechtsanwendungsebene weitreichende und nicht überzeugende Auslegung des § 130 StGB betrachtet, indem eine friedensstörende oder friedensgefährdende Beschimpfung im Sinne des § 130 StGB (a. F.) bejaht wird, wenn sie geeignet ist, Dritte ebenfalls zum Beschimpfen zu veranlassen. Die in Betracht kommende Subsumtion der Aufstachelung zur Beschimpfung unter den Volksverhetzungsparagraphen als friedensstörende oder friedensgefährdende Tathandlung weicht vom Wortlaut der Vorschrift ab, da die Vorschrift explizit keine dritte zum Beschimpfen angereizte Person verlangt, sondern die beschimpfende Tathandlung des Täters. Aus einem weiteren Grund sei diese Konstruktion fraglich: im Rahmen dieser Auslegung lässt sich vom Rechtsanwender das innerliche subjektive Element des Rechtsbewusstseins mit der möglichen Neigung eines Dritten zu Rechtsbrüchen gleichsetzen; es wird nämlich die Gefahr einer Gefahr unter Strafe gestellt, deren primäres Merkmal ihre Innerlichkeit ist: eine Neigung oder Tendenz bleibt oft in der Sphäre des nicht Verwirklichten. Die Vagheit des Begriffes wird sowohl auf sprachlicher als auch auf begrifflicher Ebene nach dieser Ansicht umso mehr verschärft, wenn der Gesetzgeber auf rechtspolitische Formeln wie das „psychische Klima“ zurückgreift. Unter Berücksichtigung der äußerst abstrakten und unbestimmten Merkmale des Begriffes überrascht es, dass die Bedingung der Eignung zur Friedensstörung eine restriktive Rolle übernimmt. Ebenso unzulänglich findet Stegbauer288 den Begriff des öffentlichen Friedens. Stegbauer lehnt die herrschende Meinung ab, die den öffentlichen Frieden als Schutzgut des § 130 Abs. 3 StGB sieht. In Anlehnung an das herrschende Verständnis des Begriffes findet Stegbauer den als Schutzgut betrachteten öffentlichen Frieden nicht überzeugend289. Vor allem sei nicht ersichtlich, in welcher Art der objektive öffentliche Frieden, also die Gesichertheit des Rechts, durch die Tathandlung des § 130 Abs. 3 StGB beeinträchtigt werde. Sollte aus dem öffentlichen Frieden, wie von Jahn konstruiert,290 ein Vorfeldschutz von anderen Rechtsgütern wie Leib, Leben, Freiheit, Eigentum und Vermögen abgeleitet werden, dann lasse sich wiederum nicht erklären, wie diese Rechtsgüter durch das Leugnen, Billigen oder Verharmlosen des Holocaust gefährdet würden. Eine vorstellbare Konstruktion wäre im Rahmen des § 130 Abs. 3 StGB das Verständnis des öffentlichen Friedens als Schutzes des postmortalen Achtungsanspruchs oder der Menschenwürde, die allerdings laut Stegbauer bereits im § 130 Abs. 1 StGB geschützt seien. Hiermit zeigt sich, besonders angesichts der fehlenden eigenständigen Rechtsgutsqualität des objektiv verstandenen öffentlichen Friedens, wie problematisch der Rückgriff auf diesen Begriff in Strafnormen ist. Anschließend weist Stegbauer auch auf die Eigenständigkeit der Rechtsgutsqualität des subjektiv verstandenen öffentlichen Friedens hin mit Beispiel des § 130 Abs. 3 StGB: das Bedrohungsgefühl könne laut 288

Stegbauer, NStZ 2000, 281, 283. Auch Frommel (KJ 1995, 407) weist darauf hin, man verfehle die ratio legis, wenn man § 130 StGB als Delikt gegen den öffentlichen Frieden umdeute. 290 Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 175 ff. 289

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Stegbauer nur mittelbar als Reflex tangiert werden, wenn sich durch die Tathandlungen des § 130 Abs. 3 StGB ein Bedrohungsgefühl über die Furcht von Straftaten ergebe, die in einem aufgehetzten politischen Klima gefördert werden. Folglich sollte auf den subjektiven öffentlichen Frieden als mittelbaren Reflex von potenziellen Straftaten verzichtet werden. gg) Ergebnis Aus der vorgeführten Diskussion ergibt sich, dass der öffentliche Frieden in jeder möglichen Deutung (objektiv-subjektiv, rein objektiv oder rein subjektiv) kein legitimes Rechtsgut begründen kann. Zunächst ermöglicht die erhebliche Vagheit des Begriffes291, die sich durch die verschiedenen Deutungen zieht, keine Übernahme straflegitimierender Aufgaben. Auch wenn der Begriff in seinem objektiven Verständnis ausgelegt wird, kann er nicht zur Rechtfertigung einzelner Strafdrohungen herangezogen werden; denn dieser ist der Endzweck aller Strafnormen. Folglich ist der öffentliche Frieden als geschütztes Rechtsgut des § 130 StGB abzulehnen. 2. Menschenwürde a) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen im Schrifttum Obwohl das in § 130 Abs. 1 und 3 StGB geschützte Rechtsgut nach der herrschenden Meinung der öffentliche Frieden ist, kommt bei einem großen Teil des Schrifttums auch die Menschenwürde als Schutzgut in Betracht. Die Menschenwürde wird überwiegend als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB neben dem öffentlichen Frieden nur kumulativ bzw. sekundär angesehen292. Vereinzelt wird die Menschenwürde als das primär geschützte Rechtsgut betrachtet293. Die Dominanz der Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut ist allerdings teilweise auf die alte Fassung des Volksverhetzungsparagraphen zurückzuführen, der vor dem Ver-

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Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 41 f. Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 2; Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 3; Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 4, der der Menschenwürde eine qualitative Eigenschaft zuerkennt, indem er sie als Menschenwürde von mehreren, zu Bevölkerungsteilen zusammengefassten Menschen bezeichnet; Heintschel-Heinegg/Rackow, StGB 2021, § 130 Rn. 10; nur mittelbar neben dem Allgemeininteresse an einem friedlichen Zusammenleben im Staat sei die Menschenwürde geschützt nach Fischer, StGB § 130 Rn. 2; Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 2, nach dem Abs. 1 und 2 auch die Würde des einzelnen Menschen und Abs. 3 und 4 die persönliche Würde der Überlebenden des Holocaust schützen; Römer, NJW 1971, 1735. 293 Rauer, Rechtliche Maßnahmen gegen rechtsextremistische Versammlungen, 2010, S. 147; Stegbauer, Rechtsextremistische Propaganda im Lichte des Strafrechts, 2000, S. 172; Frommel, KJ 1995, 498, die als geschütztes Rechtsgut der Vorschrift „die Achtung der Menschenwürde aller Menschen als Gleiche“ bezeichnet. 292

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

brechensbekämpfungsgesetz von 1994 einen Angriff auf die Menschenwürde forderte. Eine von der ausdrücklichen Einbeziehung der Menschenwürde in der alten Fassung des Volksverhetzungsparagraphen unabhängige Argumentation liefert Streng294. Der Menschenwürdeschutzcharakter ergebe sich aus der historischen Dimension des Gesetzgebungsverfahrens bei § 130 StGB. Die Vorschrift, die in den Gesetzesmaterialien als Norm zum Schutz der Menschlichkeit bezeichnet wird295, beabsichtigte, Angriffe gegen schutzwürdige Minderheiten strafrechtlich zu bekämpfen. Die Verfolgung von Minderheiten während der nationalsozialistischen Herrschaft diente als Hintergrund der gesetzgeberischen Bestrebung, die Gefährdung von schutzbedürftigen Minderheiten zu verhindern, deren Gruppenzugehörigkeit zum identitätsprägenden Stigma wird. Genau diese Objektivierung des Menschen stellt eine Menschenwürdeverletzung dar, und ihre Bekämpfung wird zur Priorität des Gesetzgebers. Streng betrachtet aber die Menschenwürde nicht in ihrem herrschenden Verständnis, dem anschließend nachgegangen wird, sondern als ein Selbstverständnis der Gesellschaft. Menschenwürdeverletzungen durch Entindividualisierung von Menschen seien wegen ihrer unmenschlichen Gesinnung strafwürdig; unter diesem Blickwinkel sei die im § 130 StGB geschützte Menschenwürde nicht die Würde der einzelnen Zugehörigen der angegriffenen Bevölkerungsteile, sondern als oberster Wert und Verfassungsprinzip der Gesamtgesellschaft zu verstehen. b) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen in der Rechtsprechung Anders als das Schrifttum hat sich die Judikatur nur vereinzelt mit der Frage der Menschenwürde als Rechtsgut des § 130 StGB befasst. So lehnt das OLG München296 die Menschenwürde als Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen ab und greift auf den öffentlichen Frieden zurück. Den öffentlichen Frieden als geschütztes Rechtsgut des § 130 StGB hebt auch das OLG Celle hervor297, ohne allerdings seine Stellungnahme zur Menschenwürde ausführlich aufzuklären298. Ablehnend betrachtet das OLG Stuttgart den Stellenwert der Menschenwürde299, nachdem § 130 StGB den öffentlichen Frieden schützt. Die Einbeziehung des Tatbestandsmerkmales eines „Angriffes auf die Menschenwürde“ in der alten Fassung der Vorschrift habe „den Sinn einer zusätzlichen Einschränkung, mit der sichergestellt werden soll, daß 294

Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 506 ff. Dazu Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979. 296 OLG München, Beschluss vom 25. 3. 1985, NJW 1985, 2430; ähnlich OLG München, Beschluss vom 6. 3. 1995 – 2 Ws 1369/93, KirchE 33, 54 – 58 (1998) 297 OLG Celle, Urteil vom 14. 1. 1997, NStZ 1997, 495 – 496. 298 „Das in § 130 StGB geschützte Rechtsgut ist der öffentliche Frieden, daneben möglicherweise auch die individuelle Menschenwürde“. 299 OLG Stuttgart, Beschluss vom 10. 4. 1992 – 1 Ws 44/92, Justiz 1992, 186 – 187. 295

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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nur besonders massive Diffamierungen und Diskriminierungen als strafbare Volksverhetzung angesehen werden können“. Ein Schutzgut der Vorschrift ist die Menschenwürde allerdings nicht, „weil Angriffe auf die Menschenwürde, die nicht zur Störung des öffentlichen Friedens geeignet sind, dem Tatbestand nicht unterfallen“. Für diese Auffassung spricht laut der Argumentation des Gerichtes die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, nach deren Neufassung der Angriff auf die Menschenwürde eine restriktive Funktion übernehmen sollte. Ablehnend argumentiert auch das BVerfG in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB (Wunsiedel-Beschluss)300, indem er betont, dass der Gesetzgeber den § 130 Abs. 4 StGB auf den Schutz des öffentlichen Friedens gestützt habe. Das Tatbestandsmerkmal „in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise“ übernehme eine eingrenzende Rolle als Modalität. Angesichts der strengen Voraussetzungen für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung fällt der Schutz der Würde der Opfer nur ausnahmsweise mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 2 GG zusammen. Offen blieb dagegen die Frage im Beschluss des OLG Stuttgart vom 23. Januar 2002301, ob die Menschenwürde das geschützte Rechtsgut des § 130 StGB sei. In weiteren Urteilen wird die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut ohne eigene Begründung302 herangezogen. In seinem Urteil vom 5. August 2009303 hat das BVerwG die Menschenwürde als kumulatives – neben dem öffentlichen Frieden – geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB herangezogen. In seiner Argumentation tangiert die Leugnung des Holocaust „die Würde und das Ansehen der Überlebenden sowie der Ermordeten und ihrer Angehörigen in einem für das ganze Gemeinwesen unerträglichen Maße“. c) Der Inhalt des Begriffes der Menschenwürde aa) Die Menschenwürde nach Kant Ungeachtet ihrer historischen Dimension durch ihre Verankerung im Lichte der grausamen Kriegserlebnisse ist die Menschenwürde keine Frucht der Nachkriegszeit. Der Mensch und seine Subjekthaftigkeit nehmen im europäischen Denken eine 300

BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 55. OLG Stuttgart, Beschluß vom 23. 1. 2002 – 1 Ws 9/02, NJW 2002, 2893, 2894: „Nicht zu entscheiden hatte der Senat die auch nach der Neufassung des § 130 StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 umstrittene Frage, ob die Bestimmung neben dem öffentlichen Frieden auch die Menschenwürde von Einzelpersonen schützt. Ob der Senat an der letztgenannten Entscheidung festhält, kann derzeit offen bleiben.“ 302 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 6. 2006 – 2 BvR 1421/05: „Denn individualisiertes Schutzgut der Norm ist die Menschenwürde“. 303 BVerwG, Urteil vom 5. 8. 2009 – 6 A 3/08, NVwZ 2010, 446, 448; die persönliche Würde sowie den persönlichen Achtungsanspruch der Betroffenen hebt der BGH neben den öffentlichen Frieden als Rechtsgüter des § 130 Abs. 3 StGB hervor (BGH, Beschluss vom 3. 5. 2016 – 3 StR 449/15). 301

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

prominente Stelle ein304. Wenn auch der Würdebegriff als Folge dieser Individualität einen moralischen Anspruch umschreibt, vermag er auch in dieser frühen Form als Ausgangspunkt der Menschenwürde als Rechtsbegriffes zu dienen. Anknüpfend an ein umfassendes Vorarbeiten verschiedenster Vorgänger305 beschrieb Kant den Menschenwürdebegriff in Umrissen in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Die Bestimmung der Menschenwürde in diesem Kantischen Werk erfolgt durch eine Kontrastierung zwischen Preis und Würde306. Daher hat im „Reich der Zwecke […] alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“307. Die Autonomie des Menschen als vernünftigen Wesens, die seine Würde begründet, liegt der zweiten Formel des kategorischen Imperatives zugrunde: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“308. Während also die Sachen einen Preis haben, ist der Mensch ein vernünftiges Wesen, ein Zweck an sich, dem kein Preis, sondern eine Würde zukommt309. Obwohl sich Kant mit dem Würdebegriff in moralphilosophischem Kontext befasste, lässt sich das Kantische Würdekonzept als Rechtsbegriff umschreiben. Kants Beitrag zur Bestimmung der Würde ist nicht auf die moralphilosophische Sphäre beschränkt, sondern besitzt eine rechtliche Anwendungsdimension. Diese Übertragung in die rechtliche Sphäre ist nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, um das menschliche Subjekt-sein-können anzuerkennen und zu wahren. Das im Mittelpunkt stehende Instrumentalisierungsverbot des Menschen ist übrigens auch in Kants rechtsphilosophischen Schriften immanent. In der Metaphysik der Sitten liefert Kant seine Definition der „richterlichen Strafe“, die auf die moralphilosophisch formulierte Würde des Menschen Bezug nimmt, und wendet gleichzeitig die zweite Formulierung des kategorischen Imperatives im Strafrecht an: „Richterliche Strafe (poena forensis), die von den natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß ein Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur 304

Schürmann, DZPhil, 59 (2011), 1, 34 ff. Boethius definierte in seinem „Contra Eutychen et Nestorium“ das Individuum als „rationabilis naturae individua substantia“ mit Bezug auf die biblische Dreieinigkeit. Als Vorläufer des Menschenwürdebegriffes können weiterhin die Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie ein gesellschaftlich verstandenes Konzept der dignitas von Cicero, erläutert in De officiis und De republica, aufgefasst werden. Mehr dazu Cattaneo, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, S. 24. 306 Luf, in: Festschrift für E.A. Wolff, 1998, S. 308 f.; von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, 2009, S. 9 ff. 307 Kant, AA VI, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 434. 308 Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 429. 309 Hruschka, JZ 1990, 1 ff., 10. 305

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat, denn der Mensch kann nie bloss als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wo wider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüssen gar wohl verurteilt werden kann“310. Im Rahmen der Diskussion taucht oft die Frage der Universalisierbarkeit und Verallgemeinerbarkeit des kantischen Würdekonzeptes auf311; die Frage nämlich, ob die kantische Würde jedem Menschen allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Spezies oder erst bei Vorhandensein bestimmter Fähigkeiten oder Eigenschaften zukommt. Eine systematische Lesung des kantischen Würdekonzeptes bejaht die gefragte Universalisierbarkeit der Würde, denn, wie in der aristotelischen Politik die Teleologie des Zoon Politikon jedem Menschen von Natur aus innewohnt312, „eben so ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches, und es gibt keine Pflicht sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich“313. Der Mensch als Vernunftwesen, der homo noumenon, ist Träger von Würde und Zweck an sich selbst allein kraft seines Menschseins314. bb) Der moderne Begriff der Menschenwürde Kants hier in Umrissen geschilderte Deutung der Menschenwürde legt die Frage nach den Folgen dieser Konzeption für das Verständnis des Würdebegriffes in unserer Zeit nahe. Die Anknüpfung des modernen Würdeverständnisses an das Instrumentalisierungsverbot zeigt, dass die Kantische Moralphilosophie die moderne rechtliche Tradition stark beeinflusst hat. Die systematische Fundierung der Selbstzweckhaftigkeit als Würdekonzept wurde bekanntlich vom BVerfG in seiner prominenten Objektformel systematisiert, die zwar nicht explizit auf Kants Erwägungen Bezug nimmt, aber trotzdem den Einfluss des Konzeptes auf die spätere Judikatur eindrucksvoll belegt: der Mensch als vernünftiges Wesen muss ein Zweck an sich selbst bleiben und darf nie zur vertretbaren Größe herabgewürdigt werden315. Diese Anerkennung der Selbstzweckformel als Orientierungspunkt des Bundesverfassungsgerichtes illustriert überzeugend, dass die Formel nicht nur als Kriterium des moralischen Handelns, sondern auch als Beurteilungsprinzip für das Recht fungieren316 kann. 310

Kant, AA VI, Die Metaphysik der Sitten, S. 331. Zu der Frage des persönlichen Geltungsumfanges des Kantischen Würdekonzeptes, s. Luf, in: Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 321 ff.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG, 1990, 31 ff. 312 Aristoteles, Politik I, 1991, S. 13. 313 Kant, AAVI, Die Metaphysik der Sitten, S. 400; Seelmann, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde – Begründung, Konturen, Geschichte, 2008, S. 77. 314 Hruschka, ARSP, Vol. 88, No. 4 (2002), 465 ff. 315 Dürig, AöR, 81 (1956), 117 ff. 316 Luf, in: Festschrift für E. A. Wolff, 1998, S. 319. An ein Instrumentalisierungsverbot des Menschen scheint auch Beccarias Werk im achtzehnten Jahrhundert orientiert zu sein, indem er 311

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Die historische Einleitung vermag nicht nur, das frühe Würdeverständnis zu erläutern, sondern auch als Ausgangspunkt der Darstellung der modernen Würdeproblematik und ihrer Rechtsgutsqualität zu dienen. Denn der Rechtsbegriff der Würde ist erst im 20. Jahrhundert in der deutschen Rechtsordnung sowie völkerrechtlich verankert worden. Zunächst wird auf den Begriff im Art. 151 der Weimarer Verfassung zurückgegriffen317. Doch begann die systematische, intensive rechtliche Auseinandersetzung mit der Menschenwürde erst später als Reaktion auf die Grausamkeiten des zweiten Weltkrieges. Die erste Verankerung des Rechtsbegriffes erfolgte 1945 in der Charta der Vereinten Nationen318 mit dem Hinweis in der Präambel auf den Glauben „an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Person“319. Eine explizite Verankerung der Menschenwürde findet sich drei Jahre später in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte320. Im ersten Absatz der Präambel unterscheidet sich die Formulierung von der UN-Charta: der Glaube an die Würde der menschlichen Person wird von der Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen ersetzt, die die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet. Der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung verankert weiterhin den vorstaatlichen Charakter der Menschenwürde321 („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“). Die Beratungen der Menschenrechtskommission heben ausdrücklich die Unklarheiten des damals neuen Rechtsbegriffes hervor, besonders die starken Schwankungen des Begriffes zwischen seiner Zurückführung auf ein göttliches Element und seine Legitimation durch die menschliche Vernunft und das Gewissen sowie seines Bezuges auf metaphysische Bekenntnisse322. eine Herabwürdigung des Menschen zur Sache als unzulässig beschreibt („Wo die Gesetze erlauben, daß der Mensch unter gewissen Voraussetzungen aufhört, Person zu sein, und zur Sache wird, dort gibt es keine Freiheit.“), Beccaria, Von den Verbrechen und den Strafen [1764], 2005, S. 77. 317 „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“. 318 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (BGBl. 1973 II S. 431). 319 Es gilt allerdings als Ironie der Geschichte, dass die erste Verankerung der Menschenwürde auf einen Vorschlag des Ministerpräsidenten Jan Christiaan Smuts des Staates der festgelegten Rassentrennung zurückgeht, nämlich Südafrikas, s. Schüttauf, in: Brudermüller/ Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde – Begründung, Konturen, Geschichte, 2008, S. 33. Der differenzierte Textvorschlag von Smuts, der statt der Würde, die menschliche Persönlichkeit (human personality) verankern wollte, ist an einer Vorherrschaft der weißen Bevölkerungsgruppe orientiert und versuchte daher, das Würdekonzept als Sonderrecht der herrschenden Bevölkerung einzuräumen, was nicht gelang. 320 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN Doc. GA/RES 217 A (III) (10. 12. 1948). 321 Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, 2006, S. 21. 322 Die völkerrechtliche Verankerung der Menschenwürde erfolgt in zahllosen weiteren Übereinkommen mit ähnlicher Formulierung. Unter diesen zählen: das Internationale Über-

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Nicht alle Menschenrechtskonventionen nehmen aber ausdrücklichen Bezug auf die Menschenwürde. Erstaunlich ist, dass die Menschenwürde im Gegensatz zu zahlreichen anderen Übereinkommen in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 1950 nicht verankert wird. Der ehemalige Präsident des Europäischen Gerichtshofes erklärte diesen Verzicht auf eine Einbeziehung der Menschenwürde, indem er ihn als eine bewusste Entscheidung der europäischen Verfasser bezeichnet323; es war nämlich ihre Absicht, ein pragmatisches, praxisorientiertes Instrument zu schaffen, das auf konkrete Rechte zurückgreift. Obwohl die Konvention keine Bezugnahme auf die Menschenwürde enthält, bleibt diese für das Gericht nicht außer Acht. Es handelt sich dabei aber um ein differenziertes Verständnis der Menschenwürde. Sie wird nicht als selbständiges Recht geltend gemacht, sondern als ein Instrument, um die sogenannten grundlegenden Rechte der Konvention zu legitimieren, nämlich das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter (Art. 3) und das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4). Ferner kann die Menschenwürde als Abwägungskriterium besonders in Fällen dienen, die menschenwürdeverletzende Haftbedingungen betreffen324. Somit stellt die Menschenwürde für die Verfasser der Menschenrechtskonvention eine Bezugsgrundlage dar. Dass die Menschenwürde als Ausgangspunkt der verankerten Menschenrechte fungiert, bestätigt auch der EGMR, indem er betont, dass „das Wesen der Konvention selbst die Achtung der Menschenwürde und der Freiheit ist“325. einkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1965, hier ist die Rede von der „angeborenen Würde und Gleichheit aller Menschen“), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966), das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1979), das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1984), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (1989), die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vom 18. 12. 1990, das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006). Die mehrmals in den Menschenrechtskonventionen auftretende Formulierung, dass die verankerten Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde folgen, bringt den transzendentalen Charakter der Menschenrechte zum Ausdruck: Die Ableitung der Menschenrechte aus der Würde bedeutet, dass diese Rechte kein positives Recht darstellen, sondern dem Menschen inhärent sind (Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, 2006, S. 23). Weiterhin das umstrittene Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4. 4. 1997 (kritisch Tiedemann, ebenda, S. 25). 323 Costa, in: McCrudden (Hrsg.), Understanding Human Dignity, 2013, S. 393 ff. 324 EGMR, Peers vs. Griechenland, Antragsnr. 28524/95, Urteil vom 19. 4. 2001; EGMR, Florea vs. Rumänien, Antragsnr. 37186/03, Urteil vom 14. 9. 2010; EGMR, X vs. Türkei, Urteil vom 9. 10. 2012, Antragsnr. 24626/09; EGMR, Valasˇinas vs. Litauen, Antragsnr. 44558/98, Urteil vom 24. 7. 2001; EGMR, Iwan´czuk vs. Polen, Antragsnr. 15196/94, Urteil vom 15. 11. 2001. 325 EGMR, Christine Goodwin vs. Vereinigtes Königsreich, Antragsnr. 28957/95, Urteil vom 11. 7. 2002.

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cc) Verankerung der Menschenwürde im Grundgesetz Im Grundgesetz von 1949 nimmt die Menschenwürde eine prominente Stelle im ersten Artikel ein, in dem statuiert wird: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Wie bei den internationalen und regionalen Übereinkommen ist dieser Vorrang der Menschenwürde als oberster Grundwert auf historische Gründe zurückzuführen und das Ergebnis einer einschlägigen Debatte im Parlamentarischen Rat. Die Frage nach der fundamentalen Norm des neuen Grundgesetzes nach den Kriegserlebnissen brachte den Urgrund des Schutzes der Individualität zum Ausdruck. Nachdem ein Hinweis auf das Göttliche als moralische Legitimierung scheiterte, wurde ein Rückgriff auf die Menschenwürde als Übernahme politischer Verantwortung des Bürgers verstanden, um eine Wiederbelebung der nationalsozialistischen Schrecken zu verhindern326. Diese Berufung auf die Menschenwürde als fundamentale Norm diente als symbolische Reaktion auf die industrialisierte Missachtung der Menschenwürde im nationalsozialistischen Regime und realisierte gleichzeitig die Übernahme einer moralischen Gegebenheit in die Ebene des rechtlichen Sollens327. Was versteht man aber unter Menschenwürde? Gleichzeitig stellt ihre deklaratorische Verankerung weitere Fragen: Ist der Begriff überhaupt bestimmbar oder kann er ausschließlich als sittliche Erklärung in der Präambel von Menschenrechtskonventionen und Verfassungen dienen? dd) Der Inhalt der Menschenwürde im Schrifttum Auch wenn der Menschenwürdebegriff in der modernen Theorie ausführlich bearbeitet worden ist, verstand sich seine Bestimmbarkeit unter den Schöpfern des Grundgesetzes nicht von selbst. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuß erläuterte die Menschenwürde im Parlamentarischen Rat als „eine nicht interpretierte These“328, die theologisch, philosophisch oder auch ethisch aufgefasst werden kann. 326 Möllers, Das Grundgesetz – Geschichte und Inhalt, 2009, S. 30; Dürig, in: Brudermüller/ Seelmann, Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, 2008, S. 173. Selbstverständlich taucht die Menschenwürde nicht nur im Grundgesetz als fundamentale Norm auf. Die Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern lautet wie folgt: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung“. 327 Dürig, in: Brudermüller/Seelmann, Menschenwürde: Begründung, Konturen, Geschichte, 2008, S. 173. 328 Anders Nipperdey (in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 1), der eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Definitionsfrage überflüssig findet. Für ihn handelt es sich bei der Menschenwürde um den „Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin“.

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Als fundamentale Norm ist die Menschenwürde Ausgangspunkt des anthropozentrischen Charakters des Grundgesetzes329. Sie gewährt einen inneren und zugleich sozialen Wert- und Achtungsanspruch330. Angesichts der inhaltlichen Dichte und Unbestimmtheit des Begriffes gibt es keine eindeutige Definition, die eine einfache und unzweifelhafte Subsumtion ermöglichen könnte331. Als erkennbarer Gestaltungsspielraum sollte allerdings der Schutz eines engeren Bereiches der persönlichen Selbstbestimmung, die Gewährleistung seelischer und körperlicher Integrität und der soziale Geltungsanspruch des Einzelnen sowie der Schutz vor Willkür332 wahrgenommen werden. Es lässt sich aus den erwähnten Deutungen der Menschenwürde ableiten, dass der Begriff eine gewisse Unschärfe aufweist. Diese Unschärfe bedeutet nicht sogleich, dass er nicht als Rechtsbegriff dienen kann333. Er muss allerdings aufgeklärt werden, um das verfassungsrechtlich verankerte Bestimmtheitsgebot erfüllen zu können. Woran liegt aber diese definitorische Enthaltsamkeit sowohl auf Gesetzgebungsebene als auch im Schrifttum? Blickt man auf die bisherigen theoretischen Annäherungen, so stellt man fest, dass die Konzepte auf moralische Gegebenheiten Bezug nehmen. Ein Rückgriff aber auf sittliche Prinzipien zur Legitimierung von Rechtsbegriffen ist unzulässig. Erstens, weil es in der Gesellschaft keinen Konsens über moralische Vorstellungen gibt und, zweitens – und wichtiger –, weil die Rechtsbegriffe nicht zu einer de facto einklagbaren Verwirklichung irgendwelcher Moralvorstellungen dienen. Auch wenn man aber – aufgrund der umstrittenen, nicht rechtlichen Kriterien – auf eine Definition verzichtet, kann ein Auslegungsprozess den Begriff abgrenzen. Diesen Zweck erfüllt die heute herrschende Deutung, die die Menschenwürde negativ eingrenzt und auslegt: Nach der sogenannten Objektformel, die von Dürig entwickelt wurde und an Kants Würdeverständnis anknüpft, ist die Menschenwürde beeinträchtigt, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“334. 329

Rn. 1.

Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Auflage 2022, Art. 1

330 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, ebenda Rn. 14. Ähnlich Jarass (Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Auflage 2020, Art. 1 Rn. 6), der unter der Menschenwürde den sozialen Wert- und Achtungsanspruch versteht, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt. Unter Hinweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung definiert er die Menschenwürde einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung und prinzipielle Gleichheit aller Menschen unabhängig von ihren Eigenschaften oder Fähigkeiten. 331 Kunig/Kotzur, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 1 Rn. 32. 332 Herdegen in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 2021, Art. 1 Rn. 34 – 35. 333 Kunig/Kotzur, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rn. 30. 334 Siehe auch Baranzke, in: Zeitschrift für Menschenrechte, 2010, 10 – 24: „Als Menschenwürde wird die unbedingte Achtung bezeichnet, die jedem Menschen als Mensch, d. h. unabhängig von seinen besonderen Eigenschaften oder Leistungen, zukommt. Nach Kant ist die Menschenwürde etwas, ,das über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet‘ (Kant); sie soll daher mit anderen Werten nicht verrechenbar und jeder Güterabwägung oder Kosten-Nutzen-Rechnung entzogen sein“. Nach dieser Deutungsmöglichkeit unterscheidet

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ee) Die Menschenwürde in der Rechtsprechung Die modal ausgerichtete Generalklausel335 führt zusammen mit der Unantastbarkeitsklausel zu Schwierigkeiten bei der Interpretation der Menschenwürdegarantie. Die Vieldeutigkeit wird eingeschränkt, wenn man auf die Auslegung des Begriffes auf der Rechtanwendungsebene blickt336. In seiner Rechtsprechung hat das BVerfG durch seine Konkretisierungsarbeit fragmentarisch den Inhalt bestimmt. Das Gericht betont die normative Singularität der Menschenwürde, die in bewusster Abkehr von den Grausamkeiten des Nationalsozialismus337 in der Werteordnung des Grundgesetzes als „oberster Wert“ gilt338. Mit der Menschenwürde als oberstem Wert man zwischen „Würde“ und „Menschenwürde“ (so Schürmann, DZPhil 59 (2011), 41): Mit „Würde“ wird die unbedingte Achtung bezeichnet, die einem bestimmten Menschen zukommt und die traditionell an eine spezifische Leistung oder eine spezifische Stellung eines Menschen gebunden ist. Die Menschenwürde kommt eo ipso jedem Menschen zu. 335 Höfling, in: Sachs GG, 9. Auflage 2021, Art. 1 Rn. 8. 336 Für einen Überblick der Rechtsprechung des BVerfG zur Menschenwürde, vgl. Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, 2015, S. 263 ff. 337 BVerfG, Beschluss vom 13. 1. 1976 – 1 BvR 631/69, NJW 1976, 1491 („In bewußter Abkehr von den Verhältnissen unter dem nationalsozialistischen Regime hat das Grundgesetz die Menschenwürde und die Menschenrechte zur Grundlage der neuen Staatsordnung erhoben.“). 338 BVerfG, Beschluss vom 16. 7. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707 (Mikrozensus); BVerfG, Beschluss vom 19. 10. 1971 – 1 BvR 387/65, NJW 1972, 327, 329; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 3. 2004 – 1 BvR 2098/01, NJW 2004, 2371, 2372; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 12. 2005 – 1 BvR 1359/05, NJW 2006, 1580; BVerfG, Beschluss vom 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92, NJW 1998, 519, 521; BVerfG, Beschluss vom 14. 3. 1972 – 2 BvR 41/71, NJW 1972, 811, 812 („Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt“); BVerfG, Urteil vom 24. 9. 2003 – 2 BvR 1436/02, NJW 2003, 3111, 3114; BVerfG, Beschluss vom 11. 4. 1972 – 2 BvR 75/71, NJW 1972, 1183, 1184; BVerfG, Urteil vom 5. 6. 1973 – 1 BvR 536/72, NJW 1973, 1226, 1229 („Menschenwürde als Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung“); BVerfG, Beschluss vom 17. 7. 1973 – 1 BvR 308/69, NJW 1973, 2196, 2198; BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. 2. 2000 – 2 BvL 4/98, BVerfG, Beschluss vom 27. 3. 1974 – 2 BvR 38/74, NJW 1974, 893, 894 („oberster Zweck allen Rechts“); BVerfG, Urteil vom 25. 2. 1975 – 1 BvF 1/74, NJW 1975, 573, 576; BVerfG, Urteil vom 21. 6. 1977 – 1 BvL 14/76, NJW 1977, 1525 („Menschenwürde als obersten Zweck, höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung“); BVerfG, Urteil vom 13. 4. 1978 – 2 BvF 1/77, NJW 1978, 1245, 1246; BVerfG, Beschluss vom 29. 5. 1990 – 1 BvL 20/84, NJW 1990, 2869; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. 1. 2005 – 2 BvR 1389/04; BVerfG, Beschluss vom 8. 11. 2006 – 2 BvR 578/02, NJW 2007, 1933, 1934, 1935 („Die Menschenwürde stellt den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar. […] Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes.“); BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149, 1152 („höchster Rechtswert); BVerfG, Beschluss vom 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1458 („tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte“); auch BVerfG, Urteil vom 19. 12. 2000 – 2 BvR 1500/97, NJW 2001, 429, 431; BVerfG, Beschluss vom 10. 10. 1995 – 1 BvR 1476/91, NJW 1995, 3303, 3304 („Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte“); BVerfG, Beschluss vom 26. 2. 1997 – 1 BvR 2172/96, NJW 1997, 1841, 1843; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. 10. 2003 – 2 BvR 1321/02 („oberstes Konstitutionsprinzip“); BVerfG, Urteil vom 5. 2.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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des Grundgesetzes kommt dem Menschen ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu339. Sie wird jedem Menschen ohne weiteres zuerkannt340. Es handelt sich um ein Postulat341, das den allgemeinen Eigenwert garantiert342 und ein Existenzminimum 2004 – 2 BvR 2029/01, JuS 2004, 527, 528; BVerfG, Urteil vom 1. 7. 1998 – 2 BvR 441/90, NJW 1998, 3337 („Menschenwürde im Mittelpunkt ihrer Wertordnung“); BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. 3. 2002 – 2 BvR 261/01, NJW 2002, 2700, 2701 („Dem Recht auf Achtung der Menschenwürde … kommt in der Verfassung ein Höchstwert zu; es ist als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte zu betrachten.“); BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1001; BVerfG, Beschluss vom 11. 3. 2003 – 1 BvR 426/02, JuS 2003, 1224, 1225 (Benetton – Werbung II) („Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte“); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 12. 2005 – 1 BvR 1359/05, NJW 2006, 1580 („oberster Wert des Grundgesetzes und tragendes Konstitutionsprinzip“); auch BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, JuS 2006, 448 (Luftsicherheitsgesetz); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 10. 2006 – 1 BvR 2103/06 („tragendes Konstitutionsprinzip und höchster Rechtswert des Grundgesetzes“); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. 5. 2015 – 2 BvR 2954/10, NStZ-RR 2015, 357; BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08 (Wunsiedel-Versammlung) („oberster Verfassungswert des Grundgesetzes und dessen tragendes Konstitutionsprinzip“); BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611, 618 („Menschenwürde als oberster und unantastbarer Wert in der freiheitlichen Demokratie“). 339 BVerfG, Beschluss vom 16. 7. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707 (Mikrozensus); BVerfG, Beschluss vom 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457; BVerfG, Beschluss vom 9. 7. 1997 – 2 BvR 1371/96, NJW 1998, 443; BVerfG, Beschluss vom 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/ 92, NJW 1998, 519, 521; BVerfG, Urteil vom 7. 12. 1999 – 2 BvR 1533/94, NJW 2000, 418; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95, NJW 2001, 61, 63; BVerfG, Beschluss vom 11. 3. 2003 – 1 BvR 426/02, JuS 2003, 1224, 1225 [Benetton-Werbung II]; BVerfG, Urteil vom 5. 2. 2004 – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739; BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1001, 1002 (Achtung des Wertes, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt); BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 3. 2004 – 1 BvR 2098/01, NJW 2004, 2371; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 12. 2005 – 1 BvR 1359/05, NJW 2006, 1580; BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, NJW 2006, 751, 756 (Luftsicherheitsgesetz) („Verletzbar ist der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt“); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. 3. 2006 – 2 BvR 486/05; BVerfG, Beschluss vom 8. 11. 2006 – 2 BvR 578/02, NJW 2007, 1933, 1935; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. 11. 2007 – 2 BvR 2334/06; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 2. 2009 – 2 BvR 455/ 08; BVerfG, Beschluss vom 4. 2. 2010 – 1 BvR 369/04, JA 2010, 913, 915; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. 3. 2015 – 2 BvR 1111/13; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. 5. 2015 – 2 BvR 2954/10, NStZ-RR 2015, 357, 358; BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149, 1153; BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611, 619. 340 BVerfG, Beschluss vom 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1459 („Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status.“); BVerfG, Beschluss vom 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 3. 2004 – 1 BvR 2098/01; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 12. 2005 – 1 BvR 1359/05; BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05; BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611 (Die Würde des Menschen sei ein allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Ethnie oder Staatsangehörigkeit zustehendes Menschenrecht.). 341 BVerfG, Urteil vom 17. 8. 1956 – 1 BvB 2/51, NJW 1956, 1393, 1396 (KPD-Verbot). 342 BVerfG, Beschluss vom 24. 2. 1971 – 1 BvR 435/68, NJW 1971, 1645, 1646, 1647, 1650; BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. 6. 1993 – 2 BvR 368/92.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

verfassungsrechtlich gewährt343. Art. 1 GG schützt die Individualität, in der der Mensch sich selbst begreift344. Daraus folgt, dass sich jede Art von politischer Gemeinschaft aus der Berechtigung des Individuums herleiten muss und nicht umgekehrt. Die Menschenwürde leitet ihre Legitimierung aus einer politischen Vergemeinschaftung ab345. Insbesondere umfasst die Menschenwürde die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit346. Sie verankert an prominenter Stelle die Subjektqualität des Individuums347 und die Würde des Menschen als Gattungswesen348. Für das BVerfG handelt es sich bei der Menschenwürde um einen konkretisierungsbedürftigen Begriff, dessen positive Umschreibung nur mit geringem Erfolg gelingen kann; aus diesem Grund wird auf einen Vorgang zurückgegriffen349, dessen Ziel nicht die Definition des Begriffes „Menschenwürde“ ist, sondern die Darstellung der Umstände, unter denen diese verletzt werden kann. Das lässt sich allerdings nicht generell beurteilen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles350 und mit sorgfältiger Begründung351. Am Instrumentalisierungskonzept orientiert liegt ein Eingriff in die Menschenwürde vor, wenn der Mensch zu einem Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt wird352 343

BVerfG, Urteil vom 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667, 1670; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. 11. 2007 – 2 BvR 939/07; BVerfG, Urteil vom 9. 2. 2010 – 1 BvL 1/09 (Hartz IV-Gesetz). 344 BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. 8. 1996 – 2 BvR 1833/95, NJW 1997, 1632, 1633. 345 BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611. 346 BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611, 619. 347 Ebenda. 348 BVerfG, Beschluss vom 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1459. 349 Kunig/Kotzur, in: von Münch/Kunig, GG Art. 1 Rn. 33. 350 BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. 4. 1993 – 2 BvR 930/92, NJW 1993, 3315; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. 5. 2007 – 2 BvR 543/06, MMR 2007, 570, 572; BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98, NStZ 2004, 270; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. 5. 2007 – 2 BvR 543/06. 351 BVerfG, Beschluss vom 11. 3. 2003 – 1 BvR 426/02, NJW 2003, 1303, 1304; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. 12. 2007 – 1 BvR 1533/07, NJW 2008, 1657; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25. 3. 2008 – 1 BvR 1753/03. 352 BVerfG, Beschluss vom 29. 5. 1963 – 2 BvR 161/63, NJW 1963, 1195; BVerfG, Beschluss vom 16. 7. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707 (Mikrozensus); BVerfG, Urteil vom 21. 6. 1977 – 1 BvL 14/76, NJW 1977, 1525; eine Menschenwürdeverletzung liegt bei einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Strafe; BVerfG, Beschluss vom 14. 2. 1978 – 2 BvR 406/77, NJW 1978, 1149; BVerfG, Beschluss vom 17. 1. 1979 – 1 BvR 241/77 – BVerfGE 50, 166 – 177 (Ausweisung); BVerfG, Beschluss vom 20. 6. 1984 – 1 BvR 1494/78, NJW 1985, 121, 122; BVerfG, Urteil vom 24. 4. 1985 – 2 BvF 2/83, NJW 1985, 1519, 1523; BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. 1. 1994 – 2 BvR 1436/93, NJW 1994, 2219, der einen Eingriff in die Menschenwürde bejaht, wenn der Täter zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs gemacht würde; BVerfG, Kammerbeschluss vom 2. 3. 1994 – 2 BvR 869/93 (in: NStE Nr. 16 zu § 57a StGB): eine Menschenwürdeverletzung ist in der Strafvollstreckung bei einer unmenschlichen, erniedrigenden Strafe zu verbieten, die ihn zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabwürdigt; BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. 2. 1995 – 2 BvR 345/95, NJW 1995, 1951, 1952; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. 3. 1997 – 2 BvQ 8/97, NVwZ-Beil. 1997, 41; BVerfG, Urteil vom

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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oder wenn er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt,353 oder wenn ein Verhalten Ausdruck der Verachtung des Wertes ist, der einem Menschen kraft seines Personseins zukommt, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung354; die Menschenwürde kann weiterhin verletzt werden, wenn die Diffamierung einer Person Ausdruck ihrer Missachtung ist, etwa durch Leugnung oder Herabsetzung der persönlichen Eigenschaften und Merkmale, die das Wesen des Menschen ausmachen355. In seinem Beschluss zur Wunsiedel-Versammlung356 hat das BVerfG mit der geklärten Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB eine Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis des Art. 5 GG anerkannt und die Frage des menschenwürdigen Charakters der Durchführung einer Versammlung erörtert, bei der es zu einer 8. 7. 1997 – 1 BvR 1934/93, NJW 1997, 2305, 2306; BVerfG, Beschluss vom 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92, NJW 1998, 519, 521; BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. 12. 1998 – 1 BvR 831/89, NVwZ 1999, 290, 293; BVerfG, Kammerbeschluss vom 11. 8. 1999 – 1 BvR 2181/98, NJW 1999, 3399; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. 7. 2004 – 2 BvR 1104/04; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. 1. 2005 – 2 BvR 1389/04; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 7. 2005 – 2 BvR 283/05; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18. 4. 2007 – 2 BvR 2094/05, NJW 2007, 2749, 2750 (der unüberwachte mündliche Verkehr zwischen dem Strafverteidiger und seinem Mandanten schützt den Beschuldigten vor einer Herabsetzung zum bloßen Objekt im Strafverfahren); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28. 4. 2007 – 2 BvR 71/07 (Betrachtung nicht mehr als Subjekt, sondern als reines Objekt); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12. 5. 2015 – 2 BvR 2954/10, NStZ-RR 2015, 357, 358 (das Gebot der Achtung der Menschenwürde bedeutet insbesondere, dass grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind.); BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149, 1153 (mit der Anmerkung, mit der Strafe werde dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen, dessen damit verbundenen Unwerturteil den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch berührt.). 353 BVerfG, Beschluss vom 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1459; BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. 4. 1993 – 2 BvR 930/92; BVerfG, Beschluss vom 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92, NJW 1998, 519, 521), wobei die Verletzung des Achtungsanspruchs nicht nur in der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung von Personen, sondern such in der Kommerzialisierung menschlichen Daseins liegen kann; BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999 – 1 BvR 653/96, NJW 2000, 1021; BVerfG, Urteil vom 5. 2. 2004 – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 12. 2005 – 1 BvR 1359/05, NJW 2006, 1580, 1581; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. 10. 2006 – 1 BvR 2103/06; BVerfG, Beschluss vom 8. 11. 2006 – 2 BvR 578/02 (lebenslange Freiheitsstrafe); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 8. 11. 2007 – 2 BvR 2334/06; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 2. 2009 – 2 BvR 455/08, NJW-Spezial 2009, 184; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 20. 2. 2009 – 1 BvR 2266/04, NJW 2009, 3089, 3090 (Leugnung der Subjektqualität als Ausdruck der Verachtung des dem Menschen kraft seines Personseins zukommenden Wertes). 354 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 5. 4. 2001 – 1 BvR 932/94, NJW 2001, 2957, 2958; BVerfG, Beschluss vom 11. 3. 2003 – 1 BvR 426/02, NJW 2003, 1303 (Benetton – Werbung); BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 2. 2010 – 1 BvR 369/04, NJW 2010, 2193, 2195, wobei bei der Subsumtion der Parole „Ausländer raus“ unter den Volksverhetzungstatbestand ein Angriff auf die Menschenwürde grundsätzlich unter Hinzutreten weiterer Begleitumstände bejaht wird. 355 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 3. 2004 – 1 BvR 2098/01, NJW 2004, 2371. 356 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 55.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

uneingeschränkten Billigung des gesamten nationalsozialistischen Herrschaftssystems gekommen wäre. Insbesondere erklärt das Gericht die Entscheidung der Versammlungsbehörde für zutreffend, denn die Versammlung werde die Würde der Opfer der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft verletzen. Es sei nämlich davon auszugehen, dass bei der Billigung der menschenverachtenden Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden aus rassischen Gründen und der erkennbaren Identifikation mit der nationalsozialistischen Rassenideologie stets ein Angriff auf die Menschenwürde der getöteten und überlebenden Opfer dieser Ideologie liege. Ferner sei die Menschenwürde nur dann betroffen, wenn der Kernbereich der Persönlichkeit berührt werde. Das sei also der Fall, wenn Rudolf Heß als Märtyrer bezeichnet werde oder seiner insgesamt in Ehren gedacht werde. Obwohl die Objektformel als dominanter Ansatz zur Prognostizierung einer Würdeverletzung herangezogen wird, hat das BVerfG ihr Verständnis in seiner Rechtsprechung relativiert, indem er ihre Schwächen offenlegte357. So führt das Gericht aus, es handele sich dabei um eine allgemeine Formel, die lediglich die Richtung zur Feststellung einer Würdeverletzung andeuten kann358. Diese relativierende Betrachtung der Objektformel bringt ihre begrenzte Leistungskraft zum Ausdruck, dass nämlich der Mensch nicht selten zum bloßen Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung oder sogar des Rechts wird. Allein diese Objektivierung, so führt das Gericht aus, fügt keine Menschenwürdeverletzung zu; zusätzlich muss diese Behandlung des Menschen ein Ausdruck der Verachtung des Wertes sein, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt359. Die Konkretisierung des Angriffes auf die Menschenwürde in fragmentarischer und auf Einzelfälle begrenzter Art kennzeichnet nicht nur die Rechtsprechung des BVerfG. So geht beispielsweise die Strafkammer des BGH davon aus, dass ein Angriff auf die Menschenwürde nur dann vorliegt, wenn er „gegen den unverzichtbaren und unableitbaren Persönlichkeitskern des anderen, gegen dessen Menschsein als solches gerichtet ist und ihm den Wert abspricht“360, wenn den 357

Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 1 Rn. 36. BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, NJW 1971, 275, 279. 359 Ein solcher Fall, in dem der Mensch zum Objekt von Rechtsverhältnissen wird, ist die Strafvollstreckung. Nur die Tatsache, dass eine Person zum Adressaten von Maßnahmen der Strafverfolgung wird, bedeutet nicht, dass diese Art von Maßnahmen durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes angreift, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt, s. BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1002. Die Formel sollte also als begrenztes Kriterium zur Feststellung der Verletzung der Subjektqualität des Menschen angesehen werden, s. auch BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611, 619. 360 BGH, Urteil vom 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S), NStZ 1981, 258. Ähnliche Formulierung bei OLG Düsseldorf, Urteil vom 17. 3. 1986 – 5 Ss 43/86 – 40/86 I, NJW 1986, 2518 – 1519; BGH, Urteil vom 19. 1. 1989 – 1 StR 641/88, NJW 1989, 1365, 1366 (Behandlung als minderwertige Wesen; der Betroffene muss im Kernbereich seiner Persönlichkeit getroffen werden; die Beeinträchtigung einzelner Persönlichkeitsrechte genügt nicht.); Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. 2. 1993 – 10 S 329/93, NJW 1993, 2194 – 2195 mit der Anmerkung, das Zuschreiben ehrenrühriger Handlungen wird noch nicht als solches zum Angriff auf die Menschenwürde, kann im Einzelfall jedoch einer sein, wenn sich 358

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Angegriffenen das Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeiten innerhalb der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen wird und sie als minderwertige Wesen behandelt werden361. Eine Verletzung der Ehre genügt nicht, der Angriff muss sich gegen den Persönlichkeitskern richten362. Bemerkenswert ist die Rechtsprechung des BGH zum Angriff auf die Menschenwürde im Fall der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen363, als der Angriff auf die Menschenwürde als Tatbestandsmerkmal im Volksverhetzungsparagraphen noch ausdrücklich erforderlich war. Ein Angriff, so führt das Gericht aus, sei im Fall von Äußerungen, die die jüdische Bevölkerung berühren, insbesondere dann gegeben, wenn der Täter sich mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert oder seine Äußerungen sonst damit in Zusammenhang stehen364. Das Tatbestandsmerkmal liege bei einem bloßen Bestreiten der Gaskammermorde nicht vor, während der Volksverhetzungsparagraph im Fall einer Darstellung des Holocaust als einer zur Ausbeutung Deutschlands erfundenen Lüge nur in Einzelfällen erfüllt ist. Erwähnenswert ist weiterhin die Argumentation des Gerichtes zur Missachtung der besonderen Umstände des Todes der in den Gaskammern der Konzentrationslager ermordeten Juden. Diese Umstände seien untrennbarer Bestandteil der Würde eines Menschen, die weiterhin zugleich auch sein Andenken unter den Lebenden prägt. Äußerungen, die dieses schwere Schicksal als bloße Erfindung herabsetzen oder sogar verspotten, seien keine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, sondern verletzen den aus der Interpretation ergibt, daß der Betreffende damit zugleich als minderwertiges Wesen charakterisiert werden soll; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. 11. 1993 – 2 EO 147/93; hierzu zählt etwa antisemitische Agitation durch Identifizierung mit nazistischen Verfolgungsmaßnahmen; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 453. 361 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. 4. 1981 – 5 Ss 142/81 I; OLG Hamm, Urteil vom 22. 4. 1992 – 4 Ss 1286/91 (NStE Nr. 7 zu § 130 StGB); Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 17. 8. 1994 – 4St RR 105/94 (Ein Angriff auf das biologische Lebensrecht sei nicht erforderlich, es reicht vielmehr aus, daß den Angegriffenen ihr ungeschmälertes Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft bestritten wird und sie als minderwertige Menschen gekennzeichnet werden.); OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94; KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94) (Mit dem Bestreiten gleichrangiger Menschqualität wird in der Regel auch das Lebensrecht in der Gemeinschaft umstritten.); OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/00, NStZ-RR 2000, 368; KG Berlin, Beschluss vom 27. 12. 2001 – (4) 1 Ss 297/01 (166/01); KG Berlin, Beschluss vom 27. 12. 2001 – (4) 1 Ss 297/01 (166/01); OLG München, Beschluss vom 9. 2. 2010 – 5St RR (II) 9/10; LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 26. 7. 2010 – 7 Ns 460 Js 4600/09. 362 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421; OLG Frankfurt, Urteil vom 11. 5. 1994 – 2 Ss 413/93, NJW 1995, 143; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 17. 8. 1994 – 4St RR 105/94, NStZ 1994, 588; OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94; KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94); OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/00, NStZ-RR 2000, 368; KG Berlin, Beschluss vom 27. 12. 2001 – (4) 1 Ss 297/01 (166/01); BGH, Urteil vom 3. 4. 2008 – 3 StR 394/07; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010 – 2 Ws 323/09. 363 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421, 1422. 364 Vgl. auch BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 305.

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Anspruch auf Achtung des Schicksals der Opfer und missachten die über den Tod schutzbedürftige Würde der Opfer. d) Die Menschenwürde als Rechtsgut im Strafrecht Die Menschenwürde wird in den letzten Jahren immer häufiger zur Legitimation von Strafdrohungen herangezogen. Obwohl ein Blick in das Strafgesetzbuch den Eindruck vermittelt, dass die Menschenwürde eine sehr begrenzte Rolle als Rechtsgut spielt365, taucht sie in mehreren Strafvorschriften auf, die entweder ausdrücklich Bezug auf sie nehmen,366 oder einen indirekten Sinnbezug zur Menschenwürde aufweisen367. Rechtsvergleichend lohnt sich ein kurzer Blick in den griechischen Straftatbestand des Eingriffes in der Absicht der Erzwingung eines Geständnisses (§ 137 A gr. StGB) mit dem Titel „Folter und andere Verletzungen der Menschenwürde“368. Der 365

Kelker, in: FS-Puppe, 2011, S. 1675. In diese Fallgruppe gehören § 130, 131 StGB, § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB. Die Menschenwürde wird zudem in den Gesetzesmaterialien im Medizinstrafrecht erwähnt (Embryonenschutz, BT-Drs. 11/5460 vom 25. 10. 1989, Begründung, S. 12, 14; Transplantationsgesetz, BT-Drs. 13/4355 vom 16. 4. 1996, S. 19, 29; Stammzellgesetz, BT-Drs. 14/8394 vom 27. 2. 2002. Auf den Schutz der Menschenwürde zielt auch das Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (BT-Drs. 17/5450 vom 11. 4. 2011, S. 7) und das Gendiagnostikgesetz (BT-Drs. 16/10532). Mit der gesetzlichen Regelung genetischer Untersuchungen und im Rahmen genetischer Untersuchungen durchgeführter genetischer Analysen kommt der Staat seiner, sich aus der staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich der Grundrechte ergebenden Verpflichtung zum Schutz der Würde des Menschen und der informationellen Selbstbestimmung sowie der Wahrung des Gleichheitssatzes durch die Verhinderung genetischer Benachteiligung nach (S. 19).) 367 Hörnle/Kremnitzer, Israel Law Review Vol. 44 (2012), 149. Nach dieser Auffassung führt die an ihrer Verletzung orientierte Deutung als Verobjektivierung oder Instrumentalisierung der Person zu einer materiellen Erweiterung auf weitere Fälle, in denen die Menschenwürde als „kleine Münze“ behandelt wird (Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 512; Dürig, AöR 81 (1956), 117 ff.), da das Opfer der jeweiligen Delikte als „bloßes Objekt“ viktimisiert wird. In diese Kategorie fallen unter anderem die sexuelle Nötigung (177 StGB), die Störung der Totenruhe (168 StGB) und die Verbreitung pornographischer Schriften (184 ff. StGB, Hörnle/Kremnitzer, ebenda, S. 155). Zu der Diskussion der indirekten Sterbehilfe, sehe Kelker, in: FS-Puppe, 2011, S. 1676; BGH, Urteil vom 8. 5. 1991 – 3 StR 467/90, NStZ 1992, 34; Wilms/Jäger, ZRP 1988, 42. Zur Frage der Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut der Straftaten gegen die persönliche Freiheit, sehe Knauer, ZStW 126 (2014), 314; BT-Drs. 15/ 3045 vom 4. 5. 2004, S. 6; 2002/629/JI: Rahmenbeschluss des Rates vom 19. 7. 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels. 368 137 A gr. StGB: „1. Ein Beamter oder Militär, zu dessen Pflichten die Durchsuchung, die Verfolgung und die Unterbringung strafwürdiger Handlungen oder Disziplinarvergehen oder die Strafvollstreckung oder die Beaufsichtigung oder die Fürsorge der Gefangenen gehört, wird mit Zuchthaus bestraft, wenn er einer Person, die seiner Macht untersteht, während seiner Pflichterfüllung Folter mit dem Ziel zufügt, a) von ihr oder einer Drittperson Geständnis, Aussage, Information oder Erklärung, insbesondere Desavouierungs- oder Zusageerklärung politischer oder anderer Ideologie zu erlangen; b) sie zu bestrafen, sie oder eine Drittperson einzuschüchtern. Mit der gleichen Strafe wird ein Beamter oder Militär bestraft, der auf Befehl 366

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Tatbestand wurde vom griechischen Gesetzgeber als Reaktion auf die gravierenden Menschenwürdeverletzungen in den Folterzentren der Militärpolizei ESA während des siebenjährigen Militär-Regimes (1967 – 1974) eingeführt. In beiden Tatbeständen folgt aus der Entstehungsgeschichte, dass der Gesetzgeber regimefreundliche und antisemitische Anschauungen bekämpfen wollte. Außerdem wird behauptet369, dass dem § 137 A gr. StGB als ein mittelbares Geständnis der späteren demokratischen Mächte Griechenlands eine symbolische Funktion eingeräumt wird, um zu zeigen, dass eine echte Vergangenheitsbewältigung gescheitert war. e) Zur Argumentation über die Ablehnung der strafrechtlichen Schutzwürdigkeit der Menschenwürde Der beliebte Rückgriff des Gesetzgebers auf die Menschenwürde zur Legitimation von Strafdrohungen macht die Frage unvermeidlich, ob sie ein legitimes Rechtsgut darstellt. Dies lässt sich nicht ohne weiteres bejahen370. Die Antwort hängt vielmehr vom Zweck der Strafe und der Rolle des Rechts ab. Um das unbeeinträchtigte Miteinander der Menschen zu gewährleisten, soll logischerweise der Mensch der Orientierungspunkt und die Achtung der Menschenwürde die höchste Priorität des Rechts sein371. Dabei ist umstritten, ob ein unabwägbares und absolut geschütztes Recht zur Bewältigung von Konflikten fungieren kann. Dieser Punkt ist für Kelker ein Argument gegen die Legitimation des Rechtsgutes der Menschenwürde372 ; denn dieses nach verfassungsrechtlichem Gebot absolut geschützte Recht wird mit seiner Einbeziehung in eine Strafdrohung relativiert, da es nur bedingt als schutzwürdig betrachtet wird. Oder umgekehrt: wird die Menseiner Vorgesetzten oder freiwillig solche Pflichten für sich selbst übernimmt und diese Handlungen begeht. 2. Jede systematische Verursachung schwerer körperlicher Schmerzen oder körperlicher Erschöpfung, die gefährlich für die Gesundheit sind, oder psychischer Schmerzen und Leiden, die geeignet sind, einen ernsten psychischen Schaden herbeizuführen, ist als Folter im Sinne des vorigen Absatzes anzusehen, ebenso wie jede gesetzwidrige Verwendung von chemischen, narkotischen oder künstlichen Mitteln, die geeignet sind, den Willen des Opfers zu beugen. 3. Körperliche Mißhandlung, Gesundheitsschädigung, Ausübung gesetzwidriger körperlicher Gewalt oder psychischen Drucks sowie jede andere ernste Verletzung der Menschenwürde, die von den Personen unter den Umständen und mit den Zielen begangen wird, die Abs. 1 vorsieht, falls sie nicht Folter im Sinne des Abs. 2 ist, wird mit Gefängnis nicht unter drei Jahren bestraft, wenn sie nicht nach anderer Vorschrift schwerer zu bestrafen ist. Als Verletzung der Menschenwürde gelten besonders a) die Anwendung des Lügendetektors, b) die langdauernde Isolation, c) die ernste Verletzung der Geschlechtswürde.“ (Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, 1990, S. 135 f.). 369 Prittwitz, in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrecht und Menschenwürde, 1998, S. 28 f.; Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, 1990, S. 86 ff. 370 So aber Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, 2014, S. 284. 371 Kelker, in: FS-Puppe, 2011, S. 1687. 372 Kelker, in: FS-Puppe, 2011, S. 1687.

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schenwürde als legitimes Rechtsgut anerkannt, dann sollte für jede vorstellbare Beeinträchtigung dieses absolut geschützten Rechtes eine Strafe vorgesehen werden. Diese Intensivierung des strafrechtlichen Eingriffes zum Schutz eines unbestimmten Rechtsgutes hätte als Folge eine Verletzung des ultima-ratio-Gebotes. Ein weiteres Argument gegen die Betrachtung der Menschenwürde als legitimes Rechtsgut stellt ihr unscharfer Inhalt dar373, der zur Fassung von inhaltlich vagen Strafdrohungen führt. Zur Wahrung des Bestimmtheitsgebotes und des ultima-ratio-Charakters des Strafrechts bekräftigt Kelker eine Orientierung des Strafrechts an der Sanktionierung von echten Freiheitsverletzungen, die auch Aspekte des Menschenwürdebegriffes konkretisieren könnte. Die Bedenken Kelkers gegen die Überforderung der strafrechtlichen Eingriffsmöglichkeit durch den Rückgriff auf ein vages Rechtsgut sind nicht unbegründet. Bei der Menschenwürde handelt es sich um einen unscharfen Begriff, dessen Konkretisierung vom Schrifttum und von der Judikatur überwiegend durch die fragmentarische Gestaltung eines Verletzungsansatzes erfolgt. Die Unbestimmtheit des Begriffes schließt nicht ohne weiteres die Rechtsgutsqualität der Menschenwürde aus. Durch eine restriktive Auslegung der Straftatbestände374 sowie des Begriffes der Menschenwürde kann ein exzessiver Eingriff des Strafgesetzgebers verhindert werden375. Die Kriminalisierung jeglicher Beeinträchtigung von Aspekten der Persönlichkeit lässt sich durch eine Berücksichtigung der bisherigen Konkretisierung des Begriffes durch die Rechtsprechung verhindern. Der historische Hintergrund der Verankerung der Menschenwürde soll dabei berücksichtigt werden. Zur Gestaltung eines restriktiv verstandenen Begriffes werden die würdeverletzenden Erfahrungen aus dem Nationasozialismus in Betracht gezogen. Daraus soll nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass als Verletzungen der Menschenwürde ausschließlich die Verhaltensweisen aus der NS-Zeit verstanden werden wie etwa die Zwangssterilisationen oder die Menschenversuche. Vielmehr sollen diese Erfahrungen als Indiz für den massiven Charakter derartiger Beeinträchtigungen gelten und den Weg für ein einschränkendes Verständnis der Menschenwürde ebnen. Weiterhin dient diesem restriktiven Verständnis der Menschenwürde die bisher erreichte Konkretisierung und Begrenzung des Begriffes in bestimmten Sachverhalten auf Rechtanwendungsebene. Den Rückgriff auf die Menschenwürde zur Begründung von Strafdrohungen lehnt auch Manoledakis mit einer interessanten Argumentation ab376. Nimmt man vorläufig die Menschenwürde als legitimes Rechtsgut an, dann ist zunächst eine Einordnung des Rechtsgutes problematisch. Beim Rechtsgut des Lebens kann die Menschenwürde nicht eingeordnet werden, da der Achtungsanspruch des Menschseins der Person die Existenz des Trägers voraussetzt. Im Fall des Notstands, in dem 373 374 375 376

Kelker, in: FS-Puppe, 2011, S. 1689 f. Knauer, ZStW 126 (2014), 321, 327 ff. Knauer, ZStW 126 (2014), 328. Manoledakis, in: Prittwitz/Manoledakis, Strafrecht und Menschenwürde, 1998, S. 14 f.

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diese zwei Rechtsgüter abgewogen werden müssen, müsste die Menschenwürde als dem Leben untergeordnetes Prinzip zurücktreten. Das würde bedeuten, dass bei einem solchen Konflikt die Behandlung des Menschen als Objekt geboten scheint, um das Leben der anderen Person zu retten. Diese Schlussfolgerung verstößt aber gegen den verfassungsrechtlich verankerten unantastbaren, einer Abwägung nicht zugänglichen Charakter der Menschenwürde. Manoledakis betrachtet nämlich die Menschenwürde als Aliud zu den personalen Rechtsgütern, das dem Rechtsgutsbegriff gleichgeordnet ist377. Die interessante Argumentation von Manoledakis hebt ausdrücklich die Inkonsistenz der verfassungsrechtlich verankerten Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Zulässigkeit ihrer Abwägung mit einem in Konflikt stehenden Rechtsgut hervor. Dem Argument könnte man allerdings entgegenhalten, dass die Träger der in Konflikt stehenden Rechtsgüter nicht in einer Person zusammenfallen. Die absolut geschützte – und nicht einer Abwägung zugängliche – Menschenwürde verankert die Individualität und den Respekt vor dem Menschsein der Person. Und dafür setzt die Achtung der Menschenwürde das Leben voraus; nicht aber das abstrakte menschliche Leben, sondern die Existenz der Person, die Träger der eigenen Menschenwürde ist. Das Leben als logische Bedingung der Menschenwürde hat also nicht zur Folge, dass sie ein dem menschlichen Leben untergeordnetes Rechtsgut darstellt, sondern dass die Existenz des eigenen Trägers vorausgesetzt wird. Durch seine bloße Existenz, die logisch vorausgeht, ist die Menschenwürde dem Träger eigen, so dass sie dem Leben gleichgeordnet werden kann. Daher sollte eine Abwägung der in Konflikt stehenden Rechtsgüter ausgeschlossen werden. Diese Deutung wird vom Verbot von Folter zur Erzwingung von Geständnissen bekräftigt sowie von der verfassungsrechtlichen Verankerung der Menschenwürde, deren unantastbarer Charakter jegliche Abwägung von Rechtsgütern verbietet. Zu prüfen ist sodann, ob dem restriktiv verstandenen Begriff eine strafrechtlich legitimierende Rolle zukommt. Es ist unbestreitbar, dass die Achtung der Menschenwürde als eine essentielle Bedingung eines friedlichen Lebens gilt. Denn die Menschenwürde ist nicht eine bloße programmatische Deklaration des Grundgesetzes, sondern nimmt eine prominente Rolle bei der Sicherung der menschlichen Existenz ein. Eine Gesellschaft, die das Bestreiten der Subjektität des Menschen und die Herabsetzung des Menschseins unter die „Gegenstände des Sachenrechts“ zulässt378, wird diesen Aufgaben nicht gerecht. Das Verbot der Objektivierung des Menschen als die Quintessenz des aufklärerischen Denkens stellt eine primäre Bedingung für eine Rechtsordnung dar, in der die Beteiligten des Staatsvertrages ihre Persönlichkeit frei entfalten können. Diese freie Entfaltung der Persönlichkeit der Bürger kann nicht erfolgen, wenn der Kern der Persönlichkeit angetastet wird. Eine 377 Manoledakis, ebenda, S. 16. Abgelehnt wird die Menschenwürde im griechischsprachigen Raum auch von Konstantinides (Poiniko dikaio kai anthropoini aksioprepia [d. Übers. Strafrecht und Menschenwürde]), 1987, S. 85 – 86, und Manessis (Syntagmatika dikaiomata – A’ Atomikes eleftheries [d. Übers. Grundfreiheiten]), 1982, S. 111. 378 Kant, AA VI, Die Metaphysik der Sitten, S. 331.

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Gesellschaft, die Zwangssterilisationen oder die Instrumentalisierung des Menschen zur Durchführung von medizinischen Experimenten zulässt, bekräftigt weder die Freiheit und die Friedlichkeit noch die Koexistenz; im Gegenteil löst sie die Rechtsordnung auf und errichtet eine Willkürherrschaft, in der der Mensch als autonomes Wesen fungibel ist. Eine geeignete Zwecksetzung der Menschenwürde besteht also in der Gewährleistung eines freien Zusammenlebens aller Bürger in der Gesellschaft. Als nächste Frage stellt sich, ob sie auch erforderlich zu diesem Zweck sei. Gefragt wird also, ob der Schutz der Menschenwürde ausschließlich durch eine Bestrafung ihrer Verletzung erreicht werden kann, oder ob zu diesem Zweck auch mildere Mittel zur Verfügung stehen. Es muss ohne Zweifel angenommen werden, dass die Bestrafung von Menschenwürdeverletzungen keine Verletzung der subsidiären Natur des Strafrechts darstellt. Denn der Eingriff in die persönliche Freiheit der Träger des beeinträchtigten Rechtsgutes ist so massiv, dass die soziale Notwendigkeit der Strafe zur Bewahrung der friedlichen Koexistenz der Bürger nicht bestritten werden kann. Der Rückgriff auf die Menschenwürde zur Legitimation von Strafdrohungen ist also zur Bewahrung des Staatsvertrages zulässig und berechtigt. f) Die Legitimation der kollektiven Menschenwürde Schon 1961 hat der Bundesgerichtshof den jüdischen Bevölkerungsteil als einen Personenkreis anerkannt, dessen Menschenwürde durch antisemitische Hetzschriften beeinträchtigt wird379. Gleichzeitig bleibt nicht unbemerkt, dass die Rechtsprechung die Verletzbarkeit der Menschenwürde als überpersönliches Merkmal bei Bevölkerungsteilen uneinheitlich beurteilt hat. Der OLG Koblenz hat im Fall einer nazistischen Judenhetze die Verletzbarkeit der Menschenwürde auch aufgrund der Größe der tangierten Gruppe bejaht380, während der Bundesgerichtshof davon abgesehen hat, die Beleidigungsfähigkeit einer Personengruppe anhand ihrer Größe zu bestimmen381. Bemerkenswert ist dabei, dass die Argumentation zur Überschau379 BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3 StR 55/60; auch LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 Kls 2/92, NJW 1994, 2494, 2497; BVerfG, Beschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95, NJW 2001, 61, 63. 380 OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76, MDR, 1977, 334 – 335. Die Beleidigungsfähigkeit des Personenkreises liegt nach dieser Ansicht vor, wenn die angegriffene Personenmehrheit über eine nur geringfügige Zahl hinausgeht und auch eine gewisse Bedeutung im Leben des Volkes hat. Ähnlich zur Frage der Abgrenzbarkeit des Bevölkerungsteils der Asylbewerber OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94, MDR 1995, 735 – 736, mit der Bemerkung, es handele sich bei dieser Personengruppe um einen unterscheidbaren Teil von der gesamten inländischen Bevölkerung, der über eine geringfügige Zahl hinausgeht und aufgrund der persönlichen Merkmale ihrer Mitglieder von der inländischen Bevölkerung abgrenzbar ist; die Abgrenzbarkeit der Ausländer als eine zahlenmäßig erhebliche Personengruppe ergibt sich aus gemeinsamen Merkmalen, die diesen Personenkreis von der gesamten Bevölkerung unterscheidet, in: OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/00, NStZ-RR 2000, 368 – 369. 381 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 127; BGH, Urteil vom 19. 1. 1989 – 1 StR 641/88, NJW 1989, 1365 zur Frage der Kollektivbeleidigung der Bundeswehr.

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barkeit des Bevölkerungsteils bei der Sammelbeleidigung auf die Verletzbarkeit der kollektiven Menschenwürde übertragen wird. Besonders im Fall von nationalsozialistischer Hetze gegen die jüdische Bevölkerung382 ergibt sich die kollektive Verletzbarkeit aus wichtigeren Merkmalen, als es die Gruppengröße ist, wie dem historischen Faktor der massiven Viktimisierung der jüdischen Gemeinde in Konzentrationslagern im zweiten Weltkrieg, die zu einem intensiven identitätsprägenden Merkmal ihrer Würde entwickelt worden ist. Daraus ergibt sich die Beleidigungsfähigkeit der Opfer der nationalsozialistischen Untaten durch die Billigung des nationalsozialistischen Regimes383. Die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der jüdischen Gemeinde ist ein weiteres Merkmal, das sie von der Gesamtheit der inländischen Bevölkerung abgrenzt384. Obwohl die Verletzbarkeit der kollektiven Menschenwürde von der herrschenden Meinung angenommen wird, erheben sich wesentliche Bedenken in Bezug auf ihre Tragfähigkeit. Die Deutung einer quantitativen – im Sinne einer an einer Personengruppe anknüpfenden – Menschenwürde verstößt geradewegs gegen den Begriff der Menschenwürde. Die Ausdehnung der Verletzlichkeit der Menschenwürde auf ganze Bevölkerungsteile mag auf den ersten Blick die kollektive Identität der Gemeinschaft durch die Anerkennung der Menschenwürde betonen385, doch erweist sie sich als problematisch im Hinblick auf das Konzept und die Abgrenzbarkeit der Menschenwürde von anderen Persönlichkeitsrechten. Mit Recht wird die überindividuelle Menschenwürde von Personenmehrheiten in Bezug auf die Aufgabe des Strafrechts zum Schutz der Autonomie des Individuums kritisch bewertet. Mit der Annahme der kollektiven Menschenwürde ist der Menschenwürdebegriff in schwieriges Fahrwasser geraten. Zunächst ist gegen die Konzeptualisierung der Verletzbarkeit der kollektiven Menschenwürde einzuwenden, dass diese ihrem restriktiven Verständnis als Angriff auf den Kernbereich der menschlichen Existenz entgegensteht. Die Begrenzung des absoluten Schutzes auf den Kernbereich der Existenz fordert nicht nur die restriktive Auslegung des Menschenwürdebegriffes, sondern hebt auch die Individualität des Trägers der Menschenwürde hervor. Bei dem Begriff handelt es sich nicht um ein kollektives, identitätsprägendes Persönlichkeitsrecht von Personenkreisen, sondern darum, dass 382 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421, 1422; BVerf, Beschluß vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1780; Das Verfolgungsschicksal des jüdischen Bevölkerungsteils als geprägtes Motiv der Menschenwürde in: BGH, Urteil vom 15. 12. 1994 – 1 StR 656/94, NJW 1995, 341. 383 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 55. 384 LG Bochum, Urteil vom 9. 9. 2005 (1 KLs 33 Js 248/04). Als abgrenzbarer Teil der Bevölkerung werden in LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 26. 7. 2010 – 7 Ns 460 Js 4600/09, CR 2010, 828, die aus Afrika stammenden und in Deutschland lebenden Menschen mit dunkler Hautfarbe anerkannt, da sie aufgrund „ihrer Abstammung und Hautfarbe eine vom übrigen Teil der unterscheidbaren Gruppe bilden, zahlenmäßig von einiger Erheblichkeit und damit nicht mehr individuell überschaubar sind“; LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 6. 6. 2011 (7 Ns 85 Js 4476/08-AK 129/10). 385 Neumann, ARSP, Vol. 84, No. 2 (1998), 157.

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durch die Verankerung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen die Eigenständigkeit des Wesens des Menschen in den Vordergrund gestellt wird. Die Anerkennung des Eigenwertes des Subjektes birgt in sich die Begrenzung des Menschenwürdeverständnisses auf den Kernbereich der individuellen Existenz. Das individualbezogene Verständnis der Menschenwürde entspricht dem Wortlaut und Geist der verfassungsrechtlichen expliziten Einbeziehung des Menschen als Trägers der Würde. Der Gedanke versteht sich von selbst, da die Menschenwürde einer kollektiven Seinsgegebenheit als eine dogmatische Konstruktion zum Schutz von Einzelrechten schutzbedürftiger Personenmehrheiten konzipiert ist. Dass die Menschenwürde ausschließlich auf ein konkretes Individuum und nicht auf eine unüberschaubare Personenmehrheit bezogen wird, hängt an der grundlegenden Frage zur Stellung des Menschen entweder als einer Priorität des Rechtssystems oder als heteronomes Wesen, das vom überindividuellen hypothetischen Willen der Gesamtheit bestimmt wird, der die Entfaltung des Einzelnen zugunsten des Staates begrenzt. Die Antwort darauf, wenngleich selbstverständlich für den liberal denkenden Bürger, lässt sich nicht eindeutig ausführen. Dass nämlich der einzelne Mensch der höchste aller Zwecke ist und im Mittelpunkt des Rechtssystems steht, ist ein aufklärerisches Novum. Diesem steht der absolutistische Staat als höherwertiger Selbstzweck mit eigenständiger Moral gegenüber, die den Willen und die Verwirklichung des Einzelnen gestaltet. Im liberalen Rechtsstaat gilt der höhere Rang der Einzelpersönlichkeit als eindeutig386. Der Vorrang der Würde des Menschen als sittliches Zentrum der Rechtsidee387 gewährleistet dem einzelnen Menschen ein Existenzminimum, in dem er sich als eigenständiges Wesen entfalten kann. Dieses Gebot der Selbstverständlichkeit des Eigenwertes der Person hat als erste Konsequenz, dass das verankerte Existenzminimum des einzelnen Menschen auch gegenüber dem Willen einer Personengruppe gewahrt wird. Die Anerkennung des Vorranges des Einzelnen gegenüber der Gruppe bestätigt den absoluten Schutz vor der Objektivierung des Trägers zugunsten der Durchsetzung des Willens der Masse gegen die einzelne Person. Gleichzeitig aber, und das führt zur zweiten Folgerung, schränkt diese Feststellung das Verständnis des Begriffes auf die einzelne Person ein. Denn besonders bei der Begründung von Strafdrohungen erweist sich ein kollektiv verstandener Menschenwürdebegriff als ein Mittel zur Durchsetzung von willkürlichen Eingriffen in die Rechte und Interessen der Person. Treffend bemerkt Neumann388, die Konzeptualisierung der kollektiven Menschenwürde möge auf den ersten Blick als Verstärkung des Begriffes der Menschenwürde erscheinen, doch entstehe, wenn sie im Strafrecht herangezogen wird, ein Legitimationsdefizit, das die Ungeeignetheit des Konzeptes zur Begründung von Strafdrohungen illustriere. Zur Begründung der 386 Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II, 1954. 387 Nipperdey, ebenda. 388 Neumann, ARSP, Vol. 84, No. 2 (1998), 157.

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Ungeeignetheit der kollektiven Menschenwürde, eine Strafe zu legitimieren, lässt sich die Argumentation zur Ablehnung der Rechtsgutsqualität der subjektiven Komponente des öffentlichen Friedens auf diese Diskussion übertragen. Genau wie beim subjektiv verstandenen öffentlichen Frieden, der ein vages Konzept darstellt und kein einheitliches, eigenständiges Vertrauen in die Rechtssicherheit zum Ausdruck bringt, ist das Konzept der kollektiven Menschenwürde ein unscharfer Ansatz, der den Kern der Persönlichkeit der einzelnen Angehörigen einer Gruppe nicht definieren kann. Es handelt sich dagegen um eine vereinheitlichte Eigenschaft des Kollektivsubjektes, die nicht als Summe der einzelnen, selbstständigen Persönlichkeitskerne dienen kann, sondern ein überindividuelles Merkmal darstellen soll. Mit dem Konzept der kollektiven Menschenwürde soll nämlich nicht die Instrumentalisierung der einzelnen Person verhindert, sondern der Schutz eines „Menschenbildes“389 erreicht werden. Darin liegt auch die inhärente Diskrepanz des Konzeptes der kollektiven Auffassung von der Würde des Menschen. Zur Begründung eines Straftatbestandes wird auf die Verletzung einer Eigenschaft einer Gruppe zurückgegriffen – unabhängig davon, ob die einzelnen, konkreten Mitglieder dieser Gruppe betroffen und in ihrer Würde verletzt werden. Genau dann wird der Rückgriff auf die Menschenwürde problematisch, wenn durch die Strafe die Autonomie der Person eingeschränkt wird, ohne dass eine konkrete Beeinträchtigung der Menschenwürde eines dem betroffenen Personenkreis Zugehörigen vorliegt390. Somit wird die Aufgabe des Strafrechts überschritten391. Denn die sekundäre Norm des Gebotes einer Strafverfolgung bei der Verletzung der kollektiven Menschenwürde entspricht der primären überindividuellen Verhaltensnorm392 zur Beschränkung der Freiheit und Autonomie des Einzelnen zum Schutz einer normativen, abstrakten Zwecksetzung und nicht den Rechten und Interessen von bestimmten Personen. Dieses Leitbild überschreitet nicht nur das enge personenbezogene Verständnis der Menschenwürde, sondern verschiebt vielmehr das Gebot eines legitimen Eingriffes des Strafrechts manipulativ in eine moralistische Richtung, in der die rechtlichen Verbote ihre Legitimation aus dem pauschalen Menschsein der Masse beziehen. g) Verletzung der Menschenwürde durch Äußerungen? aa) Herangehensweise der Rechtsprechung Die zurückhaltende Annahme einer Beeinträchtigung der Menschenwürde hat in der Rechtsprechung scharfe Konturen erhalten393. Bei beleidigenden Äußerungen 389

Neumann, ARSP, Vol. 84, No. 2 (1998), 162. Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 678; Neumann, ARSP, Vol. 84, No. 2 (1998), 157. 391 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 678. 392 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 678. 393 LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 6. 6. 2011 – 7 Ns 85 Js 4476/08-AK 129/10. 390

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gegenüber ausländischen Demonstranten liege ein menschenwürdefeindlicher Angriff auf Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nur dann vor, wenn diese im unverzichtbaren Kernbereich ihrer Persönlichkeit getroffen werden sollen394. Explizit wird erwähnt, dass nur besonders massive Diskriminierungen und Diffamierungen als strafbar angesehen werden. Da dem § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht die Funktion eines erweiterten Ehrenschutzes zukommt, kann als Angriff auf die Menschenwürde nur eine besonders qualifizierte Form der Ehrverletzung angesehen werden. Maßgebliches Kriterium dafür ist die Frage, ob die Angehörigen der jeweils in Frage stehenden Bevölkerungsgruppe im unverzichtbaren Kernbereich ihrer Persönlichkeit getroffen werden sollen395. Das ist der Fall, wenn sie in einem wichtigen Bereich in ihrer Persönlichkeitsentfaltung behindert oder unter Missachtung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes als minderwertige Personen behandelt werden sollen bzw. wenn ihr ungeschmälertes Lebensrecht in der Gemeinschaft in Frage gestellt oder relativiert wird396. 394

KG Berlin, Beschluß vom 27. 12. 2001 – (4) 1 Ss 297/01 (166/01). Auch OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 2. 1995 – 2 Ss 21/94, MDR 1995, 735. OLG Karlsruhe hat einen Angriff auf die Menschenwürde bejaht, wenn der Bevölkerungsteil der Asylanten als Untermenschen und „Abschaum“ dargestellt wird, dem die menschliche Würde und die Respektierung seines Persönlichkeitsrechts abgesprochen wird. 395 Die nationalsozialistische Judenhetze als Beeinträchtigung der unverzichtbaren und unableitbaren Persönlichkeitsrechte anderer und des Menschseins in OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76, MDR 1977, 334 – 335. Der Vorwurf „Asylbetrüger“ als Angriff auf die Menschenwürde der in Deutschland lebenden Asylanten in OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94, MDR 1995, 735; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010 – 2 Ws 323/09, NStZ-RR 2010, 173. 396 Die antisemitische Hetzschrift als volksverhetzende Handlung, die die Juden als Gesamtheit treffen und als minderwertige Menschen kennzeichnet, deren ungeschmälertes Lebensrecht als Bürger in der staatlichen Gemeinschaft bestritten wird, in BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3StR 55/60. Im Urteil wird die Aufstachelung zum Hass gegen den jüdischen Bevölkerungsteil mit einem Angriff auf ihre Menschenwürde gleichgesetzt. Ähnlich OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76, MDR 1977, 334 – 335, nach dem die nazistische Judenhetze sich gegen die unverzichtbaren und unableitbaren Persönlichkeitsrechte anderer und gegen deren Menschsein richtet. Ein Angriff auf die Menschenwürde liegt nach BGH, Urteil vom 15. 11. 1967 – 3 StR 4/67, NJW 1968, 310 vor, wenn durch die Kennzeichnung eines Wahlbewerbers als Juden eine Forderung nach Ausschluss der jüdischen Gemeinde von öffentlichen Ämtern in Ausdruck gebracht wird und daher sie in einem wichtigen Bereich an der Persönlichkeitsentfaltung hindert. Weiter BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NStZ 1994, 390; BGH, Urteil vom 15. 12. 1994 – 1 StR 656/94, NJW 1995, 341; KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94); unter Verweis auf eine Verbindung von Beispielen des Bestreitens gleichrangiger Menschtumsqualität mit der Rassenideologie; die Versetzung in einen Objektstatus durch die Bezeichnung ausländischer Sozialleistungsempfänger als Sozialparasiten als Angriff auf die kollektive Menschenwürde bejagt OLG Frankfurt, Urteil vom 15. 8. 2000 – 2 Ss 147/00, NStZ-RR 2000, 368 – 369; KG Berlin, Beschluß vom 27. 12. 2001 – (4) 1 Ss 297/01 (166/01) zur Verletzlichkeit der Menschenwürde bei beleidigenden Äußerungen gegenüber ausländischen Demonstranten; KG Berlin, Urteil vom 5. 6. 2002 – (5) 1 Ss 247/98 (66/98), NJW 2003, 685; LG Bochum, Urteil vom 9. 9. 2005 (1 KLs 33 Js 248/04); BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 306 zur kollektive Missachtung und Herabsetzung der Juden zu minderwertigen Individuen durch das Werturteil, dass Juden unwürdig seien, Synagogen zu errichten; LG Potsdam, Urteil vom 8. 5. 2006 – 2 O 221/05, LKV 2006, 576

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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat bereits 1967 bei der Beurteilung der Kennzeichnung eines Wahlbewerbers als Juden397 einen Angriff auf die Menschenwürde festgestellt, weil die Aktion den Betroffenen in einem wichtigen Bereich an der Persönlichkeitsentfaltung hindert und ihn im Kernbereich seiner Persönlichkeit trifft, indem sie ihn unter Missachtung des Gleichheitssatzes zu einem minderwertigen Glied der Gemeinschaft stempelt398. Hinsichtlich der Strafbarkeit der Leugnung geschichtlicher Tatsachen hat sich der Bundesgerichtshof zu der Beleidigungsfähigkeit der betroffenen Bevölkerungsgruppe geäußert und mit dem menschenwürdeverletzenden Charakter der Äußerungen befasst399. Explizit kommt er bei Äußerungen, die die jüdische Bevölkerung berühren, zum Ergebnis, dass ein Angriff auf die Menschenwürde insbesondere dann gegeben sei, wenn der Täter sich mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziere oder seine Äußerungen sonst damit in Zusammenhang stehen400 wie etwa bei Verbreitung antisemitischer Hetze unter dem Deckmantel der sachpolitischen Auseinandersetzung401. So ist eine Beeinträchtigung der Menschenwürde zu bejahen, wenn der Täter die Tatsache der systematischen Morde an Juden als erfunden zur Ausbeutung Deutschlands zugunsten der Juden darstellt. Gleichzeitig ergibt sich, dass das bloße Bestreiten des Holocaust keinen Angriff auf die Menschenwürde darstellt. Als betroffener Personenkreis kommen die Überlebenden oder die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Betracht, die wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Das Verächtlichmachen des Verfolgungsschicksals der betroffenen Juden tangiert einen Teil der persönlichen Würde. Denn die besonderen Umstände des Todes können ein untrennbarer Bestandteil der Würde sein. Diese wird verletzt, wenn dieses schwere Schicksal als Erfindung herabgesetzt wird402. In diesem Urteil hat sich der BGH hauptsächlich auf die Verletzlichkeit der Würde des Menschen durch zur Bezeichnung eines islamischen Geistlichen als Hassprediger; BVerfG, Beschluß vom 25. 3. 2008 – 1 BvR 1753/03, NJW 2008, 2909; BGH, Urteil vom 3. 4. 2008 – 3 StR 394/07; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 455; BVerfG, Beschluß vom 24. 9. 2009 – 2 BvR 2179/09, NJW 2009, 3504; OLG München, Beschluß vom 9. 2. 2010 – 5 St RR (II) 9/10, NJW 2010, 2151 (Volksverhetzung durch Wahlplakat der NPD); LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 26. 7. 2010 – 7 Ns 460 Js 4600/09, CR 2010, 828; LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 6. 6. 2011 – 7 Ns 85 Js 4476/08-AK 129/10. 397 BGH, Urteil vom 15. 11. 1967 – 3 StR 4/67, NJW 1968, 309, 310; auch BVerfG Beschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95, NJW 2001, 61, 63. 398 So die Argumentation auch bei der Kollektivbeleidigung der Bundeswehr, BGH, Urteil vom 19. 1. 1989 – 1 StR 641/88, NJW 1989, 1365 – 1367. Bei Angriffen auf die beruflichen Funktionen der angegriffenen Gruppenmitglieder sei eine Beeinträchtigung nur dann zu bejahen, wenn sich aus der Äußerung ergibt, dass die berufliche Stellung den Betroffenen als minderwertiges Wesen charakterisiere und ihm sein Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit bestreitet. Diffamierende Äußerungen gegen den Beruf der Soldaten kränken also nicht den Kernbereich der Persönlichkeit. 399 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 (1 StR 179/93), NJW 1994, 1421 – 1423. 400 BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 306. 401 LG Bochum, Urteil vom 9. 9. 2005 – 1 KLs 33 Js 248/04. 402 BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779, 1780, 1781.

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die Leugnung des Holocaust sowie die Beleidigungsfähigkeit der Personengruppe konzentriert403, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie eine pauschale beleidigende Äußerung einen personenbezogenen Charakter aufweist, so dass durch sie jeder einzelne Zugehörige des Personenkreises in seiner Menschenwürde tangiert wird. Als Verletzung der Menschenwürde der Opfer wird auch vom Bundesverfassungsgericht das Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der die NS-Gewaltund Willkürherrschaft kennzeichnenden Menschenrechtsverletzungen angesehen404. Ein Angriff auf den Kernbereich der Persönlichkeit der Angehörigen der jüdischen Bevölkerung liege danach auch dann vor, wenn in einer die nationalsozialistische Rassenideologie befürwortenden Gesinnung zum Ausdruck gebracht wird, Juden seien nicht würdig, Synagogen zu errichten405. Übrigens begegnet auf Rechtsanwendungsebene die Annahme keinen rechtlichen Bedenken, dass die Verbindung der Waffen-SS mit Ruhm und Ehre die Menschenwürde der Opfer von Gewalt- und Willkürmaßnahmen verletzt406. Entsprechend hebt das Bundesverfassungsgericht die Verletzlichkeit der Menschenwürde bei der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Herrschaft hervor407. Die Überhöhung von Rudolf Heß als stillschweigende Billigung des nationalsozialistischen Regimes sowie der von diesem Regime begangenen Verbrechen sei wegen der erkennbaren Identifikation mit der nationalsozialistischen Rassenideologie als eine Verletzung der Würde der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen anzusehen. bb) Die Bejahung eines Menschenwürdeangriffes bei Äußerungen als „kleine Münze“ Dass die Menschenwürde durch Delikte wie Folter beeinträchtigt wird, ist mit Sicherheit anzunehmen. Komplizierter ist jedoch die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Menschenwürde durch Äußerungsdelikte verletzt werden kann. Treffend wird bemerkt408, dass bei Äußerungsdelikten die Eingriffsintensität niedriger sei als bei Tätlichkeiten. Die Bejahung der verbalen Verletzung der Menschenwürde trägt die Gefahr einer exzessiven Auslegung der Menschenwürde in sich, und es muss deswegen sorgfältig geprüft werden, ob eine verbale Verletzung der Menschenwürde anzuerkennen ist. Bei dieser Prüfung muss das enge Verständnis der 403 Ein Angriff auf die quantitative Menschenwürde der jüdischen Minderheit im Fall der Darstellung des Holocaust als einer systematisch erfundenen Lügengeschichte zur Ausbeutung Deutschlands liegt vor nach LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92, NJW 1994, 2494. Die Stellungnahme des LG Mannheim bestätigte der BGH in seinem Urteil vom 15. 12. 1994 (NJW 1995, 140); die Darstellung des Massenmordes an Juden als eine Lügengeschichte setzt die Betroffenen zu minderwertigen Wesen herab und verletzt ihre Menschenwürde. 404 BVerfG, Beschluss vom 16. 4. 2005 – 1 BvR 808/05, NJW 2005, 3202. 405 BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 305, 306. 406 OLG Rostock, Beschluß vom 19. 7. 2007 – 1 Ss 107/07 I 50/07, Stra. F.o 2007, 516. 407 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47, 56 (WunsiedelVersammlung). 408 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 120.

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Menschenwürde berücksichtigt werden: sie sei keine „kleine Münze“, im Sinne eines erweiterten Ehrenschutzes409. Ein inflationärer Gebrauch des Begriffes ist genau so problematisch wie seine Nichtbeachtung. Um diese Gefahr der Gleichsetzung des Begriffes der Menschenwürde mit der Ehre zu umgehen, ist eine restriktive Auslegung der Verletzung der Menschenwürde erforderlich. Werden bei einem Versuch, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, die einzelnen Delikte des Strafgesetzbuches dahingehend untersucht, ob die in Betracht kommenden Straftaten die Menschenwürde berühren, stellt man fest, dass man nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt. Je exzessiver man den Menschenwürdebegriff definiert, desto mehr Handlungen tauchen auf, die als menschenwürdewidrig bezeichnet werden könnten. Befürwortet man die Objektformel und setzt zur Bejahung eines Menschenwürdeangriffes eine Instrumentalisierung des Subjektes im extensiven Sinne der fehlenden Einwilligung ein, dann erfüllen mehrere Straftaten diese Anforderung410. Bei jeder Tathandlung, die eine persönliche Konfrontation zwischen dem Täter und dem Opfer voraussetzt, bei der es einer unerwünschten Behandlung unterzogen wird, ist von einer Berührung der Menschenwürde zu sprechen: die Instrumentalisierung des Subjektes besteht darin, dass der Mensch nicht mehr als selbstverwirklichendes Wesen wahrgenommen wird, sondern als ein bloßes Mittel, das zum Angriffsobjekt wird. Es versteht sich von selbst, dass diese Auslegung der Objektformel als fehlende Einwilligung des Subjektes zu einer unerlaubten Ausdehnung des Begriffes führt, weil jede Straftat, die sich gegen ein individuelles Rechtsgut richtet, als Angriff auf die Menschenwürde umschrieben werden kann. Diese verfälschende Ausdehnung des Begriffes geht über seinen Kern hinaus, insoweit er im Schatten der unter dem nationalsozialistischen Machtapparat erlebten Gewalttaten inhaltlich und historisch geprägt wurde. Einerseits kommt durch diese Deutung ein Menschenwürdeangriff in Sachverhalten in Frage, die keinen unmittelbaren Bezug auf die restriktiv verstandene Menschenwürde aufweisen. Andererseits wirkt diese Deutung wesentlich einschränkend, indem sie die Bejahung eines Menschenwürdeangriffes auf diejenigen Fälle begrenzt, in denen nicht das Menschsein als Eigenwert, sondern seine Bedingung, nämlich das Lebensrecht, abgesprochen wird. Um die Gefahr einer Trivialisierung des Begriffes zu vermeiden, sollte also angenommen werden, dass die Menschenwürde durch Äußerungsdelikte nicht beeinträchtigt werden kann.

409 Dürig, AöR 81 (1956), 117; BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421; BVerf, Beschluss vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779; KG Berlin, Urteil vom 5. 6. 2002 – (5) 1 Ss 247/98 (66/98), NJW 2003, 685; BVerfG, 25. 3. 2008 – 1 BvR 1753/03, NJW 2008, 2907, 2909; OLG München, Beschluss vom 9. 2. 2010 – 5 StR RR (II) 9/10, NJW 2010, 2150, 2151; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010 – 2 Ws 323/09, NStZ-RR 2010, 173; LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 6. 6. 2011 – 7 Ns 85 Js 4476/08-AK 129/10. 410 Hörnle/Kremnitzer, Israel Law Review 44 (2012), 149.

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h) Die Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1, 3 StGB aa) Angriff auf die Menschenwürde bei Aufstachelung zum Hass Um dem Begriff der Menschenwürde Kontur zu geben, ist deshalb ihre restriktive Auslegung geboten. Die Frage, ob es sich im Rahmen des Volksverhetzungsparagraphen um eine Menschenwürdeverletzung handele,411 ist auch im Fall eines personenbezogenen verbalen Angriffes zu verneinen. Ob eine zum Hass aufstachelnde Äußerung gegen eine Einzelperson den Tatbestand einer Menschenwürdeverletzung erfülle, variiert je nach Deutungsmöglichkeit des Menschenwürdebegriffs. Setzt man eine Instrumentalisierung des Subjektes i.S. einer Herabsetzung zum bloßen vertretbaren Mittel voraus, dann besteht kein Zusammenhang zwischen dem Hassgefühl und der Objektivierung der Person. Legt man hingegen die Menschenwürde dahingehend aus, dass ein Bestreiten des Lebensrechts der angegriffenen Person als gleichwertige Persönlichkeit in der Gemeinschaft oder ihre Behandlung als minderwertiges Wesen stattfindet, dann kommt ein anderer Lösungsansatz in Frage. Fraglich ist nämlich, ob die Erregung eines Hassgefühls gegen einen Angehörigen eines Personenkreises als herabwürdigende Behandlung verstanden werden kann. Die Antwort muss verneinend sein: eine Aussage ist per definitionem keine Behandlung. Wird beispielsweise bei einem Überlebenden des Holocaust seine Verfolgung bestritten, indem die Person als Lügner dargestellt wird, der seine Viktimisierung absichtlich erfunden habe, um diese finanziell auszubeuten, kommt kein Angriff auf die Menschenwürde in Betracht. Eine herabsetzende Äußerung stellt keine Objektivierung der Person dar. Die ehrenrührige Aussage greift auf einen 411 Einer anderen Herangehensweise folgt Androulakis (Die Sammelbeleidigung, 1970, S. 93 f.) bei der Erörterung des menschenwürdewidrigen Charakters der Aufstachelung zum Hass und der Aufforderung zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen. Androulakis prüft, ob die in Betracht kommenden Tathandlungen eine Individuumsbezogenheit aufweisen. Nur in diesem Fall sei eine Verletzung der Menschenwürde zu bejahen. Diese lehnt Androulakis mit der Begründung ab, dass es an einer individualisierbaren entwürdigenden Behandlung fehle. Es bestehe keine vorherige persönliche Konfrontation mit jedem Mitglied der betroffenen Personengruppe (S. 94), sondern nur eine pauschale Stellungnahme. Es sei unmöglich für den Täter, seinen verbalen Angriff auf jedes Mitglied einer unüberschaubaren Personengruppe zu richten, da es an einer vorherigen geistigen, persönlichen Konfrontation fehle. Der Lösungsansatz von Androulakis ist insoweit positiv zu bewerten, da er auf den inhaltslosen Begriff der kollektiven Menschenwürde verzichtet. Kritisch ist hingegen zu beurteilen, dass die Verletzung der Menschenwürde anhand der Individuumsbezogenheit der Äußerung geprüft wird und somit ein verbaler Menschenwürdeangriff die Form einer gravierenden Sammelbezeichnung übernimmt. Durch diese Argumentation verliert der Begriff seine Konturen und ist nicht mehr als Menschenwürde zu verstehen. Greift man trotzdem auf das Kriterium der Individuumsbezogenheit zur Prüfung einer Menschenwürdeverletzung beim schlichten Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen zurück, ist auch diese auch nach dieser Argumentation zu verneinen. Das bloße Bestreiten einer historischen Tatsache soll nicht den Kern persönlicher Erinnerung berühren, sondern unpersönliche Ereignisse der Vergangenheit neutral kommentieren. Ein Menschenwürdeangriff durch die bloße Leugnung sei abzulehnen, da sich kein Bezug auf den Persönlichkeitskern von bestimmten Menschen ergibt. Das schlichte Bestreiten einer historischen Tatsache weist wegen ihres generalisierenden und unpersönlichen Charakters keine Individuumsbezogenheit auf.

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identitätsprägenden Faktor der Vergangenheit der Person zurück, der sich bis zur Gegenwart fortsetzt, indem er seine Identifizierung mit dem viktimisierten Kollektiv verstärkt und die Person als Opfer lebenslang stigmatisiert. Die Achtung auf das Verfolgungsschicksal des Opfers wird in dieser Weise mit herabsetzenden Bewertungen abgestritten oder verächtlichgemacht und die Person wird als minderwertiges Wesen in der Gemeinschaft dargestellt. Durch diese Deutung verliert aber die Menschenwürde ihre Konturen. bb) Angriff auf die Menschenwürde bei Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Unter diesem Blickwinkel ist auch der Frage einer Menschenwürdeverletzung bei der Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen nachzugehen. Eine derartige Aussage kann nur dann als Behandlung der Person als „minderwertiges Wesens“ gelten, wenn der Angegriffene als vertretbare Größe zur Verwirklichung der verbrecherischen Pläne herabgesetzt wird und er nur deswegen in Betracht kommt, weil er Mitglied eines bestimmten Personenkreises ist. Die menschenwürdewidrige Behandlung liegt nach einer äußerst exzessiven Auslegung der Menschenwürde darin, dass der Angehörige allein wegen seiner Zugehörigkeit angegriffen wird, die ihn als minderwertiges Wesen kategorisiert. Jedoch führt diese exzessive Auslegung zu dem unerlaubten Ergebnis, dass eine Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit einen Menschenwürdeangriff darstellt. Diese Herangehensweise macht die Menschenwürde zu einer Leerformel. Fordert man hingegen eine Instrumentalisierung des Subjektes zur Bejahung einer Menschenwürdeverletzung, dann kommt ein Menschenwürdeangriff nicht in Betracht. Es ist tatsächlich kein Zusammenhang zwischen der Aufforderung zu einer Gewalt- oder Willkürmaßnahme und einer Herabsetzung der Person zum bloßen Mittel der Ziele des Täters zu bemerken. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Gewalt- oder Willkürmaßnahme, die sich gegen die Gruppe oder ein Mitglied richtet, nicht ohne weiteres als Mittel der Erreichung eines Zieles angesehen werden kann. Es ist also fraglich, wie eine Instrumentalisierung der Person festzustellen ist, wenn die Aufforderung zur Gewalt kein Mittel zur Erreichung eines Zieles, sondern das Ziel selbst ist. Dieses restriktive Menschenwürdeverständnis räumt ebensowenig eine Möglichkeit zur Auslegung der Aufforderung zur Gewalt als Menschenwürdeverletzung ein, wie eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eine Menschenwürdeverletzung darstellt. Der gebotenen restriktiven Auslegung folgend ist die Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen nicht als ein Bestreiten des Menschseins zu verstehen. cc) Angriff auf die Menschenwürde bei Beschimpfung, böswilliger Verächtlichmachung und Verleumdung Entsprechend sind die massiv herabsetzenden Aussagen des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu beurteilen. Das Gebot, die Menschenwürde nicht als „kleine Münze“ zu

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behandeln, verhindert auch in dieser Kategorie von Delikten die Betrachtung der Menschenwürde als eine verfassungsrechtliche Notbremse im System des Rechtsgüterschutzes412. Die Stigmatisierung des Kollektivs oder seines Mitglieds durch die Äußerungen des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist laut der Objektformel nicht als Herabsetzung des Subjektes zum bloßen Mittel anzusehen. Eine weitere Auslegung, die bei den Tätlichkeiten der Nr. 2 eine Menschenwürdeverletzung bejaht, erschwert weiterhin eine begründete Antwort auf die Frage, warum die Menschenwürde kein zulässiges Legitimationskriterium der Bestrafung der Ehrverletzungen ist. Aus der Gesamtbetrachtung der Unzulässigkeit der Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut aller Alternativen des § 130 Abs. 1 StGB lässt sich feststellen, dass diese Verneinung vor einer Bagatellisierung und einem Missbrauch des Begriffes zur Konstruktion von Scheindelikten schützt, die vage Konzipierungen legitimieren wollen. dd) Angriff auf die Menschenwürde beim „schlichten“ Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen Anschließend stellt sich die Frage, ob die individuelle Menschenwürde im Fall der Straftat des § 130 Abs. 3 StGB beeinträchtigt wird, nämlich genauerhin, ob das bloße Bestreiten eines nationalsozialistischen Verbrechens die Menschenwürde der Überlebenden oder der Angehörigen der Opfer verletzt. Die Antwort ist meines Erachtens eindeutig: Auffassungen, die in der Straftat der bloßen Leugnung ausdrücklich ein Delikt gegen die Menschenwürde sehen413, gehen über die enge Deutung des Begriffes der Menschenwürde hinaus414, indem sie die Verfälschung einer offenkundigen historischen Wahrheit als Menschenwürdeangriff interpretieren, und sind ebenso abzulehnen415. Auch wenn man die Beweggründe derartiger Äußerungen berücksichtigt, muss man zum selben Ergebnis gelangen: dass die Täter gewisse historische Ereignisse wie den Holocaust nicht zufällig aus revisionistischer Sicht wählen, darf konstatiert werden416. Auch wenn diese Äußerungen ohne Werturteile erläutert werden, sind sie auf ein Bestreben zurückzuführen, die nationalsozialistische Herrschaft zu beschönigen und „von ihren Sünden zu erlösen“. Obwohl die Judikatur die Identifizierung mit dem Nationalsozialismus als Men412

Vitzthum, JZ 1985, 201 ff., 209. Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 32; Frommel, KJ 1995, 408; die Verfasserin sieht im Volksverhetzungsparagraphen ein Delikt gegen verbale Menschenrechtsverletzungen; kritisch Stegbauer, NStZ 2000, 281, 283. 414 Wandres (Die Strafbarkeit des Ausschwitz-Leugnens, 2000, S. 223) betrachtet die Problematik der Menschenwürdeverletzung bei § 130 StGB mit Skepsis, da die „praktische Bedeutung der Frage gering“ sei. 415 Kritisch auch Thoma, S. 288. Einen Menschenwürdeangriff lehnt auch Leukert (Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, 2005, S. 94 f.) ab, weil der Gesetzgeber in der Neufassung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 StGB auf die Menschenwürdeklausel bewusst verzichtet hat. 416 Frommel, KJ 1995, 405. 413

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schenwürdeangriff ausgelegt hat, ist dieser hier abzulehnen. Denn die Strafdrohung richtet sich stets auf Handlungen und nicht auf Gedanken. Auch wenn aus anderen Umständen die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass das bloße Bestreiten eines Völkermordes einen rechtsextremen Hintergrund hat, ändert dieser den ermittelten Inhalt der Äußerung nicht. Bleibt diese Identifizierung mit Rassentheorien, die bestimmte Bevölkerungsgruppen als minderwertig einordnen, eine innerliche Gesinnung, die als Hintergrund für die revisionistische Äußerung dient, und werden neben den leugnenden Äußerungen nicht weitere aufhetzende Vorwürfe gegen die Opfer des Verbrechens vorgebracht, dann muss sie straffrei bleiben: cogitationis poenam nemo patitur. Aus diesem Grund muss die Menschenwürde zur Rechtfertigung der Bestrafung der Leugnung von nationalsozialistischen Verbrechen abgelehnt werden417. i) Das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde als Symbolik Um den Grund zu erkennen, warum der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde herangezogen hat, ist hauptsächlich die Besorgnis in der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit zu berücksichtigen, dass die nationalsozialistischen Anschauungen nicht erfolgreich bewältigt worden seien.418 An dieser Stelle ist auch auf die Bemühung der Nachkriegszeit hinzudeuten, die Rolle des Menschen und die Gegebenheiten neu zu definieren, die allen Mitgliedern der Gesellschaft – vornehmlich den Angehörigen von schutzbedürftigen Minderheiten – 417 So auch Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, S. 288; Stegbauer, Rechtsextremistische Propaganda im Lichte des Strafrechts, S. 177. Eine Beeinträchtigung der Menschenwürde ist auch bei der Alternativen der Billigung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen abzulehnen. Indem die vom nationalsozialistischen Regime begangenen Verbrechen bagatellisiert werden, äußert sich eine Verachtung der Opfer, deren Tod und Verfolgung mittelbar gebilligt oder gerechtfertigt werden. Diese verachtende Auseinandersetzung mit gewissen historischen Ereignissen aus der nationalsozialistischen Herrschaft wird im Schrifttum als Negation des Eigenwertes der Opfer als Menschen verstanden und von einigen Verfassern als Menschenwürdeangriff bezeichnet. Diese Auffassung ist hier zu verneinen. Ein Menschenwürdeangriff liegt hier wie bei den anderen Aussagedelikten nicht vor. 418 BT-Drs. 12/3954 vom 9. 12. 1992 (Extremismus und zunehmende Gewaltbereitschaft in Deutschland); BT-Drs. 12/6810 vom 9. 2. 1994 (Ausländerfeindliche und rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik Deutschland im Monat 12.1993); BT-Drs. 12/5681 vom 16. 9. 1993 (Weitere Tötungsdelikte mit zu vermutender oder tatsächlicher rechtsextremer oder ausländerfeindlicher Motivation aus dem Jahr 1992); BT-Drs. 12/6074 vom 4. 11. 1993 (Tötungsdelikt mit zu vermutender rechtsextremer und/oder ausländerfeindlicher Motivation am 27. 12. 1992 auf der Autobahn 57 in der Nähe von Neuss); BT-Drs. 12/6350 vom 6. 12. 1993 (Ausländerfeindliche und rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik Deutschland im Monat 10.1993); BT-Drs. 12/6810 vom 9. 2. 1994 (Ausländerfeindliche und rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik Deutschland im Monat 12.1993); BT-Drs. 12/7100 vom 15. 3. 1994 (Ausländerfeindliche und rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik Deutschland im Monat 1.1994).

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erlauben würden, am Leben der Gesellschaft unbeeinträchtigt teilzunehmen. Folge dieser Neudefinition und dieser identitätsstiftenden Erwägungen ist die Verankerung der Würde des Menschen auf nationaler und supranationaler Ebene als obersten Wert und Voraussetzung einer demokratischen und freien Gesellschaft. Aus dieser Perspektive muss im emphatischen Sinne der deklaratorische und historisch aufgeladene Charakter der Menschenwürde hervorgehoben werden. Im Zusammenhang mit dem deklaratorischen Charakter der Menschenwürde ist auch ihre symbolische Dimension zu verstehen. Die Erwähnung der Menschenwürde in den Gesetzesmaterialien419 zur Bekämpfung von rassistischen Vorfällen deutet auf ein exzessives Verständnis des Begriffes hin, so wie dieser in seiner historischen Dimension im Schatten der Erlebnisse des nationalsozialistischen Regimes geprägt wurde. Es ist kennzeichnend, dass sich die Bemühungen zur Konkretisierung des Menschenwürdebegriffes vom historischen Gesetzgeber oftmals auf das nationalsozialistische Regime beziehen. Gleichzeitig soll das Tatbestandsmerkmal als Korrektiv dienen, um die legale politische Auseinandersetzung in einer freien Demokratie vom Anwendungsbereich der Vorschrift auszuschließen. Eine entsprechende Problematik findet sich im Strafrechtsänderungsgesetz des Landes Niedersachsen vom 10. Dezember 1992, das in seiner Begründung den Angriff auf die Würde des Menschen mit rechtsradikalen Umtrieben in Deutschland assoziiert420. Mit ähnlicher Argumentation wird ein Antrag zur verschärften Strafdrohung begründet, indem auf die besonders schwere Verletzung der Menschenwürde zurückgegriffen wird, die solchen Straftaten innewohnt, welche an die verabscheuenswürdige Pogromhetze während der nationalsozialistischen Judenverfolgung erinnern421. Dieses breite Verständnis der Menschenwürde im Volksverhetzungsparagraphen soll über die in der Judikatur konkretisierte Auslegung hinausgehen, die als Instrumentalisierung des Menschen oder Behandlung als minderwertiges Wesen verstanden wird. Die sich aus den Gesetzesmaterialien ergebende Problematik führt zur Feststellung, dass der Gesetzgeber auf eine hochgradig politisierte Deutung der Menschenwürde zurückgreift, welche eine breite Kategorie von Persönlichkeitsrechten einbezieht, die durch diskriminierende Aussagen verletzt werden. Für den Gesetzgeber soll unter diesem Aspekt als Menschenwürdeverletzung jegliche Diskriminierung erfasst werden, die Personenmehrheiten oder Minderheiten herabsetzt oder verächtlich macht. Diesem politisch geprägten und emotionsbesetzten, im Schatten der nationalsozialistischen Erfahrungen gestalteten Menschenwürdeverständnis ist auch ihre kollektive Konzeptionierung zuzuschreiben. Der Gesetzgeber hat anscheinend den Menschenwürdebegriff hervorgehoben, ohne die dogmatischen Folgen hinsichtlich der mangelnden Individualisierbarkeit der kollektiv verstande419 BT-Drs. 563. Im schriftlichen Bericht des Rechtsausschusses des Abgeordneten Benda vom 22. 3. 1960 (BT-Drs. 1746, S. 3) findet sich eine Erörterung des neuen Tatbestands des Angriffes im Hinblick auf seine Geeignetheit, eine einschränkende Funktion zu übernehmen; BR-Drs. 887/92 vom 10. 12. 1992, S. 5; BT-Drs. 12/6853 vom 18. 2. 1994. 420 BR-Drs. 887/92 vom 10. 12. 1992, S. 5 f. 421 Sitzung des Rechtsausschusses vom 14. 1. 1993, S. 55 f.

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nen Menschenwürde auf die einzelnen Angehörigen berücksichtigt zu haben. Zu dieser unscharfen Dimension der Menschenwürde, wie sie im Gesetzgebungsverfahren des Volksverhetzungsparagraphen entwickelt wurde, hat eindeutig von vorneherein die Vagheit des Menschenwürdebegriffes beigetragen. Als Folge dieser problematischen Konkretisierung der Menschenwürde soll die Subsumtion von Begriffen und Tätlichkeiten darunter gelten, die streng genommen keine Menschenwürdeverletzung darstellen. Die Begehungsformen des § 130 StGB sind ein typisches Beispiel dafür: die Antwort zur Frage, ob die Aufstachelung zum Hass, die Aufforderung zu Gewalt oder die Beschimpfungen des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB als Menschenwürdeverletzungen gelten, hängt mit der Problematik zusammen, wie exzessiv man die Menschenwürde auslegen will, damit unter sie diverse Persönlichkeitsverletzungen subsumiert werden dürfen. Sollte man sich eine exzessive Auslegung des Begriffes zu eigen machen, die auch die Tätlichkeiten des § 130 Abs. 1 StGB als Menschenwürdeverletzung betrachtet, dann sollte der Rückgriff auf ein Kollektiv als Träger dieser Eigenschaft zu einer Ablehnung der Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut führen. Denn gesteht man der kollektiven Menschenwürde die Legitimierbarkeit eines Schutzzweckes zu, der nur abstrakt tangiert werden kann, ist diese gleichzeitig als Einschränkung der Autonomie auszulegen. Andererseits kann die Einbeziehung von Kollektiven und Bevölkerungsteilen als Angriffsobjekte des Straftatbestands nicht unbeachtet bleiben. Genau dieses Kollektivmerkmal der Vorschrift verstärkt die Argumentation der Ablehnung der Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut. Außerdem wird zu Recht bemerkt, dass das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde nicht gewährleisten kann, dass die legalen politischen Auseinandersetzungen straffrei bleiben422. Denn die Grenzlinie zwischen diesen und rassistischer Rhetorik, die sich gegen schutzbedürftige Bevölkerungsteile richtet, ist tatsächlich nicht eindeutig. Die Assoziierung einer Menschenwürdeverletzung mit den nationalsozialistischen Erfahrungen sowie der Ausschluss von legalen politischen Auseinandersetzungen bestätigt, dass das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde sich an der Anwendung des Paragraphen in solchen Fällen orientieren will, in denen ein von der nationalsozialistischen Rassentheorie geprägter Rassenhass geäußert wird, nach dem bestimmte Bevölkerungsteile als minderwertig beurteilt werden und zur Wiederbelebung ihrer Verfolgung und Ausrottung aufge422 Die modifizierte Einbeziehung der Menschenwürde, die auf die Erleichterung der Anwendung der Vorschrift zielt, erweist sich nicht als unproblematisch. Statt die Rolle des Tatbestandsmerkmales des Angriffes auf die Menschenwürde aufzuklären, wirft die erweiterte Umformulierung des Paragraphen weitere Fragen auf; so etwa soll nach gesetzgeberischem Willen auf das Tatbestandsmerkmal des Angriffes auf die Menschenwürde im Abs. 1 Nr. 1 verzichtet werden, weil dieser in der Regel zu bejahen sei. In dieser Feststellung versteckt sich die konkludente Schlussfolgerung, der Gesetzgeber wolle mit diesem Verzicht auch Fälle erfassen, die keinen Angriff auf die Menschenwürde darstellen. Mit Recht bemerkt Junge (Das Schutzgut des § 130 StGB, S. 66), mit dieser Umformulierung, die die Subsumtion von Fällen erlaube, die die Menschenwürde nicht beeinträchtigen, erfolge eine Erweiterung des Tatbestandes neben oder statt einer Erleichterung seiner Anwendung.

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fordert wird. Diese Deutung mag etwa erklären, warum der historische Gesetzgeber die Menschenwürde als kollektive Eigenschaft ohne Bedenken anerkennt und somit verkennt, dass die Quintessenz des Begriffes definitionsgemäß individuell und eine für jedes menschliche Wesen einzigartige Eigenschaft ist. Unter Bezug auf das historische Paradigma des Nationalsozialismus als Regime, bei dem die Herabsetzung von Minderheiten zu minderwertigen Personengruppen ihre schärfste Zuspitzung erfuhr und das die Objektivierung und unmenschliche Behandlung ihrer Mitglieder zum zentralen Punkt ihrer Ideologie und Politik machte, orientierte sich der Gesetzgeber an einer historisch aufgeladenen Auslegung des Begriffes, die auch eine kollektive Dimension aufweist. Nach dieser Deutung soll sich die Menschenwürde auch auf ein Kollektiv beziehen. Wie aber bereits dargestellt, verfälscht diese exzessive Auslegung den Begriff und reduziert ihn auf den negativen Bedeutungsgehalt einer Verachtung. 3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht a) Die Identität aa) Allgemeine Anmerkungen Obwohl das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt wird, lässt es sich an mehreren Stellen verankern. Eine mittelbare Verankerung findet sich im Art. 5 Abs. 1 GG, wonach der höhere Rang der Ehre durch ihre Einbeziehung als Schranke der Kommunikationsgrundrechte bestätigt wird. Trotz seiner fehlenden ausdrücklichen Verankerung im Grundgesetz ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht anerkannt423, das sich aus der Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und der freien Entfaltung (Art. 2 I GG)

423 BGH, Urteil vom 25. 5. 1954 – I ZR 211/53, NJW 1954, 1404; BGH, Urteil vom 2. 4. 1957 – VI ZR 9/56, NJW 1957, 1146; BVerfG, Beschluß vom 14. 2. 1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221 ff.; BVerfG, Beschluß vom 3. 6. 1980 – 1 BvR 185/77, NJW 1980, 2070 ff.; BVerfG, Beschluß vom 8. 2. 1983 – 1 BvL 2081, NJW 1983, 1179 ff.; BVerfG, Urteil vom 5. 6. 1973 – 1 BvR 536/72, NJW 1973, 1226 ff.; BVerfG, Beschluß vom 3. 6. 1980 – 1 BvR 185/77, NJW 1980, 2070, 2071; BVerfG, Urteil vom 5. 6. 1973 – 1 BvR 536/72, NJW 1973, 1226, 1229; Martini, JA 2009, S. 839 ff.; Lettmaier, JA 2008, 566 ff.; Jarass, NJW 1989, 857 ff. Als aktuelle Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht kann auf folgende Urteile hingewiesen werden: BGH, Urteil vom 27. 2. 2018 – VI ZR 489/16, JA 2018, 546 ff.; BGH, Urteil vom 10. 7. 2018 – VI ZR 225/17, JA 2019, 67 f.; BGH, Urteil vom 27. 2. 2018 – VI ZR 86/16, NJW 2018, 2489 ff.; BVerfG, Beschluß vom 8. 2. 2018 – 1 BvR 2112/15, JuS 2018, 1253 ff.; BVerfG, Beschluß vom 10. 10. 2017 – 1 BvR 2019/16, JuS 2018, 399 ff. (Schutz der geschlechtlichen Identität); BVerwG, Urteil vom 2. 3. 2017 – 3 C 19/15, JuS 2017, 800 (Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln.).

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ableiten lässt424. Unter den Sammelbegriff des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes werden verschiedene, von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes entwickelte Fallgruppen425 zusammengefasst. Ob jede einzelne Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zur Begründung von Strafvorschriften herangezogen werden kann426, ist eine interessante Frage, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengt. Zu erörtern ist nur, ob bestimmte Aspekte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Bestrafung des Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen legitimieren können. Ausgangspunkt der Prüfung einer schutzwürdigen Verletzung des Persönlichkeitsrechts ist die Feststellung des Bundesgerichtshofes427, dass die aufhetzende Bezeichnung der Ermordung von Millionen Juden im Dritten Reich als „zionistischer Schwindel“ eine diskriminierende Äußerung sei, die den Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus beeinträchtige.428 Auch Zabel geht ausführlich auf die Problematik der Schutzwürdigkeit der Erinnerung429 ein. In Kenntnis, dass die Pönalisierung des nicht agitierenden Holocaustleugnens auf Kritik stößt, greift Zabel zur Begründung der Bestrafung der 424 ErfK/Schmidt, GG, 22. Aufl. 2022, Art. 2 Rn. 32 ff.; Rixen, in: Sachs, GG Art. 2 Rn. 59 ff.; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 127 ff.; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 86 ff.; Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 69 ff.; BeckOK DatenschutzR/Brink, 2017, DS-GVO Syst. C. Verfassungsrechtliche Grundlagen Rn. 10 ff. 425 Beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelt es sich um ein weit gefasstes Grundrecht, dessen Ausprägungen von der Rechtsprechung entwickelt und systematisiert worden sind. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Fallgruppe des Rechtes auf Selbstbewahrung. Unter diese Kategorie fallen insbesondere der Schutz der Privat- und Intimsphäre, nämlich der innerste und engere Lebensbereich wie etwa der Schutz der Privatsphäre, die Vertraulichkeit des Tagebuchs (BVerfG, Beschluß vom 14. 9. 1989, 2 BvR 1062/87, NJW 1990, 563), die informationelle Selbstbestimmung (BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83, NJW 1984, 419, „Volkszählungsurteil“). Es umfasst weiterhin das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (BVerfG, Urteil vom 27. 2. 2008 – 1 BvR 370, 595/07, NJW 2008, 822). Unter das Recht auf Selbstdarstellung fallen insbesondere die Ausprägung des Rechts am eigenen Wort und Bild (BVerfG, Beschluß vom 31. 1. 1973 – 2 BvR 454/71, NJW 1973, 891) und das Recht der persönlichen Ehre (BVerfG, Beschluß vom 3. 6. 1980 – 1 BvR 797/78, NJW 1980, 2072). Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zählt auch das Recht des Strafgefangenen auf Resozialisierung (BVerfG, Urteil vom 5. 6. 1973 – 1 BvR 536/72, NJW 1973, 1226). 426 Knauer, Der Schutz der Psyche im Strafrecht, 2013, S. 291; Peglau, Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Strafrecht, 1997; Kraenz, Der strafrechtliche Schutz des Persönlichkeitsrechts, 2008. 427 BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 1980, 45. 428 Emmerich/Würkner, NJW 1986, 1203. Auch das Bundesverfassungsgericht führt in seiner Auseinandersetzung mit § 130 Abs. 4 StGB aus, dass neonazistische Äußerungen ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens seien (BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, JuS 2010, 560). 429 Zabel, ZStW 122 (2010), 834 ff.

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Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen auf eine mehrdimensionale, die Verletzungshandlung kontextualisierende Rechtsgutsbestimmung zurück. Ausgangspunkt seines Legitimationsrahmens ist die These, dass das Strafrecht durch das Rechtsgüterschutzprinzip nicht nur die Ordnung als fortdauernden Friedenszustand zu schützen vermag, sondern auch allgemeine Orientierungssicherheit und individuelle Orientierungskompetenzen gewährleisten soll. Der Legitimationsrahmen des § 130 Abs. 3 StGB wird daher als Identitätsschutz im Sinne einer Identitätsbeziehung zwischen der bundesdeutschen Gesellschaft und den jüdischen Opfern präzisiert, insoweit diese Identität durch die entsprechenden Vergangenheitspolitiken konkretisiert und kontextualisiert worden ist. Die Legitimation der Vorschrift durch die historische Wahrheit als solche lehnt Zabel ausdrücklich ab430. Ein allgemeiner und universaler Erinnerungsschutz sei nicht sinnvoll. Das historische Gedächtnis sei hingegen schutzwürdig, wenn dadurch ein „Identitätsschutz qua Erinnerungsschutz“ gewährleistet werden solle431. Durch die Bestrafung des Leugnens des persönlichen Verfolgungsschicksals der betroffenen Opfer werde gleichzeitig die erinnerungsgeleitete Stabilisierung des normativen Selbstverständnisses der Gesellschaft geschützt. Zabels Konstruktion vom Identitätsschutz qua Erinnerungsschutz relativiert sich durch die Restriktion auf die Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen als legitime Akteure, denn nur so bestehe ein individualisierbares Freiheitsverletzungsverhältnis. Daraus wird ersichtlich, dass es sich um ein legitimes Verbot mit begrenzter Geltungsdauer handelt432. bb) Die Erinnerung als Bestandteil der Identität In der Gedächtnisgemeinschaft übernimmt die Erinnerung die Rolle der Gestaltung der Identität und des Selbstverständnisses der Gruppe433; weiterhin stabilisiert sie deren politische Handlungsfähigkeit. Bei diesem Prozess der Identitätsstiftung wird der Rekonstruktion der Erinnerung große Bedeutung zugemessen434.

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Zabel, ZStW 122 (2010), 848. Zabel, ZStW 122 (2010), 850. 432 Zabel, ZStW 122 (2010), 851. 433 Eder, in: Cremer/Klein (Hrsg.), Umbrüche in der Industriegesellschaft. Herausforderungen für die politische Bildung, 1990, S. 351; einen Überblick zur Entwicklung der Beziehung Vergangenheit/Gegenwart im europäischen Denken von der griechischen Antike bis zum 19. Jahrhundert liefert uns Le Goff in seiner Monographie Geschichte und Gedächtnis, 1985, S. 38 ff.; Jureit, in: Grieger/Gutzmann/Schlinkert, Die Zukunft der Erinnerung, 2008, 85 ff.; Mommsen, in: Diner, Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, 1987, S. 74. 434 Zur Betrachtung der kollektiven Erinnerung als Machtinstrument und Ziel von Herrschaft, die ein wesentliches Element der individuellen und kollektiven Identität bildet, siehe Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, S. 135; zur Rekonstruktion, Polkinghorne, in: Straub (Hrsg.), Narration, identity, and historical consciousness, 2005, S. 9. 431

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Auf sie wird zurückgegriffen, um uneinheitliche identitätsbildende Narrative zu homogenisieren oder kollektive Vergangenheitsbezüge zu verstärken435. Als erster Schritt des Mechanismus der Identitätsstiftung ist zunächst das Konzept des kollektiven Gedächtnisses zur Überlieferung der historischen Erlebnisse als eine Form kultureller Arterhaltung darzustellen436. Die Interaktion des individuellen Gedächtnisses mit dem kollektiven lässt sich zunächst in der Form des kommunikativen Gedächtnisses437 ausdrücken, also einem sozial vermittelten, auf Alltagskommunikation beruhenden, gruppenbezogenen Gedächtnis, das sich nicht bei beliebigen Mengen findet, sondern bei Gruppen von Personen, die durch ein Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheit verbunden sind438. Dieses Netz des kollektiven Gedächtnisses prägt weiterhin das individuelle Gedächtnis. Dabei tragen die einzelnen individuellen Formen des Selbstbewusstseins zugleich weiter zur Prägung der Kontinuität des kollektiven Gedächtnisses bei. Dieses Palimpsest flüssiger Erfahrungen erlebt einen objektivierten Übergang, indem es nicht bloß eine Erzählung über die Vergangenheit tradiert, sondern der Gruppe, die diese Erfahrungen gemacht oder überliefert hat, ihre Identität verleiht.439 Doch entspricht dieses verstärkte kollektive Gedächtnis nicht einer musealisierten Vergangenheitsmanie. Es existiert vielmehr als „Geschichte im Gedächtnis“440 der Gegenwart. Und damit kommen wir zum zweiten wichtigen Merkmal des Gedächtnisses, seine Rekonstruktivität, die die Vergegenwärtigung der historischen Erfahrungen 435 „Sind wir dazu verpflichtet, uns an vergangene Personen und Ereignisse zu erinnern?“. Mit dieser Frage aus Ausgangspunkt geht Avishai Margalit (Ethik der Erinnerung, 2000, S. 12 ff.) auf die Problematik ein, ob die Erinnerung Gegenstand der Moral sein kann. Gefragt wird weiterhin, ob es von der Ethik einer kollektiven Erinnerung die Rede sein darf. In diesem Kontext ist die Bemerkung von Jürgen Habermas zu verstehen, dass die Erinnerung als Widerlegung einer „fugendichten Normalität dessen“ zu verstehen ist, „was sich nun mal durchgesetzt hat“ (Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, 1987, S. 175). 436 Eine übersichtliche Aufklärung der Termini des kollektiven Gedächtnisses und seinem Übergang zur Identitätsstiftung liefert Assmann (Assmann, in: Assmann/Hölscher, Kultur und Gedächtnis, 1988, S. 9 ff.). 437 Zum Begriff des kommunikativen Gedächtnisses als jener Spielarten des kollektiven Gedächtnisses, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen, siehe Assmann, in: Assmann/Hölscher, Kultur und Gedächtnis, 1988, S. 10; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 2018, S. 50. 438 Straub, in: Straub (Hrsg.), Narration, Identity, and Historical Consciousness, 2005, S. 44. 439 Genauso wie das kommunikative Gedächtnis so ist auch das kulturelle Gedächtnis nicht eindimensional gestaltet. Seine „mnemische Energie“ (Assmann, in: Assmann/Hölscher, Kultur und Gedächtnis, 1988, S. 12. Assmann versteht unter dem Begriff das Gedächtnis als in kultureller Formgebung kristallisierte kollektive Erfahrung; Bosse, in: Rüsen/Straub, Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 194 ff.) kommt durch Fixpunkte zum Ausdruck, also durch entscheidende Ereignisse der Vergangenheit, die in kultureller und institutionalisierter Form erinnert werden, wie etwa bei Festen oder Riten. 440 Assmann, Geschichte im Gedächtnis, 2007.

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ermöglicht441. Die Aufbewahrung der individuellen Erlebnisse und die Überlieferung der Erinnerungen sind sogar unentbehrlich. Jeder Mensch erlebt als Zeuge die Geschichte seiner Zeit. Dieser Grundbaustein der Erinnerung, also die primäre Erfahrung, ist wegen des Generationenwechsels ohne die Weitergabe der Aussagen und Erfahrungen der Vergessenheit ausgesetzt. Ohne den rekonstruktiven Charakter der Erinnerung, nämlich den Bezugsrahmen der Gegenwart, kann diese Reflexion nicht erfolgen. Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, dass Erinnerungen stärker von der Gegenwart als von der Vergangenheit geprägt sind. Diese Umformung des kommunikativen Gedächtnisses, das die Erinnerungen der lebenden Zeugen umfasst und durch soziale Interaktion wach bleibt, bleibt daher nicht eine bloße Vergangenheitsbewältigung. Der rekonstruktive und gruppenbezogene Charakter der Aufrechterhaltung des Erinnerns verleiht der Erinnerung eine identitätsstiftende Funktion.442 Die geteilten individuellen Erfahrungen nehmen die Gestalt eines gesellschaftlichen Topos an, verbinden die Angehörigen der Gruppe, die sich anhand der gemeinsamen Erinnerungen als einander zugehörig identifizieren. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass dem Gedächtnis eine bedeutende Rolle für die Identitätsstiftung zugemessen wird443, indem es einen einheitlichen Zusammenhang zwischen den Personen herstellt. Eine Identität ohne Gedächtnis ist nicht vorstellbar444. Eine Gesellschaft ohne Vergangenheit und kollektives Gedächtnis, ist eine temporäre Personengruppe, die jeglicher Merkmale entbehrt. Die Eigenschaft des sozialen Wesens hat als unmittelbare Folge die Prägung verschiedener Identitätsbeziehungen, die dauerhaft von den Vorstellungen des kollektiven Gedächtnisses beeinflusst und gestaltet werden445. Dieses Identitätsbeziehungsgeflecht wird als Beziehung innerhalb der Familie, von Parteien, Berufsver441

Schon 1925 erfasste Halbwachs in seiner Monographie zu dem „Sozialen Rahmen des Gedächtnisses“ die Erinnerungen der Individuen als an einem sozialen Zusammenhang orientiert, der den Individuen ermöglicht, diese Erinnerungen aufzurufen. Diese Wiederherstellung der Vergangenheit antwortet auf aktuelle Bedürfnisse des Kollektivs und schafft allmählich ein soziales Denken Halbwachs (Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1985). 442 Jan Assmann, in: ders./Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, 1988, S. 13. 443 Gergen, in: Straub, Narration, identity, and historical consciousness, 2005, S. 99. 444 Nehme man die Fragmentarität der im Gedächtnis eingelagerten Erinnerungen an, so sei zwangsläufig auch die Identitätsunterstellung relativiert; jede kollektive Identität sei ein selektiver Rückgriff auf Vergangenes und ihre Zusammenstellung das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen, so Eder, in: Cremer/Klein, Umbrüche in der Industriegesellschaft. Herausforderungen für die politische Bildung, S. 364; Gergen, in: Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, 1998, S. 188 f. 445 Knigge, in: Grieger/Gutzmann/Schlinkert, Die Zukunft der Erinnerung, S. 62 ff.; Emrich, in: Rüsen/Straub, Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 211 ff.; Diner, in: Diner, Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, 1987, S. 185 ff. Diner deutet auf die Wechselwirkung zwischen Identität und Vergegenwärtigung der Erinnerung hin, indem die ständige und dynamische Anwesenheit des Opfers im Deutschland der Nachkriegszeit die Täter herausfordert, sich die Tat zu vergegenwärtigen.

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bindungen und vor allem als ethnische Identitätsbeziehung erlebt, die die untergeordneten Beziehungen umhüllt. Sie prägt ein Zugehörigkeitsgefühl in der Gemeinde, deren Konstante das Gedächtnis ist. Folglich verkennt die Auffassung, die alle Identitäten als ein ideologisches Konstrukt im Reich der Phantasie betrachtet, den materiellen Charakter dieser Beziehungen. Sie sind keine Pseudoüberzeugungen einer Zugehörigkeit, sondern ein ideologisches Konstrukt, das zum Aufbau und der Kontinuität eines Staates beiträgt. Auf die Dekonstruktion dieses Konzeptes zielt der sogenannte historische Revisionismus. Durch die Leugnung des Holocaust bezweckt er nicht nur die Verfälschung der historischen Wahrheit, die er unmittelbar verletzt. Zunächst wird durch die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen angestrebt, deren universelle Missbilligung als ein pazifistischer Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit angesehen war, die politischen und ideologischen Divergenzen zwischen gestern und heute auszuräumen. Der Mechanismus der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen bezweckt, das politische Erbe der nationalsozialistischen Diktatur zu beschönigen und die historische Wahrheit als ein politisch motiviertes Missverständnis darzustellen und somit als Korrektiv für das kollektive Gedächtnis zu dienen. Dieser angestrebte Wiederherstellung des politischen Erbes des Nationalsozialismus beeinflusst zwangläufig mit ihren Aussagen die Identitätsbeziehungen. Verfälschung der historischen Wahrheit bedeutet auch Verfälschung des geschichtlichen Kontextes, der den primären Stoff des Selbstverständnisses der Gesellschaft darstellt sowie der Identitätsbeziehungen, die sich in dieser Gesellschaft der Nachkriegszeit sowohl zwischen den Opfern und dem Rest der Gesellschaft als auch nur zwischen den Opfern bilden. Endziel dieses Vorganges ist die Dekonstruktion der historischen Wahrheit als negatives Gedächtnis, das als ideologischer Ausgangspunkt die Identitätsbeziehungen der Gesellschaft definiert und prägt. cc) Die Identität als Rechtsgut im Strafrecht Unter dem Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus ist ein Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu erkennen, der zum personalen Selbstverständnis gehört. Die Verfolgung oder Viktimisierung von Angehörigen von Minderheiten allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Minderheit oder einem bestimmten Personenkreis wirkt auf das persönliche und kollektive Selbstverständnis der Opfer narrativ446. Die traumatischen Erfahrungen prägen das Leben der überlebenden Opfer und ihre Persönlichkeit. In diesem Anspruch erkennen Hörnle447 und Amelung448 ein zulässiges Legitimationskriterium von strafbewehrten Verboten, das als Recht auf Anerkennung der 446 447 448

BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 1980, 46. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 141 ff., 325 ff. Amelung, Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung, 2002, S. 48.

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eigenen Identität einzugrenzen sei. Nach dieser Auffassung soll als Recht auf Identität die Anerkennung wesentlicher identitätsstiftender Merkmale im Sinne des Respekts vor der Individualität und dem jeweils eigenen Selbstbild verstanden werden, die für eine Persönlichkeitsentfaltung unentbehrlich ist. Dieses Legitimationskriterium finde Anwendung in der Bestrafung des Bestreitens des Verfolgungsschicksals als persönlicher Geltungs- und Achtungsanspruch, der aus dem Verfolgungsschicksal der Opfer resultiere. In diesem eng gefassten Recht auf Identität wird ein Anspruch der Opfer und der nahen Angehörigen auf Unrechtsanerkennung als Ansatz zur Rechtfertigung der Bestrafung der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen zum Ausdruck gebracht449. Um auf die Frage einzugehen, ob das Recht auf Identität die Bestrafung des Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen legitimiert, ist zunächst eine begriffliche Klärung erforderlich. Dass der Begriff wenigstens erläuterungsbedürftig ist, kann kaum bestritten werden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die konkrete Identität des Einzelnen als Voraussetzung selbstbestimmten Handelns450. Die Deutung der Identität als Ichbewusstsein umfasst verschiedene Merkmale des Individuums, über die kein allgemeiner Konsens besteht. Als erstes Hindernis dafür kann darauf hingewiesen werden, dass die Identität als Dimension des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht in ihrem rechtlichen Verständnis – also als biometrisches Merkmal – herangezogen wird, sondern als psychologisches und soziologisches Konstrukt. Der stark interdisziplinäre Charakter des Begriffes betont noch mehr die Unbestimmtheit der Merkmale, die eine Identität gestalten. Da sich die Identität in der Unterscheidung des Einzelnen von der Masse herausbildet, kann sich das Subjekt in verschiedenen Gesellschaftsrollen identifizieren. Die verschiedenen Ansätze versuchen, den Prozess der Gestaltung der Identität zu dekodieren451. Für Frey und Haußer452 ist demnach die Identität die Selbstreflexion von Erfahrung, die übersituativ verarbeitet wird. Erikson und Habermas greifen auf das Konzept der IchIdentität zurück453, um die Identitätsbildung zu erklären. In Anlehnung an Theorieelemente aus Freuds Psychoanalyse wird durch das Konzept der Ich-Identität die Identität als diejenige Zusammenfassung der Elemente aufgefasst, welche die „personalen Selbst- und Weltverhältnisse und deren symbolische Gestaltung durch individuelle Subjekte“454 abbilden. In den verschiedenen Ansätzen erweist sich die 449 Für Hörnle besteht ein Sicherheitsinteresse des Verfolgten und des nahen Angehörigen an der Anerkennung des erlittenen Unrechts, S. 146. 450 Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S. 211. 451 Gergen, in: Straub, Narration, identity, and historical consciousness, 2005, S. 99 ff. 452 Frey/Haußer, in: dies. (Hrsg.), Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung, 1987, S. 21. 453 Erikson, in: ders., Identität und Lebenszyklus, 1998, S. 190 ff.; Habermas, Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 14 ff. 454 Straub, in: ders. (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, 1998, S. 96.

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Identität als ein Entwicklungsprozess, bei dem den Komponenten und Bearbeitungsprozessen nicht ein a priori bestimmtes Gewicht zukommt. Anhand der verschiedenen Rollen und Lebenssituationen jeder Person führt eine statische Betrachtung der Identität zu einer vereinfachten Wahrnehmung der Person selbst. Die Erfahrungen und Merkmale, die das Selbstbewusstsein einer Person prägen und als identifizierendes Kriterium dienen, sind weder bestimmt noch können sie als solche bei allen Angehörigen des Kollektivs anerkannt werden. Daher ist die Frage der identitätsstiftenden Merkmale als Frage der Quintessenz der Existenz zu umschreiben. Diese Komplexität wiederholt sich bei der kollektiven Identität. Die Überzeugungen oder emotionalen Bezüge, die eine kollektive Identität formen, sind auch in diesem Fall nicht eindeutig bestimmbar455. Das Geschichtsbewusstsein der Einzelnen sowie des Kollektivs stiftet die kollektive Identität und kann daher als ein kulturelles Konstrukt betrachtet werden, das in verschiedenen Arten die Generationsfolge durchzieht und fortsetzt. Die narrative Prägung der persönlichen oder kollektiven Identität sowie das unberechenbare Gewicht der Komponenten, die sie mitgestalten, zeigen, dass die rechtliche Konzeptionierung der Identität eine äußerst vage Konstruktion darstellt. Würde man auf eine rechtliche Erfassung der Identität abstellen, dann hätte man alle objektiven und subjektiven Komponenten berücksichtigen müssen, die die persönliche Identität stiften, wie etwa persönliche Tabus, politische Einstellungen, moralische Ansichten und Gefühle. Der Gesetzgeber ist aber nicht berechtigt, zum Schutz dieser Ziele strafrechtlich einzugreifen. Daraus darf geschlossen werden, dass das Recht auf Identität kein legitimes Rechtsgut darstellt. Geht man trotzdem von der Legitimität des Identitätsschutzes aus – die hier zurückgewiesen wird –, ist darauf hinzuweisen, dass das Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen gar nicht geeignet ist, die geschichtsstiftende Identität der Opfer zu beeinträchtigen.456 Die nationalsozialistischen Verbrechen sind in der Geschichtsschreibung mit reichem Material belegt, wie etwa die zahlreichen Aussagen, das stolze Bekenntnis der Täter, die diese Verbrechen als erforderliche Endlösung zur Schaffung des „Übermenschen“ verklären, sowie verschiedene anderen Quellen beweisen. Die Begehung dieser Verbrechen ist so eingehend wis455 Ob die kollektive Identität als solche eine Gegebenheit oder ein emotionales Konstrukt ist, kann dahinstehen. Anderson beschreibt die Nationen als „vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson, Die Erfindung der Nation, 2005, S. 14), deren Mitglieder die Vorstellung einer Gemeinschaft schaffen. 456 Der Rückgriff auf die strafrechtliche Befugnis zum Zwecke der Bewahrung der historischen Wahrheit vor böswilligem In-Abrede-Stellen oder Ignoranz verkennt hauptsächlich die Mechanismen der Fortwirkung der Erinnerung im kollektiven Gedächtnis wie etwa die Gedenkstätten als Mahnstätten und Erinnerungsorte, die es einzelnen Personen und der Gesellschaft ermöglichen, mit der entfernten Vergangenheit in Berührung zu kommen. Die Ungeeignetheit der Strafe zur Bewältigung der historischen Ignoranz erweist eine Befragung der Körber-Stiftung: Der Studie zu Folge wissen nur 59 % der deutschen Schüler ab 14 Jahren, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrationslager der Nazis war (Die Welt vom 28. 9. 2017).

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senschaftlich fundiert, und ihre Erinnerung hat das kollektive Bewusstsein so stark geprägt, dass ihre sporadischen Leugnungen nicht geeignet sind, das kollektiv geteilte Wissen zu erschüttern. Der Fortwirkung der Erinnerung wird eine übergroße Rolle zugemessen, die durch die starke Medienwirkung sowie andere interdisziplinäre Synergien wie die Stabilisierung des historischen Selbstbildes durch den Schulunterricht oder die Kunst erzeugt wird457. Dieses stabile Gedächtnis lässt sich nicht durch Aussagen beeinträchtigen, die darüber hinaus von der Mehrheit der Gesellschaft nicht ernst genommen werden. dd) Zabels Identitätsschutz qua Erinnerungsschutz Zabels Konstruktion ist zunächst einmal aus mehreren Gründen positiv einzuschätzen. Seine These ist im Allgemeinen konsistent mit dem Verzicht des Strafgesetzbuches, ein allgemeines Lügendelikt zu schaffen.458 Dementsprechend bezweckt die Pönalisierung der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen nach Zabel nicht den Schutz der historischen Wahrheit. Sie ist mit der individuellen und vor allem moralischen Disposition der Akteure verbunden459 und ermöglicht daher keinen objektiven Freiheitsschutz. Diesen freiheitsrelevanten und freiheitsbegründenden Sinn der Norm macht Zabel geltend durch die Konstruktion der Identitätsbeziehung zwischen der bundesdeutschen Bevölkerung und den überlebenden Opfern. Seine Analyse scheint das dogmatisch unsichere Terrain der Begründung des Leugnungstatbestandes durch den vagen öffentlichen Frieden, die pauschale kollektive Menschenwürde oder die problematische, nach Streng strafrechtlich zu schützende Scham zu überwinden und greift auf ein schutzbedürftiges, identitätsprägendes kollektives Gedächtnis zurück. Seine Konstellation trennt sich von der Gesinnung und subjektiven Disposition der Akteure und knüpft sich an eine objektivierende freiheitssichernde Legitimationsgrundlage. Um sich mit Zabels These auseinandersetzen, ist es erforderlich, auf seine Rechtsbestimmung hinzuweisen. Denn Zabel hält den strafrechtlichen Eingriff nicht nur in Fällen für berechtigt, in denen die Ordnung als fortdauernder Friedenszustand gewährleistet werden soll, sondern auch als Mittel zum Schutz der allgemeinen Orientierungssicherheit und individueller Orientierungskompetenzen. Die Orientierungssicherheit ist zunächst als Rechtssicherheit zu verstehen. Sie ermöglicht dem Bürger, sich am geltenden Recht sicher orientieren zu können und die Rechtsfolgen seines Verhaltens zu erkennen und vorauszusehen460. Dieser Aspekt der Orientierungssicherheit beinhaltet mit anderen Worten die Klarheit und Vorhersehbarkeit, die 457 Der Rückgriff auf den Identitätsschutz lässt übrigens die vielfältigen Rahmen außer Acht, die die Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten erlaubt (Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 1967, S. 55). 458 Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 102. 459 Zabel, ZStW 122 (2010), 853. 460 Künzler, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit, 2008, S. 221; Seelmann, in: Brudermüller (Hrsg.), Organtransplantation, 2000, S. 35.

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den Rechtsunterworfenen ihre Rechte und Pflichten klar macht, freien Raum für ihre Orientierung schafft und ihr Vertrauen in die rechtsstaatliche Beständigkeit verstärkt. Dieser Aspekt der Orientierungssicherheit, der sich normativ als ein „Sich-Verlassen-Dürfen“ umschreiben lässt461, ist ohne die rechtsstaatliche Mitwirkung der Rechtsorgane nicht gewährleistet. Im strafrechtlichen Bereich wird diese Orientierungssicherheit durch Persönlichkeitsbeeinträchtigungen tangiert, die die Fähigkeit der Person zu künftiger Orientierung im sozialen Leben behindern würden462. Der Rückgriff auf die Orientierungssicherheit und ihre Grundlage, die Orientierungskompetenz, zur Legitimation und Grenze der Bestrafungsbefugnis ist dennoch nicht unproblematisch. Die erforderliche Beeinträchtigung der Orientierungssicherheit als Legitimitätskriterium ist weder bestimmt noch geeignet, als Abgrenzungsansatz der Strafbefugnis zu dienen. Zunächst ist eine derartige Beeinträchtigung weder qualitativ noch quantitativ konkretisierbar. Mit anderen Worten: Es erscheint problematisch zu bemerken, wann eine strafrechtlich relevante Verletzung der Orientierungssicherheit vorliegt. Es ist weiterhin fraglich, ob die Orientierung der Person eine abgrenzende Funktion der Strafe legitimieren kann. Der Begriff ist nicht nur kulturell geprägt, sondern umfasst vielmehr verschiedene Ansichten der Persönlichkeitsentfaltung, die die Persönlichkeit als ein Ganzes darstellen: die politische Orientierung der Bürger gemäß ähnlicher Wertorientierungen und Alltagseinstellungen, die kulturelle Orientierung um Sinne des Sich-Zurechtfindens in Hinblick auf kulturspezifische Merkmale, die sexuelle Orientierung, die religiösen Ansichten, die Berufsorientierung etc. Der Begriff der Orientierung ist nicht nur kulturell geprägt und Veränderungen unterworfen, sondern auch viel zu breit, um als Legitimationskriterium der Strafbefugnis zu fungieren. Außerdem ist es keine Aufgabe des Strafrechts, Strafdrohungen zum Schutze einer bestimmten Orientierungslinie zu erlassen463. Auch wenn man von einem erweiterten Schutzraum der strafrechtlich relevanten Orientierungslinien ausgeht, kann ein solcher strafrechtliche Eingriff die friedliche Koexistenz der Bürger nicht gewährleisten. Im Gegenteil kann eine Erschütterung der friedlichen Koexistenz durch die Betrachtung des Strafrechts als einer individualistischen Resultante persönlicher Orientierungen nicht ausgeschlossen werden. Im Übrigen kann das Abgrenzungskriterium der Orientierungssicherheit einen mittelbaren Gefühlsschutz als zulässig erachten und ehrenwerte Gesinnungen oder soziale Prioritäten mit einer rechtsgüterschützenden Funktion auszustatten. Dieser Punkt lässt sich mit Zabels Rechtsgutsbegründung klarer belegen. Für den Autor ist der Legitimationsgrund des Leugnungstatbestandes als ein wechselseitiger Identitätsschutz qua Erinnerungsschutz zu erfassen, der die erinnerungsgeleitete Stabilisierung des normativen Selbstverständnisses der Gesellschaft ermöglicht. 461 462 463

Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 480. Seelmann, in: FS für E. A. Wolff, 1998, S. 493. Seelmann, in: FS für E. A. Wolff, 1998, S. 493.

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Des Weiteren lässt sich durch einen Rückgriff auf die Orientierungssicherheit ein hinreichend bestimmter Rechtsgüterschutz nicht realisieren. Das umfangreiche Legitimationsmodell verleiht auch Zielsetzungen legitimierende Funktion, die der Fragmentarität und Subsidiarität des Strafrechts entgegenstehen. Dies lässt sich am Beispiel des empfohlenen historisch geprägten Identitätsschutzes belegen. Dass eine erkennbare Identitätsbeziehung zwischen der bundesdeutschen Bevölkerung und der Überlebenden des Holocaust besteht, ist nicht zu beanstanden. Ebenso unbestreitbar und ehrenwert ist die Stärkung des historischen Selbstverständnisses der Gesellschaft durch die Vergangenheitspolitiken, die diese Identitätsbeziehungen gestalten und kontextualisieren. Aus Zabels Analyse ergibt sich allerdings nicht die Rechtsgutsrelevanz des Identitätsschutzes und der erinnerungsgeleiteten Stabilisierung des normativen Selbstverständnisses der Gesellschaft464. Der Erinnerungskultur und dem kollektiven Gedächtnis wird in Deutschland zu Recht eine außerordentliche Bedeutung zugemessen. Die Bewältigung und Aufarbeitung der Vergangenheit gehören zum Gesellschaftsvertrag Nachkriegsdeutschlands, der das Selbstbild der Gesellschaft stabilisiert und das Bewusstsein der Bevölkerung mitgestaltet. Dieser dynamische Prozess trägt nicht nur zur Aufrechterhaltung, sondern auch zum Verständnis der Erinnerung bei. Es ist allerdings fraglich, ob der Identitätsschutz als Wahrnehmung der Orientierungssicherheit der Aufrechterhaltung des Gesellschaftsvertrags dient. Die bloße Umschreibung des Identitätsschutzes als gesetzliche Zielvorstellung begründet kein tatbestandslegitimierendes Rechtsgut. Es muss vielmehr erörtert werden, inwiefern die ehrenwerte Aufrechterhaltung der historisch geprägten Identitätsbeziehungen erforderlich für das friedliche Zusammenleben ist. Auch wenn eine Beeinträchtigung des Identitätsschutzes verwerflich ist, muss bedacht werden, ob ihr Schutz durch mildere Mittel als strafrechtliche erzielt werden kann wie etwa durch die Verstärkung der Erinnerungskultur in der Schule sowohl im Unterricht als auch in außerunterrichtlichen Projekten als auch durch die Dekonstruktion von verfälschenden historischen Aussagen mittels einer selbstständigen Reflexion von Geschichtsdeutungen im öffentlichen Diskurs. Daraus lässt sich ableiten, dass der Identitätsschutz als Legitimationsgrundlage der Strafvorschrift wenig überzeugt, da er eine expansive Tendenz der Strafbedürftigkeit aufweist und die Erforderlichkeit der Sanktion nicht begründet. Ebenso problematisch ist die Legitimation der Strafvorschrift mittels der erinnerungsgeleiteten Stabilisierung des normativen Selbstverständnisses der Gesellschaft. Ein derartiger Schutz ist als Schutz der historischen Wahrheit zu verstehen, nämlich als Erinnerungsschutz zum Schutz des kollektiven Gedächtnisses. Zabel lehnt ihn eindeutig ab465, weil er von einem subjekt- und diskursgelösten Wahrheitsbegriff ausgeht. 464 Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, 2014, S. 261. 465 Zabel, ZStW 122 (2010), S. 848.

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b) Das Recht auf Selbstdarstellung Ein weiterer anerkannter Aspekt des Persönlichkeitsrechts, der hier relevant ist, ist das Recht auf Selbstdarstellung.466 Es verankert die Erwartung des Einzelnen, herabsetzende, verfälschende, entstellende und unerbetene öffentliche Darstellungen nicht dulden zu müssen467. Das Recht auf unverfälschte Darstellung können die Opfer des nationalsozialistischen Regimes geltend machen, da ihre Verfolgung als Katalysator für ihr Selbstverständnis sowie ihre Identifikation mit anderen Verfolgten diente. Die in Betracht kommende Verfolgung kann bei den Nachfahren nur mittelbar einen entsprechenden Anspruch rechtfertigen, da sie nicht Teil ihres Lebens, sondern eine identitätsstiftende Perspektive ihres Gedächtnisses ist. Der Rückgriff seitens der Nachfahren auf den Schutz vor unverfälschter Darstellung stellt in der Wirklichkeit einen Anspruch auf den Schutz ihrer Gefühle, die durch das Bestreiten der kollektiven Identität verletzt wird. Diese vorläufigen Bemerkungen zur potentiellen Verletzbarkeit des Persönlichkeitsrechts bei personenbezogener Leugnung des Verfolgungsschicksals oder anderer historisch relevanter Tatsachen übernehmen allerdings keine Indizfunktion für die Geeignetheit des Rechts auf Selbstdarstellung, als legitimer Ansatz zur Rechtfertigung der Kriminalisierung des Bestreitens von historischen Tatsachen herangezogen zu werden. Als erstes Argument zur Illegitimität des Rechts auf Selbstdarstellung als Legitimationskriterium von Strafdrohungen kann die Ausdehnung der strafrechtlich relevanten Materie erwähnt werden. Die Kriminalisierung von verfälschenden Angaben zur Sicherung der Kommunikationsvoraussetzungen zwischen Individuen in der Gesellschaft schafft ein strafrechtsrelevantes Umfeld für jegliche Kommunikation, bei der die Angaben, die die Persönlichkeit der Person prägen, eine normative Funktion aufweisen. Zweitens sollte der Rechtsunterworfene in der Lage sein, die Strafbarkeit seiner Handlungen vorhersehen zu können, damit er sein Verhalten in einem freiheitlichen

466 BeckOK InfoMedienR/Gersdorf, EMRK, 35. Auflage 2021, Art. 8 Rn. 66; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 166 ff. 467 BVerfG, Beschluss vom 10. 11. 1998 – 1 BvR 1531/96, NJW 1999, 1322 (Das Grundrecht schützt die soziale Anerkennung des Einzelnen; es umfaßt den Schutz vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken, indem sie das Ansehen des Einzelnen schmälern, seine sozialen Kontakte schwächen und infolgedessen sein Selbstwertgefühl untergraben können. Dieser Aspekt des Persönlichkeitsrechts wird nicht extensiv ausgelegt; es schützt nur vor erhebliche Verfälschungen und schützt die Person vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 10. 4. 2007 – 7 U 142/06; BVerfG, Beschluss vom 25. 10. 2005 – 1 BvR 1696/98, NJW 2006, 207; OLG München, Urteil vom 7. 4. 2009 – 18 U 1704/09; LG Köln, Urteil vom 15. 3. 2017 – 28 O 324/16).

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Umfeld entfalten kann.468 Die Konstruktion des strafrechtlich schutzwürdigen Rechtsgutes des „Rechts auf Selbstdarstellung“ ist nicht nur vage, sondern schreibt jedem Faktum oder jeder Eigenschaft der Persönlichkeit einen normativen Charakter zu, der die Sicherheit der Kommunikation als straffreien Raum erschüttert. In dieser Tendenz ist weiterhin eine de facto Priorisierung des strafrechtlichen Schutzes des Persönlichkeitsrechts zu erkennen, die gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Mit dem Verzicht auf die Diskussion, ob die in Betracht kommenden Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts durch mildere Mittel bekämpft werden können, wird gleichzeitig auf die Diskussion des effektiven Schutzes des Persönlichkeitsrechtes verzichtet. Stellt man a priori auf die Strafbedürftigkeit potentieller Verletzungen des Persönlichkeitsrechts ab, dann umgeht man dadurch die Frage, ob die Bestrafung der Verletzung des Persönlichkeitsrechts das geeignete Mittel ist, um jegliche Aspekte der Persönlichkeit vor Angriffen zu schützen. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, weshalb die zivilrechtlichen Ersatzansprüche oder der Anspruch auf Entschädigung seitens des Opfers nicht als ausreichend zur Bewältigung von Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts angesehen werden. c) Die Ehre aa) Der Begriff der Ehre Die vereinzelt vertretene Auffassung469, dass § 130 Abs. 3 StGB dem Schutz der Ehre dient, ist ebenfalls zu prüfen. Demnach ist auf die Frage einzugehen, ob die Ehre zur Rechtfertigung des § 130 Abs. 1 und 3 StGB herangezogen werden kann. Obwohl das rechtliche Konzept der Ehre eine Errungenschaft des Industriezeitalters ist, findet sich ein Ehrbegriff auch in den vormodernen Gesellschaften470. Die Öffentlichkeit als sozialer Raum selbst ermöglichte in der Antike die Existenz der Ehre471. Wegen der patriarchalen Struktur der antiken Gesellschaften war die Ehre als Wahrnehmung der Person im öffentlichen Raum und gleichzeitig der Anspruch auf Anerkennung dieser Ehre nur den Männern vorbehalten.472 Im Gegensatz zu den modernen individualistischen Gesellschaften ist der antike Ehrbegriff stark vom sozialen Leben geprägt. Für die Athener waren also die Ehre und die politische 468

Schmitz, in: MüKoStGB § 1 Rn. 30; Roxin/Greco, AT I, 2020, § 5 Rn. 80; Hecker, in: Schönke/Schröder, 2019, StGB § 1 Rn. 16; KK-OWiG/Rogall, 2018, OWiG § 3 Rn. 28 ff.; Hassemer/Kargl, in: NK-StGB 2017, StGB § 1 Rn. 14 f. 469 Junge, S. 124; Vogelgesang, NJW 1985, 2387; Jahn, Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, S. 181 f.; kritisch Huster, NJW 1996, 488; Stegbauer, NStZ 2000, 282. 470 Zu den Ehrkonflikten in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Schreiner/Schwerhoff (Hrsg.), Verletzte Ehre, 1990; zur Bedeutung von Duell und Ehre, siehe Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993; eine anthropologische Untersuchung des Ehrbegriffs liefert Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, 2006. 471 Brüggenbrock, Die Ehre in den Zeiten der Demokratie, das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit, 2006, S. 17. 472 Fisher, Hybris: a study in the values of honour and shame in ancient Greece, 1992.

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Ordnung zwei miteinander verbundene, konkurrierende Bezugspunkte. Es war kein Zufall, dass insbesondere die in Athen lebenden Fremden, die sog. Metöken, keine politischen Mitwirkungsrechte hatten.473 Die persönliche Ehre wird als grundlegende Sonderform des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in mehreren Landesverfassungen anerkannt474. Sie stellt allerdings ein klassisches, einem gemeineuropäischen Menschenbild entsprechendes Individualschutzgut475 dar, das im Wandel der Zeit bis zur Gegenwart als besonders wichtig erachtet wird476. Bei der Ehre handelt es sich bekanntlich um einen problematischen Begriff, „das subtilste, mit den hölzernen Handschuhen des Strafrechts am schwersten zu erfassende (…) Rechtsgut unseres Strafrechtssystems“477. Zwei Deutungen haben sich ausgeprägt: Nach dem faktischen Ehrbegriff ist eine Person in ihrer Ehre angegriffen, wenn ihr Ehrgefühl oder ihr guter Ruf beeinträchtigt wird.478 Nach dem normativen Ehrbegriff ist die Ehre als der Wert eines Menschen zu verstehen, der ihm kraft seiner Personenwürde und seines sittlich-sozialen Verhaltens zukommt479. Ein Angriff auf die Ehre ist demnach zu bejahen, „wenn der Täter einem anderen zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen mindern würden“480. In der Rechtsprechung herrscht ein dualistisches (normativ-faktisches) Verständnis der Ehre. Unter diesem Ehrbegriff ist sowohl die innere Ehre als auch die darauf beruhende Geltung, der gute Ruf, geschützt481.

473

Lotze, Klio, Beiträge zur Alten Geschichte, 1981, Vol. 63, 159 ff. Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 19 Abs. 3 (als Schranke der Meinungs- und Medienfreiheit), Verfassung des Landes Hessen, Art. 3 („Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen sind unantastbar“), Verfassung für Rheinland-Pfalz, Art. 4 („Die Ehre des Menschen steht unter dem Schutz des Staates. Beleidigungen, die sich gegen einzelne Personen oder Gruppen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer religiösen, weltanschaulichen oder anerkannten politischen Gemeinschaft richten, sind durch öffentliche Klage zu verfolgen.“). 475 Tettinger, Die persönliche Ehre, (Kirche und Gesellschaft, Nr. 236), 1997, S. 3. 476 Historische Aspekte des Ehrbegriffes liefern Vogt/Zingerle, in: dies. (Hrsg.), Ehre: archaische Momente in der Moderne, 1994. 477 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT, Teilband 1, 2019, § 24 Rn. 1. 478 Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB Vor §§ 185 ff. Rn. 1; Regge/Pegel, in: MüKoStGB Vor §§ 185 Rn. 19. 479 Eisele, Strafrecht – BT I, 2021, S. 198; Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 26. 480 BGH, Urteil vom 15. 3. 1989 – 2 StR 662/88, NJW 1989, 3028; es bleibt hiermit offen, ob nicht nur der personale, sondern auch der soziale Geltungswert den Ehrbegriff prägt. Jedenfalls sei der Ehrbegriff nicht mit der Personenwürde oder der Persönlichkeitssphäre gleichzusetzen. 481 BGH, Beschluß vom 18. 11. 1957 – GSSt 2/57, NJW 1958, 228; LG Tübingen, Urteil vom 18. 7. 2012 – 24 Ns 13 Js 10523/11, NStZ-RR 2013, 10; Zaczyk, in: NK-StGB 2017, Vor §§ 185 ff. Rn. 7; Lackner/Kühl, StGB Vor §§ 185 ff. Rn. 1; Otto, NJW 2006, 575 ff. 474

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bb) Die Ehre als Rechtsgut Zwar genießt die Ehre in kontinentalen Rechtordnungen umfassenden Schutz482, jedoch keineswegs in angelsächsischen Rechtsystemen483 ; dort stößt sie im Gegenteil auf heftige Kritik. Gegen die kontinentalen Beleidigungstatbestände werden Einwände hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit erhoben. Auch auf supranationaler Ebene wird die Entkriminalisierung der Beleidigungstatbestände bekräftigt. Sowohl die Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa484 als auch der Europarat485 setzen sich offen für eine Entkriminalisierung der Ehrdelikte ein. So überrascht nicht die Befürwortung der Abschaffung der Beleidigungstatbestände, um Entkriminalisierungstendenzen zu unterstützen486. Für die Beantwortung der Frage nach der Rechtfertigung des Strafverbotes der Leugnung von historischen Tatsachen durch die Ehre ist es entscheidend, die strafrechtliche Schutzwürdigkeit der Ehre zu beurteilen. Die Frage, ob der Schutz der Ehre unentbehrlich für die friedliche Koexistenz der Bürger in der Gesellschaft ist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Gegen diese Auffassung spricht der Verzicht der angelsächsischen Rechtsordnungen, eine Verletzung der Ehre zu erfassen, die so gravierend ist, dass ein strafrechtlicher Eingriff zur Gewährleistung des friedlichen Zusammenlebens erforderlich ist. Ein weiteres Argument gegen die Strafwürdigkeit der Ehre liegt in der Relativierung des Gutes487. Eine Verletzung des Lebens oder des Eigentums ist objektiv und eindeutig, unabhängig von den Merkmalen und Eigenschaften des Trägers zu ermitteln; bei der Erörterung der Strafwürdigkeit einer Ehrverletzung reicht das Vorliegen der Zuschreibung persönlicher Mängel zur Bestrafung nicht aus. Vielmehr sind weitere Umstände entscheidend wie etwa die 482

Spinellis, in: FS-Hirsch, 1999, S. 739 ff. Für einen Überblick zum Beleidigungsrecht des common law vgl.: Weaver/Kenyon/ Partlett/Walker, The right to speak ill, 2006; Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, 1990, S. 94 ff.; eine rechtsvergleichende Untersuchung des Ehrenschutzes mit Bezug auf kontinentale und angelsächsische Rechtssysteme findet sich in Kunstadt, The protection of personal and commercial Reputation, 1980; für einen umfangreichen internationalen Rechtsvergleich, s. Tellenbach (Hrsg.), Die Rolle der Ehre im Strafrecht, 2007. 484 Memorandum vom 24. 5. 2002 (the memorandum of the Commission on Security and Cooperation in Europe, Vol. 35 no. 12). 485 Arbeitspapier des Lenkungsausschusses Medien und neue Kommunikationsdienste zur Anpassung der Verleumdungsgesetze in den Mitgliedstaaten des Europarats an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. 3. 2006. Darin wurde im Rahmen der Befassung mit dem Thema „Entkriminalisierung der Verleumdung“ eine Verlagerung des Tatbestands vom Strafrecht in das Zivilrecht gefordert. In der Empfehlung 1814 (2007) der Parlamentarischen Versammlung wurde weiterhin die Entkriminalisierung der Beleidigungstatbestände befürwortet. 486 BT-Drs. 11/1040 vom 3. 11. 1987, S. 7 (Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der Grünen zur Änderung strafrechtlicher und strafprozessualer Regelungen bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen); BT-Drs. 18/8123 vom 14. 4. 2016 (Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der Grünen zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Streichung des Majestätsbeleidigungsparagraphen (§ 103 StGB). Dazu Kubiciel/Winter, ZStW 113 (2001), 305 ff. 487 Maurach/Schroeder/Maiwald/Hoyer/Momsen, Strafrecht BT, I, 2019, § 24 Rn. 1. 483

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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soziale Stellung des Verletzten oder die ggf. enge Beziehung oder Verwandtschaft der Betroffenen. Daraus folgt, dass die Beurteilung einer Aussage von mehreren Variablen abhängt und daher eine eindeutige Würdigung nicht zulässt. Es versteht sich von selbst, dass allein eine gewisse Unschärfe eines Gutes kein ausschließliches Kriterium für seine Ungeeignetheit abgeben kann, um Strafverbote zu rechtfertigen. Wäre dies der Fall, dann hätte man auch weitere, teilweise unbestimmte Güter zurückweisen müssen wie etwa die Menschenwürde. Abzulehnen ist jedenfalls die Schutzwürdigkeit der Ehre im Sinne eines Ehrgefühls, die heutzutage als überwunden gilt488. Sie bekennte sich zu einem Gefühlsschutz, der der Aufgabe des Strafrechts fremd ist. In Betracht kommt also die normative oder die faktisch-normative Deutung, die sich entweder auf den personalen Geltungswert oder eine dualistische Auslegung beruft, die empirisch überprüfbare Elemente wie den guten Ruf und die innere Ehre einem Begriff zuordnen. Amelung liefert einen funktionalen Ehrbegriff, und in diese Richtung entfaltet er die Strafbedürftigkeit einer Beeinträchtigung der Ehre489. Die Ehre im funktionalen Sinne ist Voraussetzung der Kommunikation mit anderen und mit sich selbst und daher „die Fähigkeit eines Menschen, sich so zu verhalten, dass er den normativen Erwartungen gerecht wird, denen er gerecht werden muss, um als ebenbürtiger Partner der Kommunikationen akzeptiert zu werden“. Nach dieser Auffassung ist die Ehre keine Sonderform der Menschenwürde, sondern ein psychosoziales Phänomen in Gestalt der äußeren und inneren Ehre490. Die Schädlichkeit der Ehrverletzung besteht nach dieser Auffassung in der unerträglichen Behandlung der betroffenen Person, die die Erwartung haben dürfe, in ihrer Kommunikation mit anderen Bürgern als Voraussetzung der Fortsetzung des gesellschaftlichen Lebens nicht einer ehrenrührigen Schmähung ausgesetzt zu werden. cc) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen Demnach fragt sich, ob die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen eine Ehrverletzung darstellt491. Zu prüfen ist, ob das Bestreiten dieser historischen Tatsachen einen ehrverletzenden Charakter hat, nämlich ob es als Kundgabe von Missachtung492 oder Nichtachtung493 gilt.

488

Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 14. Amelung, Ehre als Kommunikationsvoraussetzung, S. 19. 490 Regge/Pegel, in: MüKoStGB Vor §§ 185 Rn. 36. 491 Arzt betont auch (JuS 1982, 727 f.), dass die Beleidigungstatbestände als „kleine Staatsschutzdelikte“ funktionieren. Die Versuche, setzt er fort, das Recht auf Ehre gegen politische Agitatoren zu schützen, könne man nicht ohne ein Gefühl der Trauer betrachten. 492 RG, Urteil vom 10. 12. 1912 – II 753/12, RGSt 46, 358. 493 RG, Urteil vom 18. 3. 1937 – 5 D 760/36, RGSt 71, 160; BGH, Urteil vom 29. 5. 1951 – 2 StR 153/51, NJW 1951, 929; BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 4 StR 20/61, NJW 1961, 1412. 489

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Die Rechtsprechung stellt an mehreren Stellen einen ehrverletzenden Charakter der Holocaustleugnung fest494, subsumiert allerdings in diesem Fall derartige Aussagen unter die Beleidigungstatbestände495, und sieht daher die Ehre nicht als geschütztes Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen. (1) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB Im Fall des schlichten Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen muss der ehrverletzende Charakter der Äußerung abgelehnt werden496. In der bloßen Behauptung einer unwahren Tatsache ohne weitere Werturteile – besonders im Fall des Holocaust, der eine offenkundige historische Tatsache darstellt – ist keine Missachtung festzustellen497. Durch das schlichte Leugnen wird nicht die moralische Integrität der Opfer geleugnet oder ihnen ein unsittliches Verhalten vorgeworfen498. Nimmt man konkludent an, dass das In-Abrede-Stellen des Verfolgungsschicksals der Juden vom Dritten Reich auf eine verborgene Missachtung zurückzuführen ist, ist 494 Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. 6. 1992 – 1 BvR 977/91 („Holocaust als Weltlüge“ als eine ehrverletzende Tatsachenbehauptung); BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1423; LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92 (aufhetzende Leugnung des Holocaust); Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 17. 12. 1996 – 2 St RR 178/96; BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 628; LG Berlin, Urteil vom 22. 4. 2004 – 27 O 207/04. 495 BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 190, 45 ff.; BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1422 (die vom Angekl. gebrauchten Formulierungen und die Begleitumstände seiner Äußerungen sind geeignet, „das Verfolgungsschicksal der betroffenen Juden, welches Teil ihrer persönlichen Würde ist […], verächtlich zu machen.“); LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92, NJW 1994, 2498; BayObLG, Urteil vom 17. 12. 1996 – 2 St RR 178/96, NStZ 1998, 196 f.; BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NStZ 2001, 305 ff. 496 Wandres, Die Strafbarkeit des Ausschwitz-Leugnens, 2000, S. 239, der auch darauf aufmerksam macht, dass der Gesetzgeber mit dem dritten Absatz das Ausschwitz-Leugnen unabhängig vom individuumsfixierten Beleidigungsrecht erfassen wollte; so aber Jahn (Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus, 1998, S. 181 f.). Auch in den Gesetzesmaterialien wird die Auffassung vereinzelt vertreten, dass die Leugnung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes die Ehre der Ermordeten, der Überlebenden und ihrer Nachkommen beeinträchtigt (so etwa Leutheusser-Schnarrenberger, BT-12/227, Sitzung vom 18. 5. 1994, S. 19671D). Auch der Begründungsbericht des Gesetzentwurfs zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI wiederholte, dass die Leugnung von bestimmten historischen Tatsachen nach 185, 189 StGB strafbar sein kann (Drs. 17/3124 vom 1. 10. 2010, S. 7); „Verlegenheitslösung“ einer Bestrafung nach § 185 StGB in solchen Fällen sei nach Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 194 Rn. 1. 497 So aber laut Gesetzesmaterialien (Plenarprotokoll Nr. 03/92 vom 3. 12. 1959, S. 5083 A: „im eigenen Volke als Jude beschützt werden zu müssen, ist für den Verletzten ebenso kränkend wie die ihm widerfahrende Mißachtung“; BT-Drs. 12/7421, S. 4: „Die Leugnung oder Billigung nationalsozialistischer Untaten, d. h. schwerster Gewalt- und Willkürmaßnahmen, deren Ausmaß in der europäischen Geschichte keine Parallele findet, ist somit gegen das friedliche Zusammenleben und den Grundsatz der Völkerverständigung gerichtet und zugleich eine unerträgliche Mißachtung der Überlebenden sowie ihrer Nachkommen.“). 498 Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 185 Rn. 9.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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der ehrverletzende Charakter der Aussage ebenfalls zu verneinen, da diese Missachtung nicht zum Ausdruck gebracht wird499, weil den Opfern keine eindeutig negative Qualität zugeschrieben wird. (2) Die Ehre als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB Anders ist die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen zu bewerten. In diesem Fall wird tatsächlich eine Missachtung gegen die Opfer zum Ausdruck gebracht; ihr furchtbares Verfolgungsschicksal wird als eine Ausrede zur Ausbeutung oder zur Verachtung eines Staates bezeichnet. Demnach werden die Opfer als Lügner dargestellt, die den „Mythos“ eines Verbrechens gegen die Menschheit erfunden haben, um die Rolle zu tauschen und die wahren Opfer als Täter darzustellen; daher wird durch diese Aussagen auch ihre moralische Integrität in Abrede gestellt. Daraus lässt sich ableiten, dass die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen eine unmittelbare Missachtung und Geringschätzung der Opfer ist. Deshalb ist die Antwort zur Frage entscheidend, ob eine missachtende Aussage, die sich gegen ein Kollektiv richtet, einen ehrverletzenden Charakter aufweist. (a) Die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Beeinträchtigung der Kollektivehre? Die Prüfung des ehrenrührigen Charakters der aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen ist in zwei Richtungen vorzunehmen. Auf der einen Seite stellt sich die Frage der Beleidigungsfähigkeit der Personenmehrheit, gegen die sich der verbale Angriff richtet. Die Rechtsprechung hat die Beleidigungsfähigkeit der jüdischen Gemeinde anerkannt500. Die Fragestellung hängt mit der viel diskutierten Problematik zusammen, ob einer Personenmehrheit eine Kollektivehre anzuerkennen ist. Die herrschende Meinung bejaht dies großzügig501. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 8. Januar 1954 anerkannt502, dass eine Personengesamtheit, die (a) eine rechtlich anerkannte gesellschaftliche Funktion erfülle und (b) einen einheitlichen Willen bilden könne, einen strafrechtlichen Ehrenschutz genießen könne. Gegen die Voraussetzungen dieser Rechtsprechung lässt sich vorbringen, dass sie zu einer vielfältigen, nicht immer einsichtig nachvollziehbaren Kasuistik geführt hat503 ; insbesondere wird vorgebracht, dass die Voraussetzung der Fähigkeit, einen einheitlichen Willen zu bilden, fast jeder Personengemeinschaft zuzuschreiben sei. Weitere Argumente gegen die Kollektivehre lassen sich aus den verschiedenen Deutungen des Ehrbegriffes ableiten. Geht man von einem personalen 499

So auch Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 185 Rn. 10. BGH, Beschluß vom 28. 2. 1958 – 1 StR 387/57, NJW 1958, 599. 501 Roth, Der strafrechtliche Schutz von Personenmehrheiten, 1974, S. 81 ff. 502 BGH, Urteil vom 8. 1. 1954 – 1 StR 260/53, NJW 1954, 1412. 503 Regge/Pegel, in: MüKoStGB Vor §§ 185 ff. Rn. 54; eine passive Beleidigungsfähigkeit wird etwa der Bundeswehr oder dem Deutschen Roten Kreuz, jedoch nicht der Polizei zuerkannt. 500

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Geltungswert aus, ist dieser nur im Fall von Einzelpersonen denkbar. Vertritt man einen sozialen Ansatz504, dann ist die Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften zu bejahen. Sie sind zwar keine Träger von Würde, aber trotzdem genießen sie ein soziales Ansehen, das weiterhin einen quantifizierbaren Ruf und Kreditwürdigkeit mit sich bringt. In Anlehnung an diese Deutung des Ehrbegriffes hat der Gesetzgeber den Ehrenschutz von öffentlichen Behörden und Organen im § 194 Abs. 3 und 4 StGB verankert. Ungeachtet des jeweils vertretenen Ansatzes ist das Konzept der Kollektivehre bzw. der Beleidigungsfähigkeit von Personenmehrheiten mit dem materiellen Schuldprinzip505 unvereinbar. Wie im Fall der kollektiven Menschenwürde mag auch eine Ausdehnung des Trägers der Ehre auf den ersten Blick als eine willkommene Verstärkung erscheinen. Wird sie aber zur Begründung von Straftaten herangezogen, dann erweist sie sich als problematisch. Gilt die Ehre als der in der Menschenwürde gegründete innere Wert einer Person (oder als ein dualistisches Konzept, das daneben den guten Ruf beinhaltet), dann dient ihre Ausdehnung als Eigenschaft eines Kollektivs nicht der Gewährleistung, sondern der Beeinträchtigung der persönlichen Autonomie. Denn die Konzipierung der Ehre als eine kollektiv verstandene Eigenschaft einer Personenmehrheit enthält nicht ohne Weiteres einen Angriff auf die Rechte oder die Freiheiten des einzelnen Mitgliedes, sondern eine auf das Kollektiv bezogene Beleidigung, die nicht auf den Einzelnen individualisierbar anwendbar ist. Daher ist die Beleidigung der Kollektivehre als eine abstrakt verstandene Bedrohung auszulegen, die auf eine Eigenschaft eines Kollektivs zielt und die Ehre der einzelnen Person nicht tangiert. Sie betrifft die Idee der Ehre als Resultante einzelner Achtungsansprüche. Aus diesem Grund soll die Konstruktion der passiven Beleidigungsfähigkeit als unvereinbar mit dem freiheitsrelevanten Charakter des Strafrechts abgelehnt werden. Der Strafgrund der Handlung besteht nur in abstrakter Weise und deshalb bedroht die Strafe die Rechte und Freiheiten des Individuums, statt diese zu sichern. (b) Die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Beeinträchtigung der Ehre unter einer Kollektivbezeichnung? Weiterhin ist zu prüfen, ob die aufhetzende Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen eine Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung darstellt. Fraglich ist in diesem Fall also nicht der potentielle Angriff auf die Ehre einer Personenmehrheit, sondern ob die Kollektivbezeichnung der vom nationalsozialistischen Regime begangenen Verbrechen als Erfindung einen Angriff auf die Ehre der Einzelpersonen in sich birgt. Sind also im Fall einer aufhetzenden Leugnung eines nationalsozialistischen Verbrechens mehrere Einzelbeleidigungen festzustellen?

504

Hilgendorf, in: LK-StGB Vor § 185 Rn. 27. Neumann, in: NK-StGB § 17 Rn. 1 ff.; Radtke, in: MüKoStGB Vor § 38 Rn. 14; Frisch, NStZ 2013, 249 ff.; Adam/Schmidt/Schumacher, NstZ 2017, 7 ff. 505

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Um die Betroffenheit der Mitglieder zu umgrenzen, sind von der Rechtsprechung mehrere Kriterien entwickelt worden.506 Zunächst müsse sich die betroffene Personenmehrheit so deutlich aus der Allgemeinheit herausheben, dass der Kreis der bezeichneten Personen klar umgrenzt und so die Zuordnung des Einzelnen zu diesem Kreis unbestreitbar ist507. Um diesen vagen Kriterien eine deutliche Richtung zu verleihen, fordert die Rechtsprechung oft, dass die Personengruppe zahlenmäßig überschaubar sein müsse508. Die Überschaubarkeit sei zwar nicht das entscheidende Kriterium für die Individualisierung der Beleidigung, sie sei aber von großer Bedeutung für die Würdigung des subjektiven Tatbestandes. Der objektiven Bezogenheit entspreche ein subjektives „Beziehensollen“ des Täters, nämlich wenn er die betreffenden Personen als Individuen ins Auge fasse509. Dafür sei nicht erforderlich, dass der Täter jeden Betroffenen persönlich kenne, sondern, dass das Kollektiv so klein sei, dass die Äußerung von einem Dritten als ein alle Einzelnen umfassendes individuelles Urteil aufgefasst werden müsse510. In diesem Fall verhindere der große Umfang des Kollektivs die subjektive Betroffenheit der einzelnen Mitglieder. Treffend äußert Weber511 gemäß seiner subjektivistischen Auffassung die These, dass eine Beleidigung nur dann zu bejahen sei, wenn sich zwischen den einzelnen Angehörigen des Kollektivs und der Seele des Angeklagten eine geistige Brücke schlagen lasse. Es versteht sich von selbst, dass dieses Kriterium den Umfang des Kollektivs als von besonderer Bedeutung ansieht, da sich eine solche geistige Auseinandersetzung nur in einem kleinen Umfang entfalten kann. Den vagen Formulierungen der Rechtsprechung, die den überschaubaren Charakter des angegriffenen Kollektivs uneinheitlich auslegt, steht die Argumentation derjenigen entgegen, denen die Kollektivbezeichnungen a priori als stereotype Aussagen gelten, die per definitionem den Einzelnen in der Masse nicht berühren können. Nach dieser Argumentation ist eine pauschale Herabsetzung einer nicht überschaubaren Personenmehrheit als ein Durchschnittsurteil zu verstehen512; eine Verallgemeinerung, bei der die Betroffenheit eines konkreten Angehörigen nicht erkennbar ist. Unabhängig davon, ob der Täter erklärt, dass er Ausnahmen mache, beziehe er sich zwangsläufig auf ein Abstraktum und somit sei niemand beleidigt. Diese letzten Überlegungen sind tatsächlich überzeugend auch in Bezug auf die Betroffenheit der aufhetzenden Leugnung der jüdischen Opfer. Obwohl bereits auf die Bejahung der Individualisierbarkeit dieser Kollektivbezeichnungen seitens der 506

Ein Überblick findet sich bei Regge/Pegel, in: MüKoStGB Vor § 185 Rn. 56 ff. Regge/Pegel, in: MüKoStGB Vor §§ 185 ff. Rn. 59; Hilgendorf, in: LK-StGB Vor § 185 Rn. 30. 508 BayObLG, Urteil vom 22. 12. 1989 – Rreg. 1 St 193/89, NJW 1990, 1742, m. w. N.; LG Karlsruhe, Urteil vom 8. 12. 2011, 11 Ns 410 Js 581/11; OLG Karlsruhe, Urteil vom 13. 4. 2007, 14 U 11/07. 509 Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, S. 62, 69. 510 Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, S. 69. 511 JW 1928, A. 1057. 512 Hilgendorf, in: LK-StGB Vor §185 Rn. 30. 507

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Rechtsprechung hingewiesen worden ist, ist dieses Ergebnis skeptisch zu betrachten. Die Statistiken, die die Anzahl der heutigen jüdischen Bevölkerung in Deutschland illustrieren, bringen ein Kollektiv zum Vorschein, das offenbar zahlenmäßig nicht überschaubar ist: die jüdischstämmige Bevölkerung Deutschlands wird auf etwa 98.000 geschätzt513. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass der Täter jeden einzelnen Angehörigen der jüdischen Gemeinde oder der Holocaust-Überlebenden nicht individuell erfassen kann. Eine pauschale Aussage ist nämlich so abstrakt, dass aus dieser Verallgemeinerung keine individualisierbare Beleidigung ermittelt werden kann. Zur Bekräftigung dieser These kann auf ein Urteil des BayObLG aus dem Jahre 1928 zurückgegriffen werden: Treffend führt das Gericht aus, dass eine Beleidigung, die sich gegen eine Personenmehrheit richte, die einzelnen Angehörigen nur dann erfasse, wenn „es sich um einen ausreichend abgegrenzten und in der Individualität der ihm angehörigen Einzelpersonen ausreichend bestimmten Teil der Allgemeinheit handelt“514, die Kundgebung „auf alle zu dem gesamtbezeichneten Personenkreis zu rechnenden Einzelpersonen objektiv zu beziehen ist oder bezogen werden kann“ und der Täter sich dieser Beziehbarkeit bewusst ist. Dabei ist der weite Umfang des Kollektivs von tatsächlicher Bedeutung. In diesem Fall kann nicht angenommen werden, dass der Täter die Vorstellung und den Willen hat, die einzelnen Individuen in ihrer Ehre zu treffen. Es handelt sich bei pauschalen Kollektivbezeichnungen gegen „die Juden“ hingegen um „eine allgemeine Wertung oder Bekämpfung dieses Personenkreises in seiner Gesamterscheinung“, „die auf die Einzelnen nicht bezogen wird und nicht bezogen werden soll“. Die Personenmehrheit besteht zwar tatsächlich, so Androulakis,515 aus einzelnen Personen. Diese Selbstverständlichkeit reicht aber nicht aus, um die Betroffenheit der Angehörigen dieses Kollektivs zu bejahen516. Liegt eine Individualisierbarkeit bei der ehrenrührigen Äußerung nicht vor, dann ist eine Beschimpfung eines umfangreichen Bevölkerungsteiles als ein Gesamturteil zu würdigen, das die Schaffung eines pauschalen Gesamteindrucks bezweckt517 und daher als eine störende Verallgemeinerung zu betrachten ist. dd) Zwischenergebnis Eine Ablehnung der Ehre als Legitimationskriterium der Bestrafung der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen wird auch durch eine systematische Auslegung des Volksverhetzungsparagraphen gefordert. Stellte eine derartige Aussage eine Beleidigung dar, dann wäre sie von den Beleidigungstatbeständen erfasst 513 Statistisches Bundesamt, Anzahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland von 2003 bis 2017, Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1232/um frage/anzahl-der-juden-in-deutschland-seit-dem-jahr-2003/ (letzter Besuch 3. 5. 2022). 514 BayObLG, JW 1928, 2994. 515 Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, S. 45. 516 Auch nach Stegbauer (NStZ 2000, 281) verliert sich der Angriff bei allgemein gehaltenen Schmähungen in der Menge. 517 Kohler, GA 47 (1900), 145.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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und daher wäre der Volksverhetzungsparagraph als identisches Delikt überflüssig. Tatsächlich verliert die Vorschrift ihre Konturen, wenn man sie als Delikt gegen die Ehre betrachtet. Gegen diese Auffassung spricht ferner die Eingliederung des Paragraphen in die Kategorie der Delikte gegen die öffentliche Ordnung – und nicht gegen die Ehre. Wäre weiterhin erwünscht, rassistisch motivierte Beleidigungen gegen abgrenzbare Minderheiten strafrechtlich zu erfassen, könnte dies als besondere Form der Delikte gegen die persönliche Ehre geregelt werden. Doch stünde eine solche Begründung unmittelbar den ausdrücklichen Intentionen des Gesetzgebers entgegen. § 130 StGB intendiert nicht einen erweiterten Ehrenschutz518. Auch wollte der Gesetzgeber den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen keinen Ehrenschutz im Fall des Bestreitens ihres Verfolgungsschicksals gewährleisten. Wäre dies der Fall gewesen, dann würde sich der Tatbestand nicht auf die angegriffenen Gruppen einschränken, die sich anhand ihrer nationalen, rassischen, religiösen oder ethnischen Merkmale identifizieren, sondern er hätte noch weitere Personengruppen erfasst. Aus diesen Gründen soll die Ehre als geschütztes Rechtsgut trotz der Einbeziehung von Einzelpersonen in den § 130 Abs. 1 StGB abgelehnt werden. Das Ergebnis ist also hier eindeutig: Die Bestrafung der schlichten oder aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen oder anderer Genozide lässt sich nicht durch den Schutz der Ehre legitimieren. d) Postmortaler Persönlichkeitsschutz aa) Standpunkt der Rechtsprechung Durch die bisherige Untersuchung scheint die Antwort auf die Frage, ob das Bestreiten historischer Tatsachen den postmortalen Persönlichkeitsschutz beeinträchtigt, bereits gegeben zu sein: der verallgemeinernde Charakter von pauschalen und kategorischen Äußerungen, die historische Ereignisse bestreiten, vermag nicht den postmortalen Wert- und Achtungsanspruch von konkreten Personen zu verletzen. Da aber ein Teil der Rechtsprechung eine Beeinträchtigung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes anerkennt, scheint es geboten zu untersuchen, unter welchen Umständen eine Verletzung des postmortalen Achtungsanspruchs zu bejahen sein könnte. Die Rechtsprechung hat mehrmals die Leugnung des Holocaust als eine besonders schwere Kränkung der Verstorbenen ausgelegt519. Für den Bundesgerichtshof 518

So auch OLG Köln, Urteil vom 30. 8. 1994 – Ss 252/94 – 113; Fischer, StGB § 130 Rn. 12; Lohse, in: SSW-StGB § 130 Rn. 17; Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 50; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 46. 519 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1422; der Senat stellt in der Leugnung des Holocaust eine Verletzung der Nachwirkung des Schutzes der Persönlichkeit fest, die in der postmortalen Respektierung der menschlichen und sozialen Leistung des Verstorbenen ihren Ausdruck findet; LG Mannheim, Urteil vom 22. 6. 1994 – (6) 5 KLs 2/92; AG Hamburg, Urteil vom 1. 2. 1995 – 139 – 1590/94; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 5. 3. 1996 – 2 St RR 8/96; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 17. 12. 1996 – 2

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

sind die Umstände des Todes eines Menschen untrennbarer Bestandteil seiner Würde.520 Die Verfolgung einer Person durch staatlich organisierte Gewaltmaßnahmen allein wegen ihrer Abstammung präge ihre individuelle Würde und zugleich auch ihr Andenken unter den Lebenden. Werde dieser staatlich organisierte und ausgeführte Massenmord als bloße Erfindung charakterisiert und herabsetzend als Lüge bezeichnet, dann werde, führt der BGH aus, der Anspruch auf Achtung jenes Schicksals verletzt, indem die über den Tod hinaus fortbestehende und schutzbedürftige Würde der Opfer auf das Schwerste missachtet werde521. bb) Der Begriff des postmortalen Persönlichkeitsrechts Für einen Teil der Literatur gilt der Begriff des postmortalen Persönlichkeitsrechts zurecht als ein rechtlich umstrittener Begriff. Der Verstorbene sei kein Rechtssubjekt mehr522. Erlischt die Existenz, dann endet auch die Ehre als Attribut der lebenden Person523. Daraus folgt aber nicht, dass eine verleumderische Aussage über einen Verstorbenen straffrei bleibt. An die Stelle der Ehre tritt ein Teil der Persönlichkeit, der über den Tod hinaus Bestand hat524. Worin dieser Achtungsanspruch besteht, ist nicht unstrittig. Nach einer Auffassung bezweckt die Bestrafung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener den Schutz des Pietätsgefühls der Angehörigen525 oder der Angehörigen und der Allgemeinheit526. Die Ungeeignetheit dieses Legitimationskriteriums lässt sich durch mehrere Argumente beweisen: zunächst ist der GeSt RR 178/96, mit der Anmerkung, dass allein das Leugnen der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes den Tatbestand der Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener erfüllen kann, ohne aufhetzend sein zu müssen; BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00; BGH, Urteil vom 10. 4. 2002 – 5 StR 485/01; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 11. 7. 2007 – 16a D 06.2094; AG Schwerin, Urteil vom 16. 8. 2012 – 38 Ls 322/11; LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09. 520 BGH, Urteil vom 15. 3. 1994 – 1 StR 179/93, NJW 1994, 1423. 521 Seine Annahme, dass durch das Bestreiten der Existenz von Gaskammern sowie der massenhaften Vergasung von Juden in den Konzentrationslagern der Schutzbereich des § 198 StGB verletzt werde, hat der BGH nicht weiter begründet; Das Gericht hat argumentiert, es bestünden an sich keine Bedenken, dass die in Betracht kommenden Aussagen den Tatbestand des § 189 StGB erfüllen. 522 Die Frage der Rechtssubjektivität Verstorbener lässt sich freilich nicht eindeutig beantworten. Zur Problematik der Theorie der subjektlosen Rechte und des postmortalen Rechtsschutzes im Allgemeinen, vgl. Müller, Postmortaler Rechtsschutz – Überlegungen zur Rechtssubjektivität Verstorbener, 1996. 523 Hilgendorf, in: LK-StGB § 189 Rn. 1. 524 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 125. 525 Rengier, BT, Bd. II § 29 Rn. 43; Rüping, GA 1977, 305; auch für Knellwolf (Postmortaler Persönlichkeitsschutz – Andenkensschutz der Hinterbliebenen, 1990) konzentriert sich die Andenkenschutzlehre auf die Bedürfnisse und Interessen der nächsten Hinterbliebenen (S. 97, 146). 526 So Lackner/Kühl, StGB § 189 Rn. 1; OLG Düsseldorf, Urteil vom 16. 3. 1967 – (1) Ss 840/66, NJW 1967, 1142; Gössel/Dölling, BT/1 § 32 Rn. 4.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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fühlsschutz unvereinbar mit der Aufgabe des Strafrechts527. Sodann relativiert der Rückgriff auf das Pietätsgefühl die Bestrafung der Handlung und macht sie von mehreren Faktoren abhängig: so bleibt die schwere Kränkung eines Verstorbenen straffrei, wenn keine Angehörigen vorhanden sind528 oder wenn sich die Hinterbliebenen die Äußerung zu eigen machen oder die Handlung von ihnen begangen wird. Stellt man nur auf das Pietätsgefühl der Allgemeinheit ab, dann wird die Diskussion nicht weniger kompliziert: versteht man unter der Allgemeinheit den jeweiligen Adressaten, dann handelt es sich auch in diesem Fall um den Schutz von Gefühlen von Personen, denen die Kränkung gleichgültig sein mag529. Versteht man stattdessen unter dem Pietätsgefühl der Allgemeinheit die in der Allgemeinheit geltende Pietätsauffassung530, dann ist die Strafbedürftigkeit der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener noch fraglicher, indem die Schädlichkeit der Handlung als eine abstrakte, gesellschaftliche Missbilligung wahrgenommen wird. Nicht überzeugend ist weiterhin der Rückgriff auf eine „Familienehre“531; denn auch in diesem Fall wird vom Vorhandensein von Familienangehörigen ausgegangen. Das Konzept der Ehre der Familie stellt keine tragfähige Grundlage dar, die als vage emotionale Verletzbarkeit der Mitglieder einer Familie umschrieben werden kann. Jedes einzelne Mitglied verfügt über einen eigenen personalen Geltungsanspruch, und durch das Konzept der Ehre eines kleinen Kollektivs werden die einzelnen Geltungs- und Achtungsansprüche der Mitglieder zu einem abstrakten Ganzen vereint. Wie im Fall der kollektiven Menschenwürde handelt es sich nicht um ein faktisches Schutzobjekt, dessen Verletzung gleichzeitig den Geltungsanspruch der einzelnen Angehörigen beeinträchtigt, sondern um eine ideelle Konzeptualisierung der Ehre der einzelnen Mitglieder als ein Ganzes, deren Beeinträchtigung nicht unmittelbar feststellbar ist. Darüber hinaus sollte das öffentliche Interesse an zutreffenden Informationen über den Toten, die für die gesellschaftliche Kommunikation notwendig seien,532 als viel zu vage abgelehnt werden, das einem erweiterten postmortalen Persönlichkeitsrecht Schutz gewährt. Aus dem gleichen Grund muss der nach anderer Auffassung geschützte soziale Frieden ebenfalls als unzulässig533 zurückgewiesen werden. Angesichts der Kritikpunkte gegen die Rechtsgüter wird die Auffassung vertreten, dass die Bestrafung der Verunglimpfung Verstorbener dem Schutz der fortbeste527

Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 4. Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 4; Hirsch, S. 132. 529 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 134. 530 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 134. 531 Frank, Strafgesetzbuch 1926 § 189 a. F. Anm. I; Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch 1961 § 189 Anm. I; Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, II 1, 1884, S. 199; v. Liszt, 21/ 22. Aufl., S. 324. 532 So Rogall, in: SK-StGB § 189 Rn. 10; Jakobs, in: FS-Jescheck, S. 636 f. 533 Vgl. Rogall, in: SK-StGB § 130 Rn. 5 f.; kritisch Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 7. 528

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

henden Ehre dient534. Für die Vertreter eines normativen Ehrbegriffes kann die Ehre nicht in einem Augenblick erlöschen; der biologische Tod, so Hirsch, „verwandelt die Person nicht von heute auf morgen in ein personales Nichts; […] jeder Mensch darf erwarten, dass seine Ehre nicht mit dem letzten Atemzug vogelfrei wird“535. Diese These lässt sich durch das Argument bekräftigen, dass eine schwere Kränkung die Ehre des Lebenden angreift, die über den Tod hinaus noch Bestand hat. Auch dieses Konzept der fortbestehenden Ehre wird nicht ohne Bedenken angenommen. Als erster Kritikpunkt wird ausgeführt, dass diese Auslegung als unvereinbar mit dem Willen des historischen Gesetzgebers abzulehnen ist536. Stellt man zur Kontextualisierung der Ehre auch auf den personalen Geltungswert ab, dann ist den älteren Lehren, die die Ehre rein formal betrachten, zuzustimmen. Außerdem gestehen auch die Anhänger der schutzwürdigen fortbestehenden Ehre der Verstorbenen zu, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach dem Tod eine einschneidende Veränderung erfährt, und dennoch postulieren sie, dass die Ehre der Person trotz des Fehlens eines lebenden Rechtssubjekts unverändert nach dem Tod fortbesteht537. Ebenso kritisch ist der Rückgriff auf die fortwirkende Menschenwürde der verstorbenen Person zu beurteilen538. Auch in diesem Fall wird auf die Ungeeignetheit des Menschenwürdebegriffs hingewiesen, als Legitimationskriterium für die Bestrafung von herabwürdigenden Aussagen zu dienen. Nicht beachtet wird bei der häufigen Heranziehung der Menschenwürde die Warnung der Verfassungsinterpreten, das Prinzip der Menschenwürde nicht als „kleine Münze“ abzunutzen539. Das Gebot ergibt sich sowohl aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde als auch aus der Unabänderlichkeitsgarantie des § 79 Abs. 3 StGB, die zur Beschränkung der inhaltlichen Konkretisierung auf einen engen Kern des personalen Achtungsanspruches zwingt. Die Bemühung um eine restriktive Deutung setzt die Evidenz der 534

Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 125 ff.; Hilgendorf, in: LK-StGB § 189 Rn. 2. Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 126. 536 Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 9, die auf den sich zunehmend ausprägenden Totenkult während der Zeit des Nationalsozialismus verweisen. 537 Im Hinblick darauf bedarf weiterer Diskussion die Annahme des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 20. 3. 1968 – I ZR 44/66, GRUR 1968, 554), dass die Rechtsordnung Gebote und Verbote für das Verhalten der Rechtsgenossen zum Schutz verletzungsfähiger Rechtsgüter unabhängig vom Vorhandensein eines lebenden Rechtssubjekts vorsehen könne. Sie birgt in sich das Oxymoron, dass ein Recht nach dem Erlöschen der Existenz (und unabhängig von ihr) des Trägers fortwirken kann. Das aber neigt zu einer Umwandlung der Ehre der Person zu einem gesellschaftlichen sittlichen Anspruch zur Fortwirkung der Ehre. 538 Fischer, StGB § 189 Rn. 2; BVerfG, Beschluss vom 5. 4. 2001 – 1 BvR 932/94, NJW 2001, 2960; nach diesem Beschluss sei von der Bestrafung der Verunglimpfung Verstorbener die Menschenwürde der Person geschützt, die postmortal fortwirkt. Unklar ist übrigens, was das Gericht unter den „sittlichen Geltungswert“ versteht, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben habe und der durch die Bestrafung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener geschützt wird. 539 Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 1 Rn. 44. 535

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Menschenwürdeverletzung voraus540. Diese nicht verallgemeinernde Prognostizierbarkeit der Verletzung der Menschenwürde soll zum Ergebnis führen, dass bei verbalen Angriffen eine Verletzung der Menschenwürde zu verneinen ist. Liegt eine schwere verbale Kränkung vor, dann kann von einer wahren Objektivierung oder Herabwürdigung der Person zur vertretbaren Größe nicht die Rede sein. Der tatsächliche Eingriff einer Aussage – wenn diese Aussage auch äußerst herabwürdigend sein mag – ist im Vergleich zu einer objektivierenden Behandlung wie die Folter weniger invasiv; nur metaphorisch kann bei einem verbalen Angriff eine Objektivierung des Menschen bejaht werden. Stellt man in einem solchen Fall eine Verletzung der Menschenwürde fest, dann muss auf den exzessiven Charakter dieser Auslegung hingewiesen werden, die den Begriff der Menschenwürde zu einer „kleinen Münze“ herabwürdigt. Durch derartige Deutungen verliert der Menschenwürdebegriff seine Konturen. Auch wenn man das Konzept einer postmortal fortwirkenden Menschenwürde bejaht541, sollte der Legitimationsversuch der Bestrafung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener von der Menschenwürde getrennt werden542. In Erwiderung auf diese Einwände wird die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Pönalisierung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener um eine Sondernorm handelt. Der Begriff des „Andenkens“543 selbst schließt den Ehrenschutz der Verstorbenen aus, da es auf einen dritten Rechtsgutsträger hinweist, der an den Verstorbenen denkt544. Auch dieses Argument berücksichtigt nicht, dass sich das Andenken des Verstorbenen als eine fortbestehende Lebensleistung des einst lebenden Menschen im Gedächtnis der Nachwelt umschreiben lässt545, die als fortbestehende Ehre fortwirkt. Angesichts der tragfähigen Argumentation gegen das Konzept des postmortalen Ehrenschutzes, gewinnt der postmortale Persönlichkeitsschutz als Persönlichkeitsrecht eigener Art an Akzeptanz. Darunter ist ein eingeschränktes und verändertes Persönlichkeitsrecht eigener Art zu verstehen, das in der postmortalen Respektierung 540

Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, ebenda. Zutreffend lehnt Schönberger (Postmortaler Persönlichkeitsschutz, 2011, 73 ff.) einen postmortalen Schutz der Menschenwürde und eine Begründung des postmortalen Rechtsschutzes durch Art. 1 Abs. 1 GG ab. 542 Anders Klinge (Todesbegriff, Totenschutz und Verfassung, 1996, S. 220, 230, 246), die den Toten selbst als Träger der Menschenwürde einordnet und aufgrund dieser Grundentscheidung zum Ergebnis kommt, dass auch der Tote des rechtlichen Schutzes würdig sei und insbesondere die Menschenwürdegarantie Geltung für das Andenken des Verstorbenen beansprucht. 543 Das Andenken trennt auch Knellwolf (Postmortaler Persönlichkeitsschutz – Andenkensschutz der Hinterbliebenen, 1990, S. 107) von der Ehre und definiert es als „eine lebendige, von starken Gefühlen geprägte Erinnerung der Hinterbliebenen an den toten Menschen“. Es ist nämlich als eine faktische Gegebenheit zu verstehen, die Gefühle und Empfindungen erfasst (S. 108), welche von den überlebenden Personen dem Verstorbenen entgegengebracht werden. 544 Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 6. 545 Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 141; Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 10. 541

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

eines Kernbereichs dessen besteht, was den Verstorbenen in seinem Leben prägte546. Im Vergleich zu den anderen angebotenen Legitimationsansätzen ist diesem Kriterium zwar Vorrang zu geben547, nicht aber ohne Einwände. Es ist nicht möglich, sich mit dem Oxymoron eines Rechtes sui generis auseinanderzusetzen; wenn der Träger des Rechtes gestorben ist, ist dieses Andenken nur als Gedächtnis von dritten Personen denkbar. Daraus ergibt sich eine weitere Anmerkung: die Identifizierung des Andenkens mit der Ehre ist der systematischen Eingliederung des § 189 StGB zuzuschreiben. Ein weiterer Einwand gegen diese Konstruktion ist ihr deskriptiver, jedoch unbestimmter Charakter. Das Persönlichkeitsrecht ist eine breite Kategorie von Rechten und seine Bezeichnung als „eigener Art“ benennt nicht exakt, was genau durch die Pönalisierung geschützt wird. cc) Das postmortale Persönlichkeitsrecht als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB Die vorgeführten Konstruktionen zur Legitimität der Bestrafung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener überzeugen nicht völlig548. Die Diskussion zur Legitimität der Bestrafung dieser Handlung bleibt daher weiter offen. Die bisher vertretenen Ansätze verleihen der Pönalisierung der Verunglimpfung des Andenkens nur eine intuitive Legitimation, die den sittlichen Anspruch auf Aufrechterhaltung eines postmortalen Schutzniveaus nicht rationalisieren kann. Stattdessen ergibt sich der strafrechtliche Schutz des Andenkens Verstorbener aus einer Mischung von Gefühlschutz, sozialen Tabus und moralischen Befehlen, die unvereinbar mit der Rechtsgutslehre ist. Eine weitere, rationale Auseinandersetzung mit der Strafbedürftigkeit schwerer Kränkungen von Verstorbenen scheint aus diesem Grund geboten. Geht man trotzdem von der Legitimität der Pönalisierung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener aus, wird die Bejahung einer Verunglimpfung des Andenkens der Opfer im Fall des In-Abrede-Stellens der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes seitens der Rechtsprechung mit ernsthaften Einwänden konfrontiert. Im Fall der bloßen Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen – so könnte man argumentieren – werden die betroffenen Opfer nicht stigmatisiert. Das Bestreiten stellt per se keine Kränkung der Opfer dar. Dieser zunächst tragfähigen Bemerkung ist nicht ohne Einwände zuzustimmen. Die Unbestimmtheit des Rechtsgutes, das die Pönalisierung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener bezweckt, erschwert die Antwort. Geht man davon aus, dass durch ihre Bestrafung der Schutz der fortbestehenden Ehre des Verstorbenen gewährleistet werden soll, ist eine Verunglimpfung des Andenkens der Opfer zu verneinen. Die Leugnung einer historischen Tatsache, die gleichzeitig als Verbrechen eingestuft worden ist, schreibt 546 547 548

Eisele/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 189 Rn. 1. So auch Regge/Pegel, in: MüKoStGB § 189 Rn. 12. So auch Fischer, StGB § 189 Rn. 2a; Rogall, in: SK-StGB § 189 Rn. 6.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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den Opfern keine persönlichen Mängel zu, sondern verneint ohne weitere Werturteile das Ereignis per se, das zwangsläufig das Verfolgungsschicksal der Opfer einschließt. Nimmt man hingegen an, dass die Bestrafung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener dem Schutz eines postmortalen Persönlichkeitsrechts dient, ist die Antwort auf die Frage, ob die Leugnung einer historischen Tatsache als Verunglimpfung des Andenkens der Opfer auszulegen sei, nicht eindeutig zu beantworten549. Man ist darüber einig, dass der postmortale Schutz des Persönlichkeitsrechts nicht den gleichen Umfang wie derjenige einer lebenden Person erreichen kann. Andererseits ist man sich gleichzeitig darüber einig, dass verbale Angriffe gegen einen Verstorbenen nicht straffrei bleiben dürften, nur weil sich die betroffene Person nicht mehr wehren kann. Zunächst ist also fraglich, welche Aspekte des Persönlichkeitsrechts nach dem Tod der Person fortwirken und von einem postmortalen Persönlichkeitsrecht eigener Art erfasst werden sollen. Ein anerkannter Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist unter anderem der Schutz der Persönlichkeit vor diffamierenden oder verfälschenden Darstellungen. Die Leugnung einer historischen Tatsache verfälscht tatsächlich die Verfolgung und die Umstände des Todes der betroffenen Opfer. Der Tod und seine besonderen Umstände prägen die Persönlichkeit des Menschen entscheidend und werden untrennbarer Bestandteil seiner Würde. Die strafrechtliche Schutzwürdigkeit dieses Aspektes ist allerdings, wie bereits angeführt, umstritten. Umso problematischer ist der postmortale strafrechtliche Schutz vor diffamierenden oder verfälschenden Darstellungen der Persönlichkeit. Dass nicht jede verfälschende Darstellung eine Verunglimpfung darstellt, ist naheliegend. Wegen ihrer Neutralität können Äußerungen, die historische Tatsachen bestreiten, nicht als schwere Kränkung der Opfer und somit als Verunglimpfung ihres Andenkens bezeichnet werden. Stellt man im Fall des bloßen Bestreitens eine getarnte Missachtung oder eine mittelbare Verharmlosung oder Billigung fest, dann ist die Verunglimpfung des Andenkens der Opfer auch wegen des pauschalen Charakters derartiger Aussagen zu verneinen. Die fehlende Individualisierbarkeit dieser 549 In diesem Zusammenhang äußerte sich der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts BerlinBrandenburg (Oberwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. 3. 2006 – OVG 1 S 26.06) zur Leugnung des armenischen Genozids. Streitgegenstand war das Verbot einer Versammlung, weil aufgrund des Versammlungsaufrufs zu erwarten war, dass es zu strafbaren Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit einer Genozid-Lüge kommen würde. Der Senat stellte fest, dass die Behauptung der armenischen Genozid-Lüge den objektiven Tatbestand des § 189 StGB verwirkliche. Die Verunglimpfung des Andenkens eines Verstorbenen kann sich auch auf die Umstände des Versterbens einer Gruppe von Personen beziehen, wenn jene Umstände als untrennbarer Bestandteil der Würde eines Menschen gelten. Es ist dabei bemerkenswert, dass vom Senat ausgeführt wird, dass die Tatbestandsverwirklichung im Fall einer Leugnung des armenischen Genozids keinen „ernstlichen Zweifeln“ unterliegt, obwohl die historische Bewertung der Ereignisse im Osmanischen Reich im Jahre 1915 als Völkermord noch nicht abgeschlossen ist und obwohl die Ereignisse nicht gerichtlich als Genozid anerkannt worden sind.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Äußerungen führt zum Ergebnis, dass sich die mittelbare oder unmittelbare Kränkung in der Masse verliert, da sie sich nicht auf eine bestimmte Person oder eine bestimmbare Personengruppe bezieht. Eine Verunglimpfung des Andenkens der Opfer kann nur bejaht werden, wenn der Aussagende jede einzelne Person einbezieht oder einbeziehen kann, was nur in einem überschaubaren Personenkreis denkbar ist. Eine Bemühung, pauschal alle Opfer herabzuwürdigen, ist keine Verunglimpfung ihres Andenkens. Stellt man als Legitimationsansatz der Pönalisierung der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener auf die fortbestehende Ehre ab, dann widerspricht diese Auslegung den Gesetzesmaterialien des Verbrechensbekämpfungsgesetzes550, da diese ausführen, dass der Volksverhetzungsparagraph nicht die Funktion eines erweiterten Ehrenschutzes übernehmen soll551. Auch eine systematische Auslegung des Paragraphen schließt das Andenken Verstorbener als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB aus. dd) Das postmortale Persönlichkeitsrecht als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB Es stellt sich weiterhin die Frage, ob sich die Bestrafung einer aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen durch den postmortalen Persönlichkeitsschutz legitimieren lässt. Auch in diesem Fall ist auf die Gesetzesmaterialien hinzuweisen, die explizit einen erweiterten Ehrenschutz durch den Volksverhetzungsparagraphen verneinen. Jede andere Würdigung würde dazu führen, dass der Volksverhetzungsparagraph als überflüssig angesehen werden müsste, da er seine Konturen verliert. Die Argumentation zur Rechtsgutsrelevanz der Ehre lässt sich auch hierauf übertragen: Eine systematische Auslegung bestreitet eine solche Annäherung. Die Eingliederung des Paragraphen unter die Straftaten gegen die öffentliche Ordnung schließt das Konzept des postmortalen Persönlichkeitsschutzes als Legitimationskriterium aus. Daraus resultiert folgendes Ergebnis: obwohl bei ausschließlich individualisierbaren Aussagen eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener vorliegt, lässt sich der Volksverhetzungsparagraph nicht durch den postmortalen Persönlichkeitsschutz legitimieren; insbesondere eine historische und systematische Auslegung des Paragraphen schließen diesen Ansatz aus. Um auf die Legitimität des § 130 StGB einzugehen, sind eine nähere Betrachtung der Gesetzesmaterialien, des politischen und sozialen Klimas vor der Verabschiedung der Tatbestände sowie eine systematische Auslegung der Vorschrift erforderlich.

550 Ein Rückgriff auf das postmortale Persönlichkeitsrecht findet sich nur sporadisch in den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 12/7421 vom 27. 4. 1994, S. 4). 551 Sitzung des Unterausschusses des Rechtsausschusses vom 14. 1. 1993, S. 53.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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4. Die historische Wahrheit Im Schrifttum taucht nur selten die historische Wahrheit als Schutzzweck des § 130 Abs. 3 StGB auf552. Um sich mit dem Rückgriff auf die historische Wahrheit zur Legitimation der Bestrafung der Leugnung historischer Tatsachen auseinanderzusetzen, ist auf den Zusammenhang von Recht und Lüge einzugehen. Gefragt ist zunächst, ob der Schutz der Wahrheit einen Straftatbestand legitimieren kann. Zu dieser Diskussion ist ein Überblick der strafrechtlichen Behandlung der Lüge im Allgemeinen erforderlich. a) Der Schutz der Wahrheit im Strafgesetzbuch Es ist davon auszugehen, dass das liberale Strafgesetzbuch keine eigenständige Strafwürdigkeit der Lüge anerkennt553. Daraus folgt nicht, dass unwahre Behauptungen im Allgemeinen straffrei bleiben. Ganz im Gegenteil stellt der Gesetzgeber zahlreiche unwahre Aussagen unter Strafe: unter anderem das Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), die Geldfälschung (§ 146 StGB), die falsche uneidliche Aussage (§ 153 StGB), der Meineid (§ 154 StGB), die falsche Versicherung an Eides Statt (§ 156 StGB), die falsche Verdächtigung (§ 164 StGB), die üble Nachrede (§ 186 StGB), die Verleumdung (§ 187 StGB), die Urkundenfälschung (§ 267 StGB) und die Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB). Obwohl die falsche Aussage in den genannten Tatbeständen ausdrücklich strafrechtlich relevant wird, wird die Handlung nicht um ihrer selbst willen pönalisiert554. Die Bestrafung bezweckt vielmehr den Schutz anderer Rechtsgüter.555 b) Die Pflicht zur Wahrheit als moralische Vorstellung Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass eine allgemeine Rechtspflicht zur Wahrheit nicht besteht556. Der Begriff der Wahrheit als Eigenwert gehört nicht dem 552 Ostendorf, NJW 1985, 162; Fronza, JZG 11 (2010), 266 ff.; Zabel, ZStW 122 (2010), 834 ff.; Meier, Merkur 48 (1994), 1131; Cobler, KJ 1995, 166. 553 Ein Wahrheitsschutz taucht im StGB nur zum Schutz anderer Zielsetzungen auf, dazu Dietz, KJ 1995, 210. 554 Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 97. 555 Schutz der staatlichen Rechtspflege (§ 153 StGB), Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs (§ 267 StGB), allgemeine Vertrauen in die Wahrheitspflicht der mit der Aufnahme öffentlicher Urkunden betrauten Amtspersonen (Leimbrock, Strafrechtliche Amtsträger: eine Analyse der Legaldefinition in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB, 2009, S. 333) § 348 StGB, Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege gegen Irreführung und unbegründete Inanspruchnahme und des Einzelnen vor einem ungerechtfertigten behördlichen Untersuchungsverfahren (§ 164 StGB), Funktionsfähigkeit der inländischen staatlichen Rechtspflege und die präventiv polizeiliche Tätigkeit des Staates (§ 145d StGB), die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Geldverkehrs (§ 146 StGB). 556 Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, 2014, S. 259.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Recht, sondern der Moral an. Für Kant steht die Wahrheit in engem Zusammenhang mit der Würde des Menschen. Seine Behandlung des Themas der Wahrheit findet sich in seinen Schriften Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Metaphysik der Sitten (1797) und seinem kurzen Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (1797). Ausgangspunkt Kants ist seine in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelte Pflichtenethik. Eine Lüge beeinträchtigt stets die moralische Pflicht der Wahrhaftigkeit des Menschen als vernünftigen Wesens. Somit lehnte Kant die utilitaristische Auffassung ab, eine Lüge sei nur dann verwerflich, wenn sie schädlich sei. „Die Lüge also, bloß als vorsätzlich unwahre Declaration gegen einen anderen Menschen definirt, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem anderen schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen (mendacium est falsiloquium in praeiudicium alterius). Denn sie schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht“.557 Daraus folgt nicht nur, dass Kant eindeutig eine rechtliche Dimension der Wahrheit anerkennt, sondern auch, dass für ihn die Wahrheit eine eigenständige moralische Tugend darstellt. „Weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß“, ist es „also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein“.558 Kants Verständnis der Wahrheit stellt ein unbedingtes ethisches Verbot der Lüge559 dar; die letztere verletzt unter allen Umständen die Würde der Menschheit in der eigenen Person. Gleichzeitig erkennt Kant, dass seine rechtsphilosophische Definition der Wahrheit nicht der rechtlichen entspricht. Dieser liegt das Erfordernis zugrunde, dass die Lüge einem anderen schaden soll. Das kantische absolute Lügenverbot als Rechtspflicht eines moralischen Wesens kennt allerdings das positive Recht nicht560. Wie bereits erwähnt, erkennt das (Straf-) Recht keine Wahrheitspflicht an und stellt unwahre Behauptungen als solche nicht unter Strafe. Die Erscheinung der Lüge im Recht nur als Begleitphänomen561 strafrechtlich relevanter Sachverhalte ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Ein erster Grund ist, dass der Lüge ein eindeutig moralisches Negativurteil eingeräumt wird562, das die Tat automatisch der Moral und nicht dem Recht zuordnet, aber auch gleichzeitig die Frage stellt, was für rechtliche Konsequenzen dieses Phänomen haben kann. Ein zweiter Grund der Ungeeignetheit der Lüge, eine eigenständige strafrechtliche Materie zu verkörpern, ist der mangelnde Konsens bei der Frage, 557

Kant, AA VIII, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, S. 426. Kant, AA VIII, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, S. 427. 559 Geismann, Versuch über Kants rechtliches Verbot der Lüge, in: Oberer/Seel: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, 1988, 297. 560 Auch Köhler betont zu Recht (NJW 1985, 2390), eine bewusst oder unbewusst falsche Behauptung könnte nur eine moralische Pflicht zur Wahrhaftigkeit verletzen. 561 Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 95. 562 Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 95. 558

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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wann eine Aussage unwahr ist. Objektiv betrachtet, ergibt sich der unwahre Charakter einer Aussage aus der Abweichung des Inhaltes der Aussage von der Wirklichkeit. Ein subjektives Verständnis definiert die Unwahrheit einer Aussage anhand ihrer Abweichung vom Vorstellungsbild des Aussagenden563. Nach der letzteren Theorie ist nämlich entscheidend die innere Gesinnung des Aussagenden, die bewusste Äußerung wider besseres Wissen. Es wird also offenbar, dass es keine Einigkeit darüber gibt, ob zur Bezeichnung einer Aussage als Lüge die bloße, objektiv konkretisierbare Unwahrheit der Aussage erforderlich ist, oder ob zusätzlich das innere Fürwahrhalten und die Täuschungsabsicht des Aussagenden vorliegen sollen. c) Die Bestrafung der Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen als Wahrheitsschutz Die Problematik der objektiven und subjektiven Aussagetheorie ist nicht rein theoretisch, sondern findet Anwendung auch im Fall des Volksverhetzungsparagraphen. § 130 Abs. 3 StGB stellt ausdrücklich das „Leugnen“ von nationalsozialistischen Verbrechen unter Strafe. Im Rahmen dieser Problematik fragt sich, was unter dem Leugnen einer offenbaren historischen Wahrheit zu verstehen ist. Der Inhalt des Tatbestandsmerkmales des Leugnens ist im Lichte der vorgeführten Erwägungen nicht eindeutig. Selbst der allgemeine Sprachgebrauch des Wortes zeigt ein Schwanken zwischen der objektiven und subjektiven Theorie. Laut Duden sind mehrere Deutungen des Leugnens zu erkennen. Die erste Deutung ist subjektiv geprägt und setzt voraus, dass der Aussagende etwas Offenkundiges wider besseres Wissen für unwahr oder nicht vorhanden erklärt und nicht gelten lässt564. In der zweiten Deutung des Wörterbuches erkennt man ein rein objektives Verständnis der leugnenden Aussage, „die etwas, was (…) allgemein anerkannt ist und vertreten wird, für nicht bestehend erklärt“565. Diese Ambiguität liegt auch den Interpretationsvorschlägen des Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache zugrunde: hier ist „leugnen“ synonym für verneinen, bestreiten, in Abrede stellen, ohne ein subjektives Element einzubeziehen. Die praktische Bedeutung für den § 130 Abs. 3 StGB liegt darin, dass unklar ist, ob sich das Tatbestandsmerkmal des Leugnens auf die objektive Darstellung einer verfälschten Version der historischen Wahrheit beschränkt, oder ob zusätzlich ein besseres Wissen und eine Täuschungsabsicht des Täters zu verlangen ist. Die Rechtsprechung hat sich nur eingeschränkt mit der Frage befasst. In seinem Urteil vom 10. April 2002 hat sich der BGH lakonisch zu der 563

Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 97. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg.), Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1999, Band 6, S. 2416; eine andere Definition wird im Wahrig empfohlen (Wahrig-Burfeind (Hrsg.), Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 2011, S. 941: „die Wahrheit von etwas bestreiten, etwas für falsch, für nicht wahr erklären“). Diese Definition verzichtet auf ein subjektives Element. 565 Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg.), Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1999, Band 6, S. 2416. 564

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Handlungsmodalität des Leugnens geäußert.566 Zwar deutet das Gericht an, dass die Vorschrift auch Überzeugungstäter erfasse, nämlich Täter, die subjektiv von der Wahrheit ihrer Thesen überzeugt sind567. Ausdrücklich hat das Gericht die These vertreten, dass mit dem Straftatbestand auch Unbelehrbaren begegnet werden solle und eine Täuschungsabsicht zur Strafbarkeit nicht erforderlich sei. Diese Erwägungen gehen allerdings nicht auf die Problematik des besseren Wissens ein, sondern befassen sich mit der Handlungsmodalität des Leugnens. Dafür unterscheidet der BGH zwischen dem „bewussten Abstreiten“ und der „bewussten Lüge“ und merkt dabei an, dass es für den Vorsatz des Täters nicht auf die bewusst manipulierende Geschichtsverfälschung ankomme568. Interessant ist das Argument, dass für das Gericht das bewusste Abstreiten der offenkundigen historischen Tatsache des Holocaust ausreiche. Daraus darf die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es wegen des offenkundigen Charakters der nationalsozialistischen Verbrechen vom besseren Wissen des Täters und der bewussten Falschdarstellung der Tatsachen ausgegangen wird. Diese Argumentationslinie stößt auf Kritik in zweifacher Hinsicht. Zunächst berücksichtigt sie nicht die Formulierung des Tatbestandes: der Gesetzgeber setzt nicht ein „Bestreiten“ oder „in-Abrede-Stellen“ der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern ein „Leugnen“ voraus, das nicht nur in der bloßen Verneinung besteht, sondern auch eine manipulierende Verfälschung, eine bewusste Negierung in sich birgt. Zweitens schafft die Vagheit des Tatbestandmerkmales des Leugnens sowie seine Auslegung durch den BGH eine Diskrepanz mit dem subjektiven Tatbestand. Die innere Einstellung des Täters zu seinem Leugnen lässt sich aus den besonderen Eigenschaften des Angriffsobjekts ermitteln. Das „bessere Wissen“ des Aussagenden wird aus den Umständen der Leugnung gefolgert, denn die in Betracht kommende historische Tatsache ist offenkundig. Der Vorsatz des Täters wird also in einer den in-dubio-pro-reo-Grundsatz verletzenden Weise als vorliegend angenommen. Drittens ist die Auffassung des Gerichtes, dass eine eventuelle Täuschungsabsicht des Täters durch die Geschichtsverfälschung ohne Bedeutung für die Strafbarkeit sei, aus strafrechtsinterner Sicht problematisch569. Es ist wenig überzeugend anzunehmen, dass der historische Gesetzgeber diejenigen Täter erfassen wollte, die subjektiv überzeugt von ihren Behauptungen sind, aber nicht die Täter, die der Unwahrheit ihrer Aussagen bewusst sind und die historische Wahrheit zum Zwecke der moralischen Entlastung des nationalsozialistischen Regimes verdrehen. Denn der Handlungsunwert der zweiten Tätergruppe ist wesentlich erheblicher als im Fall der sogenannten Überzeugungstäter. Mit diesem Überblick sollte die Ungeeignetheit des Wahrheitsbegriffs, das Konzept eines eigenständigen Lügendelikts zu legitimieren, illustriert werden. Wie 566 567 568 569

BGH, Urteil vom 10. 4. 2002 – 5 StR 485/01, JuS 2002, 1128. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 330. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 331. So auch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 331.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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bereits erwähnt, kennt das liberale Strafgesetzbuch ein allgemeines Lügendelikt nicht570. Ein derartiges Delikt würde die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit oder das Vertrauen schützen. Die Legitimität dieser denkbaren Rechtsgüter erscheint äußerst problematisch. Wie vorgeführt, bezweckt das Strafrecht die Gewährleistung des harmonischen Zusammenlebens der Bürger in einem demokratischen und freiheitlichen Staat. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt und dient eine Strafvorschrift dem Schutz moralischer Werte der Gesellschaft, ist eine derartige Vorschrift, die die Trennung zwischen Recht und Moral entschärft, rechtsatavistisch und illegitim. Der Rückgriff auf die Wahrheit zur Begründung einer Strafe erscheint verfassungsrechtlich bedenklich. Aus diesem Grund besteht keine rechtliche – sondern nur eine ethische – Pflicht zur Wahrheit. Ein Delikt, das per se dem Schutz der Wahrheit dient, zieht eine ethische Maxime zur Legitimierbarkeit der Pönalisierung heran und führt moralistische Elemente und – angesichts der fraglichen Nachweisbarkeit des Fürwahrhaltens des Täters – Gesinnungsmerkmale ins Strafrecht ein. Überdies verletzt ein Rückgriff auf die Wahrheit zur Legitimierung einer Vorschrift den ultima-ratioCharakter und die Subsidiarität des Strafrechts. Denn das in Betracht kommende schadensneutrale Verhalten erklärt es zu einer Aufgabe des Gesetzgebers, einen reinen Moralschutz strafrechtlich zu erfassen. Die Legitimierung eines Lügendeliktes durch die zu schützende Wahrhaftigkeit wäre ebenfalls bedenklich. In diesem Fall wären also Lügenmonologe oder rein innere Lügen erfasst571. Nimmt man hingegen das Vertrauen als geschütztes Rechtsgut eines Lügendeliktes, dann wird umso mehr die Lüge als soziales Phänomen hervorgehoben572 und ihr schadensneutraler Charakter betont. Denn das Vertrauen in die menschliche Kommunikation ist zwar sozial erforderlich, ihre Beeinträchtigung legitimiert allerdings keinen strafrechtlichen Eingriff. Nicht nur lässt sich eine Bestrafung zur Gewährleistung des Vertrauens allein anhand von ethischen Prinzipien rechtfertigen, sondern es werden zum Gegenstand eines solchen Deliktes auch Äußerungen gemacht, die rechtsneutral bleiben sollen wie etwa Wertungen573. Diese Bedenken begründen den Verzicht des Gesetzgebers auf die Pönalisierung einer Lüge als solche. In den Fällen, in denen eine unwahre Behauptung unter Strafe gestellt wird, handelt es sich um Lügen, die andere Rechtsgüter angreifen, also um Fälle, in denen eine unwahre Behauptung zum Zwecke der Beeinträchtigung eines anderen Rechtsgutes instrumentalisiert wird. Dieser bewusste Verzicht auf einen strafrechtlichen Schutz der Wahrheit lässt den Schutz von Moralprinzipien außer Acht und bewahrt den fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Dies wird erreicht, indem der Gesetzgeber schadensneutrale Aussagen straffrei lässt, aber gleichzeitig unwahre, die andere Rechtsgüter beeinträchtigen, unter Strafe stellt.

570 571 572 573

Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 102. Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 103. Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 105. Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005, S. 105.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Angesichts des bewussten Verzichts des Gesetzgebers, die Lüge per se zu pönalisieren sowie der illustrierten Ungeeignetheit des Begriffes der Wahrheit, Strafvorschriften zu legitimieren, stellt sich die Frage, ob die Sonderform der historischen Wahrheit den Leugnungstatbestand legitimieren kann. Selbst das Konzept der historischen Wahrheit lässt beim Leser Bedenken aufkommen574. Geschichte ist für den Leser nicht statisch und unveränderlich. Fakten sind sinnvoll nur in einem bestimmten Kontext, der sich im Wandel der Zeiten ändert. Ziel des Historikers ist nicht nur der Lehrauftrag und die Verbreitung von kollektiven Wahrnehmungen historischer Zusammenhänge, sondern auch die Vertiefung in weniger untersuchte historische Thematiken oder die Erforschung offenkundig historischer Tatsachen aus einem neuen Blickwinkel und aus großer zeitlicher Distanz. Aus dieser Perspektive ist die Geschichte nie ewig festgelegt. Obwohl die Revision einer historischen Tatsache nicht Selbstzweck der historischen Forschung ist, bleibt es stets wahrscheinlich, dass die Auseinandersetzung mit neuem Material oder die Einbeziehung einer neuen Perspektive zu völlig neuen Ergebnissen führt575. Historische Tatsachen, über die ein absoluter Konsens herrscht oder die als offenbar gelten, bedürfen keiner ausführlichen Untersuchung und wecken selten das Interesse der Wissenschaft. Obwohl der Terminus „historische Wahrheit“ daher wissenschaftlich nicht haltbar ist, weil er eine eindeutige und nicht verhandelbare Version der Geschichte unterstellt, ist seine Verwendung im Fall von offenkundigen historischen Tatsachen wie etwa im Fall des Holocaust tragfähig. Die Aussagen von Überlebenden, die nachgewiesene Opferzahl, die zahlreichen audiovisuellen Materialien aus der Zeit sowie weitere historische Quellen tragen zur Betrachtung der nationalsozialistischen Verbrechen als einer historischen Wahrheit bei, deren Bestreiten unbegründet und sogar lächerlich ist. d) Die historische Wahrheit als symbolisches Rechtsgut Trotz des Verzichtes des Gesetzgebers, unwahre Behauptungen als solche zu pönalisieren, ist in diesem Fall eine Ausnahme zu verzeichnen. Es wird zwar dem Wortlaut des Tatbestandes nach ausdrücklich vorausgesetzt, dass die Leugnung geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden zu stören. Es ist allerdings bereits darauf hingewiesen worden, dass die „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ wegen ihrer Vagheit inhaltslos ist. Daraus wird ersichtlich, dass die historische 574 Auch aus philosophischer Sicht wird die Unantastbarkeit der erwiesenen historischen Tatsache kritisch betrachtet. Für den Philosophen Paul Ricoeur bleibt die Entscheidung dem Bürger überlassen: „Zwischen dem Anspruch des Gedächtnisses, getreu zu sein, und dem Wahrheitspakt in der Geschichte ist die Rangordnung unentscheidbar. Einzig der Leser ist befugt, in dieser Debatte zu entscheiden, und im Leser, der Bürger“ (Ricoeur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, 2002, S. 48). 575 Auch Ricoeur betont diese Pflicht des Historikers: „Der Historiker ist, im Gegensatz zum Richter und zum Bürger als selbsternannte Anwälte der Gerechtigkeit, nicht gehalten, Schlussfolgerungen zu ziehen. Sein Rahmen ist der des Verstehens, der Diskussion und der Kontroverse und nicht der Verdammung.“ (Transit, 22, Winter 2001/2002, S. 15).

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Wahrheit im Fall des § 130 Abs. 3 StGB nicht zum Zwecke des Schutzes anderer Rechtsgüter, sondern als Wahrheit per se geschützt wird576. Insofern ist die Auseinandersetzung mit der Legitimität des strafrechtlichen Eingriffes zum Schutz der historischen Wahrheit geboten. aa) Roxin Die Legitimität der historischen Wahrheit als Rechtsgut lehnt Roxin ausdrücklich ab577. Selbst die Verwerflichkeit der Handlung allein legitimiere ihre Pönalisierung nicht. Die Strafwürdigkeit des bloßen Bestreitens des Holocaust sei problematisch, erstens, weil sie als ungeeignet kritisiert wird, um dem historischen Revisionismus zu begegnen. Die nationalsozialistischen Verbrechen sind sowohl juristisch vor dem Internationalen Militärgerichtshof als auch historisch durch die internationale Geschichtsschreibung erwiesen und der Allgemeinheit bekannt. Die sporadischen Leugnungen dieser Verbrechen bringen nicht das kollektive Gedächtnis zum Ausdruck, sondern werden als Unsinn von fanatischen, unbelehrbaren Anhängern des nationalsozialistischen Regimes wahrgenommen, die sich der Verachtung der Gesellschaft ausgesetzt sehen. Diese Aussagen verdienen also keinesfalls die Aufmerksamkeit eines ernsten Adressatenkreises. Sie können hingegen für die Täter als Vorwand dienen, um sich als Märtyrer zu porträtieren, die eine unterdrückte Wahrheit vertreten und deshalb mit einer Strafe bedroht werden. Durch eine öffentliche Auseinandersetzung mit derartigen revisionistischen Aussagen lässt sich eine solche Heroisierung vermeiden sowie das kollektive Gedächtnis der jüngeren Generationen stärken.578 Die Kriminalisierung des Bestreitens der Nazi-Morde ist nicht nur wegen des fragmentarischen Charakters des Strafrechts und des ultima-ratio-Prinzips problematisch, sondern auch wegen der symbolischen Funktion der Strafvorschrift. Der 576 Auch Wandres (S. 239 ff.) befasst sich mit der Frage, inwiefern die historische Wahrheit als gesetzgeberisches Ziel des § 130 Abs. 3 StGB zu beurteilen ist. Die historische Wahrheit sei nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern diene einem mittelbaren Schutz von Individualrechtsgütern. Bei der Holocaustleugnung des § 130 Abs. 3 StGB stellt Wandres einen Zusammenhang zwischen den geschichtsverfälschenden Äußerungen und der Gefährdung von Individualrechtsgütern fest (S. 241 f.). 577 Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 684. 578 Im Schrifttum wird allerdings auch die Auffassung vertreten, dass das Bestreiten eines Genozides eine eigenständige Schädlichkeit aufweist. Nash-Marshall und Mahdessian (Metaphilosophy, 44 (2013), 127) machen geltend, dass das Leugnen eines Genozides zu einem falschen Bewusstsein beitragen könne, welches katastrophale Auswirkungen haben könne. Ihre Aussage lässt sich wie folgt umschreiben: die Mörder haben nicht wirklich gemordet; die Opfer wurden nicht wirklich umgebracht. Der Massenmord bedarf keiner Konfrontation, sondern sollte ignoriert werden. Insofern wird der Genozid gebilligt und seine Wiederholung sogar gerechtfertigt. Auch Smith (Journal of Law and Public Policy, 2010, 4(2), 128) stellt bei der Lüge eine Schädlichkeit fest: das Leugnen sei mit dem Schweigen verbunden und signalisiert die Absicht, Völkermord und Kriegsverbrechen straffrei zu lassen („The lesson can be drawn: commit genocide and deny it“).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

beliebte Rückgriff auf symbolische Strafrechtsnormen stellt erneut die aktuelle Frage, ob und woran der symbolische Charakter der Vorschrift zu erkennen und, zweitens, ob diese symbolische Vorschrift legitim ist. Die erste Frage wird bejahend beantwortet579. Die symbolische Dimension des Leugnungstatbestandes besteht darin, dass Deutschland als ein geläuterter Staat dargestellt wird, der beim Umgang mit der Verächtlichmachung oder Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen keine Toleranz zeigt. Gleichzeitig soll mit dieser Vorschrift an primärer Stelle das Bekenntnis zu demokratisch geprägten Werten oder die Perhorreszierung anstößiger Handlungen umschrieben werden. Das Bekenntnis zu demokratisch geprägten Werten durch den Leugnungstatbestand zeigt sich durch die Missbilligung der Nostalgie oder der Verharmlosung im Bezug auf nationalsozialistische Verbrechen sowie durch die Verstärkung der Erinnerungskultur im kollektiven Selbstbewusstsein als identitätsprägendem Faktor der kollektiven nationalen Identität der Nachkriegszeit. Sie bringt zum Ausdruck nicht nur eine deutliche Anerkennung der furchtbaren Viktimisierung von Millionen von Menschen, sondern prägt auch das kollektiv geteilte Wissen über die Vergangenheit, die ein demokratisiertes Umfeld schafft, auf humanitären Werten beruht und sich ideologisch und politisch gegen die nationalsozialistischen Verbrechen stellt. Diese Perhorreszierung der Nazi-Morde beschränkt sich nicht auf ihre bloße verbale Missbilligung, sondern erweitert sich in der Verstärkung durch rechtliche Instrumente sowohl mit dem Verbot der Verfälschung der historischen Wahrheit als auch ihrer Verbreitung. Die Symbolik der Vorschrift besteht weiterhin darin, dass die Vorschrift vorrangig die Beschwichtigung des Kollektivs bezweckt, indem der Eindruck erweckt werden soll, dass derartige anstößige Handlungen wie die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch ineffektive Gesetze bekämpft werden können oder das kollektive Gedächtnis durch das Strafrecht geschützt werden kann. Die Absicht der Bewahrung des historischen Wissens soll zunächst als ehrenwert anerkannt werden580. Doch reicht dies nicht zur Legitimierung der Vorschrift aus. Diese hängt mit der Problematik zusammen, ob die historische Wahrheit zum realen Schutz des friedlichen Zusammenlebens wirklich erforderlich ist. Um diese Frage zu beantworten, ist zu klären, ob ein symbolisches Strafgesetz eine rechtsgüterschützende Eingriffsfunktion aufweist. Anhand welcher Kriterien ist also die Legitimität des Leugnungstatbestandes zu bejahen? Die Frage der Legitimität des strafrechtlichen Eingriffes in der Form eines symbolischen Gesetzes lässt sich nicht pauschal beurteilen. Denn jede Strafvorschrift ist – wenn auch nur in bescheidenem Maße – symbolisch in dem Sinne, dass das Strafrecht nicht nur dem Schutz bestimmter Rechtgüter dient, wie etwa dem des Lebens, des Eigentums oder der körperlichen Unversehrtheit. Die Strafe erzielt nicht nur eine spezialpräventive Wirkung, um die tatsächliche Gefährlichkeit des Täters zu bekämpfen und seine Resozialisierung zu erreichen, sondern fungiert auch zur 579 580

Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 684. Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 684.

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Festigung des öffentlichen Friedens im Sinne der Rechtssicherheit im Kollektiv. Die Generalprävention, die auch eine pädagogische Funktion ausübt, soll als Richtschnur für das richtige Verhalten der Bürger dienen. In diesem Sinne dient die Generalprävention sowohl in ihrer negativen als auch in ihrer positiven Dimension symbolisch der Normbekräftigung in der Gesellschaft. Positiv wirkt sie, indem die Einübung der Rechtstreue der Gesellschaft gestärkt wird und das Vertrauen der Bürger in die Rechtssicherheit vertieft wird. Dieses Vertrauen wird erreicht, wenn der Bürger feststellt, dass das Recht sich durchsetzt. Negativ wirkt die Generalprävention, wenn das Gesetz die Gesellschaft von der Begehung einer Straftat abschrecken soll, indem die Strafbedürftigkeit bestimmter Handlungen ins kollektive Bewusstsein aufgenommen wird. Dieses Konzept der Verbrechensvorbeugung gilt schon seit Beccarias Ära als politische Forderung eines aufgeklärten Denkers581 zum Gelingen des Gesellschaftsvertrags: „Besser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen“. Die Abschreckungsfunktion und die Kräftigung des Rechtsbewusstseins als Ziele der Generalprävention sind allgemein anerkannte aufklärerische Zwecke des Strafrechts. Folglich ist das Abstellen eines symbolischen Gesetzes auch auf generalpräventive Zwecke nicht problematisch im Hinblick auf seine Legitimität. Einwände erheben sich insofern, wenn die symbolische Strafvorschrift ausschließlich diese Generalprävention bezwecken soll. Die Legitimität ist nämlich dann zu verneinen, wenn der Gesetzgeber ausschließlich zum Zwecke der deklarierenden Befürwortung von konkreten Werten strafrechtlich eingreift, um die Bevölkerung in der Überzeugung zu bestärken, dass derartige störende Handlungen durch das Recht bewältigt werden können, ohne aber gleichzeitig eine rechtsgüterschützende Wirkung zu entfalten. Die Illegitimität besteht nach Roxin darin, dass die in Betracht kommende symbolische Strafvorschrift keine Zwecksetzung schützt, die für ein sicheres und freies Leben in der Gesellschaft notwendig ist. Der Leugnungstatbestand sei also ein überwiegend symbolisches Gesetz, das keine rechtsgüterschützende Funktion aufweist und deshalb als illegitim bezeichnet werden soll, denn „die historische Wahrheit als solche sollte sich ohne das Strafrecht behaupten können“582. Die hier bezweckte Eigenständigkeit des Schutzes der historischen Wahrheit wird in Kürze erörtert. bb) Fronza Kritisch betrachtet auch Fronza die Gefahr, dass das Leugnen als Straftat den Richter in einen Schiedsrichter über Geschichte verwandelt583. Besonders hebt Fronza den Unterschied zwischen der Gesetzgebung und der historischen Forschung hervor. Das Strafverfahren muss durch den Verfolgungsapparat Tatsachen eindeutig 581 582 583

Deimling, in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 52. Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 684. Fronza, JZG 11 (210), 266 ff.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

aufklären und mit einem endgültigen, unwiderruflichen Urteil enden. Eine Rechtskraft in Bezug auf historische Tatsachen ist nichts anderes als eine Absurdität584. Die historische Forschung hingegen ist ein endloser Prozess des Interpretierens. Der strafrechtliche Schutz der historischen Wahrheit schafft somit eine Art von amtlicher Wahrheit, die dem Wesen und der Quintessenz der Geschichte als Wissenschaft fremd ist. Denn die Wahrheit ist Wahrheit, besonders wenn es sich um offenkundige historische Tatsachen handelt; sie braucht keine rechtliche Wahrheit zu werden585. Fronza geht noch weiter und befasst sich mit der Motivation des Negationismus. Die Verfassungen der Nachkriegszeit sowie die verschiedenen internationalen und supranationalen Übereinkommen brachten eine Perhorreszierung der begangenen Verbrechen des zweiten Weltkrieges und das Bekenntnis zu demokratischen Werten zum Ausdruck, die die Menschheit in Zukunft von einer Wiederholungsgefahr abhalten sollen. Das Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen zielt nach Fronza auf die Dekonstruktion des moralischen Paktes, der den politischen Institutionen der Nachkriegszeit Legitimation verliehen hat, und wäre in der Lage, die moralische und rechtliche Grundlage des Nachkriegs-Wiederaufbaus zu erschüttern. Für Fronza ist aber der Negationismus von politischer und nicht rechtlicher Natur: Sein Ziel sei die Verneinung der Grundprinzipien, auf deren Grundlage die europäischen Demokratien errichtet wurden. Dieser Prozess entfalte sich auf moralischer und politischer, aber nicht krimineller Ebene. Daher kommt Fronza zu dem Ergebnis, dass die Auseinandersetzung mit dem Angriff auf die historische Wahrheit das Prinzip der Subsidiarität und den fragmentarischen Charakter des Strafrechts verletze. Sie betont, dass das Strafrecht nicht als prima ratio eingesetzt werden dürfe. Es stelle ein ungeeignetes Mittel dar, um sich mit der Verfälschung von offenkundigen oder weniger bekannten historischen Tatsachen auseinanderzusetzen. Nicht nur kann eine strafrechtliche Bekämpfung solcher Aussagen das entgegengesetzte Ergebnis erreichen, indem ihre Pönalisierung als Zensur der Demaskierung einer amtlichen Geschichtslüge interpretiert wird; vielmehr sei eine (straf-)rechtliche Auseinandersetzung weder notwendig noch zweckmäßig, weil sie Verwirrung im Bereich der Geschichtswissenschaft schaffe. Aus diesem Grund stimmt Fronza Roxin zu, dass die Bekämpfung der historischen Verfälschung nicht zu den Aufgaben des Strafrechts zu zählen sei.

584

Damaska, Criminalia (2006), 17. Auch Isensee (Tabu im freiheitlichen Staat: jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, 2003, S. 74) sieht in der Kriminalisierung der historischen Wahrheit der nationalsozialistischen Verbrechen ein „Misstrauen gegen die liberale Grunderwartung, dass die Wahrheit sich selber zur Wehr setzt, die Verstocktheit sich selber bestraft und die Dummheit sich nicht strafrechtlich ausrotten lässt“. 585

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cc) Die Bestrafung der Leugnung historischer Tatsachen als Symbolik in den Gesetzesmaterialien Selbst die Gesetzesmaterialien der ersten Entwürfe der Nachkriegszeit, die einen erweiterten Schutz von schutzbedürftigen Bevölkerungsteilen erfassen wollten, deuten auf eine latente symbolische Dimension der Norm. Die Novellierung des Volksverhetzungsparagraphen soll „ideologische Restbestände aus der Zeit des Nationalsozialismus“ sowie die Weiterbelebung „reaktionärer, nationalistischer, neo-faschistischer und in ihrer Gesamtheit antidemokratischer Bestrebungen“586 verhindern, während gleichzeitig eingeräumt wird, dass es nicht möglich sei, „durch Gesetze sittliche Grundlagen zu errichten“587. Die Vorschrift588 sieht sich weiterhin als eine politische Erziehungsmaßregel, die „auf dem Wege der Selbstzucht zu politischen Lebensformen“ beitragen soll, die von der Achtung des politischen Gegners und von der Idee der Toleranz getragen sind. Sie schützt weiterhin die Demokratie, die Achtung der Mitmenschen, die Fairness des Verhaltens im politischen Kampf589. Die umstrittene Geeignetheit des Rückgriffes auf das Strafrecht zur Bewältigung der historischen Ignoranz oder der Intoleranz betonte auch der Zentralrat der Juden in Deutschland mit seinem Brief vom 8. Mai 1959 an den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags590, insbesondere den „katastrophalen Zustand geschichtlicher Unkenntnis in den deutschen Schulen“ und das „Problem des historischen Analphabetentums“. Als klares Indiz des symbolischen Charakters der historisch bezogenen Gesetzgebung tritt diese Problematik immer wieder in der Diskussion auf591. Die Stellungnahme des Abgeordneten Arndt bringt die allgemeinen Bedenken gegenüber einer Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen besonders anschaulich zum Ausdruck592: „Ich fürchte auch, daß das für unsere und die nächste Generation durchaus kein vorübergehendes Problem ist. Es wird die Öffentlichkeit in Deutschland, vorsichtig geschätzt, noch auf Jahrzehnte hindurch beschäftigen. Wir sehen es ja jetzt bei den Schulerhebungen, daß, ähnlich wie sich die Dolchstoßlegende hartnäckig über Generationen erhalten hat, auch jetzt durch uneinsichtige Elternhäuser und auf andere Weise tradiert wird – Jugendliche sagen das 586

Grever, Sten. Prot. BT, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1595. Von Merkatz, Sten. Prot. BT, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1605. 588 Begründung des Regierungsentwurfs, Drs. 1307/1. Wahlperiode, S. 28. 589 Dehler in der ersten Lesung des RegE, Sten. Prot. BT, 83. Sitzung vom 12. 9. 1950, S. 3107. Die Problematik der Geeignetheit des Strafrechts als Instrument zum Schutz der Demokratie bleibt aktuell auch in den Beratungen der nächsten Gesetzesinitiativen; so etwa Bucher (FDP), der merkt, dass nicht Paragraphen eine Demokratie schützen, sondern diese Demokratie zunächst einmal im Geiste lebendig sein muss (S. 10910). 590 Mehr dazu Söllner, Verrechtlichung von Geschichte, 2015, S. 51. 591 Für den symbolischen Charakter des Tatbestandes der Auschwitz-Lüge spricht, dass die Störung des friedlichen Zusammenlebens lapidar postuliert wird (Kahrs, Bundesratssitzung vom 29. 10. 1982). 592 Sten. Prot. BT-RechtsA, 70. Sitzung vom 5. 6. 1969, S. 16 f., in: BA Koblenz, B 141 – 3172 Bl. 137. 587

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ganz unbefangen –: ,Na ja, die Leute, die da alle umgekommen sind, müssen irgendwie schon Anlaß dazu gegeben haben; denn es ist ja sonst gar nicht vorstellbar, daß man so mit ihnen verfuhr.‘ Das Problem bleibt also. Ob es richtig ist, es strafrechtlich zu behandeln, will ich jetzt gar nicht erörtern. Aber als Problem bleibt es, und wenn man es behandelt, kann man sich in diesem Falle nur auf das beziehen, was sich konkret geschichtlich ereignet hat. Das ist nicht vergleichbar mit Diebstahl und allem anderen.“593 Diese Zweifel an der misslungenen Überschneidung der Wissenschaft mit der Gesetzgebung teilt auch der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Martin Broszat in seinem Brief vom 4. Juni 1982, in dem er anmerkt: „Die Novellierung könnte den fatalen Eindruck erwecken, als gebe es eine staatliche judikative Kompetenz auf dem Gebiet historischer Tatsachenfeststellung, als seien die freien wissenschaftlichen, publizistischen und gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik, wozu keinerlei Anlaß besteht, nicht imstande, Ehrlichkeit, Moralität und Anstand in der Wiedergabe der Bewertung der Massenverbrechen des NSRegimes selbst durchzusetzen“594. Die symbolische Gesetzgebung ist besonders in Bezug auf den Tatbestand der „Auschwitz-Lüge“ als kommunikative Problemsteuerung in Rückgriff auf eine materielle Ausweitung des Strafrechts als eine Form expressiver Geschichtspolitik zu verstehen. Sie ist also als eine Bemühung zu verstehen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Entstehung solcher Umstände zu verhindern, die eine Wiederholungsgefahr begünstigen könnten595. In diese Richtung weist auch die Eröffnung eines Gesetzgebungsverfahrens, um der internationalen Gemeinschaft eine klare Botschaft zu geben596. Die Verrechtlichung der historischen Wahrheit soll auch auf die Wähler symbolisch einwirken. 593 Entsprechende Bedenken finden sich in der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrates vom 19. 10. 1982. „Das Strafrecht ist kein Mittel im Kampf um die geschichtliche Wahrheit. Der Staat darf nicht unter Strafandrohung Wahrheit durchsetzen. § 140 Abs. 2 StGB würde, soweit ersichtlich, zum ersten Mal seit Inkrafttreten des Grundgesetzes unrichtige Äußerungen über bestimmte geschichtliche Vorgänge, die sonst keinen Straftatbestand erfüllen, unter Strafe stellen“. 594 Der Artikel mit dem Titel „Soll das Leugnen oder Verharmlosen Nationalsozialistischer Judenmorde straffrei sein?“ ist im Buch von Graml/Henke (Hrsg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, 1986, verfügbar. 595 In diesem Sinne ist weiterhin die Anmerkung des CDU-Abgeordneten Benda zu verstehen (Sitzung des Rechtsausschusses vom 27. 5. 1959), dass die Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen die „psychologischen Voraussetzungen“ eines Völkermords verhindern soll; zu diesem Zwecke werde der Völkermordstatbestand auf ein früheres Stadium vorverlegt. 596 Insofern wurde im Rahmen der Diskussion des Falles Nieland im Jahre 1959 die Befürchtung geäußert, dass „entfernte Betrachter, insbesondere im Ausland, nicht erkennen könne, ob er seine Ursache in Mängeln der Gesetzgebung oder im Verhalten des Richters habe“. Die Argumentation der Beunruhigung im Ausland als Anlass des Gesetzgebungsverfahrens wurde auch in der Begründung des Gesetzesentwurfes des Landes Niedersachsen vom 10. 12. 1992 sowie in der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages vom Abgeordneten Geis (CDU/CSU) am 18. 5. 1994 herangezogen („Die in jüngster Zeit um sich greifenden rechtsradikalen Umtriebe in Deutschland sind gefährlich und beunruhigen die Öffentlichkeit im Inund Ausland. Ihnen muß mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaates entschlossen be-

IV. Die in Betracht kommenden Rechtsgüter im Einzelnen

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Durch symbolische Gesetze werden aber keine Rechtsgüter geschützt. Es wird ein vager Handlungsbedarf festgestellt und gesetzlich beatwortet, um dem Wähler zu suggerieren, dass unangenehme Zustände effektiv vermieden werden können. Bei dieser Kategorie moderner Gesetzgebung handelt es sich um eine Art von politischer Deklaration anstelle einer geeigneten und effektiven Verankerung des friedlichen Zusammenlebens. e) Zwischenergebnis Im Gegensatz zu anderen Strafdrohungen, die unwahre Behauptungen nur als Mittel zur Beeinträchtigung anderer Rechte unter Strafe stellen, schützt der Gesetzgeber im § 130 Abs. 3 StGB eine historische Wahrheit als solche. Die Aufgabe des Strafrechts liegt darin, seinen Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sichern597. Der Schutz der historischen Wahrheit ist dagegen Aufgabe der Historiker, die ohne die Hilfe von Strafdrohungen überzeugen können müssen. Die Pönalisierung einer historischen Wahrheit als solcher macht den Gesetzgeber zum Schiedsrichter über Geschichte und geht über die wahre Aufgabe des Strafrechts hinaus. Daraus kann gefolgert werden, dass der Schutz der historischen Wahrheit kein legitimes Rechtsgut ist: § 130 Abs. 3 StGB ist folglich ein Scheindelikt. 5. Andere Rechtsgüter Vereinzelt wird das Rechtsgut der kollektiven Scham zur Rechtfertigung der Bestrafung des Leugnens nationalsozialistischer Verbrechen herangezogen598. So führt Streng599 aus, vorrangiges Ziel bei der Bestrafung der Holocaustleugnung sei die Verteidigung einer der zentralen moralischen Grundlagen dieser staatlichen Gemeinschaft, nämlich der kollektiven Scham über die Massenvernichtung im Dritten Reich. Diese von Streng befürwortete kollektive Scham zur Rechtfertigung der Vorschrift überschreitet aber bei Weitem die Strafbefugnis. Die Aufgabe des Strafrechts liegt nämlich nicht darin, dem Bürger zu diktieren, welche Gefühle gegnet werden“, „Den Unkundigen im Ausland und Inland sollte man nicht die Möglichkeit geben, uns vorzuwerfen, wir würden nicht alles tun, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Deswegen haben wir die Neuregelung von § 130 Abs. 3 hier vorgelegt“). 597 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 7. 598 Bereits Greve (SPD) greift auf die Beschämung als Ausgangspunkt der Gesetzesinitiative in der Bundestagssitzung vom 16. 3. 1950 zurück (Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie, Drs. Nr. 563), S. 1596C: „Wer heute von Widerstandskämpfern gegen das nationalsozialistische System im In- und Ausland, wer von den Verfolgten des sogenannten Dritten Reichs, wer insbesondere von den Juden anders spricht als mit Respekt und zugleich mit dem Gefühl tiefer Beschämung der verdient nach unserer Auffassung nicht den Schutz dieses Staates und seiner Einrichtungen“. 599 Streng, JZ 2001, 205.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

zulässig und welche unzulässig seien. Das wäre ein willkürlicher Eingriff ins forum internum. Der Gesellschaftsvertrag stützt sich nicht auf eine Basis zulässiger Gefühle, sondern auf friedliche Koexistenz. Das Rechtsgut der kollektiven Scham ist also illegitim. Weiterhin behauptet Hörnle, dass § 130 Abs. 3 StGB abgeschafft werden solle, weil mit der Vorschrift ein gesellschaftliches Sprechtabu strafrechtlich abgesichert werde600. Auch wenn man den Schutz der in Betracht kommenden historischen Wahrheit als Tabuschutz betrachtet601, ist dieser mit der Rechtsgutslehre unvereinbar. Ebenso problematisch ist die Rechtfertigung der Bestrafung des schlichten Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen zur Verhinderung der Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur602. Der Gesetzgeber lässt freilich Handlungen, die den demokratischen Rechtsstaat gefährden, nicht straffrei: Bestraft wird etwa die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach § 89a StGB oder die Terrorismusfinanzierung nach § 89c StGB. Das Postulat der Verhinderung der Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur bei der Leugnung einer offenkundigen historischen Tatsache ist jedoch nicht hinreichend begründet. Es ist nämlich nicht zu begründen, wie ein schlichtes – oder auch aufhetzendes –Bestreiten einer historischen Tatsache zur Wiederholung der nationalsozialistischen Diktatur führen könnte. Der Prozess der Wiederbelebung eines autoritären Regimes ist von so vielen Faktoren abhängig, dass die Bejahung einer Kausalität zwischen einer aufhetzenden Äußerung und der Wiederbelebung des Nationalsozialismus zumindest unbegründet ist. Die bloße Umschreibung dieser Zielsetzung begründet also kein legitimes Rechtsgut603. 600 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 339; Hörnle, in: Simester/von Hirsch, Incivilities: Regulating Offensive Behaviour, S. 136; vgl. ferner Dietz (KJ 1995, 221), die argumentiert, dass die Bestrafung des nicht aufhetzenden Leugnens der nationalsozialistischen Verbrechen der Aufrechterhaltung eines Tabus auf einer Weise diene, die langfristig gesehen eher schaden als nutzen werde. […] Ein Gesetz, das die Tatsache des Holocaust tabuisiert, diene – wie ungewollt auch immer – ihrer Angreifbarkeit als ideologisch motiviertem Mythos; auch Isensee deutet auf den § 130 Abs. 3 StGB als tabuisierte historische Wahrheit hin (Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat: jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, 2003, S. 74; ferner Frommel, KJ 1995, 406. 601 Die Betrachtung des § 130 Abs. 3 StGB als Tabuschutzes findet sich auch in den Gesetzesmaterialien (Abgeordnete Lowack, BT-Drs. 12/229, S. 19904C: „Ich möchte noch zu einem anderen Punkt Stellung nehmen, weil er heute fast ausgespart wurde, geheimnisvoll, als ob niemand wagen würde, darüber zu sprechen. Es ist die Neufassung der sogenannten Auschwitz-Lüge.“). Ablehnend Wandres, S. 243. 602 BT-Drs. 12/7421 vom 27. 4. 1994, S. 4; BT-Drs. 12/8588, S. 8; Hufen, JuS 1995, 638; Ostendorf, NJW 1985, 1062; Jahn, S. 182. 603 Die Verhinderung der Wiederbelebung des Nationalsozialismus als Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB kritisiert Stegbauer mit anderer Argumentation (NStZ 2000, 281, 283). Den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sieht er als bloße Reflexwirkung der Vorschrift und nicht als eigenständiges Rechtsgut. Durch den dritten Absatz des Volksverhetzungsparagraphen werde nach Stegbauer (S. 283) „der persönliche Achtungsanspruch hinsichtlich des erlittenen Leidens der Opfer staatlicher Willkür“ geschützt.

V. Ermittlung des geschützten Rechtsgutes des § 130 Abs. 1 StGB

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Zuletzt dürfen auch die Argumente zum Schutz von Individualrechtsgütern nicht unbeachtet bleiben. Zu Recht sieht sich diese Auffassung der Kritik ausgesetzt, dass ein Rückgriff auf Individualrechtsgüter wie das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einen äußerst vagen Vorfeldtatbestand schafft604. Gleichzeitig ist dies Vorgehen im Fall des dritten Absatzes auch unbegründet: Wie lässt sich eine Gefährdung des Lebens oder des Eigentums durch die schlichte Leugnung einer historischen Tatsache erklären? Auch die Handlungsalternativen des § 130 Abs. 1 StGB begründen keinen Rückgriff auf das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Diese werden hinreichend durch andere Vorschriften des Strafgesetzbuches geschützt.

V. Die Ermittlung des geschützten Rechtsgutes des § 130 Abs. 1 StGB Die bisherigen Überlegungen haben zur Ablehnung der in der Theorie und Judikatur herrschenden befürworteten Rechtsgüter geführt. Nach diesen Ergebnissen, die nur erörtert haben, was durch die Strafvorschrift nicht geschützt wird, stellt sich noch dringender die Frage, die noch nicht beantwortet worden ist: Welchem Rechtsgut dient das Strafverbot der aufhetzenden Leugnung der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes? Es fällt auf, dass sich in der Theorie nur einzelne Hinweise zur Ermittlung des Rechtsgutes einer Vorschrift finden605. Im Fall von Tatbeständen, wie dem Mord, bei dem die Ermittlung des geschützten Rechtsgutes methodisch ohne Zweifel erfolgt, hat dieses Fehlen von konkreten Hinweisen keine praktische Bedeutung. Handelt es sich hingegen um besonders strittige Fälle wie die Volksverhetzung, dann ergeben sich Fragen hinsichtlich der Ermittlung des geschützten Rechtsgutes. Im Rahmen der Diskussion des durch den Volksverhetzungsparagraphen geschützten Rechtsgutes wird in Literatur und Rechtsprechung vom öffentlichen Frieden oder anderen Rechtsgütern ausgegangen, anstelle mit Hilfe verschiedener Auslegungsmethoden das Telos der Vorschrift zu erläutern606. Um den Zweck der Vorschrift zu ermitteln, ist also die Untersuchung des Strafgrundes der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen erforderlich. Zu erforschen ist, worin die Schädlichkeit des aufhetzenden Bestreitens historischer Tatsachen besteht, welche das friedliche Zusammenleben der Bürger so erheblich beeinträchtigt, dass der strafrechtliche Eingriff des Gesetzgebers geboten ist.

604

Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 1. Pfaffinger, Rechtsgüter und Verhältnismäßigkeit im Strafrecht des geistigen Eigentums, 2015, S. 94. 606 So auch Pfaffinger, Rechtsgüter und Verhältnismäßigkeit im Strafrecht des geistigen Eigentums, 2015, S. 94 ff. 605

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Der Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie607 auf Antrag der SPD-Fraktion galt als eine Bestrebung, um ideologische Restbestände aus der Zeit des Nationalsozialismus zu bekämpfen608. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches609 vom 4. September 1950 war anschließend laut Begründung „zur besonderen Notwendigkeit geworden“, um die Aufgewühltheit der Leidenschaften durch die Rassenlehren des Nationalsozialismus zu bewältigen610. In der Begründung des Entwurfes eines Gesetzes gegen Volksverhetzung611 wird als Grund des strafrechtlichen Eingriffes eine Reihe von Vorfällen genannt, die die Erforderlichkeit der Verstärkung des Schutzes gewisser Bevölkerungsgruppen gegen Hetze und Verleumdung in den Vordergrund stellt. Auch der schriftliche Bericht des Abgeordneten Benda612 trägt zu der Erhellung des Strafgrundes der Volksverhetzung bei. Durch diese Vorschrift, schreibt Benda, solle der strafrechtliche Schutz in Bezug auf den in 220a StGB enthaltenen Tatbestand des Völkermordes auf ein früheres Stadium der Tat vorverlegt werden, indem das Schaffen oder Begünstigung der psychologischen Voraussetzungen unter Strafe gestellt wird, aus denen alle Ereignisse, wie sie § 220a StGB bestraft, denkbar wären. Nicht unbeachtet sollte die Bemerkung613 bleiben, dass der Entwurf als Reaktion auf die Fälle Nieland614, Zind und Eisele vorgelegt wurde. In den Gesetzesmaterialien kommt als Strafgrund die Vergiftung des politischen Klimas mehrmals vor. In der Bundestagssitzung vom 3. Dezember 1959 wird der Entwurf als ein Mittel bezeichnet, um der Intoleranz615 und dem eingetretenen Rassenwahn zu begegnen616. Ein Angriff auf die Gleichberechtigung, führt Wittrock (SPD) aus, der durch Ausschreitungen zum Ausdruck kommt, die bestimmten Bevölkerungsgruppen das Gleichsein als Mensch und Bürger aberkennen, sei ein Angriff nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen, sondern auf die gemeinsame Freiheit aller und gefährde dadurch strafrechtlich das Ganze617. Für Benda geht es um die Selbsterhaltung des demokratischen Staatswesens618.

607

BT-Drs. 563/1. Wahlperiode, 1950. BT – 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1594D. 609 BT-Drs. 1307 vom 4. 9. 1960. 610 Drs. 1307 vom 4. 9. 1960, S. 43. 611 BT-Drs. 918 vom 5. 3. 1959, S. 2. 612 Schriftlicher Bericht des Rechtsauschusses zu Drucksache 1143 vom 11. 6. 1959, S. 2. 613 BT – 68. Sitzung vom 8. 4. 1959, S. 3625B. 614 Noch einmal: der „Fall Nieland“, aus der Zeit Nr. 04/1959 vom 23. 1. 1959; Nieland. Reich des Zwistbringers, Der Spiegel, 4/1959, vom 21. 1. 1959; Friedrich Nieland fand keine Richter, aus der Zeit Nr. 03/1959, vom 16. 1. 1959. 615 BT – 92. Sitzung vom 3. 12. 1959, S. 5081C. 616 Ebenda, S. 5082C. 617 Ebenda, S. 5083B. 618 Ebenda, S. 5087A. 608

V. Ermittlung des geschützten Rechtsgutes des § 130 Abs. 1 StGB

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Der Strafgrund der aufhetzenden Leugnung wurde erneut angesichts der Umsetzungspflicht europäischer Verträge vorgebracht. Laut Begründung des Entwurfes619 trage das Vorhaben dazu bei, die innere Sicherheit zu gewährleisten und die Bürgerinnen und Bürger durch die Berücksichtigung von Bevölkerungsteilen und die Einbeziehung von Einzelpersonen vor Kriminalität und Extremismus zu schützen620. Zur Diskussion des Strafgrundes des neu gefassten Volksverhetzungsparagraphen sind die Stellungnahmen der Mitglieder der Großen Strafrechtskommission besonders erhellend621. So führt Bockelmann aus, dass es sich bei dieser Vorschrift nicht um den Schutz des öffentlichen Friedens oder einen Ehrenschutz, sondern um die Bekämpfung antisemitischer Gesinnungen622 handelt; nach dieser Auffassung besteht das Strafbedürfnis dieser Äußerungen in deren Abscheulichkeit. Es besteht nach Bockelmann ein Strafbedürfnis, „das nur durch eine solche Vorschrift befriedigt werden kann, die, ohne andere Gesichtspunkte einzubeziehen, die abscheuliche Äußerung einfach wegen ihrer Abscheulichkeit mit Strafe bedroht“. Für den Bundesanwalt Fränkel besteht das Strafbedürfnis in der Empörung des Rechtsempfindens623, während Oberstaatsanwalt Fritz als geschütztes Rechtsgut das humanitäre Empfinden bezeichnet624. Diese Überlegungen mögen abstrakt oder dogmatisch problematisch scheinen. Die Bekämpfung des Antisemitismus als abscheuliche Gesinnung oder die Abscheulichkeit als solche stellen keinen legitimen Strafgrund dar. Ebenso inhaltslos sind wegen ihrer Abstraktheit die Empörung des Rechtsempfindens – die bei jeder Rechtsverletzung zu bejahen ist – sowie das humanitäre Empfinden. So vage die Gesetzesmaterialien auch sein mögen, dienen sie doch als Orientierungspunkt bei der Erläuterung, was durch die Vorschrift nicht bestraft wird. Bei der Bestrafung der Aufstachelung zum Hass oder der Aufforderung zu Gewalt geht es nicht um die Abscheulichkeit der Tathandlung an sich. Obwohl ihr abscheulicher Charakter jedem demokratischen Bürger auffällt, stellt die Abscheulichkeit keinen legitimen Strafgrund dar. Denn sie birgt in sich die unzulässige Prämisse, dass die Handlung, die unter Strafe gestellt wird, kein schädliches Verhalten aufweist und nur als morbide Gesinnung kriminalisiert wird. Aber zu einer freiheitlichen Strafbefugnis kann der abscheuliche Charakter einer Handlung nicht ausreichen; sie muss vor allem bestimmte legitime Rechtsgüter beeinträchtigen.

619

Drs. 17/3124, S. 10. Ähnlich in Drs. 17/3123 vom 1. 10. 2010. 621 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 13. Band Besonderer Teil, 2. Lesung, Bonn 1960. 622 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 121. 623 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 124. 624 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, S. 124. 620

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

VI. Wirkung der Tathandlungen auf die Angriffsobjekte Bei der Ermittlung des geschützten Rechtsgutes ist zunächst auf die erfassten Angriffsobjekte hinzuweisen625. Als Angriffsobjekt des ersten Absatzes des § 130 StGB nennt der Gesetzgeber nationale, rassistische, oder ethnische Gruppen oder Einzelgruppen, die sich anhand eines dieser Kriterien identifizieren lassen, oder Teile der Bevölkerung. Die Erfassung konkreter Angriffsobjekte weist darauf hin, dass die Vorschrift nicht den Schutz eines abstrakten Rechtsgutes wie des öffentlichen Friedens bezweckt. Nicht jede Aufstachelung zum Hass oder Aufforderung zu Gewalt lässt sich als Volksverhetzung bezeichnen. Die Tathandlung soll sich gegen eine bestimmte, in die Vorschrift einbezogene Personengruppe oder eine Einzelperson richten, und daher beeinträchtigt sie ein konkretes Rechtsgut. Das Unrecht der Tathandlungen des ersten Absatzes besteht grundsätzlich nicht in der Weckung der kriminellen Bereitschaft der aufgehetzten Adressaten; wäre es das der Fall, dann wären derartige Fälle vom § 111 StGB erfasst. Ausgangspunkt der Strafwürdigkeit der Vorschrift ist zunächst das scheinbar grundsätzliche Anderssein626 des Angriffsobjektes, das – als dominantes Persönlichkeitsmerkmal – zum identitätsprägenden Stigma wird und seine verbale Entmenschlichung veranlasst. Wie aus dem Titel zu entnehmen ist, befördert der sich so Äußernde mit seiner Aufforderung einen Kausalfaktor in einer Kette von Faktoren, die durch die Mitwirkung Dritter, d. h. der aufgehetzten Adressaten, mit der Verletzung weiterer Rechtsgüter enden können. Diese Kette von Faktoren betrachten wir näher, um die Wirkungen der Handlungsvarianten auf die Opfer zu konkretisieren. Um die Konsequenzen der hetzerischen Rede gegen Minderheiten zum Ausdruck bringen zu können, ist die historische Dimension der Verfolgung von Bevölkerungsteilen zu berücksichtigen. Die historische Erfahrung des Nationalsozialismus hat gezeigt, wie eine totalitäre Herrschaft eine staatlich organisierte Massenvernichtung von Minderheiten ausführte. Die frühe Nachkriegszeit machte mit den Schmierereien an Gräbern und Synagogen weiterhin deutlich, dass ein strafrechtlicher Eingriff erforderlich ist, um sensiblen, schutzbedürftigen Bevölkerungsteilen oder Gruppen einen umfassenden Schutz zu gewährleisten. Gleichzeitig machten die Erfahrung des Nationalsozialismus sowie die Einstellung einiger unbelehrbarer Bevölkerungsteile in der Nachkriegszeit deutlich, dass Hetze durch ihre Verbreitung normalisiert wird und einen Nährboden für die potentielle Viktimisierung von Minderheiten bereitet.627 625 Zu der „Auswahl der Sündenböcke“, siehe Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979, S. 112. 626 Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 507. 627 Am 26. 11. 2018 übermittelte das Auschwitz Memorial folgende Mitteilung: „Auschwitz stand am Ende eines Vorgangs. Es ist wichtig zu erinnern, dass der Holocaust nicht erst mit den Gaskammern begonnen hat. Dieser Hass entwickelte sich allmählich aus Worten, Stereotypen und Vorurteilen durch rechtliche Ausgrenzung, Entmenschlichung und eskalierte Gewalt“.

VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

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Der historische Hintergrund liefert den ersten Kausalfaktor des Tatbestandes: die Entmenschlichung der angegriffenen Minderheiten. Die aufgedrängte Randständigkeit oder das betonte Anderssein erweckt eine feindselige Haltung628 allein wegen dieser Gruppenzugehörigkeit. Die Angehörigen der entsprechenden Gruppen oder Teile der Bevölkerung werden allein wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit stigmatisiert und als minderwertige Wesen angesehen. Ihnen wird das Recht abgesprochen, als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu zählen. In den Augen des Täters wird den sensiblen Minderheiten der Status eines bloßen Objekts verliehen. Sodann werden sie als schutzunwürdige Personen dargestellt, deren Verachtung oder sogar Vernichtung sich als zulässige Konsequenz der Entindividualisierung ergibt. Die Herabsetzung von Minderheiten zu einem minderwertigen Hassobjekt bringt die verbal Angegriffenen in einen reellen oder geistigen Verteidigungszustand, der eine konkrete, feststellbare Einwirkung auf die Angegriffenen zeigt. Die Mitglieder mögen zunächst ihre Identität oder einzelne identitätsprägende Merkmale verheimlichen und sich im Schatten von derartigen verbalen Angriffen an einen ständigen Angststatus gewöhnen müssen, in dem jederzeit eine angedrohte Tat verwirklicht werden könnte. Die Erkenntnis dieser Wirkung liefert als ersten Schutzzweck aller Handlungsvarianten des § 130 Abs. 1 StGB das Recht der Minderheiten auf ihre freie Entfaltung der Persönlichkeit.

VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit 1. Der Begriff des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist nicht zufällig die erste und allgemeinste Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes629. Als materielle Konkretisierung des Menschenwürdebegriffes630 legt sie die öffentliche Gewalt und die Rechtsordnung fest und gewährleistet ein „Grundrecht auf Gesetzmäßigkeit“, nach dem jeder materiell belastende Nachteil formell und materiell verfassungsgemäß sein muss631. Aus dem menschenrechtlichen Charakter des Freiheitsrechts ergibt sich, dass sich sein Schutz nicht nur auf Deutsche, sondern auch auf Ausländer und Staatenlose erstreckt. Ebenso exzessiv ist sein sachlicher Anwendungsbereich: die feierliche Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG schützt die allgemeine Handlungsfreiheit im 628

Streng, in: FS-Lackner, 1987, S. 507. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 1. 630 Nach Dürig „macht Art. 2 Abs. 1 GG unbezweifelbar, worin inhaltlich (materiell) die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1) vornehmlich besteht: in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit“. 631 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 12. 629

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

weiten Sinne, nämlich die Freiheit zu jedem beliebigen Tun und Unterlassen632, unabhängig von seiner Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung633. Für eine exzessive Auslegung des Schutzbereiches spricht der Sinn und Zweck der Verankerung dieses Menschenrechtes. Mit der Anerkennung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit soll der Selbstentwurf des Menschen nach seinem Willen gewährleistet werden634. Um die Diskussion beiseitezulassen, was als persönlichkeitsrelevant gilt und was nicht, die zu einer paternalistischen Verengung der Freiheit führen kann, wird eine weite Deutung des Begriffes präferiert. Die Verwendung des Begriffes der Entfaltung selbst635, bringt eine aktive prozessuale Dynamik zum Ausdruck. Selbst die Wortauswahl – anstelle von „Entwicklung“ – skizziert den besonderen Inhalt des Begriffes. Die Entwicklung bezieht sich auf einen dynamischen Vorgang, während der Entfaltung die Begriffe der Aktivität, der Selbstverwirklichung und des Willens innewohnen. Obwohl die ausdrückliche Gewährleistung der Handlungsfreiheit ihre Wurzeln im Zeitalter der Aufklärung hat636, war sie eine bewusste Reaktion auf die Missachtung des menschlichen Lebens durch die Stigmatisierung des Andersseins während des NS-Regimes637 und der Manipulation der Rechtsordnung. Die feierliche Verankerung der freien Entfaltung der Persönlichkeit als ideologischer Gegenpol zu den totalitären Erfahrungen des nationalsozialistischen Regimes hebt in besonderer Art die Bedeutung dieses Menschenrechtes für die Prägung des freiheitlichen Charakters des Strafrechts hervor. Zu Recht wird bemerkt638, dass es sich beim Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – zusammen mit dem Recht auf Leben – um das wichtigste Rechtsgut in einem Rechtsstaat handelt. 2. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Rechtsgut Allerdings fragt sich, ob die freie Entfaltung von Minderheiten überhaupt ein legitimes Rechtsgut darstellt. Definiert man die Rechtsgüter als Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen und das friedliche Zu632 Rixen, in: Sachs, GG Art. 2 Rn. 43; „allgemeine menschliche Handlungsfreiheit und individuelle Selbstbestimmung“, vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 13. 5. 1986 – 1 BvR 1542/84, NJW 1986, 1860. 633 Umstritten ist, ob der Grundrechtstatbestand jedes beliebige Handeln umfasst oder ob ihm ein enges Schutzbereichsverständnis zukommt. Den Kritikern einer Banalisierung der Grundrechte, die eine Schaffung eines „Grundrechts auf Taubenfüttern im Park“ befürchten, lässt sich entgegenhalten, dass eine Verengung des Begriffes der freien Entfaltung der Persönlichkeit gewisse Aspekte der individuellen Autonomie vom Schutzbereich ausnimmt und daher nur bestimmte Aspekte der Persönlichkeit umfassen kann. 634 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 13. 635 Kunig/Kämmerer, in: von Münch/Kunig, GG Art. 2 Rn. 20. 636 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 4. 637 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Art. 2 Rn. 1. 638 Ontiveros Alonso, in: FS-Roxin I, 2011, S. 247, 254.

VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

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sammenleben der Bürger notwendig sind, taucht die Frage auf, ob das in Betracht kommende Rechtsgut nicht einen äußerst weiten und tautologischen Charakter aufweist, der zur Legitimation von Strafvorschriften ungeeignet ist. Die strafrechtliche Schutzwürdigkeit der freien Persönlichkeitsentfaltung wird durch mehrere Argumente gerechtfertigt. Dass eine Person, die in ihrem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung verletzt wird, sich auf das Grundrecht berufen kann, ist nicht selbstverständlich. Art. 2 I GG entfaltet – wie alle anderen Freiheitsrechte – seine Rechtswirkungen „in erster Linie“ in der Abwehrrichtung639. Eingriffe der staatlichen Gewalt auf die Freiheitssphäre des Einzelnen sind nur durch hinreichende Gründe gerechtfertigt. Dadurch lässt sich nicht ohne weiteres ableiten, dass dieser Freiheitsschutz im status negativus auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern ausstrahlt. Der Grundrechtstatbestand verpflichtet ausschließlich die Träger öffentlicher Gewalt in jeder Ausübung ihrer Funktionen640, entfaltet aber keine unmittelbare Drittwirkung. Diese klassische Abwehrfunktion erweist sich nicht als ausreichendes Instrument, wenn die freie Persönlichkeitsentfaltung durch Dritte beeinträchtigt wird. Es scheint in diesem Fall geboten, dass der moderne Staat die Beziehungen zwischen Bürgern regelt. Handelt es sich um unerträgliche Eingriffe in die Handlungsfreiheit des Einzelnen, dann ist ein strafrechtlicher Eingriff gerechtfertigt, denn ohne sie ist eine friedliche Koexistenz der Bürger nicht denkbar. Offensichtlich können Eingriffe in die Persönlichkeitsentfaltung nicht nur durch staatliche Gewalt ausgeübt werden. Die mehrschichtige Dimension der menschlichen Interaktion hat zum Ergebnis, dass sich Beeinträchtigungen auch durch Dritte ergeben können. Ein Hindernis der Bejahung der Strafwürdigkeit von Eingriffen in die Handlungsfreiheit ist freilich das exzessive Verständnis des Schutzbereiches des Grundrechtes. Da das Grundrecht die Handlungsfreiheit nach herrschender Meinung im umfassenden Sinne schützt641, erfasst das Recht jedes menschliche Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht einer Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt642. Die Sanktionierung jeder Art von Betätigung von einem Dritten, die auch eine kaum wahrnehmbare Einwirkung auf die Persönlichkeitsentfaltung haben kann, lässt sich aber anhand des Ultima-Ratio-Prinzips nicht rechtfertigen. Derartige Eingriffe können durch mildere Mittel bekämpft werden. Handelt es sich dagegen um gravierende Beeinträchtigungen der Handlungsfreiheit, die unerträglich für die freie Entfaltung der Persönlichkeit sind, dann ist eine Sanktionierung nicht nur legitim, sondern auch unentbehrlich. 639 Horn, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar Art. 2 Rn. 70; Rixen, in: Sachs, GG Art. 2 Rn. 18 ff.; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 48 ff. 640 Horn, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar Art. 2 Rn. 69. 641 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 2 Rn. 5. 642 BVerfG, Beschluß vom 6. 6. 1989 – 1 BvR 921/85, NJW 1989, 2525.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

3. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB Besonders relevant wird die Heranziehung der freien Entfaltung der Persönlichkeit bei § 130 Abs. 1 StGB. Die rassistisch motivierten Ausschreitungen der frühen und späteren Nachkriegszeit, die eine Gesetzeslücke aufzeigten, waren meistens nationalsozialistisch geprägt. In den meisten Fällen handelte es sich um antisemitische Phänomene, die unmittelbar den Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit bestritten. Die Pönalisierung der rassischen Hetze gegen Minderheiten bedeutet dennoch keine Pönalisierung der Gesinnung. Obwohl die Handlungsvarianten im § 130 Abs. 1 StGB an rassische Vorurteile anknüpfen, wird nicht das Vorurteil an sich bestraft, das als moralwidrige Gesinnung verfassungsrechtlich geschützt wird. Bestraft werden die Tathandlungen des § 130 Abs. 1 StGB, weil sie konkrete, objektiv feststellbare Einwirkungen auf die Handlungsfreiheit der Opfer haben, indem sie gezielt den Status der Angriffsobjekte als gleichwertige Bürger bestreiten, deren Rechtsgüter den Schutz der staatlichen Gemeinde nicht verdienen. Ein weiterer erheblicher Strafgrund der Hetze gegen Minderheiten i. S. des § 130 Abs. 1 StGB ist das Ergebnis vieler Befragungen, dass die Mehrzahl rassistisch motivierter Straftaten gar nicht polizeilich gemeldet wird. Das Opfer stellt sich auf die wiederholten – verbalen oder physischen – Angriffe ein und in extremen Fällen ist der Eingriff dieser Ausschreitungen so gravierend, dass sie als Bestandteil seines Alltags integriert werden. Die Seltenheit der Anzeigen kann freilich auch an anderen Gründen liegen, wie etwa Misstrauen gegenüber den Polizeibehörden oder den Institutionen allgemein. Die Erregung feindseliger Einstellungen gegen Minderheiten oder ihre Mitglieder stellt eine schwere Beeinträchtigung des angstfreien Handelns der Betroffenen dar. Aggressive Aufrufe mit Appellcharakter haben konkrete Auswirkungen auf die Person oder die Personenkreise, die nicht nur subjektiv wahrnehmbar sind. Bei der Aufforderung zu Gewalt oder der schweren Kränkung allein wegen identitätsstiftender Merkmale der Person oder der Gruppe wird das Recht der Angehörigen verletzt, ihr eigenes Verhalten selbst zu bestimmen. Denn kein Mensch kann sich entfalten, wenn seine grundlegende Erwartung nicht gewährleistet werden kann, wegen seiner Gruppenzugehörigkeit und sozialer Identität respektiert zu werden. Zu Recht bemerkt Waldron643, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung durch verbale Angriffe für die Angegriffenen ein unerträgliches Lebensumfeld schafft: „Can their lives be led, can their children be brought up, can their hopes be maintained and their worst fears dispelled, in a social environment polluted by these materials?“

Weiterhin ist eine Pönalisierung zu billigen, wenn sich der in Betracht kommende Eingriff gegen schutzwürdige, sensible Angehörige von Gruppen oder Bevölkerungsteilen richtet. Bleibt der Aufruf zu Gewalttätigkeiten straffrei und wird daher als eine zulässige Meinungsäußerung anerkannt, dann wird die friedliche Koexistenz 643

Waldron, The harm in Hate Speech, 2012, S. 10.

VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

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aller Menschen schwer beeinträchtigt. Denn ein Verzicht auf Sanktionierung in diesem Fall lässt bei den Angegriffenen die Überzeugung entstehen, dass das Bestreiten ihrer Freiheit sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft keine bedeutende Rechtsgutsbeeinträchtigung sei oder sogar als eine erwünschte Handlung betrachtet und vom Staat gebilligt werde. Wie sich aus der ausdrücklichen Erfassung von Einzelpersonen ableiten lässt, wird das im § 130 Abs. 1 StGB geschützte Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung an erster Stelle individuell ausgelegt. Die Bestimmung der Einwirkung auf die Persönlichkeitsentfaltung ist zunächst problematisch, da der mehrschichtige erzielte Schaden der Hassrede nicht eindeutig feststellbar ist. In der angelsächsischen Literatur wird allerdings behauptet, dass die Hassrede die gleiche psychologische Einwirkung auf die Angriffsobjekte wie physische Angriffe erzielen kann. Die erzielten Symptome ähneln denjenigen der Posttraumatischen Belastungsstörung: Panik, Angst, Stress, Schlafstörungen, Bedrohungsgefühl, Herabwürdigung644. Laut Angaben der Vereinigung Amerikanischer Psychologen kann die rassistisch motivierte Kriminalität auf die Opfer ein intensives Unsicherheitsgefühl, Verletzbarkeit, Wut, Depression, Lernprobleme und gesellschaftliche Isolation auslösen645. Nach anderen Forschungsergebnissen kann die Selbstmordrate von ethnischen Minderheiten in den Vereinten Staaten durch den Umfang ihrer Konfrontation mit Hassrede prognostiziert werden646. Das Strafrecht bezweckt freilich nicht die Bewältigung psychologischer Traumata. Das ist der Gegenstand anderer wissenschaftlicher Bereiche, die die Einwirkung solcher Angriffe systematisch erforschen und zu ihrer Behandlung beitragen. Die Bestrafung der Hetze vermag also nicht, die psychischen Symptome oder die belastenden Gefühle der Opfer zu bekämpfen. Es geht ihr vielmehr um eine objektiv feststellbare Einwirkung der Hassrede auf den Angegriffenen oder auf die Gruppe, die unmittelbar die Handlungsfreiheit des Betroffenen beeinträchtigt. Obwohl die auslösende Angst an sich keinen eigenständig strafwürdigen Charakter hat, beeinflusst sie in starkem Maße die Lebensentscheidungen der Opfer und vermindert daher ihre Handlungsfreiheit. Überdies belasten die Erwartung einer Viktimisierung und die Darstellung des Mitglieds einer Minderheit als minderwertiges Wesen seinen Umgang mit anderen Menschen und fördern Angstgefühle vor Angriffen auf den engsten Kreis der Person. Daraus ergibt sich, dass die im § 130 Abs. 1 StGB umschriebenen Handlungen die freie Entfaltung der Minderheit beeinträchtigen. Der Ausgangspunkt der Hetze ist 644 Anderson, Sociological Inquiry 83(1) 2013, 55 ff.; American Psychological Association (Hrsg.), Position Statement: Resolution Against Racism and Racial Discrimination and Their Adverse Impacts on Mental Health, 2006; Dzelme, Psychological Effects of Hate Crime – Individual Experience and Impact on Community, Latvian Centre of Human Rights, 2008. 645 Dzelme, Psychological Effects of Hate Crime – Individual Experience and Impact on Community, Latvian Centre of Human Rights, 2008, S. 11. 646 Cramer et al., Journal of trauma & dissociation, 2018, 476 ff.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

symbolisch: das Angriffsobjekt wird vom Täter zufällig ausgewählt. An seiner Stelle könnte jedes andere Mitglied stehen. Auch wenn sich die Hetze gegen ein einzelnes Mitglied der Minderheit richtet, erzeugt die verbale Entmenschlichung eine gravierende Auswirkung auf die Gruppe, indem sich die Verachtung und das Bestreiten ihrer Gleichwertigkeit an den anderen Angehörigen und der Gruppe selbst widerspiegeln. Die Teilnahme am sozialen Leben in einem Angststatus, die Vermeidung von bestimmten Stadtteilen sowie die fehlende Integration in die Schulumgebung sind nur wenige Beispiele, die die Einwirkung der Hetze auf das Kollektiv belegen. In extremen Fällen wird die Minderheit so gravierend in ihrer Handlungsfreiheit verletzt, dass sie zur Vermeidung von Angriffen ihr Land verlassen müssen. In anderen Fällen führt die Hetze zu gesellschaftlicher Isolation. Die Angehörigen passen ihre Entscheidungen und ihr Verhalten an den verbrecherischen Willen eines potentiellen Täters an. Unmittelbare Auswirkung der agitatorischen Hassrede ist, dass die Mitglieder in Angst und Sorge leben müssen647. Parallelen zwischen der durch das nationalsozialistische Regime staatlich organisierten Hetze in propagandistischer Form mit der Hassrede, die von einem Individuum geäußert wird, sind gleichwohl nicht unmittelbar festzustellen. In der nationalsozialistischen Ära gehörte die Hetze gegen Minderheiten zur Ideologie und Politik der Machthaber648. In den modernen Demokratien und trotz der Zunahme von Extremismus lassen sich hauptsächlich isolierte Unterstützer von fremdenfeindlichen Gruppen auf eine agitatorische Rede gegen Minderheiten ein. Die Herkunft dieser agitatorischen Rede sowie ihre effektive strafrechtliche Bekämpfung verhindern ihre allgemeine Durchsetzung und die Verletzung der Sicherheit der Minderheiten. Besonders angesichts des rechtsextremen Hintergrundes der rassistischen Hetze existieren trotzdem Parallelen. Es ist erwähnenswert, dass die Hassrede und insbesondere die Aufstachelung zum Hass gegen schutzwürdige Minderheiten erst in der Nachkriegszeit als strafwürdig betrachtet wurden. Durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde klar, dass rassische Hetze den Menschen in seinem tiefsten Wesen destruiert und seine Persönlichkeitsentfaltung schwer beeinträchtigt; sie stellt ihn als ein „lebensunwertes“ Ziel hin und fördert gleichzeitig die Bereitschaft der Adressaten, Delikte gegen einen Angehörigen der Minderheit zu begehen. Diese potentiellen Auswirkungen fordern den Eingriff des Gesetzgebers, um sowohl die Handlungsfreiheit zu schützen als auch die Bereitschaft zu rassisch motivierten Verbrechen in den Griff zu bekommen. Denn obwohl die Handlungsvarianten des § 130 Abs. 1 StGB nicht als erste Stufe eines Genozids umschrieben sind, bringen sie die Eigendynamik der agitatorischen Leugnung des Holocaust zum Ausdruck und der Hetze im Allgemeinen, die – wenn sie straffrei bleiben – die Erkenntnis bekräftigen, dass die erfassten Gruppen ihr Leben als potentielle Zielgruppen rassischer Gewalt und Terror führen, unter dem Vorbehalt der Verwirklichung der Bedrohungen

647 648

Roxin, in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 683. Rosenfeld, in: Herz/Molnar, The content and context of hate speech, 2012, S. 244.

VII. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

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leben und sich selbst als minderwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachten sollen. In diesem Fall aber wächst die Überzeugung unter den Angehörigen von Minderheiten, dass die Rechtssicherheit und die friedliche Koexistenz nur die inländische Bevölkerung betreffen. Daher stellt sich im angegriffenen Kollektiv das Empfinden ein, dass die Freiheit als Grundbedingung für sein Leben in der Bundesrepublik nicht nur von den Tätern, sondern auch vom Staat bestritten wird. Daraus folgt, dass die Pönalisierung dieser Handlungen legitim und geboten ist und an erster Stelle die Persönlichkeitsentfaltung der Angehörigen von Minderheiten schützt. Die in Betracht kommende Strafbedürftigkeit der agitatorischen Leugnung einer historischen Tatsache lässt sich nicht aus dem offenkundigen Charakter der historischen Tatsache ableiten. Vielmehr wird die historische Tatsache zur Verachtung der Personenmehrheit instrumentalisiert. Das ergibt sich auch a contrario aus dem Wortlaut des Volksverhetzungsparagraphen, der die historische Tatsache der nationalsozialistischen Verbrechen nur im dritten Absatz heranzieht. Daher ist im Rahmen des § 130 Abs. 1 StGB auch eine Äußerung strafbar, die eine verbale Entmenschlichung gegen eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe zum Ausdruck bringt, indem sie agitatorisch auf ihre historisch behandelte Viktimisierung in der Vergangenheit zurückzielt. Insofern ist die gerichtliche Anerkennung der historischen Tatsache oder der wissenschaftliche Konsens über die historische Tatsache kein maßgebendes Kriterium für die Strafwürdigkeit der Aussage. Geschützt wird außerdem nicht die historische Wahrheit selbst; sie fungiert als Mittel des verbalen Angriffes. In diesem Zusammenhang ist etwa eine aufhetzende Aussage gegen eine in Deutschland lebende armenische Minderheit vorstellbar, die verbal durch eine agitatorische Leugnung des vom Osmanischen Reich begangenen Völkermords angegriffen wird649. 4. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Rechtsgut des § 130 Abs. 3 StGB Obwohl in einem anderen Teil schon das Fazit gezogen worden ist, dass § 130 Abs. 3 StGB dem illegitimen Zweck des Schutzes der historischen Wahrheit dient, ist es sinnvoll, der Frage nachzugehen, ob durch die Bestrafung des schlichten Leugnens 649 Hiermit wird nicht der Annahme angeschlossen, dass das Bestreiten des armenischen Genozids und folglich der besonderen Umstände des Versterbens der Opfer den Tatbestand des § 189 StGB verwirklicht (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. 3. 2006 – OVG 1 S 26.06). Auch in diesem Fall wird nicht die Wiederherstellung der verfälschten historischen Wahrheit der Verbrechen des Osmanischen Reiches bestraft, sondern eine Bedrohung, die als historische Meinung getarnt wird. Folglich wird nicht der Anspruch der damaligen Opfer auf Achtung ihres schweren Schicksals verletzt. Das Delikt der aufhetzenden Leugnung eines Verbrechens wie des armenischen Genozids besteht in der Förderung eines Angriffes auf eine Minderheit, die sich aus historischen Gründen und anhand von identitätsprägenden Merkmalen als Nachkomme der Opfer identifiziert. Dieser potentielle Angriff beeinträchtigt die Freiheit der Mitglieder der Minderheit und erschüttert ihr Sicherheitsgefühl.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

der nationalsozialistischen Verbrechen die Persönlichkeitsentfaltung der Überlebenden und von Angehörigen der betroffenen Minderheit geschützt wird. Wenn sich die Aussage darin erschöpft, die Geschichtsschreibung einer Unwahrheit zu bezichtigen, dann liegt keine Rechtsgutsbeeinträchtigung vor. Die historisch gesicherte Wahrheit bedarf keines Rechtsschutzes. Da eine derartige Aussage auf die Verfälschung einer historischen Wahrheit zielt und keine aufhetzenden Werturteile gegenüber den Opfern zum Ausdruck bringt, ist der agitatorische Charakter der Äußerung zu verneinen. Die – sei es auch in Kenntnis der Wahrheit – Dekonstruktion eines bestimmten Geschichtsverständnisses birgt in sich keine Verachtung der betroffenen viktimisierten Gruppe oder ihrer Hinterbliebenen. Die schlichte Verneinung tangiert deshalb die Opfer nicht und daher beeinträchtigt sie – als neutrale, aber trotzdem willkürliche Stellungnahme zu einer offenkundigen historischen Tatsache – nicht ihre Handlungsfreiheit650.

650

Eine andere Auffassung vertritt der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 1980, 45, 46). Der BGH geht zwar davon aus, dass das Bestreiten der Geschichtsschreibung an sich kein Angriff auf die Person sei, weil die historisch gesicherte Wahrheit keines Rechtsschutzes bedarf – ihm kann freilich auf andere Weise begegnet werden. Allerdings führt der BGH aus, dass die Berufung auf die Meinungsfreiheit bei der Leugnung des Holocaust unzulässig sei. Die Anerkennung der Zugehörigkeit der in der Bundesrepublik lebenden Juden zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe gehöre, so der BGH, zu ihrem personalen Selbstverständnis. Die Achtung dieses Selbstverständnisses sei für jeden von ihnen geradezu eine der Garantien gegen eine Wiederholung solcher Diskriminierung und eine Grundbedingung für ihr Leben in der Bundesrepublik. Der BGH greift zur Bestrafung der Holocaustleugnung auf die Ehre zurück, indem er in der Leugnung eine Absprache der persönlichen Geltung der Juden feststellt, auf die sie Anspruch haben, jedoch kann die Persönlichkeitsentfaltung unter dieser Auslegung auch in Betracht kommen. Sie wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, allerdings lässt sich diese Auslegung aus der exzessiven Formulierung ableiten. Dieser Widerspruch – des im Prinzip zulässigen Bestreitens eines bestimmten Geschichtsverständnisses und der Betrachtung der Holocaustleugnung als eine Missachtung des personalen Selbstverständnisses – ist an erster Stelle eine Inkonsistenz, die auf die pauschale Beurteilung der Leugnung zurückzuführen ist, insbesondere auf die Unterlassung des Gerichts, ausdrücklich zwischen der agitatorischen und der schlichten Leugnung zu unterscheiden. Es muss dennoch darauf hingewiesen werden, dass das vorgestellte Urteil sich mit der Bezeichnung des Holocaust als zionistischen Schwindels auseinandergesetzt hatte. Der agitatorische Charakter der Bezeichnung war nach Auffassung des Berufungsgerichts umstritten und wurde verneint, denn es ergebe sich nicht aus dem Kontext der Äußerung, dass die „Lüge“ den Juden vorgeworfen wurde. Der Bundesgerichtshof stellt in der Bezeichnung als „Erfindung“ schon eine verachtende Einstellung fest, weil es aus dem Kontext klar wird, dass der Täter sich mit dieser Aussage bemüht, den Nationalsozialismus von dem Makel des Judenmordes zu entlasten. Insofern sei ein eindeutig gezielter Vorwurf – gegen die Opfer oder ihre Hinterbliebenen – nicht erforderlich. Selbst das Bestreiten des Rassenmordes ist für den BGH eine aufhetzende Äußerung. Es liegt nahe, dass diese Diskrepanz in der Würdigung der Bezeichnung des Holocaust als Erfindung im Postulat der Aussage als antisemitische Äußerung liegt; diese Tendenz findet sich auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie früher in der der Europäischen Menschenrechtskommission, die in holocaustleugnenden Sachverhalten stets eine antisemitische Einstellung postuliert sieht.

VIII. Die Sicherheit

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5. Zwischenergebnis Durch den § 130 Abs. 1 StGB wird nicht nur die freie Persönlichkeitsentfaltung der Angehörigen von Minderheiten geschützt. Die Stigmatisierung von Minderheiten oder von einzelnen Mitgliedern, das Bestreiten ihrer Eigenschaft als gleichwertige Rechtsgutsträger in der Gesellschaft sowie die ausdrückliche Aufforderung zum Angriff gegen ihre Rechtsgüter bedroht neben der Persönlichkeitsentfaltung die Existenz der Minderheiten oder ihrer einzelnen Angehörigen. Zu prüfen ist demnach, ob die Vorschrift, die die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen erfasst, mittels Vorfeldkriminalisierung rassischer Ausschreitungen einen vorverlagerten Opferschutz bietet und daher die Sicherheit der Angriffsobjekte schützt. Fraglich ist auch, ob ein derartiges Legitimationskriterium zulässig ist.

VIII. Die Sicherheit 1. Einleitung Sicherheit gilt als ein Grundbedürfnis des Menschen651. Ob aber dieses Bedürfnis rechtlich konkretisierbar ist und einen Anspruch des Bürgers gegenüber der Staatsmacht auf Schutz begründet, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Erstens, weil es keine Einigkeit über seinen Bedeutungsgehalt herrscht. Zweitens bestehen gegen die Anerkennung eines Rechts auf Sicherheit Bedenken, weil die Sicherheitspolitiken als grenzenlose Einschränkung von Freiheitsrechten wahrgenommen werden. Die Vieldeutigkeit der Sicherheit illustriert ein historischer Blick auf die Entwicklung des Bürger-Staat-Verhältnisses. Für Hobbes wird die Sicherheit durch die Konstitution des Staates erzeugt. Sie ist der zentrale Staatszweck, der den Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand gewährleistet. Hobbes schreibt in seinem Leviathan: „Das Amt des Souveräns (ob Monarch oder Versammlung) besteht in dem Zweck, zu dem ihm die souveräne Macht anvertraut wurde, nämlich, für die Sicherheit des Volkes zu sorgen, wozu er durch das Naturgesetz verpflichtet ist wie auch dazu, Gott, dem Urheber dieses Gesetzes, darüber Rechenschaft abzulegen und sonst niemandem. Aber mit Sicherheit ist hier nicht die bloße Erhaltung gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für das Gemeinwesen erwerben soll652“. Diesem grenzenlosen, absolutistischen Konzept wird entgegengehalten653, dass die Diskussion des Staatszwecks über Leerformeln wie „Förderung des Gemeinwohls“ eine reine ideologische Funktion übernehme. Im Unterschied zum 651 Haverkamp/Arnold, in: Haverkamp/Arnold (Hrsg.), Subjektive und objektivierte Bedingungen von (Un-)Sicherheit, 2015, S. 10. 652 Hobbes, Leviathan, 1996, S. 283 f. 653 Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 1973, S. 217.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Modell von Hobbes, der keine Begrenzung der Staatsgewalt anerkennt, darf der Staat nach Locke Gehorsam verlangen, wenn er die Freiheitsrechte der Bürgers schützen kann654. Insofern kann hier von Sicherheit vor dem und nicht durch den Staat gesprochen werden. Bei den liberalen Staatsdenkern Locke und noch mehr bei Kant zeigt sich ein Sicherheitsbegriff, der die Freiheit des Menschen voraussetzt und prägt. Besonders für Kant sind Freiheit und Sicherheit komplementär: die Rechtfertigung des Staates liegt in der Freiheitssicherung655. Die angeborene Subjektstellung und Entfaltung des Einzelnen sind Aspekte des kantischen Sicherheitszustands. Freiheit und Sicherheit stehen nicht als abwägungsbedürftige Werte nebeneinander, sondern werden mit einem Zweck-Mittel-Verhältnis illustriert, das sich mit der Sicherheitsdefinition Humboldts trefflich umschreiben lässt: „Gewissheit gesetzmäßiger Freiheit“656. Werden durch „eine Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“657 die Freiheitsrechte des Einzelnen als Verantwortungssubjekts realisiert, dann hat dies als Konsequenz einen „gesicherten Freiheitszustand“. Dieser ermöglicht sichere Lebensverhältnisse, in denen der Mensch seine vorstaatliche Freiheit genießen kann, „das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“658. Die Terroranschläge in USA und Spanien – und neuerdings in geringerem Umfang in Deutschland und Frankreich – werden als größte Furcht der heutigen Gesellschaften wahrgenommen. Sie lösten sogleich eine heftige Debatte über eine effektive Sicherheitspolitik aus. Die qualitativ neuen Bedrohungen machten deutlich, dass die Sicherheit sich nicht auf ihrem status negativus, also zum Zwecke des Schutzes vor staatlicher Willkür beschränkt. Es geht um einen materiell erweiterten Begriff, der mit einer Schutzpflicht vor Dritten angereichert worden ist. In diesem erweiterten Verständnis ist die persönliche Sicherheit „berechtigte Sorgelosigkeit bei der Verfügung über Güter“659. Dieser reelle Zustand lässt sich positiv als Friedenszustand wichtiger Rechtsgüter der Person umschreiben. Er weist bestimmte Merkmale auf, die die persönliche Sicherheit als Begriff von den einzelnen Rechtsgütern unterscheiden. Das Recht auf Leben oder Eigentum schützt vor latenten Gefahren. Die persönliche Sicherheit gewährleistet dagegen eine dauerhafte Integrität und wird im Vorfeld von potentiellen Angriffen präventiv konzipiert.

654 Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge: Grundlagen, Rechts- und Vollzugsstrukturen, dargestellt auch im Hinblick auf die deutsche Beteiligung an einem Europäischen Polizeiamt, 1998, S. 317; Papier, Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint, Die Welt vom 1. 6. 2008. 655 Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, 2004, S. 7. 656 Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen und Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, 1967, S. 118. 657 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f. 658 Kant, AA VI, Metaphysik der Sitten, S. 237. 659 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 282.

VIII. Die Sicherheit

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2. Sicherheit als Staatsaufgabe Nach Di Fabio ist die erste und letzte Rechtfertigung des Gewaltmonopols die Durchsetzung des Friedens im Sinne der Sicherheit und der Freiheit vor Furcht660. Freiheit und Sicherheit seien wechselseitige und einander stärkende Aufgaben, die in einem Komplementärverhältnis stehen. Wer in Furcht um seine vitalen Individualrechtsgüter leben muss, genieße keine wahre Freiheit. Auch nach Hillgruber661 konstituiert die innere Sicherheit eine Staatsaufgabe ersten Rangs. Sie sei eine elementare Staatsaufgabe, die so selbstverständlich sei, dass sie trotz des Verzichtes auf eine ausdrückliche Verankerung stillschweigend als existent und legitim als eine „bewusst verschwiegene oder gar geleugnete ratio essendi des modernen Staates als Sicherheitsgarant ins allgemeine Rechtsbewusstsein“662 eingegangen sei. Das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit ist für Hillgruber vor allem komplementär663 : Sicherheit sei eine notwendige Bedingung von Freiheit. Bürger, die in Angst leben, können die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte nicht ausüben. Dieses Verhältnis ist aber gleichzeitig spannungsgeladen: staatliche Sicherheitsmaßnahmen können eine freiheitsbedrohliche Perspektive entfalten, und deswegen sei eine rechtsstaatliche Balance zwischen den zwei Werten – Freiheit und Sicherheit – geboten. 3. Das Grundrecht auf Sicherheit Mit dem Sicherheitszweck befasst sich Isensee in seiner Monographie „Das Grundrecht auf Sicherheit“ im Jahre 1983. Isensee präsentiert das staatstheoretische und ideengeschichtliche Fundament der Aufklärung mit Hobbes und Locke. Zur Rechtfertigung des modernen Verfassungsstaates lehnt er das staatliche Legitimationsprinzip der Sicherheit nicht ab. Er greift auf es zurück, um den neuartigen Sicherheitsbedürfnissen gerecht zu werden664. Der neuzeitliche Staat rechtfertige sich dadurch, dass er dem Bürger Sicherheit gewährleiste665. Die Durchsetzung der bürgerlichen Sicherheit erfolge in drei Stufen: auf der ersten „hobbesianischen“ Stufe befreie der gewaltmonopolistische moderne Staat die Bürger von ihrer Furcht vor wechselseitigen Gewalttätigkeiten; die zweite, liberale Stufe der Entwicklung der Sicherheitsarchitektur übernimmt eine Abwehrfunktion gegen die staatliche Unterdrückungsmacht. Schließlich kommt eine dritte Form von Sicherheit in Betracht, die die Furcht vor wirtschaftlichen Risiken verhindern soll. Der status negativus der Abwehrfunktion gegen staatliche Übergriffe sowie der status positivus 660 661 662 663 664 665

Di Fabio, NJW 2008, 421, 422. Hillgruber, JZ 2007, 209, 210. Hillgruber, JZ 2007, 209, 210. Hillgruber, JZ 2007, 211. Isensee, Das Grundrecht auf Freiheit, 1983, S. 17. Isensee, Das Grundrecht auf Freiheit, 1983, S. 17.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

des Schutzes vor Übergriffe anderer bilden in ihrer Gesamtheit das Grundrecht auf Sicherheit666 und folglich ein subjektives Recht667, das für den Gefährdeten ein Recht auf Schutzmaßnahmen im Einzelfall bedeutet.

4. Sicherheitsverwahrung als Feindrecht Eine kontroverse Konzeption mit dem verwandten Ausgangspunkt, nach dem die primäre staatliche Aufgabe die Erfüllung der staatlichen Interessen ist, ist das Feindstrafrecht von Jakobs. Nach dieser Konzeption schwinde die Bereitschaft zur Behandlung des Verbrechers als Person, wenn die Erwartung personalen Verhaltens dauerhaft enttäuscht wird668. Scheitert er, hinreichende kognitive Sicherheit über sein personales Verhalten zu schaffen, dann kann er auch nicht mehr erwarten, als Person behandelt zu werden; vielmehr darf der Staat „ihn auch nicht mehr als Person behandeln, weil er ansonsten das Recht auf Sicherheit der anderen Personen verletzen würde. Es wäre also völlig falsch, das, was hier als Feindstrafrecht bezeichnet wurde, zu verteufeln; damit lässt sich das Problem, wie man mit den Individuen umgehen soll, die sich nicht unter eine bürgerliche Verfassung zwingen lassen, nicht lösen. Kant fordert, wie schon angeführt wurde, die Trennung von ihnen, was nichts anderes heißt, als daß man sich vor seinen Feinden schützen müsse“669. „Die strikte Fixierung“, heißt es bei Jakobs, „die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren“670, sei schlechthin unangemessen. Das Feindstrafrecht sei in anderen Worten „das, was man Terroristen tun muss, wenn man nicht untergehen will“671, wolle man das Bürgerstrafrecht seinen rechtsstaatlichen Eigenschaften nicht berauben. Ein Feindrecht legitimiert auch Depenheuer zum Zweck der existentiellen Selbstbehauptung der eigenen politischen Existenzform, die von den Leugnern der demokratischen Ordnung untergraben wird672. Der moderne Rechtsstaat könne nur bedingt den heutigen Sicherheitsherausforderungen begegnen673, da er zu rechtsgebundenem Handeln verpflichtet ist674. Sicherheit gelte als Bedingung der Nor666

Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33. Isensee, Das Grundrecht auf Freiheit, 1983, S. 51. Robbers ist andererseits der Meinung (Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 144 ff.), dass es die Würdigung der Sicherheit als subjektives Recht in der Diskussion umstritten ist, so dass bisher kein wissenschaftlich verbindliches Ergebnis vorliegt. Dazu Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2005, S. 133 ff. 668 Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004 (Heft 3), 92. 669 Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004 (Heft 3), 93. 670 Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004 (Heft 3), 92. 671 Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004 (Heft 3), 92. 672 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 8; Depenheuer, in: FSIsensee, 2007, S. 43 ff. 673 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 20. 674 Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 21. 667

VIII. Die Sicherheit

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malität und sei „erstes Ziel politischen Handelns“675. Zwei Gefährdungslagen bedrohen die gewaltfreie staatliche Normalität676 : Gefährdungen in der Normallage, nämlich einzelne Verstöße gegen die Rechtsordnung, und Gefährdungen der Normallage oder der Ernstfall. Diese seien Verstöße, die die Grundlagen der staatlich garantierten Rechtsordnung in Frage stellen. Depenheuer unterteilt im Ernstfall die Bürger in Freunde und Feinde677. Freunde seien die Bürger, die sich die Prinzipien der Rechtsordnung zu eigen machen. Der Feind negiere aktiv die politische Existenzform des freiheitlich-rechtsstaatlichen Gemeinwesens. In diesem Fall befinde sich der Rechtsstaat in einem Dilemma: entweder behandele er den Feind als normalen Straftäter oder unterwerfe ihn einem speziellen Feindrecht678. Für Depenheuer ist eine solche Behandlung des Feindes des Rechtsstaates staatstheoretisch sogar legitim679, denn der terroristische Feind schließt sich freiwillig aus dem solidarischen Gegenseitigkeitsverhältnis aus, welches das Objekt seines Angriffes sei680. Aufgrund seiner Feindlichkeit habe er keinen Anspruch auf rechtsstaatliche Gewährleistungen. Der Feind sei „verfassungstheoretisch nicht Rechtsperson“, sondern eine Gefahr, die bekämpft werden muss681. Verkörperung dieser Sicherheitsverwahrung ist die Suspension des Rechts bis zur Eliminierung der Gefahr, die ihre Stimme mit dem Terroristen gefunden hat682. Anschließend weist Depenheuer darauf hin, dass, obwohl der Begriff des Feindrechts unvereinbar mit dem grundgesetzlichen Rechtsstaat ist, ein materielles Feindrecht im rechtsstaatlichen Staat trotzdem etabliert ist. Das Verständnis und die Grenze seines Sicherheitsbegriffes verdichtet Depenheuer schließlich mit folgenden Bemerkungen: „ein freiheitlich-demokratischer Verfassungsstaat, der bei der ersten direkten und terroristischen Infragestellung seiner zentralen Grundwerte sich unter Berufung auf die Menschenwürde seiner Bürger davonstiehlt oder die Opfer seiner Bürger nicht öffentlich zu würdigen weiß, würde aus historischer Perspektive nur als blamable, kaum erinnerungswürdige Idee überleben. Ein historischer Wert kommt einer Sache erst dann zu, wenn es Menschen gibt, die dafür in den Tod gehen, und Politiker, die dieses Opfer positiv würdigen“683.

675 676 677 678 679 680 681 682 683

Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 35. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 36. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 55. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 60. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 61. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 62. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 63. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 62 – 63. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 102 – 103.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

5. Sicherheit als Verfassungswert Eine ähnliche Hobbes’sche Dialektik von Schutz und Angst hat das Bundesverfassungsgericht in einem staatstheoretischen Kernsatz verdichtet684 : „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet“685. Sein Sicherheitskonzept erläutert das BVerfG mit seinem Rasterfahndung-Beschluss sowie seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz. Mit seinem Beschluss vom 4. 4. 2006686 befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit den Bedingungen der Zulässigkeit der präventiven polizeilichen Rasterfahndung. Die Verfolgung der fundamentalen Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung solle mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln erfolgen. Aus der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Balance zwischen Freiheit und Sicherheit lässt sich die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit ausschließen. Das Grundgesetz unterwerfe „auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen Bindungen, zu denen insbesondere das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grundrechte als Rechte staatlicher Eingriffsabwehr zählt“.687 In der Abwehrfunktion der Grundrechte liege auch die verfassungsrechtliche Grenze der Sicherheitsverwahrung. „Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte dürfen jedoch von ihm nicht grundlegend verschoben werden“.688 Besonders interessant scheinen im Sondervotum der Richterin Haas sowohl das in Umrissen erkennbare Verständnis des Sicherheitsbegriffes sowie sein Verhältnis zur Freiheit. Anders als das Mehrheitsvotum, plädiert die abweichende Meinung nicht für die rechtsstaatlichen Anforderungen der Sicherheitsverwahrung. In Anlehnung an ein Hobbes’sches Verständnis der Sicherheit stellt die Sicherheit nach dem Sondervotum Haas’ die Grundlage dar, die es dem Einzelnen ermöglicht, sich nach eigenem Wunsch verhalten zu können. Nach Haas ist aber das zugrunde liegende Sicherheitskonzept – anderes als beim Mehrheitsvotum – subjektiv ausgeprägt. Somit nimmt der Sicherheitsbegriff im Sondervotum eine eigenständige, subjektive Gestalt an, die sich als „Freiheit von Furcht“ umschreiben lässt689. Bei 684

Denninger, StV 2002, 96, 101. BVerfG, Beschluß vom 1. 8. 1978 – 2 BvR 1013/77, NJW 1978, 2235, 2236, 2237. 686 BVerfG, Beschluß vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1939. 687 BVerfG, Beschluß vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1945. 688 BVerfG, Beschluß vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1946. 689 BVerfG, Beschluß vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1950: „Der Staat ist gefordert, diese Furcht der Menschen um ihr Leben und um ihre Gesundheit ernst zu nehmen. Werden diese elementaren Rechtsgüter der Menschen bedroht, beeinträchtigt oder gar vernichtet, so ist es auch mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit des Einzelnen, sich nach eigenem Wunsch verhalten zu können, nicht mehr weit her; hier kommt es in der Tat zu dem von der Senatsmehrheit bei der Erörterung der Intensität des staatlichen Eingriffs be685

VIII. Die Sicherheit

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diesem Dissens handelt es sich nicht um eine bloße verfassungsdogmatische Meinungsverschiedenheit über den Sicherheitsbegriff, sondern vielmehr um eine Ausuferung des dem Staat erteilten Schutzauftrags und des damit verbundenen staatlichen Eingriffes in die Privatsphäre zum Zwecke der Gewährleistung der Unversehrtheit der elementarsten Lebensgrundlagen. Diesem Sicherheitsverständnis zufolge wird die Sicherheit des Einzelnen von der Bedingung einer reellen, konkreten Bedrohungslage abgetrennt. Der Rückgriff auf eine konkrete Gefahr macht, so Haas, den Staat gegenüber drohenden Terrorangriffen wehrlos. Der traditionelle polizeirechtliche Begriff der konkreten Gefahr soll durch flexiblere Gestaltungsmöglichkeiten zum Schutz existentieller Grundrechte ausgedehnt werden. Um auf neue Situationen effektiv zu reagieren, empfiehlt Haas eine Risikovorsorge, die sich von der konkreten Gefahr trennt und an einer Risikosteuerung orientiert, die als Kriterium die subjektive Wahrnehmung der Bedrohung setzt. So ergibt sich als Einschreitschwelle die bloße Existenz einer abstrakten Bedrohungsquelle, die den Einzelnen in seiner Entfaltung beeinträchtigt. Die Theorie der Sicherheit als Grundrecht hat keinen Rückhalt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Dagegen stellt die Sicherheit nach ständiger Rechtsprechung einen abwägungsbedürftigen Verfassungswert dar690 : „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit sind Verfassungswerte, die mit anderen hochwertigen Gütern im gleichen Rang stehen […]. Die Schutzpflicht findet ihren Grund sowohl in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 als auch in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (…). Der Staat kommt seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben nach, indem er Gefahren durch terroristische oder andere Bestrebungen entgegen tritt691“. Dieser Verfassungswert sei zudem unverzichtbar, „weil die Institution Staat auch davon ihre Rechtfertigung herleitet“692. Gleichzeitig bestätigt das Gericht „die Pflicht des Staates, die Sicherheit

mühten Einschüchterungseffekt. Um des staatlichen Schutzes willen, um der Gewährleistung der Unversehrtheit ihrer elementarsten Lebensgrundlagen willen haben sich die Menschen ursprünglich zum Staatsverband zusammengeschlossen und damit auf die aus der Freiheit fließende Möglichkeit der Selbsthilfe verzichtet. Indem der Staat den ihm erteilten Schutzauftrag erfüllt, schränkt er die Freiheit seiner Bürger nicht ein, sondern stärkt und gewährleistet ihnen das Recht auf Freiheit.“ 690 BVerfG, Beschluss vom 15. 3. 1967 – 1 BvR 161/63, NJW 1967, 871, 872 (die Sicherheit der Bundesrepublik als kollidierender Verfassungswert); BVerfG, Beschluss vom 1. 8. 1978 – 2 BvR 1013/77, NJW 1978, 2235, 2236, 2237 (Kontaktsperregesetz); BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, NJW 2006, 751; BVerfG, Urteil vom 27. 2. 2008 – 1 BvR 370/07, NJW 208, 822, 829; BVerfG, Urteil vom 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09, NJW 2016, 1781, 1783. 691 BVerfG, Urteil vom 27. 2. 2008 – 1 BvR 370/07, NJW 2008, 822, 829; BVerfG, Beschluss vom 13. 10. 2016 – 2 BvE 2/15, NVwZ 2017, 137, 142 („Der Staat ist deshalb von Verfassungs wegen verpflichtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu schützen.“). 692 BVerfG, Urteil vom 2. 3. 2010 – 1 BvR 256/08, NJW 2010, 833, 852; BVerfG, Beschluss vom 1.8,1978 – 2 BvR 1013/77, NJW 1978, 2235, 2237. So auch BVerfG, Beschluss vom 13. 10.

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seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen“693.

Diese Pflicht ist allerdings nicht grenzenlos, wie das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz gezeigt hat694 : Ein Gesetz, das den Streitkräften gestattet, Luftfahrzeuge abzuschießen, in denen sich Menschen als Opfer eines Angriffs auf die Sicherheit des Luftverkehrs befinden, behandelt die Passagiere als bloße Objekte einer Rettungsaktion zum Schutze anderer695. Durch eine solche Behandlung wird den Passagieren ihre Subjektqualität abgesprochen; sie werden gleichzeitig verdinglicht und zugleich entrechtlicht. Die Menschenwürdegarantie fungiert also als absolute SchrankenSchranke696 bei der Erörterung einer gesetzlichen Ermächtigung, „unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden“,697 vorsätzlich zu töten: eine staatliche Tötung von unschuldigen Menschen ist unter keinen Umständen verfassungsrechtlich zulässig. Das in Betracht kommende Urteil befasst sich insofern nicht ausschließlich mit der Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes. Auf einer zweiten Ebene erörtert es verfassungsdogmatische Aspekte der Sicherheit in einer Weise, die die polizeiliche Gefahrenabwehr zu einem Vehikel eines bewaffneten Konfliktes im Notstand umwandelt. Zwischen den Zeilen des Beschlusses finden wir die immer noch unbefriedigend behandelte Frage, ob die Steuerung von allgemeinen, aber bestehenden Bedrohungslagen den rechtsstaatlichen Anforderungen eines verfassungsgemäßen Handlungsauftrags genügen soll. Mit anderen Worten: Es wird auf die Frage eingegangen, ob die Opferung von Bürgern für das Gemeinwohlinteresse diesen Prinzipien gerecht wird. Von der anderen Seite wird lediglich das Argument vorgebracht, der Verzicht auf die Tötung von unschuldigen Menschen als absolutes Verfassungsverbot verdamme den Staat zur Untätigkeit, die das Geschäft der Terroristen betreibt. Aus diesem Grund, so Hillgruber, dürfte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Passagiere ohnehin nur noch wenige Minuten zu leben hätten. Die Frage ist nämlich: Ist die Menschenwürde wirklich ausnahmslos unantastbar, oder ist eine derartige Konstellation eine „folgenblinde Wertrationalität“? Dem Gedanken des Bundesverfassungsgerichts ist zuzustimmen. Ein zweckrationaler Vorrang der Unantastbarkeit der Menschenwürde vernichtet die rechtstaatlichen Grundlagen der Staatsaufgabe. Ein solcher Gedankengang würde sogar die Folter legitimieren: Befürwortet man die unvermeidliche Tötung der Passagiere – 2016 – 2 BvE 2/15, NVwZ 2017, 137, 142, der als fundamentale Staatszwecke die Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung nennt. 693 Auch BVerfG, Beschluss vom 13. 10. 2016 – 2 BvE 2/15, NVwZ 2017, 137, 143. 694 BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, NJW 2006, 751. 695 BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, NJW 2006, 751, 758. 696 Hillgruber, JZ 2007, 215. 697 BVerfG, Urteil vom 15. 2. 2006 – 1 BvR 357/05, NJW 2006, 751, 759.

VIII. Die Sicherheit

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um den Sachverhalt als Ausgangspunkt zu nehmen –, dann sollte es auch zulässig sein, einen schwerkranken Tatverdächtigten zu foltern, um einen Bombenanschlag zu verhindern: er auch würde ohnehin nur noch kurze Zeit leben. Diese Relativierung der Unantastbarkeit der Menschenwürde erschüttert den Gesellschaftsvertrag, indem eine tragische Bedrohungslage als Vehikel dient, um eine konkretisierbare Gefahr mit dem rechtlichen Instrument eines Ausnahmezustands zu bekämpfen. Der Rücktritt der rechtsstaatlichen Grundlagen des Rechts in einem Schmittschen Sinne markiert einen Ausnahmezustand, den sich der Staat durch außerordentliche Normen selbst auferlegt und den Rechtsstaat suspendiert, um extreme Ausnahmesituationen zu steuern. 6. Kritik a) Grundrecht auf Sicherheit Aus den dargestellten Sicherheitsansätzen ist bisher deutlich geworden, dass der Sicherheitsbegriff keine eindeutige Gegebenheit, sondern eine ausfüllungsbedürftige Chiffre darstellt. Die Aufklärung sowohl seines Inhaltes als auch seines Zusammenhangs mit der Freiheit signalisiert die Aufgabe und die Grenzen des strafrechtlichen Eingriffs und letztendlich die Mission des Staates. Zur Bewertung des Verhältnisses der Sicherheit zum Staatszweck scheint daher eine kritische Auseinandersetzung mit den vorigen Ansätzen geboten. Was das Konzept eines „Grundrechts auf Sicherheit“ betrifft, besteht zunächst keine Einigkeit über den von Isensee postulierten Staatszweck. Die Rechtfertigung des neuzeitlichen Staates leite sich aus der Gewährleistung der Sicherheit der Bürger ab. Diese These macht sich auch das BVerfG zu eigen: die Gewährleistung der Sicherheit sei „eigentliche und letzte Rechtfertigung des Staates“. Wenn auch dieser Staatszweck postuliert wird, hat der philosophische Diskurs von drei Jahrhunderten mit Hobbes, Locke, Kant bis zu Schmitt verschiedene Ansätze gebracht. Der Staatszweck der Sicherheit als erste Rechtfertigung des Staates richtet sich nach dem Charakter der Abwägungskriterien sowie der Zulässigkeit eines Eingriffes in die Privatsphäre. Betrachtet man aber die Sicherheit als eigentliche und letzte Legitimation des Staates, dann stellt dies einen Grund für die Ablehnung des Grundrechts auf Sicherheit dar: Der Vorrang der Sicherheit als primäre Staatsaufgabe spielt eine entscheidende Rolle für das Verständnis der persönlichen Freiheitsrechte. Der hobbesianische Ausgangspunkt der Sicherheit698 erhebt eine unscharfe Form der Sicherheit zur staatlichen ratio essendi. Diesem Ansatz folgend kommt die Freiheit als zweite nach der Sicherheit699. Die kollektive Dimension der Sicherheit betrachtet 698

rant“.

Isensee, Di Fabio, Hillgruber: „ratio essendi des modernen Staates als Sicherheitsga-

699 „Mit der Sicherheit beginnt die Freiheit“, Di Fabio, 422. „Wer unsicher ist, wird die gemeinwohldienlichen Freiheitsangebote des Grundgesetzes nicht annehmen, sondern in ängstlicher Passivität verharren“ (Hillgruber, JZ 2007, 211).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

das Individuum als ein „austauschbares Element einer prinzipiell gefährlichen Umwelt“700. Die Existenz abstrakter Bedrohungslagen verleiht nicht nur der Abstraktheit der Sicherheit Sinn, sondern verlagert die individuellen Freiheitsrechte auf eine kollektive Ebene. Die kollektiv ausgestaltete Sicherheit kennt keine vorbestehenden Freiheitsrechte des Individuums, die durch Grundrechtseingriffe verletzt werden. Die Freiheitsrechte sind nach diesem Ansatz keine angeborenen Rechte des Individuums. Ihre Anerkennung ist aber eine Voraussetzung, damit eine demokratische Gesellschaft überleben kann701. Die Auffassung, die Freiheitsrechte würden vom Staat zugeteilt, stößt auf erhebliche Bedenken. Nimmt man an, dass die Rechte und Freiheiten zugunsten der Nachhaltigkeit des Staates zugeteilt werden, dann liegt den Freiheiten ein funktionaler Charakter zugrunde; sie werden nämlich als Mittel zugeteilt, um ein Ziel zu erreichen. In diesem Sinne wird die Person nicht mehr als Individuum, sondern als fungibles Mitglied der Gesellschaft betrachtet. Besteht eine diffuse Bedrohungslage, dann ist kein Abwägungsvorgang erforderlich, um die Kollision zwischen einer konkreten Gefahr und eines individuellen Freiheitsrechts zu steuern. Vielmehr findet eine Ausbalancierung von kollektiven Sicherheitsinteressen statt, die durch diffuse Gefahren bedroht werden. Auf der anderen Seite stehen individuelle Aspekte der Freiheit. Diese werden aber nicht individuell geschützt. Ihrem funktionalistischen Ausgangspunkt zufolge handelt es sich um einen Gesellschaftsschutz, bei dem die Freiheit des Einzelnen nur noch als Reflex der Freiheit der Gesellschaft geschützt wird702. Verfügen die Freiheitsrechte nicht über einen kollektiven Bezugspunkt, dann ist ihr Schutz nicht geboten. Durch diese Kollektivierung der Freiheit gilt der Einzelne nicht mehr als autonomes Individuum. Er wird als anonymisierter Teil der Gesellschaft verstanden, der als solcher reflexiv Anteil an der kollektiven Sicherheit als Voraussetzung allgemeiner Freiheit hat. Daraus wird klar, dass die Unübersichtlichkeit der Bedrohungen die Entpersonalisierung der Rechte zur Folge hat703, die die abstrakte Sicherheit des Kollektivs favorisiert. Darüber hinaus lässt sich eine Umkehrung der Grundrechte in der Konstruktion des „Grundrechts auf Sicherheit“704 erkennen. Versteht man unter einem eigenständigen, kollektiven Grundrecht auf Sicherheit eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, diffuse Bedrohungen zu eliminieren, dann verlieren die Freiheitsrechte ihren Abwehrcharakter. Dem Staat werden erweiterte Befugnisse eingeräumt, um 700 Lepsius, Das Verhältnis von Sicherheit und Freiheitsrechten in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 11. 9. 2001, S. 16. 701 Hillgruber, JZ 2007, 211. 702 Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, 2013, S. 160. 703 Lepsius, Das Verhältnis von Sicherheit und Freiheitsrechten in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 11. 9. 2001, S. 17. 704 Leutheusser-Schnarrenberger, Blätter für deutsche und Internationale Politik, 2008, 62; Albrecht, Kriminologie, Eine Grundlegung zum Strafrecht, 2010, S. 111.

VIII. Die Sicherheit

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Eingriffe in die kollektiv ausgestaltete Sicherheit zu bekämpfen705. In diesem Sinn werden die Freiheitsrechte einem diffusen Sicherheitsbegriff untergeordnet706. Es führt zu einer polizeirechtlichen Erwartung an die Bürger, ihre Freiheitsrechte zugunsten eines überlegenen Grundrechts auf Sicherheit nicht in Anspruch zu nehmen. Diese Verkehrung der Rechte stellt die gröbste Missachtung historischer Erfahrung dar707. Auch für Bielefeldt708 erscheint es kaum plausibel, ein separates Grundrecht auf Sicherheit zu konstruieren. Die Schutzfunktion des Staates beziehe sich auf sämtliche Rechte und stehe nicht als separater Rechtsanspruch neben diesen. Stellt man trotzdem auf ein derartiges Konstrukt ab, dann birgt sich zusätzlich die Gefahr, dass sich die Sicherheitsaufgabe aus ihrer funktionalen Zuordnung zu den Freiheitsrechten herauslöst und zum Selbstzweck wird. Diese Kritik gilt entsprechend für die von Hillgruber und Di Fabio vertretenen Ansätze sowie für den vom BVerfG vertretenen Ansatz der Abwägung von Verfassungsrechten. Die Schwäche dieses Abwägungsprozesses besteht darin, dass die Ausbalancierung zwischen nicht vergleichbaren Werten nach einem unbenannten Prinzip erfolgen soll. Ein Grundrecht auf Sicherheit im Sinne eines Anspruches gegenüber dem Staat könnte außerdem unerfüllbare Erwartungen des Bürgers wecken, dessen notwendige Enttäuschung die Glaubwürdigkeit von Verfassung und Verfassungsgericht schwächen würde. Dabei sollte man auch berücksichtigen, dass es einen absolut unbeeinträchtigten Friedenszustand der Sicherheit nicht gibt. Es ist nicht möglich, jede denkbare Beeinträchtigung der individuellen Sicherheit der Person zu eliminieren. Ein subjektives öffentliches Recht auf Sicherheit kann es auch aus einem weiteren Grund nicht geben. Die Verfolgung kriminalpolitischer Ziele und die Bekämpfung der Kriminalität ist ein unentbehrliches Element der Staatsmacht. Deshalb wird dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Eignung und Erforderlichkeit des Mittels zur Bewältigung eines schädlichen Verhaltens ein weiter Einschätzungsspielraum zuerkannt. Verschiebt man diesen Einschätzungsspielraum in die Privatsphäre des einzelnen Bürgers, dann transformiert sich die Kriminalpolitik zu einer privaten Angelegenheit. Gilt sie demnach als Komponente der Privatsphäre, dann werden die Bekämpfung der Kriminalität sowie die Bedrohung von Rechtsgütern wesentlich von einem selektierenden Utilitarismus geprägt. Letztendlich steht nicht mehr die friedliche Koexistenz der Bürger im Vordergrund. Stattdessen durchzieht ein Geist individuellen Nutzens alle Lebenslagen709.

705 706 707 708 709

Albrecht, KritV, 2003 128. Leutheusser-Schnarrenberger, Blätter für deutsche und Internationale Politik, 2008, 62. Albrecht, Kriminologie, Eine Grundlegung zum Strafrecht, 2010, S. 111. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, S. 14. Kamtsidou, DtA 32, 2006 1225 – 1239 (auf griechisch).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

b) Recht auf Sicherheit als Feindrecht Weiterhin ist es kein Zufall, dass die Theorie des Feindrechts angesichts des „Kriegs gegen den Terror“ an Boden gewonnen hat. Selbst Depenheuer bezeichnet die kompromisslosen rechtsstaatlichen Anforderungen einer Sicherheitspolitik als einen „Dornröschenschlaf“ der „moralischen Apologeten unantastbarer Verfassungswerte“710, die auf eine realistische Sicherheitspolitik verzichten. Darin liegt ein entscheidender Einwand zum Sicherheitsansatz Depenheuers. Die Freiheit, die unveräußerlichen Freiheitsrechte, letztendlich die Verfassungsordnung sind sekundäre Gegebenheiten. Daraus folgt, dass die Bedenken gegen das Feindrecht mit der Kritik an Hobbes übereinstimmen. Die Theorie des Feindstrafrechts macht sich in ihrer normativen Dimension eine umgekehrte Version des Feindes zu eigen: die Sicherheit im Sinne der Selbstbehauptung des Staates ist ein Selbstzweck, der die Bürgeropfer als Kollateralschaden, wenn nicht als Legalitätspflicht betrachtet. Das Argument einer realitätsnahen Sicherheitspolitik, die die Unantastbarkeit der Menschenwürde relativiert und den Menschen – die vitale Bedingung der Menschenwürde – in eine Zweck-Mittel-Relation einsetzt, ist rechtsstaatlich nicht überzeugend. Denn es handelt sich um ein Sicherheitskonzept, das eine bedingte Rechtslosstellung seiner Bürger annimmt, sich theoretisch anhand eines schmittschen Ausnahmenzustands legitimiert und letztendlich eine polemische Notstandslage normalisiert, die als Modell für die Prägung des Staat-Bürger-Verhältnis dienen soll. Es soll weiterhin den Zweck und die Ausübung der Staatsmacht gestalten und letztendlich die Bedingungen der menschlichen Koexistenz diktieren. Zum Zweck dieser staatlichen Selbstbehauptung suspendiert der Staat ihre grundlegenden Prinzipien als einen naiven Luxus. Es ist aber weder unrealistisch noch moralistisch, eine atavistische Sicherheitspolitik abzulehnen. 7. Verfassungsrechtliche Grundlage eines Rechtes auf Sicherheit – Schutzpflicht des Staates als Recht auf Sicherheit Der Begriff der persönlichen Sicherheit findet zwar keine ausdrückliche Grundlage im Grundgesetz. Er ist trotzdem in anderen Verfassungen und internationalen Übereinkommen verankert. Besonders erwähnenswert ist, dass die Sicherheit sowohl in ihrer persönlichen als auch in ihrer kollektiven Dimension eine prominente Stelle schon in der vorrevolutionären Neuen Politischen Verwaltung einnimmt.711 In der ersten provisorischen griechischen Verfassung von Epidauros 710

Depenheuer, in: FS-Isensee, 2007, S. 45. Im entsprechenden Teil seiner Menschenrechte finden sich folgende Hinweise auf die Sicherheit: § 2: „Diese natürlichen Menschenrechte sind: […] daß wir unseres Lebens sicher sind“; § 8: „Die Sicherheit ist jener Schutz, der durch die ganze Nation und das Volk jedem Menschen hinsichtlich seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums eingeräumt wird. Dies bedeutet, daß, wenn jemand einem einzigen Menschen Schaden zufügt oder ihm zu Unrecht etwas nimmt, dann soll das ganze Volk gegen diesen Tyrannen aufstehen und ihn vertreiben“; § 23: „Die gemeinschaftliche Begründung und Sicherheit des einzelnen Bürgers 711

VIII. Die Sicherheit

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(1822)712 nach dem griechischen Unabhängigkeitskrieg erkennt man besonders das Bedürfnis der Bürger des neuen griechischen Staates, ihr Menschsein deklaratorisch gewährleistet zu sehen und grundlegende Rechte genießen zu dürfen, die vor der Erklärung der Staatsunabhängigkeit unterdrückt waren, wie etwa das Sicherheitsbedürfnis, die Bildung und das Eigentum. So lesen wir im siebten Paragraphen: „Eigenthum, Ehre und Sicherheit eines jeden Griechen stehen unter dem Schutz der Gesetze“. Entsprechend findet sich eine Verankerung der Sicherheit im Art. 2 der französischen Menschenrechtserklärung vom 1789713, in der spanischen (Art. 17)714 und der italienischen Verfassung (Art. 13 Abs. 3)715. Auch auf supranationaler Ebene genießt die Sicherheit einen ausdrücklichen Schutz: der fünfte Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet das Recht jeder Person „auf Freiheit und Sicherheit“716. Auch wenn die menschliche Koexistenz in Furcht und status naturalis einen atavistischen gescheiterten Staat in Ausdruck bringt, ist die rechtliche Begründung der Sicherheit nicht selbstverständlich. Die Sicherheit ist eine selbstverständliche Bedingung für die ungehinderte Ausübung aller Menschenrechte717. Auch gesellschaftlich hat sie eine zentrale Bedeutung für die Entfaltung des Menschen und die friedliche gesellschaftliche Koexistenz. Der Verzicht der Verfasser des Grundgesetzes, trotz der ausdrücklichen Einbeziehung eines Rechtes auf Sicherheit im Entwurf ein Grundrecht auf Sicherheit anzuerkennen, ist vielleicht auf eine erkennbare Präferenz der Verfasser718 für individuelle Freiheits- und Abwehrrechte als skeptischer Gegenpol zu kollektiven Grundrechten, Wertvorstellungen und Staatszielen zurückzuführen. In der Debatte hat Bezug auf die Kraft der gesammten Bürger. Deßwegen müssen wir denken, daß wenn Einer was immer für eine Beschädigung leidet, alle dadurch betroffen werden; und deßwegen ist es Pflicht, daß wir in Beziehung eines jeden die Verwaltung und Unverletzlichkeit seiner Rechte begründen. Eben diese Sicherheit fusset auf dem unbeschränkten Willen des Volkes; wenn also ein einzelner Bürger widerrechtlich gekränket wird: so wird das gesammte Volk dadurch widerrechtlich gekränket“, aus: Rhigas Velestinlis, Die Revolutionsschriften, Wissenschaftliche Studiengesellschaft Pheres-Velestino-Thigas, Athen 2010, S. 71, 75, 83 f. 712 Aufrufbar in deutscher Übersetzung unter http://www.verfassungen.eu/griech/verf22-in dex.htm (zuletzt aufgerufen am 3. 5. 2022). 713 Caporal/Luther/Vernier (Hrsg.), Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco 1789, 1848, 2009, S. 29. 714 Die spanische Verfassung 1978, 1979, S. 20 – 21. 715 Pegoraro (Hrsg.), The Italian Constitution: text and notes, 2007, S. 95 f. 716 Dabei darf aber nicht unbeachtet bleiben, dass der Sicherheit im Rahmen der Europäischen Konvention für Menschenrechte keine erkennbare eigenständige Bedeutung zukommt (Dörr, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Art. 13 Rn. 36) und als Anspruch der Person gegen den Staat gemeint ist, individuelle Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen von Dritten zu schützen. Allerdings hat der EGMR im Fall Bozano einen normativen Eigenwert des Rechts auf Sicherheit im Sinne eines Rechts der Person auf Sicherheit neben dem Freiheitsrecht festgestellt. 717 Kourakis, Synigoros, 2000, 23 ff. 718 Glaeßner, in: ders. (Hrsg.), Sicherheit in Freiheit: Die Schutzfunktion des demokratischen Staates und die Freiheit der Bürger, 2003, S. 81.

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des Parlamentarischen Rates wurde einem Recht auf Sicherheit besonders das Argument entgegengehalten, dass bei einem Missbrauch des Rechtes auf Sicherheit die Rechte Dritter verletzt werden719 könnten. Dieses Argument ist im Grundsatz tragfähig. Es ist wahr, dass eine missbräuchliche Ausübung die Grundfreiheiten einer Repressionsgefahr aussetzen kann. Eine kollektive Konzipierung der Sicherheit als abstraktes gesellschaftliches Recht könnte nach dieser Auffassung absolutistische Einschränkungen von Rechten und Freiheiten legitimieren und einem autoritären Staatsweck dienen. Soll man also unter Berücksichtigung dieser Argumente auf ein Recht auf Sicherheit – im Sinne eines vorverlagerten Schutzes elementarer Rechtsgüter – verzichten? Eine – nicht unumstrittene – Kategorie von Menschenrechten, die rechtlich nicht verbindlich sind, ist die sogenannte Gruppe der Menschenrechte Dritter Generation720 wie etwa das Recht auf sauberes Wasser. Das Fehlen der ausdrücklichen Verankerung des Rechtes auf Sicherheit im Grundgesetz ist an sich also kein echtes Hindernis für ihre Anerkennung. Eine Schutzpflicht des Staates ist der Verfassung nicht fremd721. Nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gilt der Staat als verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Aus dieser Schutzpflicht lässt sich ein Recht auf Sicherheit stricto sensu ableiten722. Nimmt man an, dass ein Gesellschaftsvertrag die Freiheit der Bürger garantieren soll, dann beinhaltet diese Funktion auch die Pflicht, die wahre Freiheit des Bürgers zu schützen. Ein Mensch kann aber nicht frei sein, wenn seine elementaren Individualrechtsgüter bedroht werden. Zentraler Aspekt dieser Schutzpflicht ist die Verantwortungsübernahme für die Integrität seiner Schutzgüter, die eine unbeeinträchtigte Existenz fördern. Dieser Sicherheitsbegriff erfasst nicht jedes denkbare Recht des Einzelnen. Es beschränkt sich auf Fälle, in denen eine potentielle Bedrohung die Integrität seiner Existenz gefährden wird: Leben, Eigentum und Freiheit von Zwang. Daraus darf aber nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass ein stricto-sensuRecht auf Sicherheit als Summe der einzelnen Rechte betrachtet werden soll. Es handelt sich um einen auf Künftiges bezogenen Begriff, der auf die „Vernichtung der Zeitlichkeit der Zukunft“723 orientiert ist. Es erfasst nämlich die Totalität des Ein719 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Band 5/II, 925. 720 Kooijmans, Netherlands International Law Review, 1990, Vol. 37(3), 315 – 329; Barthel, Die Menschenrechte der dritten Generation, 1991; Saito, The University of Miami InterAmerican Law Review, 1996, Vol. 28(2), 387 – 412; Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 2006, 60. 721 Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 20 ff.; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 25 ff.; Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 243 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 21 ff., 26 ff.; Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2002, S. 73 ff.; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2000, S. 30 ff. 722 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2000, S. 59. 723 Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 1973, S. 157.

VIII. Die Sicherheit

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zelnen, der mit einer zeitlichen Stabilität seiner elementaren Rechtsgüter rechnet, um sich frei und sorglos zu entfalten. In diesem Sinn ist die Sicherheit nicht eine kurzfristige Sorglosigkeit von Rechtsgütern wie Leben oder körperlicher Unversehrtheit. Es ist von einer vorverlagerten Schutzpflicht erfasst, die den zeitlich gesicherten Friedenszustand gewährleistet. Dieser erweiterte Rechtsgüterschutz verstärkt dadurch einen entscheidenden Bestandteil der individuellen Sicherheit: das Sicherheitsgefühl. 8. Die Sicherheit als Rechtsgut Auch wenn der Besondere Teil des StGB mehrere Straftatbestände enthält, die die Sicherheit schützen, ist trotzdem fraglich, ob die Sicherheit als ein eigenständiges Rechtsgut zu sehen ist724. Nur weil sie als solches herangezogen wird, folgt noch nicht, dass die vom Gesetzgeber erstrebte Zielsetzung eine gesetzgebungskritische Dimension aufweist. a) Die öffentliche Sicherheit als Rechtsgut Die öffentliche Sicherheit wird besonders vom Polizeirecht geprägt. Sie umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen725, „die Gesamtheit des objektiven Rechts, sodass jeder Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Rechtsnorm die öffentliche Sicherheit stört“726, oder „den Schutz der Verfassungsordnung, insbesondere der freiheitlich demokratischen Grundordnung“727. Maßnahmen von Gefahrenabwehrbehörden verstärken zwar das Sicherheitsgefühl der Bürger, allerdings dienen diese nicht allein den subjektiven Vorstellungen der Bevölkerung. 724 Verneinend Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017, S. 113; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 287 ff.; Krüger, Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, 2000, S. 165 ff.; OLG München, Beschluss vom 8. 5. 2007 – 6 St 01/07. 725 Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 29. 10. 1993 – 2 EO 142/93; BVerfG, Einstwillige Anordnung vom 7. 4. 2001 – 1 BvQ 17/01, NJW 2001, 2072, 2073; VG Potsdam, Beschluss vom 12. 9. 2002 – 3 L 892/02; Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss vom 13. 9. 2002 – 4 B 228/02; VG Bayreuth, Beschluss vom 10. 8. 2004 – B 1 S 04.858; Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss vom 12. 11. 2004 – 4 B 317/04; VG Bayreuth, Beschluss vom 25. 7. 2005 – B 1 S 05.634; VG Karlsruhe, Beschluss vom 22. 3. 2006 – 11 K 632/06; VG Bayreuth, Urteil vom 9. 5. 2006 – B 1 K 05.768; VG Bayreuth, Beschluss vom 18. 7. 2006 – B 1 S 06.634; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 3. 11. 2006 – 24 CS 06.2930; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 26. 3. 2007 – 24 B 06.1894; VG Bayreuth, Beschluss vom 12. 7. 2007 – B 1 S 07.610; BVerwG, Urteil vom 25. 6. 2008 – 6 C 21/07, NJW 2009, 98, 99. 726 VG Düsseldorf, Beschluss vom 19. 12. 2002 – 15 L 4148/02. 727 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 9. 10. 2007 – 24 B 06.3067.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Es ist zunächst fraglich, ob der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung eine Rechtsgutsqualität zukommt728. Meines Erachtens muss das eindeutig verneint werden729. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass äußerst abstrakte Zielsetzungen keine legitimen Rechtsgüter darstellen können. Die öffentliche Sicherheit bringt hingegen die Sicherheit von Rechtsgütern zum Ausdruck730. Sie bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Gefahren. Der Verzicht auf die Legitimität eines äußerst abstrakten Rechtsgutes hängt mit der gesetzgebungskritischen Aufgabe des Strafrechts zusammen. Strafnormen müssen sich auf Beeinträchtigungen von konkreten Rechtsgütern beziehen. Die Bedeutung dieser kriminalpolitischen Richtlinie ist bereits im Rahmen der Diskussion über den öffentlichen Frieden als Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen deutlich geworden. Äußerst abstrakte Rechtsgüter besitzen keine wahre Legitimationsfunktion. Wegen ihrer Unbestimmtheit können sie jede denkbare Strafnorm legitimieren. Darin liegt auch ihre Schwäche: da sie jedes potentielle Verhalten umfassen können, fehlt es ihnen an einer gesetzgebungskritischen Funktion. Wie beim öffentlichen Frieden ist auch bei der öffentlichen Sicherheit die gesetzgebungskritische Dimension zu verneinen: Bei der öffentlichen Sicherheit handelt es sich um einen Verweisungsbegriff, der keine Eigenständigkeit aufweist und die Summe aller Rechtsgüter umfasst, die durch andere Vorschriften geschützt werden. Ein Rechtsgut „öffentliche Sicherheit“ kann also keine gesetzgebungskritische Legitimität verleihen. Es ist nicht nur der ursprüngliche Abstraktionsgrad, der den Rückgriff auf den Sicherheitsbegriff erschwert. Problematisch ist vielmehr, dass der Begriff über eine grenzenlose Subsumierbarkeit verfügt. Stellt man auf ein Rechtsgut „öffentliche Sicherheit“ ab, dann könnte jede Norm ohne weitere Begründung daraus ihre Legitimation ableiten. Bedenkt man aber, dass dadurch ein Eingriff in die Freiheitsrechte gerechtfertigt wird, so handelt es sich bei einer Vorschrift, die durch das Rechtsgut „öffentliche Sicherheit“ ein konkretes Verhalten pönalisiert, um eine mittelbare Legitimation von absolutistischen Strafnormen und letztendlich um eine Relativierung der Aufgabe des Rechtsgutskonzepts. b) Die persönliche Sicherheit als Rechtsgut Diskussionswürdig ist allerdings ein stricto sensu persönliches Recht auf Sicherheit. Dieses lässt sich als ein stricto-sensu-Recht auf Schutz umschreiben und erfasst die staatliche Schutzpflicht für vitale Rechtsgüter der Person wie das Leben, die persönliche Freiheit und das Eigentum. Die persönliche Sicherheit wird also verstanden als ein vorbeugend geschützter Raum, in dem das Individuum frei leben kann. In diesem Sinn ist die Verankerung eines stricto-sensu-Rechtes auf Sicherheit 728

Legitim nach Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 143. 729 Die Rechtsgutsqualität der Sicherheit lehnt auch Amelung ab (in: Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 172 f.). 730 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 2017, Rn. 80.

VIII. Die Sicherheit

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nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine qualitative Vorverlagerung des Schutzes. Das bedeutet, das Strafrecht greift nicht nur im Vorfeld der Verletzung eines bedeutenden Rechtsgutes ein. Vielmehr schafft es die Grundlagen der wahren Durchsetzung dieser Rechte; es schafft die Integrität der Person. 9. Die Sicherheit als geschütztes Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB Die Feststellung, dass aufhetzende Äußerungen die Handlungsfreiheit von Minderheitsangehörigen beeinträchtigt, schließt die Diskussion nicht ab. Die Auffassung, dass volksverhetzende Aussagen die Sicherheit von Teilen der Bevölkerung beeinträchtigen, wird auch in der Judikatur vertreten731. Die Varianten des Abs. 1 bedienen sich einer Eigendynamik, die darauf abzielt, durch das Bestreiten ihrer Eigenschaft als gleichwertige Rechtsgutsträger Minderheiten zu stigmatisieren. Die in Betracht kommende Stigmatisierung bezeichnet die erste Wirkung in einer übersichtlichen Kausalkette, die die Sicherheit der betroffenen Minderheitsangehörigen bedroht732. Der erste Faktor, der diese Kausalkette auslöst, sind die aufhetzenden Aufrufe. Unter diese Kategorie fällt etwa die Behauptung, die Shoah sei bloß erfunden worden, damit „die angeblichen Opfer Deutschland ausbeuten können“. Die daraus folgende Missachtung und Stigmatisierung löst den zweiten Faktor dieser Kette aus: den Entmenschlichungsprozess. Den Angriffsobjekten wird ihre Subjekthaftigkeit aberkannt. Die Minderheiten und ihre Mitglieder werden als minderwertige Objekte dargestellt, denen kein Respekt gebührt. Ihre Rechtsgüter werden als nicht schutzwürdig dargestellt. Die vom Tatbestand erfassten Angehörigen werden objektiviert und wegen ihrer Zugehörigkeitsmerkmale zum Ziel von Gewaltmaßnahmen. Diese Entmenschlichung nach Aufforderung gilt als Bedingung der nächsten Wirkung in 731

Eine Beeinträchtigung der subjektiven Sicherheit („Sicherheitsgefühl“) stellt der Bundesgerichtshof schon im Jahre 1979 fest (BGH, Urteil vom 20. 6. 1979 – 3 StR 131/79 (S) – BGHSt 29, 26); auch BGH, Urteil vom 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S); BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00 – BGHSt 45, 212 Beeinträchtigung des Sicherheitsempfindens (und des Vertrauens in die Rechtssicherheit) insbesondere der jüdischen Mitbürger bei einer Behauptung, der Holocaust sei zur Erlangung finanzieller Vorteile erfunden worden; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25. 3. 2008 – 1 BvR 1753/03; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09; AG Kassel, Urteil vom 18. 8. 2016 – 240 Cs 1603 Js 42888/14. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung durch die existenzielle Einschüchterung von Bevölkerungsteilen in Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 29. 10. 1993 – 2 EO 142/93; dem Schutz der öffentlichen Sicherheit dient das Verbot einer Neonazi-Demonstration unter dem Motto „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ in der Nähe ehemaligen Konzentrationslagers, in: Oberverwaltungsgericht für das Land NordrheinWestfalen, Beschluss vom 4. 1. 2002 – 5 B 1202; nach AG Münster, Urteil vom 13. 9. 2007 – 52 Ds 540 Js 1896/06 AK 218/07 schütze der Tatbestand der Volksverhetzung das Allgemeininteresse an einem friedlichen Zusammenleben im Staat und insofern vor allem Individualrechtsgüter der von aufhetzenden Äußerungen Betroffener sowie die öffentliche Sicherheit. 732 Roxin (in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 683) nennt als geschütztes Rechtsgut die „persönliche Integrität der Betroffenen“.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

der in Betracht kommenden Kausalkette von Faktoren: die erstrebte Entmenschlichung fördert die Gewaltbereitschaft gegen die Angriffsobjekte. Die missachtenden Bezeichnungen sollen dem Adressaten ein minderwertiges Bild des Angehörigen schaffen und ihn in seinen Augen objektivieren. Dadurch soll er in seinen Augen entmenschlicht werden. Darauf zielt der Stigmatisierungsprozess: Indem der Adressat die angegriffenen Personen oder Gruppen nicht mehr als Individuen betrachtet, sondern als Hassobjekte, wird Gewaltbereitschaft gefördert und erweckt. Die Förderung einer feindlichen Haltung bedroht die Integrität der vitalen Rechtsgüter der Person. Rassistische Aufrufe oder aufhetzende Äußerungen untergraben den Friedenszustand der in Betracht kommenden Rechtsgüter der Person. Die Handlungsvarianten des Abs. 1 machen dies besonders anschaulich: Wer gegen eine schutzbedürftige Minderheit zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder missachtende Äußerungen i.S.v. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB tätigt, erschüttert die Integrität der Rechtsgüter, die die persönliche Sicherheit konstituieren.

IX. Freiheit von Furcht 1. Entstehungsgeschichte des Rechts auf Freiheit von Furcht Das Recht auf Freiheit von Furcht verdankt seine Entstehung dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Es ist eine der vier Freiheiten, die Roosevelt am 6. Januar 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress formulierte733. Wenige Monate später, am 14. August 1941, wurde das Recht auf Freiheit von Furcht in der Atlantik-Charta übernommen734. Die sogenannte Atlantik-Konferenz, die mit der Unterschrift einer gemeinsamen Erklärung von Roosevelt und Churchill abgeschlossen wurde, hatte zum Ziel, Grundsätze einer gemeinsamen internationalen Politik zu liefern. Die ausdrückliche Verankerung des Rechtes auf Freiheit von Furcht kann nicht unabhängig von ihrem historischen Kontext betrachtet werden735. So lesen wir bei Prinzip Nr. 6: „Sie hoffen, dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen“.

733 Franklin D. Roosevelt, 1941 State of the Union address „The Four Freedoms“ (6. 1. 1941), http://voicesofdemocracy.umd.edu/fdr-the-four-freedoms-speech-text/; Buergenthal/ Thürer, Menschenrechte: Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 25. 734 United Nations Documents: 1941 – 1945, Royal Institute of International Affairs, 1947; Rausching (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands, Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 1989, S. 1 ff.; Rönnefarth/Euler, Konferenzen und Verträge: Vertrags – Ploetz: ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen, 4. Band: Neueste Zeit 1914 – 1959, 1979, S. 201. 735 Zanger, Freiheit von Furcht, 2017, S. 25.

IX. Freiheit von Furcht

281

Das Recht auf Freiheit von Furcht nimmt eine zentrale Position im öffentlichen Diskurs der Politik von Roosevelt ein. Bereits nach seiner Vereidigung hat er in seiner Rede am 4. März 1933 auf die Bedeutung dieser Freiheit hingewiesen: „So lassen Sie mich zunächst meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass es nur eine Sache gibt, die wir fürchten müssen, die Furcht selbst“736. Sein Verständnis vom Recht, frei von Furcht zu leben, bezieht sich hauptsächlich auf die Freiheit von Angriffen und externen Bedrohungen im Sinne eines Schutzes vor Krieg. Die Freiheit von Furcht blieb aber nicht eine bloße deklaratorische Forderung der Nachkriegszeit. In der TrumanÄra wurde sie als ein kriminalpolitisches Anliegen gestaltet. Und zwar mit einem Inhalt, der 70 Jahre später äußerst aktuell ist: Das unter der Schirmherrschaft des USPräsidenten Truman stehende Komitee für Bürgerrechte setzte sich für einen verstärkten Minderheitenschutz ein. Dieser zielte darauf, das erschütterte Sicherheitsempfinden von Bevölkerungsteilen, die aus rassischen oder religiösen Gründen angegriffen wurden, zu verstärken. Es sei Pflicht des Staates gewesen, organisierte Gruppen zu bekämpfen, die auf Hass und Intoleranz aufstacheln737. Der Philosophie sowie der Rechtswissenschaft ist die Freiheit von Furcht nicht fremd. Die Furcht übernimmt eine entscheidende Rolle in der Staatsphilosophie von Hobbes. Sie wird zum Grundmotiv seines staatstheoretischen Konzepts. Sie ist die Folge des Naturzustands des Menschen, der in ständiger existenzieller Bedrohung lebt738. Um sich aus dieser Furcht zu befreien, unterwerfen sich die Menschen durch einen Gesellschaftsvertrag dem Souverän739. Der Willen des Menschen, befreit von Furcht zu leben, ist die treibende Kraft der staatlichen Macht, die diesen Wunsch umsetzt740. Das aufklärerische Denken, das die Freiheit des Einzelnen in den Vordergrund stellt, erfasst diese Freiheit nicht als eine abstrakte Gegebenheit, sondern als ein Bedürfnis des Individuums. Obwohl die Furcht bei Hobbes der Ausgangspunkt seines Gesellschaftsvertrags ist, dient sie bei Locke als Grundmotiv, die totale Herrschaft der Staatsmacht zu begrenzen741. Anders als bei Hobbes, wo die unbegrenzte Staatsmacht sicherheitsbedrohende Konflikte eliminieren kann, wird der unbeschränkte Souverän „selbst zum Gegenstand der Furcht“742.

736 F. D. Roosevelt, The 37th Presidential Inaguration, 4. 3. 1933, Joint Congressional Committee of Inaugural Ceremonies; Hollander, Social Research, 2004, 867. 737 Truman Library, To Secure These Freedoms: The Report of the President’s Committee on Civil Rights (1947); Truman Library, Freedom From Fear, Executive Order vom 5. 12. 1946; Truman, „Address before the National Association for the Advancement of colored people“, Washington, 29. 6. 1947. 738 Hobbes, Vom Bürger, 1642, Kap. I, Abschnitt 1. 739 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 3; Hobbes, Leviathan, 1651, Kap. XVII f. 740 Hobbes, Vom Bürger, 1642, Kap. I, Abschnitt 2. 741 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 1690, §§ 13, 93. 742 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 5.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Für Montesquieu sind die Sicherheit – also der objektive Friedenszustand – und das Bewusstsein der Sicherheit – also ihre subjektive Komponente – untrennbare Bestandteile der Selbstentfaltung des politischen Wesens. Er schreibt in seinem Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“: „Politische Freiheit für jeden Bürger ist jene geistige Beruhigung, die aus der Überzeugung hervorgeht, die jedermann von seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit genieße, muß die Regierung so beschaffen sein, daß kein Bürger einen andern zu fürchten braucht“743. Für alle drei Philosophen gilt die Furcht als eine treibende Kraft des menschlichen Handelns. So unterschiedlich wie der jeweilige Ausgangspunkt von Hobbes, Locke und Montesquieu sein mag, hat ihre Staatstheorie das moderne Sicherheitsverständnis weitgehend geprägt. Die hobbesianische Staatstheorie hat die subjektive Sicherheit als eine unabtrennbare Komponente der Sicherheit entfaltet. In Auseinandersetzung damit hat Locke die Furcht als Folge des Absolutismus zum Ausdruck gebracht. Entsprechend hat Montesquieu eine positive Definition der Freiheit von Furcht geliefert. Aus den verschiedenen staatstheoretischen Ansätzen wird klar, dass die Furcht keine verinnerlichte Einstellung ist. Sie ist ein Faktor, der die menschliche Koexistenz mitgestaltet und die Grenzen der staatlichen Macht setzt. Ist sie aber rein empirisch oder gebührt ihr eine rechtliche Verankerung? 2. Die Freiheit von Furcht im Völkerrecht Der historische Kontext erklärt die inhaltliche Wandlungsfähigkeit des Sicherheitsgefühls. Durch die traumatische Erfahrung des 2. Weltkriegs und des Nationalsozialismus wurde dem Begriff eine völkerrechtliche Abwehrfunktion zugewiesen. Frei von Furcht bedeutete, sorglos von Militäraggressionen leben zu dürfen. Mit der allmählich wiederkehrenden Normalität trat der Mensch als Einheit wieder in den Vordergrund, und folglich wurde der individualistische Charakter des Rechts hervorgehoben. Besonders seine ausdrückliche Verankerung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte744 hat mit Nachdruck seine Bedeutung für die Erfüllung der individuellen Freiheiten gezeigt. Die „Freiheit von Furcht“ findet rechtliche Anerkennung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 1948745: es gilt als höchstes Streben des Menschen, Freiheit von Furcht und Not zu genießen. Auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 erkennt „das Ideal vom 743 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1994, S. 216; das nach Montesquieu zugrunde liegende Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit erinnert an Ciceros Aphorismus: „Friede ist Freiheit in Ruhe“. 744 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II 1553); Johann, Menschenrechte im internationalen bewaffneten Konflikt zur Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte auf Kriegshandlungen, 2012, S. 110 ff. 745 Fassbender, Menschenrechteerklärung, 2009, S. 55 ff.

IX. Freiheit von Furcht

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freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt“746. 3. Die Freiheit von Furcht in der Rechtsprechung des BVerfG Dass die Furcht keine bloße außerrechtliche, psychische Gegebenheit ist, macht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonders anschaulich. Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass die in Betracht kommende Terminologie des Gerichts uneinheitlich ist. Man liest von „Furcht“, „Einschüchterung“, „Einschüchterungseffekt“, „Gefühl des Überwachtwerdens“. Schon 1958 thematisierte das Bundesverfassungsgericht Einschüchterungseffekte in seinem Lüth-Urteil im Hinblick auf nachteilige Wirkungen von staatlichen Maßnahmen747. Eine eingehende Befassung mit der einschüchternden Wirkung staatlicher Maßnahmen findet sich im Volkszählung-Urteil748. Dort betont das Bundesverfassungsgericht: „Die durch dieses Gesetz angeordnete Datenerhebung hat Beunruhigung auch in solchen Teilen der Bevölkerung ausgelöst, die als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektieren, die für rationales und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen. […] Die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung sind weithin nur noch für Fachleute durchschaubar und können beim Staatsbürger die Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung […] auslösen. […] Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden“. Besonders erwähnenswert ist die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zur einschüchternden Wirkung rechtsextremistischer Versammlungen auf die betroffenen Personenkreise. So hat das Bundesverfassungsgericht mit einer einstweiligen Anordnung das Versammlungsverbot der Jungen Nationaldemokraten mit der

746 Eine ähnliche Formulierung findet sich im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966. 747 Der Beschwerdeführer befürchtet, daß durch Beschränkung der Redefreiheit einem einzelnen gegenüber die Gefahr heraufgeführt werden könnte, der Bürger werde in der Möglichkeit, durch seine Meinung in der Öffentlichkeit zu wirken, allzusehr beengt und die unerläßliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen sei nicht mehr gewährleistet, BVerfG, Urteil vom 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/51, GRUR 1958, 254, 256. Das Bundesverfassungsgericht hat auf die einschüchternde Wirkung der Verurteilung wegen übler Nachrede auf die Meinungsfreiheit im Jahre 1976 hingewiesen: „Denn ein solches Vorgehen staatlicher Gewalt würde, nicht zuletzt wegen seiner einschüchternden Wirkung, freie Rede, freie Information und freie Meinungsbildung empfindlich berühren und damit die Meinungsfreiheit in ihrer Substanz treffen“. 748 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83, NJW 1984, 419, 420.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Begründung ausgesetzt749, die Behörde habe sich generell auf die einschüchternde Wirkung der Versammlung berufen, ohne sich auf konkrete polizeiliche Erkenntnisse zu stützen. Insbesondere bemerkt das Gericht, dass die durch die einschüchternde Wirkung befürchtete Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht durch konkrete Tatsachen belegt wird750. Allerdings weist es ausdrücklich darauf hin, dass Aufmärsche mit paramilitärischem oder sonstwie einschüchterndem Charakter nicht in den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen751. Bemerkenswert ist dabei, dass der in Betracht kommende Einschüchterungseffekt nicht nur die Wirkung staatlicher Handlungen erfasst, sondern auch eine Einschüchterung, die durch andere Bürger verursacht wird. Die Furcht als rechtliche Argumentationsfigur findet aber vor allem im Feld der staatlichen informationellen Maßnahmen Anwendung. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die Einwirkungen der heimlichen Überwachung nicht nur auf die einschüchternde Auswirkung der staatlichen Überwachungsmaßnahmen auf den Einzelnen hingewiesen, sondern auch auf ihre kollektive Dimension. Besonders betont das Gericht die einschüchternde Auswirkung auf die Kommunikation der Gesellschaft insgesamt752, die die Unbefangenheit des Verhaltens durch ein Gefühl 749

555.

BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 21. 4. 2000 – 1 BvQ 10/00, NVwZ-RR 2000, 554,

750 Dem Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings mit Skepsis zu begegnen. Die Behörde hat geltend gemacht, dass der Antragsteller eine Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sei. Die mit Trommeln und schwarz-weiß-roten Fahnen ausgestattete Nachfolgeveranstaltung zwei Tage nach dem Geburtstag Hitlers zielt erkennbar darauf ab, Ausländern vor Augen zu führen, dass sie nicht sicher leben können. Wenige Monate später hat das Gericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Versammlungsverbot einer Unterorganisation der NPD abgelehnt. Als Grund wurde auf die Befürchtung der Behörde hingewiesen, dass die „Äußerungen und Aufrufe Dritter, denen die Behörden und die Gerichte im vorliegenden Fall einen gewaltfördernden Inhalt entnommen haben, Einfluss auf die Teilnehmerschaft und das erwartbare Verhalten der Versammlungsteilnehmer haben“. Als Rechtsgrundlage einer Versammlungsfreiheitsbeschränkung kommt ausdrücklich in Betracht ein Einschüchterungseffekt auf Grund provokativer oder sonstwie aggressiver Vorgehensweisen sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft (BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 7. 4. 2001 – 1 BvQ 17/01, NJW 2001, 2072, 2074; BVerfG, Beschluss vom 23. 6. 2004 – 1 BvQ 19/04, JuS 2004, 1095, 1097). 751 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24. 3. 2001 – 1 BvQ 13/01, NJW 2001, 2069, 2071. Auch BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 5. 9. 2003 – 1 BvQ 32/03, NVwZ 2004, 90, 91: „Den sozialen und ethischen Anschauungen über die Grundvoraussetzungen eines geordneten menschlichen Zusammenlebens läuft es […] zuwider, wenn Rechtsextreme an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dienenden Feiertag einen Aufzug mit Provokationswirkung veranstalten. […] Gleiches gilt, wenn ein Aufzug sich durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft identifiziert und durch Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert.“ 752 BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1013; BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917, 1918; BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1939, 1950; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 8.

IX. Freiheit von Furcht

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des Überwachtwerdens gefährdet753. Dieser Einschüchterungseffekt könne, so das Bundesverfassungsgericht, zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung anderer Grundrechte führen, wenn für den Einzelnen nicht mehr erkennbar ist, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß“754. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Entscheidungen mit den Einschüchterungseffekten von staatlichen Maßnahmen befasst. Eine ausführliche Erörterung aller dieser Entscheidungen überschreitet den Rahmen dieser Arbeit755. Jedoch verdienen drei Beschlüsse, die die rechtliche Relevanz zwischenmenschlicher Furcht erörtern, besondere Aufmerksamkeit. Im Beschluss zur Rasterfahndung756 setzt sich die Senatsmehrheit mit den potentiellen Einschüchterungseffekten auseinander, die von einem Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ausgehen können. Richterin Haas kehrt die Argumentation zum Gefühl des Überwachtwerdens durch polizeiliche Rasterfahndung um und konzentriert sich auf die Freiheit von Furcht vor den Straftaten, die die polizeiliche Rasterfahndung verhindern mag757. Anknüpfend an ein hobbesianisches staatstheoretisches Modell, deutet Richterin Haas auf das Grundmotiv der Staatsbildung hin: die Gewährleistung der elementarsten Lebensgrundlagen. Insofern seien die „Freiheit von Furcht“ und der staatliche Schutzauftrag nicht fremd voneinander: „Eingeschüchtert hingegen und in seinem Verhalten beeinflusst wird der Einzelne durch die Furcht, die durch die Bedrohung von weltweit agierenden Terroristen verursacht wird und die auch ernst zu nehmen ist“.758 Denn diese Einschüchterung, meint Haas, bleibe nicht eine verinnerlichte, der rechtlichen Sphäre fremde Einstellung. Sie „wird den Einzelnen veranlassen, künftig Menschenansammlungen, Lokale, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Diese Bedrohungslage wird es sein, die zur Verhaltensänderung führt“759. Insofern erwächst dem Einzelnen aus der Freiheit von Furcht „die Freiheit zu selbstbestimmten Tun, zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Fähigkeiten“760. Durch verhaltenshemmende 2006 – 2 BvR 1345/03, NJW 351, 354; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19. 12. 2007 – 1 BvR 967/05, NJW 2008, 1654, 1655; BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 11. 3. 2008 – 1 BvR 256/08; BVerfG, Urteil vom 113.2008 – 1 BvR 2074/05. 753 BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98; BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02; BVerfG, Urteil vom 11. 3. 2008 – 1 BvR 2008 – 1 BvR 2074/05 BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 17. 2. 2009 – 1 BvR 2492/08; BVerfG, Urteil vom 2. 3. 2010 – 1 BvR 256/08; BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 8. 6. 2016 – 1 BvQ 42/15. 754 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83; BVerfG, Beschluss vom 12. 4. 2005 – 2 BvR 1027/02; BVerfG, Urteil vom 2. 3. 2006 – 2 BvR 2099/04; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 8. 2006 – 2 BvR 1345/03; BVerfG, Urteil vom 2. 3. 2010 – 1 BvR 256/08. 755 Einen Überblick liefert Zanger, Freiheit von Furcht, 2017, S. 53 ff. 756 BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1939 ff. 757 BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1949 ff. 758 BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1950 (Rn. 177). 759 BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1950 (Rn. 177). 760 BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1950 (Rn. 176).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Bedrohungen wird aber weiterhin das Gemeinwohl beeinträchtigt, denn Selbstbestimmung sei „eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeiten seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens“761. Haas kehrt die Argumentation der Senatsmehrheit um. Während die Freiheit von Furcht für die Senatsmehrheit das staatliche Handeln einschränkt, stellt sie nach Haas einen zulässigen Rechtsfertigungsgrund für einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung dar. Im Wunsiedel-Beschluss762 dient der Einschüchterungseffekt als ein entscheidendes Kriterium für die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB. Die Bestrafung der Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft diene nicht der Kriminalisierung von Ideen. Das Billigen der Verbrechen eines Unrechtsstaates, der zur Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen schritt und sich als Schreckbild unermesslicher Brutalität in das Bewusstsein der Gegenwart eingebrannt hat, erscheine heute regelmäßig als Aggression und als Angriff gegenüber denjenigen, die sich in ihrem Wert und ihren Rechten erneut in Frage gestellt sehen.763 Die Kundgabe einer positiven Bewertung dieses Unrechtsregimes sei also etwas mehr als eine bloß anstößige geistige Relativierung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft764. Sie wird vielmehr sanktioniert, weil sie eine Einschüchterung erzeugt und enthemmende Wirkung bei der angesprochenen Anhängerschaft solcher Auffassungen habe.765 So legt das Bundesverfassungsgericht das viel diskutierte und vage Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Friedensstörung aus: Diese kann im konkreten Fall vermutet werden, wenn von einschüchternden oder bedrohenden Wirkungen ausgegangen werden kann766. Insofern sei Furcht nicht eine willkürliche psychische Einstellung. Im Gegensatz dazu, sei sie das berechtigte Ergebnis des Übergangs zu Aggression oder Rechtsbruch.767 Ziel der Bestrafung sei also hier der Schutz vor Äußerungen, die ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutsgefährdende Handlungen hin angelegt seien.768 Im Rahmen des vorverlagerten Rechtsgüterschutzes erkennt also das Bundesverfassungsgericht mittelbar die Freiheit von Furcht der angesprochenen Bevölkerungsteilen als ein legitimes Rechtsgut an, was zur Folge hat, dass die in Betracht kommenden Kundgebungen nicht vom öffentlichen Meinungskampf erfasst werden. Der Schutz vor Einschüchterungseffekten beziehe sich auf reelle Bedrohungslagen und diene einem zulässigen vorverlagerten Rechtsgüterschutz, der an sich abzeichnende Gefahren anknüpft, die sich in der Wirklichkeit konkretisieren. 761 762 763 764 765 766 767 768

BVerfG, Beschluss vom 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, NJW 2006, 1950 (Rn. 177). BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 47 ff. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 53. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 53. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 53. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 55. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 53. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 53.

IX. Freiheit von Furcht

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Das Bundesverfassungsgericht lehnt daher die Auffassung ab, die im Sicherheitsgefühl einen bloßen Reflex oder eine Nebenwirkung anderer Rechtsgutsbeeinträchtigungen feststellt. Eine bedeutende Funktion wird dem Einschüchterungseffekt im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Verbotsverfahren beigemessen.769 Bei der Prüfung des Antrags des Bundesrates auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) gemäß Art. 21 Abs. 2 GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 GG, Art. 13 Nr. 2, Art. 43 ff. BVerfGG wird vom Antragsteller argumentiert, die NPD trete in einschüchternder Weise gegen politische Gegner auf770 und versuche, ihre verfassungsfeindlichen Absichten planvoll durch den Aufbau von Drohkulissen und die Schaffung einer Atmosphäre der Angst durchzusetzen. Das Gericht hat betont, der Umstand, dass die Antragsgegnerin durch einschüchterndes oder kriminelles Verhalten von Mitgliedern und Anhängern punktuell eine nachvollziehbare Besorgnis um die Freiheit des politischen Prozesses oder gar Angst vor gewalttätigen Übergriffen auszulösen vermag, sei nicht zu verkennen, reiche aber für eine Verbotserklärung nicht aus.771 Geeignete Mittel, um die Freiheit des politischen Prozesses ebenso wie vor Einschüchterung und Bedrohung sowie Aufbau von Gewaltpotentialen wirkungsvoll zu schützen, seien das präventive Polizeirecht und das repressive Strafrecht.772 Es wird deutlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht im Prozess der Entwicklung eines Einschüchterungsbegriffes befindet. Obwohl es bisher keine Definitionen des Begriffes geliefert hat und dabei den Terminus der Furcht durch Begriffe wie Einschüchterung oder Einschüchterungseffekt ersetzt, wird ihm eine allmählich zunehmende Rolle beigemessen. Besonders wird auf die Auswirkung von Einschüchterungseffekten auf die grundrechtlich geschützten Freiheiten abgehoben. Nicht nur staatliche Maßnahmen als Quelle von Einschüchterung stehen im Vordergrund. Das Gericht neigt, wenn auch widerwillig, dazu, eine objektivierte Dimension von Furcht als Faktor anzunehmen, der zu einer Beeinträchtigung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten als Ergebnis zwischenmenschlicher Furcht führen kann. Allerdings kann die eingeschränkte dogmatische Bearbeitung der Einschüchterungseffekte nicht unbeachtet bleiben. Obwohl auf die Eignung der Einschüchterungseffekte hingewiesen wird, die Unbefangenheit der Grundrechte zu beeinträchtigen, lässt das Gericht offen, ob ein Grundrechtseingriff allein aufgrund der Erregung von Furcht vorliegen kann. Unklar ist übrigens, ob das Vorliegen eines Einschüchterungseffektes eine entscheidende Rolle bei der Annahme eines Grundrechtseingriffs übernimmt, oder ob es eine beiläufige Auswirkung darstellt, die die Intensität des Eingriffs erhöht. 769 770 771 772

BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 611. BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 661. BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 655. BVerfG, Urteil vom 17. 1. 2017 – 2 BvB 1/13, NJW 2017, 662.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

4. Die Herleitung der Freiheit von Furcht Unklar bleibt die grundrechtliche Herleitung der Freiheit von Furcht. Sie ist zwar nicht ausdrücklich verankert, könnte sich aber aus mehreren Artikeln ableiten lassen. Herzog begründet ein Recht auf Freiheit von Furcht gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK773. Er stellt auf ein erweitertes Sicherheitsverständnis ab, das sich als Sorglosigkeit umschreiben lässt. Dagegen wird der Einwand erhoben, der im Art. 5 EMRK zugrunde liegende Sicherheitsbegriff wird im Sinne der Abwehrfunktion der Freiheitsrechte herangezogen774 und erfasst daher das Sicherheitsgefühl nicht. Außerdem wird der Sicherheit nach Art. 5 EMRK keine eigenständige Funktion beigemessen775. Art. 5 EMRK kann also nicht als Herleitungsmodell der Freiheit von Furcht dienen776. Ein Herleitungsversuch durch Art. 1 Abs. 1 GG ist auch wenig überzeugend777. Der Grund für die Ablehnung dieses Herleitungsmodells besteht darin, dass die inflationäre Verwendung der Menschenwürde ihren Inhalt trivialisiert. Diesem Herleitungsversuch zufolge sei jede denkbare Körperverletzung oder anderer Angriff eine Beeinträchtigung der Menschenwürde. Stellt man aber bei jeder denkbaren Verletzung der Unverfügbarkeit des Einzelnen gleichzeitig eine Menschenwürdeverletzung fest, dann liegt eine unerträgliche Trivialisierung des Menschenwürdekonzeptes vor. Scholler stellt auf Art. 4 GG zur Herleitung des Rechtes auf Freiheit von Furcht ab778. Eine freie Gewissensformung sei dieser Meinung nach nicht möglich, wenn die Person in Furcht leben soll. Zwei Einwände lassen sich vorbringen: erstens kommt eine Einschüchterung nicht nur im Fall einer Gewissensfreiheitsverletzung in Betracht. Die Herleitung eines Rechtes auf Freiheit von Furcht aus einem einzelnen Recht trägt dazu bei, die Freiheit von Furcht in einer sehr eingeschränkten Form anzuerkennen und nur in Fällen, die eine freie Gewissensentscheidung verhindern779.

773

Herzog, Grundrechtsbeschränkung nach dem Grundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention, 1958, S. 18 („Freiheit von Beunruhigung“); Herzog, AöR 86 (1961), 201, wobei es offen bleibt, ob die Freiheit von Furcht aus der EMRK ableitbar sei. 774 Baldus/Heger, in: Heselhaus/Nowak, Hdb. EU-Grundrechte, § 18 Rn. 8. 775 Esser, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 11, 26. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 11; SK-StPO/ Meyer Art. 5 Rn. 13; Baldus, in: Heselhaus/Nowak, Hdb. EU-Grundrechte, 2. Auflage 2020, § 18 Rn. 8; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, 4. Auflage 2017, Art. 5 Rn. 6; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2000, S. 114. 776 So auch Schewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, 2009, S. 194. 777 So aber Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 143; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, 1979, S. 42 ff.; Hoffmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 308 f. 778 Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 1958, S. 136. 779 Zum Begriff der Gewissensfreiheit, vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 4 Rn. 44, 45.

IX. Freiheit von Furcht

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Außerdem soll nicht unbeachtet bleiben, dass diese Konzeption der Freiheit von Furcht ausschließlich eine Abwehrfunktion aufweist780. Einer ähnlichen Kritik wird die Herleitung des Rechts auf Freiheit von Furcht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unterworfen. Zur Begründung des Rechts gehen die Anhänger dieses Herleitungsmodells vom exzessiven Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation aus781. Dieser erfasst auch das psychische Wohlbefinden des Einzelnen, welches nicht den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers entspricht. Übrigens soll berücksichtigt werden, dass ein Einschüchterungseffekt in Fällen vorliegen kann, in denen andere Rechtsgüter neben dem physischen Wohlbefinden angegriffen werden wie die sexuelle Selbstbestimmung oder das Eigentum. Stellt man aber auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab, dann werden diese Konstellationen nicht erfasst. Auch die Herleitung aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ist nicht ohne Bedenken zu befürworten. Ein solches Herleitungsmodell782 macht sich ein äußerst exzessives Verständnis der Freiheit der Person zu eigen, das gesetzessystematisch unvereinbar mit Art. 2 Abs. 1 GG ist. Aus einer systematischen und historischen Auslegung des S. 2 ergibt sich, dass die Freiheit der Person als körperliche Handlungsfreiheit zu verstehen ist783. Ihr kann aber nicht ein Recht auf Freiheit von Furcht entnommen werden. Gegen die Herleitung der Freiheit von Furcht aus einzelnen Grundrechten steht die überzeugendere Auffassung, sie sei aus mehreren Artikeln ableitbar784. Freiheit von Furcht gilt zunächst als eine vorinstitutionelle verfassungsrechtliche Forderung, die sich aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) ableiten lässt785. Freiheit von Furcht ist eine Vorbedingung, die es dem Bürger ermöglicht, am demokratischen Prozess teilzunehmen und seine Freiheiten zu genießen786. Diese Vorbedingung dient der Aufgabe der Staatsgemeinschaft, die darin besteht, dem Menschen seine Freiheit gewährleisten zu können. Wer aber in Furcht lebt, ist nicht frei. Und wenn die Bürger, die sich zu einem Staat zusammengeschlossen haben, in Angst leben, dann ist dieser Staat nicht demokratisch. Zu Recht wird vorgebracht, bei Art. 20 GG handele es sich nicht um ein Grundrecht, sondern um ein Verfassungsprinzip. Allein die Feststellung, dass frei von Furcht zu leben, entscheidend für den demokratischen Rechtsstaat ist, legitimiert 780

Schewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, 2009, S. 197. Steiger, Mensch und Umwelt, 1975, S. 34; Jung, Das Recht auf Gesundheit, 1982, S. 66 ff. 782 Maunz, Deutsches Staatsrecht, 1980, § 14 III 3; Herzog, Grundrechtsbeschränkung nach dem Grundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention, 1958, S. 14 ff. 783 Das bloße Wohlbefinden wird nicht geschützt, vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 2 Rn. 83. 784 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 223 ff. 785 Denninger, VVDStRL 37 (1979), S. 26 ff.; Arndt, NJW 1961, 898. 786 Denninger, VVDStRL 37 (1979), 28. 781

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

ein Recht auf Freiheit von Furcht. Zustimmungswürdig ist deshalb die Auffassung von Robbers, der für die Herleitung der Freiheit von Furcht auf die je einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes verweist787. Für Robbers ist das Vertrauen in die Integrität eines Rechtsgutes Bestandteil der Integrität eben dieses Rechtsgutes selbst. Wer in ständiger Furcht um sein Leben lebt, wird in seinem Recht auf Leben nicht geschützt; nur sein bloßes Überleben wird gewährleistet. Wer bestimmte Stadtteile meidet, weil er fürchtet, wegen seiner Hautfarbe angegriffen zu werden, kann auch seine Handlungsfreiheit nicht genießen. Er lebt am Rand der Gesellschaft und muss seine Lebensentscheidungen anpassen. Wo also die Integrität der Existenz und die Handlungsfreiheit auf dem Spiel stehen, dann kann nicht die Rede von Freiheit von Furcht sein. 5. Die Freiheit von Furcht als Rechtsgut im Strafrecht Die Legitimität des Sicherheitsgefühls als Rechtsgut wird nicht ohne Bedenken bekräftigt788. Zwar wird die Schutzwürdigkeit des Einzelnen vor Einschüchterungseffekten nicht aussagekräftig behandelt. Es gibt allerdings eine Diskussion darüber, ob das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtssicherheit einen eigenständigen strafrechtlichen Eingriff legitimieren kann. Für Wandres ist die kollektive Gefühlslage bei den Betroffenen nur eine Folge der Beeinträchtigung der objektiven Komponente des öffentlichen Friedens789. Eine eigenständige Schutzwürdigkeit weise sie nicht auf. Stelle man eine Analogie her, dann würde man auch bei der Legitimität der Freiheit von Furcht zum gleichen Ergebnis gelangen: die Einschüchterung der Betroffenen sei ein bloßer Reflex der Beeinträchtigung der Integrität seiner Rechtsgüter. Zwei Einwände lassen sich dagegen erheben: Es ist schon betont worden, dass Gefühle kein Objekt strafrechtlichen Handelns darstellen790. Beim Sicherheitsgefühl handelt es allerdings sich nicht um einen bloßen Gefühlsschutz. Es geht um die elementare Bedingung einer menschenwürdigen Lebensgestaltung der Person, die durch Bedrohungen, Furcht und die Förderung einer Fremdenfeindlichkeitskultur gravierend unterdrückt wird791. Der Verlust der grundlegenden Freiheit von Furcht ist demnach keine bloße Gefühlslage. Der Verlust dieser Freiheit wirkt entscheidend auf die Ausübung seiner Grundrechte. Aus Angst, sich zu exponieren, lebt man am Rand der Gesellschaft und im Zustand latenter Fluchtbereitschaft, die jeden denkbaren Aspekt seiner Lebensgestaltung be787

Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 225. Verneinend Amelung, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.) Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 173. Zum Sicherheitsgefühl als überindividuelles Rechtsgut als Schutz der Bevölkerung im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen, vgl. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 140 f. 789 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, 2000, S. 220 f. 790 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 26 ff. 791 Die strafrechtliche Schutzwürdigkeit des Sicherheitsgefühls befürwortet auch Roxin, AT I, 2006 § 2 Rn. 27 f. 788

IX. Freiheit von Furcht

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einflusst. Diese existentielle Vorbedingung einer zwischenmenschlich friedlichen Koexistenz und einer Ausübung der Grundrechte darf in einer freiheitlichen Demokratie nicht als bloßes Gefühl bewertet werden. Als bloßer Reflex einer Rechtsgutsbeeinträchtigung darf sie ebenfalls nicht angesehen werden. Es ist wahr, dass ein irreales Bedrohungsgefühl keinen strafrechtlichen Eingriff legitimiert. Eine irreale Furcht des Bürgers kann und darf der Staat nicht eliminieren, da negative Emotionen nicht in die Aufgabe des Strafrechts fallen. Das gilt aber nicht im Fall von reellen Bedrohungsgefühlen, d. h. wenn der Einzelne sich durch bestimmte Verhaltensweisen in seinem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt fühlt. Es trifft zu, dass das Bedrohungsgefühl sich aus der Gefährlichkeit der Stigmatisierung ergibt. Betrachtet man aber diese Auswirkung der Handlungen auf die Angegriffenen als bloßen Reflex und verneint man die eigenständige Schutzwürdigkeit der Freiheit von Furcht, dann verkennt man sowohl die Bedeutung dieser Freiheit für die Entfaltung der Person als auch die gravierende Auswirkung der zum Hass aufstachelnden Aufrufe für die Lebensgestaltung der stigmatisierten Person792. Denn wer in einem Staat lebt, in dem die Aufforderung zu Gewalt oder die Weckung feindseliger Einstellung straffrei ist, genießt keine wahre Freiheit. Ein freies und friedliches Zusammenleben setzt voraus, dass man sein Leben nicht in Furcht gestalten und führen muss. Dies muss als Teil des Gesellschaftsvertrags angenommen werden. Reduziert man es auf einen bloßen Reflex, dann lässt man auch außer Acht, dass das Vertrauen in die Integrität der Rechtsgüter ein Bestandteil ihrer Integrität ist. Wer die Ausübung seiner Religionsfreiheit unterdrückt, weil zu Willkürmaßnahmen gegen Synagogen aufgefordert wird, der lebt nicht frei. Der Staat muss seinen Schutzauftrag erfüllen und Bedingungen schaffen, die das existentielle Grundvertrauen des Einzelnen in die Respektierung seiner Rechtsgüter verstärken. 6. Die Freiheit von Furcht als Rechtsgut des § 130 Abs. 1 StGB Diskussionswürdig ist weiterhin, ob die Tathandlungen des Abs. 1 auf das Sicherheitsempfinden der Minderheiten einwirken793. Gefragt wird nicht, welche allgemeine Auswirkung die Handlungsvarianten des Abs. 1 auf die Gesellschaft haben – wie im Fall der Beeinträchtigung des subjektiv verstandenen öffentlichen Friedens –, sondern, ob durch diese Tathandlungen die Freiheit von Furcht der angegriffenen Angehörigen beeinträchtigt wird. Beim Volksverhetzungsparagraphen handelt es sich um ein Äußerungsdelikt. Das bedeutet, der aufgeforderte Angriff auf die Rechtsgüter der Minderheitsangehörigen ist noch nicht verwirklicht worden. Der Strafgrund liegt in einer Auswirkung sowohl auf den Adressatenkreis als auch auf die Mitglieder der angegriffenen Minderheit. Eine tatsächliche Weckung feindseliger 792

So auch Roxin, in: Symposium für Schünemann, 2005, S. 141. So Roxin (in: Universitas Vitae, Homenaje a Ruperto Núñez Barbero, 2007, S. 683), denn die bedrohten Bevölkerungsteile „können in ihrer Gesellschaft nicht mehr frei und friedlich, sondern nur noch in ständiger Vorsicht und unter Angst und Sorge leben“. 793

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Einstellung ist nicht erforderlich. Durch seine Äußerung wirkt der Täter auf den angegriffenen Personenkreis und negiert sein elementares Recht, als gleichwertige Individuen respektiert zu werden. Die Entmenschlichung der Betroffenen erschüttert die grundlegende Erwartung der Person, ihr Leben ohne Furcht gestalten zu dürfen794. Die Rechtsgutsrelevanz ist offenbar: Wer als Angehöriger einer Minderheit mit Bedrohungen lebt, wer wegen seines Andersseins als minderwertiges Wesen angegriffen wird, dessen Rechtsgüter zu vernichten als nicht verwerflich propagiert wird, lebt nicht frei von Furcht. Dieser Eingriff in seine existentielle Integrität erschüttert seine Lebensgestaltung in gravierender Weise. Dies hat die Fragilität des Vertrauens der Person in ihre Integrität zur Folge. Das Individuum verbringt sein Leben als potentielles Opfer. Diese Fragilität wird umso mehr verschärft, wenn man bedenkt, dass die behauptete Minderwertigkeit die Begehung potentieller Übergriffe normalisiert, da diese sowohl von ihren Tätern als auch von den unbeteiligten Dritten nicht als moralisches Unrecht wahrgenommen zu werden brauchen. Auch wenn durch die Handlungsvarianten des Abs. 1 keine Verletzung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit entsteht, lösen sie eine Kausalkette von Faktoren aus, die eine wahrnehmbare Gefahrenzone für die Sicherheit der Minderheitsangehörigen schaffen. Ob diese am Ende zu tatsächlichen Aggressionen führen, hängt letztendlich von Unwägbarkeiten ab; besonders davon, ob sich im Adressatenkreis ein gehorsamer Zuhörer befindet, der die aufgeforderten Tathandlungen begeht. Es ist aber nicht akzeptabel, einen Bevölkerungsteil machtlos und ungeschützt zu lassen. Denn diese Bevölkerungsgruppen müssen, auch wenn ihnen kein reeller Schaden zugefügt wird, mit der Furcht vor der Negation ihrer Existenz leben. Die Handlungen erzielen also einen strafwürdigen, reellen Einschüchterungseffekt, der bei den Betroffenen eine Verunsicherungswirkung hinsichtlich ihrer elementaren Rechtsgüter bewirkt. Die Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtssicherheit, die als „Klimavergiftung“ bezeichnet wird, ist eine sekundäre Folge. Der Strafgrund der aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen liegt nicht in der Erschütterung des gesellschaftlichen Vertrauens. Bestraft wird also die aufhetzende Rede, weil die Aussagen die Integrität der Rechtsgüter des Einzelnen sowie sein Sicherheitsgefühl beeinträchtigen. Die gesellschaftliche Auswirkung, also die Erschütterung der subjektiven Komponente des öffentlichen Friedens, ist ein bloßer – nicht schutzwürdiger – Reflex. 7. Zwischenergebnis Mit § 130 Abs. 1 StGB wird zunächst die freie Persönlichkeitsentfaltung und die Freiheit von Furcht geschützt. Daneben wird auch die Sicherheit der angegriffenen Angehörigen geschützt. Diese wird ins Vorfeld tatsächlicher Verletzung verlagert und schützt die Integrität wichtiger Rechtsgüter der Betroffenen, die durch eine 794 Wird dagegen auf eine Sanktionierung von Angriffen steigernder Heftigkeit verzichtet, dann gelten derartige Ausschreitungen als „legitime Normalität“, vgl. Frommel, KJ 1995, 407.

X. Straftheoretische Überlegungen

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stigmatisierende Auseinandersetzung einer geförderten Gewaltbereitschaft ausgesetzt werden. Mit § 130 Abs. 3 StGB wird die historische Wahrheit geschützt, die ein illegitimes Rechtsgut ist. § 130 Abs. 3 StGB ist also ein Scheindelikt.

X. Straftheoretische Überlegungen Allein die Antwort auf die Frage, welche Rechtsgutsbeeinträchtigung bestraft wird, erschöpft die Diskussion über die Bestrafung der Leugnung historischer Tatsachen nicht. Es taucht die Problematik auf, was der Zweck des § 1 und 3 StGB ist. Mit anderen Worten: Es fragt sich nicht nur, was bestraft wird, sondern auch, warum bestraft wird795. 1. Verzicht auf Vergeltung Die Vergeltungstheorie gilt in der modernen Strafrechtstheorie als überholt796. Zu dieser Feststellung gelangt man, wenn man die Aufgabe des Strafrechts berücksichtigt. Diese besteht darin, den Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zu sichern797. Diese Mission ist mit der Konzeption der Strafe als Ausgleich aber unvereinbar, denn die Vergeltung dient zu nichts, sondern trägt ihren Zweck in sich selbst798. Besonders problematisch scheint die Vergeltung im Fall des schlichten Negationismus: bestreitet man eine historische Tatsache, dann ist ihr Bestreiten aus ausgleichender Sicht zwecklos. Denn ein bloßes Bestreiten kann die historisch oder gerichtlich erwiesene Wahrheit nicht ändern oder untergraben; sie ist offenkundig, und dagegen sind bloße Leugnungen machtlos.

795

Vgl. Frisch, in: FS-Schünemann, 2015, S. 55 ff. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 3 Rn. 2 ff.; Roxin, GA 2011, 684; ders., Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 2 f.; Hörnle, Straftheorien, 2017, S. 19; Fischer, StGB § 46 Rn. 4; Hassemer, in: FS-Schroeder, 2006, S. 51, 56; Walter, ZIS 2011, 636 ff.; zur modernsten Version der Vergeltungstheorie, vgl. Pawlik, GA 2006, 345 ff. 797 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 7. 798 Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, S. 2; Joecks, in: MüKoStGB Einleitung Rn. 51 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB Vor § 1 Rn. 104. 796

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

2. Die Spezialprävention a) Das schlichte Bestreiten von historischen Tatsachen Eine spezialpräventive Strafbegründung799 lässt sich für den schlichten Negationismus ebenfalls schwer begründen, da die dreifache Spezialprävention bei der Kriminalisierung des schlichten Bestreitens einer historischen Tatsache scheitert. Zunächst bleibt unklar, von welchem Verhalten abzuschrecken der Staat überhaupt die Befugnis hat. Eine Abschreckung kommt erst nur dann in Betracht, wenn durch die Straftat ein schutzwürdiges Rechtsgut beeinträchtigt wird. Es wurde aber schon darauf eingegangen, dass der Schutz der historischen Wahrheit nicht in die gesetzgeberische Befugnis fällt. Eine Rechtfertigung der Strafe ist also zu verneinen, wenn diese zum Ziel hat, den Bürger von künftiger Geschichtsverfälschung abzuschrecken. Dieser Einwand ist umso mehr zu bekräftigen, wenn man die Auffassung bedenkt, dass die Strafnorm die Entstehung von Umständen verhindern soll, die eine Wiederholung der nationalsozialistischen Verbrechen begünstigen könnten800. Denn eine Wiederholungsgefahr dieser grausamen Delikte besteht nicht, wenn man berücksichtigt, dass extremistische Organisationen am Rand des demokratischen Lebens stehen und dementsprechen geringen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Ebenso fraglich ist, ob die Personen, die historische Tatsachen bestreiten, der Resozialisierung bedürfen. Denn die ahistorischen Behauptungen, mit denen offenkundige historische Fakten dekonstruiert werden sollen, mögen lächerlich scheinen und durch einen öffentlichen Diskurs leicht aufzuklären sein; doch ihre Befürworter leben oft unauffällig und sozial angepasst. Weiterhin kann nicht überzeugen, dass die Bestrafung des schlichten Leugnens von historischen Tatsachen die Täter davon abbringen könnte, ihre Tat zu wiederholen. Denn die Leugner dieser Delikte sind von der Wahrheit ihrer Behauptungen überzeugt und sehen sich im Fall eines Strafverfahrens als Märtyrer, die wegen ihrer Anschauungen verfolgt werden. Ein spezialpräventives Strafbedürfnis besteht also nicht. b) Das aufhetzende Bestreiten von historischen Tatsachen Es liegt nahe, dass § 130 Abs. 1 StGB eine vorverlagerte Schutzfunktion übernimmt. Eine spezialpräventive Lehre könnte nur bedingt die Bestrafung der aufhetzenden Rede erklären. Besonders der Resozialisierungsgedanke kann den Strafrahmen nur schwer rechtfertigen. Die Skepsis liegt darin, dass strafrechtliche Mittel nicht geeignet sind, die fremdenfeindlichen oder rassistischen Überzeugungen des Täters zu bekämpfen, die als Motiv der missachtenden Äußerungen gelten. Die 799

Joecks, in: MüKoStGB Einleitung Rn. 60 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB Vor § 1 Rn. 274; Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB Vor § 38 ff. Rn. 7 ff.; Hörnle, Straftheorien, S. 22 ff.; Stein, in: SK-StGB § 15 Rn. 22; Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 7 f.; ders., GA 2011, 684. 800 Hufen, JuS 1995, 638; Ostendorf, NJW 1985, 1062; BT-Drs. 12/7421 vom 27. 4. 1994, S. 4.

X. Straftheoretische Überlegungen

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Besserungsproblematik kann man bei Überzeugungstätern verallgemeinern. Die Bestrafung führt häufig zum entgegengesetzten Ergebnis: anstatt dem Bestraften das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit zu vermitteln, sehen sich die Täter von Strafen mit extremistischen Hintergrund als Märtyrer, die von der – von ihnen nicht anerkannten – Staatsmacht wegen ihrer Weltanschauungen und häretischen Überzeugungen verfolgt werden. 3. Die Generalprävention Besonders einflussreich ist heutzutage die Theorie der Generalprävention, also eine auf vorbeugende Verbrechensverhütung abzielende Lehre, die generell auf die Allgemeinheit einwirken soll801. a) Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen Nachdem vieldiskutierte Fälle der Nachkriegszeit802 unbestraft blieben, wurde durch diese Anlassfälle klar, dass die Rechtslage zur Bekämpfung der aufhetzenden Rede unbefriedigend war. Die Schließung dieser Gesetzeslücke gewann weitere Dringlichkeit nach der antisemitischen Schmierwelle der Weihnachtsnacht 1959,803 die zu einer Welle antisemitischer Vorfälle führte. Mangels eines geeigneten strafrechtlichen Instruments entwickelte sich die gewaltfördernde Einstellung zu blinden Aggressionen, die das das Sicherheitsempfinden von sensiblen Bevölkerungsgruppen erschütterten804. Die generalpräventive Rolle einer solchen Strafvorschrift wird bereits in den frühen Entwürfen betont. Bereits der Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches“ (1950) bezeichnet die neu empfohlene Strafnorm zur Bestrafung der aufhetzenden Rede als eine „besondere Notwendigkeit“, um „Spätfolgen des Nationalsozialismus“ vorzubeugen, die die Grundlagen der deutschen Lebensge801 Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 8 f.; ders., AT I, § 3 Rn. 21; ders., GA 2011, 684; Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB Vor § 38 ff. Rn. 3 ff.; Hassemer/Neumann, in: NK-StGB Vor § 1 Rn. 288; Joecks, in: MüKoStGB Einleitung Rn. 67 ff.; Hörnle, Straftheorien, S. 26 ff.; dies., in: FS-Roxin, 2011, Bd. 1, S. 7 ff.; Stein, in: SK-StGB § 15 Rn. 23; Frisch, in: FS-Schünemann, 2015, S. 57 ff. 802 Unter anderem Nieland, Zind, Eisele, Kutscher, Hedler, vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, 2012, S. 307 ff. 803 Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten: kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949 – 1989, 1997, S. 235; Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, 2017, S. 54; von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 55. 804 Schafheutle weist (JZ 1960, 471) auf die antisemitische und nazistische Welle von Haß, Gemeinheit und flegelhaften Unverstand hin, die die Ansicht derer verstummen ließ, die noch kurz zuvor von einer Novellierung des § 130 StGB abgeraten hatten (so auch Krone, 1979, S. 47).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

meinschaft untergraben könnten805. Auf den abschreckenden Aspekt der Bestrafung der aufhetzenden Rede wird überdies in der Sitzung des Innenausschusses des Bundestags vom 13. Januar 1960 hingewiesen. Nach den antisemitischen Ausschreitungen wird gefordert, durch entschiedene Steuerung ernsthafte Schäden von der Bundesrepublik abzuwenden806. Große Bedeutung wird gleichzeitig der positiven Generalprävention beigemessen, nämlich der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung. Diese positive Seite ist in der modernen Strafrechtstheorie besonders einflussreich geworden. So lesen wir in den Gesetzesmaterialien807, dass, solange die Aufgabe der Überwindung, des Lernens, der Reinigung und des Erneuens nicht vollbracht sei, „unser Volk nicht gesunden [wird]“. Explizit wird auf das von den rassistischen Ausschreitungen erschütterte Vertrauen der Bevölkerung in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung Bezug genommen. So liest man in der Begründung des Gesetzesentwurfes des Landes Niedersachsen vom 10. Dezember 1992: „Die in jüngster Zeit um sich greifenden rechtsradikalen Umtriebe in Deutschland sind gefährlich und beunruhigen die Öffentlichkeit im In- und Ausland. Ihnen muß mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaates entschlossen begegnet werden“.808 Diesen historisch ermittelten Ergebnissen ist zuzustimmen. Der aufhetzenden Rede, die als Folge Gewalttaten gegen sensible Bevölkerungsgruppen haben kann, muss mit verstärkten strafrechtlichen Mitteln begegnet werden. Es geht nämlich um das Erfordernis einer geeigneten intensiven Verfolgung und Ahndung extremistischer Kriminalität, die auch Gegenstand der justiziellen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ist und zum Ziel hat, in der Zukunft andere von ähnlichen Straftaten abzuschrecken. Denn die langjährigen Verhandlungen zeigten, dass dem Gesetzgeber ein wirksames generalpräventives Instrument fehlte, um den bedrohten Minderheitsangehörigen einen effektiven Schutz ihrer Integrität und ihres Sicherheitsgefühls gewährleisten zu können. Die über viele Jahre bestehende Gesetzeslücke hatte zur Folge, dass der Staat statt einer aktiven Rolle bei der Bekämpfung rassisch motivierter Kriminalität nur einen Beobachterstatus eingenommen hatte und zwischen Apathie und Verlegenheit schwankte. Die abschreckende Vorschrift sollte also darauf zielen, einen entscheidenden Kausalfaktor – hier die hasserfüllte Rede – in einer Kette von Faktoren zu eliminieren, die mit der Verwirklichung der angedrohten Handlungen und der Verletzung der entsprechenden Rechtsgüter enden kann. 805

Drs. 1307 vom 4. 9. 1950, S. 43. So auch der Staatssekretär Ritter von Lex, der auch eingesteht, dass das Gesetz gegen Volksverhetzung „so schnell wie möglich vom Parlament verabschiedet werden sollte, da es eine gute Handhabe bieten würde, den antisemitischen Schmierereien mit wirkungsvollen Strafmaßnahmen entgegenzutreten“ (Sitzung des Innenausschusses vom 13. 1. 1960, S. 18). 807 Bundestagssitzung vom 20. 1. 1960, S. 5231. 808 Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen vom 10. 12. 1992, Drs. 887/92, S. 3. 806

X. Straftheoretische Überlegungen

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Die Begründung der Bestrafung der aufhetzenden Rede durch die positive Generalprävention809 ist freilich ebenfalls diskussionswürdig. In den Gesetzesmaterialien sowie der Presse der Zeit wird zwar allgemein auf die Beunruhigung der Bürger wegen der mangelhaften Steuerung der Hassrede gegen Minderheiten hingewiesen. Keine dieser Befürchtungen wurde aber verwirklicht. Trotz den mehrmals erhobenen Einwänden, dass die schwache Bekämpfung der aufhetzenden Rede Beunruhigung in der inländischen Bevölkerung verursacht, ist diese – schwerlich messbare – Beunruhigung zu verneinen. Obwohl sich im Laufe der Zeit ein Konsens über die Erforderlichkeit herausbildete, die aufhetzende Rede mit verstärkten strafrechtlichen Mitteln zu bekämpfen, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Novellierung des § 130 StGB über ein Jahrzehnt dauerte. In diesem Zeitraum war aber keine Erschütterung der Rechtstreue der Bevölkerung festzustellen. Noch lag keine Verletzung des Vertrauens der Bevölkerung in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung vor. Die demokratische Ordnung war in der Nachkriegszeit allmählich wiederhergestellt und das Rechtsbewusstsein der Bürger verstärkt worden. Trotz der häufig straflosen hetzenden Rede wurde der Vertrauensund Befriedungseffekt in der Bevölkerung nicht erschüttert. Es wurde zwar sporadisch die Befürchtung geäußert810, dass den vereinzelten unbelehrbaren Stimmen nicht erfolgreich begegnet worden war; niemals wurde aber bezweifelt, dass es sich um Einzelfälle handelte, die nicht mehr imstande waren, den demokratischen Diskurs erheblich zu beeinflussen. Noch herrschte keine Furcht, dass diese extremistischen Restbestände mit ihrer abscheulichen Hetze und ihrer Propaganda für eine mächtige Gewaltherrschaft bei überzeugten Demokraten Gehör finden und in die Mitte der Gesellschaft vordringen könnten. Trotz der problematischen Rechtslage also ließ sich weder eine Gefährdung der sozialethischen Gesinnungswerte der Bevölkerung feststellen noch wurde die allgemeine Rechtstreue missachtet. b) Die schlichte Leugnung von historischen Tatsachen Eindeutig besteht keine generalpräventive Strafbedürftigkeit im Fall der schlichten Leugnung einer historischen Tatsache. Besonders das Postulat, beim Leugnungsverbot handele es sich um ein funktionales Verbot, das von künftigen Genoziden abschrecken solle811, bedarf weiterer Begründung. Es versteht sich nämlich nicht von selbst, weshalb das bloße Bestreiten eines – offenkundigen oder unbekannten – historischen Faktums zur Nachahmung von Genoziden auffordern können soll.

809

Frisch, in: FS-Schünemann, 2014, S. 55 ff. Referentenentwurf vom 21. 1. 1982, S. 8; Gesetzesentwurf des Landes Niedersachsen vom 10. 12. 1992, Drs. 887/92, S. 3. 811 Kreis, in: Kieser/Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, 2006, S. 171. 810

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Dasselbe gilt in Hinblick auf den positiven generalpräventiven Aspekt des schlichten Leugnungsverbotes. Das sporadische Bestreiten von historischen Fakten ist nicht geeignet, die allgemeine Gesetzesachtung zu erschüttern. Dies gilt sowohl für offenkundige historische Tatsachen, die gerichtlich erwiesen worden sind, wie den Holocaust, sondern auch für kontroverse historische Tatsachen, über die Uneinigkeit bei Historikern herrscht oder die wie der Genozid an den Pontus-Griechen nicht gerichtlich anerkannt worden sind. In keiner dieser beiden Kategorien kann die Rede von einem Angriff auf die Gesinnungswerte der Bevölkerung sein: im Fall des Bestreitens von offenkundigen historischen Fakten wie dem Holocaust werden derartige Behauptungen nicht ernst genommen. Ein öffentlicher Diskurs kann solche ahistorischen Äußerungen aufklären und den Wahrheitsfindungsprozess erleichtern. Handelt es sich andererseits um kontroverse oder weniger bekannte historische Tatsachen, dann ist das Argument, durch ihr Bestreiten werde die Rechtstreue der Bürger erschüttert, umso schwächer. Denn in diesem Fall dient das Bestreiten als eine Grundlage zum Prozess der Wahrheitsfindung und der Aufklärung der Fakten. Die Pönalisierung dieses Bestreitens stellt demnach eine willkürliche Einschränkung des öffentlichen Diskurses dar. Dieser Ansicht zufolge stellt nicht das schlichte Bestreiten eine Verletzung der Rechtstreue dar, sondern dessen Sanktionierung selbst. Weiterhin verletzt die Sanktionierung der Leugnung einer historischen Tatsache auch das Schuldprinzip: jede Strafe findet ihre Grenze in der Schuld des Täters812. Wer ohne Schuld handelt, darf nicht bestraft werden. Wenn jemand also von der Richtigkeit seiner Aussagen über den Holocaust überzeugt ist, handelt er ohne Schuld813. 4. Die expressive Funktion der Strafe Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass keine der herrschenden Straftheorien einen überzeugenden Strafzweck für die Sanktionierung der aufhetzenden Leugnung historischer Tatsachen anbietet. Einen befriedigenden Ansatz liefert Hörnle mit ihrer expressiven oder kommunikationsorientierten Straftheorie814. Hörnle bringt dabei die Genugtuungsinteressen des Opfers als zentralen Ausgangspunkt einer modernen Straftheorie ins Spiel815. Nach diesem Ansatz übernimmt die Strafe nicht eine präventive Rolle, sondern ist am Opfer der Straftat orientiert und erkennt ihm ein Recht darauf zu, dass die 812

Roxin, GA 2011, 684. Der Gesetzgeber scheint allerdings die strafrechtliche Beurteilung der Überzeugungstäter nicht berücksichtigt zu haben, wenn der Bundestag als Ziel die Bekämpfung „von unbelehrbaren Elementen“ nennt (BT-Bundestagssitzung vom 12. 9. 1950, S. 3197B). 814 Hörnle, in: FS-Roxin I, S. 14 ff.; Hörnle, Straftheorien, S. 31. 815 Roxin, GA 2015, 200. 813

X. Straftheoretische Überlegungen

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strafrechtliche Verantwortlichkeit der Täter gerichtlich anerkannt wird816. Somit stellt er das Tatopfer als primären Akteur bei der Rechtfertigung der Strafe in den Vordergrund.817 Genau diese Anerkennung eines legitimen Interesses des Opfers an einer Bestrafung des Täters818 begründet die Bestrafung von Verbrechen, die seit Jahrzehnten straflos blieben und deren Täter folglich keiner Resozialisierung bedurften – so im Fall der KZ-Morde. Die Annahme, dass das Opfer legitimes Interesse an der Bestrafung hat, sollte nicht als ein atavistischer Anspruch des Opfers auf Vergeltung wahrgenommen werden. Es geht in diesem Fall nämlich nicht um ein archaisches Bedürfnis, das auch als emotionaler Aufruf zu Rache umschrieben werden kann. Vielmehr wird so ein legitimes Interesse des Opfers an seiner Anerkennung als legitimer Akteur befürwortet. Wie Hörnle zutreffend bemerkt, handelt es sich um ein berechtigtes Interesse der Betroffenen daran, „bestätigt zu bekommen, dass ihnen ein Unrecht geschehen ist“819. Denn der Verzicht auf ein staatliches Unwerturteil würde das Opfer negativ charakterisieren („Du bist es nicht wert, dass sich der Staat um deine Belange kümmert“)820. Eine solche Aussage würde aber das Opfer nicht bloß emotional traumatisieren, sondern darüber hinaus sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzen821. Diese Strafzweckkomponente bietet einen interessanten Ausgangspunkt für die Begründung der Kriminalisierung der aufhetzenden Rede, wo die anderen Ansätze keine befriedigende Rechtfertigung der Bestrafung liefern können. Diese expressive Komponente stellt die Personen in den Vordergrund, die durch die Tat beeinträchtigt werden822. Das Tatopfer des § 130 Abs. 1 StGB ist freilich nicht der abstrakte „öffentliche Frieden“, der als vages Korrektiv in den Tatbestand einbezogen wird. Stattdessen sollte man die Angriffsobjekte der Vorschrift betrachten, die durch die Tat geschädigt oder gefährdet werden: sie bilden kein abstraktes Kollektiv, sondern eine präzise definierte Gruppe, die anhand konkreter Merkmale als ein Bevölkerungsteil oder dessen Angehöriger identifiziert ist. Der Gesetzgeber hat explizit auf bestimmte Identifizierungsmerkmale Bezug genommen, um ihren schutzwürdigen Trägern ein risikofreies Umfeld zu gewährleisten. Im Vordergrund steht also nicht der Schutz vor einer „Klimavergiftung“ oder einer Erschütterung des öffentlichen Klimas, sondern der konkrete, personen- oder gruppenbezogene Schutz der Integrität der verbal Angegriffenen.

816 817 818 819 820 821 822

Roxin, GA 2015, 200. Hörnle, Straftheorien, S. 36 („personenorientierte expressive Straftheorien“). Günther, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 207 ff. Hörnle, in: FS-Roxin II, S. 16. Hörnle, in: FS-Roxin I, 2011, S. 16. Weigend, Rechtswissenschaft 1 (2010), S. 50 ff.; Hörnle, in: FS-Roxin I, 2011, S. 16. Roxin/Greco, AT I, 2020, § 3 Rn. 36a.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Aufgrund dieser Erwägungen und mit Blick auf die expressive Strafzweckkomponente werden in der Vorschrift die legitimen Genugtuungsinteressen der Angriffsobjekte823 anerkannt. Die Minderheitsangehörigen haben ein legitimes Interesse daran, dass die aufhetzende Rede, die ihre objektive und subjektive Sicherheit bedroht, als eine strafbedürftige Rechtsverletzung sanktioniert wird. Dabei geht es nicht um den Schutz ihrer erschütterten Gefühle. Sie haben vielmehr ein Recht darauf, bestätigt zu bekommen, dass die sie angreifende Entmenschlichung durch ein staatliches Unwerturteil festgestellt wird824. Das erwünschte staatliche Unwerturteil stellt gleichzeitig die explizite Stellungnahme des Staates dar, dass die angegriffenen Minderheitsangehörigen von den staatlichen Institutionen als gleichwertig betrachtet werden und einen umfangreichen Schutz genießen. Würde man auf eine Sanktionierung der aufhetzenden Rede verzichten und eine Bedrohung der Sicherheit als unbedeutend würdigen, dann würde diese Unterlassung die Opfer zwangsläufig negativ charakterisieren, indem ihre Sicherheit als ein Belang von sekundärer Natur eingestuft wird. Eine solche Stellungnahme wäre eine mittelbare Bekräftigung des ihnen zugefügten Schadens. Die Anerkennung der legitimen Interessen der Betroffenen schützt also mittelbar das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen. Die expressive Komponente ist daher das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen dem § 130 Abs. 1 StGB und dem § 111 StGB zur öffentlichen Aufforderung zu Straftaten. Im ersten Fall wird nicht eine abstrakte Aufforderung zur Begehung einer rechtswidrigen Tat unter Strafe gestellt. Es handelt sich um ein sanktioniertes Verhalten mit bestimmten Straftatopfern.

XI. Deliktssystematische Einordnung 1. Die Einteilung des § 130 Abs. 1 und 3 StGB im Schrifttum Um kein anderes strafrechtsdogmatisches Thema im Rahmen des Volksverhetzungsparagraphen wird so heftig gestritten wie um die Deliktsnatur des § 130 StGB. Paradoxerweise ist dieses Thema sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung dogmatisch bisher nur lapidar behandelt worden. Zu Recht wird bemerkt825, die Auffassungen zur Deliktsnatur des § 130 StGB decken fast jeden möglichen Standpunkt ab. Ein Teil der Literatur ordnet die Absätze des Volksverhetzungstatbestandes, die eine Eignungsklausel enthalten, den abstrakten Gefährdungsdelikten zu826. Diese 823

Hörnle, in: FS-Roxin I, 2011, S. 14 ff. Wie Roxin im Fall der Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Täter von NS-Verbrechern betont, hat die Klärung der Verantwortlichkeit für die Opfer existentielle Bedeutung, s. Roxin, GA 2015, 200. 825 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 276 ff. 826 Fischer, StGB § 130 Rn. 2a, 13; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 296 ff., 317; Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 86, wobei ihrer Analyse der methodo824

XI. Deliktssystematische Einordnung

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Einteilung wird in Anlehnung an die Friedensklausel begründet827: Die Absätze 1 und 3 setzen voraus, dass die Tat in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Kennzeichnend ist dabei, dass der öffentliche Frieden weder gestört noch konkret gefährdet zu sein braucht; der Tatbestand sei also ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Als konkretes Gefährdungsdelikt wird der Volksverhetzungsparagraph (a. F.) von Gallas eingestuft828. Gallas stellt auf das Tatbestandsmerkmal der Eignungsklausel ab, um die Deliktsnatur des Tatbestandes zu ermitteln. Die Eignungsklausel, führt Gallas aus, sei nicht immer im Sinne einer generellen Gefährlichkeit der inkriminierten Handlung und damit als Hinweis auf das Vorliegen eines abstrakten Gefährdungsdelikts zu verstehen. Sie beziehe sich auf ein der Verletzung unmittelbar zugängliches Rechtsgut, den öffentlichen Frieden, und dürfe nicht von einer bloßen generellen Gefährlichkeit ausgehen, die von den besonderen Tatumständen abstrahiert. Demnach müsse die Eignungsklausel das Gleiche bedeuten wie „in einer Weise, die den öffentlichen Frieden gefährdet“. Daher kommt Gallas zu dem Ergebnis, der § 130 StGB (a. F.) sei als konkretes Gefährdungsdelikt aufzufassen829. Nach anderer Meinung sind die Tatbestände des ersten und dritten Absatzes als „Eignungsdelikte“ im materiellen Sinne einzustufen830; es handele sich also weder um ein konkretes noch um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Eine konkrete Betrachtungsweise bei der Gefahrbeurteilung der Eignungsklausel ist nach Hoyer aus praktischen Gründen unzumutbar, denn die Feststellung, ob bestimmte Äußerungen zu einer Störung des öffentlichen Friedens führen können, ist Gegenstand umfangreicher soziologischer Untersuchungen; diese unüberwindliche Beweisschwierigkeit, meint Hoyer, würde zu völliger Wirkungslosigkeit mangels Praktikabilität führen, was eine restriktive Tatbestandsauslegung erforderlich mache831. Diese zweifelhafte Praxistauglichkeit wird insoweit verringert, als die Eignungsklausel in flexibler Weise von den konkreten Umständen des in Betracht kommenden Sachverhalts abgelöst wird: die Geeignetheit zur Friedenstörung wird nicht nur bei einer konkreten Gefährdung des öffentlichen Friedens infolge der Äußerung bejaht, sondern auch dann, wenn eine konkrete Gefahr anhand von zufälligen, besonderen Umständen (wie einem immunen Adressatenkreis) fehlt. Nach Kindhäuser sind beide Absätze als potenzielle Gefährdungsdelikte ausgestaltet, wobei er diese Kalogische Fehler unterläuft, dass sie zuerst die Deliktsnatur der Absätze ermittelt und danach versucht, die Identität des geschützten Individualrechtsguts zu bestimmen; Lömker, Die gefährliche Abwertung, S. 196 ff. 827 Anders aber Hörnle (S. 303 ff.), die die Eignungsklausel als Eingrenzungsformel erachtet; dazu noch später. 828 Gallas, in: FS-Heinitz, S. 171, 181 f. 829 Diese Feststellung teilen auch Frommel (KJ 1995, 402, 408), Ostendorf (JuS 1982, 426, 428), Fischer (GA 1989, 445, 453) und Weil (Die Aufreizung zum Klassenkampf, 1905, S. 67). 830 Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 142; ders., JA 1990, 183 ff., besonders 186 ff. 831 Hoyer, S. 138; ders., JA 1990, 184.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

tegorie den abstrakten Gefährdungsdelikten zuzuordnen vermag832. Auch nach Hirsch ist der Volksverhetzungsparagraph zwischen den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten angesiedelt833 : es handelt sich um ein konkretes Gefährlichkeitsdelikt, weil weder eine bloße abstrakte Gefährlichkeit noch ein Gefährdungserfolg gefordert wird834.

2. Die Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB in der Rechtsprechung Die Auseinandersetzung der Rechtsprechung mit der Deliktsnatur des ersten und dritten Paragraphen klärt die Diskussion ebenfalls nicht auf. Sie weist in die gleiche Richtung wie das Schrifttum. Im Prinzip wird der Volksverhetzungsparagraph den potentiellen Gefährdungsdelikten835 oder den abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten836 zugeordnet. Zur Einstufung der Vorschrift ist das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens ausschlaggebend837. Nur ausnahmsweise wird sie bei den abstrakten Gefährdungsdelikten angesiedelt838. Ausschlaggebend ist auch in der Rechtsprechung die Funktion der Eignungsklausel zur Ermittlung der Deliktsnatur. Zur Erfüllung des Tatbestandes reiche es aus, dass berechtigte Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern839. Eine tatsächliche Störung des Friedens sei nicht erforderlich. Erforderlich sei hingegen, dass konkrete Tatumstände bei genereller Betrachtung Anlass zu der Befürchtung geben, dass das 832 Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB 2022 § 130 Rn. 3 (Abs. 3 ist ebenso wie Abs. 1 als abstraktes (potenzielles) Gefährdungsdelikt ausgestaltet. Sternberg-Lieben ordnet die Absätze 1 und 3 weiterhin den abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten (Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB § 130 Rn. 1a) zu. Einteilungskriterium sei dabei die Eignungsklausel der beiden Absätze. 833 Wehinger macht sich ebenfalls die Stellungnahme zu eigen, der § 130 StGB verkörpere einen eigenständigen Typ des Gefährdungsdelikts (Kollektivbeleidigung – Volksverhetzung, 1994, S. 105). Sein Ansatz bleibt jedoch unklar (so auch Zieschang, S. 277): einerseits stellt er auf allgemeine Erfahrungsberichte zur Feststellung der Störungseignung ab (S. 112 f.), andererseits greift er zur Prüfung der Störungstendenz auf das konkrete Tatgeschehen (S. 114) zurück. Die Deliktsnatur des Paragraphen bleibt am Ende vage. 834 Hirsch, in: Strafrechtliche Probleme: Schriften aus drei Jahrzehnten, 1999, S. 575. 835 OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76; AG Linz, Urteil vom 26. 8. 1996 – 2101 Js 17375/93 Ds; KG Berlin, Urteil vom 20. 8. 1997 – (5) 1 Ss 156/96 (41/96); BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 626; OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 455. 836 Zum § 130 Abs. 3 StGB: BVerwG, Urteil vom 5. 8. 2009 – 6 A 3/08; LG Regensburg, Urteil vom 23. 9. 2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III-1 RVs 66/15; BGH, Beschluss vom 3. 5. 2016 – 3 StR 449/15, NStZ 2017, 147 (wobei die zwei Termini „potentiell“ und „abstrakt-konkret“ in alternativer Weise ausgeführt werden). 837 BGH, Beschluss vom 3. 5. 2016 – 3 StR 449/15, NStZ 2017, 147. 838 Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19. 9. 2009 – 3 M 155/09; OLG Celle, Beschluss vom 27. 10. 2017 – 1 Ss 49/17. 839 OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76.

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Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert werde840. Nach anderer Auslegung der Eignungsklausel reicht es lediglich aus, wenn die in Betracht kommende Äußerung geeignet sei, die latent vorhandene Gewaltbereitschaft gegenüber Teilen der Bevölkerung zu vertiefen841. Es darf freilich nicht die Anmerkung des OLG Hamm außer Acht bleiben842, bei der Eignungsklausel handele es sich um eine „Wertungsklausel zur Ausscheidung nicht strafwürdiger erscheinender Fälle“. Der BGH hat sich ausführlicher mit der Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB in seinem Urteil vom 12. Dezember 2000 befasst843. Auch dort heißt es, mit der Eignungsformel werde die Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 und 3 StGB zu einem abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt. Teilweise nenne sich diese Deliktsform „potentielles Gefährdungsdelikt“. Die Deliktsbezeichnung sei von untergeordneter Bedeutung. Es handele sich auf jeden Fall um eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte. Für die Eignung zur Friedensstörung sei deshalb der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht erforderlich. Es wird allerdings vom Tatrichter die Prüfung verlangt, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung gefahrengeeignet sei. Gemeint ist hiermit eine konkrete Eignung zur Friedensstörung; sie dürfe nicht nur abstrakt bestehen und müsse, wenn auch aufgrund generalisierender Betrachtung, konkret festgestellt werden. Deshalb bleibe der Gegenbeweis der nicht gegebenen Eignung zur Friedensstörung im Einzelfall möglich. Für die Eignung zur Friedensstörung genüge es danach, dass berechtigte, konkrete Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern. 3. Kritische Einschätzung Aus diesem Überblick wird deutlich, dass hinsichtlich der Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB eine flagrante Meinungsverschiedenheit herrscht. Dies sollte allerdings angesichts der gravierenden Mängel in den Argumentationslinien von Theorie und Rechtsprechung kaum überraschen. Zunächst fällt die Abwesenheit einer Begründung der jeweiligen Zuordnung zu der entsprechenden Deliktskategorie auf. Die Zuordnung wird nahezu postuliert; und wenn sie überhaupt begründet wird, bleibt diese Begründung unklar. Die Behauptung etwa des Bundesgerichtshofs, die Deliktsbezeichnung sei von untergeordneter Bedeutung, kann nicht ohne weiteres 840 OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 455 (es reicht die Herbeiführung einer „entfernten Gefahr für die allgemeine Rechtssicherheit oder das Friedensgefühl der Bevölkerung zur Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmales“ aus, „ohne dass eine tatsächliche Störung des Friedens erforderlich ist“). 841 Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19. 9. 2009 – 3 M 155/09; anders BVerwG, Urteil vom 5. 8. 2009 – 6 A 3/08 in Bezug auf 130 Abs. 3 StGB (Eignung zur Vergiftung des politischen Klimas und damit zur Gefährdung des öffentlichen Friedens). 842 OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III-1 RVs 66/15. 843 BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 626.

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angenommen werden. Die Zuordnung zu den entsprechenden Deliktskategorien ist keine rein theoretische Diskussion ohne jede praktische Bedeutung. Der Gefahrbegriff kommt in völliger Verkennung der gesamten Strafrechtsdogmatik nicht genauer in Betracht. Jede Gefahr muss nämlich in Zusammenhang mit einem bedrohten Rechtsgut gesehen werden844. Die Zuordnung des § 130 Abs. 1 und 3 StGB und jedes anderen Tatbestandes in die entsprechende Deliktskategorie setzt zunächst voraus, dass das geschützte Rechtsgut der Vorschrift ermittelt worden ist. Sodann folgt aus der richtigen Deliktsbezeichnung die richtige Anwendung der Vorschrift. Denn dann hat der Richter nicht nur das Schutzgut der Norm bestimmt, sondern auch die Frage beantwortet, ob im konkreten Fall das Vorliegen einer Gefahr, die Gefährlichkeit einer Handlung oder die Möglichkeit der Herbeiführung einer Gefahr zu prüfen ist. Darüber hinaus liegt auch für die Aussage, es handele sich bei den potentiellen Gefährdungsdelikten um eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte845 keine Begründung vor. Der BGH gibt sich der willkürlichen Annahme hin, dass die in Betracht kommende Vorschrift schon deswegen zwangsläufig ein abstraktes Gefährdungsdelikt sein soll, weil kein Eintritt einer konkreten Gefahr erforderlich ist. Diese Annahme verkennt die besonderen Merkmale der Gefährdungsstruktur, die zwischen den konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten liegt. Noch emphatischer sind die Einwände in Bezug auf die Gefahrgeeignetheit. In der Rechtsprechung findet sich die Formulierung: Der Eintritt einer konkreten Gefahr sei zwar „nicht erforderlich“846. Notwendig sei allerdings eine „konkrete Eignung zur Friedensstörung“, die bei „genereller Betrachtung“ geprüft werden solle847. Abstrakt dürfe diese also nicht bestehen; sie müsse aufgrund generalisierender Betrachtung festgestellt werden. Es reicht die Herbeiführung einer entfernten Gefahr für die allgemeine Rechtssicherheit oder das Friedensgefühl der Bevölkerung848. Was darunter zu verstehen ist, bleibt unklar: Was bedeutet „Eignung“? Ist darunter eine abstrakte Tendenz zu verstehen? Oder ist eine konkrete Gefahr anhand von generalisierenden Maßstäben gemeint? Und falls ja, was bedeutet das überhaupt? Die Ungeeignetheit dieser Terminologie liegt auf der Hand. Sie versucht, unscharfe Begriffe zu kombinieren und ins Spiel zu bringen. Das Ergebnis dieser Kombination ist verwirrend. Statt dem Richter zu helfen, greift diese Herangehensweise auf eine vage Mischung einer generalisierenden Betrachtung des Einzelfalles zurück, die die Frage der Deliktsbezeichnung offenlässt. Diese Frage wird umso mehr durch eine Reihe von weiteren Einwänden zugespitzt: 844

Zieschang, in: FS-Wolter, S. 569. Zieschang, in: FS-Wolter, S. 569. 846 BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 626. 847 BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 626. 848 OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 455; OLG Nürnberg, Beschluß vom 23. 6. 1998 – Ws 1603 – 97, NStZ-RR 1999, 240; OLG Celle, Urteil vom 16. 7. 1970 – 1 Ss 114/70, 2257; OLG Hamburg, Urteil vom 18. 2. 1975 – 2 Ss 299/74, NJW 1975, 1089. 845

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Man darf das nach herrschender Meinung der Theorie und Rechtsprechung geschützte Rechtsgut nicht außer Acht lassen, das von dieser „generalisierenden Einzelfallbetrachtung“ betroffen wird, nämlich den öffentlichen Frieden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es sich beim öffentlichen Frieden um einen äußerst vagen Begriff handelt. Soll man zusätzlich die – kaum messbare – Eignung zur Störung des Gegenstands dieses abstrakten Begriffs unter die Lupe nehmen, dann wird die Vagheit der Strafnorm umso größer. Die sich in Rechtsprechung und Theorie zeigenden Meinungsverschiedenheiten sind aber hauptsächlich auf den Wortlaut des Gesetzes zurückzuführen, insbesondere der Eignungsklausel. Die uneinheitliche Einordnung bald zu den konkreten, bald den abstrakten oder den potentiellen Delikten liegt daran, dass die Eignungsklausel als entscheidendes Kriterium für die Einstufung in die entsprechende Deliktsgruppe fungiert. Je nachdem, wie die Eignungsklausel ausgelegt wird, wird der Tatbestand eingestuft. Versteht man nämlich unter der „Eignung zur Friedensstörung“ eine konkrete Gefahr für den öffentlichen Frieden, dann wird der § 130 Abs. 1 und 3 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt bezeichnet. Legt man andererseits die Eignungsklausel als eine abstrakte Eigenschaft der Handlung aus, dann gilt entsprechend die Vorschrift als abstraktes oder potentielles Delikt. Weiterhin findet sich auch die Auffassung, nach der die sogenannten Eignungsdelikte eine eigenständige Deliktskategorie darstellen. Zum Zwecke also der Ermittlung der Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB ist die Erörterung einzelner Fragestellungen geboten. Erstens, bedarf das Tatbestandsmerkmal der Störungseignung einer weiteren Diskussion. Dient es zu Recht als Kriterium für die Deliktsbezeichnung? Oder soll durch die Eignungsklausel eine andere Funktion bedient werden? Falls ja, was bedeutet das für die Eignungsdelikte im formellen Sinne? Und was bedeutet das letztendlich für den § 130 Abs. 1 und 3 StGB? 4. Die Eignungsklausel als Korrektiv Die Funktion der Eignungsklausel im Volksverhetzungsparagraphen klärt ein Blick in die Niederschriften849 auf. Die restriktive Funktion ist im Rahmen der Diskussion von primärer Bedeutung. So lesen wir, es sei unmöglich, dieses Merkmal aus dem Tatbestand zu streichen, wenn man nicht zu einer uferlosen Weite kommen wolle850. Denn striche man die Eignungsklausel, schüfe man ein qualifiziertes Beleidigungsdelikt851, das den Tatbestand verfälschen würde852. Die Eignungsklausel des zur Abstimmung vorgelegten Paragraphen sei also ein Korrektiv853, welches zum 849 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 13. BT, 2. Lesung, 1960, S. 118 ff. 850 Niederschriften, S. 123 (Schafheutle). 851 Ebenda, S. 120 (Dreher). 852 Ebenda, S. 123 (Schafheutle). 853 Ebenda, S. 124 – 125 (Bockelmann).

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Ausdruck bringe, dass es sich um Handlungen von besonderer Erheblichkeit handele. Dadurch würden allerintimste Äußerungen aus dem Bereich der Strafbarkeit ausgenommen. Es handelt sich also um eine Modalität des Handelns854. Die Eingangsworte „in einer Weise“ sind so gemeint, dass sowohl die Art und Umstände der Handlung855 als auch der Inhalt der Äußerung selbst bei der Prüfung der Frage heranzuziehen sind, ob die Handlung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören856. Zu berücksichtigen sind auch die Form, das Umfeld der Äußerung, die Stimmungslage der Bevölkerung und die politische Situation857. Die mögliche Verbreitung der Äußerung in der Bevölkerung ist dabei ebenfalls maßgebend858. Zur Bejahung einer Eignung zur Friedensstörung kann es weiterhin genügen, wenn nach den konkreten Umständen und auch bei Kenntnisnahme durch eine beschränkte Öffentlichkeit damit zu rechnen ist, dass der Angriff einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird859. Dazu genügt die Aufhetzung eines aufnahmebereiten Publikums860. Eine Eignung zur Friedensstörung ist bejaht worden unter anderem bei der Bezeichnung einer Person als Affen861, beim Singen des sog. U-Bahn Liedes in der Öffentlichkeit862 und dem aufhetzenden Auschwitzleugnen. In Übereinstimmung mit dem historischen Willen des Gesetzgebers beurteilt die Rechtsprechung die Eignungsklausel als ein Korrektiv. Die Erfüllung der anderen Tatbestandsmerkmale begründe bereits die Strafbarkeit, bei deren Erfüllung ebenfalls eine Störung des öffentlichen Friedens – oder eine Eignung dazu – vermutet werden kann863. Die Eignungsklausel bestimme also kein strafbegründetes Tatbestandsmerkmal, sondern eine „Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwürdig

854

Ebenda, S. 125 (Schafheutle). OLG Köln, Urteil vom 11. 11. 1981 – 3 Ss 704/81, NJW 1982, 657. 856 DB-Drs. 2150. Auf die Restriktionsfunktion der Eignungsklausel weist auch der Entwurf zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI vom 1. 10. 2010 (Drs. 17/3124, S. 8) hin. BGH, Urteil vom 11. 7. 1979 – 3 StR 165/79 (S). 857 OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 5. 2009 – 2 Ss 1014/09, NStZ 2010, 455; OLG Hamm, Beschluss vom 11. 2. 2010 – 2 Ws 323/09. 858 OLG Koblenz, Urteil vom 11. 11. 1976 – 1 Ss 524/76; BGH, Urteil vom 11. 7. 1979 – 3 StR 165/79 (S). 859 BGH, Urteil vom 20. 6. 1979 – 3 StR 131/79 (S), NJW 1979, 1992; BGH, Urteil vom 14. 1. 1981 – 3 StR 440/80 (S), NStZ 1981, 258; OLG Köln, Urteil vom 11. 11. 1981 – 3 Ss 704/ 81, NJW 1982, 657; KG Berlin, Urteil vom 26. 11. 1997 – (5) 1 Ss 145/94 (30/94); OLG Nürnberg, Beschluss vom 23. 6. 1998 – Ws 1603/97, NStZ-RR 1999, 239. 860 OLG Hamm, Beschluss vom 10. 9. 2013 – 3 Ws 259/13. 861 AG München, Urteil vom 19. 5. 2015 – 844 Ds 111 Js 132270/15. 862 OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III-1 RVs 66/15. 863 BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 54; OLG Hamm, Beschluss vom 1. 10. 2015 – III-1 RVs 66/15. 855

XI. Deliktssystematische Einordnung

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erscheinender Fälle“864. Sie erlaubt es damit insbesondere, auch grundrechtlichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen. Allerdings bedarf es weiterer Erörterung, ob die strafbarkeitseinschränkende Eignungsklausel dieser Funktion gerecht wird865. Um eine restriktive Rolle zu übernehmen, soll das Tatbestandsmerkmal dem Angriffsobjekt einen konkreten Schaden zufügen. Beim Tatbestandsmerkmal der Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, erweist sich diese Funktion als problematisch. Zunächst wird diese Eignung zur Friedensstörung oft nicht begründet: Bei einer antisemitischen Hetzschrift, heißt es im Urteil des BGH vom 21. April 1961, bedürfe die Bejahung der Eignung zur Friedensstörung nach den geschichtlichen Erfahrungen keiner weiteren Begründung866. Überdies sollte man die vage Deutung des Friedensbegriffs beachten. Wie bereits erörtert, verstehen Rechtsprechung und Schrifttum unter dem Begriff einen Zustand von Rechtssicherheit und das Bewusstsein der Bevölkerung von diesem Zustand867. Mit anderen Worten: Der öffentliche Frieden umschreibt die objektive Gesichertheit der Rechtsgüter der Individuen und des Staates sowie das Gefühl dieser Gesichertheit. Es liegt nahe, dass dieser Begriff keine gesetzgebungskritische Rechtsgutsqualität aufweist. Der Rückgriff auf den öffentlichen Frieden zur Legitimation einer Vorschrift ist nämlich eine sehr „bequeme“ Lösung, denn seine Störung besteht in einem Verstoß gegen beliebige Strafrechtsnormen868. Jedes denkbare Verhalten kann insofern als strafwürdig gerechtfertigt werden. Ein solcher Legitimationsversuch setzt der gesetzgeberischen Willkür keine Grenzen. Der Schutz des öffentlichen Friedens ist demnach ein „Schutz des Strafrechts durch das Strafrecht“869. Entsprechendes gilt für die Funktion der Eignungsklausel. § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB lässt sich wie folgt reformulieren870 :

864 Payandeh, JuS 2015, 699; BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 54. 865 Kritisch dazu BGH, Urteil vom 11. 1. 2018 – 3 StR 427/17, NJW 2018, 1894, der die Eignungsformel nicht als Wertungsformel, sondern als ein „ungeschriebenes, durch konkrete Feststellungen auszufüllendes Tatbestandsmerkmal“ versteht. Denn die Annahme einer reinen Wertungsklausel zur Ausscheidung nicht strafwürdiger Fälle, so der BGH, stieße „auf grundsätzliche Bedenken, da die Entscheidung darüber, welches Verhalten strafwürdig ist, von Verfassungs wegen nicht der Rechtsprechung überlassen, sondern dem Gesetzgeber vorbehalten ist.“ 866 BGH, Urteil vom 21. 4. 1961 – 3 StR 55/60; ähnlich BGH, Urteil vom 25. 7. 1963 – 3 StR 4/63, NJW 1963, 2034; BGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – 4 StR 283/05, NStZ-RR 2006, 306; OLG München, Urteil vom 2. 10. 2014 – 4 OLG 14 Ss 413/14. 867 B.IV.1. 868 Fischer, GA 1989, 451. 869 Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 28. 11. 1984, 1985. 870 Die Reformulierung findet sich in Fischer, GA 1989, 449, der ebenfalls betont, dass eine Gefahrmaßbestimmung anhand der so umschriebenen Eignungsformel nicht mehr funktioniert.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Wer, in einer Weise, die geeignet ist, gegen irgendeine Strafvorschrift zu verstoßen, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Durch diese Reformulierung merkt man, dass die vorliegende Eignung keine sinnvolle Strafbarkeitseinschränkung erfüllt. Jedes strafbare Verhalten verstößt gegen eine Strafvorschrift. Diese Eignung wird daher stets erfüllt und kann nicht restriktiv wirken. Es gelingt ihr also nicht, aus einer Menge strafrelevanter Fälle, diejenigen Handlungen auszuschließen, die dieses konkrete Merkmal nicht aufweisen. Ganz im Gegenteil hat diese abstrakte Eignungsklausel zur Strafbarkeitsausdehnung geführt. Sie verschiebt die Aufmerksamkeit von der Beeinträchtigung des Rechtsgutsobjektes durch die beschriebenen Handlungen auf den öffentlichen Frieden. Somit gerät die Wirkung auf das geschützte Rechtsgut der Vorschrift in den Hintergrund. Sowohl die unverständliche Wortauswahl, auf welche zur Prüfung der Störungseignung zurückgegriffen wird, als auch die Vagheit des Friedensbegriffes macht die Antwort auf diese Frage von den persönlichen Ansichten des Richters abhängig, der in mehreren Fällen auf eine Begründung der Störungseignung verzichtet. Wandelt man die Eignung zur Friedensstörung vom Tatbestandsmerkmal in den Strafgrund des Tatbestandes um, dann wird dem Tatbestand eine uferlose Legitimation verliehen, die den strafrechtlichen Eingriff zum Selbstzweck macht. 5. Gefahrmaßbestimmung durch die Eignungsklausel Nach herrschender Meinung im Schrifttum und in der Rechtsprechung ist die Eignungsklausel maßgebend für die Deliktsbezeichnung. Das Merkmal der Eignung soll die Art der Gefahr bestimmen, derentsprechend der Tatbestand eingestuft werden soll. Auch diese Funktion wird in den Niederschriften besonders heftig kritisiert. Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, bedeute871 die Gefahr, den Frieden zu gefährden. Dient also in diesem Fall die Eignung der Handlung zur Bestimmung der Gefahr, dann liegen gleichzeitig zwei widersprüchliche Gefahrbegriffe vor: einerseits der sonst verwendete Gefahrbegriff, der als nahe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts verstanden wird; andererseits die Eignung der Handlung i.S. einer ganz entfernten Wahrscheinlichkeit der Störung. Es entsteht also ein uneinheitliches Verständnis des Gefahrbegriffs, der in den unterschiedlichen Deutungen auffällt872. Die Bedenken gegen diese Formulierung und die Funktion der 871

Niederschriften, S. 125 (Dreher). Dieses Anliegen erkennt auch Gallas, der trotzdem die Hinzufügung der Eignungsklausel befürwortet. Es werden zwar zwei Gefährdungen aufeinandergestockt, „aber doch von 872

XI. Deliktssystematische Einordnung

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Eignungsklausel liegen auf der Hand. Die Eignungsklausel, die eine Modalität der Handlung zum Zwecke der Strafbarkeitseinschränkung zu beschreiben vermag, wandelt sich von einem abstrakten, subjektiv auslegbaren Korrektiv zum zentralen Gefahrmaßbestimmungskriterium des Tatbestandes. Diese dogmatische Verlagerung bleibt nicht wirkungslos. Die Erörterung der Frage, ob die Handlungen des § 130 Abs. 1 StGB den öffentlichen Frieden beeinträchtigen, lässt die Frage ungeklärt, was die wahren Auswirkungen der Handlungen auf die Angriffsobjekte sind; namentlich bleibt somit unbeantwortet, wie die in Betracht kommenden Handlungen die freie Persönlichkeitsentfaltung, die persönliche Sicherheit und die Freiheit von Furcht der angegriffenen Minderheiten beeinflussen. Insbesondere bleibt die Frage unerörtert, weshalb eine pauschale Deliktsbezeichnung anhand der Eignungsklausel erfolgen soll. Stellt man, so wie es die Rechtsprechung und die Literatur machen, ausschließlich auf die Eignungsklausel zur Deliktsbezeichnung ab, so verlieren die betreffenden Handlungsvarianten ihre Konturen. Die Varianten der Aufstachelung zum Hass, der Aufforderung zu Gewalt und der Verleumdung einer Minderheit werden durch die Eignungsklausel pauschal betrachtet. Im Mittelpunkt steht letztendlich die Frage, ob der öffentliche Frieden tangiert wird. Die Nuancen der verschiedenen Handlungsvarianten und ihre Auswirkungen auf das Angriffsobjekt bleiben im Lichte dieser Herangehensweise zweitrangig oder werden sogar übersehen. Geprüft wird also nicht, wie sich jede einzelne Handlungsvariante auf die angegriffene Minderheit auswirkt. Sie werden unter die allgemeine Bezeichnung „Volksverhetzung“ subsumiert und pauschal betrachtet. Diese pauschalisierende Subsumtion verhindert die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit jedes einzelne tatbestandsmäßige Verhalten eine Kausalkette von einzelnen Faktoren in Gang setzt, die den friedlichen Zustand der geschützten Rechtsgüter beeinträchtigt. Stattdessen wird durch die Eignungsklausel das Verhältnis zwischen Handlung und Angriffsobjekt verkannt. Das führt zum Ergebnis, dass die als Gefahrmaßkriterium verstandene Modalität ein doppeltes Gefahrverständnis in den Vordergrund stellt. Es lässt sich also feststellen, dass die Eignungsklausel ein unzulässiges Kriterium zur Deliktsbezeichnung verkörpert. 6. Die „Eignungsdelikte“ in der Theorie a) Die Ansicht Schröders Nach Schröder sind die Tatbestände mit einer Eignungsklausel überwiegend konkrete Gefährdungsdelikte.873 Seinen Unterscheidungskriterien zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten zufolge obliege die Entscheidung über verschiedenem Sinn. Die Eignung bedeutet doch allenfalls eine Gefahr im weiteren Sinne, aber doch nicht eine konkrete Gefahr im Sinne der nahen Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts, die wir mit unserem Gefahrbegriff meinen“. 873 Schröder, JZ 1967, 522.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

die Gefährlichkeit der Handlung dem Richter874, der sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen habe. Der Gesetzgeber verzichte auf die abstrakte Formulierung von Kriterien für die Gefährlichkeit bestimmter Handlungen und übertrage diese Aufgabe dem Richter, um den Bedürfnissen individueller Gerechtigkeit vermittels des Richters, der die Umstände des Einzelfalles vor Augen habe, besser Rechnung zu tragen875. Würde man den Richter daran binden, bei der Beurteilung des Einzelfalles nur solche Umstände zu berücksichtigen, die als generell gefährlich erscheinen, bedeutete dies einen Rückschritt. Schröder deutet aber noch auf eine weitere Deliktsgruppe hin, nämlich eine echte Kombination von abstrakten und konkreten Gefährdungselementen, die die Deliktsgruppe der „abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten“ bildet.876 Diese liege dann vor, wenn der Gesetzgeber wegen der Unmöglichkeit, die Voraussetzungen der Gefahr selbst abschließend zu bestimmen, die Entscheidung zwar dem Richter überlasse, durch die Fassung seines Tatbestandes aber zu erkennen gebe, dass bei der Entscheidung nicht die konkrete Situation maßgeblich sei, sondern generelle Maßstäbe anzulegen seien.877 Dies gelte insbesondere dort, wo Tatbestandsmerkmal die Eignung zur Herbeiführung schädlicher Erfolge sei, ohne dass durch nähere Kennzeichnung die Angriffsrichtung der Tat gegen bestimmte individuelle Schutzobjekte festgelegt wäre878. Um ein konkretes Gefährdungsdelikt handele es sich insofern, als die Voraussetzungen der Gefährlichkeit nicht vom Gesetz festgelegt seien, sondern vom Richter im Einzelfall festgestellt werden müssten.879 Da jedoch das Gesetz von jeder Kennzeichnung der konkreten Situation, in der die Gefahr auftreten könne, absehe, müsse der Richter prüfen, ob Handlungen dieser Art allgemein als geeignet erscheinen, schädliche Erfolge hervorzurufen, also ohne im Hinblick auf eine bestimmte individuelle Situation zu entscheiden880. Die Gefährlichkeit sei demzufolge vom Richter im Einzelfall festzustellen, dabei seien aber ausschließlich generelle Maßstäbe anzulegen. b) Kritik an Schröders Ansatz Der Ausgangspunkt der Kritik an Schröders Überlegungen besteht in seiner These, dass sich die konkreten Gefährdungsdelikte dadurch auszeichnen, dass die „Entscheidung über die Gefährlichkeit der Handlung nicht vom Gesetzgeber getroffen ist, sondern dem Richter obliegt“881. Dieses Abgrenzungskriterium führt 874 875 876 877 878 879 880 881

Schröder, JZ 1967, 522. Schröder, JZ 1967, 523. Schröder, ZStW 81 (1969), S. 22, 27. Schröder, ZStW 81 (1969), 22. Schröder, JZ 1967, 525. Schröder, ZStW 81 (1969), 22. Schröder, ZStW 81 (1969), 22. Schröder, ZStW 81 (1969), 17.

XI. Deliktssystematische Einordnung

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allerdings zu einer Verwirrung der Deliktskategorien. Entgegen dieser Auffassung ist maßgebendes Kriterium für die Deliktsbezeichnung, ob die Gefahr ein Tatbestandsmerkmal ist (konkretes Gefährdungsdelikt)882, oder ob die Gefahr das gesetzgeberische Motiv des Tatbestandes darstellt (abstraktes Gefährdungsdelikt)883. Durch das in Rede stehende Kriterium verlieren beide Kategorien ihre Konturen, denn in beiden Fällen ist erforderlich, dass die Gefährlichkeit vom Richter festgestellt wird. Bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt soll der Richter das typischerweise gefährliche Verhalten feststellen, das bestraft wird und im konkreten Fall ungefährlich sein mag. Die erforderliche Feststellung des Richters wandelt in diesem Fall das als abstraktes Delikt inkriminierte Verhalten nicht zu einem konkreten Gefährdungsdelikt um. Entsprechendes gilt für ein konkretes Gefährdungsdelikt. Es wird nicht dieser Kategorie angesiedelt, weil der Richter die Gefahr feststellen muss, sondern weil diese als Tatbestandsmerkmal beschrieben wird. In diesem Einwand, der im Weiteren das Konzept Schröders zu den Gefährdungsdelikten zusammenfasst, besteht der wichtigste Kritikpunkt am Konzept der abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte, so wie diese von Schröder erfasst werden. Das von Schröder als konkretes Element beschriebene Erfordernis, dass dem Richter die Entscheidung überlassen werde884, ist tatsächlich nicht maßgebend. Bei der von Schröder entwickelten Kategorie handelt es sich im Wesentlichen um eine Variante eines abstrakten Gefährdungsdeliktes: ein typischerweise gefährliches Verhalten, bei dem ein Gegenbeweis anhand von generellen Maßstäben möglich ist. Weiterhin wird der Ansatz Schröders in bezug auf das Kriterium der „generellen Maßstäbe“ kritisiert. Diese Maßstäbe, die anzulegen seien, um von gewissen Umständen des Einzelfalls zu abstrahieren885, bleiben vage. Welche Umstände berücksichtigungsfähig sind, lässt Schröder offen886. Auch die Zuordnung eines Teils von Schröders „Eignungsdelikten“ zu den konkreten Gefährdungsdelikten ist nicht unproblematisch. Maßgebend ist für Schröder die Eignungsklausel, die ein gefährliches Verhalten umschreibe und vom Richter festgestellt werden müsse887. Die Aufspaltung der Eignungsdelikte in konkrete oder abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte wird nicht hinreichend begründet. Die missverstandene Rechtsnatur der konkreten Gefährdungsdelikte bildet ein unzureichendes Einteilungskriterium. Die vagen „generellen Maßstäbe“ verschärfen die Frage der Deliktsbezeichnung vielmehr. Unerörtert bleibt auch die Rolle der Eignungsklausel innerhalb des Tatbestands. Nicht beantwortet bleibt weiterhin die Frage, warum das Tatbestandsmerkmal der Eignung als maßgebendes Kriterium für 882 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 15; Radtke, Die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte, 1998, S. 282; Ostendorf, JuS 1982, 426. 883 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 11 Rn. 153. 884 Schröder, ZStW 81 (1969), 525; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 171. 885 Schröder, ZStW 81 (1969), 522. 886 Wehinger, Kollektivbeleidigung-Volksverhetzung, 1994, S. 111. 887 Schröder, ZStW 81 (1969), 522.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

die Zuordnung des Tatbestands zu der entsprechenden Deliktskategorie dienen soll. Insgesamt liefert Schröders Ansatz keine überzeugende Behandlung der Tatbestände mit einer Eignungsklausel. c) Die Auffassung von Gallas Gallas befasst sich mit einer Kategorie von Tatbeständen, welche die Eignung einer Sache oder Handlung, bestimmte Erfolge herbeizuführen, als Tatbestandsmerkmal besitzen. In Auseinandersetzung mit Schröders Analyse lehnt Gallas die Ansiedlung der Tatbestände mit Eignungsklausel als Mischtypus zwischen den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten ab. Gallas vertritt die Ansicht, der Gesetzgeber habe mit den Tatbeständen mit einer Geeignetheitsformel eine generelle Gefährlichkeit der Tat zum Tatbestandsmerkmal gemacht888. Diese Tatbestände erscheinen somit als eine zweite, von der herkömmlichen nur der Form nach unterschiedene Spielart des abstrakten Gefährdungsdelikts889. Diese Spielart bedürfe aber weiterer Präzisierung: denn sobald die generelle Gefährlichkeit der Tat nicht mehr nur das gesetzgeberische Motiv für die Pönalisierung eines bestimmten Verhaltens bilde, sei die übliche Begriffsbestimmung des abstrakten Gefährdungsdelikts zu eng. Obliege es dem Richter, die generelle Gefährlichkeit der Tat als Maßstab für die Subsumtion der konkreten Tat unter den Tatbestand zu prüfen, dann rückten abstraktes und konkretes Delikt begrifflich näher aneinander890. Die Besonderheit dieser Tatbestände bestehe also darin, dass die generelle Gefährlichkeit im Wege einer ausfüllungsbedürftigen Wertformel vom Richter festzustellen sei. Die generelle Gefährlichkeit liege also darin, dass die Verletzung einer bestimmten Rechtsgutsart zu befürchten sei. Der Richter habe bei der hier besprochenen Spielart des abstrakten Gefährdungsdelikts zwar die Gefährlichkeit der individuellen Handlung zu beurteilen, dabei aber einen generalisierenden Maßstab im Sinne eines ex post generellen Gefährlichkeitsurteils anzuwenden891. Das ex post verifizierbare objektive Tatbestandsmerkmal verweise insofern auf einen „potentiellen“ Erfolgs- oder Gefährdungsunwert der Handlung. Nach Gallas aber sind die Tatbestände mit Eignungsformel nicht pauschal als abstrakte Gefährdungsdelikte eigener Art zu beurteilen892. Bei den als Gegenbeispiel erwähnten §§ 130, 166 StGB werde als Objekt möglicher Schädigung nicht die Rechtsgutsart, sondern das der Verletzung unmittelbar zugängliche individuelle Rechtsgut genannt893. In diesem Fall liege den vorgeführten Beispielen keine generelle Gefährlichkeit zugrunde: die Eignungsklausel lasse sich umschreiben mit „in 888 889 890 891 892 893

Gallas, in: FS-Heinitz, 1972, S. 174. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 175. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 175. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 181. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 181. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 182.

XI. Deliktssystematische Einordnung

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einer Weise, die den öffentlichen Frieden gefährdet“, und daher handele es sich um konkrete Gefährdungsdelikte. d) Kritik am Gallas’schen Ansatz Wie Hoyer treffend bemerkt894, ist das von Gallas postulierte Kriterium für die Unterscheidung zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten willkürlich. Es ist also nicht nachvollziehbar, weshalb es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt handelt, wenn ein konkretes Rechtsgut beeinträchtigt wird, und ein abstraktes Gefährdungsdelikt vorliegt, wenn es nur eine Rechtsgutsart tangiert. Denn eine konkrete Betrachtung wäre auch bei der Nennung einer Rechtsgutsart möglich. Das Abgrenzungskriterium von Gallas erweist sich als Verlegenheit. Die Ungeeignetheit seines Ansatzes, den Deliktstypus der „Eignungsdelikte“ im formellen Sinne zu bestimmen, manifestiert sich besonders anhand des § 130 StGB. Das Objekt möglicher Schädigung in diesem Fall sei das „der Verletzung unmittelbar zugängliche individuelle Rechtsgut“, so dass es sich um ein konkretes Gefährdungsdelikt handele895. Die Bezeichnung des § 130 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt anhand des Gallas’schen Abgrenzungskriteriums überzeugt aus mehreren Gründen nicht. Gallas greift auf die in Rechtsprechung und Theorie herrschende Methodologie zurück und erklärt das Wirkungsobjekt der Eignungsklausel zum Rechtsgut der Vorschrift. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Herangehensweise die anderen Tatbestandsmerkmale unerörtert lässt, ist sein Ansatz im Fall des öffentlichen Friedens schwer anzuwenden. Die Zuordnung des Begriffes ist unklar: es handelt sich weder um eine Rechtsgutsart noch um ein Einzelrechtsgut896. Ebenso wenig überzeugend erweist sich der Eignungsbegriff seines Ansatzes. Die generelle Gefährlichkeit des Verhaltens, auf die die Eignung hinweist, umfasst gleichzeitig „individuelle Umstände des Opfers“, die generalisierend betrachtet werden müssen897. Auch wenn Gallas Schröders Mischtypus ablehnen will, tendiert seine Betrachtungsweise dazu, das abstrakte Terrain zu verlassen und auf konkrete Maßstäbe zurückzugreifen. Wie sich die individuellen Maßstäbe und die generalisierende Betrachtung harmonisieren lassen, bleibt dabei unerklärt898. Die Linie „zwischen Abstraktion und Konkretion, zwischen Individualisierung und Generalisierung bleibt allzu vage“899. Festzuhalten ist also: sowohl das Abgrenzungskriterium als auch das Verständnis des Eignungsmerkmales liefern keine zufriedenstellende Lösung. 894 895 896 897 898 899

Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 27. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 182. Wehinger, Kollektivbeleidigung-Volksverhetzung, 1994, S. 112. Gallas, in: FS-Heinitz, S. 182. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 168. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 26.

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B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

e) Hoyers Eignungsdelikte Eine eingehende Untersuchung der Tatbestände, die eine Eignungsklausel enthalten, hat Hoyer durchgeführt. Nach Hoyer stellen die Eignungsdelikte im formellen Sinne zugleich auch eine dogmatisch eigenständige Deliktskategorie dar. Den Geeignetheitsbegriff leitet er aus den Merkmalen eines Gefährdungserfolgs ab, dessen erstes Element das Vorliegen eines verletzungsursachentauglichen Sachverhaltens sei. Weiterhin wird vorausgesetzt, dass verletzungsverhindernd wirkende Negationsfaktoren fehlen900. Auf das dritte Merkmal des Begriffs der konkreten Gefahr wird aber verzichtet. Es wird weder eine akute Betroffenheit eines individuellen Wirkungsobjekts (Vorhandensein einer unmittelbaren Nähebeziehung zwischen Gefahrenquelle und betroffenem Objekt)901 noch eine konkrete Betroffenheit eines individuellen Wirkungsobjekts (Anwesenheit eines für den Vollzug der Wirkung aufnahmebereiten Objekts am Ende einer Kausalkette)902 gefordert. Geeignet, sagt Hoyer, ist eine Tathandlung zur Herbeiführung des Bezugssachverhalts, wenn ihr eine Fahrlässigkeitsvermittlungsfähigkeit zukommt903. Diese ist nicht nur in Fällen zu bejahen, bei denen die in Betracht kommende Tathandlung zu keiner konkreten Gefahr für das Opfer geführt hat, sondern auch, wenn die Tathandlung eine Gefahrenquelle geschaffen hat, ohne dass deren Wirkungslosigkeit im Hinblick auf ihre adäquaten Wirkungsobjekte vom Täter hinreichend sichergestellt wurde904. f) Kritik an Hoyers Ansatz Hoyers Ausgangspunkt, Tatbestände mit einem Geeignetheitsmerkmal bildeten eine eigenständige Deliktsgruppe, wird als zu positivistisch kritisiert905. Dem Prinzip der Begriffsökonomie folgend sei nach Hoyer von einem einheitlichen Bedeutungsgehalt der Geeignetheit auszugehen. Diese aufgezwungene Einheitlichkeit wird als formalistisch abgelehnt906: Der Bedeutungsgehalt eines konkreten Wortes kann in unterschiedlichen Kontexten differieren. Die Bearbeitung des Geeignetheitsbegriffs von Hoyer stößt noch auf weitere Kritikpunkte: Erstens wird die Voraussetzung als unklar angesehen, dass keine zuverlässig verletzungsbehindernd wirkenden Negationsfaktoren vorhanden sein dürfen907. Zweitens ist die Voraussetzung der „Verletzungsfahrlässigkeitsvermittlungsfähigkeit“ dogmatisch fraglich. Wie Zieschang treffend betont908, ist die Gefährlichkeit des Verhaltens nicht 900 901 902 903 904 905 906 907 908

Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 96. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 97 ff. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 100 ff. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 107 ff. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 108. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 175. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 176. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 176. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 177.

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gleichbedeutend mit Fahrlässigkeit. Darüber hinaus wirft Zieschang Hoyer vor, dass er den Unterschied zwischen der konkret gefährlichen Handlung und dem herbeigeführten Gefahrengegenstand nicht klärt909. Der wichtigste Einwand gegen Hoyers Konzept ist aber die unklare Abgrenzung der darin entwickelten Deliktskategorie der Eignungsdelikte sowohl von den konkreten als auch von den abstrakten Gefährdungsdelikten. Wenn Hoyer meint, dass die durch das Eignungsdelikte geschaffene Gefahrenlage auf ein konkretes Objekt wirke, wobei kein Negationsfaktor den Eintritt einer Verletzung mehr zuverlässig verhindern könne910, bleibt offen, wodurch sich diese Kategorie von den konkreten Gefährdungsdelikten unterscheidet911. Aber auch von den abstrakten Gefährdungsdelikten werden die Eignungsdelikte nicht eindeutig abgegrenzt. Das Geeignetheitsmerkmal bezieht sich nicht auf „ein tatsächlich existierendes Objekt in seiner aktuellen Beschaffenheit und räumlichen Befindlichkeit“912. Diesem Ansatz zufolge sei die Gefahr als bloße Befürchtung einer konkretisierbaren Auswirkung zu verstehen. Welche die Abgrenzungskriterien von den abstrakten Gefährdungsdelikten seien, erörtert Hoyer nicht. Aus diesen Überlegungen folgt, dass Hoyer Elemente beider Kategorien zur Begründung des Geeignetheitselements gebraucht, obwohl er an anderer Stelle die von Schröder entwickelte Kombination von abstrakten und konkreten Elementen kritisch behandelt. Neben diesen Einwänden zu einzelnen Elementen der „Eignungsdelikte“ liegt jedoch der hauptsächliche Kritikpunkt für die Verfasserin darin, dass die Eignungsdelikte selbst als Deliktskategorie problematisch sind. Die Grundannahme Hoyers, dass sämtliche Tatbestände, die eine Eignungsklausel enthalten, ähnlich zu behandeln sind, ist eine weitere Schwäche seines Ansatzes. Diese Skepsis ist keine rein theoretische Anmerkung. Wendet man Hoyers Ergebnisse auf einzelne Tatbestände des StGB an, dann stellt man auch die Unzulänglichkeiten der Theorie fest. Dies wird besonders bei der Analyse zur Deliktsbezeichnung des § 130 StGB anschaulich: die Handlungsmodalität wird vom Verfasser zur Gefahrenquelle umgedeutet. Als Gefahrenquellen werden nicht die tatbestandsmäßigen Handlungen des Artikels betrachtet, sondern die Besorgniserregung. Die Erklärung des öffentlichen Friedens (des Wirkungsobjekts der Eignungsklausel) zum zentralen Schlüsselmerkmal des Tatbestandes führt zu einer pauschalen Auslegung des Deliktes. Die einzelnen Schritte, die die Kausalkette der Faktoren auslösen, die als letzten Schritt die Bedrohung der Sicherheit der Opfer hat, bleiben unerörtert. Auch die Unterschiede der einzelnen Handlungsalternativen, die sich gegen die Angriffsobjekte des § 130 Abs. 1 StGB richten, werden im Schatten der Eignungsklausel verkannt. Die „Art und Weise“ der Tathandlung ersetzt somit die Tathandlung selbst.

909 910 911 912

Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 177. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 97. So auch Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 97. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 103.

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g) Weitere Auffassungen in der Theorie Auch Wolter erkennt an, dass die Eignungsdelikte sich nicht endgültig beurteilen lassen913. In seiner Arbeit erkennt er zwei Deliktskategorien, bei denen die Tatbestände mit Eignungsklausel angesiedelt sind. Tatbestände mit einer Eignung zur Herbeiführung eines konkreten Gefahrerfolgs bzw. der Rechtsgutsverletzung nennt Wolter (konkrete) potentielle Gefährdungsstraftaten bzw. potentielle Verletzungsdelikte914. So räumt Wolter insbesondere die §§ 88a, 126, 130, 130a, 166, 186, 187, 229 StGB der Kategorie der „vorsätzlichen potentiellen Verletzungsdelikte“915 oder „Verletzungseignungsdelikte“916 ein. Prototyp der potentiellen Verletzungsstraftat sei der beendete taugliche Verletzungsversuch durch Begehung917. Darüber hinaus befasst sich Wolter mit § 3 Nr. 1a LebMG a. F. sowie mit solchen Straftatbeständen, bei denen der Gesetzgeber die generelle Gefährlichkeit der Tat im Wege einer ausfüllungsbedürftigen Wertformel zum Tatbestandsmerkmal erhoben und es so dem Richter überlassen hat, an seiner statt das Verhalten des Täters als generell gefährlich zu qualifizieren918. Diese Tatbestände, die Schröder der Kategorie der abstraktkonkreten Gefährdungsdelikte zuordnet, nennt Wolter „potentielle generelle Gefährdungs- bzw. Verletzungsdelikte“919. Bei ihnen sei ein generalisierender Maßstab anzuwenden. Man macht sich also nach § 3 LebMG strafbar, wenn man vorsätzlich ein generelles Gesundheitsverletzungsrisiko schafft; eine ex-post-Betrachtung der Risikoschaffung ist für die Strafbarkeit unerheblich. Martin erfasst die Eignungsdelikte als besondere Form der abstrakten Gefährdungsdelikte920. Für den Verfasser besteht die Besonderheit der Eignungsdelikte darin, dass die in den Eignungsdelikten umschriebene Handlung im Gegensatz zu klassischen abstrakten Gefährdungsdelikten, deren umschriebene Handlung eine typische Gefährlichkeit, wie etwa die Brandstiftung, aufweist, keine eindeutige Strafwürdigkeit aufweist, wie etwa der Umgang mit Medikamenten oder Lebensmitteln. Daher sei laut Martin erforderlich, dass die Unbedenklichkeit gewisser Handlungen geprüft werden müsse921. Für Martin ist es kriminalpolitisch geboten,

913 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 184. 914 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 65. 915 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 184. 916 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 191. Die Einordnung der Delikte in die Gruppe der „verletzungsgeeigneten Straftaten“, die Wolter befürwortet, sei nur eine Lösung unter zahlreichen anderen. Eine kritische Darstellung des Meinungsstands findet sich bei Wolter, S. 184. 917 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 75. 918 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 321. 919 Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, S. 323. 920 Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, 1989, S. 91. 921 Martin, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, 1989, S. 99.

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dass bei der Beurteilung der Eignung neue Erkenntnisse nachträglich berücksichtigt werden. Kleine-Cosack hat sich im Rahmen ihrer Arbeit zu den Umweltsdelikten mit den Eignungsdelikten auseinandergesetzt922. Um die Schadenseignung zu definieren, greift Kleine-Cosack auf den normalen Sprachgebrauch zurück. Der Begriff der Schadenseignung habe primär nichts mit einer Schadenswahrscheinlichkeit zu tun923. Auch ein konkret ungefährliches Verhalten könne generell schadensgeeignet sein. Die Wahrscheinlichkeit des Schadens sollte also nicht mit der Tauglichkeit der Umstände, ein Geschehnis herbeizuführen924, gleichgesetzt werden. Eine Auslegung der Eignungsdelikte des Umweltstrafrechts als konkrete Gefährdungsdelikte schließt Klein-Cosack anhand einer grammatischen Auslegung aus925. Ihre Argumentation setzt sich der Kritik aus, dass ihre Ergebnisse auf einem unzutreffenden Verständnis der konkreten Gefährdungsdelikte beruhen926. Denn eine konkrete Gefahr liegt nicht dann vor, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände eine Schadenswahrscheinlichkeit bejaht wird. Eine abstrakte Dimension der Schadenseignung lehnt Klein-Cosack ebenfalls ab, da die Tatbestände damit ihre praktische Bedeutung verlieren würden927. Klein-Cosack folgt einem mittleren Weg und qualifiziert die Eignungsdelikte des Umweltstrafrechts mit der Begründung als abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte928, dass zur Bestimmung der Schadenseignung eine Berücksichtigung von Einzelfallumständen erforderlich sei. An diesem Punkt ist auch auf das unvollständige Verständnis der abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte hinzuweisen. Dies ist aber auf das von der Verfasserin zugrundegelegte Verständnis des konkreten Gefährdungsdelikts zurückzuführen. Weiterhin ist KleinCosacks Analyse vorzuwerfen, dass dem Tatbestandsmerkmal der Schadenseignung eine unverhältnismäßige Rolle innerhalb des Tatbestandes zuerkannt wird. Das hat zur Folge, dass die Schadenseignung zum maßgebenden Kriterium für die Einordnung des Delikts in die entsprechende Kategorie wird. Dabei fehlt es an einer Berücksichtigung der Einwirkung der umschriebenen Handlung auf das geschützte Rechtsgut, das nicht immer identisch mit dem Wirkungsobjekt der Eignungsklausel ist. Weisert trennt die Eignungsdelikte völlig vom Gefährdungs- oder Gefährlichkeitsgedanken ab929. Stattdessen lassen sich die Eignungsdelikte vielmehr als Delikte mit einem verselbständigten objektivierten Versuch kennzeichnen930. Die „Eig922 923 924 925 926 927 928 929 930

Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 125 ff. Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 151. Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 150. Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 148. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 186. Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 158. Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, 1988, S. 163. Weisert, Der Hilfeleistungsbegriff bei der Begünstigung, 1999, S. 56 ff. Weisert, Der Hilfeleistungsbegriff bei der Begünstigung, 1999, S. 58.

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nung“, führt Weisert aus, kann mit dem Begriff der Gefahr oder der Gefährlichkeit nicht erklärt werden, da jene im Gegensatz zu diesen einerseits keine Herbeiführung eines bestimmten Zustandes des Rechtsguts verlangt, dafür aber eine tatsächliche – nicht nur empfundene – Beziehung zu einem bestimmten Erfolg besitzen muss931. Nach Gretenkordt seien die Eignungsdelikte insofern mit den konkreten Gefährdungsdelikten vergleichbar, als auch hier der Eintritt einer Gefahr Tatbestandsmerkmal sei932. Anders aber als die konkreten Gefährdungsdelikte setzt das Eignungsdelikt nicht voraus, dass ein individualisiertes oder individualisierbares Rechtsgutsobjekt gefährdet worden ist. Ausreichend sei hingegen eine generelle Gefahr für Objekte einer Rechtsgutsart. Insofern handelt es sich bei den Eignungsdelikten um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit vor die konkreten Gefährdungsdelikte933. Die Eignungsdelikte seien also abstrakte Gefährdungsdelikte, denn der Rechtsanwender müsse einen generellen Gefahrerfolg eines noch nicht individualisierbaren Rechtsgutsobjekts feststellen934. Rogall ordnet ferner die Eignungsdelikte den potentiellen Gefährdungsdelikten zu935. Die Schädigungseignung sei dabei objektiv ex ante zu beurteilen. h) Kritik In der bisherigen Analyse ist darauf hingewiesen worden, dass sich verschiedene Ansätze für die Bestimmung der Deliktsnatur der Tatbestände mit einer Eignungsklausel finden. Trotz aller Unterschiede weisen alle Ansätze folgende Gemeinsamkeit auf: maßgebend für die Deliktsbezeichnung ist das Eignungsmerkmal. Je nachdem, wie die Eignung i.S. der Tendenz der Tathandlung beschrieben wird, erfolgt die Einordnung des Tatbestandes in die Deliktsart. Legt man die „Eignung“ als nahe Wahrscheinlichkeit aus, dann wird der Tatbestand bei den konkreten Gefährdungsdelikten angesiedelt. Stellt man an der Eignungsklausel eine vage Tendenz fest, dann wird der Tatbestand den abstrakten Gefährdungsdelikten zugeordnet. Die Stimmen, die den Volksverhetzungsparagraphen in eine mittlere Deliktskategorie einstufen (Eignungsdelikte, abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte, potentielle Gefährdungsdelikte), greifen ebenfalls auf die Eignungsklausel zurück, um die Deliktsnatur des Tatbestandes zu ermitteln. Diese in Theorie und Rechtsprechung absolut herrschende Herangehensweise konzentriert sich ausschließlich auf die Auswirkung der Modalität auf das Angriffsobjekt. Im Fall des Volksverhetzungsparagraphen wird die Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens zum maßgebenden 931

Weisert, Der Hilfeleistungsbegriff bei der Begünstigung, 1999, S. 62. Gretenkordt, Herstellen und Inverkehrbringen stofflich gesundheitsgefährlicher Verbrauchs- und Gebrauchsgüter, 1993, S. 13. 933 Gretenkordt, Herstellen und Inverkehrbringen stofflich gesundheitsgefährlicher Verbrauchs- und Gebrauchsgüter, 1993, S. 14. 934 Gretenkordt, Herstellen und Inverkehrbringen stofflich gesundheitsgefährlicher Verbrauchs- und Gebrauchsgüter, 1993, S. 15. 935 Rogall, in: FS-Köln, 1998, S. 516. 932

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Kriterium für die Deliktsbezeichnung. Trotz ihrer allgemeinen Verbreitung erweist sich diese Herangehensweise als unzulänglich. Die Eignung, also die Tendenz einer Handlung, ein Ergebnis herbeizuführen, beschreibt nur eine Modalität der Tathandlung, nicht ihr Ziel. Sie dürfte also nicht mit der Auswirkung der Tathandlung auf das Handlungsobjekt des Tatbestandes verwechselt werden. Erstere fungiert als ein tatbestandseingrenzendes Merkmal in der Form eines Tatbestandmarkmales, das eine Ausuferung der Strafnorm verhindern soll. Dieses Merkmal setzt eine zusätzliche Rolle des Tatbestandes voraus, beantwortet aber nicht die Frage, in welcher Intensität die Handlungsalternativen auf das Angriffsobjekt einwirken. Verzichtet man auf diese Diskussion, setzt man sich nur mit der Deliktsnatur des Eignungsmerkmales auseinander. Man geht also im Fall des Volksverhetzungsparagraphen nicht der Frage nach, in welcher Intensität sich die Handlungsalternativen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Aufstachelung zum Hass, Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen) und § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Beschimpfung, böswilliges Verächtlichmachen und Verleumdung) auf die Minderheitsangehörigen auswirken. Die ausschließliche Befassung mit dem Geeignetheitsmerkmal zu Lasten des Tatbestandes als Ganzem führt zum Ergebnis, dass den Handlungsalternativen (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB) aufgrund des gemeinsamen Geeignetheitsmerkmals eine identische Intensität zugeschrieben wird. Diese Herangehensweise verkennt aber den gesetzgeberischen Willen, der beide Varianten eingeführt hat, um die Freiheit und Sicherheit der Minderheitsangehörigen vor Bedrohungen unterschiedlicher Art zu schützen. Stellt man dagegen ausschließlich auf das Eignungsmerkmal für die Deliktsbezeichnung ab und verzichtet somit darauf, die einzelnen Tathandlungen als maßgebend für die Deliktsbezeichnung zu betrachten, dann bleibt letztendlich die Qualität der Bedrohung bei jeder Handlungsalternative ungeklärt: der Unterschied zwischen der Aufforderung zu Gewalt und der Verleumdung gegen eine Minderheit bleibt, dieser Herangehensweise folgend, unsichtbar. Die Handlungsvarianten erscheinen somit überflüssig. Im Mittelpunkt dieser Studie stehen die einzelnen tatbestandsmäßigen Tathandlungen des Abs. 1 und 3, insbesondere in Bezug auf die Intensität ihrer Auswirkung auf die Minderheitsangehörigen. Um die genaue Deliktsart zu ermitteln, ist es also geboten, die Qualität des Kausalfaktors zu diskutieren, der durch eine längere Kausalkette das Handlungsobjekt erschüttert, indem er ein unerlaubtes Risiko auslöst. 7. Die einzelnen Deliktsgruppen Bevor die Deliktsbezeichnung des § 130 Abs. 1 und 3 StGB ermittelt wird, empfiehlt sich noch ein kurzer Überblick über die einzelnen Gefährdungsarten. a) Konkrete Gefährdungsdelikte Die konkreten Gefährdungsdelikte setzen voraus, dass im konkreten Fall eine wirkliche Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt entstanden ist. Sie sind Erfolgsdelikte in

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dem Sinne, dass ein adäquates, unerlaubtes Verletzungsrisiko erforderlich ist. Wie dieser Gefahrerfolg festgestellt werden soll, ist nicht durch ein eindeutiges Kriterium zu ermitteln936. Zustimmungswürdig ist die normative Gefahrerfolgstheorie.937 Dieser Ansatz nimmt eine Gefahr an, wenn der Verletzungserfolg nur zufällig ausbleibt938. Der Zufall sei dabei als ein Umstand zu verstehen, auf dessen Eintritt man nicht vertrauen kann. b) Abstrakte Gefährdungsdelikte Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten ist dagegen kein Gefährdungserfolg erforderlich939. Das typischerweise gefährliche Verhalten ist nur gesetzgeberisches Motiv; sein Vorliegen ist keine Tatbestandsvoraussetzung. Entgegen aber der weit verbreiteten Auffassung unterscheiden sich abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte nicht anhand des formalen Kriteriums, dass bei ersteren der Eintritt einer Gefahr Tatbestandsmerkmal ist und bei zweiteren nicht. Maßgebend ist vielmehr der Gefahrmoment selbst. Bei den konkreten Gefährdungsdelikten besteht eine Gefahr für ein individualisierbares oder ein individualisiertes Rechtsgutsobjekt. Das Verletzungsrisiko ist also fassbar. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten liegt der Gefahrmoment noch weit entfernt und betrifft kein konkretes Rechtsgutsobjekt. c) Abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte Einigen Stimmen zufolge gibt es neben den abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten einen Mischtypus, der also abstrakte sowie konkrete Merkmale kombiniert940. Wie diese Deliktsgruppe der abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte beschrieben werden soll, ist dabei unklar. Für die herrschende Meinung sind die abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte identisch mit den Tatbeständen, die ein Eignungsmerkmal enthalten941. Als Beispiele dieser Fallgruppe nennt Roxin §§ 186 und 311 StGB. Für Roxin sowie für Schröder liegt das abstrakt-konkrete Element dem Eignungsmerkmal zugrunde, welches auch maßgebend für die Deliktsbezeichnung sei. Bei etwa § 186 StGB bestehe das abstrakt-konkrete Element in der Eignung einer Äußerung zur Verächtlichmachung oder Herabwürdigung. Entsprechend bestehe die abstrakt-konkrete Gefahr des § 311 StGB in der Eignung zur Schädigung von Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von 936

Dazu, Roxin/Greco, AT I, 2020, § 11 Rn. 148 ff. Ausführlich Roxin/Greco, AT I, 2020, § 11 Rn. 151 f. m. w. N.; Radtke, in: MüKoStGB Vor § 306 Rn. 8. 938 Radtke, in: MüKoStGB Vor § 306 Rn. 8; Kudlich, JA 2013, 235. 939 Zur Rolle des Rechtsgüterschutzprinzips bei den abstrakten Gefährdungsdelikten, s. Roxin, in: FS-Hassemer, 2010, S. 589. 940 Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB § 9 Rn. 7b; Kudlich/Berberich, NStZ 2019, 624; Böse, in: NK-StGB § 9 Rn. 13; 941 Roxin/Greco, AT I, 2020, § 11 Rn. 162. 937

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bedeutendem Wert. Diese Deliktsgruppe ist nach Roxin keine eigenständige Fallgruppe; da kein konkreter Gefahrerfolg erforderlich sei, seien die Eignungsdelikte eine Sonderform der abstrakten Gefährdungsdelikte942. Wie bereits gezeigt wurde, ist das Eignungsmerkmal jedoch kein maßgebendes Kriterium für die Deliktsbezeichnung der entsprechenden Tatbestände. Das umschriebene Gefährdungsmerkmal der Tatbestände besteht nicht im Eignungsmerkmal – welches eine Modalität der Handlung943 beschreibt –, sondern im Grad der Intensität, mit der sich die Handlung auf das geschützte Rechtsgut auswirkt. Um diesen Intensitätsgrad greifbar zu machen, ist ein weiteres Bild des Tatbestandes erforderlich, das über das eingrenzende Eignungsmerkmal hinaus die Auswirkungen der Handlung beschreibt. Daraus folgt, dass die Tatbestände mit einem Eignungsmerkmal nicht anhand des gemeinsamen Merkmals eine eigene Deliktsgruppe bilden können. Um ihre Deliktsart zu ermitteln, muss man die genaue Einwirkung der einzelnen Tatbestandsmerkmale auf das Rechtsgut berücksichtigen. Die Eignungsklausel ist nicht das Endziel, sondern eine Modalität, die den Angriff eingrenzt944. Sie bildet also nur einen Teil der Einwirkung auf das Rechtsgut und stellt daher kein maßgebendes Kriterium für die Deliktsbezeichnung dar. Die Gruppe der Eignungsdelikte ist daher keine Deliktsgruppe. Der Mischtypus zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten muss getrennt vom Eignungsmerkmal diskutiert werden. Die exklusive Zweiteilung in abstrakte und konkrete Gefährdungsdelikte erfasst die möglichen Gefährdungsdeliktsstrukturen nicht vollständig945. Denkbar ist eine Zwischenstufe, die einen eigenständigen Bedeutungsgehalt aufweist946. Denkbar sind also Fallkonstellationen, die abstrakte und konkrete Gefährdungsmerkmale kombinieren. Bei solchen Konstellationen wird eine potentielle Gefahr verursacht. Bei dieser potentiellen Gefahr handelt es sich um einen dem konkreten Gefahrerfolg vorgelagerten Zustand. Von den abstrakten Gefährdungsdelikten unterscheidet sich diese Zwischenstufe, da es sich nicht um ein bloß typischerweise gefährliches Verhalten handelt. Ebensowenig ist es mit dem konkreten Gefährdungsdelikt identisch, da der gefährliche Zustand dem konkreten Gefahrerfolg des konkreten Gefährdungsdelikts vorgelagert ist947. Beim abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt koexistieren hingegen Merkmale beider Deliktsgruppen: mit den konkreten Gefährdungsdelikten hat es gemein, dass der 942

Die Tatbestände mit einer Eignungsklausel stuft Roxin nicht pauschal in die abstrakten Gefährdungsdelikte ein. Setzen die Tatbestände eine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens voraus, dann sei diese Klausel als tatsächliche Gefährdung des öffentlichen Friedens zu verstehen, und daher würden diese Tatbestände – darunter auch § 130 StGB – bei den konkreten Gefährdungsdelikten angesiedelt. 943 Zieschang, FS-Wolter, S. 570. 944 Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen (§ 130 StGB), 1970, S. 192. 945 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 64. 946 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 54. 947 Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 66.

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gefährliche Zustand als Erfolg herbeigeführt wird. Auch ist es dem abstrakten Gefährdungsdelikt nicht völlig fremd. Denn der herbeigeführte gefährliche Zustand stellt einen der konkreten Gefahr vorgelagerten Schritt dar. Der Zustand, der sich als Wahrscheinlichkeit einer Gefahr erfassen lässt, erinnert an eine spezifisch auf die Erfolgsverwirklichung gerichtete Gefährlichkeit. Er ist aber keine bloße Gefährlichkeit. Aus der Wahrscheinlichkeit einer Gefahr resultiert ein auf das Rechtsgutsobjekt gerichteter Gefahrenzustand. Diese Situation birgt in sich eine potentielle Rechtsgutsverletzung als Vorstadium einer konkreten Gefahr. 8. Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 und 3 StGB Nach diesem Überblick über die Gefährdungsdeliktsstrukturen stellt sich nun die Frage, welcher Deliktskategorie die Äußerungsdelikte948 der aufhetzenden (§ 130 Abs. 1 StGB) und schlichten (§ 130 Abs. 3 StGB) Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen einzustufen sind. Aus den bisherigen Bemerkungen ist zunächst die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die in Rechtsprechung und Theorie vertretenen Ergebnisse abzulehnen sind, da sie zur Ermittlung der Deliktsart auf das Eignungsmerkmal abstellen. Die in dieser Arbeit bereits ermittelte Lösung hat den öffentlichen Frieden als geschütztes Rechtsgut der zwei Absätze abgelehnt und andere Ergebnisse empfohlen. Nach der hier vertretenen Ansicht muss stattdessen der Frage nachgegangen werden, in welcher Intensität jede der einzelnen Tathandlungen das Rechtsgutsobjekt beeinträchtigt. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Rechtsgutsdiskussion eine entscheidende Rolle für die Deliktsbezeichnung spielt. Von ihr hängt die Folgefrage ab, welcher Deliktsstruktur ein Tatbestand einzuordnen ist949. Das wird besonders im Fall der schlichten Leugnung des § 130 Abs. 3 StGB anschaulich. Der Tatbestand dient dem Schutz der historischen Wahrheit und ist nach der hier vertretenen Ansicht ein Scheindelikt. Weil das geschützte Rechtsgut illegitim ist, erübrigt sich die Diskussion über seine Deliktsnatur. Folglich ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Intensität das illegitime Rechtsgut beeinträchtigt wird, schon deswegen zwecklos, weil der Tatbestand ein Scheindelikt ist. Viel komplizierter ist aber die Diskussion der Deliktsart des ersten Absatzes. Die Eignungsklausel übernimmt dabei eine entscheidende Rolle und hat zu einer Ausuferung der Deliktsstrukturen geführt. Nach den bisherigen Ergebnissen ist festzuhalten, dass bei der Ermittlung der Deliktsnatur auf die Eignungsklausel verzichtet werden muss. Entscheidend ist vielmehr der Mechanismus, mit dem sich die Handlungsvarianten auf das Rechtsgutsobjekt auswirken. Er stellt die Intensität der 948

Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 9 f.; Stegbauer, NStZ 2019, 72 ff.; BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 628; Busching, MMR 2015, 297; Koch, JuS 2002, 124. 949 Von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 145.

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Beeinträchtigung in den Vordergrund. Um diese Intensität zu illustrieren, empfiehlt sich die Besprechung jeder Tatbestandsvariante. a) Der § 130 Abs. 1 StGB als Verletzungsdelikt Auf Grundlage der Auffassung, dass die Bestrafung der aufhetzenden Rede die Freiheit von Furcht, die persönliche Sicherheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Minderheiten schützt, ist zunächst dem Deliktscharakter des Tatbestandes als Verletzungsdelikt nachzugehen. Was die Auswirkung der Tathandlung auf das Sicherheitsgefühl betrifft, wird das Handlungsobjekt, nämlich die Minderheit oder ihre Angehörigen, stark beeinträchtigt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine bloße Bedrohung, sondern um eine erhebliche, reale Beeinträchtigung des Handlungsobjektes. Diese gravierende Auswirkung kommt bei beiden Handlungsvarianten in Betracht. Diese fördern eine Gewaltbereitschaft (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder objektivieren eine sensible Personengruppe und wecken somit eine feindselige Haltung der Gesellschaft gegen sie (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Bei diesen Auswirkungen handelt es sich um reale, erhebliche Beeinträchtigungen des Sicherheitsgefühls der Minderheitsangehörigen. Diese liegen darin, dass auf Seiten der Handlungsobjekte Angst davor ausgelöst wird, dass ein gehorsamer Adressat der Aufforderung zu Gewaltmaßnahmen oder der verachtenden Rede den gewaltsamen Aufruf in die Tat umsetzt. Die bei den betroffenen Personen ausgelöste Furcht besteht also in ihrer Befürchtung, dass ihre Darstellung als minderwertige, schutzunwürdige Wesen den Handlungsunwert des Angriffs auf ihr Leben, iher körperliche Unversehrtheit oder ihr Eigentum in den Augen der Adressaten mindert. Dieser Entmenschlichungsprozess erschüttert die Erwartung der Person gravierend, dass die Integrität ihrer Existenz gewährleistet wird. Ein Aufruf zu Pogromen oder anderen Übergriffen verleiht also den betroffenen Personen einen potentiellen Opferstatus, der sie in ständiger Existenzangst leben lässt. Ihre Freiheit von Furcht wird also erheblich beeinträchtigt. Eine weitere Auswirkung der Tathandlung bezieht sich auf die Persönlichkeitsentfaltung der Minderheitsangehörigen. Dieses Recht besteht aus verschiedenen Entfaltungsmöglichkeiten: eine grundlegende Dimension besteht darin, als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft behandelt zu werden und in der Sicherheit zu leben, dass die Rechtsgüter der Person als schutzwürdig betrachtet werden. Diese Überzeugung ermöglicht der Person, sich frei am sozialen Leben zu beteiligen: sich politisch zu engagieren, eine Familie zu gründen, sich am sozialen Leben zu beteiligen, berufstätig zu werden. Für diese Entfaltungsmöglichkeiten erweist sich die aufhetzende Rede, die sich gegen Minderheiten richtet, als äußerst hemmend. Sie greift die Entfaltung der Minderheitsangehörigen in besonders intensiver Weise an: das Individuum wird erniedrigt. Seine vitalen Rechtsgüter werden als schutzunwürdig dargestellt. Die aufhetzende Rede greift somit den Kern der Persönlichkeitsentfaltung an. Die Bezeichnung der Person als minderwertigen Wesens, dessen soziale Isolation oder sogar Vernichtung als gerecht dargestellt wird, stellt nicht bloß

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eine schlichte Bedrohung der Persönlichkeitsentfaltung der betroffenen Personen dar. Die Handlungsobjekte werden vielmehr in ihrer Entfaltung real beeinträchtigt. Aus der Feststellung, dass der § 130 Abs. 1 StGB die freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt, folgt, dass der Tatbestand ein Verletzungsdelikt ist. Jedoch erhebt sich nun die Frage: wie zieht man die Grenze zwischen Verletzung und Gefährdung bei Rechtsgütern, die zur Sphäre des Nicht-Materiellen gehören? Und noch spezifischer: warum ist im Fall des § 130 Abs. 1 StGB die Rede von einer Verletzung und nicht einer Gefährdung der freien Entfaltung der Persönlichkeit und des Sicherheitsgefühls? Als Ausgangspunkt dieser Diskussion fungiert zunächst die Anmerkung, dass die Rechtsgüter keine ideellen Werte darstellen. Versteht man das Rechtsgut als etwas Abstraktes, dann ist es immun gegen Verletzungen. Reduziert man den Rechtsgutsbegriff auf eine bloße Abstraktion, dann ist die Konzeption des Rechtsgüterschutzes selbst ein purer Widerspruch: geht man davon aus, dass das Rechtsgut als ideeller Wert zu verstehen ist, dann muss er als unverletzbar gelten. Bestimmt man die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz, dann kann von einem Schutz nicht mehr gesprochen werden: was unverletzbar ist, bedarf auch keines Schutzes. Verzichtet man aber auf die zugängliche Wirklichkeit des Rechtsguts, dann wird die Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs entwertet950. Noch bedenklicher ist die sich aus der Idealisierung des Rechtsgutsbegriffs ergebene Tendenz, zur Begründung von Tatbeständen auf noch abstraktere Werte ohne Realitätsgehalt zurückzugreifen. Die strafbegrenzende Rolle des Strafrechts wird dadurch zurückgedrängt. Das Rechtsgut verfügt also über eine reale Dimension. Das bedeutet nicht, dass der erforderliche Erfolg als eine materielle Verletzung aufzufassen ist wie etwa bei den Tötungsdelikten oder der Körperverletzung, wo die reale Beeinträchtigung des Handlungsobjektes unproblematisch feststellbar ist. Eine Verletzung ist denkbar auch bei nicht-materiellen Rechtsgütern wie der Ehre oder dem Sicherheitsgefühl, die durch Beleidigungen oder Bedrohungen effektiv verletzt werden können. Um eine Verletzung zu bejahen, ist keine nachhaltige Beeinträchtigung oder Beseitigung des Rechtsguts erforderlich. Allerdings muss eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschritten sein951. Die Rechtsgüter genießen niemals einen absoluten unbeeinträchtigten Status und sind nicht gegen minimale Beeinträchtigungen immun. Die Abgrenzung zwischen einer realen Verletzung und einer bloßen Krise des Rechtsguts ist also nicht quantitativ, sondern qualitativ zu bestimmen. Bei der aufhetzenden Rede gegen Minderheiten wird diese Erheblichkeitsschwelle in Bezug auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Minderheitsangehörigen deutlich überschritten. Die Weckung einer feindseligen Haltung der Gesellschaft gegen Minderheitsangehörige überschreitet die Grenze einer akuten Krise der freien Persönlichkeitsentfaltung und nimmt einen realen Angriff auf das Rechtsgut vor. Das 950 951

Roxin/Greco, AT I, 2020, § 2 Rn. 67. Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 24.

XI. Deliktssystematische Einordnung

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Handlungsobjekt wird durch die Tathandlungen des § 130 Abs. 1 StGB erheblich beeinträchtigt. Die verbal angegriffenen Personen werden als lebensunwürdige Wesen dargestellt und ihre Zugehörigkeitsmerkmale werden als Grund dafür angegeben, dass ihre Angehörigen, die sich anhand von abweichenden Merkmalen identifizieren, in ständiger Vorsicht und Angst vor potentiellen Übergriffen leben müssen. Diese Erschütterung des Sicherheitsgefühls beeinträchtigt die freie Entfaltung von Minderheitsangehörigen in ihrem Kern. b) Der § 130 Abs. 1 StGB als Gefährdungsdelikt Die Erkenntnis, dass der § 130 Abs. 1 StGB nicht ausschließlich ein Rechtsgut schützt, führt zur Feststellung, dass die Deliktsnatur des Tatbestandes eine mehrschichtige Dimension aufweist. Eine Tathandlung mag also eine reale Beeinträchtigung in Bezug auf ein Rechtsgut und gleichzeitig nur eine Bedrohung eines nebenbei geschützten Rechtsgutes darstellen. Das bedeutet also, dass sich dieselbe Tathandlung in mehreren Weisen auf das Handlungsobjekt auswirken kann952. Entgegen der herrschenden Tendenz, die die Deliktsnatur des § 130 Abs. 1 StGB pauschal für alle Handlungsvarianten ermittelt, wird hier anstattdessen jede Handlungsalternative einzeln insbesondere hinsichtlich der Frage geprüft, in welcher Intensität sich jede Handlungsvariante auf das Handlungsobjekt auswirkt. Diese Herangehensweise scheint angesichts der qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Tathandlungen geboten. c) Der § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB Zu erörtern sind die besonderen Merkmale des Kausalverlaufs, der durch die Tathandlungen der Nr. 1 in Gang gesetzt wird. Die vom Schrifttum vertretene Einstufung des § 130 Abs. 1 StGB als konkretes Gefährdungsdelikt wird anhand des Eignungsmerkmals mit der Begründung abgelehnt, dass keine tatsächliche Gefährdung des öffentlichen Friedens erforderlich sei953. Es ist aber betont worden, dass die Handlungsmodalität kein maßgebendes Kriterium für die Deliktsbezeichnung des Tatbestandes ist954. Entscheidend ist hierbei nämlich die Frage, in welcher Intensität die Aufstachelung zum Hass und die Aufforderung zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen auf die persönliche Sicherheit der betroffenen Gruppenangehörigen einwirken. Um also zu beantworten, ob es sich bei dieser Variante um ein konkretes 952 Dass ein Tatbestand dem Schutz mehrerer Rechtsgüter dienen kann und daher gleichzeitig Verletzungs- und Gefährdungsdelikt sein kann, bemerkt auch Schulenburg, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, S. 251. 953 Auch Zieschang stellt auf das Eignungsmerkmal ab, Die Gefährdungsdelikte, 1998, S. 278 ff. 954 So aber Wandres (S. 224), der ausführt, wäre § 130 StGB ein konkretes Gefährdungsdelikt, dann müsste bei jedem Anwendungsfall der Nachweis geführt werden, der öffentliche Friede sei tatsächlich in Gefahr gewesen.

326

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Gefährdungsdelikt handelt, muss auf die Frage eingegangen werden, ob im Fall dieser Variante eine wirkliche Gefahr für das geschützte Handlungsobjekt eingetreten ist. Fraglich ist insbesondere, ob durch die Variante der Nr. 1 ein Erfolg als ein unerlaubtes Verletzungsrisiko für das Handlungsobjekt entsteht. Der Deliktscharakter des Tatbestandes als Erfolgsdelikt ist zu bejahen955. Um diesen Erfolg näher zu betrachten, wird hier den qualitativen Merkmalen der Tathandlungen des Tatbestandes nachgegangen. Der Tatbestand erfasst unmittelbar (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und mittelbar (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) auf die Verfolgung von Minderheiten abzielende Äußerungen. Die erste Variante der Nr. 1, die Aufstachelung zum Hass, ist eine auf die Gefühle des Adressaten abzielende, über bloße Äußerung von Ablehnung und Verachtung hinausgehende Form des Anreizens zu einer feindseligen Haltung gegen den betroffenen Bevölkerungsteil956. Für diese Tathandlung reicht eine bloße Missachtung des Handlungsobjektes nicht aus. Davon unterscheidet sie sich vielmehr dadurch, dass der Kausalverlauf, der durch die Tathandlung gefordert wird, als weiteres Ergebnis einen Gefährdungserfolg aufweist. Die Person, die sich aufhetzend äußert, begnügt sich nicht mit einer Beschimpfung der angegriffenen Personen. Vielmehr schafft der Täter einen Gefährdungserfolg, der darin besteht, dass er auf den Intellekt der Adressaten einwirken will. Durch diese gezielte, feindselige Einwirkung wird der geistige Nährboden für die Bereitschaft zu Exzessen gegenüber der betroffenen Bevölkerungsgruppe gefördert957. Auch die zweite Variante der Nr. 1, die Aufforderung zu Gewalt- oder anderen Willkürmaßnahmen, schafft durch ihren Appellcharakter denselben Gefährdungserfolg, nämlich das Einwirken auf die Adressaten mit dem Ziel, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Handlungen hervorzurufen. Der Kausalverlauf, der mit dem ursprünglichen Faktor der hetzerischen Äußerung ausgelöst wird, wird durch mehrere Handlungsakte in Gang gesetzt. Von der Aufhetzung bis zum Gefahrerfolg der Weckung einer feindseligen Haltung, und von diesem Entmenschlichungsprozess bis zum Verletzungserfolg der Begehung der erheblichen Gewaltmaßnahmen handelt es sich um eine mehraktige Kausalkette. Bei der Nr. 1 bleibt der Verletzungserfolg nur zufällig aus. Ob sich nämlich im Adressatenkreis der hetzerischen Äußerung ein gehorsamer Zuhörer befindet, in dem diese feindselige Einwirkung tatsächlich Gewaltbereitschaft weckt, oder ob der Zuhörer diese Aufforderung ernst nimmt, hängt allein vom Zufall ab. Der § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist also ein konkretes Gefährdungsdelikt. d) Der § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB Bei dieser Handlungsalternative handelt es sich um eine besonders schwerwiegende Missachtung, die aber gegenüber den beiden anderen Handlungsalternativen 955 956 957

BGH, Urteil vom 12. 12. 2000 – 1 StR 184/00, NJW 2001, 627. Fischer, StGB § 130 Rn. 8. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB § 130 Rn. 5a.

XI. Deliktssystematische Einordnung

327

weniger intensiv wirkt958. Diesem Kausalverlauf fehlt der Erfolg des § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB: nämlich die erstrebte Einwirkung auf den Intellekt des Adressaten. Daraus sollte nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Folgehandlung i. S. der Begehung von gewalttätigen Aktionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen der missachtenden Äußerung nicht zurechenbar wäre. Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass die in Betracht kommende Handlungsvariante keinen konkreten Gefahrerfolg erstrebt; welche Auswirkung die missachtende Äußerung auf den Adressaten hat, ist dabei für den Täter der Volksverhetzung nicht ausschlaggebend. Die aufhetzende Äußerung des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet also nur mittelbar der Begehung von Gewalttaten gegen Minderheiten den Boden. Da also kein Gefahrerfolg bei dieser Variante vorliegt, muss die Zuordnung zu den konkreten Gefährdungsdelikten scheitern. Ebensowenig passt ihre Bezeichnung als abstraktes Gefährdungsdelikt: denn die missachtende Darstellung von Minderheitsangehörigen und ihre verbale Entmenschlichung aufgrund ihrer Identifizierungsmerkmale sind nicht das bloße gesetzgeberische Motiv des Tatbestandes. Gleichzeitig ist auf die Argumentationslinie zu verzichten, dass es sich bei der Nr. 2 nur um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handeln soll, da es kein konkretes Gefährdungsdelikt ist959. In der früheren Analyse wurde eine dritte, eigenständige Deliktsgruppe der abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte befürwortet. Um die Handlungsvariante der Nr. 2 diesen zuzuordnen, soll der Frage nachgegangen werden, ob bei dem § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ein dem konkreten Gefahrerfolg vorgelagerter, konkret gefährlicher Zustand vorliegt. Der durch die Tathandlung der Nr. 2 herbeigeführte Erfolg verfügt über unterschiedliche qualitative Merkmale im Vergleich zu den Handlungsvarianten der Nr. 1. Der Handlungsalternative fehlt insbesondere der konkrete Gefahrerfolg der aufhetzenden Einwirkung auf den Intellekt der Adressaten, durch welche die Gewaltbereitschaft gegen die betreffenden Minderheiten unmittelbar gesteigert werden soll. Ein Erfolg ist bei Nr. 2 jedoch nicht ohne Weiteres zu verneinen. Dieser ist nicht ein akuter Gefahrerfolg, sondern ein konkret gefährlicher Zustand i. S. der Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefahr. Der geistige Nährboden für die Bereitschaft zu Exzessen gegenüber den verbal angegriffenen Minderheiten wird hier nur mittelbar geliefert: Die herabsetzenden Aussagen der Nr. 2 schaffen ein minderwertiges Bild des Angriffsobjektes. Sie stellen das Individuum als ein verachtenswertes Wesen dar, das wegen seines Andersseins allmählich entmenschlicht wird. Obwohl kein konkreter Gefahrerfolg geschaffen wird, tritt ein Zustand ein, in dem die Minderheitsangehörigen in der öffentlichen Sphäre wegen ihres Andersseins entmenschlicht werden. Diese verbale Objektivierung kann zwar nicht als konkreter Gefahrerfolg bezeichnet werden. Die Erniedrigung der Handlungsobjekte in der öffentlichen Sphäre mildert aber in den 958 959

Ostendorf, in: NK-StGB § 130 Rn. 13. Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB, 2000, S. 78; so auch Wandres, S. 225.

328

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Augen der Adressaten den Handlungsunwert einer potentiellen Verfolgung und erhöht somit die Wahrscheinlichkeit von gezielten Gewaltakten. Der dem Gefahrerfolg vorgelagerte gefährliche Zustand besteht also im Entmenschlichungsprozess selbst, der das Individuum zu einem schutzunwürdigen, geeigneten Gewaltobjekt herabsetzt. Die missachtende Darstellung der betreffenden Personen wegen ihrer Identifizierungsmerkmale birgt in sich die potentielle Gefahr, dass ihre Vernichtung in den Augen der Adressaten oder anderer Gesellschaftsmitglieder als ein Verhalten ohne Handlungsunwert wahrgenommen wird und dadurch wahrscheinlicher wird. Die Handlungsvariante der Nr. 2 ist also ein abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt. e) Die Volksverhetzung als Vorbereitungshandlung eines Völkermords Der Gesetzgeber verlegt die Strafbarkeit nicht nur in den Bereich der Rechtsgutsgefährdung. Ein weiterer Weg der Vorfeldpönalisierung ist die Schaffung von Vorbereitungstatbeständen, die weit in das Vorfeld der Rechtsgutsverletzung hineinreichen. Vorbereitungstatbestände stellen Handlungen unter Strafe, die selbst noch kein Rechtsgut beeinträchtigen, sondern eine zukünftige vorsätzliche Beeinträchtigung eines individuellen oder kollektiven Rechtsgutes vorbereiten960. Mylonopoulos vertritt die Auffassung961, dass es sich beim § 130 StGB um eine Vorbereitungshandlung eines tatsächlichen Völkermordes handelt. Zur Begründung dieser These greift Mylonopoulos auf philosophische Werke von Jaspers und Sartre zurück. Der Mensch sei ein historisches Wesen, das nicht losgelöst von seiner Geschichte betrachtet werden könne. Die Demolierung des historischen Gedächtnisses eines Volkes habe verheerende Auswirkungen für seine Existenz. Das Wissen, das Verständnis und das Gedenken an ein wichtiges historisches Ereignis wie den Holocaust haben nicht nur einen moralischen Wert, sondern seien Bestandteile der Identität des Volkes und somit unabdingbare Voraussetzungen seiner Existenz überhaupt. Mylonopoulos kommt zum Ergebnis, dass die Leugnung eines wichtigen historischen Ereignisses den Charakter eines moralischen Völkermords hat, der zur tatsächlichen Vernichtung eines Volkes führen könnte. Mit anderen Worten: die Abschaffung des historischen Gedächtnisses eines Volkes hat den Stellenwert der Vorbereitungshandlung eines tatsächlichen Völkermordes.

960

Puschke, in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, S. 11 f.; Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017, S. 114 ff. 961 Mylonopoulos, in: FS-Kühl, 2014, S. 561.

XI. Deliktssystematische Einordnung

329

f) Stellungnahme Der Volksverhetzungstatbestand wird bereits in den Gesetzesmaterialien der 60er Jahre als Delikt gegen die Menschheit bezeichnet962. Diese Ansicht macht sich auch ein Teil des Schrifttums zu eigen963. Um der Frage nachzugehen, ob die Leugnung einer historischen Tatsache als Vorbereitungshandlung eines Völkermordes zu bezeichnen ist, soll der Begriff des Völkermords näher betrachtet werden. Der Völkermord bildet einen Straftatbestand der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948964, der (Art. 2) Handlungen erfasst, die in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe begangenen Handlungen sind die Tötung von Gruppenmitgliedern, die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden, die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind und die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Beachtenswert ist allerdings, dass sich im Schrifttum Definitionen finden, die sich stark von der herrschenden Definition der CPPCG unterscheiden. Bedeutend sind insofern die einflussreichen Definitionen von Dadrian965, Horowitz966, Harff/Gurr967, Chalk/Jonassohn968, die die Begehung des Deliktes durch eine staatliche Machtstruktur als untrennbares Tatbestandsmerkmal betonen. Diese Autoren bejahen also einen Völkermord, wenn die entsprechenden Handlungen durch einen staatlichen Agenten begangen werden. Der Straftatbestand des Völkermords wird nicht durch einzelne Delikte gegen Minderheitsangehörige erfüllt. Die Vernichtung der Bevölkerungsgruppe muss systematisch durch einen dominanten Machtapparat (staatlich-bürokratische Struktur oder nach anderer Auffassung969 auch nicht-staatliche Macht) mit der Absicht durchgeführt werden, die Bevölkerungsgruppe vollständig zu vernichten. Der Völkermord ist also jede 962 Schriftlicher Bericht des Abgeordneten Benda, Drs. 1746, S. 3; auch in der Rechtsprechung, OLG Frankfurt, Urteil vom 2. 12. 1988 – 1 Ss 27/88, NJW 1989, 1369; OLG Karlsruhe, Urteil vom 2. 3. 1995 – 2 Ss 21/94, BeckRS 1995, 8221. 963 Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1979; Rauer, Rechtliche Maßnahmen gegen rechtsextremistische Versammlungen, 2010, S. 141; Schafheutle, JZ 1960, 470 f.; Ostendorf, in: NK § 130 Rn. 4; Kindhäuser/Hilgendorf, LPK-StGB 2022 § 130 Rn. 5; Giehring, StV 1985, 35. 964 Manske, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Verbrechen an der Menschheit: zu einem zentralen Begriff der internationalen Strafgerichtsbarkeit, 2003, S. 111 ff. 965 Dadrian, International Review of Modern Sociology, 1975, 201 ff. 966 Horowitz, Genocide: State Power and Mass Murder, 1977. 967 Harff/Gurr, Toward Empirical Theory of Genocides and Politicides, 1988, S. 359 ff. 968 Jonassohn/Chalk, in: Wallimann/Dobkowski (Hrsg.), Genocide and the Modern Age, 1987, S. 3 ff. 969 The Crime of Genocide [1946] UNGA 66; A/RES/96 (I) (11. Dezember 1946).

330

B. Das geschützte Rechtsgut des Volksverhetzungsparagraphen

Handlung, die die Existenz der Bevölkerungsgruppe als solche gefährdet. Der massive und systematische Charakter der Vernichtungshandlungen ist also dabei maßgebend. Die Rechtfertigung der Pönalisierung der Vorbereitungshandlungen ergibt sich aus der Beziehung zwischen der Vorbereitungshandlung und einer zukünftigen Beeinträchtigungshandlung, die durch objektive und subjektive Elemente geprägt ist970. Diese Beziehung liegt etwa vor bei der Errichtung von Konzentrationslagern zum Zwecke der massiven Vernichtung von Bevölkerungsgruppen. Diese Handlung ist also ein Beispiel einer Vorbereitungshandlung eines Genozids. Das Bestreiten einer offenkundigen oder auch weniger bekannten Tatsache weist hingegen eine äußerst vage Beziehung zwischen der Aussage als vorbereitender Handlung und dem Völkermord an der betreffenden Bevölkerungsgruppe auf. So unwissenschaftlich oder verwerflich auch die Leugnung einer historischen Tatsache sein mag, fehlt es an einer objektiven Verbindung mit einer späteren massiven Vernichtung der Gruppe. Besonders mangelt es an der generellen Eignung der Aussage, als Anknüpfungspunkt einer massiven und systematischen Vernichtung einer Gruppe zu dienen. Denn die Verdrehung einer historischen Wahrheit weist keine typische Eignung auf, einen staatlich-bürokratischen Apparat zur massiven Vernichtung von Minderheiten zu treiben. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das Bestreiten einer historischen Tatsache die historische Wahrheit verletzen kann. Ferner aber ist auch betont worden, dass keine dieser Zwecksetzungen eine strafrechtliche Rechtsgutsqualität aufweist. Überdies sind derartige Aussagen nicht geeignet, das historische Gedächtnis eines Volkes abzuschaffen. Bei solchen Äußerungen handelt es meistens um einzelne pseudo-historische Aufsätze, die sehr eingeschränkte Verbreitung finden und in der Öffentlichkeit nicht als diskussionswürdig wahrgenommen werden. Die Aussage zum Beispiel, dass der Holocaust eine bloße Erfindung gewesen sei, ist nicht geeignet, eine neue Welle von Pogromen und Verfolgungen auszulösen. Stattdessen kann eine öffentliche Auseinandersetzung mit einer ahistorischen und willkürlichen Aussage Missverständnisse aufklären und die Ignoranz der Äußernden ans Licht bringen. Die Bezeichnung der Leugnung historischer Tatsachen als Vorbereitungshandlung von Genoziden ist also zu verneinen.

970

S. 12.

Puschke, in: Hefendehl (Hrsg.), Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010,

C. Verfassungsrechtliche Einschätzung I. Die schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB) 1. Der Standpunkt der Rechtsprechung In der Rechtsprechung herrscht Konsens über die Verfassungsmäßigkeit der Bestrafung der Holocaustleugnung. Ausschlaggebend für die Reichweite des Schutzbereiches des Art. 5 GG ist die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Der Bundesgerichtshof hatte bereits 1979 – also vor der Novellierung des Volksverhetzungsparagraphen – die Ansicht vertreten, bei der Leugnung der historischen Tatsache des Judenmordes im Dritten Reich sei eine Berufung auf die Gewährleistung der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) ausgeschlossen, da es sich um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele1. Diese Argumentationslinie hat später auch das Bundesverfassungsgericht aufgenommen2. 2. Der Standpunkt im Schrifttum Im Schrifttum wird § 130 Abs. 3 StGB nicht ohne Bedenken angenommen3. Insbesondere wird der Tatbestand im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit Art. 5 GG kritisiert4. Daneben werden vor allem bei den Tatbestandsmerkmalen des Verharmlosens und des Leugnens Bedenken im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot geäußert5.

1 BGH, Urteil vom 18. 9. 1979 – VI ZR 140/78, NJW 1980, 45; LG Hof, Beschluss vom 27. 4. 2015 – 4 Qs 43/15. 2 BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779 ff. 3 Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 19 ff.; Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 76 ff. 4 Huster, NJW 1996, 487, 491 („Fremdkörper in einem freiheitlichen Gemeinwesen“); Bertram, NJW 1999, 3544 („Geschichtsverwaltung“); Beisel, NJW 1995, 1000 f.; Stegbauer (NStZ 2000, 284) beruft sich auf den postmortalen Achtungsanspruch zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des § 130 Abs. 3 StGB. 5 König/Seitz, NStZ 1993, 3.

332

C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

3. Schutzbereich des Art. 5 GG – Tatsachenbehauptungen und Werturteile Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zählt zu den „vornehmsten Menschenrechten überhaupt“6. Geschützt ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form der Meinung. Unerheblich ist dabei, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“7. Der Begriff der Meinung ist im Rahmen des Art. 5 GG „grundsätzlich weit zu verstehen“8. Es umfasst zuerst das Werturteil, das als eine „durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerung“9 verstanden wird. Umfasst werden ebenso Tatsachenbehauptungen, die „im strengen Sinne keine Äußerung einer Meinung“ darstellen, „wenn sie Voraussetzung für die Bildung einer Meinung sind“.10 Erheblich ist nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehalts der Aussage, so dass zwischen geschützten und ungeschützten Tatsachenbehauptungen differenziert wird. Demzufolge fallen bewusst unwahre oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit. 4. Kritik der Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen – Die historische Tatsache als Grauzone Die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil spielt eine grundlegende verfassungsdogmatische Rolle bei der verfassungsrechtlichen Einschätzung von geschichtsverfälschenden Aussagen. Auf den ersten Blick mag die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unproblematisch erscheinen: bei den Tatsachenbehauptungen ist eine „objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit“11 erforderlich. Kennzeichnend dagegen für die 6

BVerfG, Urteil vom 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 258. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22. 5. 2018 – 2 Rv 4 Ss 193/18; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16. 1. 2017 – 1 BvR 1593/16, NJW 2017, 1092; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. 5. 2016 – 1 BvR 257/14, NJW 2016, 715; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 28. 9. 2015 – 1 BvR 3217/14; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26. 2. 2015 – 1 BvR 1036/14, NJW 2015, 2022; BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 48; BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779. 8 BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 1982 – 1 BvR 1376/79, NJW 1983, 1416. 9 BGH, Urteil vom 16. 12. 2014 – VI ZR 39/14, NJW 2015, 773; BGH, Urteil vom 22. 2. 2011 @ VI ZR 120/10, NJW 2011, 2205; BGH, Urteil vom 17. 11. 2009 – VI ZR 226/08, NJW 2010, 762; BGH, Urteil vom 3. 2. 2009 – VI ZR 36/07, NJW 2009, 1873, 1874; BGH, Urteil vom 22. 4. 2008 – VI ZR 83/07, NJW 2008, 2263; BGH, Urteil vom 5. 12. 2006 – VI ZR 45/05, NJW 2007, 687; BGH, Urteil vom 24. 1. 2006 – XI ZR 384/03, NJW 2006, 836; BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 1993 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779. 10 BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 1982 – 1 BvR 1376/79, NJW 1983, 1416. 11 Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 29. 5. 2019 – 3 U 95/18; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16. 3. 2017 – 1 BvR 3085/15, NJW-RR 2017, 1003; 7

I. Schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB)

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Werturteile ist „die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage“.12 Obwohl tatsächlich Fallkonstellationen denkbar sind, bei welchen die Einordnung zu der einen oder der anderen Kategorie unkompliziert erfolgt („Die Erde ist flach“), ist die Abgrenzung zu formalistisch und übersieht die Tatsache, dass Aussagen meistens Mischelemente von beiden Kategorien enthalten, so dass eine Grenzziehung zwischen den beiden Fallgruppen nur ausnahmsweise eindeutig ist. Denn Werturteile sind keine reinen Einschätzungen; sie gehen von deskriptiven Tatsachen aus, welche sie entsprechend bewerten. Einer Tatsachenbehauptung, der im strengen Sinne keine Stellungnahme innewohnt, fehlt ebensowenig ein wertendes Element. Selbst die Auswahl der dargestellten Tatsachen wird durch eine subjektive Betrachtungsweise filtriert, die der Tatsachenmitteilung einen subtil wertenden Charakter zufügt. Die Schwierigkeiten, die bei der Abgrenzung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung auftreten, verschärfen sich bei der Erörterung von historischen Tatsachen umso mehr. Zu Recht wird eine abweichende Behandlung der historischen Verfälschung befürwortet13. Wegen der bedeutenden Funktion der kollektiven Erinnerung bei der Gestaltung der kollektiven Identität eines Volkes haben historische Tatsachen nicht denselben Anspruch auf Präzision und Wahrheit wie Tatsachen des Alltagslebens. Diese Differenzierung ist naheliegend. Die Aufklärung der historischen Wahrheit besteht nicht in der ausführlichen, absoluten Herauskristallisierung aller Einzelheiten, um jeden Zweifel daran zu beseitigen. Die Auswahl des historischen Dokumentationsmaterials wird durch die subjektive Sichtweise des Historikers filtriert und anhand seiner persönlichen Einstellungen und Auffassungen ausgelegt. Darüber hinaus besteht die kollektive Erinnerung teilweise auch aus Elementen, die die Eigenschaft der historischen Tatsache tragen und deren Wahrheitsgehalt umstritten ist. Ein signifikantes Beispiel in der griechischen Historiographie ist die Existenz der „geheimen Schulen“ im Osmanischen Reich14. Die Arbeit des Historikers besteht also nicht in der getreuen Darstellung der einzelnen Bedeutungsnuancen, auch wenn diese Präzision erwünscht ist. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 4. 8. 2016 – 1 BvR 2619/13; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25. 10. 2012 – 1 BvR 901/11, NJW 2013, 218; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17. 9. 2012 – 1 BvR 2979/10, NJW 2012, 3713; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 8. 5. 2007 – 1 BvR 193/05, NJW 2008, 358. 12 OLG Düsseldorf, Urteil vom 2. 5. 2019 – 20 U 116/18, NJW-RR 2019, 1131; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24. 4. 2018 – 4 ZB 17.1488; LG München I, Urteil vom 19. 1. 2018 – 25 O 1612/17; BGH, Urteil vom 16. 1. 2018 – VI ZR 498/16, NZG 2018, 799; BGH, Urteil vom 27. 9. 2016 – VI ZR 250/13, NJW 2017, 484; BGH, Urteil vom 12. 4. 2016 – VI ZR 505/14, NJW-RR 2017, 102; OLG Hamm, Urteil vom 14. 11. 2013 – I-4 U 88/13; OLG Frankfurt, Beschluss vom 20. 8. 2009 – 8 U 107/09; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 8. 5. 2007 – 1 BvR 193/05, NJW 2008, 359; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. 4. 2006 – I-15 U 116/05; BGH, Urteil vom 16. 6. 1998 – VI ZR 205/97, NJW 1998, 3048; BVerfG, Beschluss vom 13. 2. 1996 – 1 BvR 262/91, NJW 1996, 1530. 13 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 280 ff. 14 Stauning Willert, The New Ottoman Greece in History and Fiction, 2019, S. 28.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

Denn diese ist auch bei einem jüngeren Ereignis in einem Gerichtsverfahren schwer zu erreichen, etwa wegen Meinungsverschiedenheiten unter Sachverständigen oder des schlechten Gedächtnisses von Augenzeugen, die häufig die Ereignisse nur schwer oder ungenau erinnern. Es ist naheliegend, dass diese Schwierigkeit desto größer wird, je weiter die zu erforschenden Ereignisse zurückliegen, die auch vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten stattgefunden haben mögen. In solchen Fällen ist das Dokumentationsmaterial unvollständig oder nicht verwertbar und die Zeugenaussagen ungenügend. Unter diesen Umständen kann eine nur annähernde Darstellung der historischen Tatsache, die in Verbindung mit Werturteilen und Schlussfolgerungen der Wissenschaftler entsteht, nicht überraschen. Daraus folgt, dass die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen im Fall der historischen Tatsachen an ihre Grenzen stößt, weil das Werturteil im Lichte der Auslegung von ausgewählten historischen Ereignissen gestaltet wird. Ein solches Beispiel ist die Bezeichnung des Nazi-Kollaborateurs Philippe Petain als „großen Soldaten“ des ersten Weltkrieges durch den Präsidenten Frankreichs Emmanuel Macron15 oder das Bestreiten der Bezeichnung der Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich als Genozid und ihre Bewertung als ethnische Säuberung16. Diese Position, dass nämlich die rechtliche Behandlung einer historischen Tatsache nicht der Präzision eines gerichtlichen Verfahrens genügen kann, gesteht mittelbar auch das Bundesverfassungsgericht zu. Das Gericht unterscheidet zwischen offenkundigen, erwiesenen Ereignissen wie der Judenverfolgung und komplexen Beurteilungen, die nicht auf eine Tatsachenbehauptung reduziert werden können17. Obwohl die Differenzierung nicht willkürlich ist, hat sie einen statischen Charakter und erklärt die Wahrheitspflicht zum maßgebenden Kriterium des sachlichen Schutzbereichs. Im Fall der Judenverfolgung handelt es sich um eine vollständige Negation, während im zweiten Fall nur eine Nuance einer historischen Tatsache geleugnet wird. In beiden Fällen gilt als gemeinsamer Nenner die Stellungnahme zu einem historischen Ereignis. Es darf jedoch nicht außer Acht bleiben, dass die Wahrheit im Recht keine selbständige Schutzwürdigkeit aufweist, d. h. die Wahrheit wird nicht als solche geschützt, sondern nur zum Zwecke des Schutzes eines anderen Rechtsgutes. Allerdings können Anforderungen an die Wahrheitspflicht und daher die Ausscheidung einer unwahren Tatsachenbehauptung die Kraft des Grundrechts zur freien Meinungsäußerung mindern, indem unschädliche Äußerungen aus Furcht von Sanktionen unterlassen werden18. Eine Wahrheitspflicht besteht nur im moralischen Sinn19. Eine durch objektive Anforderungen tatbestandliche Einschränkung des 15

Der Spiegel, Macron ehrt Nazi-Kollaborateur Petain, vom 7. 11. 2018. Ekathimerini, Greek education minister sued over genocide comment, vom 14. 12. 2015; Sjöberg, The Making of the Greek Genocide: Contested Memories of the Ottoman Greek Catastrophe, 2017, S. 71. 17 BVerfG, Beschluß vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1780. 18 Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 5 Rn. 83. 19 Auch Köhler ist der Meinung, eine rechtliche Wahrheitspflicht sei dem Verfassungstext nicht zu entnehmen, vgl. Köhler, NJW 1985, 2389. 16

I. Schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB)

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Grundrechts ist weiterhin abzulehnen, weil die Ausscheidung wegen der Abgrenzung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung den Abwägungsprozess vorverlagert. Eine unwahre Tatsachenbehauptung mag die Geschichte mit grundlosen Informationen verfälschen oder die öffentliche Sphäre mit unbegründeten Aussagen manipulieren, jedoch betrifft diese Wirkung nicht den Tatbestand des Grundrechts selbst, sondern soll in einem nächsten Schritt bei der Abwägung der Meinungsfreiheit mit potentiell entgegenstehenden Rechten eingeschätzt werden. Besonders die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, dass Tatsachenbehauptungen nur dann vom Schutzbereich erfasst werden, wenn sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind, entlässt unwahre Tatsachenbehauptungen nicht aus dem Schutzbereich des Grundrechts. Denn auch unwahre Tatsachenbehauptungen tragen kreativ zu der Meinungsbildung bei. Auch eine polemische und offenbar willkürliche Stellungnahme zu einer historischen Tatsache eröffnet erneut eine Diskussion in der öffentlichen Sphäre, die die historische Wahrheit wiederherstellt oder auch als Anlass dient, um weitere, wenig bekannte historische Ereignisse aufzuklären. Sie kann weiterhin eine intensive Auseinandersetzung mit der historischen Thematik fördern, um die wenigen negationistischen Stimmen zu isolieren und das Fundament des historischen Wissens und der kollektiven Erinnerung zu festigen.20 Die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen ist also abzulehnen21. Das Bestreiten von historischen Tatsachen soll also in den Schutzbereich des Art. 5 GG fallen. 5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Als erster Schritt ist bereits das Zwischenergebnis ermittelt worden, dass die Leugnung von historischen Tatsachen dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt. Das Grundrecht auf Meinungsäußerung ist allerdings nicht absolut. Strafrechtliche Eingriffe können durch die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG („allgemeine Gesetze“, „gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend“, „Recht der persönlichen Ehre“) gerechtfertigt werden22. Es stellt sich also die Frage, ob die Bestrafung der aufhetzenden (§ 130 Abs. 1 StGB) und der schlichten (§ 130 Abs. 3 StGB) Leugnung historischer Tatsachen durch die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden kann. Eine klare Bedeutung kommt bei der Erörterung dieser Frage der Rechtsgutsdiskussion zu23. Denn würde man auf das 20 Die Bedeutung von unwahren Behauptungen für die Meinungsfreiheit betonte auch das Urteil The New York Times Company vs. L. B. Sullivan des amerikanischen Supreme Court. 21 Kritisch zu der Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen auch Dietz KJ, 1995, 217. 22 Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 120 ff.; Bethge, in: Sachs, GG Art. 5 Rn. 136 ff.; Schulze/Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 136 ff. 23 Leukert, Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, 2005, S. 229.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

Rechtsgut der Ehre zur Legitimation des Tatbestandes abstellen – wie es tatsächlich sporadisch in der Theorie vertreten wird –, dann wäre der Tatbestand unmittelbar durch Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt. Diese Auffassung ist allerdings im Rahmen dieser Arbeit schon abgelehnt worden. Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass der § 130 Abs. 3 StGB das illegitime Rechtsgut der historischen Wahrheit schützt. Als nächster Schritt soll untersucht werden, ob ein Gesetz, welches das Bestreiten einer historischen Tatsache pönalisiert, die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich beschränkt. Als praktisch wichtigste und meistdiskutierte Schranke gilt die der „allgemeinen Gesetze“24. Gegenstand besonders heftiger Auseinandersetzungen ist dabei der Begriff des „Allgemeinen“ i.S. von Art. 5 Abs. 2 GG. a) Die Sonderrechtslehre Nach der auf formale Kriterien abstellenden Sonderrechtslehre sind Vorschriften als Sonderrecht zu bezeichnen, wenn sie eine an sich erlaubte Handlung allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken25. Diesem Ansatz wird vorgeworfen, er biete keine Rechtfertigung für tatsächlich bestehende, auf Inhalte abstellende Meinungsäußerungsverbote wie das Verbot der „Auschwitz-Lüge“ oder das Verbot von NS-Kennzeichen26. Um solche unbefriedigenden Ergebnisse zu vermeiden, müsse man Ausnahmen vom Sonderrecht zulassen. Der in Betracht kommende Lösungsansatz überzeugt zwar nicht, jedoch nicht wegen der angeführten Kritik. Die Feststellung, dass die Sonderrechtslehre keine rechtfertigende Lösung für das Leugnungsverbot liefere und deshalb ablehnungswürdig sei, ist verfassungsdogmatisch irreführend. Gesucht wird nicht eine maßgeschneiderte Lösung, die im Voraus die erstrebte verfassungsrechtliche Rechtfertigung des strafrechtlichen Eingriffes garantiert, sondern ein überzeugender, begründeter Lösungsansatz, der ein maßgebendes Kriterium für die Rechtfertigung von Meinungsäußerungsverboten liefert, und zwar unabhängig von den erwünschten Ergebnissen. Die Sonderrechtslehre ist also deshalb kritisch zu betrachten, weil sie unvollendet ist. Ein Meinungsinhalt kann tatsächlich wegen einer geistigen Zielrichtung strafbar sein. Derartige Beispiele sind die Billigung des Holocausts und die Verwendung von NS-Symbolen, die eine konkrete geistige Zielrichtung zum Ausdruck bringen. Diese Handlungen werden allerdings nicht allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung bestraft, d. h. die Pönalisierung wird nicht allein wegen der nationalsozialistisch geprägten Anschauung gerechtfertigt. Sie begründet sich viel24

Schulze/Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 136. Schemmer, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 99.1; Huster, NJW 1996, 489; Schulze/ Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 139. 26 Schulze/Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 138; von Dewitz, NS-Gedankengut und Strafrecht, 2006, S. 212. 25

I. Schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB)

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mehr dadurch, dass sich die Äußernden Gewaltmaßnahmen zu eigen machen und somit das Sicherheitsgefühl von Minderheiten beeinträchtigen, die sich aus historischer Perspektive als potentielle Opfer von Anhängern dieser Ideologie betrachten. Die konkrete geistige Zielrichtung als maßgebendes Kriterium für die Bezeichnung einer Vorschrift als „allgemein“ oder „Sonderrecht“ scheitert also daran, die Frage zu beantworten, ob eine Vorschrift, die sich gegen die Äußerung einer Meinung als solche richtet, einer höhere Aufgabe hat. Bei den angeführten Beispielen besteht diese Aufgabe im Schutz der Integrität und der Freiheit von Furcht von Bevölkerungsteilen, die sonst in ständiger Angst um ihr Leben leben müssten. Um die Bestrafung einer bloßen Gesinnung von einer strafwürdigen Anschauung zu unterscheiden, ist ein weiteres Kriterium erforderlich, welches einen geeigneten Bezugspunkt liefert. Der Sonderrechtslehre kann also nicht gefolgt werden. b) Die Abwägungslehre Die Schwächen der Sonderrechtslehre vermag die material geprägte Anschauung der Abwägungslehre zu überwinden27. Nach ihr gilt eine Vorschrift als allgemein, wenn das von ihr geschützte gesellschaftliche Gut höher zu gewichten ist. Auch dieser Lösungsansatz ist nicht völlig überzeugend. Gegen die Anwendung dieser Theorie spricht, dass trotz des ausdrücklichen Schrankenvorbehalts der „allgemeine“ Charakter einer Vorschrift gemäß Art. 5 Abs. 2 GG den Gerichten ein Letztentscheidungsvorbehalt durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung eröffnet wird28. Gegen diesen Lösungsansatz ist zudem einzuwenden, dass er wegen der Relativität der Höherrangigkeit der Rechtsgüter selten zu eindeutigen Ergebnissen führt. c) Die Kombinationslehre des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Versuch, die Schwächen beider Lehren zu überwinden, beide Ansätze kombiniert. Nach der Kombinationslehre werden vom Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil unter allgemeinen Gesetzen alle Gesetze verstanden, „die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten“29, sondern vielmehr „dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen“, dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat.

27 Schemmer, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 99.1; Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 121. 28 Starck/Paulus, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 5 Rn. 281; Schulze/Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 140. 29 BVerfG, Urteil vom 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 258; Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 5 Rn. 282, 283.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

d) Würdigung der Kombinationslehre aa) Kritische Anmerkungen Die dogmatische Konstruktion der Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit wegen der gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit ist auf jeden Fall diskussionswürdig. Das Bekenntnis zur gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft wird besonders in den Gesetzesmaterialien und parlamentarischen Debatten betont und spiegelt den Geist wider, der viele Jahre später als Rechtfertigung des Sonderrechts herangezogen wurde. „Wer von den Verfolgten des sogenannten Dritten Reichs, wer insbesondere von den Juden anders spricht als mit Respekt und zugleich mit dem Gefühl tiefer Beschämung, der verdient nach unserer Auffassung nicht den Schutz dieses Staates und seiner Einrichtungen“30 ; Dehler stimmt damit überein, „dass unsere junge Demokratie mit allen Mitteln geschützt werden muss gegen diejenigen, die sich anschicken, die Grundlagen unseres jungen demokratischen Staates anzugreifen, insbesondere gegen diejenigen, die die Freiheiten dieses demokratischen Staates und seines Grundgesetzes zum Kampfe gegen die Demokratie missbrauchen“31. Ein „richtig verstandenes Recht der freien Meinungsäußerung“ wird dadurch nicht beeinträchtigt. Der strafrechtliche Schutz der Demokratie gegen ihre „Todfeinde“ sei eine aus der Geschichte der Weimarer Republik gelernte Notwendigkeit32, besonders wenn „in enger Anlehnung an die Propagandamethoden des Naziregimes die demokratische Staatsordnung angegriffen“ wird33. Die aus dem Gesellschaftsvertrag hergeleitete Ausnahme vom Erfordernis des allgemeinen Gesetzes kommt auch in den Gesetzesmaterialien in Betracht: Das Bestreiten der nationalsozialistischen Verbrechen ziele auf den antifaschistischen Grundkonsens der Bundesrepublik, der im Willen besteht, eine Wiederkehr des Gewesenen unmöglich zu machen34. Obwohl die Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit aus verfassungsdogmatischer Sicht kreativ ist, äußert sie einen Lösungsansatz, dessen Geist – in der Gestalt des Gesellschaftsvertrags der Nachkriegszeit – dem Grundgesetz immanent ist. Mit seiner ausführlichen Argumentation hebt das Bundesverfassungsgericht die langjährige Verlegenheit auf, in die die lapidare Bezeichnung des Volksverhetzungsparagraphen als allgemeinen Gesetzes geführt hat35. Sie ist zunächst ein ehrliches Geständnis, dass es sich dabei um die Pönalisierung einer bestimmten Mei30

Greve (SPD), Bundestagssitzung vom 16. 3. 1950, Drs. 563, S. 1596 A. Trotzdem weist Dehler einen Rückgriff auf ein strafrechtliches Sondergesetz zur Bekämpfung der Feinde des Staates zurück. 32 Bausch (CDU), Bundestagssitzung vom 12. 9. 1950, Drs. 83, S. 3111. 33 Referentenentwurf eines 21. Strafrechtsänderungsgesetzes, S. 7. 34 Engelhard (FDP), Bundesratssitzung vom 29. 10. 1982, S. 388. 35 BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 1994 – 1 BvR 23/94; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. 11. 2002 – 1 BvR 232/97; LG Bochum, Urteil vom 9. 9. 2005 – 1 KLs 33 Js 248/04; BGH, Urteil vom 20. 9. 2011 – 4 StR 129/11. 31

I. Schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB)

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nung handelt, die sich aber durch den besonderen Umgang der Bundesrepublik der Nachkriegszeit mit der Einzigartigkeit der NS-Verbrechen rechtfertigen lässt. Sie bringt die historische Verantwortung Europas zum Ausdruck, sich erneut zu identifizieren und eine Wiederholung dieser historischen Erfahrungen zu verhindern. Dem Lösungsansatz ist allerdings das Argument entgegenzuhalten, dass der Begriff des Allgemeinen durch die Ausnahme vom Erfordernis des allgemeinen Gesetzes seine Konturen verliert. Der ungeschriebene Grundsatz, im Lichte dessen die Grundrechte auszulegen sind, stellt keinen Tabuschutz dar. Er entfaltet eine identitätsprägende Funktion der deutschen Staatlichkeit in der Form eines allgemeinen Grundprinzips der deutschen Verfassungsordnung. Die Konstruktion der Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit wegen der gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung der NS-Vergangenheit überzeugt allerdings nicht. Ein erster Grund wäre eine grammatische Auslegung des Art. 5 Abs. 2 GG. Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 GG ist klar: der Verfassungsgeber hat darauf verzichtet, in Art. 5 GG einen Sonderrechtsvorbehalt aufzunehmen36, und ebensowenig ist eine zusätzliche ungeschriebene Ausnahme vom Sonderrechtsverbot als Selbstverständlichkeit herzuleiten. Ein zweiter Grund wäre, dass das Bundesverfassungsgericht auf eine gesetzgebungskritische Rechtsgutstheorie verzichtet und auf das vage, vieldiskutierte Rechtsgut der Friedlichkeit zur Legitimation des § 130 Abs. 3 StGB zurückgreift. Der Kombinationsformel zufolge ist der erforderliche Bezugspunkt zur Bestimmung des allgemeinen Charakters einer Vorschrift unvollständig. Denn das Gericht verzichtet darauf, ausführlich der Frage nachzugehen, warum das Bestreiten einer offenkundigen historischen Tatsache strafbedürftig sei und greift stattdessen – um sich aus seiner Verlegenheit zu befreien – auf die äußerst vage Zielsetzung der Friedlichkeit zur Legitimation des § 130 Abs. 3 StGB zurück. Es ist naheliegend, dass dieser Legitimationsversuch keinen eingrenzenden Charakter hat. Er ist eine sehr „bequeme“ Lösung, denn er kann jede beliebige Strafvorschrift legitimieren. Insofern hat die Kombinationsformel des Bundesverfassungsgerichts zur Folge, dass jedes denkbare Rechtsgut konstruiert werden kann, um den allgemeinen Charakter einer Vorschrift zu begründen. Überdies wäre einer Übertragung auf das schlichte Leugnen mit Skepsis zu begegnen, welches an sich keine explizite positive Bewertung des NS-Regimes enthält. Die Übertragung der Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis auf Abs. 3 wegen der Bezogenheit auf die NS-Gewaltherrschaft ist nicht ausreichend begründet. Die Verfälschung der historischen Wahrheit – insbesondere einer offenkundigen Wahrheit – birgt in sich keine Wiederholungsgefahr der nationalsozialistischen Schrecken. Erweitert man die Anwendung dieser Ausnahme auf alle Aussagen, die sich häretisch zu der NSVergangenheit äußern, dann wird von ihr das Ausnahmemerkmal entzogen. Ein weiterer Einwand gegen diese dogmatische Konstruktion ist, dass sie dazu führt, dass eine Kategorie von rechtsradikalem Meinungsinhalt vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen wird. Diese Lösung steht der festen Recht36

Schemmer, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 99.3.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

sprechung des BVerfG entgegen, nach der die Meinungsfreiheit auch störende oder aufhetzende Aussagen erfasst37. bb) Lösungsansatz: Gesetzgebungskritische Kombinationsformel Fehlt aber an der Formel des BVerfG ein gesetzgebungskritisches Merkmal, dann hebt die Rechtsprechung häufig auf den Schutz von beliebigen Rechtsgütern ab, so dass die höchstrichterliche Rechtsprechung fast ausnahmslos meinungsbeschränkende Gesetze als „allgemein“ qualifiziert hat38. Diese Feststellung hängt mit der Frage zusammen, ob ein gesetzgebungskritisches Rechtsgutskonzept auch verfassungsrechtliche Relevanz hat39. Geeignete Beispiele, um die Erforderlichkeit vor Augen zu führen, die Kombinationslehre mit einem gesetzgebungskritischen Element anzureichern, sind der Wunsiedel-Beschluss und der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 2018. Hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB betonte das BVerfG40, es handele sich zwar bei der Strafnorm nicht um ein allgemeines Gesetz. Diese sei aber trotzdem als Sonderrecht mit Art. 5 GG vereinbar. Denn Art. 5 GG sei eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze für Bestimmungen immanent, die der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes Grenzen setzen. Die Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG begründet das Bundesverfassungsgericht dadurch, dass das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht habe, für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung habe, die einzigartig sei und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden könne. Das Grundgesetz könne weithin geradezu als Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden und sei von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen. Die endgültige Überwindung der nationalsozialistischen Strukturen und die Verhinderung des Wiedererstarkens eines totalitär nationalistischen Deutschlands sei schon für die Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit durch die Alliierten ein maßgeblicher Beweggrund gewesen. Vor diesem Hintergrund entfalte die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit all dem schrecklichen tatsächlichen Geschehen, das sie zu verantworten habe, Wirkungen, die über die allgemeinen Spannungslagen des öf37 38 39 40

Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 66 – 74. Schulze/Fielitz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 1 – 2 Rn. 145. Roxin, in: FS-Hassemer, 2010, S. 584 ff. BVerfG, Beschluss vom 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, NJW 2010, 49.

I. Schlichte Leugnung von historischen Tatsachen (§ 130 Abs. 3 StGB)

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fentlichen Meinungskampfes weit hinausgehen und allein auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit nicht erfasst werden können. Die Befürwortung dieser Herrschaft sei in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential. Das Grundgesetz kenne zwar kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, doch erlaube die Ausnahme vom Allgemeinheitserfordernis meinungsbeschränkender Gesetze aufgrund der Einzigartigkeit der Verbrechen der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft und der daraus folgenden Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland dem Gesetzgeber lediglich, für Meinungsäußerungen, die eine positive Bewertung des nationalsozialistischen Regimes in seiner geschichtlichen Realität zum Gegenstand haben, gesonderte Bestimmungen zu erlassen, die an die spezifischen Wirkungen gerade solcher Äußerungen anknüpfen und ihnen Rechnung tragen. Diese Argumentationslinie hat das Bundesverfassungsgericht auch bei der Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen in seinen Beschluss vom 22. Juni 2018 übertragen.41 Das Bestreiten des allgemein bekannten, unter dem Nationalsozialismus verübten Völkermords indiziere eine Überschreitung der Friedlichkeit, da es nur so verstanden werden könne, dass damit diese Verbrechen durch Bemäntelung legitimiert und gebilligt würden. Die Leugnung wirke damit ähnlich wie eine Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft.42 Auch also das schlichte Leugnen der nationalsozialistischen Verbrechen stelle eine Ausnahme vom formellen Erfordernis der Allgemeinheit dar43, weil auch diese Strafnorm der Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft dienen solle. Auch hier hat also das Gericht wegen der gegenbildlich identitätsprägenden Bedeutung der NS-Vergangenheit für Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit eine ungeschriebene Ausnahme vom Sonderrechtsverbot anerkannt. Unter Berücksichtigung einer gesetzgebungskritischen Kombinationsformel ist also zu prüfen, ob die vom § 130 Abs. 3 StGB geschützte historische Wahrheit im Hinblick auf die „Allgemeinheit des Gesetzes“ als höherrangiges Rechtsgut als die Meinungsfreiheit gilt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Betracht kommende Tatbestandsvariante eine bestimmte Stellungnahme zu einem historischen Ereignis pönalisiert, nämlich die – offenbar falsche – Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen. Die Bestrafung dieser Aussage ist kein Mittel zum Schutz eines Rechtsguts, sondern schützt die historische Wahrheit als solche. Wie aber bereits ermittelt worden ist, weist die historische Wahrheit keine Rechtsgutsqualität auf, und folglich ist sie nicht höherrangig als die verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit. Die historische Wahrheit ist deshalb als Gegenstand eines Sonderrechts zu qualifizieren. 41 42 43

BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2858 ff. BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2860. BVerfG, Beschluss vom 22. 6. 2018 – 1 BvR 673/18, NJW 2018, 2859.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

Wäre der Tatbestand allgemein formuliert wie im Fall von ausländischen Straftatbeständen, die die Leugnung von sämtlichen Genoziden oder Verbrechen gegen die Menschheit unter Strafe stellen, dann wäre der allgemeine Charakter der Strafnorm i.S. des Art. 5 Abs. 2 GG wieder zu verneinen44. Denn in dieser Konstellation ist nicht ausschlaggebend, ob der Meinungsinhalt ein einziges historisches Ereignis erfasst oder pauschal formuliert ist; fraglich ist vielmehr, ob die Pönalisierung einer Aussage mit einer bestimmten geistigen Zielrichtung – hier das Bestreiten von historischen Tatsachen – einem legitimen und höherrangigen Rechtsgut dient. Auch in diesem Fall wäre aber durch die Bestrafung einer Genozidleugnung kein erhebliches Rechtsgut geschützt. Stattdessen wäre der Schutz der historischen Wahrheit als moralistische Reaktion auf die Verfälschung der Geschichte im öffentlichen Diskurs als Selbstzweck normiert.

II. Die Schranke des Jugendschutzes Obwohl die Diskussion der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des § 130 Abs. 3 StGB hauptsächlich durch die Schranke der Allgemeinheit der Gesetze erfasst wird, kommt auch der Schranke des Jugendschutzes eine gewisse Bedeutung zu. So lesen wir in den Gesetzesmaterialien, dass der notwendige Schutz gegen rechtsextreme Propaganda, die junge Menschen verführe, verbessert werden solle45. Es sei zu bedenken, so der Bundesrat, dass „mittlerweile Flugblätter mit ausländerfeindlichem Inhalt sogar in Schulen Einzug gehalten“ hätten „und dort noch leicht beeinflußbare junge Menschen erreichen, so dass der staatliche, dem Rechtsstaat verpflichtete Erziehungsauftrag beeinträchtigt“ werde46. Ebenso betont der Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass die strafrechtliche Bekämpfung neonazistischer Aktivitäten insbesondere der Gefahr begegnen soll, dass die geschilderten Verhaltensweisen „vor allem bei Jugendlichen die Bereitschaft fördern können, dass NS-System als billigenswerte Möglichkeit staatlicher Ordnung zu akzeptieren und Bestrebungen, die auf seine Wiedereinführung gerichtet sind, keinen geistigen Widerstand zu leisten“47. Diese „Aufgabe vorbeugender Gegenwehr“ „auf dem Gebiete der Aufklärung und Erziehung der Jugend“ nimmt an Bedeutung umso mehr zu, als „der Anteil der Bevölkerung abnimmt, der das NS-Regime noch selbst erlebt hat“48. Diesem Argument ist zunächst eine grammatische Auslegung der Tatbestandsvariante entgegenzuhalten: der Gesetzgeber hat den Tatbestand unabhängig vom Alter der Adressaten der Aussage formuliert. Inwieweit aber die Bestrafung einer Verfälschung der historischen Wahrheit tatsächlich dem Jugendschutz dient, bleibt 44 Anders aber Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, 2014, S. 336 f. 45 BR-Drs. 534/94, S. 4. 46 BR-Drs. 534/94, S. 8. 47 BT-Drs. 10/1286, S. 8. 48 BT-Drs. 10/1286, S. 6.

III. Weitere verfassungsrechtliche Schranken

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unerörtert. Denn bei dem Verbot des Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen wird vom Gesetzgeber nur dann ein Jugendschutz angenommen, wenn durch die Aussage eine Verherrlichung des NS-Regimes erstrebt wird, wie im Fall einer aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen (§ 130 Abs. 1 StGB)49. Nicht also die Verfälschung der NS-Vergangenheit an sich fördert eine Gewaltbereitschaft unter jungen Menschen, sondern ihre Instrumentalisierung als Vehikel für die historische Entlastung des Nationalsozialismus. Für das schlichte Bestreiten der Judenverfolgung ist diese weitere Auswirkung zu verneinen. Ein derartiges Verbot würde der Tat überdies eine Anziehungskraft für Jugendliche verleihen50. Daraus folgt, dass § 130 Abs. 3 StGB nicht als Jugendschutz zu verstehen ist.

III. Weitere verfassungsrechtliche Schranken Weitere Schranken der Meinungsfreiheit können sich aus kollidierenden Grundrechten, den sog. verfassungsimmanenten Schranken, ergeben51. Ein solches Beispiel ist die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Ausnahme vom Sonderrechtsverbot im Wunsiedel-Beschluss für Strafnormen, die die propagandistische Affirmation der nationalsozialistischen NS-Herrschaft kriminalisieren. Rechtswerte von Verfassungsrang, die mit der Meinungsfreiheit kollidieren können, sind die Menschenwürde, das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder der postmortale Achtungsanspruch. Diese sind aber bereits als Rechtsgüter des § 130 Abs. 3 StGB im Rahmen der Rechtsgutsdiskussion abgelehnt worden. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung aufgrund kollidierender Rechtsgüter muss also scheitern52. Die Tatbestandsvariante also, die die historische Wahrheit vor einer Verfälschung schützt, ist verfassungswidrig.

49 Ob es sich auch dann um einen „Jugendschutz“ handelt, ist auch umstritten (Junge, S. 135 f.). Die Jugend sollte nicht um der Verhinderung von charakterlichen Fehlentwicklungen willen vor der Konfrontation mit extremistischen Ansichten geschützt werden, sondern um keine Gewaltbereitschaft zu wecken. 50 Toma, Zur Strafbarkeit und Strafwürdigkeit des Billigens, Leugnens und Verharmlosens von Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen, 2014, S. 338. 51 Schemmer, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 113. 52 Den Rückgriff auf verfassungsimmanente Schranken betrachtet Huster kritisch (NJW 1996, 489 f.), da Verfassungsgüter nahezu beliebig aus dem Grundgesetz abgeleitet werden können, so dass die Wirkungskraft des Grundrechts empfindlich geschwächt würde.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

IV. Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen 1. § 130 Abs. 1 StGB als allgemeines Gesetz Im Gegensatz zur schlichten Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen bestehen keine Bedenken darüber, ob ein aufhetzendes Holocaustleugnen als Werturteil dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt. Um zu ermitteln, ob die Bestrafung einer aufhetzenden Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen oder auch anderer historischer Tatsachen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, stellt sich auch in dieser Variante die Frage, ob die Bestrafung des aufhetzenden Holocaustleugnens gemäß § 130 Abs. 1 StGB ein „allgemeines Gesetz“ darstellt53. Fraglich ist also, ob nach der hier vertretenen gesetzgebungskritischen Kombinationsformel ein legitimes, der Meinungsfreiheit höherwertiges Rechtsgut geschützt wird. Die Bestrafung des aufhetzenden Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen schützt die freie Entfaltung der entsprechenden Gruppenangehörigen sowie ihre Sicherheit und ihre Freiheit von Furcht. Es stellt sich also die Frage, ob eine hinreichende verfassungsrechtliche Verankerung der geschützten Rechtsgüter besteht und ob diese von höherem Rang als die Meinungsfreiheit sind. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist die erste und allgemeinste Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes54. Es schützt nicht nur die Integrität der Persönlichkeit, sondern auch ihre Selbstverwirklichung in der sozialen Umwelt55. Das aus der totalitären Menschenverachtung folgende subjektive Recht konkretisiert das verbindliche verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Würde des Menschen und legt die Rechtsordnung auf eine prinzipielle Freiheitsvermutung fest56. Fraglich ist, ob bei der aufhetzenden Leugnung einer historischen Tatsache dem vom Grundgesetz gewährleisteten Rechtsgut Vorrang vor der Meinungsfreiheit zukommt. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Bestrafung einer Aussage, die durch ein aufhetzendes Bestreiten eines historischen Ereignisses – wie etwa bei der Darstellung des Holocausts als einer böswilligen Erfindung zur finanziellen Ausbeutung der Bundesrepublik – Hass oder Gewaltbereitschaft gegen die betroffene Bevölkerungsgruppe bei ihrem Adressatenkreis weckt und damit die Integrität der menschlichen Persönlichkeit in geistig-seelischer Beziehung beeinträchtigt, dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dient. Die Antwort muss bejahend sein. Denn obwohl die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlichen Schutz genießt, ist dieser Schutz nicht uferlos. Verletzt eine Äußerung ein die Menschenwürde konkretisierendes Recht, dann stößt dieser Schutz an seine Grenzen.

53 54 55 56

Bejahend BVerfG, Beschluss vom 7. 7. 2020 – 1 BvR 479 – 20. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 1. Rixen, in: Sachs, GG Art. 2 Rn. 10. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 2.

IV. Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen

345

Entsprechendes muss für die Integrität und das Sicherheitsgefühl der Angehörigen der Personengruppe gelten, die durch die aufhetzende Äußerung angegriffen werden. Diese Rechtsgüter sind zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert, allerdings stellen sie eine materielle Vorbedingung für die Ausübung der einzelnen Grundrechte dar und genießen somit einen mittelbaren verfassungsrechtlichen Schutz. Auch bezüglich dieser Konstellation muss beiden Rechtsgütern ein materieller Vorrang vor der Meinungsfreiheit zuerkannt werden: eine aufhetzende Äußerung, die eine bestimmte Personengruppe als minderwertig darstellt und den Handlungsunwert der Vernichtung ihrer elementaren Rechtsgüter verneint, wirkt in unerträglicher Weise auf das Sicherheitsempfinden der Minderheitsangehörigen ein, und soll als allgemeines Gesetz nach der gesetzgebungskritischen Kombinationsformel gelten. 2. Verhältnismäßigkeit des § 130 Abs. 1 StGB Dass durch einen strafrechtlichen Eingriff in ein Grundrecht ein legitimes Ziel verfolgt wird, reicht allein nicht aus, um die Zulässigkeit der Strafnorm zu erklären. Für die Wirksamkeit des Eingriffes ist des Weiteren erforderlich, dass er dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt, dessen Rechtsgrundlage im Grundgesetz das Rechtsstaatsprinzip bildet57. Drei Elemente sind demnach zu prüfen: Die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit der Grundrechtseinschränkung durch den strafrechtlichen Eingriff. a) Die Geeignetheit Eine Strafnorm ist dann geeignet, den erstrebten Zweck zu erreichen, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann58. Dabei wird nicht gefordert, dass das wirkungsstärkste Mittel eingesetzt wird59 oder dass der Erfolg in jedem Einzelfall tatsächlich erreicht wird; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt60. 57

Sachs, in: Sachs, GG, 2018, Art. 20 Rn. 146. BVerfG, Beschluss vom 26. 2. 2008 – 2 BvR 392/07; Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Rn. 112; Sachs, in: Sachs, GG Art. 20 Rn. 150; BVerfG, Beschluß vom 14. 12. 1965 – 1 BvL 14/60 (Ergangen auf Vorlegungsbeschl. des OLG Saarbrücken vom 18. 4. 1960 – Ws 15/60), NJW 1966, 292; BVerfG, Beschluß vom 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, NJW 1971, 1256; BVerfG, Urteil vom 23. 1. 1990 – 1 BvL 44/86 und 48/87, NZA 1990, 164; BVerfG, Beschluß vom 9. 3. 1994 – 2 BvL 43/92, NJW 1992, 1578; BVerfG, Beschluß vom 26. 4. 1995 – 1 BvL 19/94, DtZ 1995, 324; BVerfG, Beschluß vom 10. 4. 1997 – 2 BvL 45/92, NVwZ 1997, 1110. 59 Sachs, in: Sachs, GG Art. 20 Rn. 150; BVerfG, Beschluß vom 14. 12. 1965 – 1 BvL 14/ 60 (Ergangen auf Vorlegungsbeschl. des OLG Saarbrücken vom 18. 4. 1960 – Ws 15/60), NJW 1966, 292. 60 BVerfG, Beschluß vom 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, NJW 1971, 1256. 58

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

Bei der Beurteilung der Geeignetheit des gewählten Mittels zur Erreichung des erstrebten Zwecks wird dem Gesetzgeber ein Gestaltungs- oder Einschätzungsspielraum eingeräumt61, wobei die jeweilige Sachmaterie, die geschützten Rechtsgüter sowie die Möglichkeit gesetzgeberischer Urteilsbildung berücksichtigt werden. Zu prüfen ist also, ob der strafrechtliche Eingriff in die Meinungsfreiheit des Äußernden geeignet ist, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Integrität und das Sicherheitsgefühl der angegriffenen Minderheitsangehörigen zu schützen. Fraglich ist mit anderen Worten, ob die Bestrafung der aufhetzenden Leugnung eine spezialpräventive, generalpräventive und kommunikative Wirkung im Hinblick auf den Schutz der in Rede stehenden Rechtsgüter entfaltet. Die kriminalpolitische Rolle der Bestrafung der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen wurde bereits im Teil (B.X.) behandelt. b) Die Erforderlichkeit Ein grundrechtseinschränkender Eingriff ist weiterhin zulässig, wenn er erforderlich zur Erreichung des verfolgten Zweckes ist62. Das bedeutet, dass dazu das mildeste Mittel gleicher Wirksamkeit eingesetzt werden muss63. Da der Gesetzgeber im Vorfeld von rassistischen Ausschreitungen eingreift, stellt sich die Frage, ob der vorverlagerte strafrechtliche Eingriff das mildeste Mittel zum wirksamen Schutz der Freiheit und Sicherheit darstellt. In anderen Worten: hätte der Gesetzgeber gewaltfördernde Aufrufe gegen Minderheiten straflos lassen und erst bei der Verletzung von elementaren Individualrechtsgütern eingreifen müssen? Wie bei der Geeignetheit wird dem Gesetzgeber bei der Prüfung des Erforderlichkeitsgebots eine Einschätzungsprärogative zugemessen64. Denkbar sind demnach mildere Maßnahmen, mit welchen die Freiheit und Sicherheit von Minderheiten effizient geschützt werden können. Dafür kommen Organisations- und Demonstrationsverbote gegen politische Vereinigungen in Betracht, die sich in ihrem 61

BVerfG, Urteil vom 15. 1. 2002 – 1 BvR 1783/99, NJW 2002, 664; BVerfG, Urteil vom 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12, NJW 2015, 309; BVerfG, Urteil vom 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09, NJW 2016, 1809; BVerfG, Beschluss vom 18. 12. 2018 – 1 BvR 142/15, NJW 2019, 836. 62 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Rn. 113; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 20 Rn. 119. 63 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Rn. 113; Huster/Rux, in: Epping/ Hillgruber, GG Art. 20 Rn. 196; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Art. 20 Rn. 77; BVerfG, Beschluß vom 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, NJW 1971, 1256; BVerfG, Urteil vom 23. 1. 1990 – 1 BvL 44/86 und 48/87, NZA 1990, 164; BVerfG, Beschluß vom 10. 4. 1997 – 2 BvL 45/92, NVwZ 1997, 1111; BVerfG, Urteil vom 17. 12. 2013 – 1 BvR 3139/08, 1 BvR 3386/08, NVwZ 2014, 215; BVerfG, Beschluss vom 14. 1. 2014 – 1 BvR 2998/11, 1 BvR 236/12, NJW 2014, 615; BVerfG, Beschluss vom 10. 11. 2017 – 2 BvR 1775/16, NJW 2018, 1241. 64 Sachs, in: Sachs, GG Art. 20 Rn. 151; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG Art. 20 Rn. 77; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 20 Rn. 119.

IV. Die aufhetzende Leugnung von historischen Tatsachen

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Programm feindlich gegen vulnerable Bevölkerungsgruppen äußern. Rassistische Ausschreitungen können weiterhin durch Stärkung der Bildung und des öffentlichen Diskurses im Vorfeld verhindert werden. Aufklärende Initiativen im Bereich der Pädagogik oder zivilgesellschaftlicher Strukturen sind dabei besonders geeignet, vulnerable Risikogruppen (wie Jugendliche) vor hasserfüllter Propaganda, die zu Eskalationen führen kann, zu schützen. Die Erforderlichkeit solcher alternativen Strategien kann nicht bestritten werden. Die Verhinderung von rassistischen Übergriffen hat nicht eine ausschließlich rechtliche Dimension, sondern ihnen kann auch mit Maßnahmen außerhalb des Strafrechts begegnet werden. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese ebenso wirksam für die Erreichung des erstrebten Zwecks sind. Es ist wahr, dass eine Reihe von alternativen Strategien mit generalpräventiver Richtung den demokratischen Grundkonsens und ein Klima der Toleranz fördern. Hätte aber der Gesetzgeber auf eine Pönalisierung der Hassrede gegen besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen verzichtet, dann würde ein straffreier Raum entstehen, der insbesondere im Hinblick auf die expressive Wirkung der Bekämpfung der Hassrede unerträglich wäre. Ließe also der Gesetzgeber eine direkte Aufforderung zu Gewalt oder eine Aufstachelung zum Hass gegen einen vulnerablen Teil der Bevölkerung zugunsten von milderen Mitteln straffrei, dann wäre den legitimen Genugtuungsinteressen der Angriffsobjekte nicht ausreichende Beachtung geschenkt. Die kommunikationsorientierte Straftheorie erkennt ein Recht des Tatopfers darauf an, als primärer Akteur bei der Rechtfertigung der Strafe zu fungieren. Der vorverlagerte Rechtsgüterschutz ist nicht als vager Klimaschutz oder Schutz des unbestimmten öffentlichen Friedens aufzufassen, sondern er stellt die Genugtuungsinteressen der Tatopfer in den Vordergrund und versucht durch die Pönalisierung der aufhetzenden Rede, ein risikofreies Umfeld zu schaffen. Durch diese Pönalisierung erhalten die vulnerablen Tatopfer die erforderliche staatliche Bestätigung, indem ein staatliches Unwerturteil ihre verbale Entmenschlichung als unerträglich für die friedliche Koexistenz aller Bürger erklärt. Daneben erkennt dieses Unwerturteil ein grundlegendes Recht darauf an, frei von Furcht vor gewalttätigen Ausschreitungen zu leben. Eine Kultur von Toleranz und Friedlichkeit kann zwar durch mildere Mittel gefördert werden. Es ist aber zweifelhaft, ob diese ebenso wirksam sind, da die Annahme dieser Kultur freiwillig ist und den Angriffsobjekten keinen angstfreien Raum gewährleisten kann. Neben der präventiven Rolle des Tatbestandes besteht die Erforderlichkeit des strafrechtlichen Eingriffes im bestätigenden Charakter der expressiven Strafzweckkomponente. Hätte der Gesetzgeber auf eine Pönalisierung verzichtet, dann hätte dieser Verzicht das Opfer negativ charakterisiert („du bist es nicht wert, dass sich der Staat um deine Belange kümmert“). Durch den vorverlagerten Rechtsgüterschutz erkennt der Gesetzgeber an, dass eine verbale, angsterregende Entmenschlichung strafbedürftig ist und demnach die angegriffenen Minderheitsangehörigen schutzwürdig sind. Diese explizite Erklärung, womit die Gleichwertigkeit der vulnerablen Angriffsobjekte durch bindende Maßnahmen umgesetzt wird, fehlt bei anderen, milderen Mitteln. Daraus folgt, dass der strafrechtliche Eingriff des § 130 Abs. 1 StGB ein erforder-

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

liches Mittel zum Schutz der Freiheit und Sicherheit der geschützten Minderheiten ist. c) Die Angemessenheit Schließlich ist der Frage nachzugehen, ob der in Betracht kommende Eingriff angemessen ist. Der Grundsatz der Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne besagt, dass die Beeinträchtigung des Grundrechts durch einen Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen muss65. Der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Wechselwirkungstheorie zufolge ist eine Güterabwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts nötig, in dessen Interesse sie eingeschränkt wird66. Dieser Wechselwirkung gemäß muss das Recht zur Meinungsäußerung zurücktreten, „wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang“ verletzt würden67. Es wird also gefragt, ob die geschützten Rechtsgüter des § 130 Abs. 1 StGB so gewichtig sind, dass ein Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist. Auch diese Frage muss bejaht werden. Sowohl die freie Entfaltung der Persönlichkeit als auch die Sicherheit in ihrer objektiven und subjektiven Dimension sind höherrangige Menschenrechte. Denn sie verankern die Integrität der Person sowie ihre Selbstverwirklichung in der sozialen Umwelt. Diese beiden Rechtsgüter – die Selbstverwirklichung der Person, die Integrität ihrer Existenz sowie ihr Recht auf Freiheit von Furcht – haben grundlegende existentielle Bedeutung für die Person und stellen die selbstverständliche Bedingung für die ungehinderte Ausübung ihrer anderen Grundrechte dar. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit ist dann zulässig und angemessen, wenn dadurch die Integrität der Person umfassend geschützt werden soll. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch § 130 Abs. 1 StGB gilt folglich als verhältnismäßig.

65 Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Rn. 117; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Art. 20 Rn. 120; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Art. 20 Rn. 78; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 20 Rn. 197. 66 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. 9. 2000 – 1 BvR 1056/95; Grabenwarter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 139 ff.; Bethke, in: Sachs, GG Art. 5 Rn. 145 ff.; Darnstädt, NJW 2019, 1586; von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG Art. 5 Rn. 36. 67 BVerfG, Urteil vom 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/51, GRUR 1958, 256.

V. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit

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V. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit 1. Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit Die Wissenschaftsfreiheit schützt „die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe“68. Unter wissenschaftliche Tätigkeit fällt also alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist69. In den Schutzbereich fallen nicht lediglich bestimmte wissenschaftliche Auffassungen oder Theorien. Erfasst werden vielmehr auch Mindermeinungen, Forschungsansätze und -ergebnisse70, die sich schließlich als irrig oder fehlgeleitet erweisen, sowie unorthodoxe oder intuitive Methoden71. Einem Werk kann die Wissenschaftlichkeit nicht abgesprochen werden, weil es Lücken und Einseitigkeiten aufweist72. Es wird allerdings dem Schutzbereich des Grundrechts entzogen, wenn es nicht auf Wahrheitserkenntnis gerichtet ist, sondern vorgefassten Meinungen oder Einschätzungen lediglich den Anschein wissenschaftlicher Rationalität verleiht73. Die systematische Ausblendung von Angaben und Quellen, die die vorgefasste Ansicht des Autors in Frage stellen, können ein Indiz dafür sein. Das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit enthält neben einem individuellen Freiheitsrecht eine objektive, wertentscheidende Grundsatznorm, die den Staat verpflichtet, sein Handeln ihr gemäß auszurichten, um eine Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen74. Darüber hinaus kommt Art. 5 Abs. 3 GG eine 68

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29. 12. 2012 – 1 BvR 1849/12; BVerfG, Urteil vom 24. 11. 2010 – 1 BvF 2/05, NVwZ 2011, 99; BVerfG, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 1 BvR 748/06, NVwZ 2011, 227; BVerfG, Beschluss vom 28. 10. 2008 – 1 BvR 462/06, NJW 2009, 2191; BVerfG, Beschluss vom 26. 10. 2004 – 1 BvR 911/00, NVwZ 2005, 316; BVerfG, Beschluß vom 17. 2. 2000 – 1 BvR 484/99, NStZ 2000, 363; BVerfG, Beschluss vom 3. 5. 1994 – 1 BvR 737/94, NJW 1994, 1784; BVerfG, Beschluss vom 11. 1. 1994 – 1 BvR 434/87, NJW 1994, 1781; BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. 6. 1992 – 1 BvR 824/90, NJW 1993, 916; BVerfG, Beschluss vom 1. 3. 1978 – 1 BvR 333/75, NJW 1978, 1621; BVerfG, Urteil vom 8. 2. 1977 – 1 BvR 79/70, NJW 1977, 1049; BVerfG, Urteil vom 29. 5. 1973 – 1 BvR 424/71, NJW 1973, 1176. 69 BVerfG, Beschluß vom 1. 3. 1978 – 1 BvR 174, 178, 191/71; 333/75, NJW 1978, 1621; BVerfG, Urteil vom 29. 5. 1973 – 1 BvR 424/71 u. 325/72, NJW 1973,1176; BVerfG, Beschluß vom 9. 6. 1992 – 1 BvR 824/90, NJW 1993, 916; von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Hofmann/Henneke, GG Art. 5 Rn. 48. 70 BVerfG, Beschluß vom 11. 1. 1994 – 1 BvR 434/87, NJW 1994, 1782; BVerwG, Urteil vom 11. 12. 1996 – 6 C 5/95, NJW 1997, 1996; BVerfG, Beschluß vom 17. 2. 2000 – 1 BvR 484/ 99, NStZ 2000, 363. 71 BVerfG, Beschluß vom 11. 1. 1994 – 1 BvR 434/87, NJW 1994, 1782; BVerwG, Urteil vom 11. 12. 1996 – 6 C 5/95, NJW 1997, 1996. 72 Kempen, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 180.1. 73 Kempen, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 180.2. 74 Kempen, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 5 Rn. 186; BVerfG, Beschluß vom 31. 5. 1995 – 1 BvR 1379, 2 BvR 1413/94, NVwZ 1996, 710; BVerfG, Urteil vom 29. 5. 1973 – 1 BvR 424/71

350

C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

subjektive Abwehrdimension zu75. Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. 2. Die Bestrafung des Negationismus als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit in der Rechtsprechung Ebenso in ausländischen Urteilen wie in Entscheidungen internationaler Gerichte findet sich die Behauptung, dass die Bestrafung des Negationismus die Wissensschaftsfreiheit verletzt. Das französische Conseil Constitutionnel hat im Jahre 2012 unter Berufung auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes erklärt, mit dem die Leugnung des armenischen Genozids bestraft wurde76. Auf die Wissenschaftsfreiheit beruft sich auch der Beschluss des Spanischen Verfassungsgerichts77, das das Gesetz zur Bestrafung der schlichten Holocaustleugnung für nichtig erklärte. Das Gericht betonte dabei insbesondere, dass die spanische Verfassung der Freiheit der Wissenschaft einen umfassenderen Schutz im Vergleich zur Meinungsfreiheit einräumt, denn „nur in dieser Art und Weise ist die historische Forschung möglich, die per definitionem immer kontrovers und bestreitbar ist, da sie aufgrund von Erklärungen und Werturteilen entsteht, deren Wahrheitsgehalt unmöglich mit absoluter Sicherheit zu überprüfen ist; diese Unsicherheit ist untrennbar von der historischen Debatte und sie verkörpert dabei ihr wertvollstes Gut, respektiert und geschützt zu werden, wegen ihrer entscheidenden Rolle bei der Gestaltung eines Geschichtsbewusstseins, welches der Menschenwürde der Bürger einer freien und demokratischen Gesellschaft angepasst ist“. Eine explizite Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit findet sich weiterhin im Urteil Nr. 550/1993 des Menschenrechtskommittees78. Der Antragsteller Robert Faurisson machte geltend, dass das Gayssot-Gesetz neben seiner Meinungsfreiheit auch seine Wissenschaftsfreiheit verletzt. In ihrer abweichenden Meinung stellten Elizabeth Evatt und David Kretzmer fest, dass das Gayssot-Gesetz äußerst vage formuliert ist, so dass es sogar die Veröffentlichung von bona-fide-Forschung zu

u. 325/72, NJW 1973, 1176; BVerfG, Beschluß vom 24. 2. 1971 – 1 BvR 435/68, NJW 1971, 1645. 75 Bethge, in: Sachs, GG Art. 5 Rn. 217; Britz, in: Dreier, GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 32; BVerfG, Beschluß vom 1. 3. 1978 – 1 BvR 174, 178, 191/71; 333/75, NJW 1978, 1621; BVerfG, Beschluss vom 13. 4. 2010 – 1 BvR 216/07, JuS 2011, 477; Kaufhold, NJW 2010, 3279; Hufen, NVwZ 2017, 1265 ff.; Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 15. 76 Entscheidung Nr. 2012 – 647 DC vom 28. 2. 2012, S. 2. 77 Beschluss Nr. 235/2007 vom 7. 11. 2007. 78 Robert Faurisson vs. Frankreich, Communication Nr. 550/1993 vom 2. 1. 1993.

V. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit

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Aspekten der Nürnberger Prozesse zu verbieten vermag79. Obwohl es allen Grund dafür gibt, dass die bona-fide-Forschung vor Einschränkungen geschützt bleibt, wenngleich sie anerkannte historische Wahrheiten infrage stellt und dadurch andere Menschen beleidigt, können antisemitische Behauptungen wie diejenigen des Autors diesen Schutz nicht in Anspruch nehmen. In ihrem abweichenden Votum im Urteil des EGMR zum Fall Perinçek v. Schweiz vom 17. 12. 2013 betrachten die Richter Vucˇ inic´ und Pinto de Albuquerque die Unterscheidung des Spanischen Verfassungsgerichtes zwischen der verfassungsrechtlich unzulässigen Leugnung und der verfassungsmäßigen Billigung und Verharmlosung eines Genozids kritisch80. Diese Differenzierung sei sprachlich künstlich und könne leicht durch beschönigende Rhetorik umgangen werden. Die Wissenschaftsfreiheit dürfe nicht zum Zwecke der Legitimation dieser Unterscheidung angeführt werden. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass rassistische, fremdenfeindliche und intolerante Ansichten durch einen mala-fide-Referenten mit der Begründung gefördert würden, dass sie historische oder wissenschaftliche Bedeutung hätten. Eine ähnliche Auffassung, die eine Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit in diesem Kontext als Missbrauch erachtet, findet sich im Urteil des EGMR Garaudy v. Frankreich vom 24. 6. 200381. Das Bestreiten einer eindeutig festgestellten historischen Tatsache wie des Holocausts stelle keine historische Forschung auf der Suche nach der Wahrheit dar. Denn das Ziel einer solchen historischen Betrachtung bestehe, so der EGMR, darin, das nationalsozialistische Regime wiederherzustellen und somit den Opfern vorzuwerfen, die Geschichte zu verfälschen. Ein Rückgriff auf die Wissenschaftsfreiheit im Fall des Bestreitens der nationalsozialistischen Verbrechen sei also im Voraus abzulehnen. 3. § 130 Abs. 1, 3 StGB und Wissenschaftsfreiheit – Stellungnahme Die Frage also der Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 1 und 3 StGB endet also nicht mit der Erörterung der Frage, ob bei der aufhetzenden und schlichten Leugnung von historischen Tatsachen ein ungerechtfertigter Eingriff in die Meinungsfreiheit vorliegt. Es ist weiterhin der Problematik nachzugehen, ob die Bestrafung der Leugnung von historischen Tatsachen die Freiheit der Wissenschaft gemäß Art. 5 Abs. 3 GG verletzt.

79

Robert Faurisson vs. Frankreich, Communication Nr. 550/1993 vom 2. 1. 1993, abweichende Meinung von Evatt/Kretzmer, § 9. 80 EGMR, Perinçek vs. Schweiz, Antragsnr. 27510/08, Urteil vom 17. 12. 2013, abweichendes Votum Vucˇ inic´/de Albuquerque, Rn. 19. 81 EGMR, Garaudy vs. Frankreich, Antragsnr. 65831/01, Urteil vom 24. 6. 2003.

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C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

a) § 130 Abs. 1 StGB Diese Frage ist im Fall der Pönalisierung der aufhetzenden Leugnung einer historischen Tatsache leichter zu beantworten. Denn ein Werk, das ein historisches Ereignis als Vehikel instrumentalisiert, um Hass bei seinem Adressatenkreis zu wecken oder Angst bei Minderheitsangehörigen auszulösen, darf keinen Schutz genießen. Das liegt nicht daran, dass der Autor dieses Werkes fehlerhafte oder störende Ergebnisse ermittelt. Vielmehr soll einem derartigen Werk die Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden, weil sein Zweck nicht die Ermittlung von Wahrheit, sondern die Weckung einer feindseligen Haltung gegenüber einem Personenkreis ist. Ein geistiges Werk, das ein historisches Ereignis aufhetzend bestreitet, um dadurch die Sicherheit und Freiheit der betroffenen Gruppen zu erschüttern, kann nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden. Nur weil der Autor es als solches ansieht, kann ein Werk nicht schon als wissenschaftliches qualifiziert werden. b) § 130 Abs. 3 StGB Komplizierter ist die Frage, ob ein Werk, das ein historisches Ereignis bloß leugnet, in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit fällt. Die Gegner dieser Auffassung schließen dies aus82 : die Autoren von negationistischen Werken dienen, nach dieser Meinung, nicht der Ermittlung der Wahrheit, sondern produzieren vorgefasste Ergebnisse, indem sie gegenteilige Quellen und abweichendes Material unberücksichtigt lassen. Diese Werke, die beispielsweise Genozide leugnen, zielen darauf, so die Gegner der Wissenschaftlichkeit von negationistischen Schriften, die Regime, die diese Verbrechen begangen haben, von ihrer historischen Verantwortung zu entlasten.83 Dieser Auffassung kann man nicht völlig zustimmen. Einem Werk kann die Wissenschaftlichkeit nicht lediglich deshalb abgesprochen werden, weil die Wahrnehmung des Forschers sowie seine Quellen einseitig sind. Darüber hinaus kann nicht aufgrund des willkürlichen, polemischen oder häretischen Charakters einer Veröffentlichung davon ausgegangen werden, dass der Autor die moralische Wiederherstellung des Täters zum Ziel hat. Der Autor einer negationistischen Schrift kann also nicht als mala-fide-Forscher bezeichnet werden, weil er eine – wenn auch irrige oder unorthodoxe – Minderheitsmeinung vertritt. Auch geschichtswissen82 Schäfer/Anstötz, in: MüKoStGB § 130 Rn. 77; Krauß, in: LK-StGB § 130 Rn. 22 (die Leugnung des Holocaust falle als erwiesen unrichtige und bewusst unwahre Tatsachenbehauptung nicht in den Schutzbereich der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit). 83 Auch die Rechtsprechung hat eine Zuordnung der Leugnung des Holocaust zum Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit ausgeschlossen (BVerfG, Beschluß vom 9. 6. 1992 – 1 BvR 824/90, NJW 1993, 916), weil die im Sachverhalt diskutierte Broschüre nicht das Ergebnis eigener wissenschaftlicher Tätigkeit darstellte, sondern einen kommentierten Bericht über den Verlauf eines Strafverfahrens in Toronto. Der historische Bezug des Berichtes reiche nicht aus, um den Prozeßbericht zu einem Produkt wissenschaftlicher Betätigung zu machen, das den Schutz des Art. 5 III GG genieße.

V. Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit

353

schaftlich ist diese Herangehensweise die einzige Lösung, die verhindert, dass aus einem polemischen Diskurs ein Rechtsstreit entsteht. Wie Ricoeur treffend bemerkt, ist einzig der Leser befugt, gegen das Vergessen und auch für die Gerechtigkeit der Erinnerung zu streiten. Greift man dagegen auf staatliche Maßnahmen zurück, um die Richtigkeit eines historischen Geschichtsbildes gesetzlich zu schützen oder ein geschichtswissenschaftliches Qualitätsminimum zu verankern, dann besteht die Gefahr, dass eine staatliche judikative Kompetenz auf dem Gebiet historischer Tatsachenfeststellung entsteht. Ob also ein negationistisches Werk den Anforderungen der Wissenschaftsfreiheit genügt, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Schriften, die historische Tatsachen infrage stellen, ohne gleichzeitig diese Negation als Mittel zur Entmenschlichung der Opfer und ihrer Nachkommen zu nutzen, kann der wissenschaftliche Charakter nicht abgesprochen werden. Die Einseitigkeit des Forschers oder sogar seine Vorurteile sind keine ausreichenden Gründe, um das negationistische Werk vom Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit auszuschließen. Sogar Werke, die eine vorgefasste Wahrnehmung einer historischen Tatsache als Wahrheit verkünden mögen und irrige Ergebnisse darstellen, bilden einen besonderen Baustein der geschichtswissenschaftlichen Debatte über ein historisches Ereignis; denn auch Veröffentlichungen, die mangelhafte oder nicht überzeugende Ergebnisse liefern und trotzdem die Sicherheit des Lesers über die richtige Darstellung der Ereignisse erschüttern, können positiv auf den geschichtswissenschaftlichen Prozess einwirken. Negationistische Schriften, die sich insbesondere mit nicht ausreichend behandelten historischen Tatsachen befassen, können andere Historiker auffordern, sich intensiver mit diesen Ereignissen zu beschäftigen. Die Wissenschaftsfreiheit bezieht sich also nicht auf eine strenge Ermittlung von neuen Informationen, sondern auf einen ewigen Dialog, bei dem die Anlässe zur historischen Aufklärung nicht nur von etablierten Wissenschaftlern stammen, sondern auch von Schriftstellern mit willkürlichen, einseitigen und vorgefassten Annahmen. Der polemische Charakter dieser Werke führt die akademische Gemeinde mit dem Ziel zusammen, strittige Aspekte von historischen Tatsachen aufzuklären. Bezieht sich die negationistische Veröffentlichung auf offenkundige historische Tatsachen, dann trägt eine intensivere Befassung dazu bei, die Willkürlichkeit der Behauptungen zu dekonstruieren, das historische Wissen in den Vordergrund zu stellen und das kollektive Gedächtnis zu verstärken. Aber auch in den Fällen, in denen die negationistischen Schriften weniger erforschte oder bekannte historische Tatsachen betreffen, dienen derartige Werke als Anlass, um die Auseinandersetzung mit den historischen Tatsachen zu vertiefen. Gleichzeitig kann eine intensive Erforschung von Tatsachen, die weniger Aufmerksamkeit genießen, wie beispielsweise die Rolle der deutschen Fallschirmtruppen bei der Eroberung Kretas im Mai 1941 oder eine umfangreiche historische Bewertung des französischen Militärs Philippe Petain die Frage beantworten, ob die Bezeichnung dieser Schriften als „negationistisch“ berechtigt ist. Sie kann stattdessen auch zum Ergebnis kommen, dass das Bestreiten eines historischen Ereignisses eine aufklärende Rolle bei der erneuten,

354

C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

objektiven Annäherung an die historische Tatsache spielt und dabei hilft, das Ereignis als solches von Mythen, die die nationale kollektive Identität geprägt haben, zu befreien. Die Frage also, ob die Wissenschaftsfreiheit durch die Bestrafung des schlichten Bestreitens einer historischen Tatsache verletzt wird, ist nicht ohne weiteres zu verneinen. Mehrere Parameter sind dabei zu berücksichtigen. Um zu ermitteln, ob die in Betracht kommenden Werke den Anforderungen des Wissenschaftsbegriffes genügen, reicht nicht die Feststellung aus, dass in der negationistischen Schrift irrige Thesen oder polemische Minderheitsmeinungen vertreten werden, die durch einseitige Angaben und Quellen dargelegt werden. Dass es sich dabei um ein Bemühen zur Wahrheitsermittlung handelt, kann also nicht ausschließlich aufgrund des negationistischen Charakters der Veröffentlichung ausgeschlossen werden. Einzelne Indizien müssen in jedem einzelnen Fall geprüft werden.

VI. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass die Tragweite und der Anwendungsbereich der Strafnorm zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen84. Ziel der Genauigkeit der Gesetzesformulierung ist, dass jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit welcher Strafe bedroht ist85. Bei der Bestrafung der aufhetzenden (§ 130 Abs. 1 StGB), sowie der schlichten Leugnung von historischen Tatsachen entstehen Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit von mehreren Tatbestandsmerkmalen86 : der Eignungsklausel, der Aufstachelung zum Hass, dem Zusammenhang zwischen den Begehungsvarianten des § 130 Abs. 1 S. 2 StGB und der Menschenwürdeverletzung, dem böswilligen Verächtlichmachen, der Leugnung, der Verharmlosung und dem öffentlichen Frieden87. Die Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit des Eignungsmerkmals sind bereits im entsprechenden Abschnitt zum öffentlichen Frieden behandelt worden88. Die Eignungsklausel weist eine unerträgliche Vagheit auf. Wegen ihres unbestimmten Charakters gelingt es ihr nicht, als Korrektiv zu dienen. Ebenso problematisch ist der Zusammenhang zwischen den volksverhetzenden Begehungsvarianten des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dem Menschenwürdeangriff. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass eine Verletzung der Menschenwürde 84 Nolte/Aust, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 103 Rn. 138 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 38 ff.; Degenhart, in: Sachs, GG Art. 103 Rn. 63 ff. 85 Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 103 Abs. 2 Rn. 77. 86 Vogelgesang, NJW 1985, 2387. 87 Zu der Abstraktheit des Friedensbegriffes, vgl. Fischer, NStZ 1988, 164. 88 B.IV.1.

VI. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG)

355

durch Äußerungen auszuschließen ist89. Eine andere Auffassung, die von einem großen Teil des Schrifttums befürwortet wird, führt zum Ergebnis, dass der Menschenwürdebegriff seine Konturen verliert. Weiterhin wird von den Anhängern dieser Meinung nicht ausführlich begründet, wie aufhetzende Aussagen die Menschenwürde der Tatopfer angreifen. Daraus ist also zu folgen, dass auch dieses Tatbestandsmerkmal eine gewisse Unbestimmtheit aufweist, da es auch als ein vages strafbarkeitseingrenzendes Kriterium zu verstehen ist. Bedenken bestehen hinsichtlich der Begehungsalternativen der Aufstachelung zum Hass und des böswilligen Verächtlichmachens des § 130 Abs. 1 StGB. Was die erste Begehungsvariante betrifft, ist es wahr, dass die Weckung einer feindseligen Haltung beim Adressatenkreis nur durch Auslegung bestimmbar ist. Ähnlich gilt über den böswilligen Charakter des Verächtlichmachens, der, als subjektives Merkmal, auslegungsbedürftig ist. Aus dem Gesetzlichkeitsprinzip, worin die Rechtssicherheit und die Orientierungssicherheit des Bürgers verankert werden soll, ist allerdings nicht die Feststellung herzuleiten, dass alle Vorschriften mit exakt fassbaren Tatbestandsmerkmalen bis ins kleinste Detail formuliert werden sollen. Ein solches Gebot wäre unrealistisch und würde dem Wandel der Verhältnisse nicht gerecht werden können. Der Rückgriff auf diese zwei wertausfüllungsbedürftigen Begriffe spricht also der Strafnorm nicht die Bestimmtheit ab. Die reiche Bibliographie sowie die langjährige Auseinandersetzung der Rechtsprechung mit der Vorschrift haben bereits den Sinn der Strafnorm ermittelt. Diese Schlussfolgerung kann allerdings nicht auf die anderen zwei Begehungsvarianten des § 130 Abs. 3 StGB erweitert werden, nämlich die Verharmlosung und die Leugnung. Die Verabschiedung des dritten Absatzes durch den Bundestag ohne vorherige parlamentarische Debatte verschärft die Unbestimmtheit der Strafnorm umso mehr. Mangels eines ausreichenden Gesetzgebungsmaterials entstehen Zweifel an der Bestimmtheit der Vorschrift. Zunächst bleibt offen, was überhaupt als „Leugnung“ zu verstehen ist: Setzt das Leugnen bereits voraus, dass der Täter die Unwahrheit seiner Behauptungen kennt und diese in Kauf nimmt? Erfasst also die Strafvorschrift nur die Kategorie der Überzeugungstäter oder auch diejenigen, die die Unwahrheit ihrer Äußerungen ignorieren?90 Aus dem Wortlaut der Vorschrift kann die Antwort nicht hergeleitet werden. Entsprechende Bedenken gelten hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Verharmlosung, welches allerdings den Rahmen dieser Arbeit übersteigt. Bei einer quantitativen Verharmlosung, bei der die Opferzahlen erheblich heruntergerechnet und praktisch „auf nichts“ reduziert werden, gelten die im Bezug auf die Leugnung erhobenen Einwände entsprechend. Handelt es sich dagegen um eine qualitative Verharmlosung, dann ist dies der Fall, wenn etwa ein Kriegsverbrechen mit anderen historischen Tatsachen verglichen wird, um dessen Bedeutung zu relativieren. Die 89

B.IV.2.g). Zum Thema des Leugnungsvorsatzes, siehe ausführlich Leukert, Die strafrechtliche Erfassung des Auschwitzleugnens, 2005, S. 103 ff. 90

356

C. Verfassungsrechtliche Einschätzung

Unbestimmtheit dieser Begehungsvariante besteht darin, dass die Grenzlinie zwischen der irrigen wissenschaftlichen Stellungnahme und dem Vergleich, der mittelbar suggerieren will, dass das Schicksal der Opfer gerechtfertigt war, schwer zu ziehen ist. Daraus folgt, dass die zwei Varianten des Volksverhetzungsparagraphen, die die aufhetzende und die schlichte Leugnung unter Strafe stellen, einen erheblichen Mangel an tatbestandlicher Bestimmtheit aufweisen. Der Vorschlag, dass dieses Problem durch eine verfassungskonforme restriktive Auslegung überwunden werden kann, muss als Verlegenheitslösung betrachtet werden.

VII. Schlussfolgerung Aus den vorigen Gedanken ergibt sich, dass die Bestrafung der schlichten Leugnung von historischen Tatsachen verfassungsrechtlich bedenklich gemäß Art. 5 und 103 Abs. 2 GG ist91. Die Bestrafung der aufhetzenden Leugnung historischer Tatsachen ist dagegen verfassungsrechtlich gerechtfertigt (Art. 5 GG). Auch im Fall des § 130 Abs. 1 StGB lassen sich Einwände hinsichtlich der Vereinbarkeit von mehreren Tatbestandsmerkmalen mit dem Bestimmtheitsgebot erheben.

91 Somit bestätigt sich die bereits im Jahre 1950 im Bundestag geäußerte These, die explizite Kriminalisierung der Leugnung von historischen Tatsachen verletze wichtige Grundrechte des Grundgesetzes (BT-47. Sitzung vom 16. 3. 1950, S. 1592D).

D. Zusammenfassung und Epilog I. Zusammenfassung Ist die Strafbefugnis unbegrenzt? Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, wird man die Frage angehen, ob die Leugnung einer historischen Tatsache pönalisiert werden darf. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass der Negationismus nicht nur vom deutschen Gesetzgeber bestraft wird. Ca. 40 Staaten weltweit stellen das aufhetzende oder schlichte Leugnen verschiedener historischer Tatsachen unter Strafe. Internationale Rechtsprechung und Rechtsakte vermehren die Instrumente zur Verrechtlichung der historischen Wahrheit. Von der Feststellung ausgehend, dass die Strafbefugnis anhand von zwölf kriminalpolitischen Richtlinien eingegrenzt werden soll, wurde gefragt, ob eine historische Tatsache legislativ normiert werden darf. Die in der Theorie und in der Rechtsprechung herrschenden geschützten Rechtsgüter des § 130 Abs. 1 und 3 StGB wurden anhand der gesetzgebungskritischen Rechtsgutslehre geprüft. Als Ergebnis der eingrenzenden kriminalpolitischen Richtlinien zeigte sich, dass das schlichte Leugnen einer historischen Tatsache nicht in die Strafbefugnis fällt. Es ist Aufgabe des Historikers, die Wahrheit seiner historischen Forschung durchzusetzen. Diese muss sich allein durchsetzen können. Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, dabei zu helfen. Diese Feststellungen beziehen sich auf die schlichte Leugnung historischer Tatsachen. Was gilt aber, wenn ein historisches Ereignis nicht als solches geleugnet wird, sondern seine Leugnung als Vehikel eines verbalen Angriffes gegen die Opfer oder die Angehörigen der betroffenen Bevölkerungsgruppen fungiert, für die das geleugnete historische Ereignis eine identitätsprägende Bedeutung hat? In diesem Fall, wo die betroffenen Bevölkerungsgruppen als Leugner dargestellt werden, die Verbrechen erfunden haben, um zu profitieren und die Täter dieser Delikte als Verbrecher zu stigmatisieren, kann nicht mehr die Rede vom bloßen Schutz der historischen Wahrheit sein. Die agitatorische Leugnung einer historischen Tatsache kehrt die Rollen der Akteure um: der bisherige Täter wird von der Schuld und Verantwortung entlastet; das bisherige Opfer wird als der wahre Täter dargestellt, der ein furchtbares Verbrechen erfunden hat, um ein Volk mit kollektiver Schuld und Scham zu belasten. Die Leugnung der historischen Tatsache übernimmt in diesem Fall eine funktionalistische Rolle zum Zweck der Entmenschlichung der angegriffenen Minderheit. Die aufhetzende Leugnung hat also nicht bloß zum Ziel, die historische Wahrheit zu verdrehen, sondern die Minderheit zu vernichten, für welche die historische Tatsache identitätsprägend wirkt: der Holocaust für die jüdische Gemeinde, der Völkermord für die Pontus-Griechen und die Armenier, der Genozid

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D. Zusammenfassung und Epilog

für die in Ruanda lebende Tutsi-Minderheit. Die aufhetzende Leugnung verletzt demnach das Recht von Minderheiten, sicher und frei zu leben. Die Stigmatisierung zwingt sie, in ständiger Furcht zu leben. Der Eingriff des Gesetzgebers im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen zum Schutz der Freiheit, der Integrität und des Sicherheitsgefühls berücksichtigt zudem die expressive Straftheorie, die als Ausgangspunkt die Anerkennung der Genugtuungsinteressen des Opfers hat. Verfassungsrechtliche Folge dieser Ergebnisse ist, dass das bloße Bestreiten von historischen Tatsachen vom Art. 5 GG erfasst werden soll. Die Bestrafung der aufhetzenden Leugnung ist hingegen verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da die Meinungsfreiheit in diesem Fall zum Zweck der Freiheit und Sicherheit von Minderheiten eingeschränkt wird.

II. Kritische Anmerkungen 1. Vorschläge an den Rechtsanwender Die vorliegende Arbeit richtet sich sowohl an den Strafrichter als auch an den Gesetzgeber. Die Vorschläge de lege lata an den Rechtsanwender beziehen sich zunächst auf die Ermittlung des § 130 Abs. 1, 3 StGB. Die Rechtsprechung hat die vage Friedensgefahr lapidar auch da unterstellt, wo sie nicht ersichtlich gewesen ist1. Sie hat den bloßen Reflex (Klimaschutz) als Strafgrund postuliert, ohne die genauen Auswirkungen der agitatorischen Rede auf Minderheiten näher zu betrachten. Entsprechendes gilt für die Ermittlung der Deliktsart. Die „Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören“, lässt die auslösende Reihe von Faktoren außer Betracht, die die Existenz von Minderheiten in Frage stellen kann. Schließlich stellt der Strafrichter grundsätzlich auf die Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen ab, um die Leugnung historischer Tatsachen vom Schutzbereich des Art. 5 GG auszuschließen. Dabei wird übersehen, dass auch polemische oder falsche Äußerungen zu historischen Tatsachen einen wertvollen Beitrag zum öffentlichen Dialog leisten können, da sie zu einer deutlicheren Wahrnehmung und einem lebendigeren Eindruck der Wahrheit führen, die durch den Zusammenstoß mit dem Irrtum entsteht2. 2. Vorschläge an den Gesetzgeber Diese Arbeit wendet sich allerdings auch an den Gesetzgeber. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Auslegung des Tatbestandes durch die Theorie und Rechtsprechung reicht nicht aus. Es muss der Frage nachgegangen werden, ob § 130 1 2

Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen (§ 130 StGB), 1970, S. 244. New York Times vs. Sullivan.

II. Kritische Anmerkungen

359

Abs. 1, 3 StGB zufriedenstellend formuliert und ob einzelne Änderungen erforderlich sind. a) Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 Die detaillierte Erfassung der Angriffsobjekte ist positiv einzuschätzen. Sie bestätigt, dass § 130 Abs. 1 StGB nicht eine abstrakte Aufforderung zur Gewalt unter Strafe stellt. Vielmehr ist die Strafnorm eine Bemühung, um durch einen erweiterten Schutzraum für Minderheiten die friedliche Koexistenz aller Bürger zu gewährleisten. Die ausdrückliche Erfassung auch von Einzelpersonen wegen ihrer Identifizierungsmerkmale ist auch aus diesem Grund erfreulich. Der Schutz eines schutzbedürftigen Kollektivs wegen seines Andersseins setzt den Schutz jedes seiner Angehörigen voraus, der sich sicher und ohne Angst in der Gesellschaft entfalten können soll. b) Kritikpunkte aa) Friedensklausel Die Rechtsgutsqualität des öffentlichen Friedens sowie die Eignung zur Friedensstörung wurden in dieser Arbeit eingehend diskutiert und zurückgewiesen. Der unscharfe öffentliche Frieden kann einem Tatbestand keine Legitimation verleihen. Es sollten stattdessen die Auswirkungen der in § 130 Abs. 1 StGB erfassten Handlungsvarianten auf die Angriffsobjekte näher betrachtet werden, um den Strafgrund zu ermitteln. Auch ist die Friedensklausel zu vage, um eine strafeingrenzende Rolle zu übernehmen. Es wird hiermit empfohlen, auf das Tatbestandsmerkmal der Eignung zur Friedensstörung zu verzichten. bb) Menschenwürdeklausel Der entsprechende Abschnitt gelangte zum Ergebnis, dass die Bejahung einer Menschenwürdeverletzung durch Aussagen die Menschenwürde zur „kleinen Münze“ macht. Der Menschenwürde gelingt es nicht, als strafeingrenzendes Korrektiv zu fungieren, um nicht-strafwürdiges Verhalten auszuschließen. Diese Gedanken sprechen für die Streichung der Menschenwürdeklausel. cc) § 130 Abs. 3 StGB Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Ermittlung und Durchsetzung der historischen Wahrheit ausschließlich Aufgabe des Historikers ist. Die historische

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D. Zusammenfassung und Epilog

Wahrheit stellt kein legitimes Rechtsgut dar. Der deutsche Gesetzgeber sollte auf das schlichte gänzliche oder partielle Leugnen des § 130 Abs. 3 StGB verzichten3. dd) Reformvorschlag Aus den Ergebnissen der Arbeit ergibt sich, dass die Bestrafung der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen gemäß § 130 Abs. 1 StGB notwendig ist. Auf die symbolische Pönalisierung der schlichten Leugnung sollte verzichtet werden. Auch ein Rückgriff auf unscharfe Rechtsgüter wie den öffentlichen Frieden und Korrektive wie die Friedens- und Menschenwürdeklausel sollte vermieden werden. Eine Einschränkung der historischen Materie, die vom Tatbestand erfasst wird, wird ebenfalls nicht empfohlen: denn im Fall der aufhetzenden Leugnung ist es für den strafrechtlichen Schutz der von der Leugnung betroffenen Minderheiten kein maßgebendes Kriterium, ob die in Betracht kommende historische Tatsache gerichtlich oder parlamentarisch anerkannt worden ist. Der Täter der agitatorischen Leugnung hätte auch eine strittige historische Tatsache leugnen können, die nicht gerichtlich festgestellt worden ist, um eine feindliche Einstellung gegen einen Bevölkerungsteil zu wecken. Auch diese Handlung wäre von § 130 Abs. 1 StGB erfasst. Schließlich wird als positiv die Einbeziehung von Gruppen und Angehörigen anhand von Identifizierungsmerkmalen erachtet. Aus rechtsvergleichender Sicht dienen die entsprechenden Straftatbestände in Armenien, Bulgarien, Kroatien und Spanien als Beispiel. Für die strafrechtliche Erfassung der aufhetzenden Leugnung von historischen Tatsachen wird folgende Umformulierung des § 130 Abs. 1 StGB empfohlen: Wer 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

3

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Stichwortverzeichnis Abwägungslehre 337 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 208 ff., 299 f., 343 Aufgabe des Strafrechts 123, 127, 136, 138 f., 145, 172, 195, 197, 217, 223, 231, 249, 278, 291, 293, 324 Beleidigungsfähigkeit 194 f., 199 f., 225 f. Bestimmtheitsgebot 38, 54, 82, 120, 160 f., 169, 183, 192, 331, 354 ff. Ehre 43, 45, 55 f., 101, 148 ff., 154, 189, 200 f., 208 f., 213, 220 ff., 228 ff., 236, 262, 275, 279, 324, 336 Eignungsdelikt 22, 301, 305, 309, 311, 313 ff., 321 Eignungsklausel 172, 300 ff., 305 ff., 321 f., 354 Eignungsmerkmal313, 318 ff., 325, 354 Erinnerung 24, 32, 39, 51 – kollektive 24, 39, 55, 155, 210 f., 333, 335 Expressive oder kommunikationsorientierte Funktion der Strafe 298 ff., 347, 358

Gesetzgebungskritische Rechtsgutstheorie 21 f., 136, 142 ff., 339, 357 Grundrecht auf Sicherheit 265 f., 271, 273, 275, 280 Harm Principle 126 Historische Wahrheit 19, 22, 39, 43 f., 51 f., 55, 85, 93, 114, 119 f., 122, 125, 149, 154 f., 165, 173, 204, 210, 213, 215 f., 218, 237, 239 f., 242 ff., 261 f., 293 f., 322, 330, 333, 335 f., 339, 341 ff., 351, 357, 359 Identität 24, 28, 37, 77, 151, 154, 186, 208 ff., 244, 255, 258, 301, 328, 341 – kollektive 195, 210, 212, 215, 219, 333, 354 Jugendschutz

342 f.

Klimavergiftung 155, 158, 167, 170 f., 299 Kollektive Scham 22, 156, 249 f. Kollektivehre 225 f. Kombinationslehre 337 f., 340 Luftsicherheitsgesetz

185, 268, 270

Feindrecht 266 f., 274 Freie Entfaltung der Persönlichkeit 193, 255 ff., 291 f., 309, 323 f., 344, 346, 348 Freiheit von Furcht 268, 280 ff., 285 f., 288 ff., 292, 309, 323, 337, 344, 348 Friedensklausel 301, 359

MediatingPrinciples 128 Menschenwürde 25, 45, 68, 73, 98, 138 f., 146 ff., 175 ff., 216, 226, 231 ff., 267, 270 f., 274, 276, 288, 344, 350, 354 f., 359 – kollektive 138, 194 ff., 198, 202, 207, 216, 226, 231

Gefährdungsdelikte – abstrakt-konkrete 148, 302 f., 310 f., 317 f., 320 f., 327 f. – abstrakte 300 ff., 309, 311, 312 ff., 318, 320 ff., 327 – konkrete 301 f., 304 f., 309 ff., 315 ff., 327 Generalprävention 140, 245, 295 ff.

Normstabilisierung

123, 125

Objektformel 179, 183, 188, 201, 204 Öffentlicher Frieden 22, 44, 71, 73, 89, 92, 142, 146 f., 149 ff., 154 ff., 197, 216, 242, 245, 251, 253 f., 278, 290 f., 299, 301 ff., 305 ff., 313, 315, 318, 321 f., 347, 354, 358 ff.

Stichwortverzeichnis Personale Rechtsgutslehre 135 Persönliche Sicherheit 264, 274, 278, 280, 309, 323, 325 Persönlichkeitsschutz 229 f., 233, 236 Postmortaler Achtungsanspruch 155, 174, 331, 343 Rasterfahndung 268, 285 Recht auf Selbstdarstellung

209, 219

Scheindelikt 204, 249, 293, 322 Sicherheitsgefühl 139, 158, 161, 164, 167, 259, 261, 277, 279, 282, 287 ff., 296, 323 ff., 337, 345 f., 358 Sonderrechtslehre 336 f. Sozialschädlichkeit 124, 127 f. Spezialprävention 140, 294 Strafbefugnis 20, 22, 122 f., 125, 135, 138, 145, 217, 249, 253, 357 Symbolik 205, 244, 247 Systemimmanente Rechtsgutslehre 135, 137

393

Tabuschutz 126, 141, 145, 250, 339 Tatsachenbehauptung 23, 45, 70, 224, 332 ff., 352, 358 Ultima-ratio-Prinzip 257

132, 192, 241, 243,

Verfassungsrechtlicher Legitimationsansatz 130 ff. Vergeltung 293, 299 Vergiftung des politischen Klimas 147 ff., 155, 158, 160, 163, 167, 170 f., 252, 292, 299, 303 Verletzbarkeit der kollektiven Menschenwürde 194 f. Vorverlagerung der Strafbarkeit 23, 318 Wechselwirkungstheorie 348 Werturteil 19, 21, 23, 43, 103, 134, 168, 198, 204, 224, 235, 262, 331 ff., 344, 340, 358 Wissenschaftsfreiheit 349 ff. Wunsiedel-Beschluss 177, 185, 187, 200, 286, 340, 343