Die Lehre vom Rechtszeichen: Entwurf einer allgemeinen Rechtslehre [1 ed.] 9783428549986, 9783428149988

Entworfen wird eine allgemeine Rechtslehre unter spezieller Perspektive. Ausgangspunkt ist das Versagen der deutschen Ju

184 87 3MB

German Pages 510 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Lehre vom Rechtszeichen: Entwurf einer allgemeinen Rechtslehre [1 ed.]
 9783428549986, 9783428149988

Citation preview

Schriften zur Rechtstheorie Band 283

Die Lehre vom Rechtszeichen Entwurf einer allgemeinen Rechtslehre

Von Thomas-M. Seibert

Duncker & Humblot · Berlin

THOMAS-M. SEIBERT

Die Lehre vom Rechtszeichen

Schriften zur Rechtstheorie Band 283

Die Lehre vom Rechtszeichen Entwurf einer allgemeinen Rechtslehre

Von Thomas-M. Seibert

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14998-8 (Print) ISBN 978-3-428-54998-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84998-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Entworfen wird eine allgemeine Rechtslehre. Es geht also um die Beobachtung dessen, was aktuell als Recht gilt, aber das reicht nicht aus. Wenn eine Rechtslehre die Frage „Was ist Recht?“ behandelt (und das dürfte zu den notwendigen Inhalten gehören), dann geht es auch immer darum, was Recht sein sollte. Die Frage nach dem, was Recht ist, kann sinnvollerweise nicht davon getrennt werden, was Recht richtigerweise wäre. In der Tradition der Rechtslehre hat man gemeint, Grund­ begriffe wie Vertrag, Eigentum, Staat und Strafe gewährten eine hinreichende Ga­ rantie dafür, dass beides miteinander verbunden sei und das richtige Recht dem gelehrten im Wesentlichen entspreche. Dieses Grundvertrauen besteht nicht mehr. Vielleicht war es immer eine Illusion. Heute hat eine Rechtslehre jedenfalls ne­ ben und nach der Frage, was Recht denn sei und was es sein solle, auch eine sym­ bolische Orientierung darüber zu vermitteln, wie man Inhalte erzeugt, die vor­ weg nicht bestimmt werden können. Orientierung über das, was ist und sein sollte, kann man – wenn einzelne Zeichen nicht feststehen – nur über das Zeichenkonzept selbst erlangen. „The Concept of Law“ – um hier den Titel von H. L. A. Harts all­ gemeiner Rechtslehre aus dem Jahre 1961 einzuführen – enthält dann immer auch ein Zeichenkonzept. Seit Hart, der selbst sprachanalytisch arbeitete, ist die semio­ tische Perspektive im Recht präsent. Entstanden ist dieser Entwurf der allgemeinen Rechtslehre in etwa dreißig Jah­ ren in Dezernaten der Justiz und fast vierzig Jahren in Lehrveranstaltungen als­ Assistent und später Hochschullehrer in akademischen Lehrveranstaltungen, auf Tagungen und in Beiträgen zur Rechtstheorie, zum Strafrecht und zur all­gemeinen Semiotik. Trotzdem ist der Autor, der auch eine eigene Ausbildung hatte, nicht hundert Jahre alt. Theorie und Praxis gingen nebeneinander her – so wird man es wohl sagen müssen. Was über das Recht gedacht wird und was im Recht wirklich getan wird, geht ziemlich unverbunden nebeneinander her, und manchen Prakti­ kern fällt so wenig auf, was sie tatsächlich tun, wie nicht wenige Rechtsforscher es zu aufwändig finden, sich in Gerichtssälen oder Amtszimmern der Verwaltung aufzuhalten. Diese Rechtslehre (als eine solche vom Zeichen) soll eine Bezeich­ nung der Theorie-Praxis-Verbindungen, -Verschleifungen und -Verzweigungen wagen. Es besteht die Hoffnung, dass Einzelheiten im Lichte der Zeichenabstrak­ tion an Exemplarität gewinnen und die Abstraktion aus Einzelheiten Anschau­ lichkeit zieht. Vorworte sind der Ort, denen zu danken, die eine Schrift beraten und diskutiert haben und sie als Erste lesen werden – wie man hofft. Zu danken ist Julia ­Gilcher, die für die Zeichenpraxis dieser Schrift den wesentlichen Beitrag geleistet hat. An­ deren kann ich weder danken, noch sie als Leser gewinnen, nur noch an sie erinnern.

6

Vorwort

Das sind Roberta Kevelson (1931–1998), Klaus Lüderssen ­(1932–2016), Cornelia Vismann (1961–2010), Gerhard Struck (1944–2015) und Frank Rotter (1939–2015). Ohne Klaus Lüderssen hätte es mein persönliches Theorie-Praxis-Projekt nicht gegeben, „Bobby“ Kevelson war mit ihrer ikonischen Tagungspraxis über Law and Semiotics in den Neunzigerjahren diejenige, die mir Peirce so lebhaft nahe­ gebracht hat, dass ich viele Jahre später darauf zurückkommen konnte. Cornelia­ Vismann ist diejenige gewesen, von der ich das agonale und theatrale Dispositiv der Justiz zum ersten Mal in einer Weise demonstriert sah, die ich hier in den Kapi­ teln VI. und VIII. darstelle. Die widerständige Zweitheit des Rechts habe ich über Jahrzehnte hinweg mit Gerhard Struck an vielen einzelnen Fällen diskutiert, und mit Frank Rotter habe ich bis in seine letzten Lebenstage die internen Gesichts­ punkte von Kapitel III. in ihrer analytischen Verknüpfung ausgetauscht. Für sie alle möchte diese Schrift auch ein Zeichen sein. Frankfurt a. M., im Juni 2016 

Thomas-Michael Seibert

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I.

Das Eins-Zwei-Drei des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Semantik und Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Gerechtigkeit, Rechtskraft und die Kraft des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

II.

Drei Arten der Objektrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol . . . . . . . . . . . . . 57 2. Ikonizität und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Indexikalität und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. Symbol und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

III. Der interne Gesichtspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Die individuelle Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Festlegung einer Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Kategorischer Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Situationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Zur Analyse personaler Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Frage nach den Maximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Verdrängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Moralisch-rechtliche Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Diskursbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz . . . . . . . . 101

8

Inhaltsverzeichnis

IV. Literarische Rechtszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“) . . . . 113 2. Alles gesetzlich (Gontscharow: „Oblomow“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Das Aufschreibesystem (Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“) . 126 4. Die Sachlichkeit des Mordes (Broch: „Huguenau oder die Sachlichkeit“) . . . . 131 5. Karriere eines Romans (K. Mann: „Mephisto“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6. Eichzeichen (Roth: „Das falsche Gewicht“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 7. Josef K. (Kafka: „Der Proceß“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 8. Der Mann vom Lande (Kafka: „Vor dem Gesetz“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 V.

Medien des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Anlegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Vorlegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 c) Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 d) Protokollieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 e) Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 f) Verwaltungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 g) Vernichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Unterschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4. Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

VI. Das Justizdispositiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Rechtsbegehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Der Wille zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Formenzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Körperzwänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Die Waffen des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6. Entscheidungsnot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 VII. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Das Geheimnis der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Dicents oder Urteilsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Inhaltsverzeichnis

9

3. Indizierung im Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4. Legizeichen der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5. Verfahren ohne Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Scheinbare Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Die Bartleby-Variante der Nichtentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Die Unmöglichkeit der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 d) Vergessene Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 VIII. Das Theater des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Die theatrale Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Die Aufführenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Inszenierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 4. Das Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 IX. Die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1. Normbegriff und Normenbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Tatbestand und Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 3. Zurechnung und Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4. Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 X. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 3. Argumentation und Abduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 5. Querulanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 XI. Der Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Juristische Schulfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 3. Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 4. Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 XII. Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

10

Inhaltsverzeichnis 2. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 a) Politisches Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 b) Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 c) Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 d) Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 3. Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 4. Der Aufstand der Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

Semiotisches Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Einleitung Der Dokumentarschriftsteller Friedrich Christian Delius hat mit Interviews, Ortskenntnis und Aktenstücken einen Roman über ein Rechtszeichen verfasst. Das hätte – paradoxerweise – der mögliche Mord an Hans-Joachim Rehse sein sol­ len, einem Beisitzer an Freislers Volksgerichtshof, verantwortlich für 231 Todes­ urteile und dennoch freigesprochen von der Anklage wegen Rechtsbeugung. Der Roman beginnt mit einem semiotischen Imperativ: „Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein.“1 Ein Zeichen zu setzen ist zur Floskel verkommen. Man muss die Formel trotz­ dem in Kauf nehmen. Sie ist der Anfang für die Lehre vom Rechtszeichen, denn sie enthält den Impuls, ohne den gar kein Zeichenprozess in Gang kommt. Die Lehre vom Rechtszeichen betrifft alle, die mit dem Recht zu tun haben, es stu­ dieren, damit arbeiten oder sich darüber ärgern. Sie befasst sich auch, aber nicht nur mit ­geltendem Recht, wenn Recht das ist, was nach reiner Rechtslehre hinge­ nommen wird, weil es beschlossen worden ist. Der Impuls für Rechtszeichen um­ fasst viel mehr als Gesetzeskenntnis, so dass diese Rechtslehre sich auch nicht in einer Lehre für Juristen erschöpfen kann. Rechtszeichen bezeichnen Handlun­ gen unter der Fragestellung, ob diese Handlungen mit dem eigenen Rechtsgefühl (noch) verträglich seien. Manchmal werden Handlungen erst sehr spät verstan­ den. Im Fall Rehse hat das 27 Jahre gedauert, nachdem Rehse erst verurteilt, die­ ses Urteil dann aufgehoben und er im zweiten Rechtsgang freigesprochen worden ist. Bis zum Jahre 1995 hat es gedauert, ehe der BGH unter Bezug auf den Fall Rehse feststellt:2 „Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebensowenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte. Einen we­ sentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des BGH (vgl. BGHSt 10, 294 = NJW 1957, 1158; BGH, NJW 1968, 1339 (1340); vgl. dazu LG Ber­ lin, DRiZ 1967, 390 (393, r. Sp.)). Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen, die der Senat als berechtigt erachtet. Insgesamt neigt der Senat zu dem Befund, daß das Scheitern der Verfolgung von NS-Richtern vornehmlich durch eine zu weitgehende Ein­ schränkung bei der Auslegung der subjektiven Voraussetzungen des Rechtsbeugungstat­ bestandes bedingt war …“

Es hätte also ein anderer als der BGH das Zeichen setzen müssen. Diesen Akt holt Delius nach. Er setzt das Rechtszeichen. Das sind für den Philosophen Handlungs­ 1

Friedrich Christian Delius, Mein Jahr als Mörder. Roman, Reinbek 2006, 9.  BGHSt 41, 317; siehe: http://seibert.biz/hrrstrafrecht.

2

12

Einleitung

beziehungen, die Affekte wegen der Beanspruchung von Rechten hervorrufen3 Mit Delius’ fiktiv autobiographischem Roman kann man besser als in der abstrakten Philosophie verstehen, was das heißt. Ein Rechtszeichen kann etwas Unerhörtes, Unrechtmäßiges erlauben, nämlich Selbstjustiz. Das ist so unerhört, dass Delius den zitierten Satz gleich so kommentiert: „Nein, ich hatte nichts getrunken, stand nicht unter Drogen, war nicht aus dem Bett einer Freundin getaumelt. Völlig nüch­ tern war ich, nur etwas müde, als der Satz mich traf: Einer wird ein Zeichen set­ zen und diesen Mörder umbringen, und das wirst du sein.“4 Übrigens wird der Satz nicht exekutiert. Der Autor kann sich auf das wahre Geschehene zurückziehen und es zum Inhalt des Romans machen. Der im Dezember 1968 freigesprochene Rehse wird kurz darauf Herzpatient und stirbt im September 1969 an Herzversagen – b­ evor der BGH über den Freispruch entscheiden kann. Das Rechtszeichen kann spontan als Erstheit gesetzt werden, es wird schon durch seine Setzung zum Objekt vieler Handlungen und hat in den Vorstellungen derjenigen, die es interpretieren, seine Wirkungskraft. Es muss nicht vollstreckt werden. Das ist in kürzestmöglicher Form die Lehre vom Rechtszeichen. In längerer Form wird in den ersten beiden Kapiteln (I. und II.) das Rechtszeichen vorgestellt und damit jene Zeichenformation, in der jeder Einzelne sein norma­ tives Erleben ordnet. Das ist der semiotische Allgemeinanspruch, und insofern muss semiotische Begrifflichkeit diese Darstellung verlängern. Von ihr aus führt ein Weg zu internen Gesichtspunkten der Normbildung und Akzeptanz wie zu „schöner“ Literatur über Recht und zur medialen Erscheinungsweise rechtlicher Zeichenprozesse (Kap. III.–V.). Ein anderer Weg führt zum Justizdispositiv als je­ ner institutionell-gegenständlichen und zugleich von Begehren gesättigten staat­ lichen Formation, die Recht klein arbeitet und in der verhandelt und entschieden wird (Kap. VI.–VIII.). Am Ende stehen Grundbegriffe der klassischen Methoden­ lehre: Norm und Fall ebenso wie Methode und Verfassung (Kap. IX.–XII.). Aus ihnen ersieht man, dass Rechtszeichen nicht immer auch gerechte Zeichen sind.

3

Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1989. 293. Delius (Fn. Einl. 1), 9. 

4

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts Recht ist der Form nach immer Zeichen, es steht für als notwendig und gerecht empfundene Deutungen eines Falls, und dafür steht es, auch wenn das Dafür­ stehende falsch sein sollte oder vielleicht gar nicht gleichzeitig notwendig und gerecht sein kann. Rechtszeichen sind nicht immer wahr, sie werden prozessual gesetzt, stehen für notwendiges, als gut empfundenes Handeln und werden ver­ teidigt, auch und gerade wenn sie übergangen und beiseitegeschoben werden. Das heißt aber noch nicht, dass sich im Rechtszeichen das gerechte Recht wirk­ lich zeigte. Das ist nur – insofern aber notwendig – Anspruch derjenigen, die sol­ che Zeichen setzen. Der Anspruch geht häufig genug ins Leere oder in die falsche Richtung; dennoch geht es ohne diese Zeichen nicht (1.). Im Folgenden ergibt sich daraus die analytische Richtung. Sie geht aus von den Konzepten und Begriffen der Semantik und Pragmatik (2.), die in dreifacher Weise differenziert werden. Ich zitiere dabei Erstheit, Zweitheit und Drittheit im Sinne von Charles S. Peirce und konkretisiere sie an Grundbegriffen des Rechts wie Gefühl (3.), Tatsache (4.) und dem (nur in der Form von Metaphern wahrnehmbaren) Dritten (5.). Rechts­ kraft und Gerechtigkeit sind dann die Begriffe, die am Anfang wie am Ende das Feld des Rechts abstecken, denn Recht soll das sein, was gerecht ist (6.). Dieser Anspruch ist – auch wenn er nicht durchgesetzt wird – doch so wirklich, dass ihn keine andere Wirklichkeit verdrängen kann. Er macht die Kraft des Rechts aus, eine Kraft, die nicht ohne Weiteres mit der „Rechtskraft“ einer Justizentscheidung identifiziert werden kann. 1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie Alles Recht ist Zeichen, und wer sich ausdrückt, sich mit anderen verständigt und handelt, vermittelt Vorstellungen und Gedanken mit Recht und über Recht. Es geht gar nicht anders. Für sich genommen, sind Zeichen allgegenwärtig. Fraglich ist, ob man sie bemerken will oder sich bei „Dingen“, „(Tat-)Sachen“ und „Mei­ nungen“ besser aufgehoben fühlt, auch wenn Dinge zeichenhaft wahrgenommen, Sachen bereits konstituierte Zeichen und Meinungen komplexe Rechtszeichen sind. Dem Zeichenbegriff sind das erste und zweite Kapitel gewidmet. Wenn man in diesem Zusammenhang verstehen will, was dieser Begriff soll und wofür er gut sein könnte, dann kann man die rechtsphilosophische Grundfrage stellen und zu­ rückfragen, was denn „Recht“ seinem Inhalt nach sei oder auch gleich: was „ge­ recht“ sei. Hier steht die These am Anfang, dass es eine Verhaltensweise ­(behavior of sign) im Menschsein ist, die Menschen veranlasst, Unrecht anzuklagen, ihr Recht einzufordern oder Befehlen nicht zu gehorchen. Recht erkennt man an den

14

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Zeichen des Protests, an den Verweigerungen, Klagen und Aufrufen, die seinen Namen gebrauchen. Sie setzen die Rechtszeichen. In gewisser Weise ist damit eine Umkehr in der allgemeinen Rechtslehre verbunden, die John Austin 1832 mit dem Satz begonnen hat, das Recht sei Befehl. Diese Vorstellung hat lange Tradition und ist weit verbreitet. Austin war Jeremy Bentham verbunden und folgte ihm in zen­ tralen Konzepten. Die Vorstellung, mit Recht könne man eigentlich nichts anderes tun als befehlen oder verbieten, hat vor Austin bereits dessen Lehrer ­Bentham for­ muliert,1 und sie gerinnt bei John Austin zu einem ersten lapidaren Satz: „Laws, or properly so called, are commands; laws which are not commands, are laws ­improper or improperly so called.“2 Das ist die Grundformel für jede Herrschafts­ theorie des Rechts. Auch wenn der ältere John Austin (der weder identisch noch verwandt ist mit dem gleichnamigen jüngeren Autor der speech acts) in der Zwi­ schenzeit fast in Vergessenheit geraten ist, seine Befehlstheorie des Rechts ist es nicht,3 auch wenn sie im angloamerikanischen Rechtskreis eingeschränkt worden ist. Seit H. L. A Hart im Jahre 1961 „The Concept of Law“ veröffentlicht hat, be­ tont man den Regelcharakter des Rechts, aber auch nur in Ergänzung zum Befehl des legitimierten Gesetzgebers. Hart hat hervorgehoben, dass Rechtsnormen oft gar nichts anordnen oder verbieten, sondern stattdessen festlegen, wer etwas an­ ordnen darf, also Verfahren und Zuständigkeiten festlegen.4 Diese Art sekundärer Regeln zu betonen, war und ist ein wesentlicher Zugewinn, der auch dem Justiz­ dispositiv (Kap. VI.) zugrunde liegt. Das ändert aber nichts daran, dass die ein­ seitige Anordnung, der Befehl, eine analytische (nicht empirisch-psychologische) Ausgangslage für jede Rechtsvorstellung umschreibt.5 Dass im Recht anderen Befehle erteilt würden, sich in bestimmter Weise zu verhalten, entspricht auch einer alltäglichen Vorstellung, und es bleibt noch zu un­tersuchen, wie viel an Rechtszeichen im Befehl stecken kann oder wie viele Befehle für Rechtszeichen verträglich sind. Die Befehlsbeziehung begründet im­ merhin eine zentrale Handlungsrichtung, etwa die schon zitierte: Du wirst diesen Mörder umbringen! Das ist ein moralischer Befehl gegen ein rechtliches Gebot, dem gleichzeitig der Kampf angesagt wird, so dass mit Recht zwei entgegen­ gesetzte Positionen besetzt werden, eine davon als Verbrechen etikettiert. „Para­ dox“ nennt man das heute. Befehle sind Zeichen der Macht, und die Staatsmacht ist mit dem Recht in der Regel so eng verschwistert, dass beide kaum noch zu un­ terscheiden sind. Aber identisch sind sie nicht. Recht ist nicht (Staats-)Macht, es kann für die Macht des Gewissens stehen, es kann ein Zeichen des Protests ge­ gen staatliche oder private Macht werden. Seine Normen sind aus Anweisung,

1 Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation (1780), ch. XVII, New York 1988, 309. 2 John Austin, The Province of Jurisprudence Determined (1832), New York 2000, 1. 3 Bernard Jackson, Making Sense in Jurisprudence, Liverpool 1996, 33–56. 4 Herbert L. A Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt a. M. 1973, 46–68. 5 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., Köln u. a., 208.

1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie

15

An­erkennung und dem gleichzeitigen Willen zusammengesetzt, das Abweichende nicht hinzunehmen (Kap. IX. 1.), sie sind nicht einfach Befehle. Aber – und damit beginnt die Diskussion über Zeichenhaftigkeit – kann Recht sein, wogegen einer oder mehrere sich bloß auflehnen, oder kann es ernsthaft sein, was einer nur dafür hält? Ist das Recht nicht woanders, nicht bei denjenigen, die laut rufen? Ist es in Büchern oder – wenn nicht in Texten – dann bei Experten, die daran still arbeiten? Vielleicht ist Recht nicht das, was die Leute darüber denken und meinen, sondern etwas, das Expertise und Interpretation verlangt und offen­ bart, verkündet oder erkannt werden muss. In der Tat können laute Rufe genauso wie Leiden, Schweigen oder eben auch ruchloses Tun Zeichen des Rechts sein, kann der Tyrannenmord, mit dem Schiller sich im „Wilhelm Tell“ abmüht, zum positiven Zeichen werden. Zeichen müssen nicht sprachlich ausgedrückt werden. Wenn man „Rechtszeichen“ sagt, dann sagt man noch nicht gleichzeitig, um wel­ che Normen es sich dabei handelt. Man erfährt nur, dass es sich um eine Sache, einen Fall oder ein Verhalten handelt, das Einzelnen oder Gruppen le­benswichtig ist, so bedeutsam und wichtig, dass Anschlusshandlungen folgen. Insofern kön­ nen auch Bagatellen (bzw. was anderen als Bagatelle erscheint) lebensbedeutsame Qualität haben. Zeichen des Rechts werden nicht durch irgendwelche Aktionen ge­ setzt. Sie müssen für jemanden besonders wichtig sein, zeichenhaft eben. Der Begriff des Zeichens wird hier anschließend in seinen drei Kategorien er­ läutert, soweit diese etwas Rechtliches erfassen. Dabei gibt es für Zeichen eine bekannte scholastische Formel – aliquid stat pro aliquo –, mit der die Tradition seit Aristoteles erfasst werden kann, die aber nur zwei Seiten kennt. Zeichen ist danach alles das, was nicht ist, was es zu sein scheint, weil es für etwas ande­ res steht. Den Hut dort auf der Stange lässt Schiller für den Landvogt stehen, und sein Wilhelm Tell lässt die Bedeutung zunächst einmal gelten. Erst die Sanktion, die auf die Abweichung folgt, bringt ihn auf gegen den Popanz des Kaisers und seinen Statthalter. Der Gessler-Hut ist ein Zeichen. Aber vielleicht sind Hüte auch ohne Gessler-Vogt und Kaiser ein Zeichen, zumal heutzutage, wo so wenige Men­ schen noch Hüte aufsetzen. Der Hut steht auch dann für etwas anderes, das man aber erst herausbekommen muss. Ein bestimmter Hut steht für Humphrey Bogart, dessen Rolle als Detektiv ohne das Requisit des Huts filmisch nicht mehr denk­ bar ist. Die Robe steht für die Rolle des Richters, ohne dass man eigentlich defi­ nieren kann, was andere mit ihr verbinden. Ebenso wenig liegt auf der Hand, was eine Fahne für das staatliche (oder auch menschliche)  Selbstverständnis bedeu­ tet. Bedeutungen verlangen von jedem, der sie als Problem erlebt, selbst heraus­ zubekommen, was sie meinen. Man muss alltägliche Rätsel lösen oder in begrenz­ ter Weise raten. Für den Prozess, sich auf die Spur nach einer Be-Deutung zu begeben, hat der Mathematiker und Semiotik-Begründer Charles Sanders Peirce eine formale Definition gegeben. Als Theorievorlage dafür dient die Formel in Baldwin’s Dictionary of Psychology and Philosophy von 1901/02. Sie lautet, das Zeichen sei „alles, was etwas anderes (seinen Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise

16

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum“.6 Was das heißt, versteht man nicht im ersten Zugriff. Operiert wird nämlich in einer Triade. Das unterscheidet die Semiotik von den Zeichenoperationen system­ theoretischer Art, in der Spencer-Browns Haken ───┐ die einfache Ausgrenzung markiert. Es soll etwas als System von etwas anderem, seiner Umwelt, unterschie­ den werden. Niklas Luhmann zitiert dazu viele Male die Aufforderung: Make a difference. Mit der Differenz ist die Operation des Zeichens freilich nur in einer von drei Hinsichten erfasst. Die Differenz lässt ein Objekt entstehen, aber die Be­ ziehung, die durch jene Differenz entstanden ist, wird von einem dritten interpre­ tierenden Moment herbeigeführt. Was dabei „herbeigeführt“ heißt und wie diese Führung sich eigentlich ereignet, muss man untersuchen. Wenn man es tut, rückt das Interpretierende in die Bezeichnungsposition und wird seinerseits von einem dritten Moment auf eine Objekt-Umwelt bezogen. Es gibt also neben Make a difference als Operator einen interpretant, und es gibt den fortgesetzten Wechsel zwi­ schen Interpretanten und differenzauslösenden Repräsentanten, der in der Termi­ nologie der Systemtheorie als re-entry der ausgegrenzten Umwelt in das System verstanden wird. Zeichentheoretisch ist das der semiotische Prozess selbst. Das als Objekt ausgegrenzte Recht wird als objektives Recht wahrgenommen und auf seine Bedeutung hin befragt. Das ikonische Rechtsgefühl schafft ein Objekt, das einen interpretierenden Gedanken des Rechts auslöst, und dieser Gedanke tritt anschlie­ ßend repräsentierend in den weiteren Prozess ein und wird seinerseits interpretiert. In der Terminologie von Peirce wirkt das Repräsentamen auf ein Objekt und ruft dabei einen Interpretanten auf, der wiederum zu einem Zeichen wird, das einen weiteren Gedanken auslöst und den begonnenen Unterschied fortsetzt und ver­ tieft. Dirk Baecker macht die Operation des re-entry deshalb zur Grundlage eines „Kulturkalküls“, in dem das Zeichen als Ausgrenzung eines Ikon gegenüber dem Index dargestellt wird, wobei Index wie Ikon Interpretanten auslösen.7 Man kann also durch eine Kombination von Zeichen und Worten (oder Namen) auf einer ab­ strakten Ebene neue Zeichen schaffen und tritt dann ein in die Notationsweise des späten Peirce, der „existenzielle Graphen“ als Methode empfohlen hat. Mit grafischen Darstellungen soll die Theoriedarstellung im Verständnis von Peirce einfach, bildlich (ikonisch) und analytisch werden.8 Solche Grafiken sind der allgemeinen Sprache an Abgrenzungsschärfe überlegen. Es bleibt also keineswegs bei einer schlichten Abtrennung, Bezeichnung oder Systembildung, sondern das ab­ getrennte System, das Zeichen, wird wieder eingeführt in den Zusammenhang des prozessierenden Denkens. Zeichen schaffen nicht nur einfach weitere Zeichen – was sowieso ein trivialer Satz ist –, die semiotische Bewegung fällt erst durch die Wie­ 6

Charles S. Peirce, Zeichen, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Christian J. Kloesel/Helmut Pape, Frankfurt a. M. 2000, 375. 7 Dirk Baecker, Kulturkalkül, Berlin 2014, 59. 8 Charles S. Peirce, Die kontinuierliche Darstellung von Identität, in: (Fn. I. 6, Bd. 3), 197.

1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie

17

dereinführung des Bezeichnenden ins Bezeichnete auf, nicht in der bloßen binären Differenz. Die Semiotik entsteht deshalb erst in und mit dem sogenannten „semio­ tischen Dreieck“, für dessen Ecken es so viele Bezeichnungen gibt wie für die Ver­ bindungen zwischen den Elementen. Es gibt Semiotiker, die davon ausgehen, dass alle Elemente zueinander und untereinander in direkter Beziehung stehen. Solche Vorstellungen verbinden sich vor allem mit dem von Ogden/Richards eingeführten semiotischen Dreieck, dessen Besonderheit darin besteht, dass bezeichnende Aus­ drücke nur über gedankliche Konzepte auf Referenten Bezug nehmen.9 Folgt man Peirce, verhält es sich im Dreieck (das Peirce selbst nie gezeichnet hat) anders. Be­ zeichnendes bezieht sich im Gegenteil unmittelbar auf Objekte, wobei diese nur als Zeichen wahrgenommen werden, in dieser Wahrnehmung aber Interpretanten auf­ rufen. Es sind nicht die Referenten (die auch nicht ohne Zeichen wahrzunehmen wären), sondern die Interpretanten, die sich nicht ohne Weiteres repräsentieren las­ sen, weil ein interpretans sie bewegt. Wenn man die Bewegung still stellt, kann man den Interpretanten zwar bezeichnen, schafft aber gleichzeitig ein neues Zeichen und führt den möglichen Interpretanten als selbstständiges Zeichen in den Zeichenpro­ zess ein. Der Interpretant selbst ist ungreifbar (das ist das Motiv für den semioti­ schen Verdacht, Kap. X. 4.). Hier soll das semiotische Dreieck in der Notation von Nöth10 wiedergegeben werden (der Peirce und Max Bense als Gewährsleute aufruft): Repräsentamen 1

2 Objekt

3 Interpretant

Abbildung. 1: Semiotisches Dreieck

Wenn hier Ziffern in die Kreise eingesetzt sind, dann hat das eine theoretische Bedeutung für die Semiotik. Damit werden Typen von Zeichen unterschieden,11 die in der Ausdrucksweise von Peirce12 als Erstheit, Zweitheit und Drittheit unterschie­ 9 Charles Kay Ogden/Ivor Armstrong Richards, The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, 2. Aufl., New York 1927, 11. 10 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 2000, 140. 11 Angelika Linke/Markus Nußbaumer/Paul R. Portmann, Studienbuch Linguistik, 5. Aufl., Tübingen 2004, 19. 12 Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. v. H. Pape, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, 55.

18

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

den werden (firstness, secondness, and thirdness). Gemeint ist damit eine Katego­ rientafel. Als Erstes stößt man auf ein Zeichen als Mittel, also auf etwas, das sich aufdrängt, ohne selbst aufzufallen. Wendet man sich diesem Mittel zu, entdeckt man seine Objektqualität. Das Gesetzbuch war ein Foliant, das Verfahren besteht aus miteinander vernähten einzelnen Folien (Blätter, die eine Akte ergeben), die Verhandlung besteht aus Person und Tisch. Bücher, Akten und Verhandlungen sind Medien, in denen Rechtshandlungen stattfinden.13 Dabei streiten Rechtshistoriker schon darüber, ob ein Stuhl notwendig dazu gehört (entsprechend der heute gängi­ gen Aufforderung: Setzen Sie sich!) oder ob man für sein Recht „aufsteht“, es also selbstbewusst im Stehen vorträgt (für sein Recht also einsteht).14 Was diese Objekt­ positionen jeweils bedeuten, muss interpretiert werden. Vom Objekt als Zweitem des Zeichenprozesses drängt es alle Beobachter zu einem Dritten, das erklären soll, warum man bei einer Verhandlung Roben anlegt, ob man wirklich auf verschie­ dene, gegenübergestellte Seiten verteilt werden muss (oder nicht an einem runden Tisch sitzen kann) und ob die Akten genäht werden müssen (gängige Praxis bis ca. 1920, in Bayern überdauernd) oder ob auch Schnellhefter mit variablen Heft­ klammern genügen. Die Bewegung der Interpretanten ist das Dritte, mit dem sich jede Semiotik beschäftigt. Sie ist nur vermittelt über Objekte zugänglich. Damit beginnt die Zeichentheorie. Fast zum Allgemeingut ist die These gewor­ den, der Weg vom Zeichen als Repräsentamen zum Objekt verlaufe nur indirekt, nämlich nur über das gedankliche Bild einer interpretierenden Bedeutung. Saussure hat diese These durch Bildchen an Interpretantenstelle veranschaulicht. Das obige Dreieck enthält etwas anderes. Danach gibt es sehr wohl eine direkte Beziehung zwischen Zeichenmittel (Repräsentamen) und Objekt, wobei es ebenfalls eine Be­ ziehung zwischen Repräsentamen und Interpretanten gibt. Das heißt, dass die Ob­ jektbeziehung interpretierend wirkt. Das Objekt tritt in die Beziehung nur mit und über Zeichen in Mittlerposition ein. Ohne ein hinreichendes Zeichen – heißt es im Logischen Notizbuch von Peirce – kann sich ein Objekt nicht aktualisieren,15 aber wenn es das kann, vermittelt das repräsentierende Zeichen (Repräsentamen) auch ein neues Zeichen, den Interpretanten. Darin liegt die komplexe Binnendifferenzie­ rung und auch die Differenz gegenüber der Formel des einfachen stat pro a­ liquo. Das Zeichen steht nicht einfach für ein Objekt, sondern wird damit gedanklich vermittelt. Weder sind Zeichen nur konstruiert, noch stehen sie einfach für etwas. Die eigentlich semiotische Bemühung richtet sich auf das im Dreieck vermittelnde Dritte. Das Zeichen ist danach Ausgangspunkt und Anlass für ein Verhalten. Es verlangt, sich auf etwas, das Peirce „Interpretant“ nennt, so zu beziehen, dass die­ ses Etwas ein Objekt erfasst. Es gibt unmittelbare Beziehungen zwischen Reprä­ sentamen und Objekt ebenso wie zwischen Repräsentamen und Interpretant, dage­ gen nur eine vermittelte Beziehung zwischen Interpretant und Objekt. 13

Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 2011, 98–111. Vismann (Fn. I. 13), 164. 15 Charles S. Peirce, Aus dem Logischen Notizbuch (Eintrag v. 9.3.1906), in: (Fn. I. 6, Bd. 3), 213. 14

19

1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie

Die Dreiecksbeziehung der Zeichentheorie ist ebenso weit verbreitet wie in den Positionen umstritten. Die Ecken werden anders besetzt, ganz abgelehnt oder ge­ ring geschätzt. Insgesamt verführt das Dreieck zur Reduktion der dreistelligen Be­ ziehung auf zwei Positionen, was soeben bereits geschehen ist, als von Beziehungen zwischen Repräsentamen und Objekt wie zwischen Repräsentamen und Interpretant die Rede gewesen ist. Richtigerweise handelt es sich um Beziehungen zwischen Re­ präsentamen und Objekt, vermittelt durch Interpretanten, bzw. zwischen Repräsen­ tamen und Interpretant, bezogen auf Objekte. Wenn es keinen unmittelbaren Ob­ jektbezug durch Interpretanten gibt, ist man notwendig auf repräsentierende Zeichen angewiesen, und weil es auch keine Objektrepräsentation ohne Interpretanten gibt, ist man auch in dieser Beziehung auf Repräsentation angewiesen. Das ist die theo­ retische Erklärung für die bereits eingeführte These, dass Zeichen allgegenwärtig sind und nur fraglich ist, ob man sie bemerken will oder sich bei „Dingen“, „(Tat-)Sa­ chen“ und „Meinungen“ besser aufgehoben fühlt. Die unentrinnbare Zeichentriade drückt Peirce selbst in Relationen auf einem Behauptungsblatt aus. Der Form nach handelt es sich dabei um eine grafische Veranschaulichung mit der starken These, das Blatt, auf dem man seine Eintragungen macht, sei nicht nur ein beliebiges Mit­ tel, sondern das Diskursuniversum selbst. Wer dort einen Punkt einträgt, behaup­ tet eine Existenz, und wer den Punkt mit einer Linie zu einem anderem Punkt ver­ bindet, stellt eine Beziehung her, die in einem Bezeichnungsknoten eine triadische Gabelung zulässt (nicht etwa eine binäre Ja/Nein-Entscheidung). Peirce benutzt da­ für ein grafisches Blatt, das er „phemisch“ nennt, und erläutert in seinen Briefen an Lady Welby, man gewinne damit abstrakte Klarheit.16 Das Blatt zeigt dann eine Verzweigung, die weitere Anschlussverzweigungen möglich macht. Man kann also den vormaligen Interpretanten zur nächsten Existenzbehauptung machen und erhält: Objektbeziehung

Existenz

Interpretant

Existenz

Abbildung. 2: Das relationale Graphem

Gerhard Schönrich empfiehlt eine solche relationenlogische Aufschlüsselung anstelle des semiotischen Dreiecks.17 Wie Schönrich zeigt, ist die Triade im Bau­ kastensystem so weit verlängerbar, wie die Analyse reicht. Eine anfängliche, recht­ liche Existenzbehauptung kann This is mine lauten, so wie sie Hart als Anspruch 16

Charles S. Peirce, Die logische Form der Identität (1906), in: (Fn. I. 6, Bd. 3), 120; Let­ ters to Lady Welby: 1908, December 25, in: The Peirce Edition Project (Hrsg.), The Essential Peirce Vol. 2., Bloomington/Indianapolis 1998, 490. 17 Gerhard Schönrich, Semiotik zur Einführung, Hamburg 1999, 23–25.

20

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

stellenden Sprechakt einführt (Kap. IX. 3.). An Objektstelle möge eine Wohnung treten. Dann gibt es mehrere vermittelnde Interpretationen. Eine davon könnte lau­ ten: Ich bin Mieter, eine andere: Ich bin Eigentümer. In dem Moment, in dem man korrespondierend einen Interpretanten formuliert, rückt dieser an eine weitere Existenzstelle, die auf andere Objekte zugreift: Es liegt ein Mietvertrag (oder ein Kaufvertrag?) vor. So beginnen juristische Konstruktionen, mit denen Ansprüche begründet werden. Sie verlagern eine Interpretation auf eine nur mögliche Exis­ tenzstelle, von der aus sie real wird (d. h. ein Objekt sichtbar macht), aber damit auch anfechtbar ist, weil interpretierend etwas Weiteres vermittelt wird, das ent­ weder heißen kann: Der Mietvertrag ist gültig – oder im Gegenteil: Er ist unwirk­ sam. Dieser ständige Wechsel zwischen Interpretation und Existenz unter Ein­ schaltung jeweils weiterer Objektbezüge verändert die Zeichenketten so lange, bis sie willkürlich abbrechen, wobei Anerkennung nicht anders als geteilte Will­ kür funktioniert. Peirce unterscheidet in der Drittheitsbeziehung des Zeichens drei Arten von Bedeutungsknoten oder Interpretanten. Wenn man seiner Eintragung ins „Logi­ sche Notizbuch“ unter dem 23.10.1906 folgt, dann ist der unmittelbare Interpre­ tant schon im Zeichen selbst enthalten, und zwar in einer impliziten oder dege­ nerierten Fassung. Unmittelbar wirkt ein mögliches, auch ohne gegenwärtigen Akteur denkbares und noch unanalysiertes Gefühl, das mit Zeichen produziert werden kann. Angenommen wird dabei ein individuelles Zeichenverständnis, in dem jemand das Zeichen für sich aufruft. Anders wirkt der dynamische Interpre­ tant. Er hat eine Wirkung, die sich aktuell und äußerlich zeigt. Sie ist standardi­ siert und entspricht dem Rechtsbefehl, wie er bei Austin und Hart als Grundlage des Rechts angesehen wird. Peirce nennt den Effekt solcher Handlungsauslöser in einem anderen seiner Briefe an Lady Welby einen „Cominterpretanten.“18 Der Befehl ist dann einer der wenigen Fälle, in denen das Gemeinte und der Effekt in einer Vorstellung übereinstimmen, weil beide zuvor als übereinstimmend gelernt und geübt worden sind. Zum eigentlichen Kern der Peirceschen Pragmatik (die Peirce selbst zunächst „Pragmatismus“ genannt hat) stößt man erst mit dem soge­ nannten „finalen Interpretanten“ vor, der in einer besonderen Art der vielfältigen Peirceschen Dreiteilungen „logisch“ genannt wird. Hier wird der Effekt zum mög­ lichen und gleichzeitig auch wirklichen Denk- wie Verhaltensereignis. „Final“ in diesem Sinne soll nämlich die Gewohnheit heißen, die ein Zeichen ausbildet. Auf dieser Stufe der Semiose nimmt Peirce die kantische Sollensbestimmung des ka­ tegorischen Imperativs auf und formt sie in die berühmt gewordene pragmatische Maxime um, wie sie sich schon in seinem frühen Aufsatz über „How to Make Our Ideas Clear“ findet: „Consider what effects, which might conceivably have prac­ tical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our concep­ tion of these effects is the whole of our conception of the object“.19 18 Charles S. Peirce, Letters to Lady Welby: Spring 1906, in: The Peirce Edition Project (Hrsg.), The Essential Peirce Vol. 2., Bloomington/Indianapolis 1998, 478. 19 Peirce (Fn. I. 18), 132.

1. Recht, Zeichen und Zeichentheorie

21

Der Prozess, eine Bedeutung herauszubekommen, erhält durch diese Maxime eine besondere Spurensuchrichtung, die wir seit Peirce pragmatisch nennen. Die Bedeutung bemisst sich dabei nach wirklichen oder zumindest möglichen Wir­ kungen (effects, which might conceivably have practical bearings). Die Bedeutung eines Bildes oder eines Buchs bestimmt sich also nicht etwa danach, was auf dem Bild zu sehen oder was im Buch zu lesen ist. Ein Passbild ist ein Zeichen für den Inhaber und ermöglicht ihm, sich gegenüber einer staatlichen Autorität auszuwei­ sen, und zwar selbst dann, wenn ihm das Bild nach alltäglichen Maßstäben nicht (mehr) besonders ähnlich sein sollte. Ein Tachometer ist ein Zeichen für gefahrene Geschwindigkeiten, und die dort abgelesene Zahl ermöglicht es, die Einhaltung vorgeschriebener Geschwindigkeiten zu überprüfen. Der Koran ist ein Zeichen für heilige muslimische Überlieferung, die allein schon durch die Beschädigung der Buchsubstanz verletzt werden kann. Die Weise der Objektbeziehung ist offen­ bar nicht dieselbe. Das Bild im Pass bezeichnet den Inhaber und weist ihn als eine bestimmte Person mit feststehender Staatsangehörigkeit aus. Dazu sind Pässe da. Diese statusrechtliche Folge ist das Dritte zwischen Bild und Passbuch als Objekt, die deshalb juristisch als zusammengesetzte Urkunde bezeichnet werden, weil es eben eine gemeinsame, sich aus dem Zweck der Zusammenfügung ergebende Be­ deutung gibt, auf die sich beide Objekte beziehen. Man könnte zwar meinen, das sei die Person des Inhabers. Nimmt man das ernst, sieht man aber sogleich auch, dass der Inhaber als Person nicht im Pass aufgeht und dadurch nur Ausweisquali­ täten erlangt. Es ist also nicht die menschliche Person, die das Beziehungsverhält­ nis herstellt, im Gegenteil wird die Person zum Zeichenobjekt eines Reisepasses. Wichtig für den Zweck eines Ausweispapiers sind Wiederholbarkeit und Gleich­ heit in allen drei Beziehungen. Der Abgebildete soll gerade auch die Person sein, die Inhaber ist, der Inhaber soll der auf dem Dokument Ausgewiesene sein, und der staatliche Aussteller soll das Dokument wirklich so hergestellt haben. Ansonsten handelt es sich um ein gefälschtes und unechtes Ausweispapier, wie sie in Umlauf gebracht werden, seitdem Staaten Ausweispapiere eingeführt haben. Das Dritte, das die Identität der Bezugnahme herstellt, ist nicht ohne Weiteres greifbar. Es scheint eine geistige Angelegenheit zu sein, die Peirce „Interpretant“ nennt und die in anderen Zeichenkonzeptionen „Bedeutung“ heißt. Häufig wird allerdings in der Bedeutungsbegrifflichkeit das Mittel übergangen und beiseitege­ schoben, das den Prozess überhaupt erst in Gang bringt. Sprachlich lässt man dann die Bedeutung auf Objekte zugreifen, ohne dass die Mittelbeziehung weiter vor­ kommt, die Peirce selbst „Representamen“ nennt und dazu definiert: „A Sign is a Representamen with a mental Interpretant.“20 Was etwas repräsentiert – und damit für etwas steht – ist ebenso Zeichen, wie die Weise der Vermittlung und der Ob­ jektbezug durch diese Vermittlung zeichenhaft sind. Die Repräsentation hat einen Fremdbezug, sie ist objektiv und bedeutet etwas. Insofern kommt man im Deu­ ten, Erklären, Verstehen oder gar Entscheiden nicht mehr heraus aus den Weisen 20

Charles S. Peirce, Sundry Logical Conceptions, in: (Fn. I. 18), 273.

22

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

der Vermittlung unter Bezugnahme auf eine Repräsentationsbeziehung.21 Zeichen deuten Zeichen, die Zeichen deuten usf. Nietzsche, dessen Skepsis in diesem Pro­ zess zur Sprachkritik wird, hat das in die These gekleidet, vernünftiges Denken sei ein Interpretieren nach einem Schema, „welches wir nicht abwerfen können“.22 Das gelingt auch nicht mit der Zeichentheorie. Als Theorie stellt sie ein weiteres Schema bereit, mit dem Schemata zu erkennen sind. Die Peircesche Schematisierung, die immer in eine Dreifaltigkeit mündet, ist komplex. Aus den drei Weisen der Repräsentation – mit dem Gesetz oder der Regel und Gewohnheit des Interpretanten –, aus dem Objektbezug und den drei Kate­ gorien des Zeichenmittels destilliert Peirce selbst 10 Hauptzeichenklassen (also weder 27 noch 310  = 59.049, wie man rechnerisch denken könnte23), und bis zum heutigen Tage hat noch niemand den Versuch unternommen, die Verhaltenswirk­ samkeit dieser auch nur 10 Hauptklassen im Recht zu untersuchen. Die wissen­ schaftliche Analyse und der allgemeine Sprachgebrauch sind einen anderen Weg gegangen, nämlich den der Reduktion des triadischen Zeichenmodells. Komplex, wie die Peirceschen Ableitungen wirken, rufen sie geradezu nach einer Reduktion. Reduziert wird von den drei Stellen des Peirceschen Zeichenmodells auf zwei, und das geschieht in unterschiedlicher Weise. Hier scheiden sich die „Schulen“ oder „Lager“ der allgemeinen Zeichentheorie in eine französische (nach de Saussure), eine nord- und osteuropäische (nach Mukařovský, Jakobson und Bachtin) und eine amerikanische (nach Morris). Gemeinsam ist allen diesen reduktiven Model­ len, dass sie Dimensionen oder Perspektiven auf den Zeichenprozess eröffnen und dabei in der nach Morris verbreiteten Terminologie drei Ebenen oder Dimensio­ nen unterschieden werden: eine syntaktische, eine semantische und eine pragma­ tische.24 Mit der syntaktischen Reduktion bezieht man Zeichen nur auf Zeichen und sieht von den Objekten ebenso ab wie von der Art und Weise, in der sich das Zeichen interpretierend und vermittelnd auf das Objekt bezieht. Mit der semanti­ schen Reduktion werden Zeichen auf ihre Bedeutung und ihre Objektrelation hin untersucht bei gleichzeitiger Zurückstellung interner Zeichenbezüge und externer Benutzerrelationen, während diese Benutzerrelationen in der Pragmatik im Hin­ blick auf Wirkungen im Verhältnis von Zeichen und Zeichenbenutzern im Vorder­ grund stehen. An die Stelle einer allgemeinen Semiotik treten dann Syntax, Se­ mantik oder Pragmatik, und wenn es hier um Recht geht, muss man feststellen: Es geht in erster Linie um die letzten beiden. Sie sind große terminologische Ver­ schiebebahnhöfe und man darf sich fragen: Wozu sind sie gut? Was hat man da­ von – praktisch oder theoriebautechnisch? 21 Gerhard Schönrich, Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Frankfurt a. M. 1990, 23. 22 Friedrich Nietzsche, Werke III, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1956, 862 (aus dem Nachlass der Achtzigerjahre). 23 Nöth (Fn. I. 10), 67; Schönrich (Fn. I. 17), 25. 24 Charles W. Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, (Orig. 1946), dt.: Düsseldorf 1973, 326.

2. Semantik und Pragmatik

23

2. Semantik und Pragmatik Wenn es Begriffe aus der allgemeinen Semiotik gibt, die zum gehobenen Stan­ dardwortschatz gehören und je nachdem aufhorchen oder gähnen lassen, dann sind es diese beiden: Semantik und Pragmatik. Semantik und Pragmatik sind die Titel für gegenläufige Bewegungen in der Semiotik. Die eine vollzieht sich zwi­ schen Zeichen und Sinn oder Zeichen und Referenten. Man kann sie die semanti­ sche Dimension, die semantische Achse, Auslegung, Verstehen o. ä. nennen. Die andere Bewegung sieht mehr oder weniger von der Bedeutung ab und stellt das Zei­ chen zwischen Sender und Empfänger.25 In der pragmatischen Ebene, Dimension, Leistung o. ä. erkennt man die Verschiebungen, die jeder aktuelle Verstehenspro­ zess hervorruft. Beide Ausdrücke hat Peirce nicht in methodischer Absicht einge­ führt und kaum verwendet, wie er auch im Übrigen den Ausdruck „semeiosis“ erst spät verwendet hat und sein eigenes Unternehmen lieber der Logik zurechnete.26 Wenn beide Ausdrücke dennoch eine Karriere gemacht haben, so verdankt sie sich Charles W. Morris, der die Peircesche Semiotik aufgenommen und in folgenreicher Weise aufgespalten hat. Morris hat 1938 einen knappen Text zu den „Grundlagen der Zeichentheorie“ („Foundations of the Theory of Signs“) veröffentlicht, der in selbstständigen Kapiteln Syntaktik, Semantik und Pragmatik als Teildisziplinen der Semiotik versteht. Bei Peirce waren die Teildisziplinen noch – am alten Modell des Triviums orientiert – Grammatik, Logik und Rhetorik, wobei damit Firstness, Secondness und Thirdness entfaltet werden (Kap. I. 3.–5.). Morris geht anders vor. Syntaktik ist für Morris nicht die Logik im Peirceschen Sinne, sondern eine Disziplin, die Beziehungen der Zeichen unter Absehung von Objekten und Inter­ pretanten untersucht.27 Das tut die moderne formale Logik, an die Peirce aber noch nicht dachte, als er Logik zur Entfaltung von Secondness empfahl. Wenn Morris logische Syntax in Formations- und Transformationsregeln zu entwickeln emp­ fiehlt, dann findet sich im Recht dazu eine Disziplin wie die Rechtsinformatik, die Normen zu kalkülisieren versucht hat. Dabei übersetzt die moderne formale Lo­ gik ebenso wie Peirce auf dem phemischen Blatt nicht sprachliche Beziehungen in eine besondere Ausdrucksweise, sondern ersetzt Sprache durch etwas anderes, den Kalkül, der in seinen Elementen wie in den Beziehungen, die sie eingehen kön­ nen, vorab vollständig definiert sein muss.28 Mit den juristischen Logikern kann man dann überlegen, ob der Aussagen- oder der Prädikatenkalkül besser geeignet ist, um Normen und ihre Anwendung wiederzugeben. Man kann auch erwägen, die monotone, nämlich durch die definitorischen Festlegungen schon bestimmte 25 Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 5. Aufl., München 1974, in § 9 „Anhang zur Fortentwicklung der Topik“. 26 Charles S.  Peirce, Einige verstreute oder gestohlene Ideen über das wissenschaftliche Schreiben (1904), in: (Fn. I. 6, Bd. 2), 238–245 (240). 27 Charles W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie (1938), München 1972, 32. 28 Ulfrid Neumann, Juristische Logik, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/ders. (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidel­berg 2011, 298–319.

24

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Folgerungsweise durch neu zuzulassende Prämissen zu erweitern. Man bleibt aber bei alledem in Denkweisen und Entscheidungen, die auch vor der Formalisierung vorhanden waren. Ulfrid Neumann empfiehlt die logisch-syntaktische Betrach­ tung, um Widersprüche aufzudecken und Mehrdeutigkeiten zu beseitigen.29 Eine anwendungsbezogene Disziplin wie die Rechtsinformatik beschränkt sich für die juristischen Informationssysteme (zum Beispiel „Juris“) darauf, dass Wortzeichen aus der Sprachoberfläche (als Suchworte) miteinander verknüpft werden und man sich die Logik der Verknüpfung selbst suchen muss (oder darf). Was inhaltlich in­ teressant werden könnte, wird durch diese Art der Syntaktisierung nicht erfasst, und man mag das als Vorteil für eine inhaltlich unabhängige Arbeit empfinden. Die beiden anderen semiotischen Teildisziplinen, nämlich Semantik und Pragma­ tik, treten demgegenüber in eine Konkurrenz, die Morris in seiner Grundlegung nicht thematisiert. Die Semantik umfasst in der Definition der Grundlagen durch Morris die Be­ ziehung der Zeichen „zu ihren Designaten und darum zu den Objekten, die sie de­ notieren oder denotieren können“.30 Man pflegt heutzutage oft von der Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung zu reden. Das ist ein komplexes und so umfas­ sendes Unternehmen, dass mit einer solchen Bezeichnung gar nicht differenziert, sondern die gesamte Semiotik unter dem Aspekt der Semantik erfasst wird. Dann werden als Semantik auch die Relationen zwischen den Zeichen selbst (ihre Logik im Peirceschen Sinne) und die zu den Zeichenverwendern einbezogen, w ­ omit „Be­ deutung“ nicht mehr als Namensbeziehung verstanden, sondern unter Gebrauchs­ gewohnheiten betrachtet wird. Das Recht enthält zwar auch Regeln über Namen, versteht seine Ausdrücke aber selbst gerade nicht als Namen. Mit einer „Willens­ erklärung“ soll etwas zweites Wirkliches erfasst, nicht nur einem Verhalten ein Name gegeben werden. Das hat Morris später (nämlich 1946 in „Signs, Language and Behavior“) veranlasst, sich vom Begriff der „Bedeutung“ zu emanzipieren und allein davon zu reden, dass ein Zeichen „ein Signifikat signifiziert“.31 Sig­ nifikation als Ersatz für Bedeutung zu akzeptieren, wirkt wie eine tautologische Wendung. Der Begriff tritt im Rahmen einer 1946 dann pragmatisch integrierten Betrachtungsweise als Erklärung für Semantik auf, wobei nicht einfach Bezeich­ nungen und Objekte in Beziehung gesetzt werden sollen, sondern Bezeichnungen mit Vorstellungen von Personen über Objektverhältnisse. Man muss die Semantik deshalb mit Peirce (auch wenn er nicht von ihr sprach) als eine mindestens drei­ stellige Beziehung auffassen, wobei lediglich die als Signifikant hervortretende Bezeichnung und die mental repräsentierten Vorstellungen (Bedeutungen) her­ vortreten, während die vorgestellten Objektverhältnisse im Hintergrund bleiben und mit weiteren (semantischen) Konkretisierungen näher aufgeklärt werden können. Die juristisch-dogmatische Semantik stellt aber keine Textkorpora zu­ sammen, sondern kommentiert und korrigiert einzelne Verwendungsweisen, um 29

Neumann (Fn. I. 28), 311. Morris (Fn. I. 27), 42. 31 Morris (Fn. I. 24), 92. 30

2. Semantik und Pragmatik

25

sie kraft Autorität der jeweiligen Quelle bzw. des Autors für maßgeblich oder feh­ lerhaft zu erklären. Die alte rechtstheoretische Semantik hat auf Spruchautorität verzichten wollen. In ihrer logisch-axiomatischen Variante suchte sie nach internen Geltungskrite­ rien, denen einzelne Ausdrücke genügen sollten, womit gemeint war, dass sie ein­ deutig zu sein hätten, einen Gegenstand bezeichnen und wegen dieser Eindeutig­ keit und Gegenstandsbezogenheit austauschbar sein sollten, wenn sie denselben Gegenstand bezeichneten.32 Mit diesen Anforderungen findet man nicht viele Bei­ spiele. Juristische Autoren wie Lampe nennen Wortausdrücke wie „Tier“, „Haus“ oder „zur Nachtzeit“, die allerdings sämtlich eine Zuordnung in der Kommentar­ literatur erfahren haben. Wegen der wenigen tauglichen Ausdrücke ist die Rechts­ informatik mit dem Versuch gescheitert, Texte unter wortsemantischen ­Variablen sinnvoll zu ordnen. Erforderlich sind (zumindest) satzsemantische Analysen, die Busse zur Kritik am juristischen Semantikmodell33 und zu einer Empfehlung veranlassen, die „Semantik kommunikativer Äußerungshandlungen“34 zum Un­ tersuchungsgegenstand zu erklären. Dieser These wird heute kaum noch wider­ sprochen, wenngleich die Schwierigkeiten, Handlungen in Texten an Sätzen zu identifizieren, zu der Einsicht führen, dass eine brauchbare juristische Semantik erst noch zu entwickeln ist – und vor allem: dass sie sich für normative Interpreta­ tionszwecke vermutlich gar nicht eignet. Die semantische Perspektive, wie sie Morris in den Grundlagen für möglich hält, ist – gerade wenn man sie handlungsbezogen erweitert – von einer pragmatischen kaum zu unterscheiden. Den wissenschaftstheoretischen Unterschied, den Morris 1938 begründet und 1946 dann in „Signs, Language and Behavior“ wieder einge­ ebnet hat, kann man aus den Grundlagen von 1938 noch deutlich entnehmen. Dort ist die juristische Pragmatik „auf die Beziehung der Zeichen zu ihren Benutzern gerichtet“.35 Mit diesem Begriff der Pragmatik will sich Morris von den Vorarbei­ ten anderer unter dem Label „Pragmatismus“ (Peirce, James, Dewey, Mead) lö­ sen, wobei die zusammenfassende Bestimmung, Pragmatik beschäftige sich mit den „lebensbezogenen Aspekten der Semiose“, kaum ausreichend ist, um auch nur Pragmatik und Semantik zu unterscheiden. Morris greift die Ausdrücke „Inter­ pret“ und „Interpretant“ auf und verwendet sie, um die später in der linguistischen Pragmatik betonte Besonderheit kommunikativer Äußerungshandlungen zu cha­ rakterisieren. Interpreten eines Zeichens seien Organismen, Interpretanten hinge­ gen Gewohnheiten, sodass Morris die „Semiose“ definiert als Notiznahme „von den relevanten Eigenschaften abwesender Objekte oder von nicht beobachteten Eigenschaften anwesender Objekte“.36 Die Pragmatik erfasst dann Austausch­bezie­ 32

Hans-Joachim Lampe, Juristische Semantik, Bad Homburg v. d. H. u. a. 1970, 22 f. Dietrich Busse, Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheo­ rie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 1993, 104. 34 Busse (Fn. I. 33), 275. 35 Morris (Fn. I. 24), 52. 36 Morris (Fn. I. 24), 55. 33

26

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

hun­gen zwischen Sendern und Empfängern von Rechtszeichen. Sie muss deshalb immer als eine Relation zwischen Person und Zeichen aufgefasst werden, in voll­ ständiger Weise als eine solche zwischen mindestens zwei Personen und der zwi­ schen ihnen kommunizierten Bedeutung, was zu einem Transportmodell der Be­ deutung führt. Der Sender heißt dann so, weil er eine Zeichenfolge sendet, die der Rezipient in der Weise, in der sie codiert worden ist, wieder decodiert. Auch diese Terminologie ist in die Allgemeinsprache übernommen worden, in der heute Sig­ nale gesendet und Botschaften empfangen werden, ohne dass sich freilich jemand über den Code Gedanken macht, der das zu ermöglichen hätte. Der Code ist ge­ wissermaßen das Ver­packungs­material für Zeichen, wobei die Verpackung mit der Zeit so wichtig wird, dass gar nichts anderes mehr im Paket zu finden ist. Die juristische Rhetorik kann man als eine kanonisierte Pragmatik verstehen, die Informationen, ihre Mitteilung und deren Verständnis auf unterschiedliche In­ stanzen des Zeichenprozesses verteilt. Mit dem rhetorischen Modell hat sich eine schlichte Vorstellung verbreitet, dass Zeichen gesendet und als Botschaft empfan­ gen und verstanden werden, wenn sie auf einem schon zuvor eingeführten Code beruhen. Aus pragmatischer Sicht ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens aber aus seiner Verwendung in der Situation ebenso wie aus Absichten der Zeichen­ verwender und Dispositionen der Rezipienten. Nichts davon ist codiert. Auch der Code als Rechtstext (Code Napoléon) tut nur so, als gebe es einen Code, den er lediglich spiegelt. Aus dem Code entsteht „situatives“ Recht, das anders als „vor­ geschriebenes“ (also syntaktisch-semantisch schon niedergelegtes) Recht ausfal­ len kann. Die hier relevanten Beziehungen werden schnell unübersichtlich, so dass Beobachter dazu tendieren, entweder nur die Wirkung von Botschaften (Zeichen­ komplexen) auf ihre Empfänger oder auch nur die Absichten der Sender zu the­ matisieren, die Eingang in die übermittelte Botschaft gefunden haben. Im Umfeld des Justizdispositivs (dazu Kap. VI.) handelt es sich um Beziehungen im Verfah­ ren. Der Gerichtssaal ist ein hervorgehobenes Feld juristischer Pragmatik, aber auch alle schriftlich übermittelten Textformen in Akten, durch Urkunden, auf­ grund von Urteilen und damit der gesamte juristische Diskurs gehören zur juris­ tischen Pragmatik. Pragmatische Untersuchungen juristischen Handelns erfassen immer nur Mo­ mente, wirken entweder geistreich und feuilletonistisch oder sinnlos formalisiert (weil der Handlungssinn beim nächsten Mal ein anderer ist). Pragmatisch werden Entscheidungen oder Handlungen nacherzählt, nachträglich in Strukturpläne oder Alternativenschemata überführt, wobei man sich fragen kann und muss, ob die Strukturen, Alternativen und Planmäßigkeiten auch in der Zukunft eintreffen wür­ den. Wäre die Pragmatik wissenschaftlich, müsste das so sein, und wäre das so, dann würde eine konsequent pragmatische Auffassung des Rechts das Verständ­ nis der Rechtsdisziplin insgesamt verändern. Denn wenn Bedeutungen aus dem Spiel der Positionsdifferenzen immer wieder neu entstehen, vermindert sich die zeitunabhängige Bedeutung der Bedeutung vor allem im Gesetzbuch, und statt­ dessen treten persönliche und situative Differenzen hervor. Unter Juristen kann

2. Semantik und Pragmatik

27

man nicht selten eine Konkurrenz zwischen Pragmatikern und Semantikern des Rechts ausmachen. Die einen bestehen auf Grundsatztreue und Begrifflichkeiten (was man „semantisch“ nennen kann), die anderen sehen auf Wirkung und Erfolg (was einmal „rhetorisch“, ein anderes Mal „pragmatisch“ heißt). Theoretisch ent­ steht daraus eine schwer durchschaubare Gemengelage. Der Nachteil daran: Die Verlässlichkeit schwindet. Was Recht ist, weiß man immer erst, wenn Personen in Situationen ihre Differenzen ausgetragen haben. Dabei lautet der Anspruch doch: Der Bürger solle schon vorher wissen, was Recht ist; jedermann solle – wenigs­ tens mit fachlicher Hilfe – wissen können, was er tun soll. Stattdessen weiß man, was man hätte tun sollen, erst wenn man es getan hat und sich mit anderen da­ rüber streitet, was sonst noch hätte getan werden müssen. Die Bindung an fest­ stehende Gesetze verwandelt sich in situative Einbindung. Der Spruch dazu, den viele als Karikatur empfinden, lautet: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand! Auf hoher See angelangt, greift man sich vielleicht ein kleines Floß und ver­ sucht dort erst einmal auf Deck zu kommen. Semantik und Pragmatik schlechthin sind nämlich Weltkonzeptionen, die sich in der Weltläufigkeit auch verlieren. Eine kleine syntaktische Fingerübung, angelehnt an die Gewohnheiten des Mathemati­ kers Peirce,37 kann von solchen Weltproblemen erst einmal entlasten. Was ein Zei­ chen ist, muss man bezeichnen, und man kann es mit „1“ tun, wobei 1 nur verstan­ den wird, wenn man es auf dem von Peirce verwendeten Behauptungsblatt von einer „2“ durch eine Linie abgrenzt, also: 1 |  2. Was das heißt, sagt ein interpretierendes Drittes, das sich auf 1 und 2 in der Weise bezieht, dass die Abgrenzung eine Ver­ bindung zum Zeichen macht. Diese Dreiheit spiegelt das semiotische Dreieck wider (oben 1), und es wird zu einer Forschungsaufgabe, die Kategorien des Ersten, Zwei­ ten und Dritten in realer Zeichenrepräsentanz wiederzuentdecken. Das geschieht nach und nach und setzt einen differenzierten Blick voraus, der nicht einfach bei der Einheit „Zeichen“ stehen bleibt, sondern analysiert, worum es sich jeweils han­ delt. Rein mengentheoretisch gesehen, ist das nicht notwendig. In {1,0} sind 1 und 0 nichts weiter als Namen von Mengen, die auch anders benannt werden können. Anders als die römischen Ziffern es mit I, II, III … anschaulich machen, fehlt den arabischen ikonische Qualität. In der Tradition des Zählens mit solchen Zahlen ver­ liert sich der Bezeichnungscharakter durch die geübte Syntaktik von 1, 2, 3 … 9, wobei die Null ebenso vorangeht wie nachfolgt – eine merkwürdige, einst als un­ heimlich empfundene, dann aber als nützlich erkannte Regel­mäßigkeit.38 Ihr liegt die Regel reinen Zählens (ohne Existenz- und Seinsansprüche) zugrunde, und diese Regel ergibt sich aus der Art und Weise, wie man zählt, wobei es noch nicht einmal notwendig ist, dass die Zwei (2) und die Eins (1) heißt. Die Regel ist einfach das 37 Gérard Deledalle, Semiotik als Philosophie, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, Frankfurt a. M. 2000, 31–43 (32). 38 Brian Rotman, Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts (1987), Berlin 2000, 31 f.

28

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Dritte, das sich aus der Beobachtung des Zweiten ergibt, also daraus, dass ein Ers­ tes auf etwas äußeres Zweites stößt. Damit ergibt sich am Zahlenbeispiel, was ein Zeichen ist. Um die Verhaltensgewohnheit zu erkunden, die das Zählen bestimmt, muss man aufmerksam zusehen und sich auf überraschende Abweichungen ebenso wie auf Iteration gefasst machen. Vor allem braucht das Zählen Iteration, Wieder­ holung, aus der sich eine Regel ergibt, etwa so: 1, 11, 111, 1111 usw.39 Die Pragma­ tik hat es mit solchen Wiederholungen und Nichtwiederholungen, Überraschungen eben zu tun. In ihr spielt das tatsächliche Verhalten die wesentliche Rolle, so dass Morris Programmschrift „Signs, Language and Behavior“ als eine Anleitung zum Studium solcher Verhaltensgebräuche gelesen werden kann. Was erfährt man, wenn man zählt? Warum könnte Zählen auch zur Beobach­ tung des Rechts einen kategorialen Schlüssel liefern? An dieser Stelle ist nur die Antwort der allgemeinen Rechtslehre möglich, die Einfachheit und Tradition für sich beansprucht. Zählen ist einfach, es ist eine Grundoperation zwischen Men­ schen und macht die Erschließung der Welt möglich. Diese Art der Welterschlie­ ßung wird durch die Peircesche Tradition möglich. Peirce erneuert die Katego­ rienlehre und stellt sie auf Zahlen um. Seit Peirce geht es nicht mehr um Raum, Zeit, Quantität, Qualität, Modalität u. a. als grundlegende Kategorien, sondern es geht einfach um eine Abfolge, die man beziffern kann. Man beginnt mit dem Ers­ ten, stößt auf ein Zweites und braucht für die Vermittlung beider etwas Drittes. Vermutlich ist es schon zu viel behauptet, diese Abfolge von drei Operationen als „Zählen“ zu verstehen, wobei Peirce selbst in seiner Spätphase eine logisch-geo­ metrisch-metaphysische Anleitung für existenzielle Graphen damit verbunden hat. Diese Entwicklung lasse ich einstweilen beiseite. Mir geht es hier nur darum, drei Klassen von Phänomenen vorzustellen, die sich mit der Frage „Was ist Recht?“ verbinden, und es ist so, dass zwischen diesen Phänomenen eine Reihenfolge be­ steht, die man zählen kann. Damit beginnt die mit Eins, Zwei und Drei bestrittene Einführung in die Zeichen des Rechts. 3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn Das Erste ist das, womit Recht anfängt, was einem gerade dazu einfällt, wo­ gegen man aufbegehrt oder womit man einverstanden ist. Das ist unentbehrlich, auch wenn manche solche Emotionalitäten unerträglich finden. Das Gefühl, Un­ recht zu erfahren, kann ein Erstes sein.40 Andere haben als Erstes das Gefühl, voll­ kommen recht zu haben, wenn sie auf Widerstand treffen. Als Erstes ist es immer etwas, ein Etwas, das sich als eine Möglichkeit ergeben hat, beliebig oder zufäl­ lig, wie auch immer. Das Erste ist nicht unbedingt das Nächste. Der Nächste in der gleichen Situation mag das gefühlte Unrecht als beliebige Routine erleben, oder 39

Rotman (Fn. I. 38), 33. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl (1990), Berlin 1992. 40

3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn

29

er mag es als ganz rechtens empfinden. Vielleicht hält die Nächste das Ganze für ziemlich gleichgültig. Gefühle lassen sich nicht programmieren. Das Erste schert sich darum nicht. Es ist, was es ist. Was es wirklich ist und ob das zuerst als unwiderstehlich empfundene Unrecht „in Wirklichkeit“ Recht ist, erfährt man erst durch das Hinzutreten eines Zwei­ ten, das die erste Möglichkeit wirklich werden lässt. Das Erste „ist“ dann, was das Zweite darüber aussagt. Es können der zweite Rechtsberater oder der zweite Ur­ teilsausspruch sein, die etwas aussagen. Aber auch damit bleibt eine Wirklichkeit nicht stehen. Einmal mit dem Prädikat „so ist es“ versehen, drängt das widerstre­ bende Gefühl danach eine dritte Meinung einzuholen, zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch anders ist. Wer das Wirkliche anzweifelt, erwartet ein nächstes, anderes Wirkliches, weil er sich eine Regel zwischen der Verbindung von Erstem und Zweitem hinzudenkt oder eine Gewohnheit oder das Bewusstsein, dass Re­ geln und Gewohnheiten anders werden müssen. Alles das ist Drittes, und damit ist die kategoriale Erschließung der Welt vollständig. Sie geht vom ersten Mög­ lichen zum zweiten Wirklichen und erschließt daraus etwas Drittes, das gewohn­ heits- und regelmäßig wiederkehrt. Diese Dreifaltigkeit der Zeichenwahrnehmung nimmt den Charakter des Zählens auf. Firstness ist die erste Stufe der Zeichenrezeption, und gleichzeitig handelt es sich dabei um eine universale Kategorie. Alles kann – je nach Wahrnehmung – das Erste sein. Man könnte also denken, das Erste sei das Mächtigste, the first cut is the deepest. Aber das Erste ist unbestimmt, kann verdrängt werden und taucht dann unvermutet wieder auf – als Möglichkeit. Das Erste, das unmittelbar von der Bedeutung (einer Person, eines Dings) mitteilt, ist ein Gefühl, das sich nicht so ein­ fach benennen lässt. Das Erste ist das Präsente, das sich Aufdrängende, das, wovon man nicht mehr abstrahieren kann, so dass presentness für sich genommen kei­ neswegs abstrakt bleibt, man nur hinausgehen und in den Himmel schauen müsse. Peirce beanstandet das gegenüber Hegel mit dem Satz:41„To say, however, that pre­ sentness, presentness as it is present, present presentness, is abstract, is Pure Being, is a falsity so glaring, that one can only say that Hegel’s theory that the abstract is more primitive than the concrete, blinded his eyes as to what stood before them.“ Die Gefühle sind mächtig, aber die Richtung, in der sie sich entwickeln, bleibt aufs Erste gesehen nur möglich. Möglichkeit bezeichnet Peirce als „Seinsweise der Erstheit“.42 Was möglich ist, muss erst noch entfaltet werden. „Schmerz“ ist in die­ sem Sinne so wenig Erstheit wie „Vergnügen“. So empfiehlt Peirce den Schmerz erst einmal zu studieren, nicht einfach auf die übliche Gefühlskategorie zu verfal­ len, sondern „Künstler im Schmerz“ zu werden.43 Firstness muss gelernt werden. 41

Peirce (Fn. I. 18), On Phenomenology, 149. Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. übers. v. H. Pape, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, 57; es handelt sich dabei um die Übersetzung eines Texts, den Peirce selbst „Syllabus of Certain Topics of Logic“ genannt hat. 43 Charles S. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, hrsg. v. E. Walther, Hamburg 1991, 114. 42

30

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Die Erstheit wartet auf Aktualisierung durch etwas Zweites und geht gleichzeitig in keiner der nachfolgenden Bezeichnungen auf. Dazu braucht man etwas Drittes, Vermittelndes, Gewohnheitsmäßiges so notwendig, wie eine Regel notwendig ist, um die 1 in einer Kette von Zahlen zu verstehen. Die Prozesse der Zeichenbewe­ gung werden durch ein Erstes nur ermöglicht, aber nicht bestimmt, verändert, ge­ lenkt oder erschöpft. Die semiotische Firstness umfasst und erfasst vier Arten des Gefühls. Firstness versteht Peirce als „das, was so ist, wie es eindeutig und ohne Beziehung auf et­ was anderes ist“.44 Firstness lässt sich nicht exakt analysieren, sie wird veran­ schaulicht durch „jede Qualität eines totalen Gefühls“.45 Firstness im Recht sind die Möglichkeiten, die es bietet. Eine Auswahl der Möglichkeiten trifft nach einer unprätentiösen Betrachtungsweise das sogenannte „Rechtsgefühl“. Rechtsgefühle werden hoch geachtet, sind aber auch in hohem Maße trügerisch. So, wie anders gezählt werden kann als nach der Art (1) 2, 3, vielleicht also (1), 3, 5, oder auch (1), 3, 9, so werden Rechtsgefühle nicht ohne Weiteres geteilt. Sie sind in der Kom­ munikation hochgradig enttäuschungsanfällig. Woran ich fest als richtig glaube, das hält der Andere für falsch – die Grundposition des agonalen Rechtsstreits. Das vermittelnde Dritte muss erst noch erraten oder ergründet werden. Der Erste und der Zweite haben es nicht, sie brauchen einen Dritten, und sie würden – wenn es das gäbe – auch eine dritte Sprache gebrauchen. Die Sprache macht Erstes fast so unmöglich wie Drittes. Schon das Sprechen über Gefühl ist schwierig. Über Rechtsgefühle gibt es eine erste Diskussion im 19. Jahrhundert, die Gustav Rümelin 1871 eröffnet hat.46 Rümelins Rechtsgefühl erscheint nicht als eine individuelle Angelegenheit, im Gegenteil wird es zum ideo­ logischen Faktor eines besonderen Deutschtums stilisiert. Zur gleichen Zeit hat Ru­ dolf von Jhering unter „Rechtsgefühl“ den erworbenen Bestand der insgesamt vom Recht erzeugten Gefühle verstanden.47 Das Gefühl spräche dann beispielsweise in einem Fall mehr für die Annahme eines Vertrags, in einem anderen gegen die Be­ schränkung des Eigentums. Rechtsgefühle haben bei Jhering diejenigen, die etwas vom Recht wissen. Dass Gefühle hochgradig individuell, unzugänglich, verscho­ ben oder verdrängt sein könnten, dass sie möglicherweise in eine Richtung drän­ gen, die das wahre, das reflektierende Ich gar nicht wollen sollte, gehört später zu den Sprechweisen und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und setzt die ­Freudsche Zweitcodierung der hervorgebrachten Rede, der verlautbarten Gefühle voraus. Hin­ ter dem, was die Leute sagen, und unter dem, was jemand wirklich sagt, kann et­ was anderes vermutet werden, was einem nicht artikulierten Gefühl entspricht, einem Gefühl, das erst noch zur Sprache gebracht werden muss. Wenn er „Nein“ sagt, die Mutter sei es nicht, dann – folgert Freud – wissen wir: „Also ist es die 44

Peirce (Fn. I. 42), 55. Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2), 159 (Lowell Lecture 1903). 46 Michael Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung, München 1979, 1. 47 Rudolf von Jhering, Der Kampf um’s Recht, hrsg. v. F. Ermacora, Frankfurt a. M. 1992, 100. 45

3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn

31

Mutter“.48 Es ist ein Topos der postmodernen Rechtstheorie, dass Recht in Wün­ schen und Begehren gründe.49 Die Fachjuristen schieben solche unartikulierten Gefühle heute gern beiseite und reden davon, dass jemand zwar etwas meine, aber deshalb noch nicht wisse, was gelte. So rangiert das Rechtsgefühl bei Riezler zwi­ schen Lust- und Unlustgefühlen und wartet darauf, als „Funktionslust“ entwickelt zu werden.50 Das war wenig im Jahre 1946, als Riezlers Schrift in 2. Auflage nach einem Jahrzehnt erschien, in dem das Rechtsgefühl seine Schwäche „er­schreckend geoffenbart“ habe. Vom Rechtsgefühl hätte die entwickelte Rechtsordnung ein an­ spruchsvolles Urteil darüber erwartet, ob gesetztes Recht denn eigentlich zu Recht gesetzt sei oder „in Wirklichkeit“ unerträgliches Unrecht sei. So sah es im glei­ chen Jahr 1946 Gustav Radbruch mit Blick auf 12 Jahre NS-Verbrechen und ver­ langte das Gefühl für die „Unerträglichkeit“ eines Gesetzes,51 das in einem solchen Fall auch dann nicht mehr zu beachten sei, wenn es als positives Recht beschlos­ sen ist. Gefühl steht damit keineswegs nur am Anfang, sondern auch am Ende for­ maler Rechtsprozesse und inhaltlicher Zumutungen. Es kommt zum Zuge, wenn die Regime und Rechtsordnungen wechseln, und soll über grobe, nicht mehr hin­ nehmbare Rechtsverletzungen entscheiden. In jedem Fall aber beginnt das Recht mit Gefühlen, mit Erstheiten in Bezug auf das, was Menschen widerfährt. Nach einer geläufigen rechtssoziologischen Vorstellung, die Niklas Luhmann kanonisiert hat, dient Recht der Abwicklung von Enttäuschungen. Enttäuschun­ gen sind in Luhmanns Verständnis das Komplement von Erwartungen. Es sind aber auch Gefühle. Wessen Erwartungen nicht erfüllt werden, der ist enttäuscht:52 „Enttäuschungen führen ins Ungewisse. Diese Seite des Problems lässt sich mit einem Schaden- oder Nutzenausgleich im Einzelfall nicht lösen. Die Erwartung selbst muss, wenn sie nicht geändert und durch neue Sicherheiten ersetzt werden kann, auf ihrer generalisier­ ten Funktionsebene durch symbolische Prozesse der Darstellung des Erwartens und der Behandlung des enttäuschenden Ereignisses wiederhergestellt werden.“

Von diesem Ausgangspunkt her bestimmt Luhmann Recht als kongruente Ge­ neralisierung normativer Verhaltenserwartungen.53 Semiotisch gesehen, wird da­ mit zu viel und zu wenig Substanz in das Rechtskonzept gelegt. Enttäuschungen sind ein schwaches und nicht ausreichendes Konzept für das Erste im Recht. Zwar ist es sicher nicht falsch, davon auszugehen, dass Mitglieder einer Gesellschaft einen bestimmten Ablauf in einer Kommunikation oder in einem Geschehen­ 48 Sigmund Freud, Die Verneinung (1925), in: ders., Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1982, 373. 49 Jean Clam, Law’s Origin in Desire, Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), 51–66. 50 Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl. Rechtspsychologische Betrachtungen, 2. Aufl., Mün­ chen 1946, 14. 51 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (Süddeutsche Juristen­ zeitung 1946), wiederveröffentlicht in: ders., Rechtsphilosophie, hrsg. v. R. Dreier/S. Paulson, 2. Aufl., Heidelberg 2003, 211–219. 52 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 4. Aufl., Wiesbaden 2008, 5. 53 Luhmann (Fn. I. 52), 99.

32

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

erwarten und auf einen anderen abweichenden Verlauf irgendwie reagieren. Aber die Bestimmung dessen, was Recht sein soll, geht längst über das Maß des Er­ wartens und Verhaltens Einzelner oder von Gruppen hinaus. Luhmann verbindet auch noch ein geheimes Lernkonzept mit seiner systemischen Fassung des Rechts. Auf abweichende Verläufe könne man nämlich – wie Luhmann es konzipiert hat – durch Lernen oder durch Enttäuschung reagieren.54 Wer sieht, dass die Welt an­ ders ist, als man sich das vorgestellt hat, kann sich daran anpassen und sich vor­ nehmen, beim nächsten Mal so zu handeln und das zu erwarten, was man gerade erfahren hat. Man kann aber – und davon nimmt die Luhmannsche Rechtssoziolo­ gie ihren Ausgang – darauf auch so reagieren, dass man an der Erwartung festhält, und zwar nicht nur einfach so, sondern indem man eine gesellschaftliche Reaktion auf die Abweichung verlangt, eine Korrektur, einen Ausgleich oder eine Bestra­ fung. Normativ handeln heißt dann an einer enttäuschten Erwartung festhalten.55 Das ist nach wie vor eine Einsicht, aber sie reicht in der Sache auch nicht wei­ ter als frühere Rechtsbestimmungen, in denen Recht als Bestand unverzichtba­ rer Verhaltensnormen verstanden worden ist. Der Rechtsdiskurs, von dessen Ver­ selbstständigung gerade die systemische Fassung des Rechts ausgeht, hat längst zu Rechtsansprüchen und Verpflichtungen geführt, an die sich zwar Gefühle heften lassen, diese Gefühle entstehen aber ihrerseits erst nach dem Prozess der Norm­ bestimmung selbst. Sie sind weder ursprünglich noch primär. Es sind schon Zei­ chen vorhanden, Bezeichnungen, Ansprüche, Pflichten, Nebenpflichten, All­ gemein- und Grundrechte, die in einer schwer zu durchschauenden Gemengelage bestimmen, was Gegenstand in einem Rechtsprozess wird. Davon mag man wis­ sen und erhält – das ist im Übrigen der Kern der Jheringschen Lehre – ein Ge­ fühl. Das Recht (auch von Luhmann so beschrieben)56 fängt nie an, ist immer schon da, wenn auch nicht in der Form, in der es berufen wird. Dennoch beginnt jeder konkrete Prozess erstmalig und aufgrund von oder mit firstness. Jedes Ver­ fahren basiert auf einem Gefühl, in welcher Form man von der Justiz Gebrauch machen will. Selbst wenn die Justiz Gebrauch von jemandem macht und ihn zum Opfer eines Strafverfahrens werden lässt, stehen dahinter bürokratische, autorita­ tive oder vielleicht sogar mörderische Gefühle. Die empirische Rechtssoziologie erzählt anhand von Fallgeschichten, dass Normabweichung und rechtliche Reak­ tionen einen weiteren Zwischenschritt verlangen, den nicht alle gehen wollen oder können. Ärgernisse und Lebenskatastrophen führen zu ganz unterschiedlichen Verarbeitungsweisen, die gar nicht, manchmal oder notwendig rechtsförmig wer­ den. Das richtet sich danach, ob es singuläre, schwere oder alltägliche Eingriffe oder auch nur Bagatellen sind, die Menschen zu Opfern machen.57 54

Luhmann (Fn. I. 52), 42. Luhmann (Fn. I. 52), 62. 56 Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Se­ mantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989, 11–64 (51). 57 Gerhard Hanak, Johannes Stehr und Heinz Steinert, Ärgernisse und Lebenskatastrophen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität. Bielefeld 1989, 70. 55

3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn

33

Als Beispiel für eine Lebenskatastrophe kann man Jan Philipp Reemstmas Bericht über seine eigene Entführung und Erpressung im Jahre 1996 nachlesen. Reemstma gehört zu den ganz wenigen Opfern, die nachträglich versucht haben, ihre Gefühlslage zu analysieren und niederzuschreiben.58 Die Hauptaufgabe des Gerichts sieht Reemtsma in der „Zuschreibung von Unrechtmäßigkeit“. Etwas, das in der Welt gewesen ist, „hätte nicht darin sein sollen.“ Dementsprechend versteht Reemtsma die Aufgabe des Gerichtsurteils dahin, weiteren Schaden abzuwenden, „der darin bestünde, dem Verletzten nicht deutlich zu sagen, dass nicht hätte ge­ schehen dürfen, was geschehen ist.“59 In einem weiten Sinne wäre das: Festhalten an einer enttäuschten Erwartung. Aber nicht nur die Geiselnahme erfordert eine andere Semantik, als sie in Luhmanns Formel zum Ausdruck kommt. Man mag durchaus einkalkulieren, dass Verbrecher unter den Menschen sind, man mag sich an ihren Zugriff gewöhnen und Techniken finden, sich ihm zu entziehen. Das Ver­ brechen beim Namen zu nennen, ist dennoch die erste, mindestens indizielle Auf­ gabe des Rechts, denn der Index ist das Zeichen, das zuordnet. Indexikalisch ist der Ausdruck, der sich auf ein definiertes Objekt bezieht. Reemstmas Entführung, die er selbst in seinem Bericht „Im Keller“ schildert, ist ein solches indexikalisch schon lange eingeführtes Verbrechen, das man schwere räuberische Erpressung nennt und mit dem Ausspruch dieses Verbrechens im Urteil erledigt. Ein solcher Ausspruch ist – wie wir von Reemtsma erfahren – nichts Beiläufiges, er ist zen­ tral. Der Akt, dem Ereignis eine bekannte Bezeichnung auch zuzuschreiben, ist nicht selbstverständlich und vollzieht sich nur in dem von Reemtsma geforderten Gerichtsverfahren.60 Semiotisch gesehen ist die Kategorisierung einfach: ­Firstness verlangt nach äußerer Bezeichnung, nach secondness. Aber wenn man ein Er­ eignis in Verfahrensaktionen überführt, werden der Gefühlszugriff und die ihm eigene firstness eben verlassen, und – das ist Reemtsmas programmatische For­ derung – genau das muss geschehen, um mit einer derart erschütternden Beein­ trächtigung umgehen zu können. Eine Gesellschaft muss durch Recht und Rechts­ bezeichnungen auf schwere Eingriffe reagieren. Wie notwendig die verfahrensmäßige Symbolisierung des nicht mehr zu schil­ dernden Leidens ist, haben insbesondere die Strafprozesse wegen der NS-Gewalt­ verbrechen demonstriert. Diese Taten – wenn auch serienmäßig begangen – sind singuläre Verbrechen, die noch auf eine Bezeichnung warteten, vielleicht bis heute warten.61 Holocaust hat sich als Index eingeprägt, und die Rechtsordnungen der Welt haben erst nach dem Zweiten Weltkrieg das Verbrechen gegen die Mensch­ lichkeit, den Völkermord und den Rassenhass strafgesetzlich vertypt. Der Umgang 58

Jan Philipp Reemtsma, Im Keller, 2. Aufl., Hamburg 1997, 171. Jan Philipp Reemtsma, in: W. Hassemer/ders., Verbrechensopfer. Gesetz und Gesetzmäßig­ keit, München 2002, 130 f. 60 Reemtsma (Fn. I. 59), 147. 61 Hanna Yablonka, Nazi-Prozesse und Holocaust-Überlebende 1950–1967, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Gerichtstag halten über uns selbst …“ Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt/New York 2001, 277–293 (287). 59

34

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

mit diesen Verbrechenstypen in einem realen Verfahren führt in das Feld symbo­ lischer Operation. Als Symbol versteht Peirce ein „Legizeichen“, für dessen Be­ nutzung es eine Vorschrift gibt, das man also nicht frei verwenden kann. Ein sol­ ches Symbol wird durch eine Gewohnheit, es zu interpretieren, konstituiert.62 Die Gewohnheiten wiederum müssen ausgebildet werden. Der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, das Auschwitz-Verfahren in Frankfurt a. M. (Kap. XI. 4.) und schließlich auch der Strafprozess gegen Klaus Barbie in Lyon – alle diese Ver­ fahren dürfen verstanden werden als symbolische Operationen, mit denen einer für sich genommen nicht ausdrückbaren firstness ein Namen gegeben worden ist. Aber Recht wird nicht von den herausragenden, schweren, kaum benenn- und erzählbaren Fällen bestimmt. Recht ist in erster Linie eine ganz alltägliche An­ gelegenheit, zwar – wie die Liebe – immer irgendwie neu, aber mit einem distan­ zierten Blick gesehen, doch nicht so außerordentlich, dass es in jedem Fall eine gefühlsmäßige Reaktion gäbe. Rechtsgefühle zu entwickeln, ein Gefühl dafür zu haben, was „geht“ und was nicht, das ist eine nicht ganz einfache Sozialisations­ leistung. Die Soziologen Hanak, Stehr und Steinert haben Personen nach ihren Gefühlen in Fällen alltäglicher Enttäuschung befragt. Die Interviewer notieren in einem Fall:63 „Ein Architekt hat Schwierigkeiten, seinen Vermieter davon zu überzeugen, dass seine Miet­ erhöhungsforderung unrechtmäßig ist. Er erzählt: ‚Der Vermieter hatte neue Fenster einge­ baut, noch andere Sachen machen lassen und wollte die Miete erhöhen deswegen. Die Miet­ höhe basierte auf den Gesamtkosten. Da ich ja Bescheid weiß mit Wohnungswirtschaft, wusste ich, dass das nicht rechtens ist … Doch der wollte mir das nicht glauben. Dann hab ich einen befreundeten Rechtsanwalt eingeschaltet, der hat dem Vermieter nochmals das­ selbe geschrieben, dann war das klar. War sozusagen die Autorität des Anwalts. Wir sollten ursprünglich 350 DM mehr zahlen, haben dann nur 50 DM mehr Miete bezahlt im Monat.‘“

Das Beispiel demonstriert die gebrochene firstness moderner Rechtsfälle. Das Gefühl, etwas sei „nicht rechtens“, hat seinerseits eine schon rechtliche Einfär­ bung. Wer das fühlt, weiß so etwa, was in manchen anderen Fällen als Recht an­ erkannt worden ist, und lässt sein Gefühl eben davon bestimmen. Ebenso über­ zeugt das so geltend gemachte Recht nicht „einfach so“, etwa seines normativen Gehalts wegen. Es setzt sich – wie der Interviewte weiß – erst in dem Augenblick durch, als es ein Anwalt so schreibt. Die Enttäuschung braucht also eine Form, die auf Papier zu fassen ist, auf eine Berufsbezeichnung zurückgreifen kann und in einer durch ein formalisiertes Schreiben erzeugten Situation realisiert wird. Ent­ täuschungsabwicklung oder Gefühlsbewältigung geben sich nicht mit einer in­ haltlichen, wie auch immer hervorragend begründeten Rechtsmeinung zufrieden. Michael Bihler hat Außen- und Innenfaktoren für die Gefühlswahrnehmung un­ terschieden und dabei das Rechtsgefühl – nicht mehr in der Tradition von ­Rümelin und Jhering – als inneren Ausdruck einer Gerechtigkeitsaussage und als spontane 62 63

Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2), 273. Hanak/Stehr/Steinert (Fn. I. 57), 62.

3. Das Erste: Unrecht, Rechtsgefühl und Zorn

35

Stellungnahme zu einem Konflikt charakterisiert, und zwar neben einem syste­ mischen Verbindlichkeitsgefühl als weiterem inneren und im Verhältnis zu Norm und System externen Faktor.64 Man weiß etwas vom Recht, man ahnt, was ver­ bindlich sein könnte, und man ist nicht nur enttäuscht, sondern nicht selten zor­ nig. An den Anfang der Rechtsphilosophie stellt Hofmann den Zorn der Antigone als grundlegende Gefühlskategorie.65 Als Gefühlsangelegenheit ist Recht eine Sa­ che des Zorns. Es akkumuliert – wie Peter Sloterdijk es genannt hat – „thymo­ tisches Kapital“. ­Sloterdijk befindet sich auf den Spuren altgriechischer Psycholo­ gie und greift auf, was Aristoteles definiert hat als „ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache erscheint, worin wir eine Kränkung unse­ rer selbst oder eines der unsrigen erblicken von jemandem, dem das Kränken nicht zukommt.“66 Für ­Aristoteles gehört der Zorn zu den Affekten, auf die der Redner eingehen muss, Sloterdijk versteht thymós darüber hinaus als Inbegriff aller jener Begierden, mit denen Menschen sich als „Träger von stolzen und selbstaffirmati­ ven Regungen“67 verstehen. Verletzungen von Würde, Stolz und Selbstgefühl ste­ hen am Anfang rechtlicher Aktionen. Auch die Rede von Enttäuschungen schließt selbstaffirmative Kräfte ein, lässt aber offen, ob man Enttäuschungen rechtlich auffasst. Wenn Thymotik und Erotik Triebe sind, die das Begehren des Ich an­ treiben und lenken, dann gehört Recht offenbar zu den thymotischen Potenzialen. Wenn man die Entfaltung der semiotischen firstness untersucht, lohnt es sich, die Entwicklungen des Zorngefühls zu beobachten. Sloterdijk bewegt sich dabei in ökonomischer Metaphorik. Zorn ist für ihn ein Kapital, das man in eine nachfol­ gende Handlung investieren oder auch einfach verschwenden kann. Verschwendet ist Zorn, der sich in einem Wutanfall entlädt und irgendeine unmittelbare Reaktion hervorruft, obwohl auch damit die firstness des Zorngefühls in secondness veraus­ gabt wird. Aber der verausgabte Zorn ist weg wie ausgegebenes Geld, das woan­ ders hinkommt. Man kann aber selbst zum Zornunternehmer werden und länger­ fristig mit dem Gut umgehen, seinen vorhandenen Zorn speichern, gewissermaßen „auf die lange Bank“ schieben.68 Schon die jedermann bekannte Rache setzt Zorn voraus, der auf die lange Bank geschoben werden konnte und sich entlädt, wenn damit nicht mehr gerechnet worden ist. Wer rächt, wartet erst einmal ab, peilt Ge­ legenheiten, sucht Verbündete und platziert seine Reaktion zu einem Zeitpunkt und an einer Stelle, wo sie unmittelbar keinen Sinn zu haben scheint. Rache ist nicht nur etwas Zweites, sie präsentiert sich selbst regelmäßig als das symbolische Dritte. Eine rächende Handlung wird dabei zum Mittel für einen proklamierten Zweck. Diese Vermittlungsleistung eröffnet thirdness, und sie kann in zeitlich ab­ gestufter und unterscheidbarer Form erbracht werden. 64

Michael Bihler (Fn. I. 46), 59. Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, 71–79. 66 Aristoteles, Rhetorik 1378 a, zitiert nach der Übersetzung v. Franz G. Sieveke, München 1980, 85. 67 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt a. M. 2006, 30.  68 Sloterdijk (Fn. I. 67), 96. 65

36

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Sloterdijks Essayistik nimmt den ihr eigenen ironischen Ton an, wenn der Ka­ pitalwert des Zorns untersucht wird. Zorneinlagen könnten wie in einer Sparkasse zu einem gemeinsamen Kapital vereinigt werden, um dann – gereinigt von der lo­ kalen und intimen Emotion – zu einem hellsichtig geplanten Großvorhaben ver­ einigt zu werden. Die „Bankform des Zorns“ steht für die „Aufhebung der loka­ len Wutvermögen und der zerstreuten Hassprojekte in eine übergreifende Instanz, deren Aufgabe, wie bei jeder authentischen Bank, darin besteht, als Sammelstelle und Verwertungsagentur für Einlagen zu dienen“.69 Als Zorn-Bank im welthis­ torischen Sinne versteht Sloterdijk die Kommunistische Partei in ihrer sowjeti­ schen Ausprägung, und er widmet sich länger dem Scheitern dieser Weltbank des Zorns. Immerhin taucht neben dem sowjetischen Großvorhaben auch noch das vereinzelte Bemühen um die Zorneinlage auf. Richtigerweise stuft Sloterdijk den Gerichtsprozess als eine symbolische Therapie ein, „um die psychischen und so­ zialen Reaktionen der einzelnen wie der Kollektive auf Verletzungen zu unterstüt­ zen“.70 Die Transformation der Rache in ein institutionelles Verfahren ist seit jeher als erste Aufgabe des Rechts verstanden worden, aber der Gedanke der Bankform weitet den Blick vom einzelnen Verfahren auf die Vielzahl gleichartiger, von Amts wegen eingeleiteter oder anwaltlich inszenierter Gerichtskampagnen. Die neuzeit­ liche Staatsanwaltschaft – tatsächlich ja historisch ein Abkömmling der Franzö­ sischen Revolution – ist in diesem Sinne eine Sparkasse des Zorns. „Weltgericht, weniger und mehr“ darf man von jedem Verfahren erwarten.71 Die Anklage des öf­ fentlichen Strafprozesses bündelt Einzelinteressen und macht sie – weil von einem Staatsanwalt erhoben und in öffentlichem Interesse verfolgt – zu einem gefühlsge­ reinigten, jetzt von Dritten gehandhabten Verfahrensgegenstand. Was im Strafprozess die öffentliche Anklage ist, wird im Zivilprozess durch die im amerikanischen Rechtsraum seit langem so etablierte class action geleis­ tet. Darunter versteht das US-amerikanische Prozessrecht in den Federal Rules of Civil Procedure Regeln 23 und 28 ein Verfahren, in dem Einzelne Gruppen­ interessen zum Gegenstand persönlicher Klagen machen können. Hat der Klä­ ger Erfolg, gilt das nicht nur für ihn, sondern für eine Vielzahl von Geschädig­ ten, die in gleicher Weise Schadensersatz erlangen. Unter Zorngesichtspunkten kaum vergleichbar sind in dieser Verfahrensform die Klage der NS-Zwangsarbei­ ter auf Entschädigung und Rente gegen die Bundesrepublik Deutschland72 einer­ seits und die der amerikanischen Musikindustrie gegen den Bertelsmann-Kon­ zern wegen angeblicher Urheberrechtsverletzungen durch eine Musiktauschbörse im Internet (UMG Recordings und Capital Records vs. Bertelsmann und Hummer 69

Sloterdijk (Fn. I. 67), 99. Sloterdijk (Fn. I. 67), 79. 71 Frank Rotter, Gerichtliche und therapeutische Diskurse. Vergleichende Perspektiven zwi­ schen Diskursanalyse, Semiotik und Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Psychiatrie, Psychotherapie und Recht. Diskurse und vergleichende Perspektiven, Frankfurt a. M. u. a. 1994, 241. 72 Stuart E. Eizenstat, Unvollkommene Gerechtigkeit. Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung, München 2003. 70

4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt

37

Winblad73) andererseits. Die Zwangsarbeiter waren auf politische Hilfe ange­ wiesen, während die Industrie die Zweitheit des Urheberrechts für sich mono­ polisiert. Die Bankform des Zorns erlaubt eine solche Entfernung der Handlun­ gen von Anlass und Motiv. Der Begriff macht aber an Beispielen deutlich, was in den ­Peirceschen Kategorien von firstness, secondness und thirdness abstrakt blei­ ben muss. Die Einrichtung von Gefühlsbanken im Rechtsverfahren ist eine Ver­ mittlungsleistung, die Gefühle durchaus nicht entbehrlich macht, die Reaktionen darauf aber einem anderen überlässt, der sich des Gefühlspotenzials bedient. Im Rechtsverfahren sind das in erster Linie Anwälte. Mit der Einrichtung der Advokatur ist die Rechtsvermittlung professionalisiert worden, was zunächst einmal heißt, dass firstness nur noch den Anlass bildet, einen Anwalt zu beauftragen, und das ist im Falle von Massenverfahren noch nicht einmal zwingend erforderlich. Andererseits ist derjenige, der gefühlsgeladen und zornig agiert, auch am wenigsten geeignet, Gefühle sinnvoll zu investieren. Die Advoka­ tur fungiert insofern als eine Affektsammelstelle (durchaus auch in der Ausdrucks­ weise Sloterdijks), sie wirtschaftet mit dem Zorn der Klienten. Allerdings bleibt zweifelhaft, ob das Rechtsverfahren systemisch in der Lage ist, psychische und mo­ ralische Beschädigungen zu bearbeiten, um die es am Anfang des Rechts auch im­ mer geht. Sieht man die Bearbeitung als Zornbewirtschaftung an, fällt weniger ins Gewicht, dass Störungen des Ichs nicht durch Kommunikationen erledigt werden können, sondern nur durch das eigene Bewusstsein selbst. Kommunikation ist etwas anderes als Bewusstsein und Selbstverhältnis. Aber dem Zorn geht es um Leiden­ lassen, „dem sich in strafenden oder verletzenden Akten entladenden Zorn wohnt die Überzeugung inne, es gebe in der Welt, lokal und global, zu wenig Leiden“,74 und zwar deswegen, weil diejenigen, die bestraft werden müssten, nicht wirklich bestraft worden sind. Das hat erst noch zu geschehen. Dass eine solche, vom Zorn gewünschte Bestrafung in einer wirklichen Strafsache oder auch nur in einem Zivil­ prozess erreicht werden kann, entspricht nun nicht den gefühlten Erfahrungen der Beteiligten. Mit dem Gefühl als gesetztem Ersten eines Rechtsprozesses geschieht etwas anderes als gedacht. Das liegt daran, dass etwas hinzutritt: das Zweite. 4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt Zweitheit  – so lautet das Konzept von Peirce  – sei „eine Tatsache über etwas Komplexes“, was nicht gleichzeitig heiße, dass es sich um einen komplexen Begriff handele.75 Im Gegenteil erlaubt Zweitheit den einfachen Zugriff: Das ist ein Mord. Die „harte Tatsache“, die von außen auf den Gedanken reagiert, ist das Zweite, und für Zweites braucht man keine Wissenschaft. Zweitheit hält Peirce in den Notizen zu seinem nie fertiggestellten Hauptwerk „A Guess at the Riddle“ für am leich­ 73

United States District Court, N. D. California. Opinion from July 13, 2004. Sloterdijk (Fn. I. 67), 90. 75 Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2: Entwurf der Dritten Vorlesung der Lowell-Lecture von 1903), 156. 74

38

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

testen verständlich im Verhältnis der Kategorien. Während die Idee des Ersten so zart sei, dass man sie bereits verderbe, wenn man gedanklich daran rühre, sei das Zweite hart und greifbar.76 Das Zweite kommt tagtäglich von außen und ist das, was dinglich an jeden Einzelnen herantritt und der ersten Möglichkeit signalisiert, was wirklich ist. „Eine Tür steht ein wenig offen. Ich versuche sie zu öffnen. Et­ was hindert mich daran. Ich presse mich gegen sie und erfahre ein Gefühl der An­ strengung und des Widerstands. Dies sind keine zwei Bewusstseinsformen, es sind zwei Aspekte eines doppelseitigen Bewusstseins. Dieses doppelseitige Bewusstsein ist Zweitheit“.77 Erstes und Zweites, Täter und Opfer, Ja und Nein – das sind Peirce zufolge die Tatsachen der Erfahrung, die sich dem Bewusstsein einprägen. Zwar bedürfen sie des Dritten, damit man sich einen Begriff von ihnen machen könne, das ändert aber nichts am existenziellen Vorrang des Ersten als Existenzweise und an der Wirklichkeit des Zweiten als Einbruch einer äußeren Welt von Namen. Er­ kenntnistheoretisch hat Peirce mit dieser kategorialen Konzeption der Semiotik Kant teils fortgesetzt und teils zurückgewiesen. Zurückgewiesen werden die In­ halte der kantischen Kategorien ebenso wie die grundlegende Unterscheidung zwi­ schen apriorischen und aposteriorischen Formen. Im kantischen Sinne nachträglich sind bei Peirce alle Operationen mit Zeichen. Durch sie und in ihnen manifestiert sich aber dennoch objektiv erfahrbare Welt, und zwar nicht nur in der Restkatego­ rie des Dings an sich. Zweitheit ist die materiale Form für den Außenbezug aller Zeichenoperationen, wenn man nicht – wie es weitgehend geschieht – überhaupt die Zeichenbeziehung als Dual von Zeichen und Bedeutung, Zeichen und Benutzer(n) oder Zeichen zueinander auffasst. Mit einer massiven Zweitheit drängen sich Zei­ chen auf, und besonders aufdringlich ist dabei das Rechtszeichen. Für das Rechtsgefühl gibt es etwas, das von außen kommt und sich ihm gebiete­ risch in den Weg stellt oder es anstachelt und auf die Bahn bringt. Man weiß das, ohne dass man etwas über Zeichen weiß. Zweitheit gibt es aktuell in jeder wirk­ lichen Rechtssituation, und sie drängt sich am Fall von außen auf. Das Recht kennt eine Menge von Situationen des behördlichen Eingriffs, Aufgriffs und Zugriffs oder einfach des gerichtlichen Spruchs. Rechtlich spricht man insoweit von Maß­ nahmen. Polizeirechtlich sind das die aufgrund einer Gefahrenlage gerechtfertig­ ten polizeilichen Eingriffe. Die Polizei trifft Maßnahmen, über deren Rechtferti­ gung andere später nachdenken können. Die Maßnahme soll im Unterschied zu einer Strafe einen angebbaren Zweck haben, nur muss ihn derjenige, der sie durch­ führt, nicht gleichzeitig auch angeben. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Was hinter diesem Satz steckt, offenbart der lange Text des „Proceß“ nicht, weder Haft­ grund noch Verdachtsgegenstand werden durch ihn vermittelt (dazu Kap. IV. 7.). Das macht den Zwang der Zweitheit fiktional deutlich, auch wenn das wirkliche Recht meist irgendwelche Gründe bemüht. So wenig man den Widerstand kennen 76

Charles S. Peirce, A Guess at the Riddle, in: ders. (Fn. I. 18, Vol. 2), 249. Peirce (Fn. I. 42), 55.

77

4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt

39

muss, der hindert, eine Tür zu öffnen, um eben diesen Widerstand als solchen zu erfahren,78 so wenig muss man wissen, warum und mit welchem Recht man verhaf­ tet wird, wenn die Wächter in der Stube stehen. Das Wissen würde zu den recht­ lichen Vermittlungsleistungen der Drittheit gehören, die aktuelle Verhaftung hat damit aber erst einmal nichts zu tun. Sie ist das, was sie verbietet: kein Frühstück mehr, keine Nachfrage bei der Zimmervermieterin und nichts mitnehmen oder nur das, was man als das Notwendigste empfindet. Verhaftungen sind die schärfste Form rechtlicher Zweitheit, aber nicht die ein­ zige und schon gar nicht die häufigste. Alle Maßnahmen der Ermittlung, Untersu­ chung oder allgemein des Verfahrens führen einfach erst einmal nur zu Anstren­ gung und Widerstand wie das Öffnen einer Tür. Sie mögen rechtlich vermittelt sein oder auch nicht, sie können sich später als völlig unberechtigt erweisen, das ändert aber den Charakter ihrer Zweitheit in keiner Weise. Zweitheit erfährt man, indem man verhaftet wird, indem eine Tasche beschlagnahmt oder ein Schrei­ ben zugestellt wird, aber man kann sie äußeren Dingen auch einfach zuschreiben. Zweitheit gibt es, wenn es sie gibt – so nennt Peirce das Phänomen.79 Wenn man Polizei sieht, kann man Eingriff und Übergriff zuschreiben – ob das richtig oder falsch ist, spielt dabei keine Rolle. Wem ein Schreiben zugestellt wird, der steht erst einmal unter dem Diktat eines Fristlaufs, dem man sich erst dann durch wei­ tere Vermittlungsleistungen entziehen kann, wenn man darüber nachdenkt, wo­ rum es geht und was man tun will. Aber es gibt im und durch das Recht neue Äußerlichkeiten, die man zuvor nicht kannte und auf die man sich auch nicht ohne Weiteres einstellen kann. Es gibt unter Umständen einfach ein Urteil, das als Voll­ streckungstitel in das Leben eingreift. Vielleicht kann man etwas dagegen tun, vielleicht kann man noch Einspruch einlegen und darstellen oder nachweisen, dass alle Eingriffe unrechtmäßig sind und waren. Das zentrale Gegenargument gegen jede tatsächliche Behauptung, gegen jeden juristischen Tatsachenvortrag lautet dann: Dies oder jenes sei nicht wahr, entspre­ che nicht den Tatsachen, sei in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Hinter den Ob­ jekten der Erzählung und Feststellung verweist man mit dieser Abwehr auf den Be­ reich des Zweiten als des Anderen. Es geht im Recht immer um beides: um einfache, praktische, physische Eingriffe, um Zwang oder Hilfe einerseits und um Verzöge­ rungen, Schleifen oder Schwierigkeiten andererseits. Mit diesem Ge­gen­einan­der kann der Selbstlauf einer Begründung unterbrochen werden. An der Wirklichkeit soll eine Begründung scheitern können. Hinter Ausdrucksweisen, mit denen man Recht bezeichnet, und vor Eindrücke, die es bezeichnen soll, schiebt sich die „Wirk­ lichkeit“ als eine andere, nicht ganz greifbare, aber immer mit gemeinte Kategorie. Recht ist nicht nur, was man sich darunter vorstellt, weil die V ­ orstellung sich auf etwas beziehen und das Gute, das rechtlich Gesollte, meinen muss. Ein Rechtsver­ 78 Türöffnen ist ein wiederkehrendes Beispiel für secondness bei Peirce (Fn. I. 42), 26 f. (Fn. I. 43), 55. 79 Peirce (Fn. I. 42), 56.

40

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

fahren, dem sich mit wirklichen Aussagen und realen Beobachtungen keine andere Richtung und kein anderes Ergebnis mehr abgewinnen lässt, das also nicht auch scheitern kann, würde nur noch auf ein feststehendes Ergebnis zusteuern. Solche Prozesse gibt es, aber sie sind totalitärer Art. Zum Verfahren gehört die Gefähr­ lichkeit des Vielleicht. Vielleicht ist es falsch, was ich behaupte (auch wenn ich das im Moment der Behauptung nicht gleichzeitig hervorheben und sagen kann). Ein Gegenbeweis, ein Gegenteil des Werts: Sie sind immer möglich. Die Zweitheit des Rechts kann allgemein mit dem rechtssoziologisch durchaus vertrauten Begriff der Tatsache verstanden werden. Als Tatsache ist Recht „ein abstraktes Element des Realen, das einer Proposition korrespondiert“.80 Wenn ich dieses Peirce-Zitat benutze, muss gleichzeitig klargestellt werden, dass Peirce im „Syllabus“ nicht speziell vom Recht, sondern allgemein vom Tatsachenbegriff han­ delt. Allerdings ist die Jurisprudenz gerade die Disziplin, in der durch die schein­ bar abstrakte Trennung von Meinung und Tatsache Folgen ausgelöst werden (dazu Kap. VI. 2.). Meinungen sind freigegeben, man kann diese oder jene haben, sie sollen in aufgeklärten Rechtsstaaten nicht zensiert werden, aber sie sind für sich genommen auch nicht bindend. Tatsachen sind es, man muss sie hinnehmen, aber auch nur dann, wenn sie wahr sind. Lügen sind verboten (wenn man nicht der An­ geklagte ist). Diese Zusatzbedingung verschärft den Streit um Tatsachen und führt zu einer äußeren Wucht, die Meinungen nicht haben, jedenfalls solange nicht, als man sie nicht selbst schon als verpflichtend empfindet. Auch das kommt vor. Über die eigene Konstruktion von Tatsachen gewinnen die Innenoperationen des Rechts­ betriebs eine äußerlich verpflichtende Kraft. Um das zu sehen, muss man nicht un­ bedingt die Perspektive der Sozialwissenschaften bemühen, man kann den Prozess­ betrieb selbst beim Wort nehmen und liest dann, dass in dem Dual von Norm und Tatsache auch eine „Normtatsache“ mitspielt.81 Normtatsachen werden hergestellt, aber hingenommen, so als kämen sie von außen, damit vorher unstrukturierte Be­ reiche im Normverständnis strukturiert werden. Die Feststellung der Blutalkohol­ konzentration ist eine solche Tatsache, auch wenn man nicht ohne Weiteres versteht, unter welchen Bedingungen sie normativ relevant sein soll. Der für die Feststellung relativer oder absoluter Fahruntüchtigkeit maßgebliche BAK-Wert ist (nur) durch Rechtsprechung festgelegt worden – dort aber durch Urteile, die als Tatsachen wir­ ken. Nimmt man sie hin, muss man Außenwirkungen in allen möglichen Bereichen anerkennen, in denen Beurteilungskompetenz von Bedeutung ist. Diese Einsicht leitet über zu der rechtssoziologisch vertrauten Sicht, dass mit dem Rechtsbegriff nicht nur Normen, sondern institutionell oder rituell hergestellte Tatsachen verbun­ den sind. Bei Eugen Ehrlich waren Rechtstatsachen Übungen, Regeln und Verhal­ tensweisen,82 aus denen Recht hervorgeht bzw. die zur Rechtsquelle werden. Je­ 80

Peirce (Fn. I. 42), 60. Eike Schmidt, Der Umgang mit Normtatsachen im Zivilprozess, in: Christian Broda (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, Neuwied/Darm­ stadt 1985, 807–818. 82 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 3. Aufl., Berlin 1967, 68 f. 81

4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt

41

der gerichtliche Spruch ist für sich genommen eine Rechtstatsache. Er macht aus dem Ersten – und damit aus dem gedachten, bloß möglichen Recht – etwas Äußer­ liches, Unerwartetes und auch Zwingendes, ohne dass man den Spruch verstehen oder billigen muss. Er ist, wie er ist, und das ist das Zweite. Juristen sprechen – inso­ fern nur teilweise ähnlich – vom „Titel“ und meinen damit den vollstreckungsfähi­ gen Satz des Entscheidungstenors oder auch das Dokument, das bei Durchführung einer Vollstreckung dem Schuldner ausgehändigt werden soll. Die Verpflichtung ­ itelübergabe nach Durchführung der Zwangsvollstreckung zeigt anschau­ zur T lich, inwiefern das geltende Recht von seiner eigenen Zweitheit Gebrauch macht. Es lässt – wenn es konkret wird – alle Begründungs- und Rechtfertigungsfragen im Jenseits und wirkt durch aktuelle Zweitheit. Geläufig in der Rechtskritik ist an dieser Stelle die Berufung auf Gewalt. Cha­ rakteristisch nennt Kant das Recht zu zwingen „äußeres Recht“.83 Der „Zwang, der jedermann nötigt, dieses zu tun“ macht Kant zufolge den Kern des Rechts aus, das deshalb mit der „Befugnis zu zwingen“ in eins gesetzt wird, sofern von sogenann­ tem „striktem Recht“ die Rede ist. Was bei Kant notwendiges Rechtsmerkmal ist, wird in der postmodernen Rechtskritik gewöhnlich angeprangert. Dabei ist es sinn­ voll, mit Derrida wenigstens Gewalttat von Zwangsgewalt zu unterscheiden. Dafür halten das Englische wie das Französische zwei unterschiedliche Ausdrücke bereit, nämlich force und violence. Unterschieden werden damit die rohe Gewalt­tätigkeit der violence von der erhaltenden, für jeden Rechtsspruch unverzichtbaren Kraft, die als force in der amerikanischen Rechtsordnung zu einer eigenen praktischen Unterabteilung geführt hat, in der es um enforceability eines Rechts geht,84 was so viel wie dessen Durchsetzung meint. Force ist notwendig, violence soll dagegen vermieden und rechtlich eingehegt werden, und doch stören, vermengen und bedin­ gen sich beide fortlaufend. Die Trennung funktioniert praktisch nicht, was ­Derrida im Deutschen an der „waltenden Gewalt“85 festmacht, die weder rechtmäßig noch unrechtmäßig sei. Was aber bleibt und dem Recht anhaftet, ist Zweitheit, und mit Zweitheit ist körperlicher Zwang verbunden. Provokativ wirkt in diesem Zusam­ menhang eine Sentenz des Moralphilosophen Montaigne, die Derrida an den An­ fang der Dekonstruktion des Rechts stellt. Danach gelten die Gesetze, weil sie Ge­ setze sind, nicht weil sie gerecht seien, und wer ihnen nur gehorche, wenn und weil sie gerecht seien, der folge ihnen eben nicht, „parce qu’elles sont lois. C’est le fon­ dement mystique de leur autorité.“86 Der „mystische Grund der Autorität“ wird für Derrida zum Untertitel der Kraft des Rechts. Semiotisch gesehen, handelt es sich um Zweitheit, die ein Gefühl auch innerlich verbindlichen Zwangs überträgt. Was 83 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre § E (AB 36), in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. IV, 339. 84 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt a. M. 1991, 11 f. 85 Derrida (Fn. I. 84), 14. 86 Michel de Montaigne, Essais. Livre Troisième (1580), Paris 1963, 362; auch in allen deut­ schen Ausgaben im 13. Kap. „Von der Erfahrung“ (hrsg. v. Ralph Rainer Wuthenow, Frank­ furt a. M. 1976, 221), zitiert bei Derrida (Fn. I. 84), 25.

42

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

da zwingt, ist nicht die pure Gewalttätigkeit oder die Befürchtung, bei Nichtbefol­ gung würde die Strafe auf dem Fuße folgen. Es ist auch nicht der Glauben an die Hülle des positiven Gesetzes, dessen Inhalt man zwar nicht billigt, dem man aber folgt, weil es gilt. Der Zwang zu folgen ist eine innere äußere Tatsache. In der klas­ sischen Staatsphilosophie hat er in den Dramen Ausdruck gefunden, in denen sich der Gefolgsmann entschließt, seine Gefolgschaft aufzukündigen und die Hand ge­ gen den Herrn zu erheben. Wilhelm Tell kämpft gegen Zweitheit, im Übrigen – wie das klassische Drama zeigt und womit es sich herumplagt – ohne gefühlte dritte Rechtfertigung. Man brauchte erst noch eine Regel für den Tyrannenmord. Schil­ ler versucht, die rechtfertigende Ausnahme zu definieren. Neben der aktuellen, wirklich wirkenden Zweitheit gibt es degenerierte Formen. Das sind solche, die einen interpretatorischen Prozess bereits durchlaufen haben, von dem man aber absehen muss, wenn man mit den Ergebnissen weiter umgeht. Wenn man solche Ergebnisse zu Tatsächlichkeiten macht, hat man Drittheit bereits in Anspruch genommen. Aber Verhalten, Übung oder Spruch bleiben äußere Tat­ sachen. Wegen ihres schlichten Vorkommens und ihrer Praktiken wirken sie von außen auf das ein, was sie später mit anderem vermittelt. Wenn von Rechts­tatsachen die Rede ist, muss man auf das achten, was im Recht selbst als Tatsache angesehen wird. Das sind auch die Entwicklung der Rechtsprechung und die Heraus­bildung der in ihr herrschenden Meinung. An diesen Tatsachen – so sehen es die Juristen – kommt niemand vorbei, auf sie muss man reagieren, sie muss man berücksichtigen, insgesamt: der fast unmerkliche Zwang des Arguments, das besser oder schlechter formuliert sein kann, geht von den Tatsachen aus, auf die es sich bezieht, so dass „bloße“ Rhetorik über die Rechtsqualität nicht entscheidet. Das ist durchaus se­ miotisch gedacht. Die Tatsache ist im Zeichenzusammenhang das, was von außen kommt, wobei es sich im Rechtssystem um ein inneres Äußeres handelt, denn im Rechtsverfahren wird über Schriftsätze, Vernehmungen, Protokolle und Berichte aktenmäßig hergestellt, was als Tatsache gelten soll. Es ist für sich genommen ein Index.87 Was Recht werden soll, muss erst einmal Akteninhalt werden, so dass die Tatsächlichkeit des Rechts sich semiotisch als degenerierte Drittheit erweist. Man muss als etwas Äußeres und Zwingendes behandeln, was man mit den eigenen Mitteln der Zeichenverwendung und -verschiebung nicht mehr beeinflussen kann. Dann werden Drittheiten wie Tatsachen aufgefasst. Das ist es, was Peirce, der die Übergänge studiert hat, als Degenerationsformen beschreibt.88 Was ein Zeuge ge­ sagt hat, hat er gesagt. Der Text seiner Vernehmung erhält den Wert einer Tatsa­ che und wirkt als Zweitheit auf jeden weiteren Interpretanten, der sich darauf be­ zieht. So wirkt auch die Zweitheit eines gerichtlichen Spruchs im argumentativen Zusammenhang. Zwar mag man annehmen, dass ein Verfassungsgericht die Ver­ fassung falsch verstanden hat, Normen anders hätten verstanden und Fälle anders entschieden werden müssen als geschehen, aber wenn es geschehen ist, dann ist es, 87 Roberta Kevelson, Charles S.  Peirce’s Method of Methods, Amsterdam/Philadelphia 1987, 74. 88 Peirce (Fn. I. 43), 44.

4. Zum Zweiten: Maßnahmen, Tatsachen, Gewalt

43

wie es ist. Davon ist auszugehen. Die Entscheidung bleibt, auch wenn sie argumen­ tativ für falsch gehalten wird. Argumentative Zweitheit muss gelernt und praktiziert werden, ansonsten entfernt man sich aus dem forensischen Diskurs. Die Außenansicht des Rechts weist Schrecken und Hässlichkeiten auf, die – ob man es will oder nicht – dazugehören. Rechtsgewalt ist keineswegs nur von rechts­ erhaltendem oder rechtsimmanentem Zwang begleitet, weil das Recht bekanntlich nicht zahnlos bleiben soll. Im Hintergrund lauert auch jene violence, die man – wie Derrida notiert – „immer für ungerecht hält“. Sie hält sich buchstäblich in den Hinterzimmern auf, in denen Josef K. die Wächter und Prügler entdeckt. Cornelia Vismann öffnet die Tür zu Kafkas Gerichtskanzleien, und sie findet „unbrauch­ bare alte Drucksorten, umgeworfene leere irdene Tintenflaschen  … hinter der Schwelle.“89 Aber in dieser „Rumpelkammer des Rechts“ lagern nicht nur Altma­ terialien, Weggeworfenes, Ausgestrichenes und Abgelegtes, dort wird auch voll­ streckt! Es ist die Kammer des Prüglers, der dort seine deutungslos sadistische Arbeit an den Unterworfenen verrichtet, die wiederum die Häscher und Wächter des Angeklagten sind; und das geschieht an einem Ort und in einer Weise, die es eigentlich gar nicht in der Bank gibt, in der K. arbeitet. Josef K. schließt schnell die Tür, und als er sie am nächsten Tag wieder öffnet, findet er alles „unverändert, so wie er es am Abend vorher beim Öffnen der Tür gefunden hatte. Die Drucksor­ ten und Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, der Prügler mit der Rute, die noch vollständig angezogenen Wächter, die Kerze auf dem Regal und die Wäch­ ter begannen zu klagen und riefen: ‚Herr!‘“90 Vor Schreck wirft K. die Tür wieder zu, und ihm fällt nur ein, die Diener zu bitten, doch endlich die Rumpelkammer auszuräumen. „Als ob die Gewalt im Recht sich ausräumen ließe!“ kommentiert Vismann diese Vergeblichkeit.91 Die Szene vom Prügler gehört zu den rätselhaften Details in Kafkas „Proceß“-Roman, seiner Rezeption und der damit zusammen­ hängenden Literaturgeschichte. Den Prügler sieht Vismann „so wie Türsteher, Mi­ nister und Beamte“ als „zweideutiges Mittelding zwischen Scherge und Richter“. Alle diese Figuren verfügen über eine Gewalt, die im Recht durch Recht eigent­ lich ausgeschlossen werden soll. Dennoch tritt Zweitheit gelegentlich als Folter auf, und zwar nicht symbolisch eingefasst wie einstmals zu Zeiten der Inquisition, sondern als nur und einfach brutale körperliche Gewalt.92 Wie soll man eine nach der erklärten Verfahrensordnung eines Staates erfolgte Verurteilung zu tausend Peitschenhieben verstehen und dann auch noch rechtfer­ tigen? Wie kann man die Einrichtung eines exterritorialen Lagers in eine diffe­ren­ zierte Verfahrensordnung einbeziehen? Kann man die Einweisung in ein Straflager für die Dauer von zwei Jahren als angemessen für die Schuld an einer Gottesläste­ 89

Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000, 117. Franz Kafka, Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1990, 117. 91 Vismann, Akten (Fn. I. 89), 47. 92 Susanne Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, Baden-Baden 2011, 209, 216. 90

44

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

rung in einer Kirche begreifen? Raif Badawi oder die Frauen von Pussy Riot, die Häftlinge im Lager Guantanamo – auch wenn man nur diese Opfer aus so unter­ schiedlichen Staaten wie Saudi Arabien, den USA und Russland ansieht, so fällt es schwer, diese Ereignisse einheitlich zu interpretieren, wenn man nicht bereit ist, die unangemessene, brutale und rechtlich nicht zu rechtfertigende Reaktion des Rechts selbst noch als dessen eigenständigen Teil zu sehen. Mit Recht kommt man im Recht zu rechtlich nicht mehr zu rechtfertigenden Reaktionen. Sie repräsentieren Zweitheit. Das ist ein theoretisch unbefriedigendes Ergebnis, so empörend, wie es die rechtlichen Unrechtsmaßnahmen selbst sind. Aber es gibt sie, und eine Rechts­ lehre, die allgemein und wirklichkeitsbezogen sein will, muss sie einbeziehen. Das heißt nicht, Guantanamo oder islamische Strafverfahren zu nehmen, wie sie sind. Sie haben nicht das letzte Wort. Der Zugang zu einer rechtlichen Interpretation führt nur über ein Drittes, und er ist nicht dadurch abgeschlossen, dass nach einer staat­ lichen Ordnung ein Urteil ergangen ist. Drittheit ist eine Kategorie des Zeichens. 5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten Dass Richter Dritte sein sollen, gehört schon zum sprichwörtlichen Verständ­ nis des Gerichts.93 Vor allem tun Juristen so, als ob sie neben und hinter den zwei Parteien, die im Forum auftreten, einen Dritten ausmachen könnten, dem die nor­ mativen Qualitäten zukommen, mit denen man eine Entscheidung dann ausstat­ tet.94 Der Dritte ist also zunächst einmal ein inhaltliches Konstrukt in Begründun­ gen, er ist eine (rhetorische) Figur und fungiert als gedachter Akteur, als Veto, als Konsument oder als Korrektiv unter Gleichen. Auch als Akteur ist der Dritte ein rechtes Vorbild, von dem man weiß, wie er zu agieren habe, als treu sorgender Hausvater etwa, nämlich „besonnen, rechtschaffen, integer und stets achtsam“.95 Das möge der richterliche Redner auch sein, und im Ansatz ist er dabei Vermitt­ ler, erst danach auch Entscheider. Anthropologisch gesehen, verlangen zwei Strei­ tende nach einem vermittelnden Dritten, und wenn sie selbst danach nicht verlan­ gen, dann drängen die Gesellschaft oder (in einer befehlsbezogenen Rechtstheorie nach Hobbes) der Staat den Zweien diesen Dritten auf. Die ethnologische For­ schung liefert vergleichende Befunde zu unterschiedlichen Drittaufgaben. Sie rei­ chen vom passiven Zuhören über die Verteilung von Gesprächsbeiträgen und der Aufstellung einer Gesprächsordnung zur soufflierenden Deutung, schließlich zur Einbringung eigener Standpunkte bis zur Sachentscheidung.96 Mit dem Dritten kehrt die Pragmatik in die Semiose ein – wenn auch durch die Hintertür und auf dem Rücken von Kamelen. Denn die Dritten sind immer nur da­ 93 Andrea Holtwick-Mainzer, Der übermächtige Dritte. Eine rechtsvergleichende Unter­ suchung über den streitschlichtenden und streitentscheidenden Dritten, Berlin 1985. 94 Elena Barnert, Der eingebildete Dritte, Tübingen 2009. 95 Barnert (Fn. I. 94), 124. 96 Holtwick-Mainzer (Fn. I. 93), 87.

5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten

45

zwischen präsent, zwischen zwei Positionen, die in ihrem Gegensatz gut auszuma­ chen sind und nach einem Entscheider verlangen, einem Dritten als mehr oder we­ niger verschwindende Zusatzinstanz. Veranschaulicht wird das durch die Parabel vom zwölften Kamel, die das Dritte in einer eigenartigen erzählerischen Präsenz zusammenbringt. Dritte sind Richter (das ist nicht neu), Drittes sind die Dinge, die ein Richter braucht (da dachte man bisher an Gesetze), und ein Drittes sind die Wege und Auswege zwischen den zwei widerstreitenden Positionen. Die Parabel hat Tra­ dition und ist zuletzt von Niklas Luhmann und Gerhard Struck mit grundsätzlicher Bedeutung erzählt worden.97 Sie handelt von einem wohlhabenden Beduinen, des­ sen Reichtum in einer großen Kamelherde besteht. Über die verfügt er in seinem Testament zugunsten seiner Söhne, die er nach der Wertschätzung erben lässt, die er der Geburt jedes dieser Söhne hat zuteilwerden lassen, und das Interesse an den Söhnen nahm leider ab. Deshalb soll der älteste Sohn die Hälfte, der zweite ein Viertel und der Dritte nur noch ein Sechstel erben. Als der Alte stirbt, sind die Zei­ ten schlecht geworden, und vererbt werden nur noch elf Kamele. ­Darüber geraten die Söhne sofort in Streit, weil der Älteste sechs Kamele für sich fordert, fühlt er sich doch als der am meisten Geschätzte, der schon aus diesem Grund das meiste zu beanspruchen hat. Weil man sich nicht einigen kann, holt man den Kadi, der arm und alt ist. Er hat nur ein Kamel und schenkt dieses Kamel den Söhnen mit dem Bemerken, die Güte Allahs werde es vielleicht möglich machen, dass er das Kamel zurückerhalte. Tatsächlich erhält nun der Älteste – wie gewünscht – sechs Kamele und damit die Hälfte von Zwölf, der zweite Sohn drei, nämlich ein Vier­ tel, und der Jüngste bekommt ein Sechstel und damit zwei Kamele. Damit ist die Verteilung beendet und übrig ist ein – das zwölfte – Kamel, das der Kadi zurück­ erhalten kann. Seitdem stellt sich die Frage: Brauchen Richter Leihkamele? Die Frage stammt von Niklas Luhmann,98 der die Geschichte unter der Dritt­ perspektive des Beobachters eingeführt hat. Luhmann hat sie in der für die Dritt­ position charakteristischen Zwischenlage beantwortet. Das Kamel ist notwendig, und es ist nicht notwendig. Natürlich hätte man sich wie geschehen auch ohne Kadi und Kamel einigen können, aber das Ding, das die Drittposition verkörpert, sym­ bolisiert einen Topos, mit dem man ein Problem verschieben kann. Den Topos hat Struck formuliert als: „Der kleine Rest so wie die Hauptsache!“99 Denn die Auf­ lösung des Streits beruht auf einem intellektuellen Durchblick, der beim Erzählen nicht vermittelt wird und den die Streitenden selbst nicht haben. Im Testament ist gar nicht das Ganze aufgeteilt worden, sondern nur 11/12. Der Kadi hat also ein­ fach eine größere Kompetenz in der Berechnung von Quoten. Das Dritte ist dann das, was man hinzufügen muss, damit vom Standpunkt des Ersten eine akzepta­ 97 Niklas Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels: Zum Sinn soziologischer Analyse des Rechts, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3–60; Gerhard Struck, Grundver­ ständnisse von Recht und Gerechtigkeit  – gezeigt an beliebten Geschichten (2013), 80–94 (Rz. 30 f.), in: Humboldt-Forum Recht (http://seibert.biz/humboldt). 98 Luhmann (Fn. I. 97), 4. 99 Struck (Fn. I. 97), Rdz. 30.

46

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

ble (zweite) Lösung angeboten werden kann. Grundsätzlich fragt Luhmann, wel­ che Rolle ein Drittes in der Rechtslehre überhaupt spielt. Keine – könnte man den­ ken, wenn man den Zweiteilungen der juristischen Lehre folgt. Im Recht herrschen Binarität und Bifurkation, d. h. es wird nicht nur zweigeteilt, binär schematisiert, sondern auch entzweit, das Zweite dem Ersten gegenübergestellt. Etwas ist entwe­ der Rechtssubjekt oder es ist es nicht. Wenn es Rechtssubjekt ist, dann ist es auch Person. Wenn es nicht Person ist, dann ist es Sache. Der Weg solcher Zweiteilun­ gen, die immer die Welt insgesamt erfassen und abbilden wollen, ist theoretisch unendlich, reicht aber praktisch doch nicht sehr weit. Zweiteilungen verführen alle Teilnehmer dazu, Übersetzungsverhältnisse zwischen dem bezeichnenden Ding (dies ist ein Kamel) und den damit bezeichneten rechtlichen Bedeutungen (das Kamel ist Teil des testamentarisch bestimmten Erbes) herzustellen und auf nichts anderes dazwischen mehr zu achten. Das Publikum interessiert sich vor allem da­ für, was ein alltäglicher Sachverhalt oder eine Meinung, die jemand äußert, denn nun rechtlich bedeuten. Zeichen sind in dieser Sicht, die auf das Saussuresche Mo­ dell zurückgeht, ein Dual, sie bezeichnen ein beliebiges Anderes und stellen selbst die Unterscheidung dar, mit der das Eine vom Anderen unterschieden wird. Nicht das Kamel für sich genommen, sondern das Erbe macht deshalb das Zeichen aus. Ein Jurist tut ebenfalls zweierlei: Er bietet eine fachsprachliche Übersetzung an, eine Ausdrucksweise für eine gewünschte Folge, und er zwingt alle anderen zur zweigeteilten, bifurkativen Interessenbestimmung: Was ist die Hälfte von Zwölf? Was geschieht mit nicht verteilten Erbschaftsgegenständen? Beides – Übersetzung und Interessenreduktion, an dieser Stelle gerne auch „Präzisierung“ genannt  – sind semiotische Leistungen. Aber als Arbeit am Zeichen verdecken sie, wie das Zeichen arbeitet. Denn die zweite Frage wird nicht durch Auslegung nach dem mutmaßlichen Willen des Erblassers beantwortet, sondern über die Güte oder den Willen Allahs behandelt. Wenn es fair ist, dem edlen Schenker das Geschenk zu­ rückzugeben, dann soll man es auch zurückgeben, wenn es nicht verteilt worden ist. Dabei wird ja gar nicht das Geschenk der Teilbarkeit zurückgegeben – das ist als Zeichenarbeit nicht möglich –, sondern zurückgegeben wird nur das Ding. Das Ding hatte parasitär teil an der Verschiebung und Verdeckung des Streits. Insofern gibt es für das Dritte noch eine weitere Metapher und eine Fabel: die Ge­ schichte vom Parasiten, der teilhat, ohne in der Sache benötigt zu werden. Die Bina­ risierung muss nämlich von allen Umständen absehen, die außerhalb des Schemas liegen, nach dem binär geteilt wird. Das macht die Teilung anfällig für Störungen, und dafür gibt es die prominente, am Rande der Wissenschaft verbliebene Meta­ pher vom Parasiten, die von Michel Serres stammt. Serres ist – wie Peirce – Philo­ soph und Mathematiker, wenn auch – anders als Peirce – Mitglied parasitärer In­ stitutionen wie der Académie Française. Von Juristen redet Serres nicht, dazu muss man ihn – wie Matthias Kronenberger es getan hat – übersetzen.100 Die juristische Arbeit an Zeichen ist parasitär, sie schließt ein Drittes aus, das sich anschließend 100

Matthias Kronenberger, Der Parasit der Überzeugungsbildung, Berlin 2010.

5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten

47

wieder in die Diskussion hineindrängt. Wenn die Welt (wie der allgemeine Teil des bürgerlichen Gesetzbuchs lehrt) nur aus Personen und Sachen besteht, muss man sich überlegen, wie Tiere, Fakultäten oder Staatsgewalten in diese binäre Teilung einzuordnen sind und was verloren geht, wenn man den Staat zu einer Gebietskör­ perschaft und damit zu einer Person erklärt. Der Dritte, der durch die Entzweiung ausgeschlossen wird, drängt sich wieder an den Tisch. Er hat bei Serres viele Gestal­ ten. Die erste Erscheinung des Parasiten ist die Ratte, genauer gesagt: die Stadtratte, die die Landratte zum Festmahle im Hause des Steuerpächters einlädt, wo offen he­ rumliegt, was von dessen Schmaus übrig geblieben ist. Die Stadtratte ist der Parasit, und die Geschichte gehört zum Kulturgut der Menschheit, wird Äsop zugeschrie­ ben, findet sich aber auch in der Fabelsammlung von La Fontaine (1. Buch Nr. 9), in der sie in deutscher Übersetzung lautet:101 Stadträttlein lud einst zum Feste Und zu Tisch, auf hoch und fein Fette Ortolanen-Reste, Landrättlein gar höfisch ein. Auf dem türk’schen fein gewebten Teppich stand das Mahl bereit, Und die beiden Freunde lebten Lustig und in Herrlichkeit. Man genoss in vollen Zügen, Köstlich mundete der Schmaus; Plötzlich, mitten im Vergnügen, Wurden sie gestört – o Graus! Klang es nicht, als ob was krachte? – Hei, wie Stadträttlein in Hast Gleich sich aus dem Staube machte! Schleunigst folgt ihm nach der Gast. Blinder Lärm nur war’s. Es wandern Beide wieder in den Saal, Und Stadträttlein spricht zum andern: „Setzen jetzt fort das Mahl!“ „Danke sehr!“, spricht jenes, „Morgen Komm zu mir aufs Land hinaus. Kann dir freilich nicht besorgen Dort so königlichen Schmaus. Einfach nur, doch unbeneidet, Voller Sicherheit bewusst, Speis ich dort. Pfui solcher Lust, Die durch Furcht mir wird verleidet!“

101

Arne-Wigand Baganz unter: http://seibert.biz/versalia.

48

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Die Metaphorik der Fabel lädt ein zum Lob des einfachen, ungestörten, wenn auch kargen Lebens. Reichtum und Üppigkeit trifft man in der Stadt, dort lassen sich Feste feiern und Einladungen veranstalten. Aber das Vergnügen, das die Stadt bietet, ist doch arm, es ist heimlich abgezweigt und muss jederzeit mit Vertreibung und Tod rechnen. Das ist das Los des schmarotzenden Parasiten, der – weil er im­ mer furchtsam und übervorsichtig ist – die Mitteilungen von außen auch noch falsch deutet. Was die Stadtratte für bedrohlich hält, ist es in Wirklichkeit gar nicht. Der Lärm erlischt, und man kann sich wieder hervorwagen, den Deutungsirrtum rasch eingestehen und zum Festtagstisch zurückkehren. „Parasit sein heißt: bei jeman­ dem speisen“ – diese vom üblichen Sprachgebrauch leicht abweichende Wortbe­ stimmung hat sich Michel Serres in seiner Interpretation der Fabel erlaubt.102 Der Parasit ist ein besonderer Dritter, er ist der besondere Dritte, der nicht bezeichnet wird und den man nicht einladen muss, weil er immer anwesend ist, und der sich auch niemals endgültig vertreiben lässt, sondern nur in Deckung geht. Sieht man die Sache so, erstrecken sich die parasitären Verhältnisse auf immer mehr andere Personen. Es gibt nicht nur einen Dritten, und jeder Wirt steht im Ver­ dacht, Parasit eines anderen zu sein. Zum Beispiel speist auch der, bei dem die ­Ratten speisen, von den überlassenen Dingen anderer.103 In der von Serres herangezogenen Fassung der Fabel findet das Festmahl im Haus des Steuerpächters statt, und keiner im Staatsauftrag verhält sich parasitärer als der Steuerpächter: Er lebt von den Ti­ schen anderer. Der Parasit nistet sich ein, wo andere mehr haben, als sie aktuell ge­ rade verzehren können, und er lebt von den Resten der Aufteilung. Diese Metapho­ rik kann man ausbeuten.104 Bei jeder Operation, mit der die Welt aufgeteilt wird und eine Differenz das Innen vom Außen trennt, bleibt ein Rest, der von den aufgeteilten Seiten zehrt. Das hat Niklas Luhmann gerade mit Blick auf das Zeichen behauptet. Zeichen ist nicht der Inhalt der ausgezeichneten Seite, auch nicht das Jenseits der ab­ getrennten, Zeichen ist, was den Unterschied macht und dazwischen liegt. Das Zei­ chen ist selbst Parasit. Die Arbeit des Rechts erzeugt fortlaufend weitere Parasiten, und das gilt – wie Luhmann es sieht – von der ersten Teilung an, mit der ein Recht behauptet wird. „Die beiden Werte Recht und Unrecht, der Gastgeber und der Gast sind so sehr miteinander beschäftigt und sich wechselseitig so eng verbunden, dass sie gar nicht merken, dass längst ein Dritter an ihrem Tisch sitzt, zusätzliche Be­ stellungen aufgibt und insgesamt vielleicht mehr verzehrt als Gastgeber und Gäste zusammen.“105 Die nicht zu Tisch Gebetenen, mit denen man nicht rechnet und die auch gerade nicht bedacht werden sollen, verschaffen sich – hinter dem Rücken der Tischgesellschaft und von ihr zunächst unbemerkt – eigenes Recht. Rechte entstehen, wenn man das eine vom anderen unterscheidet, und sie entste­ hen auch für diejenigen, die bei der Unterscheidung nicht bedacht werden. Wenn 102

Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. M. 1981, 17. Serres (Fn. I. 102), 11 f. 104 Kronenberger (Fn. I. 100), 10. 105 Luhmann (Fn. I. 97), 45. 103

5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten

49

das Recht zwischen Person und Sache unterscheidet und eine dritte Kategorie nicht zulässt, verlangen die Rechte der Tiere Einlass.106 Wenn die Dinge keine eigenen Rechte haben, sondern als Sachen dem Eigentumsrecht von Personen unterworfen sind, die mit ihnen unverantwortlich umgehen, wird das „Parlament der Dinge“ er­ öffnet.107 Wenn die Überzeugung von der Wahrheit eines Geschehens sich nur im Gerichtssaal zwischen den dort Beteiligten bilden soll, verschafft sich die ausge­ schlossene Öffentlichkeit Einlass. Fernsehen und Film halten Einzug in das ver­ schlossene Gerichtstheater.108 Es besteht dabei jeweils kein Zweifel, dass vorläu­ fig die Inhaber der Rechte die Ausgeschlossenen jederzeit verjagen können. Das Verwaltungsgericht erkennt keine Rechte der im Weltkulturerbe Wattenmeer hei­ mischen Robben an, und der Vorsitzende des Strafprozesses darf jederzeit die ein­ gedrungenen Kameraleute entfernen – wenn sie sich denn entfernen lassen und genügend Wachtmeister zur Verfügung stehen. Aber dass binäre Schematisierung ein Problem löste oder einfache Reduktionen komplizierte Fragen erledigten – das darf niemand mehr glauben. Das Gegenteil drängt sich auf und mischt sich ein. Der Parasit speist am Tisch der eigentlichen Hauptpersonen, das Andere drängt sich dem Einen auf. Damit wird auch das binäre Zeichenkonzept ein Wirtshaus für Dritte. Das Ding, das für sich genommen immer auch ein Zeichen ist, tritt über re­ präsentierende Zeichen in ein Gedankenverhältnis zu etwas Drittem, das sich als Zeichen erweist, auch wenn man erklärende Bedeutung erwartet hatte. Die Zwei­ teilung ruft das ausgeschlossene Dritte hervor, das eine Störung enthält, aber der Zweiteilung gleichzeitig erst eine Bedeutung verleiht. Drittheit ist eine Interpretantenbeziehung. Zeichen beziehen sich über Interpre­ tanten auf Objekte und machen sie selbst zum Zeichen. Das ist das Konzept einer Pragmatik, wie sie Peirce entwickelt hat. Der Interpretant ist eine wirkende Agen­ tur, also das Dritte, das man nicht sieht, das aber eine Beziehung herstellt. Formal muss man sagen, dass überhaupt erst mit dem Dritten das Zeichen in die Semiose einkehrt, also nicht etwa die Markierung der einen Seite allein schon das Zeichen ausmacht. Nur über ein Drittes wird ein Repräsentamen mit einem Dingzeichen vermittelt, das es selbst einmal gewesen ist, und erzeugt damit gedankliche Wir­ kungen. Der Dritte, der Interpretant, ist auch nicht der Interpret, es handelt sich bei Interpretanten weder um den Prozess der Interpretation noch um eine Beobachtung des Interpreten. Interpretanten führen herbei, was in den meisten Zeichenvorstel­ lungen als Bedeutung verstanden wird. Sie müssen – und das ist selbst wieder eine Interpretantenangelegenheit – als Operationen vorgestellt werden, und damit erhält die pragmatische Maxime einen ethischen Charakter, den Apel in seiner Einlei­ 106 Malte Gruber, Rechtsschutz für nichtmenschliches Leben: Der moralische Status des Le­ bendigen und seine Implementierung in Tierschutz-, Naturschutz- und Umweltrecht. BadenBaden 2006. 107 Bruno Latour, Politics of Nature: How to Bring the Sciences Into Democracy, New York 2004. 108 Christine Danziger, Die Medialisierung des Strafprozesses: Eine Untersuchung zum Verhältnis von Medien und Strafprozess, Berlin 2009.

50

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

tung als Herausgeber zu Peirces Schriften hervorgehoben hat. Während die frühe Formulierung der Maxime von 1878 „praktikalistisch“ verstanden werden kann,109 nämlich als reine Mittel-Zweck-Beziehung zwischen „effects, which might con­ ceivably have practical bearings“ und dazugehörigen Ausgangsbedingungen, fügt Peirce in seinem Artikel von 1902 hinzu, dass es nicht nur um Handeln geht, son­ dern es darauf ankommt, „allgemeine Ideen als die wahren Interpreten des Den­ kens“ anzuerkennen,110 also individuell zur Entwicklung des Denkens beizutragen. Um sich von einem praktikalistischen Nützlichkeitsstil zu distanzieren, verändert Peirce auch den 1902 bereits von seinem Freund und Gönner William James lange verwendeten Terminus „Pragmatismus“ in einen Ausdruck, der so wenig schön ist, dass ihn niemand mehr verwenden mag, in den Pragmatizismus nämlich. Es gibt noch etwas im Pragma, das Peirce wesentlicher ist als die Zweckerreichung. Interpretant des hypothetischen Imperativs ist eine geistige Haltung, für die Kant das Vorbild abgibt. Peirce erkennt Kant ausdrücklich an und bezieht sich auf ihn, erhebt freilich programmatisch den Anspruch, die kantischen Kategorien neu und besser zu ordnen. Kant selbst nahm schon eine Ordnung der aristoteli­ schen Kategorien vor, die er als zufällig empfand, und reduzierte sie in der „Kri­ tik der reinen Vernunft“ auf vier, nämlich Quantität, Qualität, Relation und Moda­ lität.111 Das war die Vorlage für Peirce, die er in einem Vortrag vor der American Academy of Arts and Sciences im Jahre 1867 „On a new list of categories“ wei­ ter entwickelte. Am Beispiel des Satzes entwickelt Peirce hier jene drei Katego­ rien – nämlich der firstness, secondness, and thirdness –, die eigentlich nur noch als Zählverfahren übrig bleiben (Kap. I. 2.), mit denen aber gleichwohl Welt entfal­ tet wird. Wie Kant bleibt Peirce beim Satz als Ausgangspunkt allen Weltzugriffs stehen, und wie alle Philosophen seit Aristoteles es tun, erschließt sich auch bei Peirce die Welt vom Subjekt auf das Prädikat hin mit der Proposition „ist“. „Der Ofen ist schwarz“, sagt Schwärze von einer Substanz „Ofen“ aus und diskrimi­ niert und dissoziiert das Ding. Ein „Was ist“ oder philosophisch: Der Begriff des Seins entsteht – Peirce betont das112 – bei der Bildung von Propositionen, im Satz­ bau, nicht durch reine Innenschau. „Was ist“, hat eine Qualität (Peirce sagt auch: bezieht sich auf einen Grund), es steht in einer Beziehung zu etwas Zweitem und bezieht sich selbst auf ein Drittes als seinen Interpretanten. Denn Innenschau ist unmöglich. Schiller hat sie unter dem Titel „Sprache“ in das Distichon gefasst: „Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“113 Man muss nur den Interpretanten als 109

Karl-Otto Apel, Peirces Denkweg vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, in: Charles S. Peirce, Schriften II, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Mit einer Einführung hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1970, 21. 110 Charles S.  Peirce, Lexikon-Artikel: Pragmatisch und Pragmatismus (1902), in: ders. (Fn. I. 109), 278. 111 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Fn. I. 83), B 106. 112 Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2), 150. 113 Friedrich Schiller, Tabulae votivae 84, in: ders., Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 1: Gedichte, Weimar (1943) 1992, 302.

5. Drittes: Kamele, Ratten, Interpretanten

51

Seele im Zeichenprozess verstehen und erfährt dann in gleicher Weise, dass der Interpretant, der nach außen tritt und zum Zeichen wird, eben kein Interpretant mehr ist, sondern Repräsentamen, das weitere andere Interpretationen verlangt. Es bleiben immer diese drei Kategorien, die in Bewegung gehalten werden von dem jeweils Dritten, jenem Dritten, das in einer wiederkehrenden Formulierung sich so auf zwei andere bezieht, dass sich eines dieser beiden jeweils genauso auf das andere bezieht, wie sich auch das Dritte auf dieses andere bezieht.114 Die prag­ matische Maxime ist deshalb eine Interpretantenbeziehung. Zur Konkretisierung braucht auch sie einen Dritten. Wenn man danach fragt, was in irgendeiner Weise praktische Konsequenzen haben könnte, beginnt man eine Verständigung – schein­ bar mit sich selbst. Aber der Schein trügt, denn das System dieser Elemente soll „the whole of our conception of the object“ ausmachen. Die Maxime wandelt den von Kant tradierten kategorischen Imperativ ab, der in einer von mehreren Fassun­ gen lautet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“115 Auch die kantische Sollensbestimmung orientiert die Rechtsfrage an einem Erfolg, nämlich an einer Verallgemeinerung, die allerdings noch besonders ausgestaltet wird. Zum einen soll die Verallgemeinerung universal vor dem Forum der Menschheit bestehen, und dann gibt es in Kants Rechtslehre noch eine bemerkenswerte Zutat. Dem Recht genügt man, wenn man nur „äußer­ lich“ so handelt, wie es ethisch geboten sei. Das allgemeine Rechtsgesetz bezeich­ net Kant an gleicher Stelle mit dem Imperativ, „handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne.“ Recht erkennt man also nicht an einem – wie Peirce es nennt – „Gedankenzeichen“, sondern mit dem äußeren Blick auf ein Ver­ halten, das einer inhaltlich ethischen Prüfung standhalten würde, ohne dass derje­ nige, der da handelt und sich verhält, glauben oder für richtig halten muss, was er tut. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu allen inhaltlichen Moral- und Rechts­ bestimmungen. Das äußerliche Verhalten repräsentiert jene Außenseite, die allein Gegenstand in Verfahren werden kann, und weil Recht eine äußerliche Sache ist, kann es auch erzwungen werden. Recht ist Zwang, es ist mit der Befugnis zu zwin­ gen unauflöslich verbunden.116 Das stellt Kant mit seltener Klarheit an den An­ fang aller weiteren inhaltlichen Rechtsbetrachtungen. Auch die Inhalte sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen konkretisiert werden. Das ist das Besondere einer kategorischen Prüfung. Rechtssätze stammen nicht einfach aus einem Ge­ setzbuch, sie müssen von demjenigen, der eine Norm befolgen soll, in einem Ver­ fahren der Verallgemeinerung selbst hergestellt werden. Im Prozess der Konkreti­ sierung einer Norm erfährt man dann, was bei äußerer Betrachtung verpflichtend ist, und riskiert eine Sanktionsfolge, soweit eine äußerliche Vereinbarung mit mo­ ralisch vertretbaren Handlungen nicht hergestellt werden kann. 114

Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2), 154. Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. I. 83), § C, A 33. 116 Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. I. 83), § D, A 35. 115

52

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

Das Dritte ist praktisch in jedem juristischen Verfahren eine Person, denn ver­ fahrensmäßig hat der Diskurs einen festen Ort und ein eigenes Fach. Man kann ihn beobachten bei Gericht, und die pragmatische Übung, die für gerichtliches Auftre­ ten erfolgversprechend zu sein scheint, heißt seit alters her „Rhetorik“. Für die Ju­ risprudenz war und ist die Rhetorik der Inbegriff praktizierter Pragmatik. Sie führt das Dritte über Dritte ein. Charles Morris, der andere große amerikanische Semio­ tiker nach Peirce, hat in seiner Grundlegung von 1938 die Rhetorik als „eine frühe und unausgereifte Stufe der Pragmatik“117 charakterisiert und auf Aristoteles in „De interpretatione“ verwiesen. Dort sei die Theorie angelegt, die dann zur Tradition geworden sei. Den Interpreten eines Zeichens halte Aristoteles für den „Geist“, und der Interpretant sei der Gedanke oder Begriff, der aus der geistigen Wahrnehmung der Gegenstände und ihrer Eigenschaft entstanden sei. Das wird seit jeher in der forensischen Rede ausgetragen. Die Rede ist praktisch zum Forum für die Bestim­ mung des rechtlich Gesollten erklärt worden, und sie hat in der Rechtspraxis – und zwar durch Verhandlungen und Anhörungen – die Schrift des Gesetzes verdrängt. Gleichzeitig ist auch der Dritte zu neuer Bedeutsamkeit gekommen. Das Gesetz liest jeder für sich, aber die Bestimmung des Gesollten im Forum nimmt Dritte in Anspruch, und zwar als Zuhörer wie als Entscheider. Dritter ist das Gericht – wohlgemerkt als Institution, nicht als konkrete Frau Richterin und Herr Richter. Der Dritte im Recht ist Institution, repräsentiert durch Personen, in der Se­ miotik ist das Dritte der Fortgang der Zeichenbewegung, bewirkt durch Interpretan­ ten. Ich erinnere an den Ausgangspunkt der semiotischen Fingerübung (in Kap. I. 2.). 1 ist ein Zeichen, und was 1 bedeutet, kann man nur verstehen, wenn man zählen kann und 2 kennt. Für (1) sind Zwei erforderlich, also: (1) 2. Schließlich braucht man für geordnetes Zählen eine Gewohnheit oder eine Regel, wonach sich 1 ergibt, wenn man 2 von 3 abzieht: (1) = 3–2. Dieses Dritte vermittelt also zwischen dem Ersten und Zweiten, es macht die Möglichkeit aus, die auf eine Wirklichkeit stößt und zu einer Regelmäßigkeit wird, wobei der Interpretant die Regel des Auftretens von 1 und dessen Zusammentreffen mit 2 angibt. Regel kann ein bloßes sogenanntes „Rhema“ sein. Dann nennt Peirce sie den rhematischen (ersten) Interpretanten, der ist, was er ist: Die Bohne ist weiß. Warum auch nicht? Das kann wahr oder falsch sein, und weil es so sein kann, handelt es sich um einen dicentischen Interpretan­ ten. Dicents (zweite Interpretanten) entscheiden über Wirklichkeiten. Drittens ist das Argument die am meisten entwickelte, offene und notwendig anfechtbare Form des Interpretanten. Für den Logiker Peirce ist das Argument eine syllogistische Re­ gel der Art: Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß. Entweder kennt man die Regel (weil man alle Bohnen schon untersucht hat), oder man denkt sich, dass es eben so sein könnte – der ebenso berühmte wie umstrittene abduktive Schluss, den Peirce ursprünglich „Hypothese“ nannte.118 Das Dritte sind Schlüsse, Gedanken und Ar­ gumente, mit denen man an ein immer nur zeitweiliges Ende kommt. 117

Morris (Fn. I. 27), 53. Charles S. Peirce, Deduktion, Induktion und Hypothese (1878), in: (Fn. I. 109, Bd. I), 376.

118

6. Gerechtigkeit, Rechtskraft und die Kraft des Rechts

53

6. Gerechtigkeit, Rechtskraft und die Kraft des Rechts Am Ende stellt sich wieder die anfängliche Frage: Was ist Recht? Wer so fragt, möchte meist keine belehrenden Antworten hören. Er weiß es (und regelmäßig sind es auch Männer, die eine solche – rhetorische – Frage stellen). Es wird ange­ klagt mit dem Gefühl: Das da, das man erfahren hat, als Zweitheit, als drängende, bedrängende Tatsache, sei es jedenfalls nicht. Hinter der Frage steckt – theore­ tisch gesehen – das Gerechtigkeitsproblem, und aufgedrängt wird ein erster Zu­ griff: Ablehnung des Erfahrenen, Bestehenden. Mit „Was ist Recht?“ gibt man erst einmal selbst etwas kund, denn damit beginnt die Operation. Zweitens wird man – und zwar unvermeidlich, ob man will oder nicht – belehrt von anderen, Personen wie Institutionen, bis man – drittens und letztens – dann in einer fortlaufenden und nicht abschließbaren Interpretantenbeziehung vorläufige Ergebnisse registriert, korrigiert und wieder neu bewertet. Der Vorwurf einer vielleicht auch noch offen­ baren Ungerechtigkeit macht den Inhalt zum Rechtszeichen. Der Vorwurf allein sagt aber noch nichts über seine Berechtigung aus, nicht selten stimmt er skeptisch. Ernst Bloch gab schon zu bedenken, es könne sich auch um eine Sache des „eige­ nen egoistischen Raunzens“119 handeln und nicht um die der Unterdrückten. Erst­ heit lässt sich davon nicht beeindrucken. „Gerechtigkeit“ ist ein Wort für alle drei Kategorien des Rechts, wenn man sie positiv besetzen will. Es steht für meine jeweils eigene Rechtsvorstellung, die ich für gerecht halte, es steht gelegentlich für das, was sich real durchsetzt, und es er­ fasst schließlich jenen niemals abzuschließenden Prozess des Setzens, Widerle­ gens, Korrigierens und neuen Setzens von Rechtszeichen. Dabei ist keiner der drei Zeichenkategorien der Vorzug zu geben, es überwindet nicht eine die andere, und es erweist sich auch nicht die eine als der anderen überlegen. Drittheit der Symbo­ lik macht Erstheit des Gefühls nicht überflüssig. Der Einbruch äußeren Rechts, die Urteilsverkündung, ist auch dann nicht sinnlos, wenn es eine unendliche Suche gibt und das verkündete Urteil überhaupt nicht zufriedenstellt. Es repräsentiert eben die Gerechtigkeit der Justiz oder mit schlichten Worten: Es zeigt, wie die wirkliche Justiz ein Verfahren erledigt, befriedigt aber nicht meine eigene Gerechtigkeitsvor­ stellung. Diese Beobachtung hat Jacques Derrida in einem selbst zum Zeichen ge­ wordenen Vortrag bei der Conference of Critical Legal Studies zum Titel gemacht, nämlich als force de loi oder force of law in der ursprünglichen amerikanischen Fassung. Die Kraft des Rechts bricht im mehrfachen Sinn in die gewohnten be­ grifflichen Gehege ein. Eingebrochen wird in die konkreten Inhalte der Jurispru­ denz, sie werden weggenommen, so dass der Rechtsbegriff entleert scheint, wenn er Gerechtigkeit werden will. Die dafür notwendige Leseoperation kulminiert in der Behauptung „La déconstruction est la justice.“120 Die Arbeit der Aufpfropfung von Texten, der Ausbeutung von Gegensätzen und der Marginalisierung des Zen­ 119 120

Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a. M. 1961, 17. Derrida (Fn. I. 84), 30.

54

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

trums überträgt Derrida in „Force of Law“ auf die Rechtsprechung insgesamt, die drei Axiomen genügen müsse, damit man von Recht sprechen könne: (1) Recht müsse über die Bildung von Rechtsregeln hinausreichen und unmittelbar vom Fall her als fresh judgment gegeben werden; (2) die Rechtsentscheidung werde heimgesucht „durch das Unentscheidbare“, das eben dadurch entstehe, dass nicht einfach eine Regel angewendet werde, die schon vor der Entscheidung vorhanden ist; (3) schließlich solle jetzt und dringlich sofort entschieden werden, aber wiederum nicht „in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung“,121 denn – pa­ rodiert Derrida die Justiz – „La justice, y a qu’ça de vrai“:122 Nichts ist so wahr wie die Gerechtigkeit. Derrida sieht in allen drei Punkten Aporien, die es eigentlich unmöglich machen, einem Zeichen unter dem Namen „Gerechtigkeit“ einen wirklichen und gleich­ zeitig juristisch überzeugenden Inhalt zu geben. In seiner Deutung kann das Zei­ chen des Rechts als Rechtszeichen erst in der nachträglichen semiotischen Lek­ türe dekonstruiert werden.123 Die Gerechtigkeit ist eben deshalb Dekonstruktion, und verstanden wird sie nicht in der Welt der Juristen. Weniger plakativ ausge­ drückt: Mit der Gerechtigkeitsformel baut man Vorhandenes ab, bricht Mauern ein, die trennen wie Halt geben, aber man findet am Boden des Rechts eine Kraft, die Derrida mit einem Wort von Blaise Pascal illustriert, dessen Wirkung davon abhängt, wie man es übersetzt: „La justice sans la force est impuissante. La force sans la justice est tyrannique.“124 Manche übersetzen justice hier mit „Recht“, an­ dere mit „Gerechtigkeit“. Dementsprechend kann man auch force mit „Kraft“ oder auch mit „Gewalt“ übersetzen, und unter den möglichen Kombinationen ist die rechtstheoretisch schönste: „Die Gerechtigkeit ohne Kraft ist … ohnmächtig.“ Welche Kraft aber könnte wirken und der Gerechtigkeit beistehen, wenn es nicht die Gewalt ist, die Kraft verleiht, und die richtige Frage dazu nicht etwa von Stalin schon gestellt und ironisiert worden ist (Wie viele Divisionen hat der Papst)? Verfügt das Recht über eine Kraft, die es aus sich heraus wirken lässt, die Kraft des besseren oder auch nur des guten Arguments vielleicht? Tatsächlich gibt es ja „Rechtskraft“. In Rechtskraft soll die Entscheidung eines Gerichts er­ wachsen, wenn das Verfahren abgeschlossen ist und Rechtsmittel nicht eingelegt werden. Res iudicata heißt der Topos für juristische Zweitheit, und mit der Mög­ lichkeit, Streit rechtskräftig abzuschließen, verfügt der Rechtsbetrieb über ein in Staat und Gesellschaft einzigartiges Privileg.125 Alle anderen Dispute bleiben un­ 121

Derrida (Fn. I. 84), 54. Jacques Derrida, Force de Loi, Paris 1994, 60. 123 Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Möglichkeit und Wirklichkeit im forensischen Diskurs, Berlin 2004, 68 f. 124 Blaise Pascal, Pensées, Section 1, No. 298 (Paris 1972, 145). 125 Chaïm Perelman, Recht und Rhetorik, in: Ottmar Ballweg/Thomas-Michael Seibert (Hrsg.): Rhetorische Rechtstheorie. Zum 75. Geburtstag von Theodor Viehweg, Freiburg u. a., 237–241). 122

6. Gerechtigkeit, Rechtskraft und die Kraft des Rechts

55

abgeschlossen und tendenziell unabschließbar. Das gilt auch für die an den Be­ griff der Rechtskraft anschließende Frage, ob es denn recht sein kann, Streit auf diese Weise durch Spruch einfach abzuschließen. Der Protest gegen die Rechts­ kraft einer Entscheidung nimmt zu. Planfeststellungsbeschlüsse, die nach langen Gerichtsverfahren rechtskräftig sind, überzeugen nicht nur nicht, sondern fachen den Protest geradezu an. Mit Hohn wird das Rechtskraftargument verworfen. Un­ terstützt werden die Angriffe gegen Rechtskraft durch deren Relativierung in ver­ fassungsgerichtlichen und internationalen Nachverfahren. Streit, der abgeschlos­ sen ist, kann dort wieder aufgenommen werden. Es muss also noch etwas anderes Weiteres geben, das einen Schluss als Ende akzeptabel macht, eine Kraft hinter dem prozessualen Rechtskraftargument. Andreas Fischer-Lescano verzaubert die Rechtskraft zu einer Ästhetisierung des Vermögens, Recht zu haben. Er will den prozessualen Begriff nicht mehr von seinen Folgen her verstehen – denn das wäre nur die Unanfechtbarkeit einer Entscheidung –, sondern ihn umfassend auf alle Ansprüche (und damit Rechte) beziehen, die im Verfahren erhoben und kraftvoll werden sollen. Rechtskraft entspricht dann dem Recht, „gerichtlich durchsetzbare Rechte auf Entfaltung zu haben.“126 Es entsteht ein Recht auf Kraft, dem FischerLescano die Attribute gibt, nicht gewaltsam und darüber hinaus geeignet zu sein, das Versprechen der Gerechtigkeit beim Wort zu nehmen und gegen das real exis­ tierende Recht zu wenden.127 Für eine solche Idee gibt es neben Walter Benjamin, auf den Fischer-Les­ cano verweist, Vorläufer in der Rechtslehre. Der polnisch-französisch-belgi­ sche, also europäische Autor der Nouvelle Rhétorique, Chaïm Perelman, prüft die Kraft eines behaupteten und begründeten Rechts, indem er die Rechtsbeteiligten vor ein universales Auditorium zitiert. Vor dem auditoire universel gilt die Be­ schränkung auf juristisch-fachliche Gesichtspunkte nicht mehr. Überzeugungs­ kraft hat das Recht dort nur, wenn es der Dogmatisierung widersteht und durch „kommunika­tions­strukturelles Offenhalten“ zu einer prozeduralen Universalisie­ rung beiträgt.128 Vor dem Horizont eines solchen Weltgerichts kann nur bestehen, was auch in der allgemeinen Argumentation überzeugt.129 Darin liegt – Perelman zufolge – die Kraft des Rechts. Beurteilt wird von Kundigen, die über notwendige Weisheit verfügen.130 Auch der einsame Zuhörer zählt, wenn und soweit der Red­ ner ihn als Repräsentanten der Vernunft ausmachen kann.131 Perelman adoptiert hier mit Kant, den er ausdrücklich nennt,132 eine intrasubjektive Geltungsbestim­ mung, freilich nur bei unterstellter Weltbürgerlichkeit. In seiner fünften Vorlesung 126

Andreas Fischer-Lescano, Rechtskraft, Berlin 2013, 106. Andreas Fischer-Lescano, A „Just and Non-violent Force“? Critique of Law in World­ Society, Law Critique 26 (2015), 267–280 (277). 128 Josef Kopperschmidt, Die Idee des „universalen Publikums“, in ders. (Hrsg.), Die Neue Rhetorik. Studien zu Chaïm Perelman, München 2006, 227–279 (263). 129 Josef Kopperschmidt, Argumentation. Sprache und Vernunft II, Stuttgart u. a. 1980, 21. 130 Chaïm Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, Freiburg u. a. 1979, 44 f. 131 Perelman (Fn. I. 130), 52. 132 Perelman (Fn. I. 130), 42. 127

56

I. Das Eins-Zwei-Drei des Rechts

über Gerechtigkeit empfiehlt Perelman dem Philosophen, seine Argumentation in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ Kants zu bringen und seine Gedanken „gleichzeitig für die Gesamtheit der menschlichen Gemeinschaft gül­ tig“ erscheinen zu lassen.133 Dementsprechend wird auch der Gleichheitssatz für Parlamentarier ebenso wie für Richter überhöht, für die einen „in Entsprechung mit den Wünschen der Gemeinschaft, deren Repräsentanten sie sind“ und für die anderen „in Übereinstimmung mit den Überlieferungen der Gemeinschaft, deren Beamte sie sind“.134 Das Ergebnis bleibt allerdings fiktiv: Nähme man den em­ pirischen Bezug des universalen Auditoriums ernst, so würde der Weltkongress für Philosophie zum Obertribunal für öffentlich bedeutsame Rechtsfragen. Dort würde aber nicht entschieden. Der Kongress debattiert, und er bleibt dabei. Wer etwas Abschließendes, etwa eine Entscheidung erwartet, wird auf konkrete Red­ ner und deren Auditorien verwiesen. Der Philosophenkongress entscheidet näm­ lich nichts. Er mag – wie Perelman an verschiedener Stelle betont – das letzte Wort zur Rationalität und Gerechtigkeit für sich in Anspruch nehmen, kennt aber keine res iudicata. Damit findet der Prozess vor dem universalen Auditorium niemals ein Ende. Dem universalen Auditorium entspricht das unendliche Verfahren. So­ weit der Rhetor sich vom besonderen Verfahren und seinem konkreten Auditorium abwendet, lässt sich der Erfolg einer Rede nicht mehr beurteilen, denn sie hat kein empirisches Ergebnis mehr. Sie mag jetzt, gegenüber den zufällig anwesenden Phi­ losophen und unter dem zeitgenössischen Blickwinkel der wohlmeinenden Weisen ein Ergebnis empfehlen, aber die Empfehlung bleibt vorläufig. Das Rechtszeichen ist damit im Anfang und am Ende leer. Es kann entleert, nämlich dekonstruiert werden, und was bleibt, ist das Zeichen selbst als eine Form, die Recht bedeutet, aber an sich leer ist. Das kann man bedauerlich finden, aber auch diejenigen, die von „den Werten“ sprechen, mögen sie nicht als Kata­ log benennen. Ihren Inhalt kann niemand von vornherein angeben, und man pflegt Nachfragen durch Verweise zu ersetzen, auf Gesetzbücher, auf die Erklärung der Menschenrechte und ähnliche, selbst offene Texte. Vieles ist als Recht möglich, im äußeren Zugriff ist es, was man zu Recht haben will – vorausgesetzt, man hat das Wollen ausreichend überdacht. In den Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit konkurrieren verschiedene Bedeutungen miteinander. Von den damit möglichen, vielen Zeichenaspekten sollen in der Folge drei behandelt werden, die es zu einer Bekanntheit auch im Ausdruck gebracht haben. Das sind ikonische, in­ dexikalische und symbolische Bedeutung.

133 Chaïm Perelman, Über die Gerechtigkeit. Mit einer Einleitung von Theodor Viehweg, München 1967, 160. 134 Perelman (Fn. I. 133), 149.

II. Drei Arten der Objektrelation Man muss sich darauf einlassen, dass Recht weder zum Rechthaben geschrieben wird, noch Rechtschaffene als Autoren oder Subjekte voraussetzt. Auch Schurken, die Verbrechen planen, produzieren Rechtszeichen. Die Sätze des geschriebenen und die Reden des gesprochenen Rechts beziehen sich auf Objekte und Einteilun­ gen in der objektiven Welt. Recht ist widerständig, hat einen Gegenstandsbezug, und notorisch heißt es, man müsse „objektiv“ sein, um Recht zu erkennen. Da­ bei geht es um einen Anstoß, der von außen kommt und sich auf Befindlichkeiten richtet, die sich kein Einzelner ausdenken kann. Sachen und Personen sind – be­ grifflich gesehen – die Rechtsobjekte, und damit ist alles Gegenstand von Objekt­ relationen, auch das heilige Subjekt. Die Rechtssemiotik ist eine Methode der Ob­ jektbestimmtheit wie -bestimmung. Objekteigenschaften sind semiotisch nämlich keine externen Merkmale, sondern sie bestimmen das Zeichen selbst und werden in diesem Prozess zum Zeichen. Jedes Zeichen ist durch ein Objekt bestimmt und wirkt durch diese Bestimmtheit auf die Objektwahrnehmung zurück. Davon soll in den folgenden vier Abschnitten die Rede sein – jenseits der Justizform und auch nicht nur leichthin in der Weise, dass alles, was normativ daherkommt, Ketten von Rechtszeichen hinterlasse. Als Vorlage dafür dient der Peircesche Zeichenbe­ griff, der schon vorgestellt worden ist (Kap. I. 1.) und aus dem eine Dreifaltigkeit konkretisiert (1.) und für Phänomene des Rechts als Ikon, Index und Symbol ent­ wickelt werden soll (2.–4.). 1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol Wer „Zeichen“ sagt, muss gleichzeitig auch noch „Objekt“ sagen. Beides ist nur zusammen zu haben. Zum Zeichen wird etwas – und auch das ist dann ein Ob­ jekt – erst dadurch, dass es sich auf ein Anderes, ein Objekt, bezieht, und dabei spielt das andere Objekt eine aktive Rolle. Die (hier präsentierte) Semiotik ist keine konstruktivistische Spielart, in der die Zeichen sich selbst bezeichnen und Objekte fingieren, sondern stammt – wie es Peirces verschiedene Berufe des Landvermes­ sers, Logikers und Mathematikers nahelegen – aus einem Zusammenhang, in dem die Wirklichkeit den Ausgangspunkt, eben das Forschungsobjekt bildet. Peirce verbindet mit einem modernen Wissensforscher wie Bruno Latour das Ethos, über die umgebende Welt etwas erfahren zu wollen, also die wirkenden Objekte zu be­ schreiben und in ihren Veränderungen vorherzusagen. So, wie Latour uns klar­ macht, dass die Steppe nicht etwas ist, das durch die Rede über die Versteppung von Urwäldern entsteht und sich auch nicht deshalb ausbreitet oder zurückweicht, weil man so redet, dass man vielmehr die wirkliche oder mögliche Ausbreitung

58

II. Drei Arten der Objektrelation

messen kann,1 so setzt die Semiotik allgemein den Anstoß für Zeichenprozesse beim Objekt. Im Brief vom 23.12.1908 an Lady Welby – ein Weihnachtsbrief an eine Semiotikerin, die der Einsiedler Peirce nie persönlich kennengelernt hat  – schreibt er: „I define a Sign as anything which is so determined by something else, called its Object, and so determines an effect upon a person, which effect I call its Interpretant, that the latter is thereby mediately determined by the former.“ 2 Peirce beeilt sich, die Wirkung auf die Person als „sop to Cerberus“ und damit als be­ sänftigende Gabe für den Höllenhund am Eingang des Hades zu erklären, denn er hat früher auch in diesem Zusammenhang von einer Objektwirkung gesprochen. Interpretanten sind Bewegungen und haben nicht die Statik des alten Personenbe­ griffs. Das Zeichen ist also etwas, auf das ein Objekt einwirkt und das seinerseits eine Interpretation veranlasst, die zum Objekt in einem vergleichbaren Verhältnis steht wie es selbst. Es ist insofern ein Medium, das Medium schlechthin (Kap. V.), ohne dass es keine anderen Medien gäbe. Es ist ein Objekt, das im Prozess der Ver­ mittlung verschwindet und die Verbindung zwischen zwei anderen Objekten stif­ tet. Am Ende gibt es drei Arten der Objektvermittlung. Die erste geht vom Objekt aus und richtet sich auf das Zeichenmittel, die zweite, bereits vom Objekt irritierte, richtet sich vom Zeichenmittel aus auf ein Drittes und veranlasst damit eine Inter­ pretation, wobei dieses interpretatorisch Dritte dann seinerseits wiederum über das Zeichenmittel Bezug auf das Objekt nimmt. Deshalb tut begriffliche Differen­ zierung not. Not tut auch die Besinnung auf den Anstoß von außen, auf das Äußere des Rechts und dessen Objektrelationen. Ich beginne mit Begrifflichkeiten, obwohl die Unterscheidung nach Ikon, Index und Symbol unter den vielen Klassifikationen, die Peirce der Entwicklung der Se­ miotik überlassen hat,3 schon theorielos in den allgemeinen Sprachgebrauch ein­ gegangen ist. Wir meinen zu wissen, was Ikons und Symbole sind, und machen reichlich Gebrauch von der Auszeichnung einzelner Erscheinungen oder Dinge mit diesen Ausdrücken. So ist Andy Warhol ein Ikon der Pop Art geworden, der Dax hat Karriere gemacht als Index für die wirtschaftliche Entwicklung, und seine täg­ lichen, wöchentlichen und monatlichen Kurven sind ins allgemeine Bewusstsein übernommen worden. Besondere Dinge werden zu Symbolen erklärt wie die ehr­ würdige Dame Justitia, die als Symbol für Gerechtigkeit wirkt. Kocher hat diese Art der Ikonografie und ihre Entwicklung über die Jahrhunderte dokumentiert.4 Irgendwie hat man es dabei immer auch mit Bildern zu tun, und Elemente der Re­ deweise stammen sogar aus Peirces Theoriebildung. Allerdings wird heute nicht 1 Bruno Latour, Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: ders. Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M. 2000, 36–95. 2 Peirce, Letters to Lady Welby 23 December 1908 (Fn. I. 18, Vol. 2), 478. 3 Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz. Über die Philosophie des Charles Sanders Peirce und über das Verhältnis von Logik, Wertung und Kreativität im Recht, Tübingen 1999, 232. 4 Gernot Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie, Mün­ chen 1992, mit repräsentativen Abbildungen der Justitia: 15, 25 f.

1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol

59

Peirce zitiert, sondern ein sogenannter iconic turn ausgerufen, der nach oder an­ stelle der sprachlichen Wende kommt. Kaum jemand, der vom iconic turn redet, hält es in diesem Zusammenhang für erwähnenswert, dass ikonische neben inde­ xikalischen und symbolischen Zeichen stehen und aus der Peirceschen Kategorien­ lehre stammen. Ich erinnere an den Ausgangspunkt (Kap. I. 2.): Die aristotelischen und von Kant renovierten Kategorien des Erlebens nach Raum, Zeit, Ort, Menge usf. werden durch ein Zähl- und Kombinationsverfahren des Ersten mit dem Zwei­ ten zur Einsicht in ein Drittes überwunden und ersetzt. Für das einheitliche Zeichen heißt das: Es hat in den drei Kategorien jeweils drei Aspekte. Die Dreiteilung ent­ spricht der kategorialen Zeichendifferenzierung nach Aspekten der Erstheit (Zei­ chen sind möglich, sie sind Ideen), der Zweitheit (das Zeichen existiert wirklich, es ist eine Tatsache) und der Drittheit (wir kennen und berücksichtigen die Regel seiner Vermittlung, wissen damit auch, wann es auftritt, das Zeichen hat eine Ge­ wohnheit ausgebildet). Darüber hinaus wird unterschieden zwischen dem Zeichen­ mittel oder dem Zeichen „an sich“, dann dem Objekt, auf das es sich bezieht, und schließlich den Interpretanten, die die Vermittlung leisten. Hinsichtlich der Zei­ chenmittel spricht Peirce von Quali-, Sin- und Legizeichen. Warhols Mona Lisa ist dann ein Qualizeichen, das Diagramm des Dax ein Sinzeichen und die Gesetzes­ tafel ein Legizeichen. Damit ist freilich nur der mediale Aspekt erfasst, nicht auch die Irritation durch externe Objekte oder die Art und Weise der Interpretantenwir­ kung. Auch diese Relationen sind jeweils dreifach zu differenzieren. Ich beschränke die Arten der Objektrelationen für die hiesige Darstellung auf 32, also 9 Aspekte, wie auch Lege sie in seiner in der deutschen Rechtstheorie ebenso einzig wie einsam gebliebenen Peirce-Interpretation für die Rechtstheo­ rie sieht.5 Einmal wird das Zeichen als solches differenziert und damit die Erstheit der Erstheit, die Zweitheit der Erstheit usf. bestimmt. Das sind Qualizeichen. Dann reagiert das Zeichen in Bezug auf ein Objekt (das es wirklich werden lässt) und wird zum Sinzeichen. Schließlich bringt es als Ergebnis einen oder mehrere Inter­ pretanten hervor. Das sind Legizeichen. Die semiotische Theoriebildung kennt nun jeweils drei Trichotomien über den drei Klassen des Quali-, Sin- und Legizei­ chens, so dass sich insgesamt neun Subzeichenklassen ergeben.6 Die Unterschei­ dung nach Ikon, Index und Symbol betrifft die zweite Trichotomie, also Erstheit, Zweitheit und Drittheit der Objektrelation. Auf der Ebene des Interpretantenbe­ zugs sind Term (oder Rhema), Satz (oder Proposition, Dicent) und Argument die Formen. Ikonizität tritt deshalb in drei Ebenen auf. Es gibt ikonische Qualizeichen (ein Gefühl von Recht), es gibt ikonische Sinzeichen (Befehle) und ikonische Legi­ zeichen (wir erheben uns zur Verkündung einer Entscheidung). Die folgende Klas­ sifikation – von Peirce in den späten Jahren in der Harvard Lecture von 1903 über Pragmatismus entwickelt  – ist ein Legizeichen und besteht aus indexikalischen Sinzeichen, für die Terme der Erstheit benutzt werden: 5

Lege (Fn. II. 3), 231–235. Nöth (Fn. I. 10), 66.

6

60

II. Drei Arten der Objektrelation Trichotomie

I Erstheit

II Zweitheit

III Drittheit

Repräsentamen

Qualizeichen

Sinzeichen

Legizeichen

Objektrelation

Ikon

Index

Symbol

Term, Rhema

Satz, Dicent

Argument

Kategorie

Interpretant

Abbildung 3: Die Trichotomie

Peirce hat die Unterscheidungen weit darüber hinaus getrieben, denn da jede Drittheit einen ersten und zweiten Aspekt hat und jede Zweitheit immer noch einen gerade für sie spezifischen weiteren ersten Aspekt hat, lassen sich die zweite und dritte Zeile des Diagramms weiter zerlegen, nämlich zweimal in jeweils drei Modi auf der dritten Zeile und ebenfalls zweimal in jeweils zwei auf der zweiten Zeile. Denn Peirce kommt es auch auf die degenerierten Formen im Zeichenpro­ zess an. Er widmet der „degenerierten Drittheit“ den ersten Teil seiner dritten Har­ vard Lecture über Pragmatismus. Die Wirkung auf die Hörer war verheerend, und es könnte sein, dass der Effekt, den die Unterscheidungskaskaden in degenerierten Formen bei Peirces Freund und Gönner William James ausgelöst haben, weit ver­ breitet ist. Die zweite Kategorie enthalte – doziert Peirce – auch eine „schwache, zweitrangige Zweitheit“, die dritte einmal einen ersten Grad der Degenerierung, der in stärkerer oder schwächerer Form auftrete, und sodann einen zweiten Grad einfacher Empfindungsqualität, die „sich selbst gegenüber als Repräsentation re­ präsentiert“7 „Obscure, if not unintelligble“ berichtet Peirce-Biograf Joseph Brent als Urteil der Peirce-Hörer im Jahre 1903.8 James weigerte sich, die Vorlesungen zum Pragmatismus drucken zu lassen; er hätte sie finanzieren müssen. Erste Ver­ öffentlichungen sind erst lange nach Peirces Tod aus dem Nachlass erfolgt. Was aus der Klassifikation erwachsen kann, muss erst noch deutlich gemacht werden. Zunächst sind die Degenerationsformen im Zeichenprozess ein wichtiger Hin­ weis darauf, dass ein Diskurs sich nicht etwa fortlaufend verfeinert und symbo­ lisch ausdifferenziert, sondern gerade umgekehrt als scheinbare Tatsache kon­ sentierter Meinungen und als Gefühl für das Wahre und Richtige in den Alltag zurückkehrt. Der objektivierte Konsens ist schon keiner mehr, er ist denselben Zweifeln und Einwänden ausgesetzt wie eine Urteilsbegründung. Der Weg vom Ersten zum Dritten enthält also keine irgendwie geartete Aufhebung eines vor­ her vorhandenen Widerspruchs auf einer höheren Stufe. Drittheit ist von Anfang an vorhanden und spielt in jeden Prozess der Zeichenrezeption hinein. Ob man sie betont, ist eine analytische Frage. Wer Interpretantenprozesse objektivieren will, macht genau das, d. h. die Interpretation wird ein Objekt und damit (degene­ 7

Peirce (Fn. I. 43), 44. Joseph Brent, Charles Sanders Peirce. A Life, Bloomington 1993, 291.

8

1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol

61

rierte) Zweitheit der Drittheit. Ein konsensueller Prozess führt insofern durchaus nicht notwendig zur fortlaufenden Einstimmung in sein Ergebnis. Dieses muss im­ mer wieder als angeblich objektive Interpretation berufen werden. Pape hat den Prozess der Degeneration im Diagramm dargestellt, womit er deutlicher wird, als es in Sprachzeichen möglich ist.9 Er notiert 10 Modi für Zeichenklassen, die sich im Diagramm so verfolgen lassen: 3 Repräsentant (1)

1

Objekt (2)

1

1

Interpretant (3)

1

1

Zeichenklasse

I

II III IV V VI VII VIII IX X

2

3 2

1

1 2

1

2 1

3 2

1

2 3

Abbildung 4: Die Zeichenklassen

Das Diagramm dieser komplexen symbolischen Zusammenhänge repräsen­ tiert einen Index für Drittheit in der Form ikonischer Zeichen und kann insofern selbst der Zeichenklasse VI zugeordnet werden. Das lässt sich diagrammatisch viel schneller erledigen als sprachlich, und mit diesem Instrumentarium, das Peirce selbst zu existenziellen Graphen hin verfeinert hat, wird Sprache so überwunden, wie die Landkarte das Land überwindet, das sie darstellt. Peirce selbst hielt seine Grundsätze grafischer Darstellung der juristischen Praxis für überlegen,10 die sich in der Regel darauf beschränkt, Personen durch Buchstaben zu ersetzen, insbe­ sondere in Ausbildungsfällen (Kap. XI. 2.). Peirce hat eine darüber weit hinausge­ hende Absicht. Die Sprache insgesamt soll durch ein räumlich, zeichnerisch und farblich definiertes sogenanntes „phemisches Blatt“ ersetzt werden. Insbesondere in seinen späten Lebensjahren setzt sich in Peirce das Gefühl durch, dass Gedan­ ken sprachlich sehr viel weniger mitteilbar seien als in gestalteten Objekten. Mit der Tönung von Linien – Peirce unterscheidet zwischen Metallsorten, Farbschat­ tierungen und Pelzarten – möchte er symbolische Aspekte in Erst- und Zweitheiten ausdrücken. Roberta Kevelson skizziert die rechtstheoretische Perspektive durch Inkongruenz.11 Das Unterfangen ist schwierig, aber insofern notwendig, als die Vi­ sualisierung des Rechts oder einzelner Rechte auf diagrammatischen Operationen beruht. Ein Diagramm ist ein Zeichen, das auf ein Objekt dadurch verweist, dass die Relationen zwischen seinen Teilen denjenigen des Objekts entsprechen.12 Die Idee ist zumindest in der juristischen Ausbildungspraxis angekommen. Allerdings 9

Helmut Pape, Einleitung, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 2), 47. Charles S. Peirce, Artikel „Index“, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 1), 351. 11 Roberta Kevelson, The Law as a System of Signs, New York 1988, 93. 12 Roland Posner, Diagrammatische Zeichen, Zeitschrift für Semiotik 31 (2009), 213–229 (217). 10

62

II. Drei Arten der Objektrelation

bleibt in den Darstellungen von Colette Brunschwig, die Pionierleistungen auf die­ sem ­Gebiet erbracht hat,13 und später von Röhl und Ulbrich14 offen, ob die ­Autoren nicht doch den Sprachzeichen den Vorrang lassen wollen und müssen oder ob sie wirklich beanspruchen können, dass das Diagramm selbst als die Tatsache anzu­ sehen ist, von der auszugehen ist. Darauf zielt die späte Peircesche Semiotik ab. Jedenfalls gehört der Vorrang des diagrammatischen Zeichens zu Peirces Katego­ rienlehre. Seine Graphen sollen in der Notation auf räumlich abgegrenztem Blatt mit schattierter, ggf. farbig gestalteter Tinte das darstellen, was sie meinen, und in­ sofern ästhetisch wirken. Joachim Lege, der als einer der ganz wenigen in Deutsch­ land die Peircesche Grafik vorstellt und ernst nimmt, würdigt sie als „Ästhetik der deduktiven Logik“.15 Er befasst sich allerdings nicht weiter mit der Unterscheidung nach einzelnen Zeichenaspekten und benutzt Peirces Zeichenbegriff, um eine Ar­ beitslogik (working logic) im Toulminschen Sinne zu entwickeln. Es könne All­ gemeines und Individuelles aus Zeichen erschlossen werden, weil beides in kon­ kreten Zeichen jeweils verbunden sei.16 Peirces Vorlesungen über Pragmatismus, deren deutsche Ausgabe Elisabeth Walther besorgt hat, enthalten nur eine kurze Einführung in die semiotische Gra­ fematik. Fortgeführt und erstmals öffentlich grafisch exemplifiziert hat Peirce seinen Anspruch in den im gleichen Jahr 1903 stattfindenden Lowell Lectures. Dies geschieht Jahrzehnte nach seinem Aufsatz „On a New List of Categories“, und ist von William James initiiert, der Peirce dem Universitätspublikum wieder nahe bringen will. Peirce war im Jahre 1884 wegen der Scheidung von der Nichte eines anglikanischen Bischofs aus der Johns Hopkins University aufgrund einer bis heute im Detail unbekannten Intrige verstoßen worden und lebte damals schon fast zwanzig Jahre lang mit seiner geheimnisvoll gebliebenen zweiten Ehefrau17 ein­ sam im Wald. Seine Vorlesungen tragen den Terminus im Titel, den James popu­ larisiert hat: Pragmatismus. Zu diesem Bemühen seines Freundes James verhält sich Peirce ganz unpragmatisch. Er tritt auf, angeleitet von einem umfassenden Systematisierungsbedürfnis, und strapaziert sein Publikum mit einer Fülle von Trichotomien in den durch Dreiteilung entstehenden Zeichenklassen.18 Zwar legt Peirce wie schon in seinem frühen Aufsatz von 1867 immer drei und nur drei Ka­ tegorien zugrunde, betont aber jetzt, dass nur die Erstheit selbst ein Erstes bleibt, während es bei Formen der Zweitheit und Drittheit Degenerationsformen geben kann. Für Zweitheit und Drittheit gibt es eine – wie Peirce es ausdrückt – „abge­ schwächte Modifikation“ der jeweils höheren Kategorie.19 Man fühlt die Tatsache, 13

Colette Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen: Legal Design, Zürich 2001. Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Recht anschaulich. Visualisierung in der Juristenausbil­ dung, Köln 2007. 15 Lege (Fn. II. 3), 349. 16 Lege (Fn. II. 3), 142–145. 17 Eine Geschichte für sich: Kenneth Laine Parker, His glassy Essence. An Autobiography of Charles Sanders Peirce, Nashville/London 1998, 279–300. 18 Peirce, Vorlesungen (Fn. I. 43), 22–63. 19 Peirce, Vorlesungen (Fn. I. 43), 43. 14

1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol

63

man wird vom Symbol durch äußeren Zwang heimgesucht. Bruno Latour nennt solche Erscheinungen, von denen man nicht mehr weiß, ob sie naturgemacht oder gesellschaftlich produziert sind, „Quasi-Objekte“ und stellt in der Moderne, die den Unterschied von gesellschaftlichem Subjekt und Naturobjekt selbst hergestellt hat, eine nicht mehr zu stoppende Vervielfältigung dieser Hybridformen vor.20 Mo­ dernität, die mit der Trennung beginnt, ist deshalb – wie Latour es heute sieht – schon vergangen, wenn sie begonnen hat zu trennen. Da Latour mit einem verkürz­ ten Zeichenbegriff operiert, kann er nicht sehen, dass die Zeichendifferenzierung, die Zerlegung des Einheitlichen in ein bis drei Bestandteile, gerade den quasisym­ bolischen, halbobjektiven oder nicht wirklich spontanen Gefühlen dient. Was da­ bei passiert, kann man als Jurist besser verstehen, wenn man den Tenor des Ur­ teils (die Klage wird abgewiesen) als eine degenerierte Drittheit seiner Gründe zu verstehen gelernt hat (Kap. VII. 2.). Das ist juristisch sogar erstrebt. Nur der Titel kann vollstreckt werden und wirkt mit solcher Zweitheit im Vollstreckungsverfah­ ren, kann aber dort – wenn auch in begrenztem Umfang – immer noch auf seine Rechtfertigung untersucht werden, wenn Vollstreckungsgegenklage erhoben wird. Da diese aber auf Einwendungen beschränkt werden muss, die nach Erlass des Ti­ tels entstanden sind, existiert auch für ein Urteil, das ein symbolisches Produkt des Rechtsverfahrens ist, ein Stadium reiner Zweitheit. Für Dritte ist sie im Regelfall sowieso völlig ausreichend. Man kann eine Entscheidung ohne ihre Gründe ver­ stehen, vielleicht sogar besser, als wenn man sie läse. Nur Rechtsmittelführer und Rechtswissenschaftler interessieren sich für entfaltete Drittheit, die anderen be­ gnügen sich mit Ergebnissen. Es mag sogar so sein, dass sich aus einer Anzahl er­ lebter Ergebnisse ein Gefühl für Entscheidungsmöglichkeiten – eine Erstheit der Drittheit  – ergibt. Jedenfalls bemerkt man: Rechtszeichen sind keineswegs nur oder auch nur im Wesentlichen auf voller symbolischer Entwicklungsstufe von Interesse. Ich werde auf die Aspekte der Erstheit oder der Zweitheit von Dritthei­ ten zurückkommen. Sie führen zu einer nicht mehr in Umgangssprache fasslichen Vervielfältigung der Zeichenphänomene, wie sie Peirce in seinen letzten Briefen an Lady Welby aus dem Jahre 1908 erklärt hat. Peirce interpretiert nämlich die kategoriale Erscheinungsform des Objekts im Interpretanten in die Klasse seiner Erscheinung hinein. Interpretanten können unmittelbar repräsentiert, dynamisch wirksam oder normal („nach genügender Entwicklung des Denkens“) erzeugt sein, Objekte können in den vorgestellten zehn Klassen unmittelbar gegenwärtig oder real wirksam sein, also in den Modi der Erstheit oder Zweitheit auftreten, wäh­ rend Interpretanten als Erste, Zweite oder Dritte erscheinen können. Peirce hält es jedenfalls für möglich, dass sich für alle Zeichenereignisse in den oben vorge­ stellten zehn Modi eigene Trichotomien bilden lassen, so dass man „310 Aspekte oder 59.049 schwierige Fragen aufmerksam zu betrachten habe“.21 Peirce schrieb 20

Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (1991), Frankfurt a. M. 2008, 70–76. 21 Charles S. Peirce, Die Festigung der Überzeugung und andere Schriften, hrsg. v. Elisabeth Walther, Berlin 1985, 155.

64

II. Drei Arten der Objektrelation

das im Alter von 69 Jahren und fügte an, er wolle die Erörterung dieser Fragen künftigen Forschern überlassen. Das Vorhaben ist auch mit den Zeichenmitteln der Umgangssprache nicht zu bewältigen, normalsprachlich trifft man auf Gren­ zen der Differenzierung und des Verständnisses. Pape ergänzt vorsichtig, es han­ dele sich bei den 59.049 schwierigen Fragen jeweils um Zeichenaspekte und nicht mehr um Zeichen,22 weil jedes Zeichen in alle Relationen in einem ersten, zweiten und dritten Sinn entwickelt und für jede Kategorie eine eigene Trichotomie aus­ gebildet werden solle. Joachim Lege hat die arithmetische Vervielfältigung (die er nicht näher unter­ sucht) als Aufforderung verstanden, den „Zugang zu Qualitäten wie Begründungs­ schemata, zu Gesetzmäßigkeiten wie zum Individuellen, zum Wahrnehmbaren wie zu Konventionen, zum Möglichen wie zum Wirklichen“ als Zeichen zu verstehen.23 Das ist eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Frage, in der Habermas einst eine Gegenposition vertreten hat, die sich aus dem behaupteten Primat der Um­ gangssprache ergab. In „Erkenntnis und Interesse“ wird nämlich bestritten, dass sich sprachlich ein Zugang zu Vorsprachlichem, insbesondere zu so etwas wie Qua­ litäten, Individualitäten und Möglichkeiten eröffne. Habermas befand, dass Peirce sprachliche Leistungen für Vorsprachliches in Anspruch nehme, hat aber die gra­ fische Logik nicht zur Kenntnis genommen, ebensowenig wie Peirce-­Heraus­geber Karl-Otto Apel. In Habermas’ Sicht ist das Unmittelbare sprachlogisch nicht greif­ bar, so dass die Frage offenbleibe, „wie die vorsymbolisch zufließenden Informa­ tionsgehalte in die symbolisch vermittelten Prozesse des Schlussfolgerns einge­ hen können.“24 Habermas vermisst den wissenschaftlichen Fortschrittsgedanken in einer Zeichenlehre, die degenerierte Formen (die er bei diesem Namen nicht nennt) zulässt, und beanstandet die „Ontologisierung einer ursprünglich methodo­ logischen Frage“.25 Das dürfte daran liegen, dass er auf dem Vorrang der symbo­ lisch vermittelten Sprachzeichen besteht und jenseits der Sprache nur noch Dinge annimmt, deren Zeichenrelationen symbolisch ausgedrückt werden sollen. In den sprachlichen Ausdruck gehen aber Gefühle und Zwänge, Bilder und Handlun­ gen ein, deren Einfluss nur semiotisch, nicht sprachlich-symbolisch berücksich­ tigt werden kann. Bedenkenswert an dieser Kritik bleibt ihr sprachlicher Befund. Zeichendifferenzierungen in der Sprache sind immer auf Interpretanten angewie­ sen und können eine Reihe denkbarer und erkennbarer Formen nicht ausdrücken. Natürlich können auch in diesem Zusammenhang 59.049 Unterscheidungen so wenig konkretisiert und mit Rechtsleben gefüllt werden, wie es Peirce konnte. Die Nomenklatur der Semiotik soll zur Beobachtung beitragen und sie nicht ver­decken. Man muss also erst einmal anhand der Phänomene sehen, was zur differenzierten Beobachtung beiträgt, und so zu verfahren, ist selbst eine Peircesche Praxis. Im 22

Pape, Einleitung, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 2), 52. Lege (Fn. II. 3), 235. 24 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968), Frankfurt a. M. 1973, 135 f. 25 Habermas (Fn. II. 24), 140. 23

1. Die Trichotomie der Objektrelation: Ikon, Index und Symbol

65

Syllabus von 1903, einem Vorlesungsbegleittext, den Helmut Pape unter dem Titel „Phänomen und Logik der Zeichen“ herausgegeben hat, beginnt Peirce bei der Ge­ samtheit dessen, was sich im Geist entwickelt, und das – nicht etwa äußere „Fak­ ten“ – sind dann auch die Phänomene, das „Phaneron“ des Geistes, wie Peirce es nennt.26 Im Phaneron entwickeln Menschen die Kategorien, in denen sie denken oder Gedanken aneinander anschließen lassen. Die hier verwendete Begrifflich­ keit ist sehr viel einfacher, geradezu gefährlich einfach angesichts der möglichen und errechenbaren semiotischen Differenzierung. An der begrifflichen Differen­ zierung liegt aber nur so viel, wie diese Begriffe im Ergebnis und in ihrer Verwen­ dung an Einsicht erbringen. Vor allem erscheint mir eines in der Arbeit und Beobachtung der trichotomi­ schen Schemata wichtig: In ihnen ist kein Fortschrittsbild enthalten. Anders, als Habermas es versteht, wird das hier nicht als Mangel gewertet. Das jeweils Dritte ist nicht etwa mehr wert als das Erste oder begrifflich: Das symbolisch argumen­ tierende Legizeichen ist dem indexikalisch-rhematischen Qualizeichen nicht ir­ gendwie überlegen, es steht nur für andere Interpretanten. Man kann beobachten, dass dritte Zeichenelemente schwächer ausgeprägt in zweiten oder ersten enthalten sind. Ob eine Figur wie die berühmte Justitia als Symbol oder nicht vielleicht als Ikon bezeichnet werden sollte, ist nicht zu bestimmen, wann man nicht den Kon­ text der Bildentstehung und deren Gestaltungsmittel berücksichtigt. Ikonische Le­ gizeichen sind im Gegensatz zu (immer) ikonischen Qualizeichen möglich. Dritt­ heit kann in schwächerer Form zum Ausdruck kommen, was Peirce in der dritten Harvard-Vorlesung eine Degenerationsform nennt.27 Dort stellt er neben der „re­ lativ genuinen Drittheit“ eine reagierend und eine qualitativ degenerierte Drittheit vor. Reaktion und Qualität sind die Degenerationsformen der Drittheit insofern, als Zeichen einen Realitätszwang auslösen oder mit einer Wahrnehmungsqualität ihr Bewenden haben können. Mit Peirce denken heißt Objekte wahrnehmen, und das ist weniger einfach, als es klingt.28 Objekte werden nämlich nur in interpretierter Zeichenform zugäng­ lich, und es ist fraglich, wie viel Objektivität dabei bleibt. Viel einfacher ist es, jemandem als Subjekt eine Chance zu geben und ihn zu Wort kommen zu las­ sen  – ihn also in einem eingeführten Zeichenmittel zu belassen, weil Personen sprachfähig sind. Objekte sind es nicht. Dinge wären keine, wenn sie sagten, was sie wollten und wofür sie stünden,29 sie verhalten sich aufschiebend und widerstän­ dig gegen alle Prozesse der Zeichenkonstitution. Eben darin liegt das Besondere der Peirceschen Zeichentrichotomie. Sie ist einzigartig insofern, als sie Zeichen nicht einfach generell mit Symbolen gleichsetzt, nur weil sie auf etwas anderes 26

Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Fn. I. 12), 51. Peirce, Kurze Logik, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 1), 206–351. 28 Hubert Rodingen, Aussage und Anweisung. Zwei Auslegungs- und Verständigungsmus­ ter dargestellt an Texten von Leibniz und Nietzsche, Meisenheim 1945, 7 f. 29 Bruno Latour, Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005, 26; ders., Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M. 1999, 86 f. 27

66

II. Drei Arten der Objektrelation

verweisen.30 Peirce betont den ikonischen und indexikalischen Zeichengebrauch und weist vor und jenseits des Symbols auf mögliche Formen einer objektvermit­ telten Verständigung hin. Dinge oder Objekte beenden den Zeichenprozess nicht, sondern führen ihn in einer anderen Kategorie weiter. Etwas auf etwas anderes zu beziehen gelingt nur über ein interpretierendes Drittes, das „tatsächlich oder vir­ tuell ein Zeichen desselben Objekts bestimmt, für das es selbst ein Zeichen ist.“31 Der Zeichenprozess ist damit im Prinzip endlos. 2. Ikonizität und Bild Eine erste und grundlegende Einsicht der Peirceschen Zeichenklassifikation be­ steht darin, dass Gedanken so unmittelbar an Dinge anschließen können, dass die Zeichenmittel selbst dann noch repräsentiert bleiben, wenn das Objekt entfallen sollte. So stellt Peirce in der dritten Harvard-Vorlesung die icons vor: „Ein Icon ist ein Repräsentamen, das die Funktion eines Repräsentamens kraft einer Eigenschaft erfüllt, die es in sich selbst besitzt, und auch dann noch besitzen würde, wenn sein Objekt nicht existierte.“32 Das „§“-Zeichen verweist selbst dann auf Recht, wenn ihm kein Text folgt, es ist heutzutage ein Ikon des Rechts. Wer nach bildlichem, sprachlichem, gestischem oder sonstwie performativem Ausdruck des Rechts fragt, interessiert sich für ein einheitliches Phänomen, das nach Peirce „Ikonizität“ heißt. Ikonische Zeichen wirken ohne große Erklärungen und Einführungen, die icons der Computeroberfläche sollen das Studium eines Handbuchs erübrigen. Verkehrs­ zeichen versuchen etwas Ähnliches. Im Zeichen selbst soll dargestellt werden, was es bedeutet. Ikonizität baut allgemein – wie Peirce es ursprünglich nannte – auf likeness auf. Das Zeichen als Ikon ist der Bedeutung ähnlich. Unmittelbar wirkt auf uns, was entweder offensichtlich und augenscheinlich mit dem Inhalt des Aus­ gedrückten korrespondiert oder nach einer Phase der Gewöhnung so wahrgenom­ men wird. Verbotszeichen des Straßenverkehrs muss man schon einmal gesehen und verstanden haben; erst dann kann man sie in unbekannter Umgebung unmit­ telbar wiedererkennen. Erstheit ist unmittelbar, aber Unmittelbarkeit darf man mit Peirce nicht für eine ursprüngliche und spontane Seinsweise halten. Dass Warhols Mona Lisa aus da Vincis Bild etwas anderes macht, obwohl es fast genauso aussieht, musste man erst lernen, und dass der Satz: Die Würde des Menschen ist unantast­ bar – aus dem Aussagesatz etwas anderes macht und zu einem Ikon der Verfassung werden kann, sieht man auch nicht auf den ersten Blick. Schreckenberger hat dem Satz eine verhältnismäßig lange Untersuchung gewidmet, die semiotisch sein soll, aber „ikonisch“ als Zeichenmerkmal mehr zuschreibt als begründet. Danach sollen die Worte wie „unantastbar“ und „Würde“, zugleich aber auch der ganze Text als 30

Klaus Oehler, Zur Logik einer Universalpragmatik, in: ders., Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a. M., 105. 31 Charles S. Peirce, Regeln des richtigen Räsonierens, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 1), 424. 32 Peirce, Vorlesungen (Fn. I. 43), 47.

2. Ikonizität und Bild

67

Schema eine „iconische Struktur“ aufweisen.33 Gegenständlich sehen kann man sie an den Staatsanwaltschaften in Braunschweig und Frankfurt a. M., wo Fritz Bauer, der Kämpfer um Gerechtigkeit gegen die Mörder der Shoah, sie anbringen ließ:34

Abbildung 5: Inschrift an der Außenwand des Landgerichts Frankfurt a. M. (eigene Aufnahme) 

Das sind eigentlich nur sechs Worte aus Art. 1 des Grundgesetzes der Bundes­ republik Deutschland, die aber in 33 Lettern vor einem Gebäude der Anklagebe­ hörde mahnen, dass die Ankläger nicht nur irgendeine Gesetzesverletzung zur Ahndung bringen, sondern vor allem dies: die Würdeverletzung. Die Inschrift nimmt eine ikonische Tradition des 19.  Jahrhunderts auf und soll als Mahnung wirken, obwohl der Satz – für sich genommen bloße Zweitheit – den meisten Le­ sern falsch zu sein scheint. Würde wird fortlaufend angetastet, gerade in der Justiz und während des Rechtsverfahrens. Diese Diskussion führt zu anderen Zeichen. Die Erstheit des Zweiten, den unmittelbaren Ausdruck des Realen zu benennen, fällt für Normengefüge, zu denen das Recht gehört, nicht so leicht wie für Mu­ sikstücke oder Häuserfassaden. Man muss erst kennenlernen, worum es geht. Da das Ausgedrückte vorgestellt werden muss, drängt sich Ikonizität eher noch in der Interpretantenrelation auf (bei Peirce also: in Termen oder Rhemata). Die Erstheit des Objekts muss man erlernen, an Gebäuden, in Personen, als Spuren.35 Ikonizität ist nicht gleichbedeutend mit Bildlichkeit des Rechts. Ikonizität meint vielmehr eine Art der Zeichenwirkung, in deren Rahmen Gegenständlichkeit oder Ähnlichkeit benutzt werden, aber Ikons sind nicht ohne Weiteres gegenständlich 33 Waldemar Schreckenberger, Rhetorische Semiotik. Analyse von Texten des Grundgeset­ zes und von rhetorischen Grundstrukturen der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, Freiburg und München 1978, 51–87 (70). 34 Irmtraud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009, 264. 35 Jerzy Pelc, Iconicity. Iconic Signs or Iconic Uses of Signs, in: P. Bouissac/M. Herzfeld/ R. Posner (Hrsg.), Iconicity. Essays on the Nature of Culture, Tübingen 1986, 7–16 (16).

68

II. Drei Arten der Objektrelation

oder ähnlich. Eine intrinsische Beziehung zwischen Zeichen und Objekt gibt es nicht.36 Von Warhol lernen heißt ja gerade: sehen, dass das Gleiche etwas Anderes ist. Der Kontext ist nämlich ein anderer. Ein Bild interpretiert die Ähnlichkeit und gibt ihr eine satzförmige oder sogar argumentative Note. Fabian Steinhauer hat an den Anfang seiner juristischen Bilderstudie das Bild eines Rechtsanwalts gestellt, der ein Bild seiner zu Pferde reitenden Mandantin (Caroline von Monaco in einem ihrer vielen Zivilprozesse wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung) hochhält, um mit diesem Bild vor dem Europäischen Gerichtshof (für Menschenrechte) gegen eine Entscheidung des BGH zu demonstrieren, der dasselbe Bild nicht als rechts­ beeinträchtigend eingestuft hatte.37 Nach dem Erfolg des Klägervertreters vor dem EGMR erhält dieses Bild ikonische Bedeutung, es ruft indexikalische Reaktionen hervor und hat symbolische Funktion für alle folgenden Bildregeln, die Steinhauer zu formulieren versucht. Denn der Kontext ist mehrfach gefaltet (bei Steinhauer heißt das in Luhmanns Diktion re-entry). Wenn man ein Bild hochhält, das an­ dere als ein nicht besonderes, fast normales Bild ansehen, dann stört man bereits dadurch die Normalität. Ikonisch wirkt dabei weniger die Kopie der Abbildung, sondern eher die Aufforderung zur Wiederholung der Tat: Schaut auf dieses Bild. Schaut auf diese Stadt – predigte einst Ernst Reuter, Regierender Bürgermeister von West-Berlin während der sowjetischen Blockade und angesichts der alliier­ ten Luftbrücke mit großer Geste auf einer Protestkundgebung vor dem zerstörten Reichstag.38 Schaut her und seht die eklatante Rechtsverletzung – das ist eine iko­ nische Geste geworden, mit der Bedeutungen gemacht werden. Wenn man Bildlichkeit des Rechts sucht, muss man sich also von der Vorstel­ lung lösen, das Recht selbst sei bildlich dargestellt oder das Bild sage etwas über das Recht aus. Genau von dorther kommt allerdings die historische Entwick­ lung. Durch das Bild sollte eine rechtliche Aussage vermittelt werden.39 Das gilt für Waage und Schwert der Justitia ebenso wie für das sprichwörtliche „Auge des Gesetzes“.40 Alle diese Abbildungen sind alt. Heute kommen zwar durchaus Bil­ der vor, sie werden eingesetzt und sollen etwas hervorlocken, aber sie stellen nicht mehr wie weiland der Weltenrichter Teile oder das Ganze des Rechts dar. Mit der Zuwendung der Kunst zu realistischen Darstellungen und endgültig mit ihrer sur­ realistischen und abstrahierenden Emanzipation vom Gegenstand überhaupt ver­ lieren symbolische, bildlich vermittelte Aussagen über Recht alle Be­achtung und werden unterlassen.41 Der Befund lautet dann: Es gibt im Rechts­betrieb, über das Recht und mit Recht viele Bilder, aber es wird immer schwieriger, sich damit 36

Schönrich (Fn. I. 21), 139. Fabian Steinhauer, Bildregeln. Studien zum juristischen Bilderstreit, München 2009, 5. 38 http://seibert.biz/berlin. 39 Kocher (Fn. II. 4), 36. 40 Michael Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004, 51–66. 41 Cornelia Vismann, Image and Law – a Troubled Relationship, in: dies., Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 2012, 417. 37

2. Ikonizität und Bild

69

Recht ikonisch vorzustellen. Mit Peirce (und im Übrigen auch landläufig) gelten die meisten bildlichen Darstellungen des Rechtsgeschehens gar nicht als ikonisch, sondern – wenn und soweit sie die Vermittlung im Ganzen repräsentieren – als „Symbole“. Dafür werden dann Texte verwendet, auch wenn es bildliche Darstel­ lungen gibt. Bilder werden im Zeitalter der displayhaften Darstellung zwar ge­ sucht, entsprechen aber nicht der Tradition der letzten 300 Jahre und bleiben Zweit­ heit. Im Bild unbeantwortet bleibt die semiotische Frage nach einem Ikon als einem Zeichen, das unmittelbar einleuchtet, für sich selbst stehen kann und ohne Objekt bedeutsam bleibt, aber doch auf Rechte hinweist. Solche ikonischen Zeichen sind nicht leicht zu finden. Manche halten die Robe, das Gesetzbuch oder auch den Richter selbst für ikoni­ sche Zeichen. Wenn sie das sein sollten, dann ist die Zeichenkonstitution trotzdem nicht auf Recht zurückzuführen. Das Buch, die Person oder ihre Kleidung verwei­ sen als Ikon auf religiöse Bestände. Religionen, insbesondere diejenigen, die sich den unbegrenzten Interpretantenbewegungen der Worte nicht auszusetzen wagen, ersetzen sie durch fixierten Dingbezug. Dann wird ein Gesetzestext zum heili­ gen Text, oder anders: Der heilige Text wird Gesetz, und verkörpert sieht man ihn im Ding selbst, im Buch, das doch nur Zeichenträger ist, aber als Ikon viel mehr wird. Das ikonische Rechtszeichen entfällt, wenn das Ding, das gleichzeitig Ob­ jekt in der Zeichenrelation ist, verschwindet. Ein solches Verschwinden wird mo­ dern vermieden. Das Gesetz verschwindet nicht, wenn man aus dem Gesetzbuch eine Seite herausreißt. Modern scheint es auf den ersten Blick gar keine Ikons des Rechts zu geben. Stattdessen fällt ein seriell reproduziertes und semantisch generalisiertes Bild auf: Gerichte stehen postmodern für „Recht“, und für Gerichte stehen die Bilder von Gerichtsverhandlungen. Was man da sehen kann, ist je nach staatlicher Vorgabe sehr unterschiedlich. In den USA kann man die Hauptverhandlung – wenn sie Ein­ schaltquoten verspricht – im Fernsehen verfolgen, in Deutschland beschränkt sich das wiederkehrende Bild auf die Personen des Gerichts, wie sie in den Verhand­ lungssaal eintreten und sich hinsetzen, beim Bundesverfassungsgericht darf man auch noch die Urteilsverkündung selbst sehen. Aber selbst wenn die forensische Szene aus gesetzlichen oder praktischen Gründen nicht gesehen werden kann, ver­ zichten Presse und Fernsehen nicht auf Bilder. Abgebildet werden dann Gebäude, Gänge, zuweilen auch Säle des Gerichts, Anwälte in ihren Büros oder Aktenstöße, von denen man nicht genau weiß, aus welchem Verfahren sie stammen. Selbst in diesen Accessoires treten noch die gerichtlichen Umstände in den Vordergrund. Geht es um Verhandlungen der Gerichte, spricht man über erwartete, vermutete oder gerade verkündete Entscheidungen. Die Verhandlung repräsentiert Entschei­ dungen, und genau das ist prozessual auch erstrebt. Mit der Beobachtung und der Teilnahme an Verhandlungen wird Ikonizität hergestellt.42 Das Rechtsinstitut der strafrechtlichen Nebenklage, mit der sich der Verletzte in der Verhandlung ne­ 42

Vismann, Medien (Fn. I. 13), 130 f.

70

II. Drei Arten der Objektrelation

ben dem die Anklage führenden Staatsanwalt präsentiert, gewinnt neue Aktuali­ tät. Selbst die Teilnahme als Zuschauer ist so für Einzelne (und nicht für die Öf­ fentlichkeit allgemein) so wichtig geworden, dass Rechtsansprüche dafür gefunden und erfunden werden.43 Das Ikon der Verhandlung, repräsentiert durch das gerichtliche Verfahren, steht für das Recht und entspricht ihm gleichzeitig. Mündlich zu verhandeln ist ein Me­ dium des modernen Rechts (Kap. V. 4.). In der Verhandlung sind sich Recht und Bild am nächsten, fragen muss man sich nur, inwieweit das Bild der Verhand­ lung etwas vom Recht ausdrückt. Die Frage wird aber in der Regel nicht gestellt. Schon wenn man Gerichtsverhandlungen nur sieht, scheint Recht mindestens nä­ her zu kommen, wenn nicht sogar unmittelbar präsent zu sein. In mancher Hin­ sicht kann man Peirces Bemerkung über die Bildbetrachtung auf das Gerichtsbild übertragen. Es gebe da – diagnostiziert Peirce – „einen Moment, in dem wir das Bewusstsein davon verlieren, dass es nicht das Ding ist. Die Unterscheidung zwi­ schen dem Realen und der Kopie verschwindet, und für einen Augenblick ist es ein reiner Traum – nicht irgendeine spezifische Existenz und doch auch nicht et­ was All­gemeines. In diesem Moment betrachten wir ein Ikon.“44 Ähnlich gibt es einen Moment, in dem die Unterscheidung zwischen Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz verschwindet und erst der Auftritt, dann der Spruch, schließlich sogar nur die Erwähnung dieses Gerichts unmittelbar dem Recht Ausdruck geben. Auch in diesem Moment betrachten wir ein Ikon. Angezogen, fasziniert oder beschäftigt wird man dabei von einem Ensemble von Umständen, Personen und Verhaltensweisen. Das Bundesverfassungsgericht wirkt nicht wie einst (als Deutschland fußballerisch wiedergeboren wurde) „Fritz Walter“ oder (postmodern) „Andy Warhol“, es wirkt auch nicht wie ein mittelalter­ liches Justitia-Symbol. Manche sagen, das sei ein Glück und könne angesichts der Komplexität des Rechts auch gar nicht anders sein. Aber auch andere vermeint­ liche Ikons sind nicht so einlinig, wie man denkt. Auch sie schließen Verhaltens­ weisen, Rezeption, Person und Umstände ein und nähern Ikonizität einem alten Prinzip der Rhetorik an, nach dem der Redner stets vor oder neben allem anderen auf die Angemessenheit seines Beitrags achten solle. Was angemessen sei, wird nach der Tradition, nach dem Repertoire der Verhaltensweisen und nach einer Ein­ fühlung in die Situation bestimmt und lässt sich formelhaft nicht gut bestimmen.45 Vom Aptum ist in neorhetorischen Sprechanleitungen kaum die Rede, und teil­ weise wird Rhetorik dort so benutzt, dass die empfohlene Strategie gerade außer­ 43 Nach BVerfG NJW 2013, 1293 (1 BvR 990/13 v. 12.4.2013) besteht ein grundsätzlicher „Anspruch der Presse auf Zugang für eine freie Berichterstattung“, der „sachlich ausgestal­ tet sein und dem subjektiven Recht der Medienvertreter auf gleiche Teilhabe an den Bericht­ erstattungsmöglichkeiten Rechnung tragen“ soll. 44 Ein häufig zitiertes Beispiel aus der Peirce-Kenntnis von Nöth (Fn. I. 10, 194), der wiede­ rum C. P. 3.362 als Fundstelle angibt (die in die hier ausgewählten Peirce-Ausgaben bisher nicht aufgenommen ist). 45 Steinhauer (Fn. II. 37), 166.

2. Ikonizität und Bild

71

halb des ansonsten Angemessenen und Erwarteten liegt. Dennoch weiß jeder, dass eine politische Rede im Stadion ein anderes Register verlangt als die im Vorzim­ mer des Präsidenten, dass die Trauerrede für einen Dreißigjährigen anders ausfal­ len muss als die für einen Achtzigjährigen. Man weiß das, ohne Leute, Fälle und Erwartungen im Einzelnen zu kennen, weil man eine Vorstellung über ähnliche Situationen schon hat. Die Rhetorik stellt dafür einen Vorrat an Erfahrung und Si­ tuationsanpassung zur Verfügung und stattet jede Redesituation mit dem dafür angemessenen Beiwerk oder Decorum aus. Allerdings sind die Bestandteile, Be­ dingungen und Zusätze des Decorums in der schulmäßigen Rhetorik kaum ausrei­ chend beschrieben, geschweige denn reflektiert, auch wenn Steinhauer darin eine „protojuristische Lehre der Angemessenheit“ sieht, für die er Fälle „als Grenz­ regime“ beschreibt.46 Nach dem für das 17. Jahrhundert maßgeblichen Ordo-Gedanken war die Welt so eingerichtet, dass sich jeder Auftritt des Königs in königlicher Weise zu voll­ ziehen hatte. Der König war ohne Weiteres als Ikon zu verstehen bis hin zur Iko­ nizität des Kaisers Franz Joseph, dessen Bildnis in den späten Jahren der K.-u.-k.Monarchie für Reichseinheit, Loyalität und Lebensstil stand.47 In diesem Sinne kann man versuchen, zusammenpassende Merkmale zu finden, die gemeinsam ein Gefühl von Recht, Würde und Gerechtigkeit vermitteln. Das gelingt auch vielfäl­ tig. Ikons sind nicht ontologisch bestimmte Zeichen, die irgendwie ähnlich ausse­ hen wie eine Bedeutung, von der man dann auch wissen müsste, wie sie aussieht. Icons of justice sieht Roberta Kevelson in einer Bewegung, in der Ähnlichkeiten in Zweck und Grund oder den Mitteln dieser Bewegung gesucht werden müssten (als motion in concert).48 Bewegungen kann und muss man inszenieren, auch wenn sich anhand der Merk­ male der Szene keineswegs bestimmen lässt, ob die Inszenierung wirklich als Recht gelten kann, also einem Test von Indexikalität und Interpretantenbewegung neben der ikonischen Anmutung standhielte. Das Gesetz zum Schutze von Volk und Staat v. 4.3.1933 wurde von einem dafür bestimmten Organ mit einer Mehrheit der An­ wesenden beschlossen, es wurde im Reichsgesetzblatt ausgefertigt, enthielt eine Anzahl von Sätzen, denen §§-Zeichen voranstanden und wirkte insgesamt ganz wie Recht – nicht wie der Tatplan einer kriminellen Vereinigung. Man konnte es für Recht halten, solange man es nicht las und solange einem zusätzlich die Phan­ tasie für Anwendungsfälle fehlte. Der genaue Tatplan dieser Kriminellen wurde erst am 20.1.1942 in Berlin-Wannsee von dem später gesondert verfolgten Adolf­ Eichmann protokolliert und geheim gehalten. Das Wannsee-Protokoll gibt also das Gegenbeispiel ab.49 Hier wussten auch die Täter, dass sich dieses Dokument nicht 46

Steinhauer (Fn. II. 37), 174. André Reszler, Le vieil homme et l’empire: Réflexions sur le mythe de François Joseph Ier, in: Miklós Molnár/André Reszler, Le Génie de L’Autriche-Hongrie, Genf 1989, 143 f. 48 Roberta Kevelson, Icons of Justice/Spirit of Laws, International Journal for the Semiotics of Law (7) 1994, 227–239 (239). 49 http://seibert.biz/nsarchiv. 47

72

II. Drei Arten der Objektrelation

zu einem Ikon des Rechts machen ließ. Überhaupt hatten die NS-Verbrecher ein bemerkenswertes Gefühl für die Ikonizität des Rechts. Die von Roland Freisler ge­ führten Schauprozesse sollten eigentlich der völkischen Einstimmung auf den ge­ meinsamen Tatplan dienen und wurden nach dem 20. Juli 1944 gefilmt – aber doch nicht öffentlich gezeigt. Auch die NS-Propaganda-Abteilung wusste, wie etwa eine Gerichtsverhandlung aussehen müsste. Freislers Geschrei verließ jedes Maß.50 Die Beispiele sind singulär und stammen nicht zufällig aus einer Zeit, die – allerdings erst heute – einhellig verurteilt wird. Für andere, insbesondere gegenwärtige Re­ gimes fällt es erheblich schwerer, Erscheinungsformen, die als Recht daherkom­ men, schon von ihrem Anschein her, also ihrer Ikonizität nach als Recht auszu­ schließen. Ihr scheint genügt, wenn man nur eine Verhandlung durchführt, an der Beteiligte mit unterschiedlichen Rollen irgendwie teilnehmen, in der Texte gerade noch hörbar verlesen werden und die Beteiligten sich äußern und sei es durch ihr Schweigen. Selbst wenn man später erfahren muss, dass das Urteil vorher abgespro­ chen war, fehlt nicht etwa deshalb der ikonische Charakter dieses Rechtszeichens. Papiere, die eine gewisse Länge aufweisen, gegliedert und teilweise schwierig zu lesen sind und merkwürdige Begriffe enthalten, werden zum Ikon eines Vertrags. Ob dieser Vertrag gilt, es auf seine Bestimmungen ankommt und man sich an sie gehalten oder darüber gestritten hat, bleibt dabei völlig offen. Juristische Kennt­ nis ist erforderlich, um behaupten zu können, dass Verträge gar nicht schriftlich abgefasst sein müssen, dass es auch nicht zum Begriff des Vertrags gehört, über einen langen, ausdrücklichen Text zu verfügen, sondern sein Inhalt aus dem Ge­ setz folgen kann. Ikons des Rechts bewegen sich also in einem weiten Regime tolerierter Erschei­ nungsweisen. Sie umfassen materielles Unrecht, inszenierte Macht und wieder­ holte Nachlässigkeiten wie persönliche Eitelkeiten. Aber auch wenn man all das entdeckt, handelt es sich immer noch um Rechtsformen. Es ist anhand von Kon­ vention und äußerer Erscheinung schwierig zu entdecken, dass eine Verhandlung bloße Willkür, ein Vertrag ein erkennbarer Betrugsversuch sei oder die Unter­ schrift eine unwirksame abgezwungene Erklärung betreffe. Alle diese medialen Formen des Rechts (Kap. V) bedürfen rechtlicher Ikonizität, erzeugen sie gera­ dezu. Was in Akten steht, hat den Anschein des Rechts für sich, und in Archiven werden würdige, bewahrenswerte Texte aufbewahrt, deren Rechtscharakter man aus kanonischen Formulierungen glaubt schließen zu können. Unterschrieben werden zwar nicht nur Rechtstexte, aber die Unterschrift ist ein beliebter Bestand­ teil rechtlichen Dekors. Wen man unterschreiben lässt, den glaubt man gebunden zu haben. Schließlich ist die Möglichkeit zu verhandeln, das institutionalisierte Wechselspiel der Rede Teil dieses Dekors. Gewiss gibt es mehr geschäftliche und alltägliche als gerichtliche Verhandlungen, aber aus den meisten Verhandlungen gehen Rechtserzeugnisse hervor. Alle diese medialen Formen – Akten, Archive, Unterschriften, Verhandlungen – tragen jede für sich zur Ikonizität des Rechts bei. 50 Helmut Ortner, Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Göttingen 1995, 226.

3. Indexikalität und Welt

73

Ikonizität leisten Phänomene der Erstheit, ausgehend vom Objekt eines Zei­ chens. Ikonizität führt dazu, dass Zeichen mit dem Objekt in eins gesetzt und ihm – wie manche es zu sehen meinen – ähnlich werden, auch wenn Ikons selbst nicht gegenständlich oder ähnlich sind. Aktuell wird aber das Gericht für mit dem Recht selbst ähnlich gehalten, den Ausdruck in Verhandlungen, Akten und Unter­ schriften nehmen Teilnehmer wie Beobachter als Merkmal der Rechtsform selbst. Ikonizität ist für das postmoderne Recht umso wichtiger, je mehr der Glauben an die inhaltliche Aussagekraft einzelner Bilder schwindet. 3. Indexikalität und Welt Neben der Erstheit der Zweitheit gibt es auch eine Zweitheit der Zweitheit, und mit Peirce heißt das: Neben dem Ikon gibt es den Index oder – in anderer Kate­ gorisierung (bezogen auf den Interpretanten und nicht auf das Objekt) – Dicent des Rechtszeichens,51 so wie es Symbole und Argumente gibt. Im Index wird das Ding als präsent vorgestellt, im Dicent handelt es sich um einen Rechtsbefehl oder eine Proposition. Erst wenn man zu Begründungen und Erklärungen für die Satzund Befehlsform überwechselt, kommen Symbole und Argumente ins Spiel. Meist wird für Dicents und Argumente die Sprachform verwendet, bildliche Darstellun­ gen gehören der Vergangenheit an oder markieren den Übergang in die virtuelle Darstellung des Computers. Indices stehen für die Objektbindung. Objekte sind im Rahmen eines von Peirce angeleiteten semiotischen Verständnisses keineswegs Konstruktionen der erken­ nenden Vernunft.52 Es sind selbstständige und widerständige Faktoren, die sich aber – wenn man sich mit ihnen befasst – nur durch Zeichen erschließen lassen. Ein Index hat im Rahmen der Interpretantenbewegung eine spezifische Funktion. Er bestimmt ein Zeichen im Hinblick auf seine Verbindung mit einem Objekt, wo­ bei Peirce „Objekt“ nennt, was die Aufmerksamkeit des Interpreten durch Ver­ mittlung des Zeichens bestimmt.53 Tatsachen können nur indexikalisch erfasst werden, indem man sich ihnen zuwendet. Dann erfassen sie jeden Zeichenbenut­ zer von außen. Die Welt ist nicht, was man sich unter ihr vorstellt; das sind Mög­ lichkeiten und damit Erstheit. Zweitheit bedroht und schränkt die Möglichkeiten ein. Als Beispiel nennt Peirce Löschen und Brandschutz. Da ist Feuer – das ist ein Zeichen, das für ein Objekt steht, und schon wegen des „da“, aber sonst auch ein­ fach als „Feuer“ eine Reaktion einfordert.54 Es handelt sich keineswegs um eine schlichte Beschreibung der Welt. Feuer produziert als Handlungsaufforderung sein eigenes Recht, und dominiert als Objekt je nachdem die Zeichenorganisation so vollständig, wie Alexander Kluge die indexikalischen Reaktionen angesichts 51

Übersicht bei Nöth (Fn. I. 10), 66. Klaus Oehler, Konsens und Realität (in: Fn. II. 30), 59 f. 53 Peirce (Fn. I. 15), 214. 54 Charles S. Peirce, Stichwort „Index“, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 1), 349 f. 52

74

II. Drei Arten der Objektrelation

des Luftkriegs radikalisiert hat. Kluge lässt „Feuerlöscherkommandant Schönecke über den alliierten Fächerangriff auf Darmstadt im Jahre 1944“ so berichten:55 „Wenn es richtig ist, dass die Löscherfahrung ein Spiegelbild des gegnerischen Angriffs sein muss, so ist die Ausbildung des Löschers radikal umzustellen. Wir kämen ja mit unserer Fä­ higkeit und Masse gar nicht an die eigentlichen Stellen heran. Fachkundiges Löschen ist des­ halb der entsprechende Umbau der gesamten Gesellschaft, ihrer Bauweise, ihrer Menschen, angefangen mit sechsjährigen Kindern, denen das ABC nichts gegen das Bomberkommando hilft. … Das ist keine Sache für Kaufleute, Parteiorganisatoren, Industrielle, Eigentümer, Beamte, Militärs usf., oder was so eine Bevölkerung regieren mag, sondern Löschsache. In der – mit Blick von der Höhe auf Wuppertal – erkennbaren Tragweite.“

Der Text irritiert. Man hatte sich die Gesellschaft gesellschaftlicher vorgestellt, als es Brandschutzangelegenheiten offenbar erlauben. Der Index „Feuer“ macht aber auch alles Weitere tendenziell zu einer Sache der Indexikalität, gebieterisch – mit Blick von der Höhe auf Wuppertal, wie Kluge ein wenig ironisch hinzufügt. Nur scheinbar ist die Umgestaltung der Gesellschaft vom Luftschutz zu trennen. Die Gesetzgebung zu möglichen Luftangriffen hätte den in- und ausländischen Beobachtern seit 1936 verdeutlichen können, in welchen Perspektiven das Regime dachte. Man hätte auf Indexzeichen achten müssen. Als Zeichen hängt der Index ganz vom Bezeichneten ab, oder in den Worten von Peirce: „Ein Index ist ein Zeichen, welches die Eigenschaft, die aus ihm ein Zeichen macht, sofort verlöre, wenn sein Objekt entfernt würde, das aber diese Eigenschaft nicht verlöre, wenn es keinen Interpretanten gäbe.“56 Das Reichsluftschutz-Gesetz mit den Richtlinien für den Luftschutz-Hauswart sind verschwunden, und die be­ sonderen Löschstrategien verlieren sich, weil der Bombenkrieg aus Deutschland verschwunden ist, aber sie sind doch notwendig und sind dann notwendig defizitär, wo immer Luftangriffe heute stattfinden – und sie dominieren die aktuelle Kriegs­ strategie. Im Index herrscht Objektbindung, Objekte verlangen eine bestimmte, nur auf sie bezogene Bezeichnungsweise. Das ist eine rechtliche Übung, wie sie nicht nur im Luftschutz- und Brandschutzrecht Gesetz geworden ist. Solches Recht kann man sich nicht einfach ausdenken, es entsteht im Hinblick auf Tatsachen und lässt sich von diesen nicht trennen, so einfallsreich man darüber auch reden mag. Beim kriminalistisch wichtigen (freilich von Juristen selten ernst genommenen) Indizien­ schluss zeigt sich das mit anderen Folgen. In der Kurzform des Spurenlesers heißt „Indiz“: Zeuge war die Ameise. Einen der aufsehenerregenden deutschen Mordfälle entschied beispielsweise die Ameise. Denn der Angeklagte, ein Pastor und beson­ ders schwieriger Verfahrensbeteiligter, leugnete die Tötung seiner Frau. Bei ihm sichergestellt wurde jedoch ein Paar Stiefel, die getragen zu haben er vergeblich ebenfalls abstritt, denn an ihnen haftete frische Erde, in der eine Ameise festgestellt worden war. Darüber hinaus stellte der Gutachter fest, dass sich der Täter am Lei­ chenfundort vor den Nestausgängen einer volkreichen, besonders seltenen Ameisen­ 55 Alexander Kluge, Neue Geschichten. Hefte 1–18. „Unheimlichkeit der Zeit“. Frankfurt a. M. 1978, 611 f. 56 Charles S. Peirce, Stichwort „Zeichen“, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 3), 375.

3. Indexikalität und Welt

75

kolonie befunden hat, auf die zu treten um den Faktor 102 bis 104 höher gewesen sei „als beim zufallsverteilten Gehen in der Kulturlandschaft.“57 Man sieht an den weiter notwendigen Umstandsbestimmungen, dass ein juristisches Indiz viele weitere Vor­ aussetzungen, Vermittlungsschritte und damit Interpretationen in Anspruch nimmt, also kaum jemals schlechthin das Objekt indiziert. Für das Studium von Spuren hat die naturwissenschaftliche Kriminalistik die Methode entwickelt, so dass heute die Unterschrift durch den Fingerabdruck ersetzt werden kann.58 Wenn ein Index das Objekt präsentiert, dann sind dazu eigene Leistungen im Justizdispositiv erforderlich, die diese Art der Objektivität auch möglich machen. Das geschieht routinemäßig nur auf den Feldern, in denen Eintragungen konstitu­ tive Wirkung entfalten sollen. Grundbuchamt und Handelsregister sind Beispiele dafür. Grundstückseigentümer ist formell, wer im Grundbuch als solcher bezeich­ net wird, Kaufmann ist, wer im Handelsregister als Kaufmann eingetragen ist, wenngleich bei solchen Gelegenheiten die Differenz zwischen formeller Buchoder Registereigenschaft und der materiellen Rechtslage aufgemacht wird. Die Grundbuchposition kann mithilfe eines Berichtigungsanspruchs beseitigt werden. Damit wird aber entweder ein Klageverfahren auf der Anspruchsgrundlage des § 894 BGB eingeleitet, oder es ist die Zustimmung des formell Berechtigten erfor­ derlich. Erst wenn Zustimmung oder Titel vorliegen, ist die Grundbuchänderung vorzunehmen. Indexikalität ist wie Ikonizität nicht ohne Beigaben und Zusätze zu haben, die eine vollständige, auf Interpretanten bezogene Vermittlung leisten. Das Besondere der Indexikalität muss aber hervorgehoben werden. Ein Index ist eine zweistellige Verbindung zwischen Zeichen (Z) und Welt oder Objekt (O), ab­ gekürzt: Z → O. Er bestimmt das Zeichen im Hinblick auf ein Objekt durch eine – wie Peirce es nennt – „real connection with it“.59 Zum Musterbeispiel für Indika­ tion erklärt Peirce insofern das technisch wirkende Barometer oder noch einfacher: den Wetterhahn.60 In der dreifach kategorial gestuften Peirceschen Fassung ist je­ des Zeichen durch sein Objekt bestimmt, indem es mit diesem Objekt für gege­ bene Interpretanten verbunden ist. Ein Index stellt für Autor und Interpret dann eine logische Beziehung in einem Diskursuniversum her, d. h. der Index muss so verstanden werden, dass er zwischen Objekt und Zeichen vermittelt. Aber der Index bleibt als Zeichen vorhanden, auch wenn Interpretanten fehlen. Die Ameise meldet sich nicht selbst zur Aussage, sondern muss – damit die Objektbeziehung erkannt wird – zum Gegenstand eines interpretierenden Sachverständigengutachtens wer­ den. Sie wartet auch nicht auf eine Auswertung im Gutachten, sondern ist vorhan­ den, ob jemand das interpretiert oder nicht. Je nachdem kann man Stunden, Jahre oder Jahrhunderte später erkennen, was Ameisen indizieren. Das unterscheidet In­ dices von Ikons und Symbolen. Fritz Walter muss man kennen, um ihn als Ikon 57

Mark Benecke, Mordmethoden, Bergisch-Gladbach 2002, 191. Miloš Vec, Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), Baden-Baden 2002, 47–54. 59 Charles S. Peirce, Of Reasoning in General, in: (Fn. I. 18, Vol. 2), 14. 60 Charles S. Peirce, New Elements, in: (Fn. I. 18, Vol. 2), 306. 58

76

II. Drei Arten der Objektrelation

des deutschen Fußballs zu erkennen. Als solches lebt er weiter, aber nur so lange und so weit, als Interpretantenbeziehungen über das „Wunder von Bern“ oder das deutsche Auferstehen mit einer positiven Identifikationsfigur hergestellt werden. Nicht anders geht es mit Symbolen (wobei es überhaupt eine Frage der Zeichen­ annäherung ist, ob „Fritz Walter“ oder die Waage als ikonisch oder symbolisch aufgefasst werden). Solche Verbindungen rechnet Peirce nicht mehr zur Logik der Zeichen, sondern verweist sie als Anwendung in die Psychologie.61 Die Besonderheit des Index liegt deshalb in der Proposition, deren Leerstellen er füllt. Als proposition bezeichnet Peirce ergänzungsbedürftige Sätze wie – gives B to C (das wäre eine einstellige Monade) oder – gives – to C (das ist ein dyadisches Prädikat) mit der Möglichkeit, die Leerstellen auszudehnen (zu Polyaden).62 Juris­ tisch gesehen – und Peirce sah die Ähnlichkeit63 – befindet man sich damit in der Ausfüllung von Tatbestandssätzen, die heißen mögen: – ersticht B mit C in D, oder: – ersticht B mit – in D. Der juristische Sachverhalt verlangt einen propositionalen Aufbau, der sich mit weltbezogenen Indices überprüfen lässt. Diese Indexikalität ist zum Merkmal der modernen Rechtsform geworden. Sie unterscheidet sich damit von der allgemeinen Zeichenpraxis, in der es ungefähre und annäherungsweise Zu­ ordnungen gibt und die Wahrheitsfrage erst einmal nicht gestellt wird. Es ist zwar nicht so, dass durch diese Art der Rechtsanwendung Wahrheit in jedem Fall gewähr­ leistet würde, aber man ist mindestens gezwungen, die Frage danach zu stellen, sie zuzulassen und Verfahren der Behandlung dafür einzurichten. Das Publikum inter­ essiert sich vor allem dafür, was ein alltäglicher Sachverhalt oder eine Meinung, die jemand äußert, denn nun in der Zuordnung des einen auf das andere bedeuten. Zei­ chen sind in dieser Sicht, die auf das Saussuresche Modell zurückgeht, Zweitheit. Ein Signifikant bezeichnet ein beliebiges Äußeres und das Bezeichnete stellt selbst die Unterscheidung dar, mit der das Eine vom Anderen unterschieden wird. Das Bezeichnende, den Signifikanten, der indiziell so zuordnet, kann man gelegentlich auch einfach vergessen, gewissermaßen durch ihn hindurch sehen, weil die Zuord­ nung so fest wirkt, dass man nur das Bezeichnete, Gemeinte und Bedeutete versteht und die störenden Änderungen des pragmatischen Zeichengebrauchs nicht auffallen. Ein Preis muss für die Annahme eines solchen Zuweisungsverhältnisses (wie es juristische Kommentare etablieren) gezahlt werden. Gewöhnlich kassieren ihn diejenigen, die auch die Zuordnungsleistung anbieten. Sie richten sich als unent­ behrliche Fachleute, eben als Fachjuristen, ein. Ein Jurist tut danach zweierlei: Er bietet einen fachsprachlichen Term, semiotisch: ein „Rhema“ für die Ausdrucks­ weise an.64 Mit den juristischen Ausdrücken werden nämlich nur qualitative Mög­ lichkeiten eröffnet, sie repräsentieren nicht – weil sie benutzt werden – gleichzeitig auch ein konkretes Objekt. Dieses Objekt zu erschließen ist eine Sache der Zweit­ 61

Peirce (Fn. I. 18, Vol. 2), 311. Charles S. Peirce, The Categories Defended (Fn. I. 18, Vol. 2), 172 f. 63 Charles S. Peirce, Logischer Traktat Nr. 2, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 2), 106. 64 Klaus Oehler, Das Zeichen als dynamisches Ereignis, in: (Fn. II. 30), 95. 62

3. Indexikalität und Welt

77

heit, semiotisch: des dicentischen Zeichenbezugs.65 Das Dicizeichen zwingt zu einer zweigeteilten, binären Wahrheitsfrage der Art: Hatten Sie eine Latte in der Hand (oder nicht)? Ist das Geld überwiesen worden oder nicht? Und die Binarität geht weiter und erstreckt sich in ähnlicher Weise auf normative Wahrheit, zu der man fragt: Kann es Geldersatz für die Verletzung von Liebesgefühlen geben – oder nicht? Terminologie (im Rhema) wie Wahrheitsfrage (als Dicent) sind wesentliche semiotische Leistungen. Sie stehen so sehr im Vordergrund, dass die Beteiligten sich in der Regel nicht mehr dafür interessieren, wofür Terminologie und Wahr­ heitserforschung eigentlich dienen sollen. Mit Rechtsbegrifflichkeit und Wahr­ heitserforschung allein ist nämlich nichts erledigt. Das „Dicizeichen“ macht genau den Sachverhalt aus, den Juristen dahinter vermuten,66 und so, wie einzelne Terme semiotisch „Rhema“ heißen und die Wahrheitsfrage als „Dicizeichen“ umgetauft wird, so verfährt auch die Jurisprudenz selbst. Weil sie durch Begriffs­ersetzung arbeitet, bleibt das wirkliche Problem latent, für das man Juristen rief, die sich für ihre Arbeit bezahlen lassen. Das ist der Preis der Jurisprudenz. Das Ungenügen indizieller Rechtsbedeutung fällt erst auf, wenn ich eine Zu­ ordnung bestreite und darüber streite. Im Streit wird die eine Zuordnung durch eine andere ersetzt, manchmal ihr ausdrücklich entgegengestellt.67 Die Seman­ tik als Lehre von der Bedeutung verlangt dann eine Auswahl, die als Entschei­ dung ins Rechtsverfahren einbezogen ist, in der Zeichentheorie aber nicht als freie Wahl vorkommt und im Übrigen im Recht auch als „gebunden“ verstanden wird. Der wissenschaftliche Zeichenleser ist ein Spurensucher und kein Schiedsrich­ ter, er versucht mithilfe bekannter Bedeutungen noch unbekannte zu erschließen, nicht darüber zu entscheiden. Über Amerika konnte man nicht entscheiden, zu ent­ scheiden war (nur), ob und was man als „Amerika“ benennt. Auch wenn Kolumbus nicht genau wusste, wo er sich befand und es eines Amerigo Vespucci bedurfte, um die Umrisse eines Kontinents zu ermessen, war da etwas, was es in der Welt zu sehen und zu vermessen gab. Unter juristischer Perspektive setzt man beim Aus­ druck an, beim Signifikanten. Dann gibt es nur eine richtige Beziehung zwischen Ding und Wort, wenn man nicht etwa das Wort, das zum Repräsentamen wird, für mehrdeutig erklärt und mit mehreren Bedeutungseinträgen versieht. Eine solche liberale Handhabung darf man im Rechtsverfahren nicht erwarten. Die juristische Bedeutung beruht auf binären Entgegensetzungen. Für die Zwecke zukünftiger Entscheidungen (Kap. VII.) ist aber noch mehr not­ wendig. Es müssen Meinungen tradiert werden, Lehr- und Leitsätze einer Entschei­ dung, die über den entschiedenen Fall deutlich hinausgehen. Meinungen werden der Form nach getrennt von Tatsachen. Tatsachen sind Zeichen, die der binären Wahr­ heitsfrage unterworfen sind, Meinungen gelten als freigegeben. Sie müssen so gelten, 65

Nöth (Fn. I. 10), 66. Frederik Stjernfelt, The Actuality of Peirce’s Doctrine of Dicisigns, Boston 2014, 73. 67 Friedrich Müller/Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Ber­ lin 1997, 60. 66

78

II. Drei Arten der Objektrelation

weil ansonsten die Berufsaufgabe der Advokatur nicht zu erfüllen wäre. Der beauf­ tragte Anwalt soll eine Meinung vertreten, unabhängig davon, ob er sie schon hat, ob sie ihm gefällt oder einleuchtet. Zwar kann man auch mit Meinungen den Indexika­ litätstest machen, aber im Staat nach Hobbes (Kap. XII. 1.) werden innere Einstel­ lungen nicht vorgegeben, auch wenn sie breit abgefragt werden können. Das Fach trennt Tatsachen und Meinungen, es unterscheidet die Überzeugung, die einer haben oder nicht haben kann, vom Gang des Verfahrens, den jeder jedenfalls zu beach­ ten hat. Durch die interne Unterscheidung zwischen tatsächlicher Wahrheit – Wer war es, was ist geschehen? – und der davon abgetrennten leitsatzorientierten Mei­ nung – Was ist damit für zukünftige Fälle gemeint? – wird eine weitere binäre Tei­ lung eingeführt, die ebenfalls verdeckt, was operativ geschieht. Denn das Zeichen erhält diese zwei Seiten nur in Bezug auf und mithilfe von etwas Drittem, das nicht direkt zugänglich gemacht wird und der semiotischen Operation nach auch nicht zu­ gänglich gemacht werden kann. Man müsste wissen, was denn als Meinung im Un­ terschied zur Tatsache gelten soll und wäre dann in einer philosophischen Grund­ satzkontroverse. Diese Gefahr wird verfahrensmäßig vermieden, denn als Tatsache gilt, was dem Beweis zugänglich ist, also von Zeugen erfragt, durch Sachverstän­ dige bestätigt oder widerlegt und in Urkunden nachzulesen ist. Worüber die Juris­ ten dann trotzdem noch streiten, was sie für „vertretbar“, für „allgemeine Recht­ sprechung“ oder „abwegig“ halten, ist das Feld der Meinungen. Mit Meinungen bleibt man im Juristenzirkel, mit Tatsachen kann man das Verfahren an die wirk­ liche Welt ankoppeln. An der Wirklichkeit soll eine Begründung scheitern können. Hinter Ausdrucksweisen, mit denen man Recht bezeichnet, und vor Eindrücke, die es bezeichnen soll, schiebt sich die Wirklichkeit als eine nicht ganz greifbare, aber immer mit gemeinte Kategorie. Recht ist nicht nur, was man sich darunter vorstellt, weil die Vorstellung sich auf etwas beziehen und das Gute, das rechtlich Gesollte, meinen muss. Ein Rechtsverfahren, dem sich mit wirklichen Aussagen und realen Beobachtungen keine andere Richtung und kein anderes Ergebnis mehr abgewin­ nen lässt, das also nicht auch scheitern kann, würde nur noch auf ein feststehendes Ergebnis zusteuern. Solche Prozesse gibt es, aber sie sind totalitärer Art und leugnen die Welt. Zum Verfahren gehört die Gefährlichkeit des Vielleicht. Vielleicht ist es falsch, was ich behaupte (auch wenn ich das im Moment der Behauptung nicht gleichzeitig hervor­ heben und sagen kann). Ein Gegenbeweis, ein Gegenteil des Werts: Sie sind im­ mer möglich. Es geht im Recht um beides: um einfache, praktische Eingriffe, auch um Zwang und um Hilfe, um komplizierte metaphysische Überhöhungen wie auch um Verzögerungen, Schleifen oder Schwierigkeiten. In diesem Sinne ist Recht „un­ praktisch“, oder anders: Seine Praxis besteht gerade darin, „Sand ins Getriebe zu streuen“ und lästig zu fallen, wo den meisten schon alles klar ist. Mit diesem Gegen­ einander kann zunächst einmal der Selbstlauf einer Begründung unterbrochen wer­ den. Wenn man die Untersuchungen zum Aufbau sozialer Systeme berücksichtigt,68 68 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, 311.

4. Symbol und Gesetz

79

dann lässt sich adäquate Komplexität auch gar nicht herstellen, indem man recht­ lich an soziale Problemlagen anschlösse und Entsprechungsverhältnisse herstellte. Stattdessen wird ein anderer Weg gefunden, der mit einfachen Mitteln eine andere Art von Sinn produziert. Das Ding, das für sich genommen immer auch ein Zeichen ist und etwas bedeutet, erlangt diese Bedeutung durch ein Gedankenverhältnis zu Interpretanten, die es zur Analyse des Zeichenverhältnisses an den Tisch ruft, und verwandelt sich damit flugs selbst auch in Zeichen, womit – wie Peirce lehrte – der Zeichenprozess erst richtig in Gang kommt. Er wird symbolisch und braucht dazu immer etwas Drittes. 4. Symbol und Gesetz Ikons und Indices sind an ein Objekt gebunden. Das Ikon verschwindet als Zeichenrelation mit dem Objekt, während der Index am Objekt gewissermaßen haftet und vorhanden ist, auch wenn ihn niemand interpretiert. Der Wetterhahn (den Peirce über viele Jahre gerne als Beispiel nennt69) dreht sich auch nach dem Wind, wenn es niemanden interessiert. Diese unmittelbare Objektbindung wird auf der dritten, vollständig entwickelten Stufe der Objektrelationen überwunden. Mit Symbolen ist man in der Lage, im (Zeichen-)Mittel variabel zu operieren. Das heißt nicht, dass dingliche Wirklichkeit keine Rolle mehr spielte. Das Objekt wird über jedes Zeichenmittel zum Gegenstand interpretatorischer Einsicht. Etwas auf etwas anderes zu beziehen gelingt eben nur über ein interpretierendes Drittes, den Interpretanten, und im Symbol wird ein Objekt dadurch dargestellt, „dass es dieses Objekt durch den Interpretanten darstellt, den es bestimmt.“70 Mit Peirce muss man davon ausgehen, dass sprachliches Handeln notwendig symbolisch ist und man nicht einen mehr oder weniger symbolischen Sprachgebrauch vorfindet, sondern sich stattdessen nur fragen kann, inwiefern es Vorformen oder Degene­ rationen des Symbolischen gibt, weil Objekte im Handeln und damit auch in der Kommunikation nicht immer nur eine interpretierte Rolle spielen. Es ist prinzi­ piell unklar, was ein Ding mitteilt, aber gehandelt (entschieden) wird trotzdem, und zwar in einer degenerierten Form der Drittheit. Legizeichen müssen nicht symbolisch, sie können auch indexikalisch oder ikonisch verwendet werden. Nur gilt dem argumentisch-symbolischen Legizeichen, das in allen drei Kategorien Drittheit repräsentiert, die größte Wertschätzung. In dieser Zeichenklasse gibt es – so lautet ein Hauptsatz der modernen Semio­ tik – keine natürliche, sondern nur eine konventionelle Beziehung zwischen Be­ zeichnendem und Denotat, der Signifikant kann auf jedes Objekt bezogen werden. Das setzt Konventionen in Kraft und macht in gleichem Maße auch Kreationen möglich. Symbole gibt es nicht, man schafft sie. Symbolisches Handeln beruht auf 69 Peirce, Die Kunst des Räsonierens (1893, in: Fn. I. 6, Bd.  2), 198; ders., Kurze Logik (1895, Fn. I. 6, Bd. 2), 206; ders., Phänomen und Logik der Zeichen (1903, Fn. I. 12), 132. 70 Peirce (Fn. II. 31), 430.

80

II. Drei Arten der Objektrelation

einer pragmatischen Entscheidung, die Umberto Eco in die Maxime verlegt: „Ich will diesen Text symbolisch interpretieren.“71 In der Peirce-Nachfolge findet man in dem Satz von Charles W. Morris eine eher behavioristisch ausgedrückte Ent­ sprechung: „Ein Symbol ist irgendein gegebener oder erfahrener stellvertretender Reiz, der zu einer Wiedereinsetzung des Ursprungsreizes in einer Form führt, die nur von einer selbst-inklusiven Ansicht aus beobachtbar ist.“72 Symbolische Zei­ chen tragen die mit ihnen möglichen Effekte nicht vor sich her. Eco sieht sie von einem „Inhaltsnebel“ umgeben,73 der es möglich mache, mit einem Rad an der Tür auf alles Mögliche zu verweisen. Symbole sind der ausgedrückten Form unähn­ lich, so dass ein Rad auf den Handwerker, auf ein Restaurant oder auch auf den Philosophen für die Proklamation der ewigen Wiederkehr des Seienden verweisen kann. Nur durch Ikons und Indices wird Ähnlichkeit (likeness) mitgeteilt, und in dem Moment, wo das jemand sagt, fällt heutzutage Magrittes Bild von der Pfeife ein, wie es Michel Foucault interpretiert hat: Ceci n’est pas une pipe.74 Das Ähn­ liche ist eigentlich überhaupt nicht ähnlich, das Bild von der Pfeife hat mit einer Pfeife rein gar nichts zu tun und kann überhaupt nicht so ähnlich benutzt werden. Aber dicentisch setzt sich die Zeichenpraxis über diese Theorie hinweg. Die rau­ chende Zigarette zeigt heutzutage allen, was mit Worten nicht mehr ausgedrückt werden muss. Sie ist ein Index, und Indices haben eine Entsprechungsrelation zum Objekt, während Ikons es zeigen. Dagegen ist ein Symbol ein Repräsentamen, dessen repräsentativer Charakter in der Eigenschaft einer Regel besteht, die ihren Interpretanten bestimmt. Weniger abstrakt erklärt Peirce das mit der Frage des Kindes: „Was ist ein Ballon?“ und der Antwort: „Ein Ballon ist wie eine große Sei­ fenblase.“ Damit werde – so Peirce75 – das Bild schon zum Symbol, das etwas Be­ stimmtes bezeichne und es gleichzeitig als Element einem angenommenen, selbst gemachten Vergleich zuschreibe. Auf der Ebene symbolischer Zeichen schließen nur noch Zeichen an andere Zeichen in der von ihnen bezeichneten Weise an. Auch Objekte nehmen Zeichenform an, weil sie Gegenstand des Interpretanten sind. Das ist eine späte Kulturleistung, denn mit der symbolischen Interpretantenbewegung verschwindet die Referenz aus der Semiotik des Bezeichnens. Nicht mehr ist „Dies ist eine Rose“ die fundamentale Zeichenhandlung, sondern Gertrude Steins viel­ zitierte vielfältig abgewandelte Tautologie: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Wenn solche Selbstbezüglichkeiten möglich sind, dann wandelt sich dementspre­ chend auch das Verständnis für symbolische Bedeutung. Hat man sich früher eine repräsentative Art des Bedeutens vorgestellt, in der das sprachliche Zeichen der Bedeutung selbst nahekommt, ihm ähnelt oder in ihm sogar selbst teilweise ent­ 71

Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, 240. Charles William Morris, Das Symbolkonzept (1927), in: ders., Zeichen – Wert – Ästhetik, Frankfurt a. M. 1975, 89 f.; auch Charles W. Morris, Symbolik und Realität, Frankfurt a. M. 1981, 43. 73 Eco (Fn. II. 71), 239. 74 Michel Foucault, Ceci n’est pas une pipe, Paris 1973, über die sieben Siegel der Bejahung (affirmation): 59–76. 75 Charles S. Peirce, Sundry Logical Conceptions, in: (Fn. I. 18, Vol. 2), 318 f. 72

4. Symbol und Gesetz

81

halten ist, so bleibt die symbolische Bedeutung in der postmodernen Einstellung an das Bedeutende nur noch dadurch gebunden, dass ein Rezipient sie darauf be­ zieht.76 Noch einmal mit Eco gesagt: Er will diesen Text symbolisch interpretieren! Wenn man mit diesem Vorsatz handelt, kann man alles zum Symbol machen, eine Gerichtsentscheidung ebenso wie das ganze Gericht, einen Normsatz ebenso wie das ganze Gesetz. Klaus F. Röhl hat im Kontext der Rechtssoziologie einen Überblick über Staats- wie Rechtssymbole gegeben.77 Daran lassen sich semioti­ sche Beobachtungen anschließen. Zum (symbolischen) Legizeichen freiheitlicher Persönlichkeitsrechtsprechung ist die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts geworden, nachdem sich die folgende Rechtsprechung darauf bezogen hat. Zum Symbol eines freiheitlichen Staates ist das Bundesverfassungsgericht ge­ worden und zum Symbol eines freiheitlichen Gesetzes das Grundgesetz, obwohl es mangels (Gesamt-)Staat gar keine dauerhafte Verfassung sein sollte. Dennoch war das Grundgesetz immer etwas anderes als ein Gesetz und ist als Ober-Gesetz doch zur Verfassung geworden, hat aufgrund seiner symbolischen Bedeutung so­ gar den für den Fall der Wiedervereinigung vorgesehenen Art. 146 GG verdrängt. Diese Beispiele könnten zu dem Schluss verleiten, dass Symbolwerdung der eigentliche Zweck des Rechtszeichens sei, dessen jeweils letzte Bedeutung, we­ nigstens für eine Zeit lang. Aber das täuscht. Symbolisches Recht hat keinen guten Ruf. Das Recht, über das Stanley Fish getitelt hat, es wolle formal sein,78 soll vor allem effektiv sein. Symbolisches Handeln in Rechtsinstitutionen gehört eher zu den schimpflichen Beschreibungen, als dass es Befriedigung auslöste. Dabei gelten für die Rechtsprechung, Verwaltung oder Gesetzgebung unter­ schiedliche Maßstäbe. Am ehesten darf man Symbolik im Sinne entwickelter Drittheit für die Rechtsprechung in Anspruch nehmen, obwohl Gerichte in der Regel Einzelfälle entscheiden sollen und wollen und obiter dicta meiden. Nur für scheinbar zweifelsfreie Ergebnisse bezieht man sich auf eine „ganz herrschende“ oder eine ständige Rechtsprechung (des Senats/der Kammer), deren Regelbestand­ teile oft nicht erörtert werden. Eine Ausnahme macht in dieser Richtung das Bun­ desverfassungsgericht, das allerdings der Fachgerichtsbarkeit auch nicht zuzuord­ nen ist, sondern sie überdenkt, überprüft oder überwölbt – wie metaphorisch auch immer man das Verhältnis einschätzen will. Politische Funktion wird dem Bundes­ verfassungsgericht zugeschrieben, und in seiner Geschichte ist es mehr als einmal vorgekommen, dass der parlamentarische oder forensische Verlierer mit einer Ver­ fassungsbeschwerde vorstellig geworden ist – nicht selten erfolgreich. Eine Reihe solcher Verfassungsgerichtsurteile haben heute symbolische Bedeutung. Der Er­ 76

Charles S. Peirce, On a New List of Categories, in: (Fn. I. 18 Vol. 1), 7f (dt.: Fn. I. 6, 155). Klaus F. Röhl, Die Macht der Symbole, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hrsg.): Wie wirkt Recht? Ausgewählte Beiträge zum ersten gemeinsamen Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen an der Universität Luzern, 4.–6. Sep­ tember 2008, Baden-Baden 2010, 267–299. 78 Stanley Fish, Das Recht möchte formal sein. Essays, hrsg. u. eingel. v. Heinz Bude/Michael Dellwig, Frankfurt a. M. 2010. 77

82

II. Drei Arten der Objektrelation

folg des hamburgischen Senatsdirektors Erich Lüth (1957) ist – wenngleich Ein­ zelfall – zum Symbol für den Einfluss der grundlegenden Verfassungsartikel auf normalgesetzliche Entscheidungen geworden (sogenannte „Drittwirkung“).79 Das Mitbestimmungsurteil (1979)80 ist zum Symbol für Probierspielräume des Gesetz­ gebers geworden,81 und die Besteuerungsentscheidung zur Erbschaftssteuer (1995) ist zum Symbol für die Belastungsgrenzen geworden, die durch gesetz­geberische Entscheidung den Privatvermögen zugestanden werden müssen.82 Symbolik in der Rechtsprechung gibt es, aber sie bleibt eine Ausnahme. Symbolik in der politischen Entscheidung einer Verwaltung kommt – fast könnte man sagen: – regelmäßig vor, ist aber nach landläufigem Verständnis ein deutliches Negativmerkmal. Sie wird mehr dem politischen als dem Rechtssystem zugeschrie­ ben. Was als „Symbolpolitik“ gilt, ist das Gegenteil des Gewünschten und Erwarte­ ten. Exekutives Symbolhandeln tritt nach der Diagnose eines politischen Soziologen wie Murray Edelman an die Stelle einer notwendigen Maßnahme – indexikalischer Art, müsste man semiotisch ergänzen. Symbolisch wird nicht das dem Zweck Ent­ sprechende getan, sondern nur etwas, das so scheint, als ob es den Zweck erreichte. Es war Murray Edelman, der symbolische Rituale in der Politik als Ersatz für rationale Zweckorientierung gebrandmarkt hat. Wenn die Umsetzungsmacht der Politik versagt, schöpft sie aus symbolischen Praktiken, mit denen man so tun kann, als ob man verfolge, was man zu verfolgen vorgibt. Dafür benutzt werden insbe­ sondere Verweisungs- und Verdichtungssymbole, die bei hoher semantischer Auf­ ladung pragmatisch offenlassen, was man aus dem Symbolvorrat wie umsetzt. Mit Verweisungssymbolen werden Elemente aus einer Situation isoliert und für das Ganze gesetzt. Arbeitsunfallstatistiken und Rüstungsaufträge nennt Edelman als Beispiel,83 für Kriminalitätsfelder könnte man auf die polizeiliche Kriminalstatis­ tik oder Inventurfehlbestände verweisen. Mit ihnen wird die Erfassung einer an sich komplexen Situation erleichtert, und man erhält scheinbar leicht zugängliche Ant­ worten auf alltägliche Fragen der Art: Ist es auf den Straßen noch sicher? Ist Laden­ diebstahl eigentlich schädlich? Durch die Statistik hindurch kann man sehen, was geschieht, ob etwa die Deliktshäufigkeit steigt oder die Sanktionswahrscheinlich­ keit sinkt. Mit der kriminalistischen Kategorie der „Dunkelziffer“ hat man sym­ bolisch herausgerechnet, welche Fälle sich – entgegen dem wünschenswerten und regel­mäßigen Sanktionsverlauf – der Reaktion und Sanktion entziehen. Die Dun­ kelziffer erhellt die Norm. Ist sie niedrig, war die Ermittlungsarbeit erfolgreich oder die Normtreue hoch. Jedenfalls ist alles in Ordnung. Wenn es nicht in Ordnung ist 79

BVerfGE 7, 198. BVerfGE 50, 290. 81 Rudolf Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, in: Peer Zumbansen/Marc Amstutz (Hrsg.), Recht in Recht-Fertigungen. Ausgewählte Schriften von Rudolf Wiethölter, Berlin 2014, 423–446 (438). 82 BVerfGE 93, 121. 83 Murray Edelman, Politik als Ritual, Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns (1964), Frankfurt a. M. 1976, 5. 80

4. Symbol und Gesetz

83

und die Dunkelziffer steigt, kann das vieles bedeuten. Meist ertönt der Ruf nach mehr Polizei, schnelleren Verfahren und höheren Strafen. Aktuelle Strafrechtspoli­ tik orientiert sich an solchen Verweisungssymbolen der Normbefolgung. Die kriminologischen Einwände gegen eine solche Argumentation sind be­ kannt, lassen sie aber auch nicht verstummen. Lagerfehlbestände gelten nun ein­ mal als Diebstahlsfolge, der Anstieg von Diebstahlsanzeigen oder das Absinken der Aufklärungsquote gelten als bedenkliche Symbole ansteigender Alltagskri­ minalität. Noch viel mehr Gefühl wird mit Verdichtungssymbolen erzeugt. Sie wecken – wie Edelman hervorhebt – alle Emotionen, die mit einer Situation ver­ knüpft sein können, Patriotismus, Angst, den Glanz vergangener Zeiten oder die Aussicht auf künftige Größe. Vor allem brandmarkt Edelman, dass sich die sym­ bolisch erzeugten Gefühle durch Realitätsbeobachtung nicht mehr verändern las­ sen, sie vielmehr ersetzen. So werde Gleichbehandlung der Rassen mit dem Frei­ heits- und Gleichheitstopos befördert, mit der Rede von „gottgewollter Ordnung“ umgekehrt behindert, und beide Verdichtungssymbole wirken nach Edelman in vergleich­barer Weise:84 Sie verhindern das Hinsehen, die Beschäftigung mit dem Fall. Stattdessen wird mit symbolischem Pathos darauf verwiesen, dass ein Pro­ blemzusammenhang politisch berücksichtigt würde, obwohl nicht mehr geschieht, als dass Sprache gebraucht wird. Mit Verdichtungssymbolen lässt sich politisch komfortabel arbeiten. Sie ersetzen durch den Symbolgebrauch, was ansonsten mit hohen Kosten in mehreren Aktionen handlungsmäßig umgesetzt werden müsste. Dieser zweifelhafte Charakter des Surrogats hat Eingang gefunden in die Straf­ rechtspolitik. Hassemer hat dem Strafrecht zwar eine latente, nicht ganz auszu­ schaltende symbolische Qualität zuerkannt, aber darüber hinaus auch den schäd­ lichen Ersatzcharakter symbolischer Strafrechtspolitik hervorgehoben.85 Im Bereich der Legislative hat die Kritik an symbolischer Gesetzgebung seit­ Peter Nolls ersten Etikettierungen notorische Bedeutung. Es gebe Gesetze  – so war Nolls These –, „die von vornherein gar nicht darauf angelegt sind, faktisch wirksam zu werden“.86 Wie schon das Beispiel mit der Kriminalstatistik zeigt, ist das Strafrecht besonders anfällig für eine Gesetzgebung, deren praktischer Nutzen von Anfang an zweifelhaft erscheint und in vielen Fällen niemals eintritt. Gesetze zur Reform des Sexualstrafrechts, des Umweltstrafrechts, des Wirtschaftsstraf­ rechts oder des Strafverfahrensrechts gelten als in schlechtem Sinne symbolisch, wenn aus ihnen nichts anderes folgt als der Erlass des Gesetzes selbst. Die Kri­ tiker unterscheiden programmatisch die eigentlich notwendige „instrumentelle“ oder indexikalische Gesetzgebung von bloß symbolischer.87 Es ist von Anfang an 84

Edelman (Fn. II. 83), 76. Winfried Hassemer, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz, NStZ 1989, 553–559. 86 Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, 157. 87 Niklas Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung im Lichte der positiven Gene­ ralprävention. Eine Untersuchung am Beispiel des ‚Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschrif­ ten‘ vom 27. Dezember 2003, Berlin 2007, 44. 85

84

II. Drei Arten der Objektrelation

unklar, ob eine besondere Strafvorschrift gegen erpresserischen Menschenraub (§ 239 a StGB) mehr oder anderes bewirkt als die Straftatbestände zum Schutz vor Erpressung, Entführung und Freiheitsberaubung, die schon vor deren Erlass vor­ handen waren. Jedenfalls signalisiert der neu geschaffene Tatbestand, dass der Ge­ setzgeber etwas gegen die verbrecherische Praxis der Geiselnahme tun will, das nichts kostet und für alle lesbar ist – als symbolischer Tatbestand eben. Dabei ist der erhebliche Strafrahmen (nicht unter 5 Jahren) in § 239 a Abs. 2 sogleich wie­ der durch die Möglichkeit eines minderschweren Falls relativiert. Aber die symbo­ lische Gesetzgebung beschränkt sich keineswegs auf Straftatbestände. Das Miet­ recht ist ein ähnlicher Komplex, in dem Mieterschutz, preiswerter Wohnraum oder je nachdem Wohnungsbauförderung symbolisch dargestellt werden können, ohne dass Bauherren, Mieter oder  – noch schwieriger für die Gesetzgebung erreich­ bar – Wohnungssuchende davon profitieren können. In der Umweltgesetzgebung hat Jens Newig den angeblichen Klimaschutz im Ozongesetz oder das Abfallver­ meidungsgebot im KrW-/AbfG als Musterbeispiele für symbolische Gesetzgebung bezeichnet.88 Die Interpretanten des symbolischen Rechts lassen sich selbst nur in Sprachzeichen wiedergeben, und das stellt man sich nicht als Zweck des Rechts vor. Recht soll indexikalisch wirken, es soll von außen auf die Erstheit der Zei­ chenbildung in einer Art Einfluss nehmen können, die man glaubt, vorhersehen zu können. Von den „Stellschrauben“ eines Gesetzes ist gelegentlich die Rede, und diese Rede macht deutlich, dass Bürger wie Politiker die Sprachzeichen, die jeder Tatbestand nur enthalten kann, gern mechanisch verstehen. Notorisch ver­ kannt wird, dass jedes Gesetz Nebenwirkungen hat und sich in vielen Fällen die eigentliche Wirkung ganz anders als gedacht darstellt. Um beim Mieterschutz zu bleiben: Die Praxis des Kündigungsschutzes hat dazu geführt, dass sich Mieter als Wohnungsinhaber ihren Mieterschutz nicht ganz selten abkaufen lassen und ein Wirtschaftsobjekt daraus machen, wenn sie sich freundlicherweise bereit erklä­ ren, eine Wohnung aufzugeben. Äußerlich lässt sich die Kündigung auch durch eine Vertragsübernahme umgehen mit der wirtschaftlichen Folge, dass preiswerte Wohnungen in Ballungsräumen auch als Mietobjekte unter der Hand gehandelt werden und ein Markt, der Wahlmöglichkeiten böte, nicht existiert. Außerdem bewegen sich die Zweckkonzepte, mit denen „bloße“ Symbole at­ tackiert werden, regelmäßig in kleinen Zeiträumen und alltäglich überblickbaren Zusammenhängen. Über die Jahrhunderte und im Kulturwandel stehen Symbol­ gehalt und Gesetzesinhalt in anderer Beziehung als ursprünglich gedacht, so dass die Interpretantenbewegung, die stattfindet, sich nur dem Rechtshistoriker zeigt. So wurde auf einer frühen Stufe gesellschaftlicher Entwicklung eine Art des Be­ strafens praktiziert, in der die Strafe selbst dem Delikt nahekommen, ihm ähneln oder in ihm sogar selbst enthalten sein musste. Im Talionsrecht sollte dem Dieb die (stehlende) Hand abgehackt werden, der Mörder – das beschäftigt das straf­ 88 Jens Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung. Rechtssoziologische Untersuchungen am Beispiel des Ozongesetzes, des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sowie der Groß­ feuerungsanlagenverordnung, Berlin 2003, 149–206, 227–258.

4. Symbol und Gesetz

85

rechtliche Sanktionensystem bis heute – sollte selbst getötet werden. Körper- und Leibesstrafen sind inzwischen aus dem Sanktionenkatalog des modernen Straf­ rechts verschwunden. Stattdessen erhält eine Strafe symbolische Bedeutung in der Weise, dass Dritte sie auf die Tat beziehen. Mit der symbolischen Strafe hat eine für das moderne Strafrecht eigentümliche Form der Distanz eingesetzt. Strafaus­ spruch und Strafvollzug sind seit Einführung von Bewährungsaussprüchen aus­ einandergetreten, obwohl es für viele Zeitgenossen noch heute verwunderlich er­ scheint, wenn der Angeklagte, der zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, nach Hause und nicht ins Gefängnis geht. Der Strafausspruch kann sich nach Vereinbarung auf jede Sanktionsfolge richten; es gibt – lautet ein Haupt­ satz des modernen Strafrechts  – keine gesetzlich zwingende, sondern nur eine konventionell angemessene Beziehung zwischen Tatbestandswidrigkeit und Straf­ folge, und jede Sanktion kann prinzipiell auf jedes Verhalten bezogen werden. Das setzt Strafgesetze voraus, die wie heute in allen Fällen (nur noch) Strafrahmen ent­ halten, macht aber in gleichem Maße auch den kreativen Umgang mit Rechtsfol­ gen möglich. Es schließen sich immer nur Verfahrensfolgen an Verfahrensaus­ sprüche an. Mit dieser Verfahrensbindung verschwinden ursprüngliche Täter- wie Opferfiguren aus dem Strafrecht. Die Zeichen der Strafe bleiben zeichengebun­ den, sie sind Ausdruck von Einträgen im Zentralregister, können aber die Einheit von Rechtsbruch und Wiederherstellung des Rechts nicht mehr ikonisch bezeich­ nen. Das wird schon durch eine historische Verfassungsbestimmung verhindert, die dem Strafrecht seinen finalen Zweck genommen hat, nämlich Art.  102 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der schlicht feststellt: Die Todes­ strafe ist abgeschafft. Symbolik vermittelte der Vollzug der Todesstrafe damals schon lange nicht mehr, aber er erschien manchen zweckmäßig. Mit seiner Ab­ schaffung wurde der Schritt zu einem zeichenorientierten, reflexiven Konzept des Selbstzwecks öffentlich. Die Rate der Nichtbefolgung einer Norm kann von einer gewissen Größe an Realisten an ihrer Legitimität zweifeln lassen. Das war von Anfang an eine These Theodor Geigers, der sich für die faktische Normgeltung interessiert und eine For­ mel vorgestellt hat, mit der sich eine Wirkungschance messen ließe.89 Wenn regel­ mäßig und in großem Umfang tatsächlich abgetrieben wird, obwohl Abtreibung strafgesetzlich als Verbrechen eingestuft wird, sind Zweifel an der Normgeltung erlaubt. Sie haben im konkreten Fall der Abtreibung 1974 dazu geführt, dass diese in der damaligen Bundesrepublik Deutschland unter den Kautelen einer „Fris­ tenlösung“ jedenfalls weitgehend straflos gestellt worden ist. Diese Gesetzesän­ derung gibt gleichzeitig ein anschauliches Beispiel dafür, wie sehr die Gesetzge­ bungspolitik den Symbolgehalt einer Norm unterschätzen kann. Von Anfang an war die Fristenlösung Gegenstand politischen Kampfs, und Abgeordnete der da­ maligen CDU-Fraktion im deutschen Bundestag wie CDU-regierte Länder mit Baden-Württemberg an der Spitze haben gegen die vermeintlich gut begründete 89 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1947), Neuwied/Berlin 1964, 66–101.

86

II. Drei Arten der Objektrelation

Gesetzesänderung Front gemacht. Die mehrheitliche Nichtbefolgung der Norm hat strafrechtlich keineswegs zu deren Illegitimität geführt. Vielmehr hat das Bun­ desverfassungsgericht schon ein Jahr später aufgrund einer abstrakten Normen­ kontrollklage symbolische Kernsätze formuliert, nämlich: „Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegen­ über der Mutter“ und: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungs­ recht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist infrage gestellt werden.“90 Beide Sätze sagen etwas über Symbolizität aus. Symbolische Rechts­ sprache greift nach den höchsten Rechtsgütern, die da lauten: Lebensschutz, Schutzpflicht und Rangverhältnis. Wer auf Symbole zugreifen will, hält sich nicht mit den Niederungen des Rechtsalltags auf, beschäftigt sich auch nur wegwerfend mit Praktiken der Normmissachtung. Das Bundesverfassungsgericht bemüht (un­ ter lit. D II. 2 a) der Entscheidung) nebeneinander „Wesen“ und „Funktion“ des Strafrechts, um gegen das Argument der Dunkelziffer die „Fernwirkung einer Strafnorm, die in ihrem prinzipiellen normativen Inhalt (‚die Abtreibung ist straf­ bar‘) nunmehr seit sehr langer Zeit besteht“, stark zu machen. Symbolische Rechts­ anwendung hält sich mit Einzelheiten ihrer praktischen Wirkungen nicht auf und lässt sich davon auch nicht beeindrucken. Stattdessen wird umgekehrt die Ideali­ tät einer schon „sehr lange“ bestehenden Norm beschworen. Um die Idealität der Norm gegen die Realität ihrer Missachtung zu stärken, muss eine Wertehierarchie hergestellt werden mit einem Rangverhältnis und der – wenn erst einmal der erste Rang einer Pflicht festgestellt ist  – dann selbstverständlichen „Schutzpflicht“. Symbolisches Strafrecht bedarf  – in allgemeiner Betrachtung  – einer idealisti­ schen Aufladung des Norminterpretanten. Ist sie erfolgt, braucht man sich um die Nichtbefolgung der gleichen Norm keine Gedanken mehr zu machen. Ikon, Index und Symbol sind Indices einer Entwicklung des Rechtszeichens. Vom unmittelbar zuhandenen Ding führt ein Weg über die zuordnende Einteilung der Welt bis zur wiederkehrenden Formation eines Gesetzes. Aber der Weg führt auch wieder zurück. Bei Peirce heißt dieser Rückweg „Degeneration“. Über ein Gesetz kann man so reden, als sei es ein Index (und viele – insbesondere außerhalb der Profession – tun das), und einen Index kann man so behandeln, als sei er die Sache selbst (wie der Grundbucheintrag). Im Gesetz liegt also nicht etwa die Erlö­ sung vom Dingglauben und die Emanzipation vom Gegenstand. Es wird selbst ein Ding – je nachdem, wie man es sieht. Auf diese Sicht kommt es an. Wenn man auf sie achtet, steht nicht mehr das Objekt im Vordergrund, sondern der diese Objekte antreibende und bearbeitende Prozess. Vor anderem Hintergrund würde man vom „Subjekt“ reden, aber da Subjekte bereits eine weitgehend in Objektzusammen­ hängen prozessierte Systemform haben, unterbleibt das hier. Das eigentlich Sub­ jektive am Subjekt ist der interne Gesichtspunkt, der vom Ikon über den Index zum Symbol und wieder zurück führt. Ihm muss man sich widmen. 90

BVerfGE 39, 1.

III. Der interne Gesichtspunkt Das Schöne am Recht soll ja sein, dass es meistens befolgt wird – ohne Justiz und Verfahren. Jeder fragt sich selbst, was zu tun sei, und kommt dabei von allein auf Regeln des Rechts. Diese These von Herbert L. A. Hart gehört zum Grund­ bestand der Rechtslehre und ist von vielen, zuletzt von Cornelia Vismann bezwei­ felt worden.1 Es könnte sein, dass die Leute immer öfter auf das Recht pfeifen und die akademische Rechtslehre das geflissentlich übersieht. Jedenfalls hat das äußere Recht – nicht nur jenes in der propositionalen Zweitheit (Kap. II. 3.), auch das symbolisch argumentierende Recht – weder das erste noch das letzte Wort. Am Anfang wie im Ergebnis kommt es darauf an, wie die Leute handeln und wie sich Recht intern darstellt. Da ist die Erstheit, die am Anfang steht, und die Erst­ heit, in die jeder ein symbolisches Argument für sich selbst übersetzt. Bei Hart heißt das Ganze internal aspect of rules.2 Für die Selbstbefragung hat Kant die Fragen nach dem kategorischen Imperativ empfohlen und dafür zu Situationsana­ lyse und Maximenbildung aufgefordert (1.). Nun ist die kantische Analyse in den zweihundert Jahren, in denen man sich mit ihr beschäftigt hat, radikalisiert wor­ den, insbesondere in Hinblick auf die persönlichen Absichten, die in sie einflie­ ßen, und die Ehrlichkeit, mit der man sie eingesteht. Nach Kant ist die Freudsche Analyse das Verfahren geworden, interne Gesichtspunkte als Problem für sich zu entdecken (2.). Wenn Analyse jedoch zu aufwändig oder ergebnislos erscheint, tre­ ten allerlei Spinoza-Effekte auf (3.), deren Zeichenwert selten erkannt wird. Af­ fekte, Geschmack und Immanenz sind die ikonischen Zeichenqualitäten, die alle symbolischen Verallgemeinerungen infrage stellen und Spinoza, Nietzsche und Deleuze sind die Autoren dazu. 1. Die individuelle Akzeptanz Personen, die sich als Selbst verstehen (sonst wären sie keine „Person“), sind zeichentheoretisch in einer Objektrolle wie alle anderen Zeichenphänomene auch. Sie werden sich selbst zum Objekt, und es gibt auch die Redeweise, man müsse objektivieren, um seine eigene Rolle in der Welt zu verstehen. Das geschieht über Gesetze und Gefühle, um die beiden für eine Rechtskonkretisierung wesentlichen Kategorien zu nennen. Anerkannt ist dabei nur das Gesetz. Man hält es recht­ lich für richtig, dass nur und ausschließlich das Gesetz das Handeln der dem Ge­ setz „Unterworfenen“ bestimmen solle. Offen bleibt dabei, wie sich das Gesetz zu 1

Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht, Berlin 2012, 7. Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford 1994, 56.

2

88

III. Der interne Gesichtspunkt

den Rechten verhält, wie sie Einzelne – klassisch: Rechtssubjekte – für sich rekla­ mieren. Das Verhältnis zwischen Rechten, die einer beansprucht, und der objekti­ ven Rechtsordnung ist klärungsbedürftig. Christoph Menke geht davon aus, dass „die Rechte“ eine ganz andere Wirkung haben, als es „das Recht“, das als Ord­ nung und Ausgleich gedacht wird, vermuten lässt.3 Ob eine Rechtsregel – wenn man sie erst einmal entdeckt und verstanden hat – individuell akzeptiert und aner­ kannt oder gar als Handlungsregel praktiziert wird, muss man erst noch sehen. Der individuelle Umgang mit dem allgemeinen Gesetz ist für die Rechtslehre wichtig. Dafür beginne ich mit [a)] der Frage nach den persönlichen Regeln oder Geset­ zen. Antworten findet man nur individuell mit einem Modell des Imperativs kan­ tischer Prägung [b)]. Für dessen Konkretisierung stelle ich eine persönliche Ana­ lyse für alltägliche Entscheidungssituationen vor, deren Formen Kant entlehnt sind [c)]. Am Anfang des individuellen Umgangs mit dem Allgemeinen stehen Objekte. Von außen wirkt etwas auf jemanden, und das heißt wie immer, dass Objekt-Zei­ chen auf Selbst-Zeichen wirken, und zwar mit Zeichenmitteln. Objekt-Zeichen kann das Gesetz sein. Die Worte des Gesetzes wirken objektiv und unveränderlich, jedenfalls solange keine anderen Worte an dieselbe Stelle gesetzt werden. Demge­ genüber sind persönliche Zeichen des Selbst niemals unveränderlich, sie sind auch selten formuliert und müssen sich der Konkurrenz mit dem staatlich Gesollten, dem Geltenden stellen. Das macht es erforderlich, sich selbst einen Begriff vom Gesetz zu verschaffen und ohne äußere Textzeichen zu überlegen, was man tun will. Mit dieser Innenseite des Zeichens beginnt die Moderne. Den dafür notwen­ digen individuellen Forschungsprozess hat Peirce unter den Titel g­ estellt: a) Festlegung einer Überzeugung „The Fixation of Belief“ ist der Titel eines 1877, also von Peirce zu Lebzeiten in „Popular Science Monthly“ veröffentlichten Aufsatzes.4 Peirce macht in einer popu­ lären Artikelserie – als nächster Beitrag folgte „How to Make Our Ideas Clear“, und zwei weitere hätten noch folgen sollen – deutlich, dass Zweifel von außen er­ ­ üssen. Man ist zeugt werden und im internen Zeichensystem verarbeitet werden m der Meinung, etwas sei so und nicht anders, und hört doch, dass andere es anders sehen. Dann kann man festhalten an dem, was man glaubt, es ausarbei­ten und ver­ feinern. Tenacity nennt Peirce ein erstes Verfahren der Festlegung, das in queru­ latorischen Starrsinn münden kann, und meint deshalb, es entspreche nicht den sozialen Antrieben der Menschen. Man kann aber auch der originären Zweitheit fol­ gen und Autoritäten befragen und zitieren einschließlich einer inspiration from on 3

Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, 369–373. Charles S. Peirce, The Fixation of Belief (1877), in: (Fn. II. 76, Vol. 1), 107–123; dt.: Die Festigung der Überzeugung, in: ders, Schriften I, hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 1967, 293–325. 4

1. Die individuelle Akzeptanz

89

high.5 Alles was dabei herauskommt, erweist sich – wie Peirce vorhersagt – als an­ fechtbar, nicht selten grausam und wenig verlässlich. Abstimmung und Konsens mit anderen hilft, eine Suche sozial verträglich zu machen. Das ist viel, es reicht aber nicht aus, weil – wie Peirce findet – jedes Konsensverfahren eher der Entwicklung eines guten Geschmacks dient als der Wissenschaftlichkeit. Notwendig ist aus die­ sem Grund ein realitätsbezogenes, zwar ebenfalls anfechtbares, aber der äußeren Prüfung unterliegendes Verfahren, das kein Apriori kennt, aber eine beständige Korrektur der Ergebnisse zulässt. Wissenschaftlich kann man – tröstet Peirce – un­ gemütliche Zweifel in den Zustand mindestens vorläufiger individueller Überzeu­ gung überführen. Das ist ein interner Prozess mit externem Antrieb. Einen internen Aspekt der allgemeinen Gesetzesbefolgung hat jede allgemeine Rechtstheorie. H. L. A. Hart rechnet ihn zu den eine Regel auszeichnenden Krite­ rien. Regeln setzen nämlich nicht nur regelmäßiges Handeln voraus, sondern un­ terstellen, dass diejenigen, die so handeln, es tun, weil sie es wollen. Für Geset­ zesverletzungen wird beispielsweise regelmäßig eine innere Tatseite festgestellt, die in einem Verschulden besteht. Wer für einen Schaden haftbar gemacht werden soll, müsste ihn schuldhaft, nämlich vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt ha­ ben. Wie es bei Regelverletzungen eine innere Beteiligung geben muss, so soll ge­ setzeskonformes Handeln erst recht mit einer inneren Zustimmung verbunden sein bzw. mit dem Bewusstsein, dass diese Art des Handelns notwendig sei. Dazu ver­ weist Hart auf den internal point of view und verlangt, dass – was den Titel einer Rechtsregel tragen darf – aus der Sicht der Betroffenen als verpflichtend anerkannt werden muss.6 Das äußere Gesetz hat eine innere Seite, die man für sich selbst ak­ zeptieren muss. Ob es sich deshalb schon um „Planung“ handelt,7 kann man of­ fenlassen. Deutlich wird aber, dass es unter internen Gesichtspunkten der eigenen Überzeugung nicht mehr ausreicht, das Recht im Gesetz nachzulesen. Notwen­ dig ist eine Methode, für sich selbst, monologisch oder mithilfe eines den Mono­ log umleitenden Anderen, sei es nun eines Advokaten oder eines Therapeuten, die eigene Überzeugung festzulegen. Das Gesetz ist unter internem Gesichtspunkt we­ der einfach vorhanden, noch ist es eine Sache des mehrheitlichen Konsenses. Dass alles dies – was ein Gesetz ist und welchen Inhalt Entscheidungen ihm geben – sich der Überzeugungsfrage stellen muss, ist richterliche Weisheit einerseits (denn Richter entscheiden nach dem Ergebnis ihrer Überzeugung) und andererseits eine gewichtige rechtstheoretische These. Die These ist nicht neu, zu klären bleibt aber die Suche nach dem vernünftigen Inhalt für Gesetze, wenn weder angenommen wird, dass diese Inhalte schon vor­ handen und bekannt sind – als „Naturrecht“ etwa –, noch als Ergebnis eines ratio­ nalen Diskurses abgewartet werden können. Das Naturrecht liegt nicht deswegen 5

Peirce (Fn. III. 4), 120. Hart (Fn. III. 2), 90. 7 Carlos Bernal, Austin, Hart, and Shapiro. Three Variations on Law, Rechtstheorie 44 (2013), 157–188 (176). 6

90

III. Der interne Gesichtspunkt

fern, weil naturrechtliche Vorstellungen alteuropäisch oder hausbacken wären, viel­ mehr muss in vielen Fällen so etwas wie Natur erst symbolisch entwickelt werden. Bei anwaltlichen Kostenforderungen wie bei Minderungssätzen für Mietmängel oder gar bei Planfeststellungsbeschlüssen für Flughäfen schweigt das Naturrecht. Weil Gesetze Symbole sind und auf interpretativen Zeichenprozessen beruhen, fallen Anerkennung, individuelles Verhalten und subjektive Norminhalte dennoch nicht beliebig aus, wie man befürchten könnte, wenn man den Zeichenprozess der Anerkennung außer Acht lässt. Dieser Zeichenprozess ist im Ansatz eine interne und keine allgemein-diskursive Angelegenheit. In einen allgemeinen Diskurs können individuelle Zeichen eingehen, müssen es auch, und nur sie machen eine kollektive Urteilsfindung rational und verlässlich, aber ein Gremium macht den individuellen Entscheider nicht überflüssig.8 Während Habermas zur Begründung der Diskursethik darauf besteht, moralische Argumentationen könnten „nicht mo­ nologisch bewältigt werden“, sondern erforderten eine kooperative Anstrengung,9 ist jeder Zeichenprozess zunächst einmal eine Sache desjenigen, der die Sache zum Zeichen macht. Interpretationen, die zu Zeichen werden, können auf andere wir­ ken, aber die basale Frage, die Kant als die zweite Frage einer Kritik der reinen Vernunft nennt, wird monologisch beantwortet: Was soll ich tun?10 Der interne Gesichtspunkt ist insofern stärker und Antworten sind tiefgreifender, als man mit Hart vermuten kann. Sie entspringen aus dem quälenden Zweifel, den jeder belief immer nur zeitweise ruhigstellen kann. Wie beantworten also Zeitgenossen die in­ dividuelle, interne Frage, was Gesetz oder gar: was ihr Recht sei? Dieses Rechts­ bewusstsein ist nicht dasselbe wie ein Rechtsgefühl, es ist kein Erstes (Kap. I. 3.). Rechtsbewusstsein hat schon die Erfahrung des äußeren Rechts überstanden und spiegelt die Bemühungen jedes einzelnen Teilnehmers an kommunikativen Prozes­ sen, seine Gefühle, Erwartungen und Reaktionen so zu koordinieren, dass sie als inneres Gesetz wirken. Ausgebildet wird es durch eine von Kant vorgestellte Be­ griffsanstrengung semiotischer Art, bekannt als: b) Kategorischer Imperativ Kategorisch heißt die selbstbewusste, nicht staatsgebundene Frage nach dem, was man tun soll. Ihr hat Kant 1785 in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sit­ ten“ eine Frage-Antwort-Form zum Selbermachen gegeben. Ich beschränke mich hier auf die semiotische Operationsform für die Konkretisierung des Imperativs. Kant fragt und antwortet nicht mehr mit einem Katalog von Geboten oder Geset­ zen, aber auch nicht mit ikonischer Anschauung oder mit einem indexikalischen Ablaufs- und Inhaltsprogramm. Die Was-ist-Recht-Frage erhält eine semiotisch 8

Klaus Oehler, Peirce oder Habermas?, in: (Fn. II. 30), 206. Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983,

9

77.

10

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: ders. (Fn. I. 83, Bd. II), 677 (B 833).

1. Die individuelle Akzeptanz

91

degenerierte Form der Gesetzlichkeit. Denn der Staat – so sieht es Kant – bestimmt nicht etwa allein und endgültig über das Recht, das an eine kategorische Frage ge­ bunden bleibt, die jeder stellen kann und muss. Kategorisch, vom eigenen Inneren her, muss sich auch ein vorgegebenes Gesetz kritisieren lassen, z. B. das überflüs­ sige, rechtswidrige oder unangemessene Gesetz. Das verlangt reflexive Erstheit und entspricht aufgeklärter praktischer Vernunft. Wage, sie zu gebrauchen! – heißt Kants Aufforderung, der aber in derselben berühmten Aufklärungsschrift auch die Pflicht zum Gehorsam gegen den Landesherrn beigesellt ist.11 Es ist deshalb nicht ganz einfach herauszufinden, wie der äußerlich ganz gehorsame Staatsbürger als Räsoneur der öffentlichen Vernunft den richtigen Inhalt eines Gesetzes bestimmt. Nur die Formel dafür ist einfach, denn der Imperativ, dem man folgen soll, ist „nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zu­ gleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“12 Das klingt ziemlich wie die biblische Goldene Regel in dem populären Reim: Was du nicht willst, dass man dir tu, … – aber das wäre nur negative Gesetzlichkeit. Bei Kant soll sie mehr werden, als die Religion als Gottes Gebot lehrt.13 Danach geht es um ein Verfahren, in dem jeder für sich als sein eigener Gesetzgeber für das Recht der Menschheit auftreten soll. Das Rechtszeichen in Form des praktischen Imperativs formuliert Kant in verschiedenen Versionen, die alle ein Surplus gegenüber einfacher Verall­ gemeinerung enthalten, etwa: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“14 Kant praktiziert dafür eine Methode von „experimen­ teller Art.“15 Sie fordert auf, den Inhalt dessen, woran man sich bindet, selbst her­ zustellen. Das ist ein semiotischer Prozess, dessen Stadien und Kanäle nicht im­ mer klar sind. Notwendig sind nach Kants eigenen Beispielen drei Schritte, denen unterschiedliche Diskurse entsprechen. Der erste besteht in einer Situationsana­ lyse, der zweite in normativer Prüfung und erst der dritte in der Erkenntnis eines indexikalischen Legizeichens. Entscheidend ist aber der erste Schritt, mit dem die Maxime einer individuellen Handlung analysiert werden soll. Das ist ein riskantes Unterfangen, riskanter noch, als Kant selbst es gesehen hat. Für eine Semiotik des Rechts reicht es nämlich nicht mehr aus, die kategorische Bestimmung nur als Test „rein rationaler Natur“16 oder als simuliertes bloßes „Ge­ dankenexperiment“17 vorzustellen und auf subjektive Inhalte zu verzichten. Mit 11 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), in: ders. (Fn. I. 83, Bd. VI), 53–61 (55 = A 485). 12 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: ders. (Fn.  I. 83, Bd. IV), 51 (A 52). 13 Axel Honneth, Recht der Freiheit, Frankfurt a. M. 2009, 64. 14 Kant (Fn. III. 12), 61. 15 Friedrich Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Inter­ pretation und Kommentar. 2. Aufl., Darmstadt 1996, 63. 16 Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt 1990, 200. 17 Wolfgang Kersting, Kant über Recht, Paderborn 2004, 118.

92

III. Der interne Gesichtspunkt

Habermas darf und muss man daran arbeiten, ein mit den Meinungen vieler und gleichzeitig der Einsicht jedes Einzelnen verträgliches Verfahren für die Konkre­ tisierung des kategorischen Imperativs einzurichten.18 Man kann Kant ein Stück des Weges folgen und dabei jene pragmatische Orientierung gebrauchen, mit der Peirce Begriffe und Maximen pragmatisch auf ihre Wirkung hin reduziert. Die Maxime ist ein persönliches Gesetz. Kant bezeichnet sie als eine subjektive Be­ stimmung des Willens, und als Grundsatz ist die Maxime ein Satz, dessen Bestim­ mung „nur als für den Willen des Subjekts gültig angesehen wird“.19 Die Maxime ist also ein Satz, aber als Satz wird sie nicht bloß aussagend oder konstativ formu­ liert. Maximen sind Imperative – eben Sätze, die anweisen, etwas zu tun.20 Man­ che Anweisung ist so selbstverständlich, dass sie nicht in Satzform zum Ausdruck kommen muss. Aber Ausdrücklichkeit ist auch insgesamt nicht gerade ein Kenn­ zeichen für Maximen. Die meisten subjektiven Maximen sind implizit und werden nicht als Satz ver­ kündet. Sie scheuen das Tageslicht. Denn am Tageslicht stellt sich sogleich die mo­ ralische Frage. Die Maxime kann wohl lauten: Betrüge, solange es nicht auffällt, oder: Versage deine Hilfe, solange sie dir nichts nützt, oder schließlich: Scheide aus dem Leben, wenn es dir nicht mehr gefällt. Solche Maximen mag niemand gern formulieren, weil sie sofort der Frage begegnen: „Wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vorteil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdruß desselben befällt, oder anderer Not mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein?“21 Das Lügenverbot, das Hilfsgebot, die Überlebenspflicht  – das sind von Kant selbst gebrauchte Beispiele für die Beurteilung kategorischer Prin­ zipien, von denen jedenfalls das Lügenverbot zum indexikalischen Rechtszeichen wird. Auch wenn Lügen für sich genommen kein Straftatbestand ist (und in Tatbe­ stände wie Betrug und Urkundenfälschung nur teilweise eingeht), strafprozessual dem Angeklagten sogar erlaubt ist, ruft die ertappte Lüge nach einer rechtlichen Reaktion. Das Ikon einer Missetat unterwirft deinen Verstand „der Probe  …, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken“;22 er unter­ scheidet Rechtssätze von anderen mit Zwang versehenen Imperativen. Kategori­ sches Denken verlangt Urteilskraft, und die zeigt sich in angemessener

18

145.

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 2,

19 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1783), in: ders. (Fn. I. 83, Bd. IV), 125 (A 35, 36). 20 Rüdiger Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft. Grundbegriffe praktischer Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, 191. 21 Kant (Fn. III. 19), 188 f. (A 122f). 22 Kant (Fn. I. 83), 331 (AB 25).

1. Die individuelle Akzeptanz

93

c) Situationsanalyse Kant setzt für die kategorische Beurteilung eine Analyse voraus, die erst einmal als solche erkannt und zur Sprache gebracht werden muss. Im Leben bleibt nicht selten unbekannt, ob man sich gerade entscheidet. Jemanden kennenzulernen, ist eine ganz alltägliche Angelegenheit, mit der unter normalen Maßstäben nichts entschieden wird. Wie kann man sich da irren! Die Liebe auf den ersten Blick ist der literarische Topos für  – fehlende  – Situationsanalyse. Nur scheinbar ist die Situation im Rechtsverfahren bekannt, weil alle Welt gebannt auf das Urteil als letzten Akt des Verfahrens sieht und die das Urteil präjudizierenden Verfahrens­ schritte übersieht. Wenn man nicht auf ein Verfahren mit vielen Beteiligten über­ geht und bei einem Einzelnen, gar bei sich selbst bleibt, dann ist die Entscheidung keineswegs so deutlich und selbstverständlich, wie Kant sie darstellt. Im Gegen­ teil wirkt es für Kriminalsoziologen arg gekünstelt, wenn Kant annimmt, jemand habe „Lust … zu borgen, aber nicht zurückzuzahlen“, diesem Jemand dann aber doch zugesteht, er habe „so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Not zu helfen?“23 Es mag ja sein, dass jemand Lust hat zu borgen, die Lust, nicht zurückzuzahlen, wird er sich aber nicht so einfach eingestehen und deshalb auch gar nicht die Frage stellen können, was denn hier erlaubt sei. Das passt von der sprachlichen Form und Genese her nicht zusammen und macht die kantische, scheinbar kategorische Entscheidungssitua­ tion merkwürdig unwirklich. So, wie Kant sie schildert, entsteht eine im klassi­ schen Sinn rhetorische Frage. Die Zusammenstellung einer Lust zu borgen mit der Lust, nicht zurückzuzahlen, hat das rechtlich-moralische Problem schon beant­ wortet, es sei denn, man würde es dem Darlehensgeber auferlegen, eigene Pflich­ ten bei der Auswahl eines Schuldners zu beachten und Fälle zu vermeiden, in de­ nen jemand nicht werde zurückzahlen wollen. Die kategorische Selbstprüfung verlangt viel mehr, als Kant zu seiner Zeit gesehen hat. Der kantische Fall des Darlehensversprechens ist in der Rechtspraxis bekannt als sogenannter „Eingehungsbetrug“. Hat der, der am Ende nicht zahlt, auch schon von Anfang an die Absicht gehabt, die Zahlung zu verweigern? – lautet dann die Frage, deren Bejahung den Betrugsvorsatz einschließt. Das praktische Problem des Eingehungsbetrugs besteht allerdings nicht in seiner moralischen Zwiespäl­ tigkeit und in der Frage, ob man zurückzahlen solle oder nicht, sondern darin, den Täuschungsvorsatz des Erklärenden festzustellen, der in aller Regel zwar die Lust zu borgen einräumt, aber bei allem, was ihm heilig ist, versichern will, er habe gleichwohl „Lust“ gehabt, die geborgte Summe zurückzuzahlen. Man muss erst einmal in der Lage sein, beide Lüste gleichermaßen einzugestehen, und wenn man dazu in der Lage ist, hat man schon gesehen und verstanden, dass es eben „un­ erlaubt und pflichtwidrig (ist), sich auf solche Art aus Not zu helfen“. Die moderne Art der Selbstaufklärung verlagert die Analyse insofern von der (nicht sonderlich schwierigen) normativen Frage weg zur persönlichen Erkenntnisfrage hin. Klaus 23

Kant (Fn. III. 12), 52 f. (A 54).

94

III. Der interne Gesichtspunkt

Günther hat das im Rahmen seiner Diskussion der Diskursethik gesehen und das kantische Problem zu einer doppelten Angemessenheitsfrage für Normen erklärt. Die „rechtfertigende Kraft von Situationsmerkmalen“ verändere zum einen den Inhalt einer Norm, zum anderen seien solche Situationsmerkmale aber auch nur insoweit verbindlich, als sie „im Hinblick auf die Interessen aller Betroffenen be­ fragt“ werden könnten.24 Die kantische Analyse mündet nach dem Verständnis der Diskurstheorie in Freudsche Therapie. Ein solcher Übergang ist in den Inter­ pretationen der klassischen Philosophie nicht vorgesehen. Nur Derrida hat darauf bestanden, dass es bei aller Heterogenität zwischen philosophischer und psycho­ analytischer Analyse doch eine Tradition gebe, „die von der Philosophie bis zur Psychoanalyse reicht“.25 Die Tradition speise sich aus der griechischen Bewegung des analyein, das zum Grundsätzlichen, Ursprünglichen, Einfachen strebe, und der lysis, die Zerlegung, Entbindung, Befreiung u. a. enthalte. In dieser Verflech­ tung der Zerlegung zu einfachen Einheiten, die befreien, sieht Derrida die Freud­ sche Analyse. Sie ist dann eine symbolische Interpretantenbewegung, die Rechts­ zeichen sichtbar macht, verändert oder entstehen lässt. 2. Zur Analyse personaler Zeichen Es handelt sich beim individuellen Umgang mit dem Gesetz weder um eine ge­ nuin juridische Prozedur, noch hat das interne Band Eingang in die Schulphiloso­ phie gefunden. In der Grundlegung zur kantischen Metaphysik sind die Schwie­ rigkeiten der Selbsterkenntnis, Situationsbenennung und Maximenbildung hinter Selbstverständlichkeiten verborgen, die sich nur manchmal von selbst und oft nicht von allen anderen verstehen lassen. Die Frage nach den Maximen  [a)] verlangt einen Seitenblick auf die analytische Praxis der eigenen Bewusstseinserforschung und unterliegt fortlaufender Verdrängung  [b)]. Kant ist demnach mit Freud zu praktizieren in einer Analyse, die keine Apriori zulässt [c)]. Was dann gilt, hat mit dem viel zitierten und von Freud ironisierten gestirnten Himmel nicht so viel zu tun, es sind semiotisch analysierbare Diskursbindungen [d)]. Es setzt eine Verände­ rung in jenem Bereich voraus, den Kant dem aufgeklärten Räsoneur eröffnet, der a) Frage nach den Maximen Wie kommt man seinen eigenen Maximen auf die Spur? Nur durch Verallgemei­ nerung, wie Habermas es sieht? Für Kants kategorische Prüfung ist Verallgemei­ nerbarkeit auch wichtig, sie reicht aber nicht aus. Jeder ist jederzeit aufgefordert, Rechenschaft über konkrete, alltägliche Handlungen abzulegen und erst einmal zu 24

Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt a. M. 1988, 75. 25 Jacques Derrida, Widerstände, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse, Frank­ furt a. M. 1998, 128–178 (152).

2. Zur Analyse personaler Zeichen

95

analysieren, was er und sie jeweils tun. Das ist neu, und im Fortgang der moder­ nen Sinnsuche gibt es analytische Verfahren, um zu klären, was man eigentlich tut, was man wollen kann und selber will. Für ein zugleich verallgemeinerndes und analytisch konkretisierendes Vorhaben genügen die üblichen, an Unter­zwecken der Nützlichkeit orientierten Imperative sowieso nicht. Kant nennt sie „hypotheti­ sche Imperative“. Hypothetische Imperative sichern Mittel für Zwecke. Nach ih­ nen kann man immer sinnvoll mit einem „Wozu“ fragen. Wie im Leben und in allgemeinen moralischen Fragen wird auch der Rechtsbetrieb mit solchen MittelZweck-Fragen weitgehend ausgefüllt. Das Dispositiv der Justiz (Kap. VI. 1.) ver­ einigt alle diese Rechtsbemühungen unter dem Zweck, dem Anspruchsteller einen Titel zu verschaffen. Einen Titel zu erlangen ist nicht wenig, aber es ist nicht ge­ nug für die kantische Frage, die sich darauf richtet, erfahrungsunabhängig und doch handlungsbezogen die Frage nach dem Menschen zu beantworten. Menschen selbst sollen nämlich nicht zu Zwecken gemacht werden. Die Maxime ist eine „Regel in Anwendung“.26 Mithilfe von Maximen ordnet ein Mensch sein individuelles Leben. Dafür ist Realismus ebenso gefragt wie rück­ haltlose Ehrlichkeit. In der praktischen Philosophie nach Kant ist umfangreich diskutiert worden, dass und inwiefern Moralgesetze nicht wie Naturgesetze wir­ ken. Kant bemühte sich gleichwohl, für menschliches Handeln Gesetze zu finden, die gleichsam wie Naturgesetze notwendig und unabweislich das Handeln bestim­ men und nicht verändert werden können. Da es nun aber – was Kant wie jeder in die Welt blickende Beobachter sieht – trotz der Notwendigkeit moralischer Ge­ setze fortlaufend Verstöße gegen sie gibt und doch gemordet, gestohlen und betro­ gen wird, auch wenn es das Gesetz verbietet, muss zwischen Handeln und Gesetz etwas Weiteres treten, das die Anwendung bestimmt – mit Kant kann man auch sagen: „angemessen“ für eine Situation ist.27 Das gewährleisten Maximen. Man macht sich etwas zu einer Maxime und setzt damit eigene sprachliche Gründe für Handlungen. Wenn die Maxime eine Regel ist, nach der ich wirklich handele, und wenn es so ist, dass sie sprachlich nicht von vornherein bewusst und bekannt sein muss, dann gibt es eben wirksame Handlungsgründe, Triebfedern, die für den Handelnden unbewusst sind. Man muss erst noch analysieren, was es heißt, dass einer sich durch Not gedrungen sieht, Geld zu borgen. „Er weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein solches Versprechen zu tun …“,28 und befindet sich damit in einer Lage, für die erst 120 Jahre nach der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ im Jahre 1785 ein aufwändiges sprachliches Verfahren bereitgestellt werden wird, nämlich die analytisch gemeinte, aufs Sprechen begrenzte talking cure. Der Akzent der (dialogischen) Psychoanalyse würde zunächst darin liegen, die Lüste zu benen­ nen und zu bekennen oder noch grundsätzlicher: überhaupt zu sehen, dass man 26

Bubner (Fn. III. 20), 185. Günther (Fn. III. 24), 66. 28 Kant (Fn. III. 12), 52 (A 54). 27

96

III. Der interne Gesichtspunkt

mit dem Versprechen eines Darlehens eine mitmenschliche Verpflichtung eingeht. In einer Zeit, in der Banken als Großorganisationen Darlehen ausreichen, ist das kaum plausibel zu machen. Der ethische Charakter solcher Verträge unterliegt der b) Verdrängung Benennung, Bekenntnis und Sicht auf ein Ding werden in der Freudschen Ana­ lyse nicht vorgegeben. Das analytische Prinzip der talking cure besteht gerade darin, auf Vorgaben durch einen Dritten zu verzichten, und aufgrund dessen ist die Analyse für sich genommen nicht normativ. Auch wenn Freud gelegentlich von einer „Nacherziehung“ durch Analyse spricht, erzieht das Reden über eine Situa­ tion nicht einfach zur Änderung von Handlungsdispositionen. Nur vielleicht tut es das doch, und es ist Derridas „Vielleicht“, das hier eine Rolle spielt. Thema und Situation des Darlehensversprechens müssen erst noch entwickelt werden, wäh­ rend es zum Formmerkmal des Rechtsverfahrens gehört, dass ein anderer ein (ab­ gegrenztes, gerade nicht persönliches, sondern sachliches) Thema vorgibt. Die Themenvorgabe wird im privaten Rechtsstreit als Streitgegenstand erzwungen, so dass unter dieser Perspektive kein größerer Gegensatz zwischen rechtlicher Aus­ einandersetzung und Analyse denkbar erscheint. Andererseits ist es vielleicht auch nicht ausgeschlossen, dass ein Analysand die Situation einer Kreditnahme für sich selbst als wesentlich entdeckt und seinen eigenen Anteil daran zu klären versucht. Im Freudschen Verfahren ist dabei immer ein Widerstand zu überwinden. Freud kennt unterschiedliche Arten des Widerstands gegen das, was man eigent­ lich weiß. Sprichwörtlich geworden ist der Verdrängungswiderstand. Das IchBewusstsein lässt zahlreiche Ereignisse unthematisiert und lässt sich in dieser Einstellung auch durch eine allgemeine Redeaufforderung (wie die analytische Grundregel) nicht beirren. Es wird weiter verdrängt, weil das einer psychischen Ökonomie entspricht.29 Da nun aber die Bewusstmachung des früher Verdrängten zu den Grundbedingungen der Analyse zählt, wird das nicht themengebundene, an der Grundregel der rückhaltlosen Offenheit orientierte analytische Verfahren nicht selten quälend langsam, fruchtlos und trübe. Zwar bleibt es dem Analyti­ ker überlassen, auf einen Konflikt deutend hinzuweisen, schwierig bis unmöglich wird das aber, wenn er diesen Konflikt nicht kennt und nicht aus dem Grund­ bestand der personalen Entwicklung erschließen kann. Kreditnahmen dürften nun nicht gerade offensichtlich sein, wenn nicht der Behandlungsvertrag selbst und dessen Bezahlung ausstehen. Für das klassische Freudsche Analyseverfah­ ren sind Situationen wie eine Kreditvergabe erst einmal so randständig, dass man sie nicht wird thematisieren müssen. Freuds eigene Stellungnahme zu den kanti­ schen a­ priorischen Moralvorgaben fällt dementsprechend wegwerfend aus. Das Gewissen gehört zum Über-Ich, und „der kategorische Imperativ Kants ist so der 29 Sigmund Freud, Hemmung, Symptom und Angst, Nachträge (1926), in: (Fn. I. 48, Bd. VI), 298.

2. Zur Analyse personaler Zeichen

97

direkte Erbe des Ödipuskomplexes“.30 Mit der schnellen Erledigung durch Gewis­ sensantworten kommt man der Wahrheit so wenig nahe wie Ödipus, dem sie am Ende gesagt werden muss. Ein Apriori ist deshalb gar nicht zu gebrauchen, denn was schnell einzuleuchten scheint, beruht auf vorschneller Identifikation. Der Analytiker Rudolf Heinz hat sich näher mit dem Verhältnis des kategorischen Im­ perativs zur Psychoanalyse befasst und charakterisiert das Apriori mit den gesell­ schaftspolitischen Merkmalen als: „sorgfältige Hütung und Tradierung des vorge­ fundenen, angeblich herkunftsunbekannten Moralitätserbes im Modus der Lehre, Verbalreproduktion des Herrschaftsverhältnisses“.31 Dann aber ist Ehrlichkeit für die eigene Motiverkenntnis – anders als Kant es unterstellt – weder eine aprio­ rische noch eine ausreichende Bedingung für gelingendes Personsein und Lüge vielleicht (nur) Ergebnis einer fehlgeleiteten Bindung. Sie unterliegt – so sieht es auch Apel – der „verantwortlichen Situationseinschätzung und Situationsentschei­ dung“, die niemandem abgenommen werden könne.32 Der Akzent verschiebt sich, und das Ausmaß der Verschiebung hängt davon ab, welche Bedeutung dem kon­ kreten Fall und dem Bearbeiter für die Entwicklung im Verfahren gegeben wird. Deshalb formuliert Friedrich Müller das Problem: „Was bedeuten die Zeichen?“ mit einer subjektiven Rückfrage: „Was trage ich den Zeichen auf?“ Was ich ihnen auftrage, „eben das sagen sie mir dann.“33 Wer solche Fragen stellt, verzichtet auf c) Moralisch-rechtliche Apriori Ein Analytiker wie Heinz wendet sich gegen die von Kant geforderte Motiva­ tion strikter „Gesetzeserfüllung, bar der Nebenabsichten“,34 weil eben eine solche Reinheit nicht nur erfahrungsfern, sondern geradezu heuchlerisch wirken muss. Gerade für die Gesetzeserfüllung gibt es vielfältig unreine, synthetische und erst noch zu analysierende Motive. Das hat Kant durchaus gesehen, und an dieser Stelle zwischen Tugend und Recht unterschieden. In der Rechtslehre sollen die Absichten der Handelnden keine Rolle spielen. Im eigenen Rechtsbewusstsein ist das freilich weniger klar. Man reagiert nicht nur irritiert, sondern je nachdem be­ troffen oder aggressiv auf die erkennbar bösen Absichten anderer. Dabei kann es sein, dass Interpretanten des Bösen dessen Charakter verfehlen und die Bosheit in der Erstheit der Bösen etwas ganz anderes bedeutet. Das ändert aber nichts an der Reaktion. Rechtsbewusstsein bildet sich anhand der Handlungsindices, für die 30

Sigmund Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus (1924), in: (Fn. I. 48, Bd. III),

351.

31

Rudolf Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, Würzburg 1981, 84. Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, in: ders., Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973, Bd. II, 358–435 (435). 33 Friedrich Müller, Syntagma. Verfasstes Recht, verfasste Gesellschaft, verfasste Sprache im Horizont von Zeit, Berlin 2012, 330. 34 Heinz (Fn. III. 31), 85. 32

98

III. Der interne Gesichtspunkt

Absichten und Motive nur vermutet, eben interpretiert werden können. Die mo­ dernen analytischen Verfahren sind dabei weniger, als Freud es vorgegeben hat, an die Herleitung aus Erlebnissen der frühen Kindheit gebunden, gar aus der Ent­ deckung und Verarbeitung einer „Urszene“. Die allgemeine therapeutische Praxis bis hin zur Mediation in streitigen Verfahren entnimmt aus der analytischen Tra­ dition vor allem thematische Zurückhaltung. Die Beteiligten selbst sollen zunächst einmal reden und etwas von sich selbst mitteilen. Das ist eine Abkehr vom juris­ tisch beliebten Informations- und Konzentrationsbegriff. An dessen Stelle ­treten Situationsdeutungen, Interpretationen und dann vielleicht auch Selbstverständ­ nis und Absichten der Beteiligten, wobei im Rahmen mediatorischer Verfahren die Hoffnung besteht, schon durch das Hören solcher Deutungen und Interpreta­ tionen könne sich etwas ändern, nicht nur durch die erhoffte Entscheidung. Nicht ausgeschlossen ist dabei die Bindung an ein Thema, aber sie steht nicht am An­ fang. Für eine moralische Prüfung ist erst noch zu lernen, was zum Thema wer­ den muss. Welche Rolle etwa das Schuldenmachen in der eigenen Biografie spielt und wie verwerflich es unter welchen Umständen war und ist  – das steht nicht apriorisch fest. Wer gelernt hat, sich selbst in alltäglichen Situationen kennenzu­ lernen (und nicht immer schon zu wissen meint, was er oder sie wolle), der kann der Lust zu borgen auf die Spur kommen oder einen Zipfel von der Sucht zu spie­ len auf­heben. Das ist Situationsanalyse, mit der ein Prozess der Verbesonderung des Allgemeinen beginnt. Am Ende kann man hinter Schlagworten eine Vielzahl von Situationen erkennen. Auch Kant experimentiert in diesem Sinne mit der Lust zu borgen, ohne zahlen zu können, und führt aus: „Gesetzt, er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Handlung lauten: wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.“35 Damit ist allerdings die Lüge schon formuliert und der nächste Schritt getan, den Kant zu tun aufgibt, nämlich die Stellung eines Gesetzgebers einzunehmen und zu fragen, ob dieses Prinzip (das Kant als ein solches der „Selbstliebe“ etiket­ tiert) allgemeines Gesetz werden könne. Wenn man so fragt, wird neben Ehrlich­ keit auch eine Kritik der eigenen Erfahrung und des allgemeinen Normen­bestands verlangt. Das ist Gesetzgebungskritik, für die es juristische Tradition kaum gibt, auch wenn die vielen täglichen, neuen Gesetze auf ebenso viele tägliche Meinun­ gen stoßen und immer auch von irgendjemandem abgelehnt werden. Kant sagt nicht genau, wie Normkritik zu leisten wäre, obwohl jeder Einzelne doch Analyse wie Kritik bei sich selbst und auf seine Weise erledigen soll. Dennoch traut es Kant dem sich prüfenden Einzelnen ohne Weiteres zu, zu erkennen, dass „dieses Prin­ zip der Selbstliebe, oder der eigenen Zuträglichkeit“ mit dem eigenen Wohlbefin­ den vielleicht zu vereinigen sei, aber die Frage offenlasse: „ob es recht sei?“ Mit diesem biederen Kurzschluss wird übergangen, was später Freud als Intervention im analytischen Verfahren empfiehlt. In Kants interner Selbstprüfung wird näm­ 35

Kant (Fn. III. 12), 53 (A 54).

2. Zur Analyse personaler Zeichen

99

lich „die Zumutung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz“ verwandelt, und es meldet sich ein interner allgemeiner Gesetzgeber, der fragt, „wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde.“ Diese Frage stellen heißt eigentlich schon, sie beantwortet zu haben.36 Kant unterstellt eine andere, aber ähnlich problematische Selbstverständlichkeit wie dann später Freud, der die Benennung eines bisher nur ausagierten Verhaltens in seinen verdeckten Ursachen ursprünglich als Hauptbestandteil der Lösung angesehen hat. Kurz gesagt: Es ist natürlich nicht ausgemacht, dass, wer sagt, er wolle nicht (mehr) betrügen, auch wirklich nicht mehr betrügt. Kant nimmt einfach an, jedermann sähe „sogleich“,37 dass eine so formulierte Maxime niemals „als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde.“

An die Stelle dessen, was jeder einfach selbst sieht, treten d) Diskursbindungen Wenn daran etwas einleuchtet, dann beruht es offenbar auf dem gegenseitigen Verhältnis zwischen Jedem (der etwas verspricht) und Niemandem (der keine wi­ dersprüchlichen Sachen glaubt und dem anderen abnimmt). Es ist ein zeichen­ haftes Anerkennungsverhältnis. Man muss also mehr tun, als Kant für eine ka­ tegorische Prüfung verlangt hat und nicht nur sich selbst befragen, sondern auch diejenigen, denen man eigenes Handeln zumutet. So wird nach Kant und mit Rücksicht auf Freudsche analytische Verfahren eine Ethik des Diskurses und der Anerkennungsverhältnisse begründet. An dieser Stelle soll der normative Gehalt einer solchen Zeichenorientierung nicht vertieft werden (Kap. IX. 1.). Hier geht es nur um die Möglichkeiten individueller Gesetzeseinsicht durch dialogische Ver­ fahren. Karl-Otto Apel war derjenige, der Peirce für den deutschen Sprachraum entdeckt, herausgegeben und interpretiert hat, um aus der Zeichenorientierung eine transzendentale Einsicht herauszufiltern, dass nämlich  – wer sich in Zei­ chen mit anderen verständige – Geltungsansprüche wie Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit notwendig unterstellen müsse, wenn überhaupt von einer Verstän­ digung die Rede sein soll.38 Das ist Kants eigene Einsicht und sein Anspruch an die Allgemeinheit eines Gesetzes, das für jedermann gelten soll. Jedermann, der sich ein Gesetz zu eigen macht, müsse so handeln, dass gewisse apriorische Festlegun­ gen gelten. Der Unterschied zwischen Kant und einer Diskursethik besteht dann 36

Heinz (Fn. III. 31), 87. Kant (Fn. I. 83), 53 (BA 55). 38 Apel (Fn. III. 32), 383. 37

100

III. Der interne Gesichtspunkt

nur noch darin, dass Kant jedem Einzelnen – jedermann – zugetraut hat, die rich­ tige Allgemeinheit selbst durch kategorische Prüfung zu finden. Die konstitutive Kraft des Diskurses verlagert diese Prüfung auf alle Diskurs­ teilnehmer, und da am Diskurs zumindest in der Möglichkeitsform buchstäblich alle teilnehmen, kann niemand mehr für sich die eigene Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit bestimmen und etwa behaupten, sie würde kategorisch unbedingt gelten. An die Stelle einer bloß monologischen Moralprüfung (wie sie Kant – ohne das weiter zu problematisieren – unterstellt) soll eine dialogische treten. Habermas verlangt dazu, gültige Normen müssten die Anerkennung von Seiten aller Betrof­ fenen verdienen. Dafür soll es aber nicht ausreichen, dass Einzelne prüften, ob sie das Inkrafttreten einer strittigen Norm in Ansehung der Folgen und Nebenwir­ kungen, die einträten, wenn alle sie befolgen würden, wollen könnten; vielmehr müsse „jede gültige Norm der Bedingung genügen, dass die Folgen und Neben­ wirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betrof­ fenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungs­ möglichkeiten vorgezogen) werden können“.39 Der Diskursethik zufolge darf eine Norm also nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Be­ troffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber er­ zielen (bzw. darüber erzielen würden), dass diese Norm gelte. Damit werden meh­ rere Zeichenprozesse in einem Geltungsanspruch verwoben. Der Diskurs selbst, der zu einem Einverständnis führt, ist eigentlich ein unendlicher, symbolischer Prozess und eignet sich nicht für die eigene Handlungsorientierung, weshalb er ja auch ausdrücklich vom schlichten kommunikativen Handeln unterschieden wird. Er ersetzt aber auch nicht die Erstheit des Zeichens, jenen unvermeidlichen Mög­ lichkeitsraum, in den eben jeder sein erdachtes Gesetz hineinstellt. Konkret und am Fall: Es mag schon sein, dass erst der Rechtsdiskurs insgesamt darüber be­ lehrt, wie lange und unter welchen Umständen eine angemietete Wohnung als un­ verletzlich zu gelten hat (Art. 13 GG). Aber der Impuls, eine Wohnung kündigen zu wollen und dies aus eigenen, als zwingend empfundenen Gründen auch zu dür­ fen, wird deshalb nicht selbst auch noch im Diskurs geboren. Die Qualitätsmerk­ male der Erstheit bleiben individuell, und das Rechtsgefühl vagabundiert zwischen Diskurssplittern. So verhält es sich am Ende auch mit den Rückzahlungsversprechen. Es mag schon richtig sein, dass im Allgemeinen kein Darlehen ausgereicht wird, wenn der Darlehensnehmer erklärt, er könne das Geld sowieso nicht zurückzahlen. Aber der Impuls, über konkrete Rückzahlungspflichten zu streiten, ist damit keineswegs er­ ledigt. Über die Richtigkeit der kantischen Schuldenanalyse wird heute grundsätz­ lich gestritten. Wie in allen anderen Fällen auch, findet Kant in seiner Analyse fremder Motive nicht apriorische Gründe, sondern zeit-, situations- und anschau­ ungsbestimmte Plausibilitäten. Falls man Anschauungsmaterial dafür gebraucht 39

Habermas (Fn. III. 9), 75 f.

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

101

hätte, so haben es die inzwischen vielfachen Euro-Rettungs- und Reform-Schulden­ verhandlungen gegeben. Auch theoretisch gibt es Widerspruch. David Graeber – vielleicht mehr politischer Aktivist als reflektierender Moralist – attackiert die in seiner Perspektive anstößige und keineswegs selbstverständliche Maxime „Schul­ den muss man doch zurückzahlen“ und macht die alternative Moral auf, dass Rück­ zahlungen nach den Umständen vorgenommen oder eben auch nicht vorgenom­ men würden.40 Ohne Schulden zu machen lässt sich unter modernen Umständen gar nicht mehr vernünftig wirtschaften, und es ist allgemein anerkannt, dass – wer eine Innovation gewerblich erfolgreich einführen will – zunächst einmal mehr Geld ausgeben muss, als er einnimmt. Ob es dann so ist, dass ein innovativer Unterneh­ mer sein mögliches Scheitern mit einkalkuliert (und damit weiß, dass er vielleicht oder wahrscheinlich gar nicht zurückzahlen kann) oder ob er mit überzeugendem Selbstbetrug jegliches Scheitern ausschließt – das ist von einer persönlichen Be­ denkenlosigkeit abhängig, die den Bedenkenlosen moralisch besser stellt als den Vorsichtigen. Sloterdijk formuliert dazu unter der Überschrift „Dieser beunruhi­ gende Überschuss an Wirklichkeit“ als zivilisationsdynamischen Untersatz: „Es werden von Schuldnern in modernen Tauschgesellschaften, namentlich von Regie­ rungen sogenannter souveräner Staaten, stets sehr viel mehr Kredite aufgenommen, als sich jemals mit bona-fide-Rückzahlungsabsichten rechtfertigen ließen“.41 Das­ Herausforderungspotenzial wird demnach wichtiger als die Befriedigungsmöglich­ keit. Für die Konstitution des Rechtszeichens ist dann nicht das kantische Apriori entscheidend, sondern die Freudsche Analyse der immer zu spät kommenden gu­ ten Absichten, und diese Analyse führt zu anderen als transzendentalpragmatischen Regeln. Die kategorische Prüfung ist trotz alledem nicht überflüssig, auch wenn „nie jemand – Kant selbst zweifelte keinen Augenblick daran – ein solches morali­ sches Axiom in irgendeiner Weise in die Praxis hat umsetzen können.“42 Sie schafft das Rechtssymbol und damit das Rechtszeichen in seiner entwickelten, sprachlich ausgearbeiteten, verallgemeinerten Form. Darauf kann man nicht verzichten, so­ lange man vom Recht redet – und das hört nicht auf. 3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz Das symbolisch prozedierte persönliche Rechtszeichen, das andere als Recht erkennen und anerkennen, ist dann das höchste Erzeugnis semiotischer Überzeu­ gung. Aber der Zeichenprozess endet damit nicht, im Gegenteil wird das Symbol zum ikonischen Sinzeichen des nächsten Erlebens, ohne dass klar wird, ob es dabei noch dasselbe wäre. Vielmehr kann man ohne großes Risiko vermuten, dass ­jedes 40

David Graeber, Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, Stuttgart 2012, 9–21. Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Ex­ periment der Moderne, Berlin 2014, 88. 42 Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Das Seminar, Buch VII (1986), Weinheim/ Berlin 1996, 96. 41

102

III. Der interne Gesichtspunkt

wirkliche Ereignis das Symbol verändert, weil es zeichenhaft anders ver­wendet wird (nämlich Zweitheit wird) und auf das Erleben zwar unmittelbar (ikonisch) wirken mag, aber jeden Anspruch – auf Geltung etwa – verliert. Legizeichen blei­ ben eine Sache des urteilenden Nachdenkens, der modern hochgeschätzten Refle­ xion und aller damit verbundenen Wissensverfeinerungen. Aber das Nachdenken kommt erst danach, meist zu spät und macht aus dem Ikon etwas anderes. Symbole erreichen Ereignisse erst, wenn sie vergangen sind, und wirken bestenfalls noch prophetisch in der Zukunft für diejenigen, die das glauben und sich davon über­ zeugen lassen. Deshalb soll ein skeptischer Blick den symbolischen Verwerfungen und ikonischen Anfängen des Rechtszeichens gelten. Verworfen wird zweierlei: die Drittheit als überlegene Kategorie und ihr argumentativer Ausdruck als Refle­ xionsform. Zwar gilt das argumentativ symbolisch reflektierende Denken bis hin zu Peirce als die hervorragende Existenzform nicht nur wissenschaftlichen Den­ kens, aber mit Peirce wird deutlich, dass Symbole eines Zeichenprozesses zu Ikons im nächsten werden. Niemals wird durch kategorische Prüfung abschließende Ge­ wissheit oder gar endgültige Klarheit hergestellt. Was man gerade für klar und deutlich hielt, kann in der nächsten Situation dunkel und fragwürdig werden. Ne­ ben der kategorialen Symbolisierung gab es immer auch eine andere, zuweilen dunkle Seite der Unmittelbarkeit: des ikonischen Erlebens, des indexikalischen Handelns und Entscheidens vor und jenseits aller symbolischen Reflexion. Das ist eine Linie, in der nicht Kant, Freud oder Habermas, sondern Spinoza, Nietzsche und Deleuze die Akzente gesetzt haben. Alle drei (und nicht nur sie) haben in min­ destens einer Hinsicht die Relation zum Objekt im Recht verändert. In einer deut­ lich stilisierten Sicht rücken Objekt, Geschmack und Serialität in den Vordergrund und ersetzen oder verdrängen Subjekt, Vernunft und Singularität. Insofern stehen diese Denker hier symbolisch für vorsymbolische Formen, deren direkte Präsenz viel mehr Raum in Anspruch nehmen würde. Baruch de Spinoza (1632–1677) nimmt Affekte ernst. Er erhebt das Objekt zu eigenem philosophischem Wert und macht es unabhängig von transzenden­ ten, subjektbestimmten Wertbeziehungen. Der transzendente Gott wird ersetzt durch den immanenten, den Dingen innewohnenden Gott. Rechtsphilosophisch ist­ Spinoza nicht präsent. Mit ihm verbindet sich keine Vorstellung von Gesetzlich­ keit und moralisch oder rechtlich richtigem Handeln, aber er ist der Philosoph in­ dividueller Freiheit, der dafür persönlich hat büßen müssen. Sein Gott ist weder christlich noch jüdisch, er ist nicht Person und nicht auf Offenbarung angewiesen, sondern zeigt sich fortlaufend im Werden und Walten der Natur (deus sive natura). Kant hat das nicht auszusprechen gewagt. An die Stelle von Transzendenz tritt Im­ manenz. Zeitgenössisch war die Umstellung zu groß. Mit einer immanenten Got­ tesvorstellung konnte man nach 1650 nicht mehr Mitglied der jüdischen Gemeinde in Amsterdam bleiben. 1656 verhängt die Amsterdamer Synagoge den Bannfluch. Man konnte auch nach 1670 keine Bücher mehr gegen den Index der katholischen Kirche veröffentlichen, was Spinozas Botschaft doch nicht entscheidend behindert hat. Er wusste das. Die Niederlande verboten die gerade veröffentlichte Ethik, und

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

103

Spinoza, der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammte und auf Reich­ tum, Familie wie lebzeitigen Ruhm verzichtete, sorgte für die posthume Veröffent­ lichung seiner nur lateinisch, für Kenner und Sprachgebildete abgefassten Schrif­ ten. Gelassenheit und Bescheidenheit prägten ein Leben von 45 Jahren. Geld für die Wissenschaft verdiente Spinoza als Glas- und Linsenschleifer, und das Glas­ schleifen hat möglicherweise zu seinem frühen Lungentod geführt. Spinoza ist skeptisch gegenüber den Rechtsintuitionen der Menschen. Sie wür­ den durch Begierde und Macht bestimmt, nicht durch Vernunft.43 Das spinozisti­ sche Naturrecht enthält keinen Katalog unverzichtbarer Menschenrechte, sondern ergibt sich aus der natürlichen Macht und deren Grenzen. Das „natürliche Recht“ muss ich nicht mit diesen oder jenen Gründen einsehen, verstehen und verständ­ lich machen, abgesehen davon, dass – wie Spinoza hervorhebt – solche Prozesse der Einsicht und des Verstehens Zeit und Bildung brauchen und man schlecht sa­ gen kann, bevor sie nicht abgeschlossen seien, gebe es auch die natürlichen Rechte nicht. Sie sind einfach das, was einer für sich wünscht und für sich beansprucht, und sie gelten so lange, wie die Macht anderer nicht größer ist als die des Wün­ schenden. Im Gestus des 17. Jahrhunderts – Spinoza ist Zeitgenosse von Thomas Hobbes – fordert er deshalb, dass die höchste, die staatliche Macht unumschränkt sein müsse, um die Übergriffe mächtiger Einzelner zu begrenzen. Ein Grund­ rechtsprinzip entsteht daraus nur affektiv, nämlich im Hinblick auf Gedanken­ freiheit. Es kann nicht begrenzt werden, was man denkt (weil das ein natürliches Recht ist), und es soll deshalb jedem erlaubt sein „zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt“.44 Spinoza hat es praktiziert. Mit seinen Werken, der Ethik, dem politischen und theologisch-politischen Traktat, wird anerkannt, was Gilles ­ ffekt Deleuze 300 Jahre später als vollständigen Immanenzplan rühmt:45 Körper, A und Perzept neben Vernunft zu stellen und Vernunft affektabhängig zu sehen. Das ist die besondere Umstellung in der wissenschaftlichen Wertigkeit. Auch Kant sah, dass ein moralisches Prüfungsverfahren, das eine Universitätsklausur notwendig macht, sicher nicht zum allgemeinen Gradmesser gemacht werden kann. Aber er vertraute für moralische Prüfungen auf Affektunabhängigkeit, was gerade die Freudsche Kritik herausforderte. Die unmittelbare Triebfeder des Handelns soll keinen Ausschlag bei der Prüfung geben. Spinoza war da realistischer als Kant und hoffnungsvoller zugleich. Spinozas Ethik nimmt affectiones als Ausgangs­ punkt und Gradmesser vernünftiger Überlegungen, wobei mit der affektiv be­ setzten Wahrnehmung die Hoffnung verbunden ist, man werde mehr und anderes wahrnehmen als der interesselose Betrachter. Affektion und Affekt sind nicht das­ selbe. Affekte sind Gefühle und sind als Erstheit jedes Erlebens bereits vorgestellt worden (Kap. I. 3.), die Affektion ruft ein Vorstellungsbild im affizierten Körper hervor, die dessen Tätigkeitsvermögen vermehrt oder vermindert, erhöht oder be­ 43

Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 16. Kap., Ausgabe Meiner, Hamburg 1994, 233. 44 Spinoza (Fn. III. 43), 20. Kap., 299. 45 Gilles Deleuze, Spinoza und wir, in: ders., Kleine Schriften, Berlin 1980, 84.

104

III. Der interne Gesichtspunkt

schränkt.46 Affektionen sind alle Attribute der von Spinoza einheitlich gedachten Substanz (Gott) und machen damit die Welthaltigkeit des Fühlens aus. Wahrheit ist damit noch nicht verbunden, und man kann und muss sie – wie es später Nietzsche tut – anzweifeln. Der „Spinoza-Effekt“ ist inzwischen neurowissenschaftlich un­ tersucht,47 nachdem Freud ihn der Sache nach schon lange plausibel gemacht hat. Aus ihm folgt beispielsweise das Wahrheitsurteil, wonach wir Dinge, die wir unbe­ wusst schon kennen und mit denen wir positive Erfahrungen gemacht haben, eher für wahr halten als unbekannte Phänomene.48 Man kann Spinoza zur Grundlage einer Lebensform machen. Man muss mit Spinoza nicht philologisch umgehen. Hier ist deshalb auch nicht der Ort, Spinozas Philosophie zu vertiefen. Rechts­ theoretisch arbeiten und denken kann man aber mit dem von Damasio beschriebe­ nen sogenannten „Spinoza-Effekt“, der nicht nur neurowissenschaftlich zu verste­ hen ist. Diesen Effekt verstehe ich als eine zweifache vorsymbolische Bewegung des Rechtszeichens. Rechtszeichen haben sprachlichen Ausdruck, aber dieser Ausdruck muss nicht notwendig die symbolisch-argumentative Zeichenform annehmen. Das ist Peirces Zutat. Zeichen sind nicht nur symbolisch, sondern haben auch Erstheitsund Zweitheitskategorien, deren Sprachqualität nicht selbstverständlich ist, auch wenn sie rechtlich wirken. In erster Linie ist Recht keine Sache der argumentativen und symbolischen Darstellung. Es schafft sich Ausdruck als Ruf, als Protest oder als Stolz und Anerkennung, Gefühle, die nur teilweise Eingang in die Theorie gefun­ den haben. Damasio versteht darunter „Hirnmechanismen der Emotion“49 und ent­ nimmt von Spinoza die Affektgrundlagen für Emotionen, aus denen Gefühle wer­ den, die dann Gedanken auslösen. Das gelingt nur, wenn die gerade (Kap. III. 2.) vorgeführte sprachlich elaborierte Fassung umgestellt wird. Die erste Umstellung besteht darin, nicht mehr oder mindestens nicht so bald nach angeblichen Maximen des richtigen Lebens und Handelns zu suchen, sondern besser nach Impulsen und Antrieben. Ansätze, Einsätze und Anstöße sind es, die juristische Entscheidungen ausmachen, nicht die nachgereichten Argumente; und zweitens regieren Affekte und Wünsche anstelle von Abwägung und kategorischem Imperativ. Das führt zur Um­ stellung der rechtstheoretischen Deutung und wird von Martin Saar im Anschluss an Spinoza als „affektiver Resonanzraum“ für Gesetze vorgestellt.50 Wer sich auf die Suche nach Ansätzen, Einsätzen und Anstößen macht und an­ dere als die argumentativen Satzformen sucht, trifft in der modernen Spinoza-­Nach­ folge auf Friedrich Nietzsche. Nietzsche (1844–1900) ist der radikale Sprachkriti­ ker des 19. Jahrhunderts und bekennender Spinoza-Verehrer.51 Der spinozistische 46 Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Teil III, Def. 3 (Ausgabe Wolfgang Bartuschat (Hrsg./Übers.), Hamburg 2012, 223). 47 Antonio R. Damasio, Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin 2005. 48 Damasio (Fn. III. 47), 105. 49 Damasio (Fn. III. 47), 68. 50 Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013, 297. 51 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Sentenz 475 (Fn. I. 22, Bd. I), 686.

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

105

Lehrsatz unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet52 gibt für Nietz­ sches Affektenlehre die Vorlage, in der ein „Wille zur Macht“ regieren sollte. Ge­ meint ist damit nicht die posthum unter diesem Titel zusammengestellte Apho­ rismensammlung, wichtiger ist die Art und Weise, Affekte sprachlich zu bündeln und mehr anzudeuten als auszudrücken. Darin liegt der Stil für Nietzsches Rechts­ philosophie. Diese Rechtsphilosophie ist erst noch zu entdecken. Einführungen für Juristen erwähnen gelegentlich Nietzsche als Namen oder enthalten einen Verriss, der den Blick auf die Texte trübt. Manchmal wird wenigstens die außerrechtliche Substanz des Werks gesehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass an keiner Stelle in Nietzsches Schriften das Recht in seiner herkömmlichen Form gelobt wird. Kaum sieht man es überhaupt zum Thema der Aperçus werden. Erst wenn man sich dem symbolisch Sagbaren von der ikonischen Seite her nähert und fragt, was in einem Urteilsschluss nicht gesagt, aber unterstellt worden ist oder nicht unterstellt wer­ den kann, dann stößt man auf Werthaltiges, freilich in der Form unablässiger Umwertungsbewegungen. Nietzsche kritisiert von Anfang an die in der wissen­ schaftlichen Sprache geläufige Unterscheidung nach Tatsachen und Werturteilen. Was für die analytische und kantisch kategorisch geschulte Sprachphilosophie bei jeder Beschreibung vorausgesetzt wird, stellt Nietzsche schon als Herrschaftsan­ spruch vor: Es sei ein methodisches Werturteil, etwas als Tatsache behandeln zu wollen, so dass der Skeptiker danach fragen wird (und fragen soll!), in wessen In­ teresse eine solche Behandlung erfolgt.53 Aber es gilt auch das Umgekehrte: Meine Werturteile sind meine Tatsachen. Der fein empfindende Geist kann die Welt nicht anders wahrnehmen, als er sie empfindet, aber beim Empfinden lernt und ent­wickelt man sich, so dass die moralischen Empfindungen verfeinert, wer in der Lage ist, differenziert zu empfinden. Tatsachen sind – so gesehen – nichts anderes als Wert­ urteile, nach deren Grund man nicht mehr fragt.54 Als grundlegende Urteilsform erscheint der Satz, und Nietzsche macht Form­ elemente für spezifische Inhalte verantwortlich. So wird die Trennung in Subjekt und Prädikat als Anlass und Motiv gesehen, einen Täter hinter einer Tat zu ent­ decken. Ebenso scheint die Richtung des Prädikats auf ein Objekt der Handlung einen Zweck zu suggerieren. Keine Ursache und kein Täter ohne Subjekt-Unter­ stellung, keine Zwecke und Ziele ohne Objekte im Satz, keine Gerichtetheit auf diese Objekte ohne die unvermeidliche Handlung der Prädikation: Der Mensch ist ein Mörder. Nietzsche fragt hinter eine solche Prädikation zurück, und seine größte Provokation ist sprichwörtlich geworden: „Gott ist tot.“ Die Fragen zu die­ sem Satz lauten: „Wer hat ihn also getötet? Ist nicht die Größe dieser That zu groß 52 Zitiert von Nietzsche aus dem Tractatus politicus: Es hat einer so viel Recht, wie er Macht hat (Sentenz 93, Fn. I. 20, Bd. I, 502). 53 Paul Liessmann, Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwar­ zen Seiten des Denkens, Wien 2000, 115–128. 54 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Teil 1 (Nach­ gelassene Schriften 1870–1873, in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1967 ff., Bd. 1, 884).

106

III. Der interne Gesichtspunkt

für uns? Oder ist sie noch ungeschehen? Ist dieses Ereignis noch unterwegs und wandert?“55 Es wäre ein Sprechen ohne Subjekt, ein Werten ohne transzendente Werte, eine Aussage ohne Aussagesatz. Da wir nun aber nicht anders können, als uns in Sätzen zu äußern, die Subjekt-Prädikat-Objekt-Richtungen produzieren, macht Nietzsche noch auf etwas anderes und Weiteres als Sprache aufmerksam, das als Verdrängtes auch immer gegenwärtig sei: Musik, Theater, Rausch, allzu menschliche Leidenschaften in der menschlichen Vernunft.56 Das Gefühl für Gerechtigkeit entkleidet Nietzsche jeder Unbedingtheit und entdeckt es als allzu menschliche Leidenschaft. Es sei einfach ein umgekehrtes Gleichgewichtsgefühl, das jeder Heiligkeit, jedes urrechtlichen Schauders und der üblichen Verallgemeinerungsfähigkeit entbehre. Gerechtigkeit bewahrt Ego vor dem Untergang – nicht mehr und nicht weniger. Nietzsches Ausgangspunkt ist also alt, wirkt realistisch und stammt aus der spinozistischen Rechtskonzeption, der Nietzsche Reverenz erweist.57 In dieser Sicht erscheint das erste Gerechtigkeits­ gefühl, mit dem die Empörung der Einzelnen einsetzt, als vereinzelt und erhält einen egozentrisch ausgeprägten Gehalt: Ich weiß, was gerecht ist, wenn und weil ich weiß, dass ich etwas, was ich hätte bekommen wollen, nicht bekommen habe, und annehmen darf, dass ich, was ich habe abgeben müssen, nicht hätte hergeben sollen, weil das zugesicherte Gleichgewicht es enthielt. Diesen Nützlichkeitsgrund haben wir nur aufgrund schematisierter Prädikation vergessen. „Gerecht“ sieht Nietzsche die Menschen jene Handlungen nennen, deren Zweck sie nicht nennen – und damit verbergen. Man muss das Gefühl also erst noch in seine Bestandteile zerlegen, es dekonstruieren, weil es im Ansatz gar nicht heilig ist, wir nur verges­ sen haben, dass „Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe“.58 In jedem einzelnen Fall muss statt nach allgemeiner Gerechtigkeit konkret nach der Macht der Wertschätzungen (dem seit­ dem Mode gewordenen „Interesse“) gefragt werden. Fröhlichkeit will Nietzsche in die Wissenschaft tragen, und sie stellt sich in dem Moment ein, in dem der Aussagesatz seine Dominanz verliert. Das zeigt sich zunächst an Nietzsches eigener Textform. Der Professor schreibt nicht mehr für Professoren, er schreibt auch nicht mehr für Kulturerneuerer und Wagner-Jünger, sondern „für alle und keinen“ – so der Untertitel des „Zarathustra“. Dabei wird Wissenschaft zu einer Sprechweise unter anderen; über sie wird jedenfalls nicht mehr wissenschaftlich geurteilt. Der Zusammenhang der Zeichen wird durch Über­ schriften unterstellt, aber nicht durch Beweisführung hergestellt. Zum Teil demons­ triert der Aussagesatz noch etwas, zum anderen Teil wird er beiseitegestellt. Wis­ senschaft erscheint nicht mehr aus sich heraus verbindlich. Bewirkt wird das auch 55

Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Sentenz 125 (Fn. I. 22, Bd. III, 481). Isabell Hensel, Klangpotentiale: Eine Annäherung an das Rauschen des Rechts, in: Christian Joerges/Peer Zumbansen (Hrsg.), Politische Rechtstheorie Revisited, Bremen 2013 69–99 (78). 57 Nietzsche im Brief an Franz Overbeck v. 30. Juli 1881 (Fn. I. 22, Bd. III, 171). 58 Nietzsche, Sentenz 42 (Fn. III. 51), 502. 56

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

107

durch eine andere Textgattung. Nietzsche eignet sich den Aphorismus als ständige Reflexionsform an. In der kritischen Periode von „Menschliches, Allzumensch­ liches“ (1878/79) und „Fröhliche Wissenschaft“ (1882) entwickelt er einen Stil, in dem der Aphorismus dominiert, wie er aus der französischen Moralistik bekannt ist. Balmer hat diesen Zusammenhang und die damit verbundene Ausdrucksweise hervorgehoben, die insbesondere Nietzsches Bücher über Menschliches und All­ zumenschliches prägt.59 Ein Gedanke beginnt unvermittelt, provoziert durch zuge­ spitzte Wortwahl und endet scheinbar abrupt; der Leser bleibt seinen eigenen Ge­ danken und Schlüssen überlassen, wenngleich jeder Aufmerksame schnell bemerkt, wie weit Nietzsches rhetorische Zumutungen reichen und wie stark sie die Rezep­ tion beeinflussen wollen. Der lehrhafte Schluss wird also nicht vollends entfaltet, er wird vielmehr nur so knapp angedeutet, dass er dem Leser gerade noch möglich ist, teilweise sogar fast unmöglich erscheint, weil der präsentierte Inhalt wirkt und das Denken trotzdem widersprüchlich bleibt. Den Widerspruch aufzulösen oder auf sich wirken zu lassen, bleibt Sache der Interpretation. Der Autor hält es „mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade – schnell hinein und schnell hinaus“.60 Aus dem Recht, insbesondere dem Recht in seiner justiziellen Disposition hält sich Nietzsche heraus. Wie in allen Fällen autonomer Entscheidung erklärt es Nietz­ sche zur Sache des Geschmacks, auf die Mittel der Rechtspflege zu verzichten. Das heißt dann als Maxime: „Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben – das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmacks – und nicht mehr.“61 Man muss die Metapher wörtlich nehmen und dann sind die mit Roben bekleideten Träger der Justiz nichts anderes als – Vogel­ scheuchen. Denen gehen die Vögel einfach aus dem Weg. Die Menschen verzichten auf das, was ihnen zusteht, weil sie verscheucht werden – aber nicht aus Angst vor den Vogelscheuchen. Das führt zur Pointe in diesem Aphorismus, zum Geschmack, zu „meinem Geschmack“. Wer die staatlichen Diebstahlsnotare nicht goutiert, sollte sie auch nicht beschäftigen. Damit wird – jenseits oder über das Recht hin­ aus – ein Medium eingeführt, das mit Gut und Böse, deren Zuordnung und Sank­ tionierung herkömmlich nichts zu tun hat, nämlich Geschmack als Leitbegriff der Ästhetik. Über den Einsatz des Rechts entscheidet die eigene Ästhetik. Die ist an sich freigegeben, der eine mag dies, die andere jenes, aber wir ahnen die Richtung, in die Nietzsches Aphorismus weist. Im unveröffentlichten Nachlass wird Nietz­ sche deutlicher. Über das „Zu-Gericht-sitzen“ heißt es: „Von allen Urtheilen ist das Urtheil über den Werth von Menschen das beliebteste und geübteste – das Reich der größten Dummheiten. Hier einmal Halt zu gebieten, bis es als eine Schmut­ zigkeit, wie das Entblößen der Schamtheile gilt  – meine Aufgabe.“62 Der gute 59 Hans-Peter Balmer, Philosophie der menschlichen Dinge. Die europäische Moralistik, Bern/München 1981, 162–181. 60 Nietzsche (Fn. III. 55), 634. 61 Nietzsche, Sentenz 184 (Fn. III. 54), 503. 62 Nietzsche, Fragmente Frühjahr 1884 (25 [469]), in: (Fn. III. 54, Bd. 11), 138: „Zu-GerichtSitzen“.

108

III. Der interne Gesichtspunkt

Geschmack rät dazu, von der Justiz Abstand zu nehmen und die Vogelscheuchen als solche zu erkennen. Auch der Justizabstand ist ein Spinoza-Effekt. Es kommt unserem Gefühl nahe, sich auf diesen Apparat und seine Dispositionsgelüste, von denen noch (Kap. VI.) die Rede sein wird, lieber nicht einzulassen. Wenn man die „Ich-möchte-liebernicht“-Affekte sammelt, kommt man nicht umhin, denjenigen zu erwähnen, der eine Linie gezogen hat zwischen entfernten Schriftstellern, die durch zeichenhafte Relationierung das Objektverstehen verändert haben. Gilles Deleuze (1925–1995) hat Spinoza wie Kant und Nietzsche monografisch bearbeitet und Freud gemein­ schaftlich und leidenschaftlich mit dem Analytiker Guattari zusammen verrissen. Ihn verbindet mit Nietzsche und Spinoza die gleiche Ferne zur eingeführten Rechts­ philosophie und Rechtstheorie. Das ergibt sich aus einer wenn auch im Detail ganz unterschiedlichen Denkweise, die sich gegen das klassische Substanzdenken rich­ tet und vor seine symbolische Zeichenpraxis zurückgeht. Die Opposition gegen das vermeintlich unangefochten herrschende Bewusstseinsmodell speist sich bei­ Deleuze aus der Arbeit über eine andere Konzeption und Praxis der Psychothera­ pie. Während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Paris VIII lernte er den Psych­ iater Felix Guattari kennen und veröffentlichte mit ihm die beiden wesentlichen bewusstseinskritischen Werke unter den programmatischen Titeln „Anti-­Œdipe“ im Jahre 1972 und „Mille Plateaux“ 1980. Ödipal fixiert sei Freud, der Phallus­ imagination und Urszene vor ein Objektverstehen setzt und detektivisch meint, den Patienten besser zu verstehen als dieser sich selbst. Die richtige analytische und phi­ losophische Perspektive ergebe sich nicht aus oder auf einer „Ebene“ oder Deutung, auch nicht aus zweien oder dreien, sondern aus unzählig vielen, tausend Plateaus eben. Kritisch geht Deleuze mit dem mythen- und subjektbeladenen Vorverständ­ nis Freuds um, dessen Deutung individueller Wünsche schon den Darlehenswunsch kaum noch erreicht. Die gesellschaftliche wie individuelle Wunschproduktion hält Deleuze für unbeendet und auch unbeendbar. Wünsche treten an die Stelle von Abwägung und kategorischem Imperativ. Den Zweck solcher Übungen formu­ liert Deleuze in einem späten Text unmissverständlich: „Pour en finir avec le juge­ ment“63 – eine Konsequenz, die sich auf die kantische Urteilsform bezieht (und nicht auf das Gericht, wie die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Schluss mit dem Gericht“ nahelegt,64 wobei „le jugement“ wahlweise mit „Richten“ oder mit „Ge­ richt“, mit „Urteilskraft“ oder auch nur mit „Urteil“ wiedergegeben wird). Für die Bedingtheiten und die bedingte Tauglichkeit der Urteilsform beruft sich Deleuze auf Nietzsche, und für den Kampf gegen seine menschenzerstörenden Konsequen­ zen erinnert er an Kafka und Artaud. Die Urteilsform setze Kriterien als die hö­ heren Werte voraus, werde allenfalls dem schon Bekannten, aber nicht dem Neuen und Werdenden gerecht, das sich einen eigenen Existenzmodus erschaffen müsse. Der deleuzeanische Imperativ heißt dann: „faire exister, non pas juger“.65 63

Gilles Deleuze, Critique et Clinique, Paris 1993, 158. Gilles Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt 2000, 171. 65 Deleuze (Fn. III. 63), 169. 64

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

109

Empfohlen wird ein Verstehen der Immanenz und nicht ein Urteilen aus der Transzendenz.66 Das Denken der Immanenz verabschiedet die Opposition zwi­ schen Gut und Böse.67 Zurückgewiesen werden Norm und Gesetz, und bevorzugt erscheinen Ereignis und Serie. Während die Rechtsnorm den herrschaftlichen An­ spruch wiedergibt (dessen Uneinlösbarkeit Deleuze als Paradoxon entfaltet), steht das Ereignis für die je vereinzelt und neu erforderliche Interpretation zwischen Normen und Fällen. Ereignisse und Abläufe kümmern sich nicht um Normen,68 auch wenn normative Enttäuschungen einen Fall begleiten mögen. Das haben an­ dere ähnlich gesehen, nur anders ausgedrückt. Für Niklas Luhmann beruht die Enttäuschungserwartung auf dem Wissen, dass es eben oft nicht so zugeht, wie man erwartet. Die Norm hält infolgedessen ein subjektives Komplement für die­ jenigen bereit, die am Glauben und nicht am Ereignis festhalten wollen.69 ­Deleuze lässt Fall wie Norm im Kern offen und interessiert sich für die Verschiebungen und Verschattungen zwischen den Serien der Normen und der Ereignisse. Alle diese Zeichenprodukte kommen nicht ein Mal, sondern viele Male vor, sie bilden Serien, die aneinander vorbeilaufen, sich überlagern, kreuzen oder annähern und entfernen. Jeder Bezeichnung gibt Deleuze nur insoweit einen Sinn, als er durch einen Namen bezeichnet werden muss, der wiederum auf andere Namen verweise: N1 → N2 →N3 →N4 … Das ist die deleuzianische Logik des Sinns.70 Wenn Rechts­ fälle Ereignisse sind, dann verläuft deren Serie über Stationen wie Antrag/An­ zeige – Einlassung – Verhandlung – Entscheidung ab und macht höchstens impli­ zite Anleihen bei Normen. Demgegenüber rollt die Serie der Rechtsnormen über Gesetze und Verordnungen, wird manifestiert in Regel/Ausnahme-Beziehungen und zielt ab auf den Kommentar, die Logik der Begründung und die Lösung eines Problems. Das Ereignis liegt quer dazu. Ereignisse stören den geordneten Aufbau jedes normativen Systems.71 Die Konstruktion des Falls verlangt Grenzziehun­ gen (die willkürlich anmuten) und einen Willen zur Wahrheit, der normativ kein Komplement hat. Das Ereignis muss erzählt und erlebt werden, es ist kein Produkt des Nachdenkens, sondern der diskursiven Kommunikation, die entfaltet, was ein Geschehen immanent ausmacht. Ob man damit nun auf eine ganz andere Art der Weltwahrnehmung stößt und nicht nur die reale Grundlage der vermeintlich uni­ versalen Sollgeltung entdeckt, bleibt offen – ein Dilemma der Immanenz, wie es Anton Schütz bezeichnet hat.72 Denn die Immanenz war und ist nur die andere Seite einer vermeintlich transzendenten Normgeltung. 66 Gilles Deleuze, Die Immanenz: ein Leben …, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl, Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, 29–33. 67 Martin Stingelin, Das Netzwerk von Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Ber­ lin 2000, 107. 68 Gilles Deleuze, Logik des Sinns (1969), Frankfurt a. M. 1993, 186. 69 Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht. Rechtstheorie in interdisziplinärem Zusam­ menhang, Berlin 2013, 72. 70 Deleuze (Fn. III. 68), 57. 71 Deleuze (Fn. III. 68), 186. 72 Anton Schütz, A Quandery concerning Immanence, Law and Critique 22 (2011), 189–203.

110

III. Der interne Gesichtspunkt

Deleuze war kein Propagandist seiner selbst, hat vielmehr alle Begrifflichkeiten und Konzepte in die Erläuterung anderer Philosophen oder in die Interpretation von Erzählungen investiert. Für das Rätsel der Immanenz kann die kleine, herme­ tische Geschichte über den Kopisten Bartleby, die Herman Melville schon 1853 veröffentlicht hat, heute als Exempel dienen. Zu dieser Zeit endete die alte Kanz­ leipraxis, Schriften abzuschreiben, um sie zu vervielfältigen (kopieren), und die Schreibmaschine trat an diese Stelle.73 Zuvor mussten sie auf Richtigkeit mit der Urschrift verglichen (kollationiert) werden. Bartleby, der kollationiert, möchte das auf einmal lieber nicht mehr. Als er stattdessen abschreiben soll, möchte er auch das lieber nicht mehr. Botengänge erledigen möchte er nicht, und als sein Dienst­ herr, ein Anwalt, aus Verzweiflung die Kanzlei räumt, möchte er lieber nicht aus­ ziehen. Das ist Deleuzes Formel: I would prefer not to, und sie ist sprichwörtlich geworden.74 Ich möchte lieber nicht  – das ist höflich, nicht aufrührerisch, aber in seiner Höflichkeit verschließt sich die Formel der Interpretation.75 Wer lieber nicht möchte, mag unwillig, unfähig, krank oder widerspenstig sein – hinter der Höflichkeit kann er es verbergen. Zum Wahnsinn werden die anderen getrieben,­ Bartlebys Kollegen wie auch sein Arbeitgeber, der ihm aus dem Weg gehen will.76 Ich möchte lieber nicht – das ist ein Ereignis, das einer jenseitigen Beurteilung und Verurteilung zwar nicht prinzipiell verschlossen ist, denn von außen und norma­ tiv zuschreiben lässt sich jedes Motiv. Aber die Formel verweigert jeden Anhalts­ punkt. Sie bleibt rätselhaft.77 Angesichts des Rätsels fragt sich: Was sieht man in der Perspektive der Spi­ noza, Nietzsche und Deleuze? Was sieht man vor allem auf dem Feld des Rechts? Jedenfalls sieht man etwas anderes als unter dem Blickwinkel der Norm. Abstrakt ausgedrückt, ändert sich die Zeichenpraxis. Der systematische, vollständige und auf die Sache ausgerichtete Anteil sinkt in den Praktiken der Rechtskonkretisie­ rung. Man kann darin metaphorische Übertragung sehen: Die Norm befindet sich im Sinkflug, der Fall hat Aufschwung. Die von außen herangetragene Beurteilung wird verweigert – meist mit wenig höflichen Worten. Aber die Geste des I would prefer not to breitet sich aus. Das kann man seit geraumer Zeit beobachten, es wird gelegentlich gefeiert und meist bekämpft, so wie der Dienstherr des Bartleby seinen Kopisten bekämpft und verachtet. Die „stratégie de rupture“ ist an die Stelle gepflegter Sachlichkeit getreten,78 es geht auch im Gewande des Rechts nicht sel­ ten ruppig und ungeschliffen zu. Werdendes Recht muss die Eleganz des herr­ schenden erst noch erlangen. Aber auch diese Eleganz im Umgang mit dem Vor­ handenen, die Neues wachsen lässt, ist ein Effekt sich ändernder Zeichenpraxis. 73

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 51. Dieter E. Zimmer, Ich möchte lieber nicht, sagte Bartleby. Gedichte und Spottstücke, Berlin 1978. 75 Gilles Deleuze, Bartleby oder die Formel (1989), Berlin 1994, 10 f. 76 Deleuze (Fn. III. 75), 25. 77 Stingelin (Fn. III. 67), 96–102. 78 Jacques Vergès, De la Stratégie Judiciare, Paris 1968, 85. 74

3. Objektqualitäten: Spinoza-Effekte, guter Geschmack und Immanenz

111

Der Spinoza-Effekt in der Rechtslehre lässt Gefühle hervortreten, in Handlun­ gen wie im sprachlichen Ausdruck. In Kurzform: Man darf seinem Antrieb fol­ gen, man muss das sogar tun, wobei Skepsis angebracht ist. Am wenigsten mag „Gerechtigkeit“ Triebfeder des Rechtsgefühls sein, und vor einem, der von sich be­ hauptet, er sehe, was gerecht sei, wird man sich in Acht nehmen müssen. Aber des­ halb dürfen Gefühle doch nicht gering geschätzt werden, auch nicht, wenn sie wi­ derspenstig sind. Man darf und soll sich streiten, Sachlichkeit ist eine Haltung, die weder von vornherein das juristische Handeln bestimmt, noch dessen Ende mar­ kiert. Nur ist die Justizform für die Abwicklung von Streitgefühlen und Rechts­ antrieben weniger geeignet, als man denkt und bisher gelehrt hat. Wer mit dem moralischen Urteil und der moralischen Verurteilung Schluss macht, wird ein neues Verfahren entwickeln müssen, das Streit ohne Entscheidungen moderiert. Er müsste sich vom vollständigen moralischen und juristischen Schluss fernhal­ ten. Das kann er meistens nicht. Im Gegenteil gibt es einen postmodernen Trend, interne Gesichtspunkte ge­ genüber einer vermeintlich fachlichen, klaren und beständigen Praxis der Rechts­ durchsetzung zu überspielen und zu verdrängen. Es sind Beamte, Richter und An­ wälte, die bestimmen wollen, was Einzelne denken und wovon sie überzeugt sein sollen. Eine Lehre vom Rechtszeichen hält demgegenüber die Differenz offen. Es gibt das Justizdispositiv (Kap. VI.) mit seinen vielfältigen Ausprägungen des Be­ gehrens und seiner Verarbeitung, aber disponiert wird dabei auch und gerade über interne Aspekte, die vom Staatsbetrieb getrennt zu halten eine erhebliche eigene Anstrengung kostet. Das eigene Recht wie auch die Rechte, derer man sich selbst berühmt, sind kein Ableger des staatlichen Rechts. Es ist eine Sache des Ge­ schmacks, Rechte, die man haben könnte, geltend zu machen. Man entscheidet sich persönlich, andere zu einer Entscheidung über das eigene Recht zwingen zu wollen. Aber es geht auch anders. Das ist das große Versprechen aus internen Ge­ sichtspunkten. Man kann sich entschließen, mit dem Verurteilen Schluss zu ma­ chen. Das heißt nicht, dass nicht mehr geurteilt wird und das Böse verschwindet. Manchmal taucht Bosheit als ikonisches Ereignis erst auf, wenn man von Rechts­ qualifikationen (die weiter sind und mehr zulassen) Abstand nimmt. Die Differenz zwischen dem staatlichen und dem gefühlten und insofern wahren Recht ist mo­ dern nicht mehr Gegenstand der Rechtslehre selbst. Zeugnis von dieser Differenz zu geben ist – ebenfalls modern – Aufgabe der fiktionalen Literatur, die dann nicht mehr so schön ist wie das Recht, das dem Vernehmen nach meistens befolgt wird. Literarische Rechtszeichen drücken diesen Rest aus oder beschreiben den Ansatz für jedes wirkliche Recht – ganz wie man es sieht. Jedenfalls verkünden sie nicht, wie richtig die Welt im Justizdispositiv eingerichtet ist.

IV. Literarische Rechtszeichen Literarische Rechtszeichen sind solche, die nicht auf einen Gerichtsprozess ab­ zielen, nicht aus ihm stammen, aber doch einen besonderen darstellerischen An­ spruch für Rechte geltend machen, einen Anspruch, der sich erst im Laufe eines Texts entwickelt, im Kommen ist und erst noch formuliert werden muss. Program­ matisch lässt sich nur so viel sagen: Das wahre Recht ist abhandengekommen. Li­ teratur bezeichnet das Recht, das man fühlt, dessen Eintritt man erwartet und dessen Gerechtigkeit zu ahnen ist, als abwesend. Damit verschwindet das Rechts­ zeichen allerdings nicht. Es wartet nach den Erzählungen vom abwesenden Recht darauf, zur Sprache gebracht zu werden. Das literarische Zeichen baut nicht auf Argumente, sondern ruft Bilder hervor, schockiert mit Eingriffen und fordert ins­ gesamt die behauptete Vernunft des Rechts heraus – semiotisch reformuliert: Lite­ ratur bietet Mischungen zwischen der Drittheit gesetzlich wirkender Legizeichen, der indexikalischen Zweitheit des äußeren Angriffs und der rhematischen, impuls­ betonten Erstheit. Das klingt zunächst schwierig und unnötig abstrakt. Nötig ist die Abstraktion auch nur für den kurzen Überblick. Der Blick auf das Detail rich­ tet sich jeweils auf einen besonderen Text, und dort meist noch nicht einmal auf den ganzen Text, sondern nur auf einige wenige zentrale Abwesenheitsmomente. Drei Texte kommen notorisch vor, wenn von Literatur im Verhältnis zum Recht die Rede ist, nämlich der Kohlhaas (1.), mit dem im Jahre 1810 die rechtssemioti­ sche Moderne beginnt, und Kafkas „Proceß“ (7.), der schon postmodern zu lesen ist. Eigentlich hätte die Parabel vom Türhüter (8.) Teil des Romans werden sollen, und der Herausgeber Max Brod hat den Roman auch so arrangiert. Tatsächlich hat sie Kafka aber 1919 selbstständig unter dem vielsagenden Titel „Vor dem Gesetz“ veröffentlicht. Die weiteren fünf Texte entgehen meist der juristischen Aufmerk­ samkeit und werden im Kontext von Recht und Literatur normalerweise nicht ein­ mal erwähnt. „Oblomow“ ist ein Typ, sprichwörtlich wie der Kohlhaas, und doch kennen nur wenige diesen anrührenden russischen Klassiker, den Literaturwis­ senschaftler als Beleg für eine lethargische Lebensform anführen und der hier als Exempel für Betrug mit den Mitteln der Rechtsform steht (2.). Für abwesendes Recht mit den Mitteln des Justizbetriebs steht jemand, der in seinem Justizleben die Ernennung zum Senatspräsidenten zwar erlebt, aber die Rolle niemals ausge­ füllt hat. Das ist Daniel Paul Schreber (3.), dessen Vater als Erfinder der Schreber­ gärten besser bekannt geworden ist als der erst posthum von Gelehrten gewürdigte Sohn. Schreber wurde von der Psychoanalyse als Zeichen entdeckt, genauer: von Sigmund Freud als dem (ersten) analytischen Interpreten von Schrebers „Denk­ würdigkeiten“ aus dem Jahre 1903. Über den Zeitraum zwischen 1888 und 1918 er­ streckt sich die Handlung von Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwand­

1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“)

113

ler“, deren letzter Teil „Hugenau oder die Sachlichkeit“ 1932 erschienen ist und mit einem sachlichen, erfolgreichen und ungesühnten Mord endet – ein Modell für abwesende Rechtszeichen (4.). Innerhalb des Justizdispositivs richtet sich die Auf­ merksamkeit häufig auf die Frage, was man unter den Bedingungen des Justizdis­ positivs sprechen und schreiben darf oder polizeilich: auf Grad und Ausmaß der Zensur. Die Frage ist nicht etwa schon beantwortet durch den Satz des Grundge­ setzes: Die Zensur ist abgeschafft. Der Satz trifft nur für die juristische Darstel­ lung zu, was am 1936 erstmals erschienenen Mephisto-Roman von Klaus Mann und dem gerichtlichen Streit in den Sechzigerjahren gesehen werden kann (5.). So wie Klaus Mann ist Joseph Roth zum Zeichen der Verfolgten, Emigranten und Un­ glücklichen geworden. Roth schreibt im Jahre 1937 über Eichzeichen, die eine be­ sondere Klasse, nämlich Dicizeichen, sind und für das stehen, was man aus ihnen selbst herauslesen kann. Mehr Genauigkeit ist nicht möglich, und gerade diese Ge­ nauigkeit treibt Josef Roths Eichmeister in den Wahnsinn (6.). Wenn in der Literatur nach den Zeichen für Recht erst noch gesucht werden muss, dann heißt das auch, dass Interpretanten – zum Objekt geworden – als gefühltes Recht nicht mehr zu erkennen sind. Der „Kohlhaas“ beispielsweise ist ein solcher Text (und keine Person), und als Text wird er zum Objekt, das durch Recht bestimmt wird und durch diese Bestimmtheit ganz allgemein auf die Rechtswahrnehmung zurückwirkt. Der Text erzeugt die Kohlhaase, denen jeder in der Justiz begegnet. Im Kohlhaas-Text geht es um eine typische, inzwischen sprichwörtlich gewor­ dene Situation, um Rechtsgründe und deren Nichtbehandlung durch Mächtige. Im „Kohlhaas“ taucht der Grund in seiner Abwesenheitsform auf, gefragt ist nämlich: 1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“) Bei Heinrich von Kleist liest man neue Worte, die doch nicht erklärungsbedürf­ tig sind. Gerade weil Juristen fortlaufend über „Gründe“ reden und damit ernste rechtliche Gründe meinen, ahnt man, was dann ein „Ungrund“ sein muss: ein ab­ wesender Grund – das, was an Stelle eines Grundes steht – ein Zeichen immerhin. Kleists Novelle über Kohlhaas erzählt, was gemeint ist. Kohlhaas soll bei der Pas­ sage über Ländereien des Junkers von Tronka einen Passschein erwerben, an des­ sen Berechtigung er zweifelt. Sie besteht auch gar nicht, denn Kohlhaas erfährt in Dresden, „daß die Geschichte von dem Paßschein ein Märchen sey“, lässt sich alsdann einen „schriftlichen Schein über den Ungrund“1 ausstellen und zieht zu­ rück, um die Pferde abzuholen, was ihm ohne weiteren Kommentar über Gründe oder Nichtgründe als solches auch nicht verwehrt wird. Allerdings sind die Pferde nicht mehr das, was sie einmal waren, und im Streit darüber entwickelt sich, was man verallgemeinernd eine Michael-Kohlhaas-Situation nennen kann. Sie beginnt 1 Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren v. Wolfgang Naucke und Joachim Linder, Baden-Baden 2000, 13.

114

IV. Literarische Rechtszeichen

mit einem Streit zwischen Kohlhaas und dem Schlossvogt, den Kohlhaas zur Rede stellt. Die Schilderung dieser Szene läuft auf ein spezielles Kleistsches Rechtszei­ chen zu, wie es aus der folgenden Passage hervorgeht, die mit Erstheitserfahrun­ gen beginnt:2 „Dem Roßhändler schlug das Herz gegen den Wams. Es drängte ihn, den nichtswürdigen Dickwanst in den Koth zu werfen, und den Fuß auf sein kupfernes Antlitz zu setzen. Doch sein Rechtgefühl, das einer Goldwaage glich, wankte noch; er war, vor der Schranke seiner eigenen Brust, noch nicht gewiß, ob eine Schuld seinen Gegner drücke; und während er, die Schimpfreden niederschluckend, zu den Pferden trat, und ihnen, in stiller Erwägung der Um­ stände, die Mähnen zurecht legte, fragte er mit gesenkter Stimme: um welchen Versehens halber der Knecht denn aus der Burg entfernt worden sey? Der Schloßvogt erwiderte: ‚weil der Schlingel trotzig im Hofe gewesen ist! Weil er sich gegen einen notwendigen Stallwech­ sel gesträubt, und verlangt hat, daß die Pferde zweier Jungherren, die auf die Tronkenburg kamen, um seiner Mähren willen, auf der freien Straße übernachten sollten!‘ – Kohlhaas hätte den Wert der Pferde darum gegeben, wenn er den Knecht zur Hand gehabt, und dessen Aussage mit der Aussage dieses dickmäuligen Burgvogts hätte vergleichen können. Er stand noch, und streifte den Rappen die Zoddeln aus, und sann, was in seiner Lage zu tun sey, als sich die Scene plötzlich änderte, und der Junker Wenzel von Tronka, mit einem Schwarm von Rittern, Knechten und Hunden, von der Hasenhetze kommend, in den Schloßplatz sprengte. Der Schloßvoigt, als er fragte, was vorgefallen sey, nahm sogleich das Wort, und während die Hunde, beim Anblick des Fremden, von der einen Seite, ein Mordgeheul gegen ihn an­ stimmten, und die Ritter ihnen, von der andern, zu schweigen geboten, zeigte er ihm, un­ ter der gehässigsten Entstellung der Sache, an, was dieser Roßkamm, weil seine Rappen ein wenig gebraucht worden wären, für eine Rebellion verführe. Er sagte, mit Hohngelächter, daß er sich weigere, die Pferde als die seinigen anzuerkennen. Kohlhaas rief: ‚Das sind nicht meine Pferde, gestrenger Herr! Das sind die Pferde nicht, die dreißig Goldgülden werth wa­ ren! Ich will meine wohlgenährten und gesunden Pferde wieder haben!‘ – Der Junker, indem ihm eine flüchtige Blässe in’s Gesicht trat, stieg vom Pferde, und sagte: ‚wenn der H… A… die Pferde nicht wiedernehmen will, so mag er es bleiben lassen. Komm, Günther!‘ rief er – ‚Hans! Kommt!‘ indem er sich den Staub mit der Hand von den Beinkleidern schüttelte; und: ‚schafft Wein!‘ rief er noch, da er mit den Rittern unter der Thür war; und ging in’s Haus.“

Kleists Zeichen heißt nicht einfach Empörung. Die Kohlhaas-Situation entwickelt sich mit der Ausbildung dessen, was bei Kleist „Rechtgefühl“ heißt und nicht ein­ fach mit dem bekannten Rechtsgefühl gleichgesetzt werden soll. Das Rechtgefühl ist – wie Joachim Rückert herausgearbeitet hat – „ein Ergebnis, nicht die Ursache der Urteilsbildung“.3 Es ist also nicht Erstheit, mit der ein Zeichenprozess beginnt, sondern Drittheit, die Vermittlungsschritte und Regelbildungen verlangt. Weil das Rechtgefühl „einer Goldwaage“ gleicht, muss erst etwas eingestellt und gewogen werden, damit es entsteht. Kohlhaas plant also eigene Ermittlungen und will erst einmal seinen Knecht zum Hergang hören, bevor er annimmt, dass der anmaßende Schloßvogt lügt. Das Rechtgefühl entsteht also in einem Verfahren, es lässt aber denjenigen, der es ausbildet, deshalb nicht emotionslos und kühl abwägend han­ 2

Kleist (Fn. IV. 1), 15. Joachim Rückert, „… Der Welt in der Pflicht verfallen …“ Kleists ‚Kohlhaas‘ als moralund rechtsphilosophische Stellungnahme, Kleist-Jahrbuch 1988/89, 375–403 (385). 3

1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“)

115

deln. Dem Kohlhaas schlägt das „Herz gegen den Wams“, und es drängt ihn, „den nichtswürdigen Dickwanst in den Kot zu werfen, und den Fuß auf sein kupfernes Antlitz zu setzen“. Das Erste wird durch die Entwicklung des Rechtgefühls nicht in den Hintergrund gedrängt, im Gegenteil: Die Michael-Kohlhaas-Situation ist ganz und gar gefühlsbeladen und von Erstheit auf beiden Seiten umstellt. Nicht nur Kohlhaas, auch der Junker und der Schlossvogt werden von einem Ersten getrieben, das sich durch Gründe nicht zurückdrängen und die materiellrechtliche Ausgangs­ frage völlig vergessen lässt. Denn man könnte durchaus darüber streiten, ob der Eigen­tümer einer Sache sie nicht trotz Beeinträchtigung zurücknehmen muss. Dennoch wirkt Kleists Text stark und unmittelbar und ermangelt aller Nickelig­ keiten des Querulantentums. Was die Rechtsverletzung herbeiführt und die Würde verletzt, verlegt Kleist ins Verfahren selbst und in die Behandlung einer Rechts­ sache durch Machtorgane, erst des Junkers, dann des sächsischen Staats insgesamt. Die Michael-Kohlhaas-Situation ergibt sich aus der Behandlung des situativ zu­ nächst einmal Ohnmächtigen, den man seine Machtlosigkeit fühlen lässt. „Schafft Wein“ – das ist der Kommentar des Mächtigen, der dem Ohnmächtigen zu verste­ hen gibt, dass er nichts gilt, egal wie viele Gründe auf seiner Seite wären. „Schafft Wein“ – das ist die zudringliche Zweitheit, die sich nicht um einen Antrieb oder eine Herausforderung kümmert und regelhafte Vermittlung scheut. Von Rechtsan­ sprüchen redet der Junker nicht, und so bleibt es in Kleists Geschichte. Niemand befasst sich jemals mit dem Rechtsproblem, wie ein Schaden an wider besseres Wissens einbehaltenen Pferden auszugleichen wäre, und Literaturwissenschaft­ ler, die den Text lesen,4 gehen davon aus, dass Kleist selbst nicht an das gemeine Recht im 16. Jahrhundert dachte, sondern an das zeitgenössische preußische Allge­ meine Landrecht. Das kann aber dahinstehen, weil die richtige Lösung im Kontext der Novelle abwesend bleibt. Das Land Sachsen setzt fort, was der Junker begon­ nen hat, und befasst sich mit dem Recht nicht. Kleists Kohlhaas leidet am Justiz­ dis­positiv, und er muss leiden, weil das Verfahren keines ist. Sein Ergebnis steht nämlich schon am Anfang fest, und damit fehlt eine notwendige Bedingung der Form. Darüber hinaus fehlt jegliche Beschäftigung mit dem Inhalt des Streits. So erfährt Kohlhaas das Verfahrensergebnis nur mittelbar durch ein „Schreiben des Stadthauptmanns, des Inhalts,5 „es thue ihm leid, daß er nichts in seiner Sache tun könne; er schicke ihm eine, an ihn er­ gangene, Resolution der Staatskanzlei, und rathe ihm, die Pferde, die er in der Tronkenburg zurückgelassen, wieder abführen, und die Sache übrigens ruhen zu lassen. – Die Resolution lautete: ‚er sey, nach dem Bericht des Tribunals in Dresden, ein unnützer Quärulant; der Jun­ ker, bei dem er die Pferde zurückgelassen, halte ihm dieselben, auf keine Weise, zurück; er mögte nach der Burg schicken, und sie holen, oder dem Junker wenigstens wissen lassen, wohin er sie ihm senden solle; die Staatskanzlei aber, auf jeden Fall, mit solchen Placke­ reien und Stänkereien verschonen.‘“ 4 Theodore Ziolkowski, Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen (1990), München 1992, 149. 5 Kleist (Fn. IV. 1), 25.

116

IV. Literarische Rechtszeichen

Weder vom Tribunal noch von der Staatskanzlei erfährt man irgendeinen Rechtsgrund. Damit steigert Kleist das historische Vorbild, in dem schon äußer­ lich gar kein Verfahren stattgefunden hat, weil der dafür zuständige Amtmann es nach einem Güteversuch nicht eingeleitet hat. Person und Situation sind ansons­ ten historisch belegt. Beim Kaufmann Hans Kohlhase wurden 1532 auf dem Weg nach Leipzig durch die Bauern eines sächsischen Junkers zwei Pferde beschlag­ nahmt, die dieser weder gütlich noch gerichtlich freibekommen konnte. Allerdings fielen die Prozessbemühungen des historischen Kohlhase nach den Akten ebenso dürftig aus, wie es das Justizgewährungsangebot des sächsischen Staates war. Vor sächsischen Verwaltungsstellen fanden zwar Güteverhandlungen statt, die aber zu keinem Ergebnis führten, weil Kohlhases Gegner Zaschwitz – darin dem Kleist­ schen Tronka gleich – jeden Kompromiss verweigerte. Kohlhase wertete dies als Verzögerungstaktik, beharrte aber nicht weiter auf dem Rechtsweg, sondern sam­ melte Unzufriedene um sich und sagte dem Junker wie dem ganzen Lande Sach­ sen die Fehde an. Rechtshistoriker wie Malte Dießelhorst sehen zwar, dass im Reich seit 1492 der Allgemeine Landfrieden galt, der die Fehde verbot, und Die­ ßelhorst sieht weiter, dass Kohlhase als Nichtadeligem wohl gar kein Fehderecht zustand  – gleichwohl: Die Fehdepraxis habe auch im 16.  Jahrhundert angehal­ ten, und was Kohlhase unternommen habe, siedelt Dießelhorst noch im Bereich der Fehdegewalt an. In Wirklichkeit hat Kohlhase weder die Burg des Zaschwitz verwüstet – wie es Kleists Novelle drastisch schildert – noch hat er die Stadt Wit­ tenberg in Brand gesteckt, wie Kleist ebenfalls erzählt. Vielmehr war er über Jahre mit nadelstichartigen Überfällen auf sächsisches Gebiet erfolgreich, denn­ Kohlhase stammte aus Kohlhasenbrück bei Berlin und war Untertan des Kurfürs­ ten von Brandenburg, der dem Hause Sachsen zur Fehdezeit jedenfalls zunächst nicht gewogen war. Das änderte sich erst mit dem Regierungsbeginn des Kurfürs­ ten ­Joachim II., der Kohlhase nach längeren Kämpfen schließlich auf brandenbur­ gischem Gebiet gefangen nehmen und hinrichten ließ. Im Kohlhase-Fall wurde darüber gestritten, ob der Durchreisende Eigentümer der Pferde war oder als Dieb behandelt werden konnte, was – wie Dießelhorst her­ vorhebt – für die Nachwelt von Anfang an als Schutzbehauptung erscheint, denn wäre Kohlhase als Dieb verdächtig gewesen, hätte man ihn auch nach Zurücklas­ sung der Pferde nicht einfach ziehen lassen dürfen.6 Die Sache blieb in Erinnerung wegen der langen Dauer der Fehde und ihrer Reichweite. Die eigentliche Rechts­ frage hat der verhinderte Student der Rechte Heinrich von Kleist erst 280 Jahre ­ iadrina wurde später dazukomponiert. Aus dem möglichen Rechtsstudium an der V es nichts, aber Kleist – der die Universität nach drei Semestern 1801 verließ – be­ obachtete, was seine Zeitgenossen Willkür nannten. Die zeitgenössische Parallele zum „Kohlhaas“ konnte man etwa in der Enteignung des Freiherrn vom Stein se­ hen, eines nassauischen Adligen in preußischen Ämtern. Kleist sympathisierte mit 6 Malte Dießelhorst/Arne Duncker, Hans Kohlhase. Die Geschichte einer Fehde in Sach­ sen und Brandenburg zur Zeit der Reformation, Frankfurt a. M. u. a. 1999, 24.

1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“)

117

der preußischen Rechtsreform und war entschieden anti­napoleonisch gestimmt. Im Jahre 1804 verfügte der gerade selbst gekrönte Kaiser von Frankreich das Ende des Heiligen Römischen Reiches, mit dem auch das Ende aller Reichsfreiherrn besiegelt war. Der Fürst von Nassau-Usingen beeilte sich deshalb, die reichsun­ mittelbaren Besitztümer einzuziehen, zu denen in seinem Bereich der Steinsche Grund­besitz gehörte. Der Kleist-Biograf Günter Blamberger stellt Steins damals öf­ fentlich verbreiteten Anklagebrief gegen den Fürsten von Nassau mit dem Schluss­ satz vor, ihm werde auferlegt, „Opfer nicht irgend einem großen edlen, das Wohl des Ganzen befördernden Zweck zu bringen, sondern um der gesetzlosen Über­ macht zu entgehen, um – doch es giebt ein richtendes Gewissen und eine strafende Gottheit“.7 Das waren zeitgenössisch starke Worte gegen die Landesherrschaft, mit denen die Bindung der Herrschaft an einige oder an das Rechtszeichen einge­ klagt worden ist. Darum geht es in Kleists Fassung des „Michael Kohlhaas.“ Die­ ser Kohlhaas transponiert den deutschen Rechtsidealismus ins 16. Jahrhundert und macht aus der Geschichte einer relativ erfolgreichen Fehde die unvergessliche und unvergängliche Michael-Kohlhaas-Situation, die Wolfgang Naucke als wiederkeh­ rendes Zeichen hervorgehoben hat.8 Was zeichnet eine Michael-Kohlhaas-Situation aus? Kleist nimmt an der his­ torischen Geschichte des Kohlhase zwei wesentliche Korrekturen vor. Dass der Streit tatsächlich keine rechtlich ernst zu nehmende Fassung angenommen hat, er­ klärt Kleist zum Versäumnis der sächsischen Justiz und ihres ebenso korrupten wie hochfahrenden Gebarens. Zum allgemeinen Kennzeichen wird, dass die Justiz sich inhaltlich oder – wie man modern sagen kann – argumentativ mit Kohlhaas’ Rechtsbegehren gar nicht auseinandersetzt. Rückert stellt ganz einfach „Rechts­ verweigerung“ fest,9 und in Kleists Geschichte findet diese Rechtsverweigerung Ausdruck in dem Bericht des Tribunals in Dresden, Kohlhaas sei ein unnützer Querulant. Damit kann man nach heutigem Verständnis eine Rechtsfrage selbst dann nicht beantworten, wenn derjenige, der sie aufwirft, ein Querulant wäre. Das ist Kohlhaas aber nicht, wenn man der Novelle folgt. Auffällig ist nur, dass die Frage nach der Behandlung der Pferde weder menschen- noch auch nur tierschutz­ rechtliche Belange anspricht. Sie wirkt randständig, und das ist auch ein Kennzei­ chen der Kohlhaas-Situation. Deshalb sieht Ernst Bloch, der letzte Meister eines politisch-philosophisch ernst zu nehmenden Naturrechts, den Kleistschen Kohlhaas als Musterbeispiel für über­ steigerte Rechtsleidenschaft,10 als Leidenschaft für nicht verallgemeinerungs­ fähige Rechte. Denn Kohlhaas kämpft für eine bestimmte Art der Durchsetzung von Schadensersatz, „Naturalrestitution“ genannt, besteht er doch darauf, dass 7

Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2011, 416. Wolfgang Naucke, Die Michael Kohlhaas-Situation. Ein juristischer Kommentar, in: (Fn. IV. 1), 11–129. 9 Rückert (Fn. IV. 3), 378. 10 Bloch (Fn. I. 119), 93 f. 8

118

IV. Literarische Rechtszeichen

die Rappen ihm „dickgefüttert“ und in gutem Zustand übergeben werden. Dafür lässt sich kein naturrechtlicher Satz mobilisieren. Insofern sieht Bloch Kohlhaas für eine Sache kämpfen, die des Kampfes eigentlich nicht wert ist, weil sie nicht Gegenstand natürlichen Rechts ist. Überhaupt lässt sich Schadensersatz mit na­ turrechtlichen Kategorien kaum fassen. Schadensersatz scheint ganz und gar dem gesetzten staatlichen Recht anzugehören, man kann ihn so oder so gewähren. Das ist das Vertrackte an der Kohlhaas-Situation. Sie steigert sich unmäßig und wird umso plausibler, je mehr Kohlhaas sie steigert, weil er erst dabei die wirklich gra­ vierenden Rechtsverletzungen erfährt. Der Bürgerkrieg, in den Kleist das Fehlen eines Rechtsverfahrens münden lässt, hat zwei Täter und Beteiligte, den Kurfürs­ ten von Sachsen, der aber nur den Anspruch der Herrschaft geltend macht, und Kohlhaas, der programmatisch Krieg erklärt. Dabei greift Kleist den öffentlichen Brief des Reichsfreiherrn vom Stein auf und formuliert einen Fehdebrief, der das historische Vorbild erheblich zuspitzt.11 Das „Kohlhaasische Mandat“ fordert die Staatsmacht in einzigartiger Weise heraus, dem Junker, „mit dem er in einem ge­ rechten Krieg liege, keinen Vorschub zu tun“, und verpflichtete „jeden Bewoh­ ner, seine Verwandten und Freunde nicht ausgenommen, … denselben bei Strafe des Leibes und unvermeidlicher Einäscherung alles dessen, was ein Besitztum heißen mag,“ an Kohlhaas auszuliefern.12 Das Besondere an Kleists Text besteht darin, die grundsätzliche Entgegensetzung von Staat und Bürger literarisch zu er­ proben und Recht gegen Macht in Stellung zu bringen, Drittheit gegen Zweitheit. Kohlhaas ist wie sein historischer Vorgänger so erfolgreich, dass die Staatsmacht unruhig werden muss und den Doktor Martin Luther einschaltet, den Kleist dem Kohlhaas persönlich gegenübertreten lässt, während der historische Kohlhase von Luther nicht mehr als einen Brief empfangen hat. Danach folgt die andere Seite der Novelle, in der die Auseinandersetzung um die Pferde nur noch den Rahmen bil­ det und die justizielle Behandlung einer Rechtssache durch den Staat in den Vor­ dergrund rückt. Kleist macht hier einen Unterschied und beschränkt seine Wertschätzung des Staates auf einen bestimmten, den preußischen Reformstaat. Darin ist er dann wie­ der ganz Zeitgenosse des Freiherrn vom Stein. In der speziell an Juristen adres­ sierten Kohlhaas-Ausgabe aus der Reihe der juristischen Zeitgeschichte (die hier auch für die Novellenzitate benutzt wird) ist es nach Wolfgang Naucke der KoKommentator Joachim Linder, der fünf der Rechtsordnung gewidmete KohlhaasLektüreszenen vorstellt, die den ersten fünf, ins Chaos führenden Szenen fol­ gen.13 Kleist fingiert einen Amnestievorschlag durch Luther, nach dem Kohlhaas zunächst scheinbar triumphieren kann. Der Junker von Tronka erscheint entehrt und würdelos so lange, bis sich die öffentliche Meinung in Dresden nach einer Intrige des vormaligen Kohlhaas-Genossen Nagelschmidt wieder gegen diesen 11

Enthalten in: Dießelhorst/Duncker (Fn. IV. 6), 188–190. Kleist (Fn. IV. 1), 35. 13 Joachim Linder, Mobilisierung und Diabolisierung der Zeichen, in: (Fn. IV. 1), 131–163 (145–150). 12

1. Ein schriftlicher Schein über den Ungrund (Kleist: „Michael Kohlhaas“)

119

wendet. Der wahre Prozess wird Kohlhaas in Brandenburg gemacht, weil der sächsische Kurfürst kein Interesse an der Rechtsfrage hat, sondern stattdessen eines Zettels habhaft werden will, den Kohlhaas von einer Zigeunerin erhalten hat und auf dem das Schicksal Brandenburgs und Preußens vorhergesagt ist. Nach­ dem sich der Kurfürst vermeintlich der Richtigkeit der Weissagung versichert hat, verschluckt Kohlhaas den Zettel vor seiner Hinrichtung, nachdem er ihn gelesen hat. Man muss sich selbst zusammenreimen, dass mit Kohlhaas auch das Land Sachsen in der Person seines Herrschers hingerichtet wird. Kohlhaas’ Ende ist bei Kleist nicht mehr einfach durch einen Wechsel von Herrscher und Politik und da­ mit von der Zweckmäßigkeit der Macht abhängig, sondern wird zum versöhnen­ den, triumphierenden Akt im Justizdispositiv (Kap. VI.). Brandenburg triumphiert über Sachsen und Kohlhaas düpiert den sächsischen Kurfürsten, dem ein düste­ res Schicksal droht, für das „man das Weitere in der Geschichte nachlesen muß. Vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenburgi­ schen, einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.14“ So endet die Novelle, und ihr Ende wird in der Regel nicht erinnert und diskutiert, kaum wird es Gegenstand der Rechtskritik. Kleist braucht dafür einen Martin Luther mit einem Amnestie­ vorschlag, den beide Seiten aufgreifen, und er will am Ende einen Reformstaat wie den preußischen, der die Sache zu einem glorreichen Ende bringt und im Übrigen dabei verschiebt. Es geht am Ende nämlich nicht mehr um die betrügerische Weg­ nahme der Pferde, sondern es geht darum, dass Spießgesellen des Kohlhaas ihre Mordbrennerei fortsetzen. Damit gewinnt die Staatsmacht mit ihrem Ordnungs­ anspruch und braucht sich tatsächlich um die Bearbeitung schwieriger kleinteili­ ger Rechtsfragen zum Futtergeld nicht mehr zu kümmern. Kleist lässt die Pferde dem Hinzurichtenden zustellen – ein gewollt paradoxer Schluss. Als Rechtszeichen ist die Michael-Kohlhaas-Situation geblieben. Abstrakt kann man sie daran erkennen, dass sich die Erstheit der rechtlichen Reaktion in degene­ rierter Form aus der Drittheit ihrer Behandlung ergibt. Vorsichtiger verallgemei­ nernd heißt das: Zunächst einmal handelt es sich um eine sehr alltägliche und in vieler Hinsicht banale Situation, die weder Leben und Tod noch Hab und Gut all­ gemein zur Debatte stellt. Es ist auch nicht ganz einfach, Dritten die Streitanteile überhaupt deutlich zum machen, ohne auf Einzelheiten, Entwicklungen oder Für und Wider einzugehen. Erst die Art der Drittvermittlung führt zu einem dann aber starken Gefühlsstau, der sich auf Kohlhaas’ Seite mit einem spontanen Rechts­ gefühl des Lesers bzw. des dritten Beobachters verbindet. Die Macht- wie die Be­ gründungsverhältnisse sind empörend ungleich verteilt. Der Ohnmächtige hat gute Gründe auf seiner Seite, mit denen sich niemand beschäftigt, es regiert stattdessen der Ungrund des situativ Mächtigen. Aber je länger eine solche Kohlhaas-Situ­a­ tion andauert, um so schwieriger ist es, sie zu entwirren, mit der Folge, dass am Ende alles zu einem ganzen Chaos ausartet.15 Beschränkt man sich darauf, muss 14

Kleist (Fn. IV. 1), 107. Naucke, in: (Fn. IV. 1), 127.

15

120

IV. Literarische Rechtszeichen

man sich – wie Naucke kommentiert – „klarwerden, ob man Kleists Kohlhaas mit Angst um Kohlhaas oder Angst vor Kohlhaas liest“.16 Die Polarisierung beginnt in dem berühmten ersten Satz, in dem Kleist seine Hauptfigur als einen der „recht­ schaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ vorstellt. Die Wortstellung war schon zu Kleists Zeit abseitig und verwirrt bis heute. Es ist nicht der rechtschaffene und zugleich entsetzliche Mensch, sondern der rechtschaffenste zugleich und entsetzlichste. Man muss sich entscheiden, was zuerst kommt. Der Text sympathisiert durchaus mit der Rechtschaffenheit, die dem Wort nach auch einschließt, dass das Recht, an das man sich hält oder halten will, erst noch zu schaffen ist. Aber er stellt auch nachdrücklich das Entsetzen aus, das ungenügen­ des Recht oder schlimmer noch: das gänzliche Ausbleiben des Rechts und seine Ersetzung durch die Macht der Waffen auslösen. Kohlhaas steht auch für eine li­ terarische Version des Terroristen.17 Die literarische Nachwelt – etwa in Gestalt des Rudolf von Jhering – hat Kohl­ haas Reverenz erwiesen und ihn dann in eine literarische Ecke gestellt. Jhering rühmt den gerechten Aufstand, den Kohlhaas gegen die eigentlich Schuldigen an­ zettele.18 Der Einzelne stehe hier gegen die etablierte Jurisprudenz auf. Allgemein verstanden wird aber im Wesentlichen nur das Motiv der Rache. Zur Literatur der Rache zählt Richard Posner den Kohlhaas19 und reduziert ihn damit folgenreich. Denn die Michael-Kohlhaas-Situation ist zwischen Staat und Bürger angesiedelt und lässt die Rache für sich genommen immer scheitern. Naucke sieht sie darin, dass einem Bürger von Personen, die sich auf staatlichen Einfluss berufen, Leben, Freiheit, Hab und Gut genommen werden, ohne dass es einen Weg gebe, Staats­ personen mit dem Unrecht zu befassen. Wenn sich der Bürger dann gegen den ungerechten Staat wende, sei Schlimmes sowohl für die Kohlhaase als auch für die Staatsrepräsentanten zu erwarten. Begeht der Staat Unrecht – lautet Nauckes­ Fazit – „so ist die Ordnung für alle dahin.“20 Das ist in der Tat eine wirkmächtige Kohlhaas-Lektüre, die einen vor die Wahl stellt, ob man nun ein Kohlhaas werden will oder nicht – eine schon sprichwörtliche rhetorische Frage im Rechts­betrieb, denn die Antwort versteht sich von selbst und wird meist von denen, die die Frage stellen, gleich mitgeliefert: Nein, ein Kohlhaas wolle man (natürlich) nicht wer­ den. Wie Naucke hervorhebt, triumphiert in allen praktischen Kohlhaas-Fällen die betriebsförmige Staatsmacht, entweder indem sie ihre Herrschaft behält (und die Kohlhaase verurteilt) oder scheitert, selbst verurteilt und durch eine andere Staats­ macht ersetzt wird (die dann frühere Kohlhaase, die es gar nicht gewesen sind, re­ habilitiert).21 Theodore Ziolkowski sieht Kleist als Herold des gerade verkünde­ 16

Naucke, in: (Fn. IV. 1), 112. Friedmar Apel, Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei, Berlin 1987, 146. 18 v. Jhering, Kampf um’s Recht (Fn. I. 47), 118. 19 Richard Posner, Law and Literature, 69 f. 20 Naucke, in: (Fn. IV. 1), 127. 21 Naucke, in: (Fn. IV. 1), 129. 17

2. Alles gesetzlich (Gontscharow: „Oblomow“)

121

ten preußischen Allgemeinen Landrechts, das sich freilich – was eigenmächtige Selbsthilfe angeht – ganz eindeutig gegen alle Kohlhaase entscheidet.22 Im Pro und Contra Kohlhaas überwiegt im realen Ergebnis das Contra. Das ist Hobbes ge­ schuldet und schließt eine Verbeugung vor der Zweitheit des Rechtszeichens ein. Es bleiben die Kohlhaase, die es wirklich gibt, die aber eine uneigentliche, abwer­ tende Einschätzung erfahren. Sie sind irgendwie krank oder werden Querulanten (Kap. X. 5.), indem sie sich als Kohlhaase stilisieren. Der Kohlhaas hat – wie man bei Rupert Gaderer nachlesen kann23  – eine ganze Epoche psychiatrischer Ein­ schätzungen und Gutachten geprägt, er ist Praxis geworden, ohne dass der Novel­ lenhintergrund dabei noch eine wesentliche Rolle spielte. Trotz Kleists Kohlhaas sieht man im Wesentlichen den Staat im Recht – selbst wenn er in Schriftform einen Ungrund bescheinigt. 2. Alles gesetzlich (Gontscharow: „Oblomow“) Das Recht ist als Zeichen abwesend, wenn man eigentlich danach verlangt. Es steht nicht im Mittelpunkt und könnte sich allenfalls aus der degenerierten Fassung symbolisch entwickelter anderer Zeichen ergeben. Dafür kann man einen (gerade neu ins Deutsche übersetzten) russischen Text lesen. Iwan ­Gontscharow hat unter dem Titel „Oblomow“ sein Lebenswerk vollendet und Russland, seinem Heimat­ land, in dem er staatlich bestellter Zensor war, mit dem Spiegelbild des ­Oblomow den Weg in die Moderne weisen wollen. In der Literaturwissenschaft über den russischen Roman des 19. Jahrhunderts stehen die Modernisierung Russlands, die notwendige Gesellschaftskritik und natürlich die Liebe im Vordergrund seines Oblomow-Romans. Rechtsfragen tauchen in der Rezeption nicht auf, obwohl sie den Gang der Handlung strukturieren. Denn im „Oblomow“ gibt der Autor einen Hinweis auf die Kontrolle allgemeiner Vertragsbedingungen aus Gründen struk­ turierter Gerechtigkeitsüberlegungen. Von solchen privatrechtlichen Details han­ deln Romane zumeist nicht. Zugrunde liegt eine im Kern sparsame Geschichte. Oblomow hat ein beträcht­ liches Landgut in einem kleinen Dorf an der Wolga geerbt und war Spielkame­ rad und Freund eines Nachbarkinds deutsch-russischer Eltern, das den sprechen­ den Namen Andrej Stolz trägt. Während Stolz ebenso werk- wie erfolgsorientiert sein benachbartes Gut verwaltet, seine Tage in Petersburg verbringt und seine Er­ fahrungen in Westeuropa sammelt, lebt Oblomow einfach und nur so vor sich hin – scheinbar mit nichts und für nichts. Aber das ist nur ein Schein, weil auch Nichtstuer im Alltag etwas tun müssen, zum Beispiel Geld verdienen aus den Er­ trägen des Grundbesitzes oder umziehen, wenn sie aus der Wohnung gekündigt werden. Damit beginnt der Roman. Weil Oblomow weder Geld verwalten noch 22

Theodore Ziolkowski, The Morror of Justice. Literary Reflections of Legal Crises, Prince­ ton 1997, 205. 23 Rupert Gaderer, Querulanz. Skizze eines exzessiven Rechtsgefühls, Hamburg 2012, 52–71.

122

IV. Literarische Rechtszeichen

umziehen kann, ziehen ihn seine russischen Freunde, kleinbürgerliche Gauner, zu sich um und quartieren ihn bei der verwitweten Schwester des einen auf der „falschen“, dem modernen gesellschaftlichen Leben abgewandten Seite der Newa in Petersburg ein. Aber selbst jemand, der so wenig tut wie Oblomow, kommt in Gesellschaft und verliebt sich, und zwar – das ist der dramaturgische Kunstgriff Gontscharows, der seine eigene gescheiterte Liebe verarbeitet  – in eine aktive, wissens- und lernbegierige junge Frau, die nach den Maßstäben der russischen Adelsgesellschaft noch als Kind und Mädchen gilt, Oblomow aber doch energisch verändern will. Indem Oblomow nichts tut, tut er, was er nicht will, er behält die ungeliebte Wohnung und verliert die geliebte Frau – an seinen Jugendfreund und Gönner Stolz. Aber tragisch ist das nicht. Denn die Wohnungswirtin, die Schwes­ ter der russischen Kleingauner, erweist sich als weder falsch noch böse noch le­ bensfeindlich. Sie beschert Oblomow leckere, üppige Speisen, sie ermöglicht ihm durch ständige Arbeit einen mühelosen Tagesablauf ohne eigene Arbeit und be­ schert Oblomow auch noch einen Sohn, der dann nach Stolz Andrej genannt wird. Mit alledem bringt sie Oblomow allerdings auch um. Er stirbt nach wenigen Jah­ ren an Schlagfluss. So zusammengefasst, bleibt immerhin noch ein zentrales Rechtszeichen in ne­ gativer Fassung sichtbar. Oblomow entscheidet nicht und damit entscheidet er, sich für das zu entscheiden, was er nicht will und vor allem: sinnvollerweise gar nicht wollen kann – eigentlich. Die Entscheidung durch Nichtentscheidung heißt dann auch im Fortgang des Romans „Oblomowerei“. Daran  – lässt Gontscharow am Schluss Stolz sagen – sei Oblomow eigentlich gestorben, an Oblomowerei. Wenn man von Zeichen aus Objekten durch Interpretanten (neue) Zeichen setzt, dann lie­ gen Entscheidungen in allen diesen Setzungen. Oblomowerei lässt den Interpretan­ tenbezug im Ungefähren, so dass Oblomow von Zeichen über Objekte zu Zeichen zu stolpern scheint, ohne dass ihm daran von seinem Autor ein aktiv interpretie­ render Anteil zugestanden wird. Die Mietenfrage hat im Roman eine zentrale Ob­ jektstellung. Oblomow braucht eine Wohnung und mietet sie mithilfe und nach Einflüsterung seiner Freunde, deren aktiven Anteil er zwar bemerkt, aber nicht be­ seitigen kann. Was im Recht Medium ist – einen Vertrag abzuschließen –, wird für Oblomow zur Entscheidung und zum Objekt, nämlich in Form der Unterschrift, die er unter den Mietvertrag für die Wohnung der Schwester jenseits der Newa setzt, obwohl er diese doch eigentlich und willentlich gar nicht beziehen will. Iwan ­ eschicke Matwejewitsch, das „Brüderlein“ der Schwester, gestaltet Oblomows G durch die Schwester als sein eigenes willenloses Werkzeug. Er lässt ­Oblomow einen Mietvertrag unterschreiben und breitet genüsslich den von ihm selbst gestal­ teten Vertragstext wieder aus, als Oblomow nicht mehr will. Er kann sicher sein, dass Oblomow den Text nicht gelesen, geschweige denn verstanden hat, was im Vertrag zu lesen ist, nämlich:24 24 Iwan Gontscharow, Oblomow. Roman in vier Teilen (1859), übers. v. Vera Bischitzky, München 2013, 463 (Dritter Teil, Kap. 3).

2. Alles gesetzlich (Gontscharow: „Oblomow“)

123

„‚Sollte ich, Oblomow, beabsichtigen, die Wohnung vor Ablauf der Frist aufgeben, bin ich verpflichtet, sie einer anderen Person unter den gleichen Bedingungen zu überlassen oder, im gegenteiligen Falle, ihr, der Pschenizyna, den Ausfall zu kompensieren und den gesamten Betrag für ein Jahr zu begleichen bis zum ersten Juni kommenden Jahres‘, las Oblomow. ‚Wie das?‘ sagte er. ‚Das ist ungerecht.‘ ‚So steht es im Gesetz‘, bemerkte Iwan Matwejewitsch. ‚Sie haben selber unterschrieben; hier ist Ihre Unterschrift!‘“

Der Roman von 1859 führt damit ins Recht der vorformulierten, einseitig auf­ gestellten allgemeinen Geschäftsbedingungen ein. Zitiert wird das Formular eines Mietvertrags, der seitdem und bis heute in Formularform unter den Men­ schen kursiert, nur mit wechselndem Inhalt. Aber der Inhalt scheint – wie eben­ falls seitdem üblich – gebilligt zu werden wegen eines ausdrücklichen Zeichens: Sie haben selber unterschrieben! Man operiert also mit der Unterschrift als einem Zeichen, das wie kein anderes darstellt, was es bedeutet. Die Unterschrift macht etwas zum privaten Gesetz, weil derjenige, der unterschrieben hat, dem Inhalt of­ fenbar zustimmt (Kap. V. 3.). So steht es nämlich im Gesetz. Diese einfache Lehre scheint Oblomow erteilt zu werden, als er gegen die Berechnung eines einjähri­ gen Schadensersatzes wegen Vertragskündigung protestiert und das Zeichen „un­ gerecht“ erwähnt. Für die Gerechtigkeit steht das Gesetz. Das ist schon 1859 die heute ­„positivistisch“ genannte Weisheit. Wenn es also gelingt, den anderen einen für ihn ganz ungünstigen Vertrag unterschreiben zu lassen, kann man auf diese Weise das scheinbar so ferne Gesetz ganz nah auf seine Seite ziehen – und sich hemmungslos freuen. So freuen sich die Gauner im Roman:25 „‚Und den Vertrag, was für einen Vertrag wir abgeschlossen haben?‘ brüstete sich Tarantjew. ‚Du bist ein Meister darin, Papiere vollzukritzeln, mein Lieber, ein Meister, bei Gott! Er­ innerst du dich noch an meinen seligen Vater? Auch ich war nicht ungeschickt, bin aus der Übung gekommen, Gott ist mein Zeuge, aus der Übung gekommen bin ich. Kaum habe ich mich gesetzt, schon tränen mir die Augen. Hat den Vertrag gar nicht gelesen und einfach unterschrieben. Mitsamt den Gemüsegärten, Pferdeställen und Speichern …‘“

Mit dem Vollkritzeln eines Papiers kann man offenbar das Gesetz auf seine Seite ziehen – das sollte man nicht denken, aber manche tun es doch. Meist reicht in solchen Fällen ein Papier nicht aus. Die Gauner benötigen weitere, um die Beute auf ihre Seite zu ziehen. Sie lassen Oblomow dazu einen Schuldschein un­ terschreiben und ersinnen dann eine Konstruktion gegen die Schwester, die später auch einem Angriff durch Oblomows sogenannten „deutschen Freund“ standhal­ ten soll. Juristisch schulmäßig gesehen, sind das Beziehungen im Dreiecksver­ hältnis. Wenn die Schwester einen Anspruch gegen ihren Mieter hat und eigent­ lich sie den Mietzins bekommen sollte, muss man das Geld von ihr mithilfe eines anderen ­Papiers wieder abziehen. Also überlegt sich der Meister im Vollkritzeln Folgendes:26 25

Oblomow (Fn. IV. 24), 545. Oblomow (Fn. IV. 24), 600.

26

124

IV. Literarische Rechtszeichen

„‚Meine Schwester wird mir einen Schuldschein über die gleiche Summe geben; den lasse ich sie unterschreiben.‘ ‚Und wenn sie nicht unterschreibt? Wenn sie sich weigert?‘ ‚Meine Schwester?‘ Und Iwan Matwejewitsch brach in ein dünnes Gelächter aus. ‚Sie wird unterschreiben, Gevatter, sie wird unterschreiben, ihr eigenes Todesurteil würde sie unterschreiben und keine Fragen stellen, sondern nur lächeln wird sie, ‚Agafja Pschenizyna‘ wird sie schief und krumm druntersetzen und nie erfahren, was sie da unterschrieben hat. Und wir beide, verstehst du, wir bleiben im Dunkeln: meine Schwester wird dann Forde­ rungen an den Kollegiensekretär Oblomow haben und ich an die Kollegiensekretärswitwe ­Pschenizyna. Soll der Deutsche doch toben – es ist alles gesetzlich!‘ sagte er und hob die zit­ ternden Hände gen Himmel. ‚Darauf lass uns trinken, Gevatter!‘ ‚Es ist alles gesetzlich!‘ sagte Tarantjew begeistert. ‚Lass uns trinken!‘“

„Alles gesetzlich“ erscheinen zu lassen, ist das Ziel aller Kritzeleien, und Gau­ ner – so wie sie vorgestellt werden – haben nun einmal die von den Berufsjuristen abgeschaute Vorstellung, mit bekritzelten Papieren lasse sich das Ende bewerkstel­ ligen. Der Betrug nimmt langsam Fahrt auf, denn man tut, was man denkt. Zuerst soll Oblomow einen Schuldschein über die Höhe der Mietschulden unterschreiben, aber nicht etwa aus Zwang. Iwan Matwejewitsch weiß, dass das eine Straftat ist und die Unterschrift dann nichts wert wäre. Man muss es anders machen; „er liebt doch Johannisbeerschnaps. Wenn ihm der zu Kopf gestiegen ist, gibst du mir ein Zeichen: dann komme ich mit dem Schuldbrief.“27 Das entspricht zwar auch nicht dem Gesetz, ist aber aus der Sicht von Gaunern nicht so einfach nachweisbar. Es geschieht wie gedacht, und es folgt – wie man ebenfalls vorausgesehen hat – eine Konfrontation mit Stolz, „dem Deutschen“. Dort operiert Iwan Matwejewitsch mit dem Schuldschein:28 „Er holte ein Dokument heraus und zeigte mit dem zitternden Mittelfinger der rechten Hand, den Nagel nach unten gekehrt, auf Oblomows Unterschrift und die Beglaubigung des Notars. ‚Es ist gesetzlich‘, sagte er, ‚ich habe damit nichts zu tun; ich vertrete nur die Interessen meiner Schwester, wieviel Geld sich Oblomow aber geliehen hat, ist mir unbekannt.‘ ‚Damit ist die Angelegenheit noch nicht erledigt‘, drohte ihm Stolz, als er abfuhr.“

Denn Stolz hat vorgesorgt. Er hat ermittelt und andere Papiere erstellt. Nach­ dem ihm Oblomow mitgeteilt hat, dass er Mietschulden habe, stellt er die Ver­ mieterin zur Rede, die inzwischen Oblomows Geliebte geworden ist und wahr­ heitsgemäß erklärt, man schulde ihr keine Kopeke. Es wird also ein negatives Schuld­anerkenntnis erstellt, ein Papier, in dem die Unterzeichnende erklärt, keine Forderungen zu haben. Im gegenwärtigen deutschen Recht ist dieser Fall durch § 397 Abs. 2 BGB geregelt. Das ist bemerkenswert viel Schuldrecht in einer Fall­ erzählung, die in Gontscharows Fassung so wirkt, als spiele Recht gar keine Rolle.

27

Oblomow (Fn. IV. 24), 601. Oblomow (Fn. IV. 24), 665.

28

2. Alles gesetzlich (Gontscharow: „Oblomow“)

125

Denn geregelt wird der Fall durch den General und Gouverneur, den Stolz kennt und mit dem er sogar befreundet ist. Der General bestellt anschließend seinen Se­ kretär Iwan Matwejewitsch zu sich, und in deren Gespräch spielen die Kritzeleien keine Rolle mehr. Gontscharow teilt das Ergebnis des Gesprächs indirekt mit. Es ist das Gespräch unter Gaunern, in dem wieder auf das abgestellt wird, was man für gesetzlich hält und was früher einmal so rein und klar schien. Am Ende kann man sich nur noch wundern:29 „‚Aber es ist doch gesetzlich!‘ entgegnete Tarantjew. ‚Gesetzlich!‘ äffte ihn Muchojarow wieder nach. ‚Geh doch mal hin und sage es: die Zunge klebt einem am Gaumen fest. Weißt du, was mich der General gefragt hat?‘ ‚Was?‘ fragte Tarantjew neugierig. ‚Stimmt es, dass Sie und irgendein Lump den Gutsbesitzer Oblomow betrunken gemacht und gezwungen haben, einen Schuldbrief auf den Namen Ihrer Schwester zu unterschreiben?‘ ‚Das hat er gesagt: ‚irgendein Lump?‘ fragte Tarantjew. ‚Ja, das hat er gesagt …‘ ‚Und wer ist dieser Lump?‘ fragte Tarantjew wieder. Der Gevatter sah ihn an. ‚Das weißt du nicht“ sagte er bissig. ‚Du vielleicht?‘ ‚Wie kommen sie denn auf mich?‘ ‚Das hast du dem Deutschen zu verdanken und deinem Landsmann. Der Deutsche hat Wind bekommen und alles ausgekundschaftet.‘“

Das ist ein amüsanter Dialog zur Aufhebung und Aufklärung eines Betrugs, und er enthält – ohne rührselig oder billig zu werden – das glückliche Ende, ein Ende, das so glücklich im Justizdispositiv nicht regelmäßig zu erwarten ist. Die Lumpen werden aus dem Feld geschlagen und gekritzeltes Recht durch wahres Recht ersetzt. Denn darin liegt doch das Zeichen des Oblomow: Mit Recht lässt sich gegen das Recht etwas unternehmen, besser gesagt: gegen das Zerrbild, das Kritzelbild des Gesetzes, das manche für Recht ausgeben wollen. Für das wahre Recht kann man 1859 nicht auf gesetzliche Klauselverbote für allgemeine Ge­ schäftsbedingungen zurückgreifen, auch die Einreden gegen durch Nötigung und Ausnutzung von Trunkenheit zustande gekommene Verträge werden nicht näher erläutert – es ist der General, der alles regelt. Es handelt sich noch im über­ tragenen Sinne um einen glücklichen Ausgang durch Eingriff „von oben“, durch deus ex machina. Aber wer Gontscharow liest, weiß: Mit Scharfsinn, Tatkraft und Zivilcourage kann man Gaunern das Handwerk legen. Diese Möglichkeit des Rechts, den Aufruf zu rhematischem Rechtsbegehren, macht nicht jede Literatur deutlich.

29

Oblomow (Fn. IV. 24), 666 f.

126

IV. Literarische Rechtszeichen

3. Das Aufschreibesystem (Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“) „Schreber“ ist ein rhematisch-indexikalisches Legizeichen der theoriegeleite­ ten und dennoch affektiv und poetisch aufgeladenen Abwesenheit des Rechts. In Langform: „Schreber“ ist ein Typus, der Anwendungsfälle hervorruft, die so ge­ staltet sein sollen, dass sie die Aufmerksamkeit auf Schreber als Person-Objekt lenken. Schreber rettet die Welt und bündelt zugleich einen Affekt in ein Wort, das auf eine historische Person unter Juristen verweist. „Schreber“ ist ein Stichwort für Psychoanalyse, Philosophie, Literaturwissenschaft und Rechtstheorie. Es taucht zuerst bei Sigmund Freud auf, der es berühmt gemacht hat, und verbreitet sich dann über Autoren wie Walter Benjamin zu Jacques Lacan, dann zu Elias ­Canetti, ­ yotard. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari, schließlich auch zu Jean-François L Schreber wird oft der Zusatz „Präsident“ verbunden, aber das Zeichen steht für et­ was anderes. Roberto Calasso hat die Geschichten um und mit Schreber 1974 in eine Novelle gefasst unter dem Titel L’impuro folle, der unreine Narr.30 Wer oder was steckt hinter dem Rhema? Kenntnis von Daniel Paul Schreber hat die Nachwelt durch eine merkwürdige Autobiografie erhalten, und zwar nachdem Schreber zum Fall einer Vormund­ schaftssache geworden und seine Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet worden war. Es behandelte zunächst ein „Nervenarzt“, wie Schreber ihn nannte, Professor Flechsig, den insbesondere Schrebers Frau verehrte, weil er ihren Mann schon einmal geheilt zu haben schien. Das erste Mal wurde Schreber zum klini­ schen Patienten, nachdem seine Reichstagskandidatur im Jahre 1884 gescheitert war. Er unterlag im Bezirk Chemnitz dem sozialdemokratischen Konkurrenten. Seine Hospitalisierung endete nach acht Monaten. Danach machte er juristische Karriere. Im Jahre 1892 wurde Schreber zum Vorsitzenden eines Zivilsenats beim Oberlandesgericht Dresden ernannt – „Senatspräsident“ nannte man ihn damals –, er musste sich aber schon fünf Wochen nach Antritt seiner Tätigkeit erneut in ner­ venärztliche Behandlung begeben. Er war höchst erregt und konnte nicht mehr schlafen, was er für eine todbringende Krankheit hielt und ihn erst recht nicht schlafen ließ. Die Zustände in der zeitgenössischen Psychiatrie (den „Irrenanstal­ ten“) kann man aus Schrebers eigener Darstellung entnehmen.31 „Etwa in der vierten oder fünften Nacht nach meiner Aufnahme in die Anstalt wurde ich mitten in der Nacht von zwei Pflegern aus dem Bett gerissen und in eine für Demente (Tobsüchtige) eingerichtete Schlafzelle gebracht. Ich befand mich ohnedies schon in auf­ geregtester Stimmung, sozusagen in einem Fieberdelirium und wurde natürlich durch die­ sen Vorgang, dessen Beweggründe ich nicht kannte, aufs äußerste erschreckt. Der Weg führte durch das Billardzimmer, und hier entspann sich, da ich gar nicht wußte, was man 30

Deutsch als: Roberto Calasso, Die geheime Geschichte des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber, Frankfurt a. M. 1980. 31 Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), hrsg. und einge­ leitet von Samuel Weber, Frankfurt a. M. u. a. 1973, 98 f.

3. Das Aufschreibesystem (Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“) 127 mit mir vorhatte, und mich demnach widersetzen zu müssen glaubte, ein Kampf zwischen mir, der ich nur mit einem Hemd bekleidet war, und den beiden Pflegern, wobei ich mich am Billard festzuhalten versuchte, schließlich aber überwältigt und in die oben­erwähnte Zelle ab­geführt wurde. Hier überließ man mich meinem Schicksal; ich verbrachte den Rest der Nacht in der nur mit einer eisernen Bettstelle und Bettstücken ausgestatteten Zelle wohl größtenteils schlaflos, hielt mich für gänzlich verloren und machte in der Nacht auch einen natürlich mißlungenen Versuch, mich vermittelst des Bettuchs an der Bettstelle ­aufzuhängen.“

Aus dieser Beschreibung kann man Mehrfaches entnehmen. Auf der ersten Ebene der Mitteilung lässt sich eine Anstaltspraxis erschließen, die typisch für Anstalten war und möglicherweise immer noch ist. Es wird gefühllos und sprach­ los gegenüber „Insassen“ verfahren, deren Krankheit auf diese Weise gesteigert wird. Die Anstaltsoberen bemerken die Auswirkungen nicht. Auf der Ebene stilis­ tischer Darstellung erweist sich Schreiber als detailgenauer, abwägender und mit sich selbst durchaus skeptisch umgehender Berichterstatter. Er schreibt nicht em­ pört, sondern wirbt nur um Verständnis, wenn er zu bedenken gibt, er habe nicht gewusst, was man mit ihm vorgehabt habe, und habe dann den „natürlich miß­ lungenen Versuch gemacht,“ sich umzubringen. Man könnte auch sagen, er bleibe Jurist oder urteilender Richter selbst in Bezug auf seine psychische Krankheit. Schließlich wird durch seinen Bericht die Logik anstaltlicher Praxis deutlich. Durch den gescheiterten Selbstmordversuch wurde er endgültig ein Fall für die Ir­ renanstalt. Das Landgericht Dresden sprach die Entmündigung aus, die Schreber für insgesamt sieben Jahre in die geschlossene Anstalt brachte, gegen die er sich am Ende aber aktiv wehrte. Erst 1897 fing er an, seine Geschichte, aus der hier zitiert worden ist, aufzuschreiben, und erklärte dabei nicht nur die äußeren Sta­ tionen und Anlässe zum Berichtsgegenstand, sondern auch seine eigenen Träume, Phantasmen und Gedankengebilde. „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ nannte er seine Schrift, in der er auf etwa 250 Buchseiten begriffliche Spielereien über „obere“ und „untere“ Personbezirke (vornehmlich seines früheren Behand­ lers Professor Flechsig) und Gottesreiche, intime Bekenntnisse über die Lust, als Frau „dem Beischlaf zu unterliegen“ oder sich zu entleeren, und schließlich pseu­ doreligiöse Geschichten über göttliche „Strahlen“ ausbreitete, als deren Medium Schreber sich fühlte. Für den Nervenarzt und Gutachter Flechsig war schon die Schrift selbst ein deutliches Zeichen für den Wahnsinn Schrebers, dessen ansons­ ten durchaus gepflegte Unterhaltung bei Tisch der Arzt zu rühmen wusste; völlig unannehmbar schien ihm Schrebers wahnwitzige Idee, dieses ihn und seine Fa­ milie kompromittierende Dokument auch noch zu veröffentlichen. Schreber sah darin jedoch seinen Beitrag für ein kommendes Reich der Zeichen. Die Schrift wurde 1903 tatsächlich veröffentlicht und ist noch heute zugänglich. Als Erster entdeckte sie Sigmund Freud, der im „Fall Schreber“ schon verhältnis­ mäßig kurz nach dem Erscheinen im Jahre 1911 die Merkmale einer Paranoia ent­ zifferte, entstanden durch ödipale Bindungen an einen übermächtigen Vater. Tat­ sächlich gab es neben dem Richtersohn Schreber den ärztlichen Vater Schreber, dessen Handbuch für „ärztliche Zimmergymnastik“ eine orthopädische National­

128

IV. Literarische Rechtszeichen

beglückung hätte werden sollen und nach Meinung mancher Interpreten im Fall Schreber auch wurde: Gerade Haltung, unbefleckte Jugend und aufrechte Gesin­ nung wurden Inhalt einer deutschnationalen Bewegung, deren heute noch bekann­ tester Ausdruck der „Schrebergarten“ ist.32 Von dieser Vaterfigur her konnte Freud Plausibilität in seine an sich unplausible Lehre über die geschlechtsprägende Kraft des Mythos von Ödipus übertragen. Die „Wandlung zum Weibe“ und die bevor­ zugte Beziehung zu Gott deutete Freud als Symptom der unbewältigten Vaterbin­ dung.33 Deleuze und Guattari beklagen diese Reduktion des Schreber-Protests auf „das Elternthema“.34 Aber die Deutung kann dahinstehen. Vor allem konnte der in der analytischen Kur erst noch hervorzulockende freie Strom der Assoziationen bei Schreber in ausgeführter Schrift besichtigt werden. Die Schrift selbst aber ist das Rechtszeichen geworden, und zwar jenseits ihrer analytischen Deutung. William Niederland, ein moderner Schreber-Interpret, hat geschildert, welche Bedeutung die Schrift im Hause Schreber hatte. Vater Schreber, der auch eine Erziehungslehre verfasste, empfahl eine Tafel in jedem Hause, auf der während einer Woche Verdienste und Verfehlungen der Kinder verzeichnet würden und nach deren Ergebnis am Ende einer Woche gelobt oder gestraft wer­ den sollte.35 Das Aufschreiben des Alltags hatte damit eine tatbestandliche Kraft. Sohn ­Schreber, der nicht Vater werden wollte und das nicht wusste, verfiel in dem Moment ins Phantasieren, in dem er als Senatspräsident eine dispositiv väterliche Rolle hätte ausfüllen sollen. Kaum in der Anstalt, schrieb er, was ihn betraf, auf Zettel und Papier, die seine Umgebung später schnell vernichtete. Die erst nach Jah­ ren in der Anstalt begonnenen „Denkwürdigkeiten“ versammeln alle Vorgänge, die ihn betrafen, aber er schildert sie nicht nur im äußeren Ablauf, sondern so als ob er zum Medium von Kräften und Mächten geworden wäre, die weit über ihn hinaus­ reichten. Ob solche fernen Mächte existieren, weiß man nur im Idiom der Schrift, die man schreibt. Für Schreber war es völlig klar, dass Strahlen Befehle aussen­ den, so klar, wie es für andere Gottes Befehle sind. Schreber berichtet von Gott nur, dass er den Umgang mit lebenden Menschen nicht gewohnt sei und sie deshalb verderbe. Diese Frage wandelt Lyotard 80 Jahre nach Schrebers Ver­öffentlichung etwas ab, und sie heißt dann: Woher wissen wir, dass die von Schreber empfan­ genen Befehle, die Welt zu retten, keine waren (sondern Wahn), und warum neh­ men viele an, dass der Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu töten (zu opfern), Gottes Gebot war, während doch niemand mehr meint, dass der an den SS-Sturm­ bannführer in Lyon, Klaus Barbie, ergangene Befehl, die Kinder von Izieu zu de­ portieren und töten zu lassen, etwas anderes als Völkermord war?36 Alle drei Be­ 32

Han Israëls, Vater und Sohn. Eine Biographie (1980), München/Wien 1989, 65–91. Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschrie­ benen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911), in: (Fn. I. 48, Bd. VII), 133–203. 34 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), Frankfurt a. M. 1977, 72. 35 William G. Niederland, The Schreber Case. Psychoanalytic Profile of a Paranoid Person­ ality, New York 1984, 60. 36 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (1983), München 1987, 183 (Nr. 162). 33

3. Das Aufschreibesystem (Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“) 129

fehle erscheinen wahnhaft (wenn man durch ein solches Prädikat nicht zugleich Gotteslästerung begeht), aber mindestens der letzte Befehl war blutige Zweitheit, Realität. ­Schreber schreibt selbst über den Wahn in nicht wahnhafter Weise, so wie er selbst – in anderer Umgebung mit anderen Anforderungen an sich selbst – wohl nicht hätte wahnsinnig werden müssen. Im Gegenteil: Wie Martin Stingelin vor­ führt, kündigt Schreber den autobiografischen Pakt zwischen Autor, Erzähler und Hauptperson.37 Mit dem Text will er erklärtermaßen keine eigene Wahrheit vor­ erzählen, sondern „für die Wissenschaft und für die Erkenntnis religiöser Wahr­ heiten“ seinen Körper und sein persönliches Schicksal als Objekt zur Verfügung stellen.38 So lautet das Angebot im Vorwort. Der Autor übt sich in Demut und stellt seine Schrift der Justiz zur Disposition und macht sich selbst damit zum Teil des Justizdispositivs. Sein Begehren ist selbstbezüglich und lautet: Man muss im Sys­ tem für das System etwas aufschreiben, weil alles, was getan wird, sowieso auf­ geschrieben und dann geprüft wird. Das Aufschreiben – und Schreber sagt selbst, das sei eine „Mutmaßung“ – werde von Wesen besorgt, die „ihrerseits des Geistes völlig entbehren und denen von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch besorgten Geschäfte des Aufschreibens in die Hand gedrückt wird, dergestalt, daß später hervorziehende Strahlen das Aufgeschriebene wieder einsehen können.“39 Schreber versteht das Aufschreibesystem als einen Überwachungsmechanis­ mus und charakterisiert es wie die geheime Staatspolizei: „Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedan­ ken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden.“40 Es geht aber letztes Endes nicht um Überwachung, sondern – wie Schreber es selbst sieht und ein Philologe wie Elias Canetti es 60 Jahre später als Form der Macht verstand41 – um Veränderung des Selbst durch den Schreibprozess. Die Aufschreibepraxis gewährt Einfluss auf das psychische System des aufgeschriebenen Individuums selbst. Wenn alles aufge­ schrieben werde, müsse einmal der Zeitpunkt kommen – schreibt Schreber –, „wo neue Gedanken bei mir nicht mehr zum Vorschein kommen könnten.“ Er wider­ legt diese Vorstellung zwar sogleich als „völlig absurd, da das menschliche Den­ ken unerschöpflich ist und z. B. das Lesen eines Buches, einer Zeitung usw. stets neue Gedanken anregt.“42 Allerdings könne das Aufschreibesystem eine Wieder­ kehr der Darstellung registrieren. Es wird dann vermerkt: Das haben wir schon, 37 Martin Stingelin, Psychiatrisches Wissen, juristische Macht und literarisches Selbstver­ hältnis. Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken im Licht von Michel Foucaults Geschichte des Wahnsinns, Scientia Poetica 4 (2000), 131–164 (163). 38 Schreber (Fn. IV. 31), 61. 39 Schreber (Fn. IV. 31), 169. 40 Schreber (Fn. IV. 31), 168. 41 Elias Canetti, Masse und Macht (1960), Frankfurt a. M. 1996, 516–549. 42 Schreber (Fn. IV. 31), 173.

130

IV. Literarische Rechtszeichen

und – wenn das geschehe – hört Schreber eine (sächsische) Stimme, die sagt „ham­ mirschon“. Die Aufnahme des „Hammirschon“ in die eigenen Gedanken sei die eigentliche „geistige Tortur“, unter der Schreber nach eigener Einschätzung „jah­ relang schwer gelitten“ hat. Das Aufschreibesystem ist also eine objektive Ein­ richtung, mit der die Affektproduktion dessen verändert wird, über den aufge­ schrieben wird. Der Weg vom Aufschreibesystem zum Überwachungsstaat ist so naheliegend, dass man sich nur darüber wundern kann, dass Schreber ihn nicht selbst geht, zumal die polizeiliche Überwachung seit Metternich und den Prakti­ ken der Demagogenverfolgung 1900 längst schon zum Repertoire gehörte. Santner hat Schrebers „eigenes privates Deutschland“ darin gesehen, dass die disziplinäre Überwachung in innere Wahrnehmungen verschoben würde.43 Für Friedrich Kittler, den Kommunikationswissenschaftler, markiert die Zeit um 1900 den technischen Charakter des Mediums und damit den allgemein üblichen Über­ gang zu Aufschreibesystemen, und er zitiert Schreber, um die „Einschreibung“ von Techniken in die erlebte Erstheit der Zeichenformationen zu veranschauli­ chen.44 Die Aufschreibesysteme geben seinem eigenen Hauptwerk den Titel, und sie sind das Stichwort für die technische Veränderung der Kommunikation sowie für die fremden Eingriffe, die seitdem regelmäßig stattfinden. Alles wird aufge­ schrieben, und dafür gibt es ein System. Erster Beobachter solcher Praktiken ist Schreber selbst. Schreber sieht es so, dass Gedankenmaterial seinen Nerven ent­ nommen und auf fernen Sonnen gespeichert werde, damit es sich über „Strahlen“ in seiner Person wieder gesetzmäßig zum Sprechen bringt. Dabei ist es sinnlos an­ geordnet. Man habe – so schreibt Schreber selbst – „die maßlose Unverschämt­ heit – ich kann keinen anderen Ausdruck dafür gebrauchen – mir zuzumuten, daß ich diesem gefälschten Blödsinn gewissermaßen als meinen eigenen Gedanken laut Ausdruck geben soll …“45 Schreber wird damit zum ersten Objekt eines Sys­ tems, das man später unter der Metapher einer „Gehirnwäsche“ abgelegt hat. Es gehorcht der Logik des „Hammirschon“. Mit Schrebers Text wird der aus der Ferne dirigierte Blödsinn zum Phänomen. Man muss nun jede Fälschung für möglich halten, die durch Speicherung und Wie­ der-zum-Sprechen-Bringen entsteht, nicht nur durch unpersönliche Strahlen und Stimmen, sondern durch Folter – und Schreber selbst fühlte sich gequält und gefol­ tert durch die Befehle der Strahlen. Das war Kittlers Entdeckung, und sie klingt – für sich genommen  – wie der Wahnsinn selbst. Den Charakter des Wahnsinns verlieren Konfrontationen mit Teilen des früher selbst Gesagten auch dann nicht, wenn Gestapo, NKWD, SD und andere Stimmen, die sich sicherheitspolitisch selbst gerne abkürzen, sie vornehmen. Hätte Schreber die Stimmen so identifiziert, wäre er dabei nicht am Leben geblieben. Stattdessen befindet er sich noch in einem zwar 43

Eric L. Santner, My Own Private Germany. Daniel Paul Schreber’s Secret History of­ Modernity, Princeton 1996, 55–62. 44 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800 · 1900, 3. Aufl., München 1995, 378. 45 Schreber (Fn. IV. 31), 172.

4. Die Sachlichkeit des Mordes (Broch: „Huguenau oder die Sachlichkeit“)

131

autoritären, aber immerhin beeinflussbaren königlich-sächsischen Justizbetrieb. Dort werden Schrebers Denkwürdigkeiten als Ganzes zu einem Rechtszeichen, konkret: das Oberlandesgericht Dresden verfügt wegen dieser Schrift eine Auf­ hebung der Vormundschaft. Schrebers eigenes, wirkliches Aufschreibesystem er­ weist seinen justizdispositiven Nutzen, indem es in seinem eigenen Verfahren (für das er es nicht erkennbar geschrieben hat) einen operativen Wert entwickelt. Die Kollegen des Oberlandesgerichts begründen in einem gerade für damalige Verhält­ nisse ungewöhnlich umfangreichen Urteil46 die Aufhebung der Vormundschaft un­ ter Hinweis auf Schrebers elaborierten sprachlichen Ausdruck und erkennen den Erinnerungen „hohen Ernst und das Streben nach Wahrheit“ zu, das niemand ver­ kennen könne. Außerdem nimmt das Urteil eine bedeutsame Differenzierung vor.­ Schreber sei zwar geisteskrank, aber die Feststellung einer Störung reiche zur Ent­ mündigung nicht aus. Das ist einhundert Jahre später gesetzliche Regel geworden. In der Entscheidung des Jahres 1903 gewinnt eine solche Unterscheidung symboli­ sche Zeichenqualität. Das Gericht begründet die unterschiedliche Behandlung mit einer verhältnismäßig ausgedehnten Kontextwürdigung, die der zeitgenössischen Psychiatrie, repräsentiert von dem Behandler und Gutachter Weber, vormacht, was man bei der Beurteilung der „Gesamtheit der Lebensverhältnisse“ zu berücksich­ tigen habe. Dazu zählt das Gericht Schrebers Betragen in der Anstalt (in der er an den Mahlzeiten des Anstaltsleiters teilnehme), bei der Besorgung persönlicher Ver­ mögensangelegenheiten oder gegenüber seiner Frau. Ganz zweifelsfrei bleibt diese Würdigung wie üblich nicht, denn immerhin befand sich Schreber in von ihm selbst so genannten „Brüllzuständen“. Es handele sich hierbei aber „um rasch vorüber­ gehende Bewusstseinsstörungen in der Dauer von Augenblicken.“47 Das Urteil ist ein Siegessymbol. So würdigt es Zvi Lothane heute,48 und so verstand es wohl auch Schreber selbst, der das Urteil und seine Schriftsätze zusammen mit der eigenen Schrift veröffentlichte. Das literarische Zeichen wurde ein praktisches. Schreber hatte Erfolg mit seiner Trennung von Autor und Erzählobjekt. Man ist nicht das, was man über sich erzählt, und was erzählt ist, ist nur erzählt, legt aber nicht fest, was den Erzähler ausmacht. 4. Die Sachlichkeit des Mordes (Broch: „Huguenau oder die Sachlichkeit“) Ein Erzähler, ein theoretischer Philosoph ebenso wie ein praktischer Kaufmann ist Hermann Broch. Er hätte sich gerne selbst für den Nobelpreis nominiert. Statt­ dessen musste er mühsam versuchen, Thomas Mann und andere Kollegen dafür zu erwärmen, dass Ende der Vierzigerjahre ein zweiter deutschsprachiger Autor Nobel­ 46

Schreber (Fn. IV. 31), 448–481. Schreber (Fn IV 31), 474. 48 Zvi Lothane, Seelenmord und Psychiatrie. Zur Rehabilitierung Schrebers, Gießen 2004, 126–129. 47

132

IV. Literarische Rechtszeichen

preisträger werden sollte, einer, der wie die Familie Mann, wie Stefan Zweig, Joseph Roth und die meisten wichtigen deutschen Schriftsteller das wahre Deutschland im Exil repräsentierte.49 Dabei füllte Hermann Broch viele Rollen in einer Person aus: als Romancier und Kaufmann, als Lyriker und Rechtsphilosoph, als Menschen­ rechtspropagandist und Mythenschreiber, als Freund vieler Frauen wie als einsa­ mer Mann – das alles waren Rollen des Hermann Broch. Als wichtiger Autor des 20. Jahrhunderts ist er nur wenigen Deutschen bekannt geworden. Aus der Inhaftie­ rung nach dem österreichischen „Anschluss“ im Jahre 1938 rettete ihn James Joyce, so dass er anschließend in den USA eine letzte neue Existenz beginnen konnte. Sein literarischer Ruhm bestand zu diesem Zeitpunkt schon und war den weiteren bür­ gerlichen Rollen abgetrotzt, die Broch spielte, insbesondere dem Geldverdienen als Kaufmann „im Dienste der Baumwolle“,50 für die er nach dem Willen und im Be­ trieb des Vaters zusammen mit seinem Bruder wirkte. Die Rollenvielfalt und der in ihnen enthaltene inhaltliche Konflikt wird nicht in einem wie immer gearteten „Uni­ versalgenie“ zu einer Einheit gebracht. Broch erzählt von Konflikten und kommen­ tiert oder dekonstruiert mit einem theoretischen Text die Handlung der Erzählung, oder er illustriert mit verschiedenen, scheinbar unzusammenhängenden Teilerzäh­ lungen ein großes Thema wie die zeitgenössische Beobachtung, dass in Deutsch­ land nach den Verbrechen zweier Weltkriege nur Schuldlose anzutreffen waren. „Die Schuldlosen“ heißt der letzte, 1950 erschienene Roman in elf Erzählungen. Brochs Darstellungsweise ist neu. Keiner unter den großen deutschen Nach­ kriegsautoren wie Günther Grass, Heinrich Böll oder Siegfried Lenz hat sie wieder aufgenommen. Neu ist die Integration von Theorie, Essay und Erzählung in einem Text, den Broch trotz aller Verschränkungen immer noch „Roman“ nennt. So zer­ fällt der fast 750 Seiten lange Roman „Die Schlafwandler“ in drei Teile, die jeweils eine Jahreszahl, einen Namen und einen Sachbegriff tragen: „1888. ­Pasenow oder die Romantik“, „1903. Esch oder die Anarchie“, „1918. Hugeneau oder die Sachlich­ keit“. Im letzten Teil über Hugeneau tauchen alle drei Titelfiguren gemeinsam auf, und eine Hauptgeschichte mit dem elsässischen Deserteur Hugeneau, der den Welt­ krieg beim Redakteur und Zeitungsbesitzer Esch überwintert, steht neben mehre­ ren kleinen Neben- oder Seitengeschichten, deren Beziehung zum Ganzen nicht ausdrücklich dargestellt wird. Darüber hinaus werden diese Geschichten unterbro­ chen von einer zehnteiligen Abhandlung unter dem Titel „Zerfall der Werte“, die man als praktische Philosophie ansprechen kann und die Broch selbst später auch einmal gesondert veröffentlicht hat. Broch hat wissenschaftliche wie künstlerische Erkenntnis für gleich geeignet gehalten, „Wertsysteme zu erkennen,“ und hat deren methodische Trennung bekämpft.51 Mit diesem Verständnis kann Broch in einem 49 Paul Michael Lützeler, Hermann Broch. Eine Biographie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, 340–369. 50 Lützeler (Fn. IV. 49), 41. 51 Hermann Broch, Denkerische und dichterische Erkenntnis (1933), in: ders., Schriften zur Literatur 2, Theorie, Bd. 9/2 der kommentierten Werkausgabe v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, 43.

4. Die Sachlichkeit des Mordes (Broch: „Huguenau oder die Sachlichkeit“)

133

Roman programmatisch zur Zeitgeschichte Stellung nehmen. Sein „Schlafwand­ ler“-Roman enthält am Ende einen gewaltigen Satz über Revolutionen:52 „Denn Revolutionen sind Auflehnungen des Bösen gegen das Böse, Auflehnungen des Ir­ rationalen gegen das Rationale, Auflehnungen des Irrationalen im Gewande einer entfessel­ ten Vernunft gegen rationale Institutionen, die zur Aufrechterhaltung ihres Bestandes sich selbstgenügsam auf den ihnen innewohnenden irrationalen Gefühlswert berufen, – Revo­ lutionen sind der Kampf zwischen Unwirklichkeit und Wirklichkeit, zwischen Vergewalti­ gung und Vergewaltigung, sie müssen eintreten, wenn die Entfesselung des Überrationalen die Entfesselung des Irrationalen nach sich gezogen hat, wenn die Zerschlagung des Wert­ systems bis zur letzten und individuellen Werteinheit vorgedrungen ist und alles Irrationale in der absoluten Wertfreiheit des autonom einsam gewordenen Individuums durchbricht.“

Den Satz kann man nicht als Lobpreis der Revolution verstehen, und Broch, der in Wien 1918 die sogenannten Revolutionäre erlebte, hegte keine Sympathie für sie.53 Revolutionen sind offenbar böse, aber unvermeidlich. Sie haben nicht – wie man oft hört – eigentlich einen guten und richtigen Kern, der nur leider von der re­ volutionären Praxis in schlechter, menschenverachtender Weise verdeckt und un­ sichtbar gemacht wird. Ihr Kern ist leer, es fehlt ein Erstes im Sinne von Peirce, wobei Broch fortlaufend vom „Wert“ spricht. Das ist nicht leicht zu verstehen. Es sind nicht katalogisierbare Rechtsgüter gemeint, sondern jenes ursprüngliche mo­ ralische Nachdenken, das Kant vorführt, dessen kategorischen Imperativ Broch als „Forderung nach dem guten Willen“ zitiert. Was man bewirke, solle „bewusst und der Definition deines Wertzieles gemäß“ geschaffen werden und begründe eine „Reinheit des Werkes.“54 Broch prangert die Maske an, deren objektive Zweit­ heit auf etwas ganz anderes hindeutet, als man zuerst einmal gemeint haben mag.55 Dabei bleibt er im Schema von Subjekt, Objekt und Wert und versucht – wie der Semiotiker Kuno Lorenz es deutet56 – den Verlust der Werte aus dem Vergessen der Semiose deutlich zu machen, also des Prozesses, in dem ein Wert wertvoll wird. Nach der Romantik (für die ein notorischer Lebensverlierer wie Pasenow steht) ist nicht mehr erkennbar, wie ein Wert entsteht, man hält einfach den In­ halt für den Prozess. Es finde eine „grundlegende Verwechslung von Wahrheits­ inhalten mit Wahrheitsform, von Metaphysik mit reiner Philosophie“ statt.57 Man kann nicht leicht verstehen, wie die Zerschlagung des Wertsystems bis zur letz­ ten und individuellen Werteinheit durchdringt. Denn es ist weder klar, was denn 52 Hermann Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie, Frankfurt a. M. 1994, 702 (Ka­ pitel 88). 53 Lützeler (Fn. IV. 49), 73–75. 54 Hermann Broch, Konstruktion der historischen Wirklichkeit, in: ders., Philosophische Schriften 2, Bd. 10/2 der kommentierten Werkausgabe v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1977, 25. 55 Manfred Durzak, Hermann Broch. Dichtung und Erkenntnis, Stuttgart u. a. 1978, 63–65. 56 Kuno Lorenz, Philosophische Dichtung, in: Paul Michael Lützeler/Michael Kessler (Hrsg.), Brochs theoretisches Werk, Frankfurt a. M. 1988, 24–34 (25). 57 Hermann Broch, Genesis des Wahrheitsproblems innerhalb des Denkens und seine Lo­ kalisierung im Rahmen der idealistischen Kritik, in: (Fn. IV. 54), 226.

134

IV. Literarische Rechtszeichen

nun „Wert“ oder „Wertsystem“ sei, noch ist abzulesen, wer oder was den oder die Werte zerschlägt. Broch fühlt, dass man diesem Prozess theoretisch nicht leicht nahe kommt, und er geht im Hugeneau-Text deshalb zum ersten Mal den dekon­ struktiven, supplementierenden Weg, den später Derrida zur Verstörung der Schul­ philosophie fortlaufend einsetzt. Derrida stellt poetische und begriffsbildende Textkolumnen nebeneinander und gegeneinander, sei es mit theoretischem Interesse wie in „Glas“, sei es als Co-Autor zu einem anderen, fremden Text (über Derrida selbst in „Derridabase“) oder als Schreiber zur Fotografin einer fremden Foto-Roman-Serie („Droit de regards“).58 Broch war der erste, der die scheinbar festen Gattungs- und Disziplingrenzen zwi­ schen Philosophie und Literatur überschritt, vermischte und in Beziehung setzte. Dazu dienten ihm lebensgeschichtlich die mehreren Rollen, die er ausfüllte, bei­ spielsweise die als Kaufmann, als Student der neuen analytischen Philosophie des Wiener Kreises und Hörer von Moritz Schlick und eben die als Romancier. Im Hu­ geneau-Teil der „Schlafwandler“ überschreitet er die Grenzen des Erzählens und überlässt es – wie später Derrida – dem Leser, die Beziehung zwischen beidem her­ zustellen. Hugeneau ist jedenfalls eine Textfigur, die dem Leser in den Zwanziger­ jahren den Wert des Lebens zerschlägt, der schon erschlagen war, nachdem Broch wie Millionen andere das allgemeine Schlachten auf den Todesfeldern beobach­ tet hatte. Aber der Hugeneau-Text ist kein Kriegsroman. Der Blick auf den Krieg kommt von der Seite. Die Titelfigur trifft im Finale der Kriegsgeschichte und am Ende des Romans plötzlich auf ihren Wohltäter, der sich inzwischen gegen sie ge­ wandt hat und ein etwas merkwürdiger Gottesverkünder und Bibelleser geworden ist. Hugeneau mochte ihn – den Wohltäter – nie, weil er nur materielle, „sachliche“ Werte gelten lässt,59 und sinnt auf dessen Beseitigung. Broch erzählt den Mord so selbstverständlich wie später Patricia Highsmith die Ripley-Morde:60 „Hugeneau trieb es vorwärts; er war jetzt etwa zwanzig Schritte hinter Esch, der ruhig seinen Weg fortsetzte: sollte er ihn mit dem Kolben erschlagen? nein, das wäre sinnlos, es musste vielmehr ein Schlusspunkt gesetzt werden. Und da übermächtigte es ihn wie eine Erleuch­ tung, – er senkt das Gewehr, ist mit ein paar tangoartigen katzigen Sprüngen bei Esch und rennt ihm das Bajonett in den knochigen Rücken. Esch geht, zu des Mörders großer Verwun­ derung, noch ein paar Schritte ruhig weiter, dann stürzt er lautlos vornüber aufs Gesicht.“

Die Schilderung der Tötung bleibt bei der Sache. Den Täter interessieren die Art ihrer Ausführung und die schnelle Herbeiführung des Erfolgs, und er ist erfolg­ reich. So hat man Tötungen vor Broch auch schon bei Dostojewskij lesen können, dann aber auch den fälligen Aufstand des Gewissens miterleben und nach­lesen dürfen. Die „Schlafwandler“ sind neben dem „Zauberberg“ das Zeitdokument der 58 Jacques Derrida, Glas, Paris 1974; Jacques Derrida par Geoffrey Bennington et Jacques Derrida, Paris 1991; Marie-Françoise Plissart/Jacques Derrida, Droit de regards, Paris 1985. 59 Paul Michael Lützeler, Hermann Broch – Ethik und Politik. Studien zum Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“, München 1973, 129. 60 Broch (Fn. IV. 52), 677 (85).

4. Die Sachlichkeit des Mordes (Broch: „Huguenau oder die Sachlichkeit“)

135

Zwanzigerjahre, das die „Sachlichkeit“ der Tötung vorstellt. Lützeler, der konge­ niale Broch-Interpret, hat den Vergleich gezogen und Thomas Mann und Broch als „Warner vor dem Kulturtod“ neben Hitler als dessen Betreiber gestellt.61 Die drei waren im gleichen Lebensalter und hatten im Jahre 1925 eine Lebenslage, die nicht unterschiedlicher hätte sein können. Mann wurde Nobelpreisträger, ­Hitler war rechtskräftig verurteilter Verbrecher und Obdachloser, in Haft und eigentlich ohne Aussicht auf Erfolg, Broch hatte – wie Thomas Mann, aber mit anderem Ein­ satz – einen gewissen Wohlstand erreicht und entschied sich im Jahre 1927, seine Anteile an der familiären Spinnfabrik zu verkaufen, um nur noch sprachliche Zei­ chen zu produzieren. Ein Stück Sachlichkeit kann man in allen drei Lebensläufen erkennen, und Broch kondensiert sie zu Hugeneau, der Buchhalter ist und rech­ nerische Ordnung wie die Technik der Druckmaschine liebt. Hugeneau fehlt jede Gewissensregung. In dieser Figur wohnt man der Entstehung eines Systems ohne moralischen Wert bei. Hugenau ersticht Esch, und Broch lässt ihn über die Tat so nachdenken:62 „Es war alles gut. Und Hugenau, ausgestattetet mit einem richtigen Militärfahrzeug, war kostenlos in seine colmarische Heimant zurückgekehrt. Hat er einen Mord begangen? hat er einen revolutionären Akt vollführt? er brauchte dar­ über nicht nachzudenken und er tat es auch nicht. Hätte er es getan, er hätte bloß sagen kön­ nen, dass seine Handlungsweise vernünftig gewesen war und dass jeder der Honoratioren des Ortes, zu denen er sich schließlich mit Fug zählen durfte, nicht anders gehandelt hätte. Denn fest stand die Grenze zwischen Vernünftigem und Unvernünftigem, zwischen Wirk­ lichkeit und Unwirklichkeit, und Huguenau hatte höchstens zugegeben, dass er in weniger kriegerischen oder weniger revolutionären Zeitläuften die Tat unterlassen hätte, was aber schade gewesen wäre. Und besinnlich hätte er wohl hinzugesetzt: ‚Alles zu seiner Zeit.‘ Doch dazu kam es nicht, weil er eben niemals jener Tat gedachte und auch niemals mehr ihrer gedenken wird.“

Mit dieser Passage aus drei Absätzen befindet man sich textbezogen schon nicht mehr in der Erzählung, sondern im zehnten und letzten Teil des Essays „Zerfall der Werte.“ Man könnte die Täter-Innenwelt in der Brochschen Darstellung „zy­ nisch“ nennen und kommt damit der Sache doch nicht nahe. Die „Sachlichkeit“, für die eine Figur wie Hugeneau als Textzeichen steht, kann nur erschlossen wer­ den, wenn man die weltpolitischen Umstände der Tat mitberücksichtigt. Broch siedelt den Mord an Esch in den Novembertagen des Jahres 1918 an. Die alte kai­ serliche Ordnung, die der Major v. Pasenow repräsentiert, zerfällt. Pasenow weiß das. Er müsste Hugeneau dem Kriegsgericht als elsässischen Deserteur vorführen, aber es existiert kein Kriegsgericht mehr. Stattdessen gibt es Soldaten, die ihre Offiziere totschlagen. Da ist es gewissermaßen ein Begleitereignis, das kein gro­ ßes Aufsehen erregt, wenn Hugeneau, der als Elsässer zum Sieger im Kriege wird, 61 Paul Michael Lützeler, Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Bio­ grafie, München 2011, 82. 62 Broch (Fn. IV. 52), 689 (Kap. 88).

136

IV. Literarische Rechtszeichen

dem täppischen deutschen Esch das Bajonett in den Körper rennt. Broch lässt die Tat ohne Zeugen stattfinden und schildert anschließend mit Bedacht, wie Huge­ neau der Witwe auch noch den Besitz des Toten abnimmt, durch Täuschung und Erpressung. Aber alle diese Straftaten sind keine, weil es ja kein Verfahren gibt, sie festzustellen und anzuklagen. Es gibt noch nicht einmal ein Gefühl dafür, dass Unrecht geschieht. Dieses Gefühl überbürdet Broch dem Leser. Es liegt nahe, die Sachlichkeit in der Verbrechensschilderung mit der Mordma­ schine in Beziehung zu setzen, die – als Broch den Roman im Jahre 1932 fertigge­ stellt hatte – schon präpariert worden ist. „Mein Kampf“ lag bereits vor. Tatsäch­ lich ist in der Literaturwissenschaft eine Parallele zwischen dem Hugeneau-Text und Hannah Arendts Eichmann-Bericht gesehen worden.63 Broch und Arendt kannten und schrieben sich, und Arendt wusste auch von Brochs These, dass der Tod „die Pforte“ sei, durch die das Absolute ins reale Leben einzieht.64 Das reale Leben bietet darüber hinaus verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem sachlichen Mörder Hugeneau und seinem Nachfolger Adolf Eichmann. Im Jahre 1961 wird Eichmann seinen Richtern gegenüber ein Bekenntnis ablegen, dass er bei der Ab­ fassung des Protokolls der Wannsee-Konferenz und bei der Abwägung der ver­ schiedenen Arten der Judenvernichtung eben dieses Hugeneau-Gefühl hatte: dass seine Handlungsweise vernünftig gewesen war und dass jeder der Honoratioren des Reiches, zu denen er sich freilich selbst nicht zählen durfte, nicht anders ge­ handelt hatte (Kap. XI. 4.). Broch denkt in den Jahren der Romanentstehung, also zwischen 1928 und 1932, über den Zerfall der Werte noch nach, aber er ahnt, was schon eingetreten ist. Das Morden ist zu einer alltäglichen Angelegenheit gewor­ den, es ist ein Handlungsziel, das sachlich mit militärischen Mitteln erreicht wer­ den darf, und man hat bereits erlebt, dass die militärischen Mittel ausgedehnt wer­ den. Der Gaskrieg – auch der ist Teil des Hugeneau-Texts geworden – führt über die „Juristengerechtigkeit“ hinaus und lehrt, dass – wer zwei Arme hat – einen abgeschnitten bekommen kann, denn „was sollen dem Menschen soviel Glied­ maßen, wenn er allein ist …“.65 Die Lektüre von Broch enthalte „eine nicht über­ bietbare Vorausschau“  – so hat Milan Kundera die „Schlafwandler“-Figuren­ Pasenow, Esch und Hugeneau kommentiert.66 Als Typ gehen sie unter. Der Mord an Esch ist Teil des Texts, die adelig-ritterliche Welt des Pasenow ist schon unter­ gegangen, und Hugeneaus Sachlichkeit wird auch kein erfolgreiches Rezept sein. Nur die Mordlust bleibt übrig, und das ist ein Ergebnis des Wertezerfalls. Ihn zu erschließen, überlässt Broch dem Leser, dem er nur mitteilt, dass die zeichenhafte Verknüpfung von subjektivem Handeln und objektivem Recht nicht mehr besteht. Recht teilt das Schicksal aller anderen Werte in der Revolution. Es zerfällt. 63 Stephen D. Dowden, Das dichterische Werk. Die Schlafwandler, in: Michael Kessler/ Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch-Handbuch, Berlin/Boston 2015, 108–110. 64 Lützeler (Fn. IV. 61), 120. 65 Broch (Fn. IV. 49), 573 (Kap. 60). 66 Milan Kundera, Das Vermächtnis von Brochs Schlafwandlern, in: Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch, Frankfurt a. M. 1986, 33–39 (36).

5. Karriere eines Romans (K. Mann: „Mephisto“)

137

5. Karriere eines Romans (K. Mann: „Mephisto“) Für den Zerfall boten die Dreißigerjahre reiche Anschauung. Emigrant aus dem zerfallenden Deutschland, das zunächst irrtümlich meinte, sich national zu erhe­ ben, war vor Broch Klaus Mann. Der Sohn von Thomas und Bruder von Erika Mann konnte beobachten, wie sein früherer Schwager, Kollege und Kämpfer für die fortschrittliche Sache, Gustav Gründgens, moralisch verfiel und von Werten, die er selbst vertreten hatte, nichts mehr wusste. Sein Roman über Mephisto, eine der Paraderollen von Gründgens, hat Karriere gemacht. Karriere macht ein Ro­ man, dessen Indexikalität so überwältigend zu sein scheint, dass sie eigener realer Gegenstand weiterer Zeichenprozesse wird, zuerst als Ikon, dem weitere Bestim­ mungen angehängt werden, dann als Symbol für Prozesse der Auslegung. Verlo­ ren geht dabei allerdings der Text. Klaus Mann hat seinen Roman selbst mit dem Untertitel „Roman einer Kar­ riere“ versehen. Er erschien 1936 und sein Autor hat bereits zu diesem Zeitpunkt die von ihm „feierlich“ genannte Erklärung abgegeben, er behandle nicht die Ge­ schichte eines bestimmten Menschen, sondern zeige einen Typus, den Typus des Opportunisten, der sich der Staatsmacht anpasst. Insofern behandelt Mann wie Broch die Abwesenheit des Rechtszeichens. Er schreibt eine Geschichte auf, in der man einen internen normativen Gesichtspunkt nicht nur bilden kann, sondern bil­ den muss, denn es ist die Geschichte vom Theater in den Zeiten des Mordes und der Verschleppungen. Es ist die Geschichte von Gustav Heinrich Gründgens, der sich lieber „Gustaf“ Gründgens nennt und von Hermann Görings Gnaden zum In­ tendanten des preußischen Staatstheaters wird. Gründgens wird von SA und NS-­ „Bewegung“ vor 1933 dem sogenannten „Kulturbolschewismus“ zugerechnet, im Roman hat er kommunistische Freunde und ein „Negerweib“ als Domina und Ge­ liebte. Das ist Klaus Manns Abwandlung des Vorbilds. Gründgens war schwul, und Homosexualität war zum Zeitpunkt, als der Roman erschien, ein Verbrechen. Die sexuelle Extravaganz und ihre Lebenswirkungen werden deshalb in einen laten­ ten Sadomasochismus verlagert. Mann schildert in sechs Kapiteln den müh­seligen, aber unaufhaltsamen Aufstieg seines Protagonisten, den er Hendrik H ­ öfgen nennt und dem er die Marotte beilegt, auf das „d“ im Namen zu achten. Höfgen erscheint dominant und herrschsüchtig, sein Verhältnis zu den Mitarbeitern, die ihn unter­ stützen, und denjenigen, die ihn ertragen, ist durchweg eigennützig, wobei Mann nicht vergisst, neben der Macht auch die Schwäche, Leere und Gier seines Helden darzustellen. Auf das NS-System will er sich in Manns Darstellung eigentlich nicht einlassen, zumal er davon ausgeht, die früher befehdeten SA-Anhänger, von denen Manns Höfgen einen aus dem Theater entfernt hat, würden das sowieso nicht zulas­ sen. Eine nicht geliebte Freundin berichtet dann aber von den Möglichkeiten unter dem preußischen Ministerpräsidenten Göring. Höfgen – wie sein Vorbild Gründ­ gens – wählt die Karriere. Mit welchem Innenleben eine solche Karriere verbunden gewesen sein mag, muss Phantasie und Fiktion überlassen bleiben. Es ist allerdings eine Frage, die bis zum heutigen Tage – in der N ­ achkriegszeit ­zunehmend – die

138

IV. Literarische Rechtszeichen

Nachgeborenen berührt und deren Antwort man nicht einfach aus den Selbstzeug­ nissen der Akteure entnehmen kann. Wie konnte man als denkender, mehr oder weniger normaler Mensch zum Komplizen der staatlichen Räuber und Mörder wer­ den? Waren nach 1933 alle Funktionsträger Mittäter oder Gehilfen einer kriminel­ len Staatsorganisation? Kann das jederzeit und mehr oder weniger zwangsläufig entstehen oder gibt es rechtliche Barrieren, Zeichen des Unrechts, die eine Um­ kehr oder Abwehr bewirken können? Das sind alles heutige Fragen. Als Klaus Mann sein Buch im Jahre 1935 begann, kannte er weder Ausgang noch Umfang des Verbrechens, das er als Emigrant be­ obachtete. Umso bemerkenswerter wirkt seine Klarsicht. Ohne Auschwitz kennen zu können und mit nur wenigen Nachrichten aufgeklärter Zeitgenossen bezeich­ nete er das Regime im Roman bereits 1936 als eines der „netten Mörder“, die um­ geben waren von „Juristen, die das Recht für ein liberales Vorurteil hielten“.67 Mit Gründgens verband ihn eine  – wenn auch kurze  – intensive persönliche Bezie­ hung. Er war sein Schwager während einer Ehe mit seiner Schwester Erika in den Jahren 1926 bis 1929. Erika verwandelt sich im Roman in Barbara. Auch die Ehe zwischen beiden nimmt einen ähnlichen Verlauf. Sie findet nicht statt. Höfgen/­ Gründgens erhält bei Klaus Mann keinen sympathischen Charakter, er ist weder ein strahlender noch ein tragischer Held, sondern eben ein Opportunist. Aller­ dings zeigt Mann durchaus die internen Aspekte des Opportunismus. Man kann mit Höfgen leiden, mitleiden an Impotenz, Herrschsucht und Gefallsucht wie Ein­ samkeit. Der Roman einer Karriere endet auf dem Höhepunkt mit einer doppelten Drohung. Der mächtige, ohnmächtige Intendant des Staatstheaters darf bei seinem Machthaber den Mord eines Freundes nicht einmal erwähnen, will er nicht Ver­ dammung fürchten, und gleichzeitig muss er die unerbittliche Rache der kommu­ nistischen Freunde fürchten, die dem Opportunisten lebenslange Vergeltung an­ drohen. „Die Drohung“ füllt das letzte, zehnte Romankapitel. Rechtszeichen fallen rhematisch-indexikalisch als Zeichen auf, die fehlen. Es fehlt jeder Protest, es fehlt natürlich auch jede gerichtliche Untersuchung, wenn Menschen verschwinden. Das „Verschwindenlassen“ als eine kriminelle Bege­ hungsform des 20. Jahrhunderts gelangt unter den NS-Verbrechern zu einer ersten reifen Entwicklungsstufe, über die sich Höfgen/Gründgens wundern kann. „Wie stark das Böse ist!“ lässt Klaus Mann seinen Mephisto sagen.68 Höfgens (wie Gründgens’) Vorzeigerolle ist Fausts Mephisto, während Höfgen an Shakespeares Hamlet scheitert. Aber Gründgens/Höfgen spielen nicht nur den Mephisto, sie sind es auch, Faust-verstärkt, so müsste man sagen. Denn der Höfgen des Romans er­ greift die Chance, über eine von ihm eigentlich verachtete Kollegin an den Mi­ nisterpräsidenten, nämlich Hermann Göring heranzukommen. Göring öffnet ihm den Weg nach Berlin ans Staatstheater und lässt ihn dort zum Intendanten wer­ den. Mephisto/Höfgen sieht das und denkt an Rückversicherung bei der kommu­ 67 68

Klaus Mann, Roman einer Karriere, Reinbek 1981, 205. Mann (Fn. IV. 67), 205.

5. Karriere eines Romans (K. Mann: „Mephisto“)

139

nistischen Gegenseite. Sein Otto Ulrichs genannter kommunistischer Freund ver­ schwindet in den Märztagen des Jahres 1933 ebenso wie der alte Kämpfer und Theaterschauspieler Miklas verschwindet, der von der „Machtergreifung“ ent­ täuscht ist. Während Miklas gleich umgebracht wird, gelingt es Höfgen durch Be­ einflussung seines kriminellen Gönners, Ulrichs zumindest erst einmal freizube­ kommen, bis er dann aber endgültig verschwindet und ebenfalls umgebracht wird. Denn richtige Kommunisten gehen keinen Pakt mit der teuflischen Macht ein, sie arbeiten im Untergrund, solange es geht, und sterben, wenn es nicht mehr geht. An Recht denkt dabei nur der Leser, und das macht den Text zum Legizeichen der staatsverstärkten Kriminalität. Alle wissen, dass die geschilderten Vorgänge Un­ recht sind, aber niemand sagt es. Was die Justiz sagt, ist demgebenüber der reine Hohn. Sie achtet darauf – so beobachtet es Klaus Mann in der Figur des Schau­ spielers Joachim –, dass jemand nicht zu Unrecht als Jude bezeichnet wird. „Jeden, der das Gegenteil behauptet,“ lässt Mann diesen Schauspieler bekräftigen, „muß ich leider einsperren lassen. … Denn wir leben in einem Rechtsstaat.“69 Das ist die scharfe Differenz zwischen Justizdispositiv und Rechtsstaat. Den Roman muss man schon wegen des Datums seiner Entstehung als bedeu­ tendes Werk der Literatur einstufen. Als Mann ihn schrieb, konnte er weder vom fabrikmäßigen Mord noch vom Verbrechen des Angriffskrieges selbst etwas wis­ sen. Das lag alles noch in der – wenn auch nahen – Zukunft. Aber anders als die große Mehrheit seiner Zeitgenossen pflegte Klaus Mann weder Illusionen, noch ließ er die Barbarei hinter den Zuträglichkeiten des Alltags zurücktreten. Der „Mephisto“ ist das erste ungeschminkte Zeugnis von den Alltagsverbrechen eines Regimes von Straftätern. Nach Manns Lektüre hat man daran keinen Zweifel mehr. Die Karriere des Romans beförderte aber ein anderer Faktor. Sein Held war eine nicht heldenhafte reale Person. Die Literaturwissenschaft hält dafür als Zei­ chen das Wort „Schlüsselroman“ bereit. Man erfährt, dass Schlüsselromane zu­ erst in der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts auftauchten und ein verdecktes Porträt realer Personen und Abläufe darstellen. Im Schlüsselroman trete die „Lust des Autors am Verschlüsseln auf ein Eingestimmtsein des Lesers aufs Dechiffrieren“.70 Der Autor kannte das Genre und hat die Konsequenzen für mögliche Veröffentlichungen erlebt. Nachdem der Roman 1936 in Amsterdam ver­ legt worden war, sollte er im Nachkriegsdeutschland zunächst 1949 neu und erst­ mals erscheinen. Das lehnte der in Aussicht genommene Verleger jedoch unter Hinweis darauf ab, dass Gründgens wieder „eine bereits sehr bedeutende Rolle“ spiele. Klaus Mann war empört und schrieb zurück: „Das heiße ich mir Logik! Und Zivilcourage! Und Vertragstreue. Ich weiß nicht, was mich mehr frappiert: die Niedrigkeit Ihrer Gesinnung oder die Naivität, mit der sie diese zugeben.“ 71 Neun Tage später beging er Selbstmord. 69

Mann (Fn. IV. 67), 264. Klaus Kanzog, in: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hrsg.), Reallexikon der Deut­ schen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin/New York 1977, 3. Bd., 646 f. 71 Mann (Fn. IV. 67), VI. 70

140

IV. Literarische Rechtszeichen

Der endlich 1981 erfolgten Veröffentlichung hat der Rowohlt Verlag den Text einer von Klaus Mann bereits 1936 verfassten Distanzierung vom Genre des Schlüsselromans als Klappentext vorangestellt. Es heißt auf der Titelseite: „Ich bin genötigt, feierlich zu erklären: Mir lag nicht daran, die Geschichte eines bestimm­ ten Menschen zu erzählen, als ich ‚Mephisto. Roman einer Karriere‘ schrieb. Mir lag daran, einen Typus darzustellen und mit ihm die verschiedenen Milieus (mein Roman spielt keineswegs nur im ‚braunen‘), die soziologischen und geistigen Vor­ aussetzungen, die einen solchen Aufstieg erst möglich machten …“ Klaus Mann lag in der Diagnose der Zeitströmungen richtiger, als er wünschen konnte. Nach 1945 wurde Gründgens entnazifiziert, „Mephisto“ sollte jedoch in Westdeutsch­ ­ msterdamer land erst nach seinem Tode erscheinen. Es gab 1936 eine Ausgabe im A Emigrantenverlag bei Querido und 1956 eine DDR-Ausgabe im Aufbauverlag. Nur die geplante Werkausgabe in der Nymphenburger Verlagsbuchhandlung im Jahre 1963 wurde zum Gegenstand einer Leitentscheidung der westdeutschen Ober­ gerichte, dann aber mit dem merkwürdigen Ergebnis, dass der Roman erst ein­ mal nicht erschien. Das Erscheinen wurde im Jahre 1966 vom Oberlandesgericht Hamburg in einen Rechtsstreit zwischen dem Gründgens-Erben und dem damali­ gen Verleger untersagt. Der Sache nach war das ein Akt der Zensur, der allerdings in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das 1971 darüber zu ent­ scheiden hatte, als solcher nicht festgestellt worden ist, weil dieses Gericht man­ gels ausreichender Mehrheit im Spruchkörper gerechtfertigt hat, was das Instanz­ gericht gewürdigt hatte. Es sollte deshalb dabei bleiben, dass72 „das ‚Abbild‘ Höfgen gegenüber dem ‚Urbild‘ Gründgens durch die künstlerische Gestal­ tung des Stoffes und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Romans nicht so verselbständigt und in der Darstellung künstlerisch transzendiert sei, daß das In­ dividuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‚Figur‘ genü­ gend objektiviert erscheine. Die Gerichte haben auch eingehend erörtert, daß der Autor ein grundlegend negatives Persönlichkeits- und Charakterbild des Höfgen und damit des ver­ storbenen Gründgens gezeichnet habe, das in zahlreichen Einzelheiten unwahr, durch erfun­ dene, die Gesinnung negativ kennzeichnende Verhaltensweisen – namentlich das erdichtete Verhalten gegenüber der schwarzen Tänzerin – angereichert sei und verbale Beleidigungen und Verleumdungen enthalte, die Gründgens durch die Person des Höfgen zugefügt wor­ den seien. Das Oberlandesgericht hat – vom Bundesgerichtshof unbeanstandet – den Roman als ‚Schmähschrift in Romanform‘ bezeichnet. Es gibt keine hinreichenden Gründe, dieser von den Gerichten vorgenommenen Wertung entgegenzutreten, daß der Autor ein negativ-­ verfälschendes Porträt des ‚Urbildes‘ Gründgens gezeichnet habe.“

Aus der Sicht späterer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wirkt dieser Spruch erstaunlich. Methodisch betreibt das Gericht mit Aussagen über Ver­ selbstständigung und künstlerische Transzendenz eigene Literaturwissenschaft und behauptet der Sache nach – ohne es selbst zu sehen –, man lese Klaus Manns Roman anstelle einer Biografie über Gründgens. Das ist schon deswegen unmög­ lich, weil Mann die homosexuelle Orientierung in eine sadomasochistische mit 72

BVerfGE 30, 173 (195) – Beschluss 1 BvR 435/68 v. 24.2.1971.

5. Karriere eines Romans (K. Mann: „Mephisto“)

141

eigenem Personal umgedichtet hatte. Der Literaturwissenschaftler Weitin sieht „Kunstrichter in Karlsruhe“ am Werk, die meinen, Kunstfreiheit in selbst erson­ nene Regeln umzudichten.73 Den Roman hätte man als indexikalisches Zeichen mit ersichtlichem Bezug auf die Person Gründgens sehen und es zulassen können, dass dieser Bezug nicht positiv ausfällt. Kunstwerke können und sollen eine Zei­ chenzweitheit haben. Jede sogenannte „realistische“ Kunst hat sie, und man soll auch wissen, dass Brecht – wenn er einem Arturo Ui eine Rolle schreibt – Hitler und die Nazis meint. Eberhard Spangenberg, Sohn des am Rechtsstreit beteiligten Verlegers, hat später die literaturwissenschaftlichen Belege etwa von Hans Mayer zur Tradition des Schlüsselromans vorgelegt.74 Zur Entscheidung haben die Richter Stein und Rupp-v. Brünneck Sondervoten abgegeben, die den Charakter als Kunst­ werk betonen, und man hätte ohne Weiteres die Nichtbeachtung der Kunstfreiheit als Verstoß gegen die bei der Beweiswürdigung zu beachtenden Grundsätze ver­ stehen können, wenn man die merkwürdige Auffassung geändert hätte, was denn nun durch künstlerische Gestaltung und Ein- und Unterordnung in irgendeinen Gesamtorganismus „nicht so verselbstständigt und in der Darstellung künstlerisch transzendiert sei,“ dass ein „eigenes Werk“ entstünde. Im abweichenden Votum Steins ist eine Zitatensammlung von Nicolai Hartmann über Thomas Mann bis zu Adorno enthalten, Richterin Rupp-v. Brünneck bringt ihr Erstaunen über die in diesem Fall ausnahmsweise zu beobachtende richterliche Selbstbeschränkung bei der Beweiswürdigung zum Ausdruck und vermisst eine Berücksichtigung des „Emigrantenschicksals“ bei Entstehung des Romans im Jahre 1935.75 Juristische Zeichenwirkung hatte der Roman in einer ganz anderen und für die Parteien nutzlosen Weise. Trotz vieler konkreter Vorbehalte rühmen die Kommen­ tatoren das Votum für die Kunstfreiheit (die ja eigentlich im Gesetzestext schon vorgesehen ist), und sie loben, dass „die Sachhaltigkeit eines grundrechtlichen Normbereichs zur Basis einer rationalen Bereichsdogmatik“ gemacht würde.76 So könnte man die oben zitierten Ausführungen zur Begründung verstehen, wenn sie auf dem Felde der Literaturwissenschaft standhalten würden. Unter Juristen inter­ essiert am Ende aber gar nicht, ob das so sein kann. Wichtig ist nur noch, inwie­ fern aus dem Roman Argumente für die Entscheidung gewonnen werden können. Das ist grundsätzlich möglich. In welche Richtung es geht, bleibt aber völlig offen. Der sogenannte „Mephisto-Beschluss“ gehört seit seiner Verkündung zum Zita­ tengut in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die vom Schallplat­ tenurteil über Strauß-Karikaturen bis zur Indexierung von Josefine Mutzenbacher reicht. Pornografie war vor dem 1990 natürlich völlig anders besetzten Gericht er­ folgreicher als Manns Personenkritik. Dennoch dient der Mephisto-Beschluss als 73

Thomas Weitin, Recht und Literatur, Münster 2010, 11–21 (16). Eberhard Spangenberg, Karriere eines Romans. Mephisto, Klaus Mann und Gustaf Gründgens, Reinbek 1986, 209–233. 75 Spangenberg (Fn. IV. 74), 225. 76 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik I. Grundlegung für die Arbeits­ methoden der Rechtspraxis, 11. Aufl., Berlin 2013, Rdz. 42. 74

142

IV. Literarische Rechtszeichen

Abstützung für den Vorrang der Kunstfreiheit, die für den Mutzenbacher-Roman streite, „je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind.“ 77 Aller­ dings war damit prozessual nur die Verpflichtung ausgesprochen, abzuwägen, was die Bundesprüfstelle dann so erledigte, dass sie den Roman als jugendgefährdend wertete.78 Die Liberalisierung der Zensur macht Zensur also nicht etwa überflüs­ sig. Nur der Maßstab ändert sich. Was man Klaus Mann zu Lebzeiten und noch 20 Jahre nach seinem Tod zumindest in Deutschland versagt hat, würde jetzt si­ cher nicht mehr verboten. Nach der Veröffentlichung im Jahre 1981 im Rowohlt Verlag hat es auch keinen Rechtsstreit mehr gegeben, so dass als Fazit bleibt: Das juristische Schicksal der Zweitheit hat mit dem symbolisch-literarischen Zeichen nichts zu tun. 6. Eichzeichen (Roth: „Das falsche Gewicht“) Peirce hat gern den Wetterhahn oder das Thermometer als Beispiel für einen Index vorgestellt, denn der Index ist ein Zeichen, dessen Objekt ein Ding der äußeren Welt ist, das Teil des Zeichens selbst wird, „deren Relation zu ihren Ob­ jekten in einer Entsprechung von Tatsachen besteht“.79 Der Index  – sagt Peirce später (1893) – bilde ein „organisches Paar“ mit einem Objekt,80 die der interpre­ tierende Geist zwar bemerke, die aber auch existiere, wenn sie unbemerkt bliebe. Auch in der normalen Rede gibt es eine ganze Anzahl von Ereignissen, die den notwendigen Realitätsbezug garantieren. Einen Stoß nennt Peirce Ausrufe wie „Horch!“ oder „Hör doch zu!“ und Maßangeben wie „das Yard“, „Kilo“ oder „die Gallone“.81 Was das für das Leben heißt, ist im Index enthalten, aber in degene­ rierter Form. Es gibt eine Erstheit der Zweitheit, ein Gefühl für die Richtung des Wetterhahns und den Anstieg des Thermometers. Mütter wissen das. Eichzeichen sind dicentische Indices. Bei ihrer Bestimmung muss nur die Syn­ taktik der Zeichen beachtet werden. Die Syntaktik bestimmt, wie eine Marke einer Zahlenreihe zugeordnet wird. Das ist alles. Man sieht das Eichmaß auf einem Ge­ fäß und weiß, welches Volumen bezeichnet wird, man sieht die Zahlen auf einem Gewicht und weiß, wie schwer ein Gegenstand wiegt – oder weiß man das doch nicht? Kann man sich dabei täuschen? Kann man das Gewicht falsch bestimmen, obwohl man die Zahlen richtig abliest und obwohl das Gewicht richtig geeicht ist? Die Fragen führen zu Joseph Roths Roman „Das falsche Gewicht“. Dort be­ richtet Roth vom Eichmeister Eibenschütz, der in redlicher Weise das Gesetz aus­ 77

BVerfGE 83, 130 (148) – Beschluss 1 BvR 402/87 v. 27.11.1990. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 11.9.1997 – 20 A 6471/95 (http://seibert.biz/openjur). 79 Peirce, Eine neue Liste der Kategorien, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 2), 155. 80 Peirce (Fn. II. 69), 199. 81 Peirce, Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Propositionen, in: Schriften (Fn. I. 6, Bd. 2), 245. 78

6. Eichzeichen (Roth: „Das falsche Gewicht“)

143

führt, falsche Gewichte entdeckt und die Schwindler überführt, aber doch selbst einer grundsätzlich falschen Gewichtung erliegt. Die Erstheit der Zweitheit des­ Eichmaßes führt in den Abgrund. Eichzeichen ist auch nicht anzusehen, ob das, was sie mitteilen, Gefühle von Glück oder Unglück auslöst. Insofern sind Eich­ zeichen ganz wesentlich auf jene organische Paareigenschaft angewiesen, von der Peirce ausgeht. Außerdem müssen die Eichzeichen richtig platziert sein, denn mit allen Zeichen kann man lügen.82 Ob die Eichzeichen richtig oder falsch sind, ent­ scheidet der Eichmeister. Ob ein Kilogewicht auch wirklich ein Kilogramm wiegt, kann nur er überprüfen. Für die Prüfung werden besondere  – eben korrekt ge­ eichte – Gewichte benötigt, und man braucht Prüfstellen, die eingerichtet sind, nur solche Gewichtsprüfungen mit den wahren Gewichten vorzunehmen. Die Wahr­ heit lässt sich hier experimentell vorweisen. Das macht die Indexikalität der Eich­ zeichen aus. Der Eichmeister ist dabei die Instanz, die das wahre Gewicht kennt, vorausgesetzt, er verfügt über richtig geeichte Prüfgeräte. Die Operation ist im Rechtsbetrieb weit verbreitet. An vielen Stellen wird Maß genommen und wer­ den Maße festgelegt, Strafmaße zum Beispiel, es werden Zahlen festgesetzt, Be­ träge für Zahlungen, und es werden Marken ausgegeben, Karten, Papiere und Be­ rechtigungsscheine zum Beispiel, Grenzmarken bestimmt, Grenzsteine gesetzt, es werden Barrikaden aufgerichtet und Gräben gezogen, Grenzen für das rich­ tige Recht bestimmt. Das ist aber nicht alles, Indexikalität ist nur ein Ausschnitt. „Es kann“ – schreibt Roth in „Das falsche Gewicht“ – „ein Augenblick kommen, da steht plötzlich ein unbekannter Paragraph auf.“83 „Das falsche Gewicht“ ist ein Roman, der erst 1937 erschien, kurz bevor Roth, der notorische Trinker, starb. Roth lebte damals längst in Paris und schrieb von jenem sagenhaften Galizien, in dem sich zu dieser Zeit noch die Völker und die Rechte mischten. Allerdings war schon die verhängnisvolle Trennung nach Na­ tionen eingetreten, gegen die Roth hellsichtig, scharfzüngig konservativ und im­ mer mehr kaiserlich polemisierte. Unter dem Kaiser Franz Joseph erstreckte sich das Reich von Lemberg bis Venedig, von Prag bis Sarajewo, aber es war kein ge­ eichtes Reich. Selbst wenn „vor Gericht und Behörden dieselben Gesetzbücher an­ gewendet werden“ – schreibt Eugen Ehrlich84 1912 –, so herrschte doch in Galizien keineswegs dasselbe Recht wie in Böhmen oder in Dalmatien. Um den wirk­ lichen Rechtszustand zu kennen, müsse man darauf sehen, was die Gesellschaft damit leiste, wie die Gerichte es beurteilten und wie schließlich die Urteile wirk­ ten. Nicht der Text eicht das Recht. Es sind die Eichmeister. Von einem solchen Eichmeister erzählt Roth mit märchenhaftem Anfang: „Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen.“85

82

Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen (1976), München 1987, 26. Joseph Roth, Werke, Bd. 6. Romane und Erzählungen 1936–1940, Köln 1991, 161. 84 Ehrlich (Fn. I. 82), 408. 85 Roth (Fn. IV. 83), 129. 83

144

IV. Literarische Rechtszeichen

Von Rechts wegen ist der Eichmeister einfach nur Beamter einer unteren Verwal­ tungsbehörde. Er wendet öffentliches Recht an und übt in fachlicher Funktion ma­ terielle Polizeigewalt aus. Als Meister ist er der Dienstvorgesetzte für einen Wacht­ meister der Gendarmerie „in voller Rüstung“ und für einen Schreiber auf seiner Dienststelle. Den Wachtmeister nimmt er auf seine Dienstwege mit, und während er unterwegs ist, verführt der Schreiber seine Frau, zeugt mit ihr ein Kind, das der Eichmeister in seinem Hause aufziehen soll, und bringt die privaten Gewichte völ­ lig in Unordnung. Auch die dienstlichen Gewichte geraten in Unordnung, und zwar umso mehr, je genauer der Eichmeister seine Amtspflichten beachtet. Für seine Amtswege benutzt er ein zweirädriges Wägelchen, gezogen von einem Schimmel, und in diesem Wagen sitzen der Eichmeister und der Wachtmeister, auf dessen Helm „die goldene Pickel und der kaiserliche Doppel­adler der Monarchie“ glänz­ ten. Denn der Eichbezirk Zlotogrod lag „im fernen Osten der Monarchie“, in dem Polen, Huzulen und Ruthenen, Deutsche und Juden lebten – alles Leute, die keinen Eichmeister brauchten. Der Eichmeister hingegen ist entschlossen, das Gesetz ein­ zuhalten. „Redlich“ ist er86. Auf dem Markt nimmt er eine alte Krämerin fest, deren Hände zu kraftlos gewesen waren, um rechtzeitig die falschen Gewichte wegzuwer­ fen, wie es die anderen Händler tun. Der Eichmeister lässt sie abführen, und auf dem Markt entsteht gefährlicher Aufruhr und Geschrei, bis der Wachtmeister der alten Händlerin anbietet, er lasse sie frei, wenn sie nur nicht mehr schreie. Inzwischen prüft der Eichmeister den Marktstand des mächtigen Wirts von der Grenzschänke, der als Schankwirt auf dem Markt gar nicht stehen darf. Aber Leibusch Jadlowker, der Grenzwirt, meint, ein Eichmeister habe Gewichte und nicht Papiere zu prüfen. Da täuscht er sich in einem redlichen Eichmeister, der die Weigerung, Papiere vor­ zulegen, als Widerstand versteht und seinen Wachtmeister mit dem blitzenden Ba­ jonett und der funkelnden Pickelhaube herbeiholt. „Man weiß nicht was damals in Leibusch Jadlowker vorging. Er stürzte sich plötzlich auf den Gendarmeriewacht­ meister, das Fischmesser in der Hand. Er stieß wüste Verwünschungen gegen den Kaiser, gegen den Staat, gegen das Gesetz und sogar gegen Gott aus.“87 Für diesen Widerstand gegen die durch den Eichmeister repräsentierte Staatsgewalt wird Lei­ busch zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Er verschwindet aus der Grenzschänke. Stattdessen zieht der Eichmeister dort ein. Denn seine Frau hat er wegen des außerehelich gezeugten Kinds, des Bastards, aus dem Ehebett auf die Küchen­ bank verbannt, und die Liebe gehört jener Zigeunerin Euphemia, von der man er­ fährt, dass sie mehreren Männern gehört, gehören muss: im Sommer dem Wirt der Schenke, im Winter einem Maronibrater, der in der Schenke logiert. Aber das erfährt der Eichmeister erst, als er in dienstlichem Auftrag die Grenzschenke we­ gen der Inhaftierung des Leibusch verwaltet und beaufsichtigt. Dort schläft er mit­ Euphe­mia, während der Grenzwirt im Zuchthaus eingesperrt ist. Aber im Zucht­ haus bleibt er nicht ewig eingesperrt. Während der Sträflingsarbeit flieht der 86

Roth (Fn. IV. 83), 163. Roth (Fn. IV. 83), 164.

87

6. Eichzeichen (Roth: „Das falsche Gewicht“)

145

Häftling Leibusch und verbirgt sich im Haus eines Schiebers, der Russen illegal über die nahe Grenze schleust. Der Eichmeister prüft auch dieses Haus, schöpft Verdacht, dass sich dort der frühere Sträfling aufhalten könne und will ihn dort aufspüren. Leibusch ist schneller. Als der Eichmeister sein Pferd festkoppeln will, erschlägt er ihn mit einem spitzen Stein. „So also starb der Eichmeister Anselm­ Eibenschütz, und wie man zu sagen pflegt: Kein Hahn krähte nach ihm.“88 Verschoben werden in Joseph Roths Geschichte die Regeln der Redlichkeit. Redlich ist jemand, der eine Regel anwendet, so wie sie lautet, und wer das tut, bringt Unheil. Wer Ehebruch entdeckt und ahndet, wird selbst ehebrecherisch. Wer falsche Gewichte entdeckt und den Besitzer des Gewichts liquidieren will, wird selbst liquidiert. Denn gar so geradlinig ist die Gesinnung des redlichen Eich­ meisters nicht. Den Ehebruch entdeckt er, weil er seiner Ehefrau schon lange über­ drüssig geworden war. Er begehrte sie nicht mehr. Er zeigt denjenigen an, den er anzeigen und beiseiteschaffen will, und das ist Leibusch Jadlowker. Wer unredlich handelt, überlegt noch einmal, ob und unter welchen Umständen er irgendwelchen Regeln folgt. Aber gerade das scheint den in Regeln gefassten Verpflichtungen, den Normen, zugutezukommen. Normen mögen sich in Regeln ausdrücken las­ sen, aber man ahnt, dass es nicht wirklich redlich ist, Vorschriften der Redlichkeit zu befolgen. Denn Redlichkeit zeichnet sich noch durch etwas anderes aus, etwas, das Roth mit der mitleidigen Frage umschreibt, was eigentlich ein armer Mensch wie Leibusch Jadlowker wisse. Es sind Leidenschaften, die den Unredlichen strau­ cheln und den Redlichen verderben lassen, wenn er sich einer Leidenschaft ver­ schreibt und die Dekonstruktion des Rechtszeichens übersieht, die es auferlegt, erst noch einmal zu überdenken, ob man Recht anwendet oder nicht. Eine solche Einstellung ist so paradox wie das Verfahren des Eichmeisters, der die Händlerin erst festnimmt und – als sie anfängt zu schreien und um Hilfe zu rufen – sie wie­ der freilässt. Das richtige Gewicht bei der Verfolgung der falschen Gewichte misst den Gewichten einen Platz zu, der wieder aufgegeben werden kann, wenn die Ge­ wichte sich verschieben. Das will der leidenschaftlich Redliche nicht gelten lassen. Als der Eichmeister dem ärmsten Juden des Orts eine Konventionalstrafe von zwei Gulden und fünfundsiebzig Kreuzern diktiert, die dieser nicht zahlen kann, hat er ein schlechtes Gewissen. „‚Das hätten wir nicht tun dürfen!‘ sagt Eibenschütz zu Piotrak. ‚Es ist trotzdem ein redlicher Mann!,‘ ‚Redlich ist niemand!‘ sagt der Gen­ darm Piotrak, ‚und Gesetz ist Gesetz.‘“89 Aber der Gendarm „war nicht nur vor­ schriftsmäßig bewaffnet. Er selbst war eine Waffe.“90 Joseph Roths Geschichte ist von einer lakonischen Traurigkeit. Es geht in ihr fortlaufend um die Rechtsform, und die Aussage darüber bleibt paradox. Regeln seien dafür da, eingehalten zu werden, redlich wäre man aber nur, wenn man sie – je nach Einschätzung der Situation – nicht einhielte. Das Rechtszeichen scheint 88

Roth (Fn. IV. 83), 223. Roth (Fn. IV. 83), 212. 90 Roth (Fn. IV. 83), 205. 89

146

IV. Literarische Rechtszeichen

keine Form zu haben, jedenfalls keine, an die man sich halten kann. Dieses Di­ lemma bringt im Roman den Statthalter der Rechtsansprüche zu Tode. Mit derart paradoxen Situationen beginnt die Postmoderne, in der die Form nicht aufgegeben wird, aber tödlich wirkt, wenn man sie formal behandelt. Die Spitzengeschichte dafür ist die Geschichte von K. 7. Josef K. (Kafka: „Der Proceß“) Die Geschichte von K. beginnt mit den Worten: „Jemand musste Josef K. ver­ leumdet haben.“ Für K. kann man sich Platzhalter vorstellen, und Marie Theres Fögen hat spekuliert, wer den Platz von K. einnehmen könnte.91 K. ist ein Zeichen für alle, aber es gibt wirkliche Juristen, die es waren. Es gab in Berlin den Josef K. des deutschen Privatrechts, Josef Kohler, und es gab in Prag den erfolgreichen Ju­ risten und Theorielehrer Hans K., böhmisch-jüdisch-deutscher Rechtsstudent und promoviert 1906, neben dem der ebenfalls böhmisch-jüdisch-deutsche Rechts­ student Franz K. im gleichen Jahre 1906 in Prag promovierte. Franz Kafka war neben Hans Kelsen und Josef Kohler unter den K.s der zu Lebzeiten am wenigsten erfolgreiche Jurist, dafür aber derjenige, der vom universalen Josef K. erzählt hat. Franz K. war mit der Geschichte seines Josef K. nicht zufrieden und veröffent­ lichte sie nicht. Was davon zu halten ist, wenn er sie seinem Freund und Mentor Max Brod mit der Anweisung gibt, er möge alles verbrennen, darf analytisch ge­ deutet werden. Nicht erstaunlich ist, dass Max Brod das Konvolut geordnet und 1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, sofort veröffentlicht hat. Seitdem sucht die Ge­ schichte jeden heim, der sich darauf einlässt, sie zu lesen. Zuerst die Kurzfassung: Josef K. wird eines frühen Morgens von zwei Männern verhaftet, die offenbar in höherem Auftrag handeln, er darf aber seiner alltäglichen Arbeit nachgehen. Der Haftbefehl wird gewissermaßen unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Gelegent­ lich und – wie K. später beklagt – viel zu selten erhält er eine Gelegenheit, sich selbst vor Gericht zu äußern. Die im Roman einzige Episode mit direktem Ge­ richtskontakt füllt das 3. Kapitel, in dem sich Josef K. vor einem Untersuchungs­ richter, den er als inkompetent einschätzt, über diesen selbst und das Verfahren insgesamt beklagt. Nach dem Ende der scheinbar gescheiterten Anhörung ver­ sucht K. auf eigene Faust, Zugang zum Gericht zu finden oder irgendeine Art von Einblick zu erlangen. Zugang zum Gericht sollen ganz entfernte Figuren vermit­ teln wie die Zimmernachbarin, Fräulein Bürstner, oder die Frau eines Gerichtsdie­ ners, schließlich der Advokat und Titorelli, der Maler der Richter, aber keiner von ihnen scheint wirklich helfen zu können. Schließlich und als letzte Begegnung vor dem Ende trifft K. beim Besuch des Doms nicht auf den Geschäftsfreund, den er dort erwartet hat, sondern auf einen Geistlichen, der K.s Verhalten rügt und ihm die Parabel „Vor dem Gesetz“ erzählt, über deren Auslegung K. sogleich zu strei­ 91

Marie Theres Fögen, Das Lied vom Gesetz, München 2007, 74–78.

7. Josef K. (Kafka: „Der Proceß“)

147

ten beginnt. So wenig wie K. für den Leser die Bedeutung der gleichwohl verstö­ renden Parabel klärt, so wenig erhellt sich der Inhalt des Verfahrens. Das hindert Abholung und Hinrichtung des K. nicht, der durch die Hand der Wächter stirbt: „Wie ein Hund!“92 Mit einer solchen Inhaltsangabe weiß man nicht viel vom „Proceß“. Josef K. ist die alleinige Hauptperson, und seine Geschichte steht für jemanden, über den in einem Prozess disponiert wird. Dass die Justiz nicht so wirkt, wie Juristen meinen, sondern in einem „Justizdispositiv“ (Kap. VI.) die Not der angeblichen Verfah­ renssubjekte vergrößert, dass die Justiz eine Not für die in ihr Verstrickten aus­ macht – davon erzählt Kafka. Die Perspektive in seinen Szenen beschränkt sich auf das vermeintliche Verfahrenssubjekt; auf K., seine Gedanken, Gefühle und Meinungen. Josef K. ist – würde man nach den modernen Verfahrensordnungen sagen – ein Beschuldigter (bei Kafka ist meist vom „Angeklagten“ die Rede), aber da die Anklage nie eröffnet wird, bleibt es bei hintergründiger Schuld. Die geläufige Deutung des Gesamtzusammenhangs geht nun dahin, es sei gar nicht von einem Rechtsverfahren die Rede, sondern von dem Prozess, den man sich selbst mache. Das entspräche der Psychoanalyse eines Neurotikers, den seine Schuldkomplexe heimsuchen. Man kann eine solche Verbindungslinie zie­ hen, so wie man sich in allen Verfahren die persönlichen Anteile einer scheinbar sachlichen und entfernten Angelegenheit klarmachen kann. Elias Canetti hat den „Proceß“-Roman insofern konsequent aus den Umständen seiner Entstehung ver­ standen.93 Kafka begann, ihn zu schreiben, nachdem er sich mit Felice Bauer ver­ lobt und diese Verlobung wieder beendet hatte, weil er sich gefangen fühlte. Sieht man die Erzählung vor einem ganz und gar persönlichen Hintergrund, bleiben aber immer noch die vordergründigen Verfahrenseinzelheiten von Anwalt, Rich­ ter, Wächter und Kanzleien. Juristen bleiben bei dieser Oberfläche. Der öster­ reichische Richter und Schriftsteller Janko Ferk zählt die Bezugspunkte zwischen der Strafprozessordnung der Franz-Josefs-Monarchie und dem „Proceß“-Roman auf: Nichtöffentlichkeit, Aktenunkenntnis, bloßes Erraten funktioneller Zustän­ digkeiten.94 Aber wie viel mehr weiß man nach der der Franz-Josefs-Zeit von einem Verfahren? Sind Verfahren transparent? Kafka-Interpretationen gehen oft davon aus, die Grundvoraussetzungen eines Verfahren seien durch den berühmten ersten Satz des Romanfragments außer Kraft gesetzt, der lautet: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“95 Es scheint so, als ob in einem ordentlichen rechtsstaat­ lichen Verfahren die Verhaftungen angekündigt werden. Aber was da als skanda­ lös erscheint, ist es nicht. Vor der Verhaftung wird keineswegs darüber informiert, dass sie demnächst erfolgen wird. Man müsste  – das ist sogar ein gesetzlicher 92

Kafka (Fn. I. 90), 312. Elias Canetti, Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice, München 1984. 94 Janko Ferk, Recht ist ein „Prozess“. Über Kafkas Rechtsphilosophie, Wien 2006, 62–65. 95 Kafka (Fn. I. 90), 7. 93

148

IV. Literarische Rechtszeichen

Grund für den Erlass eines Haftbefehls – ansonsten damit rechnen, dass sich der Beschuldigte durch Flucht der Verhaftung entzieht. Man muss auch nicht damit rechnen, weil man schon weiß, dass man „Böses“ getan hätte. Manche modernen Straftäter halten ihre Taten für ganz richtig, anderen gelingt es, die objektive Bos­ heit aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, und wieder andere gehen eben davon aus, dass alles unentdeckt bleibe. Dass den Verhafteten jemand „verleumdet“ habe, meint er immer selbst. Eine Differenz zum rechtsstaatlichen Prozess entsteht allerdings. Das moderne Strafverfahren verpflichtet den amtlich Verhaftenden, eine Ausfertigung des Haft­ befehls zu übergeben (heute § 114 a StPO). Das unterbleibt im Roman. Aber man weiß auch, dass oft genug verhaftet worden ist, ohne dass Verdacht und Haft­ gründe bekanntgegeben worden wären, ja ohne dass überhaupt ein Haftbefehl be­ standen hätte. Die Formalitäten der Verhaftung sollen es erschweren, so einfach jemanden festzusetzen und seiner Bewegungsfreiheit zu berauben. Aber das sind stets gefährdete Elemente des neuzeitlichen Rechtsstaats, der neben der Verhaf­ tung die Möglichkeit der vorläufigen Festnahme eröffnet (§ 127 StPO). Man kann festgenommen und wieder freigelassen werden, weil es eben keinen Haftbefehl gibt, man kann auch verhaftet, der Vollzug des Haftbefehls dann aber ausgesetzt werden. Josef K.s Verfolger gehen mit ihm nicht totalitär um. Das verhindert nicht, dass der Festgenommene oder Verhaftete in der Folge alles auf sein eigenes Ver­ fahren bezieht, es einerseits für eine Chimäre, andererseits aber für eine existen­ zielle Bedrohung hält. Der Erzähltext setzt die inneren Möglichkeiten so gegen­ einander, dass sie sich aufheben. So verhält es sich mit dem ersten und einzigen Verhör, das K. erfährt und das eigentlich nur aus dem Vorhalt besteht: „Sie sind Zimmermaler?“96 An dieser Stelle befindet man sich noch vor einem Verhör zur Sache, weil Verhandlungen und Anhörungen erst einmal mit der Feststellung der Identität und der persön­ lichen Merkmale beginnen. Weiter lässt es K. aber nicht kommen, denn Franz K. lässt Josef K. eine Anklage gegen das Gericht und sein rechtswidriges, pflichtver­ gessenes Verfahren vortragen. K. erklärt die Wächter für bestechlich, den Richter für unfähig und hebt ein Bündel mit „engbeschriebenen fleckigen, gelbrandigen Blättern“ hoch, das er als „die Akten des Untersuchungsrichters“ identifiziert.97 Im nächsten Kapitel erfährt man, dass auf dem Tisch des Richters Bücher mit porno­ grafischen Zeichnungen liegen. Erzählt wird also von einem Verhör, das in seinen äußeren Zurichtungen nicht auf ein sachliches Verfahren schließen lässt, diesem Schluss aber durch einen einzigen autoritativen Kommentar des Untersuchungs­ führers auch wieder die Grundlage entzieht: „Ich wollte Sie nur darauf aufmerk­ sam machen …, dass sie sich heute … des Vorteils beraubt haben, den ein Ver­ hör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.“98 Es bleibt offen, worin dieser 96

Kafka (Fn. I. 90), 61. Kafka (Fn. I. 90), 63. 98 Kafka (Fn. I. 90), 72. 97

7. Josef K. (Kafka: „Der Proceß“)

149

Vorteil besteht. Wie im gesamten Text bleibt auch hier der Leser auf einen eige­ nen Schluss verwiesen, wohl wissend, dass der Text Schlüsse zu verhindern sucht. Aber er spricht ein zentrales Verfahrensmotiv an. Mündliche Verhandlung und Anhörung sollten Vorteil für Angeklagte und insbesondere für Verhaftete dar­ stellen. Sie sind ein wesentliches Element der Habeas-Corpus-Beschränkungen, mit denen das königliche Recht, Personen festnehmen zu lassen, überprüfbar ge­ macht werden sollte. Das Festhalten einer Person (habeas corpus: du magst des Körpers habhaft werden) sollte nicht die letzte Maßnahme sein, mit der die Person buchstäblich zum Verschwinden gebracht werden kann. Ein Richter soll sie anhö­ ren müssen. Aber der Verhaftete und offenbar Beschuldigte wartet die Eröffnung des Vorwurfs (wenn er denn hätte eröffnet werden können) noch nicht einmal ab. Kafka erzählt die Geschichte eines Protestanten im Rechtsverfahren. Der Protestant erlebt sogar, dass sein Protest wirkt. Das Gericht bestraft die Wächter, nachdem sich K. über sie beklagt hat. Aber hat man sich vorstellen kön­ nen, wie das geschieht? Im Kapitel über den „Prügler“ entwickelt Kafka ein libi­ dinöses Szenario für die Vollstreckung. In „Lederkleidung, den Hals bis tief zur Brust und die ganzen Arme nackt“ hält ein „Mann, der die anderen offenbar be­ herrschte“ eine Rute in der Hand und befiehlt den Wächtern, sich auszuziehen.99 Es ist buchstäblich nackte Gewalt, die im Inneren des Gerichts und möglicherweise am Ende eines Verfahrens gegen die Wächter lauert, in einem inneren Hinterzim­ mer, einer „Rumpelkammer“. Die Szene spielt mit den Trieben, die man in ihr aus­ gedrückt finden mag. Sadistisch wird sie nicht ausgedeutet, vielmehr lässt Kafka den Prügler sagen, was später die Prügler aller Lager sagen werden: „Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich“.100 Es handelt sich um reinen Befehls­gehorsam, den K. vergeblich durch Bestechung zu verhindern sucht. Die Szene gibt dem Voll­ strecker die Möglichkeit, als unbestechlich und gehorsam zu erscheinen. Über­ haupt gelingt es nicht, die Vollstreckung abzuwenden. Charakteristischerweise kann man nur sich selbst von der Vollstreckung abwenden, die Tür schließen und dafür sorgen, dass andere die Kammer ausräumen. Aber alle wissen, dass sich Ge­ walt und Vollstreckung aus dem Recht nicht räumen lassen; überall findet sich eine „Rumpelkammer des Rechts“, deren Tür man nur öffnen muss.101 Das Kapitel über den Prügler steht erratisch im Gesamtzusammenhang des Tex­ tes, es wird weder vorbereitet noch aufgenommen. Nur im Kapitel selbst gibt es eine Bezugnahme auf das vorangegangene Verfahren, wenn die Wächter K. als Anzeigeerstatter gegen sie selbst bezeichnen. K. habe sie der Bestechlichkeit be­ zichtigt und insofern die Bestrafung veranlasst. Anders als es K. während der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter empfunden hat, scheinen seine Be­ merkungen doch im Einzelnen wahrgenommen zu werden, und nicht nur das: sie scheinen auch noch in Reaktionen verarbeitet zu sein, als deren Urheber K. sich 99

Kafka (Fn. I. 90), 109. Kafka (Fn. I. 90), 112. 101 Vismann, Akten (Fn. I. 89), 47. 100

150

IV. Literarische Rechtszeichen

nicht selbst verstehen will. Eine solche grausame Folgerichtigkeit, die nicht an­ gekündigt worden ist, erzählt Kafka noch mit dem letzten Kapitel über die Hin­ richtung. Auch diese Gewalt wird als folgerichtig, unausweichlich und unwider­ stehlich vorgestellt, dies aber mit einem deutlichen Unterschied zur Gewalt des Prüglers. Gegen jene protestiert K. vehement, die Hinrichtung erleidet der Ange­ klagte hingegen willig. In beiden Situationen ist das Verfahren mit einer minutiös ausgemalten Gewaltszene unterlegt, und man darf verstehen: Darauf laufen Ver­ fahren hinaus, deshalb sind sie so gefährlich, sie verlieren sich nicht im Belang­ losen und Nebensächlichen, auch wenn die Verfahrensstationen an keiner Stelle die Hauptsache auch nur thematisieren. Weil Verfahren für Leib und Leben gefährlich sind, versucht ein Beschuldig­ ter, Betroffener oder Angeklagter sich helfen zu lassen, und vor allem auch: etwas über die reale Natur der Gefahr zu erfahren. Es entsteht eine Gier nach Zweitheit, nach wirklicher Indexikalität. Aber wie ereignet sich das Gericht? Kann man es kennenlernen? Medium dafür sind bei Kafka die Frauenfiguren. Das sind als erste Fräulein Bürstner und ihre Freundin, Fräulein Montag, die beiden einzigen Fräu­ leins im Gesamtzusammenhang. Die unverheiratete Frau des Jahres 1914 signa­ lisiert eine sonst nicht übliche Unabhängigkeit, wirtschaftlich, beruflich und per­ sönlich. Fräulein Bürstner hat einen Beruf und wird vorgestellt als Person, für die „gerade Gerichtssachen ungemein“ interessant sind und die daher „als Kanzlei­ kraft in ein Advokatenbureau“ eintreten will.102 Ganz richtig verlangt Fräulein Bürstner von K., der sie doch als Ratgeberin gewinnen will, Aufschluss darüber, „um was es sich handelt“,103 aber eben das würde K. gern umgekehrt von ihr erfah­ ren. An die Stelle einer Begegnung mit dem Gericht tritt Sex, den man als Gewalt verstehen kann. K. küsst Fräulein Bürstner „auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.“104 Wie „ein durstiges Tier“ gebärdet er sich. Die symbolische Vermittlung von Gericht, Sex und Gewalt begleitet auch die weiteren Frauenfiguren. Die Frau des Gerichtsdieners ist anders als Fräulein­ Bürstner abhängig, und zwar wirtschaftlich wie beruflich und persönlich. Sie bietet K. ausdrücklich Hilfe an und erfüllt auch einen Teil seiner Neugier.105 Er darf in den Büchern des Untersuchungsrichters blättern und entdeckt Pornogra­ fie und pornografische Literatur, und K. denkt daran, dass „dieser üppige gelen­ kige warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schwerem Stoff durchaus nur“ ihm gehören solle106 und nicht dem Untersuchungsrichter, der sich diese im Fort­ gang der Erzählung immer attraktiver werdende Frau aber buchstäblich zutragen lässt. „Nein, nein, die bekommen sie nicht“ muss er sich von einem „Studenten“ sagen lassen, der sich die Frau auf die Schulter lädt und sie zum Richter weg­ 102

Kafka (Fn. I. 90), 42. Kafka (Fn. I. 90), 43. 104 Kafka (Fn. I. 90), 48. 105 Kafka (Fn. I. 90), 77. 106 Kafka (Fn. I. 90), 83. 103

7. Josef K. (Kafka: „Der Proceß“)

151

trägt – befreit werden zu wollen wäre hier ein „Verderben“, wie die Frau selbst sagt.107 Sexuelle Gewalt oder gewalttätiger Sex prägen die Erscheinungsweise des Gerichts. Es wird begleitet von erzwungener Intimität und „schönen Körpern“.108 Leni ist – nicht erst seit Romy Schneider sie in Orson Welles Verfilmung spielte – die markante Frauenfigur in einer intimen Reihe. Sie ist eine Frau, die aus einer abhängigen Stellung heraus herrscht, dirigiert, Personen zum Advokaten vorlässt, zurückhält und ihren scheinbaren Dienstherrn entweder zum Tätigwerden moti­ viert oder als krank behandelt. Leni wird nicht nur als Bedienstete des Advokaten vorgestellt, sondern auch als dessen persönliche Pflegerin und Geliebte. Gleich­ zeitig ist sie diejenige, die ihn beruflich steuert, ohne jemals in Erscheinung zu treten. Macht übt sie im Hintergrund aus und demonstriert das an K., der sich ih­ rer nicht erwehren kann, als er eine „hübsche Kralle“,109 Lenis „körperlichen Feh­ ler“, vorgeführt bekommt. Er verfällt Leni, während sie gerade hinfällt, er „um­ faßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. ¸Jetzt gehörst du mir‘, sagte sie.“ Aber Leni ist diejenige, von der er wesentlichen Aufschluss und weitere Hinweise über sein Verhalten im Prozess bekommt. Die Frauen im „Proceß“ sind Randfiguren und eröffnen vom Rand aus die Funktionsweise des Justizdispositivs. Sie sind zwar der Verfügung juristischer Männer unterworfen, können sich ihrer aber durch Unterwerfung bedienen. Wenn alle drei Szenen – mit Fräulein Bürstner, mit der Frau des Gerichtsdieners, mit Leni – sexuell getönt sind und in Gewalt und Nötigung enden, dann scheint der reale Aufschluss über den Prozess libidinös vermittelt zu werden. Es liest sich bei Kafka so, als hätte dieser das Unbewusste oder Vorbewusste des Rechts zeitgleich mit dem Wiener Analytiker gesehen und verstanden. In seinem „Proceß“-Roman gibt es keine Trennung zwischen juristischer Sachlichkeit und Triebleben. Das Ge­ richt selbst handelt triebhaft, versteht zwar seine eigene Verhaftung an Sex und Gewalt offenbar nicht richtig, weicht ihr aber auch nicht aus. Triebhaftigkeit be­ stimmt und begleitet den Fortgang des Verfahrens und treibt K. von einer Rand­ figur zur anderen. Von Leni zum Advokaten, vom Advokaten zum Fabrikanten, von diesem zu Titorelli und von dort wieder zum Advokaten, dem er „kündigen“ will – als ob Kündigungen möglich wären. Nur scheinbar kann man sich selbst verteidigen, wie K. meint. Gegen den Verteidiger bündelt Kafka die reformeri­ schen Impulse, wie sie planmäßig seit Ende des 18. Jahrhunderts gegen den Juris­ tenstand hervortreten. Friedrich II. von Preußen verkündete in einem Erlass von 1780, es sei „wider die Natur der Sache, dass die Partheyen mit ihren Klagen und Beschwerden von dem Richter nicht selber gehört werden, sondern ihre Nothdurft durch ­Advokaten vorstellen sollen.“110 Genau diesen Gedanken, der jedermann befällt, hat auch Josef K., wenn er der selbstdarstellerischen, offenbar nutzlosen 107

Kafka (Fn. I. 90), 86. Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafaks literarische Ethik, München 1990, 32–53. 109 Kafka (Fn. I. 90), 145. 110 Zitiert nach Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München 1997, Rdz. 250. 108

152

IV. Literarische Rechtszeichen

Reden seines Advokaten überdrüssig wird. Von Anfang an wird K. als derjenige vorgestellt, der Beistand nicht wollte. Es ist der Onkel als Agent der „Verwandt­ schaft“,111 der darauf drängt, den Advokaten aufzusuchen. „Ich wußte nicht“, sagt K., „daß man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehn könne“. Als der Advokat in Erscheinung tritt, erwartet K. entschlossene und effektive Vertei­ digung, für die er allerdings keinen Stoff liefert. Über ein Leben von K. außerhalb des Gerichtswesens erfährt man aus der Erzählung kaum etwas. Sein Zeichen steht für persönliche Objekte unter der Disposition der Justiz. 8. Der Mann vom Lande (Kafka: „Vor dem Gesetz“) Am Ende des „Proceß“-Romans in der Mitte des Kapitels „Im Dom“ steht eine Erzählung, die Kafka als einzige aus dem Romanzusammenhang veröffentlicht hat, und zwar in der 1919 erschienenen Sammlung „Ein Landarzt“. Die Erzählung heißt dort „Vor dem Gesetz“ und beginnt mit den Sätzen:112 „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm den Einlaß jetzt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dür­ fen. ‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ‚jetzt aber nicht‘. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das ­Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ‚Wenn es Dich so lockt, ver­ suche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‘“

Dieser Anfang reicht schon, um die Attraktivität der Erzählung für alle Arten und Ergebnisse von Interpretation zu zeigen. Nicht nur der Text als Ganzes, auch seine Teilsätze rufen regelmäßig Gedanken als Interpretanten auf, die aus Kafkas Erzählung etwas gänzlich anderes werden lassen. Das beginnt mit dem Kontext. Ist die Erzählung „Vor dem Gesetz“ etwas anderes als die wort- und satzgleiche Rede des Kaplans im „Proceß“-Kapitel „Im Dom“? Dort erklärt der Geistliche, den K. anstelle seines Geschäftsfreunds trifft, K. täusche sich im Gericht, und er­ zählt gewissermaßen zur Erläuterung, was „von dieser Täuschung“ (die offenbar symptomatisch ist) in den „einleitenden Schriften zum Gesetz“ steht.113 Wenn man auf Texte achtet – und das ist eine juristische Spezialität –, dann macht es einen Unterschied, ob man einen kleinen Text mit einer Überschrift vor sich hat oder den Teil eines Romankapitels. Schon die Überschrift führt einen anderen Kontext ein. „Notice to appear“ heißt eine Vorladung. You have to appear before a court of law – das sagen internationale Verfahrensregeln. Vor dem Gesetz zu erscheinen ist keine ungeläufige Situation. „Vor dem Gesetz“ erscheint man, wenn man poli­ 111

Kafka (Fn. I. 90), 126. Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hrsg. v. Paul Raabe, Frankfurt a. M. 1970, 131. 113 Kafka (Fn. I. 90), 292. 112

8. Der Mann vom Lande (Kafka: „Vor dem Gesetz“)

153

zeilich dazu gezwungen wird. Jacques Derrida erinnert sich, dass er zu erscheinen hatte, als er am Steuer seines Wagens mit überhöhter Geschwindigkeit fotografiert worden war; und er hatte zu erscheinen, „um in Prag wegen Drogenhandels an­ geklagt zu werden“.114 „Erscheinen“ muss, wem der Prozess gemacht wird. „Vor“ ist etwas, was sich nicht hinter etwas anderem befindet; oder ist „vor dem Gesetz“ etwas, das aus einer Zeit stammt, in der es ein Gesetz noch nicht gab?115 Derrida macht den Titel zu einem Operator des Textes mit der Folge, dass der Titel fest­ legt, wie man mit dem Inhalt umgehen kann und soll. „Vor“ als Titelwort legt die Perspektive fest. Wenn man vom Lande kommt, bleibt man davor und erlebt vom Dahinter nur den „Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ Dann reduziert sich alles auf die berühmte letzte Frage, warum denn – wo alle doch nach dem Gesetz strebten – niemand sonst Einlass verlangt habe. Erstaun­ licherweise gibt der Türhüter darauf eine Antwort, die lautet: „Hier konnte nie­ mand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“116 Nach dem Sinn dieser Antwort können Rechtstheorien unterschieden werden. Die postmoderne Rechtstheorie, in der die Parabel vom Türhüter eine wiederkeh­ rende Rolle spielt, hält drei unterschiedliche Deutungen dafür bereit, weshalb man den Mann vom Lande im Ergebnis als denjenigen verstehen soll, der in der Ge­ schichte gewinnt. Alle drei Deutungen schließen Konsequenzen für die Rechts­ lehre ein, und zwar an unterschiedlichen Stellen des Verfahrensmodells. Im Ver­ fahren geht es um Siege und Niederlagen. Meist wird der Mann, der wartet, als Verlierer angesehen. Das kann man aber anders verstehen. Gewonnen hat der Mann beispielsweise, wenn Warten selbst schon das Modell des Unter-dem-­Gesetz oder Im-Gesetz-Seins darstellt. Man gewinnt den Zugang nicht durch schlich­ tes Marschieren und einen einfachen Griff ins Zentrum, man muss aufschieben. Es geht nicht anders. Das ist die dekonstruktive Variante von Derrida. Gewinnen kann der Mann vom Lande aber auch, wenn es nicht nur um den Zugang schlecht­ hin geht, sondern darum, wer sich als erster bewegen muss. Der Mann – indem er wartet – erreicht, dass der Türhüter gehen, nämlich das Tor schließen muss. Er zwingt den anderen zum Handeln. Schließlich ist der Mann vielleicht gar nicht so wesentlich, er ist nur nebenbei Mann und vor allem einer, der vom Lande kommt. „Vom-Lande-Sein“ heißt dann: nicht im Zentrum sein, der Bedeutung fern sein – und das sind alle, die überhaupt etwas von ihr wissen.117 Sie wissen, dass sie den Kern nicht kennen können, und das ist ein wichtiges Wissen. Die dekonstruktive Deutung hat Jacques Derrida im Jahre 1982 vorgelegt. Auf einem Kolloquium, das Derridas Weggefährte Jean-François Lyotard in Cerisy-la-­ Salle unter dem Titel „Comment juger“ zur Frage der Urteilskraft veranstaltet, 114

Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992, 38. Kafka (Fn. I. 90), 41. 116 Kafka (Fn. I. 90), 294 f. 117 Hartmut Binder, „Vor dem Gesetz“. Einführung in Kafkas Welt, Stuttgart 1993, 39. 115

154

IV. Literarische Rechtszeichen

liest Derrida die Erzählung „Vor dem Gesetz“ und beantwortet die Kolloquiums­ frage nach der Art des Urteilens mit „Préjugés.“ Der Mann vom Lande wird vor­ gestellt als einer, der vorbeurteilt, vorverurteilt und mit Vorurteilen verfolgt wird, aber doch und eben wegen dieser Vorurteilsverhaftung aussichtsreich agiert. Der Mann gewinnt nämlich mehr, als die Geschichte offenbart. Er verzichtet auf die Zweitheit des Verstandenen und bleibt im Prozess des Verstehens. Wer verstehen will, ersetzt immer ein Zeichen durch ein anderes Zeichen, das er für passender und klarer oder angemessener als das ersetzte Zeichen hält. Wer interpretiert, ver­ weist also auf etwas anderes, das eine ähnliche, aber bessere, klarere, angemesse­ nere Bedeutung als das Vorangegangene haben soll. Was dabei gedeutet wird und wohin der Weg führt, den die Deutung eröffnet, den sie be-deutet – dies erscheint immer nur vorläufig, es ist ein Aufschub des wahren Sinns, der diesen zeitweilig ersetzt. Denn der Eintritt wird aufgeschoben und in der Schwebe gehalten. Der Aufschub, die Differenz zwischen der Möglichkeit des Eintritts und der Wirklich­ keit des Zutritts bestimmen ein Konzept des Gesetzes, in dem sich Gesetze ent­ falten. Die Deutung schiebt den Zugang auf, sie veranlasst zwar Protest – so wie Josef K. gegen die vermeintliche Täuschung des Mannes vom Lande protestiert – aber der Protest bleibt vordergründig. Er erreicht das Gesetz nicht, und Josef K. verhält sich am Ende wie der Mann vom Lande. Er fügt sich, er „entscheidet, noch nicht zu entscheiden, er entscheidet, sich nicht zu entscheiden, er entscheidet sich, nicht zu entscheiden, er vertagt, er schiebt hinaus, indem er wartet.“118 Darf man mehr erwarten? Darf man eine veränderte Entscheidung oder eine andere Antwort erwarten? Der Eintritt war doch in der Form der Vertagung gestattet. Er ist mög­ lich, nur jetzt nicht. Wenn man den Eingang nicht passiert hat, dann war das eine Entscheidung. Sie war es auch dann, wenn ich nicht bemerkt habe, dass ich etwas entschiede, als ich unaufmerksam war. Giorgio Agamben bestimmt die Rechtsform anhand der Erzählung „Vor dem Gesetz“ und beginnt seine Interpretation mit der Bemerkung, der Mann vom Lande sei keineswegs gehindert gewesen, „durch die Tür des Gesetzes einzutre­ ten“,119 er habe nur deshalb nicht eintreten können, weil niemand „ins schon Of­ fene“ eintreten könne. Agamben versteht das aufscheinende Gesetz als reine Form des Gesetzes, das ohne Inhalt zu einem Verhalten zwingt, nämlich „reiner Bann ist“. Es sei „Geltung ohne Bedeutung“,120 die den Eintritt zwar nicht verwehre, aber unmöglich mache, weil eine nicht vorhandene Bedeutung auch nicht ergrün­ det werden kann. Die Formel von der Geltung ohne Bedeutung verfolgt Agamben über Carl Schmitt zurück bis hin zu Kant. Der kategorische Imperativ (Kap. III. 2.) erweist sich als ein Verfahren, nach dem Inhalt des Gesetzes so zu fragen, dass derjenige, der fragt, die Frage im Laufe seiner Formulierung selbst beantworten muss, nämlich dahin, ob er wollen kann, dass der nachgefragte Inhalt allgemeines 118

Derrida (Fn. IV. 114), 54. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, 60. 120 Agamben (Fn. IV. 119), 62. 119

8. Der Mann vom Lande (Kafka: „Vor dem Gesetz“)

155

Gesetz werde. Die Frage wird selbstbezüglich. Gesetz ist, wovon man wollen kann, dass es Gesetz werde – vernünftigerweise natürlich, wie Kant apriorisch an­ nimmt. Eben diese Unterstellung lässt Agamben entfallen und unterlegt der Kan­ tischen Fragestellung eine auch nicht entfernt mitgemeinte totalitäre Note. Kant habe – so Agamben – 200 Jahre im Voraus eine Verfassung beschrieben, „die vom Ersten Weltkrieg an in der Massengesellschaft und in den totalitären Staaten ver­ traut sein wird.“ Das Leben unter einem Gesetz, das gelte, ohne etwas zu bedeu­ ten, sei ein Leben im regelmäßigen Ausnahmezustand, „in dem die unschuldigste Geste und kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben können.“121 Die Erfahrung der Geltung ohne Bedeutung sieht Agamben in der Geschichte von Josef K. erzählt und – das ist die erstaunliche Volte in dieser Interpretation – aufgehoben in der Figur des Mannes vom Lande. Denn dieser gewinnt, indem er scheitert, oder anders: Er scheitert gar nicht, sondern zwingt den Türhüter zu tun, was dieser im ganzen Verlauf der Erzählung nicht hat tun können und wollen, nämlich das Tor zum Gesetz zu schließen. Das zu veranlassen ist in Agambens Sicht „die messianische Aufgabe des Mannes vom Lande“. Mit der Schließung des Tores ist der Bann des Gesetzes gebrochen. Der Glanz, der „unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“, ist unzugänglich geworden, wenn das Tor geschlossen ist. Man darf dann begehrungslos dort verharren, wo man sowieso ist. Agamben vermeidet diese fatalistische Konsequenz nur mit einem theologischen Kunstgriff. Der Messias, dessen Erscheinen erwartet wird, könne erst eintreten, wenn das Tor geschlossen sei und die Geltung ohne Bedeutung aufgehört habe. In diesem Sinne wendet sich Agamben ausdrücklich gegen Derridas Deutung, es handele sich am Ende um ein Ereignis, das es schaffe, sich nicht zu ereignen, und betont seiner­ seits das Ereignis, mit dem souveränen Bann fertigzuwerden. In gewisser Weise wird damit die Geschichte des Mannes vom Lande über ihr erzähltes Ende hin­ aus verlängert, wofür Agamben einen anderen Satz Kafkas zitiert: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am aller­ letzten.“122 Zuallerletzt sieht Agamben die Bedeutung des Gesetzes nach der Tür­ schließung gegen sich selbst gekehrt. Man kann es dann lesen, so wie Odysseus den Gesang der Sirenen, die er nicht hören kann (weil ihm die Ohren verstopft worden sind), sehen kann. Den Mann in der Türhüterparabel schmücken nur wenige beiläufig wirkende Re­ quisiten. Abgesehen davon, dass er offenbar vermögend ist und über Gegenstände verfügt, die er dem Türhüter schenken kann, begleitet ihn ein nicht weiter erklärtes Attribut. Vom Lande ist er. Was das heißt, erfährt der Leser beiläufig im „Proceß“Roman. Vom Lande kommt nämlich der Onkel, „das Gespenst vom Lande“,123 wie ihn Josef K. betitelt. Der Prozess spielt sich demgegenüber in der Stadt, in i­hren­ 121

Agamben (Fn. IV. 119), 63. Agamben (Fn. IV. 119), 67 f. 123 Kafka (Fn. I. 90), 119. 122

156

IV. Literarische Rechtszeichen

Palästen, Mietskasernen, Gängen, Dachböden und Hinterhäusern ab. Auf dem Lande weiß man nicht so ohne Weiteres Bescheid, wenngleich man schlimme Ent­ wicklungen ahnt, so wie der Onkel, der weiß, dass „einen solchen Proceß haben“ bedeutet, „ihn schon verloren haben.“124 Wenn man jedoch wie der Onkel ununter­ brochen auf dem Lande bleibt, dann lässt der „Spürsinn“ nach, was man in einem Prozess als Nächstes machen solle. Trotzdem ist es der Onkel, der den Advokaten kennt und Josef K. veranlasst, ihn aufzusuchen. Auf dem Lande hat man Distanz zum Gericht. Gunther Teubner liest Kafkas Parabel aus der Distanz und setzt sie in den „Proceß“-Roman und dessen Erzählstränge in ungewohnter Art ein. Er füllt die Plätze anders aus, als es gewöhnliche Leser tun. Gewöhnlich wird man den Mann wie den Türhüter als Männer, als Menschen also, verstehen. Für Teubner kommt aber das Recht vom Lande, das gewöhnliche alltägliche Recht, personifiziert im Mann, und sucht nach seinem Gesetz als dem Grund seiner Rechtfertigung, also danach, was das Recht zu Recht als so angefertigt erklärt. Teubner nennt das eine „institutionelle Sicht“. Wechsele man auf diese Weise vom personellen zum insti­ tutionellen Verständnis, so transformiere sich die Selbstanklage des Mannes, der das Gesetz sucht, in die Selbstanklage des Rechts, das seinen Rechtsgrund sucht. Das Recht macht sich selbst den Prozess.125 In die Parabel wird hineingelesen, was aus Rechtsverfahren stammt. Diese Verfahren produzieren Recht in Urteilsform, als Zweitheit. Aber diese Zweitheit ist alles andere als glänzend. Nur jenseits der Urteile glänzt das Gesetz. Paradoxerweise ist ein solches Jenseits ohne das stö­ rende Diesseits, die Zweitheit der unbefriedigenden Urteile nicht zu haben. Das ist­ Teubners Pointe, die er in der Diskussion von Derrida und Agamben findet. „Man kann das Erleben des Glanzes überhaupt nicht ohne das Gesetz, ohne seinen leeren Geltungsanspruch, ohne seine Lüge, ohne seine Paradoxien, ohne seine O ­ bszönität, machen. Ohne Gesetz kein Glanz.“126 Es gibt also „vor dem Gesetz“ nur das Nicht­ kommunizierbare – das „Arkanum“, das in Teubners Interpretation durch die li­ terarische Form erfahren werden kann und nur durch sie kommunikabel wird.127 Derrida, Agamben und Teubner arbeiten insofern über einen gemeinsamen Interpretanten. Alle drei Interpretationen trennen sich von einer Dialektik, nach der auf einer anderen, höheren Stufe die vorangehenden widerstreitenden Inter­ essen „aufgehoben“ werden könnten. Interpretatorisch bringt das Warten nicht Elend, wie man beim ersten Lesen hätte denken können, es ist auch nicht so, dass derjenige, der auf etwas wartet, es im Moment des Wartens entbehrt, wie man meinen könnte, noch halten am Ende die Personenverständnisse, wonach der Mann ein Mann und der Türhüter ein anderer Mann wäre. Das Justizdispositiv handelt, als wäre es eine Person, und es sucht nach dem, was es als gerechtes Recht auszeichnen könnte (Kap. I. 6.). Die Erfüllung dieser Suche muss aber verhindert 124

Kafka (Fn. I. 90), 126. Gunther Teubner, Das Recht vor seinem Gesetz: Franz Kafka zur (Un)Möglichkeit einer Selbstreflexion des Rechts, ancilla iuris (www.anci.ch) 2012: 176–201 (182, Stand: 3.11.2015). 126 Teubner (Fn. IV. 125), 191. 127 Teubner (Fn. IV. 125), 201. 125

8. Der Mann vom Lande (Kafka: „Vor dem Gesetz“)

157

werden. Wer sucht, findet nicht, soll aber weiter suchen. Die Personen in der Justiz würden ihre Arbeit zwar selbst nicht so beschreiben, aber literarische Zeichen leis­ ten diese Selbstbeschreibung. Weitin hat auf den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Literatur und Recht verwiesen, den Savigny noch empfunden habe.128 Er ist heutzutage aufgelöst. Für literarische, vom Wahrheitsanspruch dispensierte Li­ teratur entsteht damit eine neue Freiheit. Jochen Hörisch pflegt sie regelmäßig vor­ zuzeigen: „Anders als die Rechtsprechung spricht Literatur nicht im Namen eines anderen, sondern ausschließlich im eigenen Namen. Und sie spricht ohne jede Bin­ dungskraft im Realen.“129 Aber damit ist die Sache des Rechts nicht erledigt. Das Rechtszeichen wird jene innere Angelegenheit, die es auch „im Realen“ durch­ aus ist, wenngleich dort das Gefühl nicht wohl gelitten, sondern durch Objekt­ relationen überspielt wird. Wenn man sich mit Literatur auf den internen Gesichts­ punkt beschränkt, dann wird das reale Recht zu einem bedeutsamen Skandal. Als Zeichen für Impulse und Zwecke oder gar als Zeichen für gerechte Verhältnisse ist es nicht vorhanden, was noch nicht heißt, dass damit alles erledigt wäre. Vom Abhandenkommen des gefühlten richtigen Rechts wird erzählt, vom Kampf da­ für, von äußeren glücklichen Fügungen, vom Wahnsinn, den das äußere Recht in­ nerlich anrichtet, wie von der Selbstverständlichkeit des Verbrechens. Genauigkeit führt zum Gegenteil des Gewollten, und Wollen bleibt selbst regelmäßig vergeb­ lich. Alles das lassen literarische Zeichen spüren. Am Ende steht man vor dem Ge­ setz, kann aber nicht eintreten.

128 129

Weitin (Fn. IV. 73), 44. Jochen Hörisch, Das Wissen der Literatur, München 2007, 82.

V. Medien des Rechts Medienkonzepte haben nach dem allgemeinen linguistic turn eine enorme At­ traktivität entwickelt. Manches daran wirkt wie eine Flucht aus den Schwierig­ keiten sprachlicher Analyse in das weite Feld von Kommunikationsbeziehun­ gen unter dem Motto: Lasse altbackene Sprachlichkeit hinter dir, und mache dich auf zu den neuen Ufern der Medienlandschaft, in der das eine in irgendwie ge­ fühlter Manier auf etwas anderes verweist und dadurch bestimmt wird. Nach Ge­ schmack sind Medien dann die Großorganisationen des Fernsehens, Films und anderer Kommunikationssysteme oder besondere kommunikative Arrangements für raffinierte Vermittlung oder überhaupt jede andere Serie der Botschaftsüber­ mittlung, der Medienlandschaft eben. Semiotisch gesehen ist schon jedes Zeichen selbst ein Medium, wenn und soweit es Drittes einbezieht, und das ist für Zeichen unvermeidlich. Denn das Dritte ist das, was zwischen Erstem und Zweitem ver­ mittelt, weshalb ein Medium einfach „a species of third“ ist, und zwar eine solche Art, in der die Unterscheidung vom Zweiten das Gegenteil derjenigen vom Ers­ ten darstellt.1 Peirces kanonische Definition ist nicht so leicht eingängig und lau­ tet in der Genauigkeit des Logikers: „A medium of communication is something, A, which being acted upon by something else, N, in its turn acts upon something, I, in a manner, involving its determination by N, so that I shall thereby, through A and only through A, be acted upon by N.“2 Peirce gibt dazu ein zoologisches Bei­ spiel: Moskitos, die eine Krankheit übertragen, sind Medien, und man interessiert sich in einem solchen Fall infektiöser Erkrankung, nur für die Krankheit, nicht aber für die Moskitos. Das Medium vergisst man. Es ist nur für den Infektions­ schutz ein Problem. Medien vermitteln dem Interpreten in wiederholbarer Weise, dass er es mit etwas anderem als einem Gegenstand zu tun hat. Allgemein gese­ hen, wirken Medien als Interpretanten und bewirken Gewöhnung, so dass man eine medienspezifische Wirkung regelmäßig erwarten kann. Man kann auch mit Luhmann sagen: In den Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation wird mit­ hilfe von Medien die Annahmebereitschaft gesteigert, so dass Wahrscheinlichkei­ ten im Bereich unwahrscheinlicher Kommunikation zunehmen. Medium ist also, was zurücktritt, was zwar vermittelt, nämlich zwischen N und I, aber so, dass man es gar nicht bemerkt. „Indem Medien etwas zur Erscheinung bringen, tendieren sie selbst dazu, unsichtbar zu bleiben.“3 Das ist ein Basissatz in allen Medientheorien. Für eine allgemeine Rechtslehre stellt sich dann die Frage, 1

Charles S. Peirce, The Basis of Pragmatism in the Normative Sciences, in: (Fn. I. 18), 390 f. Peirce (Fn. I. 18), 391. 3 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frank­ furt a. M. 2008, 27. 2

1. Akten

159

was an diesen offenbar unauffälligen Drittinstanzen auf eine besondere Wirkung hin untersucht werden soll. Auch wenn Schrift, Buchdruck und natürlich Compu­ tertechnologie Medien sind, ergibt sich daraus nicht, welche Besonderheit für die Rechtsentwicklung aus dem zurücktretenden Vermittlungsgeschehen es verdient, im Vordergrund behandelt zu werden. Man weiß schon aus der Rechtsgeschichte, dass die Zwölf-Tafel-Gesetze eine Schrift auf Tafeln voraussetzten. Aber was folgt daraus? Was erfährt man, wenn man Engel, Viren und Zeugen als Medien begreift? Man beobachtet Übertragungsverhältnisse und übt das Lesen im nicht ausgedrück­ ten Medienmaterial, lautet Sybille Krämers Fazit. Das korrespondiert mit den zeit­ genössischen Arbeiten von Friedrich Kittler, der – als eigentlicher Begründer einer neuen Kommunikationswissenschaft – den technischen Charakter des Mediums und die postmoderne Verfassung der „Schrift“ aufeinander bezogen hat. In Kittlers Zugriff haftet dem Medienbegriff nichts Okkultes oder begrifflich Spezielles an. Nach seinem eigenen doppelbödigen Diktum ist das auch nicht notwendig, denn: „Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das Wort sagt es schon: zwischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied.“4 Wenn man akzep­ tiert, dass viel mehr (oder fast alles?) als Medium bezeichnet werden kann, muss man sich fragen, mit welchen Bezeichnungen man einen Beobachtungsgewinn ver­ buchen kann. Ausgangspunkt für alle Beobachtungen ist der bei Peirce lange an­ gelegte Gedanke, dass ein Medium im Prozess der Vermittlung hinter dem Be­ wirkten verschwindet. Zwischen Zweien steht ein Drittes, das man übersehen hat. Für das Recht werde ich in der Folge vier solcher Drittinstanzen vorstellen, auf die sich die Forschung in den letzten fünfzig Jahren nur manchmal und hier (juris­ tisch) wie da (soziologisch) am Rande konzentriert hat. In der Mitte zwischen zwei Aufmerksamkeiten stehen zunächst einmal Akten, die für den Rechtsprozess so zentral sind, dass man sie über Fall, Norm und Entscheidung zu vergessen pflegt. Das ist die mediale Leistung der Akten (1.). Ähnlich in den Hintergrund treten Ar­ chive (2.), Unterschriften (3.) und Verhandlungen (4.) – alles zentrale Rechtsinsti­ tute, über die man nicht mehr spricht, wenn einmal verhandelt, unterschrieben und archiviert ist. Ich beginne mit: 1. Akten Akten sind das Aufbewahrungs-, Darstellungs- und Ausgrenzungsmedium des Rechts. Dessen Zeichenstruktur erschließt sich nicht ohne Aktenkenntnis. Die neue Theoriesprache, mit Akten werde Wirklichkeit konstituiert, vermittelt nur einen schwachen Abglanz dessen, was Akten wirklich leisten. Mit der oben (Kap. I. 3.–5.) eingeführten Zeichenklassifikation repräsentieren Akten die Zweit­ heit des Rechtszeichens, seine Wirklichkeit, und als Medium vermitteln sie Dritt­ heit im Diskurs. Das geschieht über die Operationen der Akten-Akte. Anders als die klassischen Beweismittel des Prozesses (wie Urkunden, Zeugen oder Sachver­ 4

Kittler (Fn. IV. 44), 288.

160

V. Medien des Rechts

ständige) werden Akten nur selten für sich genommen und angesehen, gelten also nicht als Interpretanten, obwohl sie die Interpretantenbewegung vermitteln. Plaka­ tiv heißt das: Geheime und komplexe Zusammenhänge werden lesbar, aber nur für diejenigen, die Akten lesen können. Niemand weiß das besser als ein Macht­haber. Alle totalitären Diskurse – und gerade sie (wie man am Stasi-Syndrom sieht) – ge­ brauchen Akten, die sich dadurch auszeichnen, dass ihr Inhalt den Betroffenen nicht im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens bekanntgemacht, sondern nur im Wege des unbeschränkten Ausforschungs- und Untersuchungsgrundsatzes gegen sie verwandt wird. Alle Regimes, die Meinungen unter Kontrolle halten wollen, erwecken gerade damit das Interesse für ihre Akten. Die Verbrechen der Nazi-­ Regierung einerseits und die Politik des Vatikans im Zweiten Weltkrieg anderer­ seits haben das Forschungsinteresse an den hinterlassenen Schriften herausgefor­ dert.5 Im Übrigen ist nicht zu verkennen, dass auch demokratische Systeme kaum oder nur beschränkt Einsicht in Akten geben. Auch hier gelten Geheimhaltungs­ grundsätze, wenn auch im Interesse eines zumindest vorgeblichen Persönlich­ keits- und Datenschutzes. Die Erforschung von Akten verspricht immer Einblick in Bedeutungen, die aufgrund der Bezeichnung von außen nicht erwartet werden. Nun springt nicht aus jeder Akte ein Geheimnis auf den Tisch, wenn man die Akten dort deponiert hat. Im Gegenteil empfiehlt sich eine formale Betrachtungs­ weise, wenn man erschließen will, welche Macht durch wen an welcher Stelle auf­ gebaut wird. Ich beschränke mich auf einige wenige, scheinbar randständige Ope­ rationen mit Akten, die ich im Anschluss an Cornelia Vismann „Akten-Akte“ nenne.6 Wir kennen „Sprech-Akte“. Performative utterances hat sie John Austin vor 60 Jahren genannt und damit mehr bewirkt als nur eine performative Einbet­ tung der Bedeutungen. Sprechakte sollen in diskurstheoretischer Sichtweise jene Handlungen sein, die die rationalen Grundlagen von Verständigungsprozessen insgesamt erzeugen.7 In dieser Weltsicht, die auf kognitiver Durchdringung i­hrer Voraussetzungen besteht, fehlt etwas, das Austin sah und aus dem er bekannt­ lich die Performativität einer Äußerung überhaupt entnommen hat. Das ist die in­ stitutionelle Einbindung von Handlungen, vor allem jener in formal organisierte, nämlich Akten führende Institutionen. In Austins erster Vorlesung „How to Do Things with Words“ fällt auf, dass als Schulbeispiele für den Handlungscharak­ ter der Sprache Äußerungen dienen wie: „Ja (ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)“ oder „Ich vermache meine Uhr meinem Bruder“ oder „Ich taufe die­ ses Schiff auf den Namen Queen Elizabeth“.8 Ihnen allen ist nicht nur eigen, dass 5

Akten der Reichskanzlei, Regierung Hitler 1933–1945, hrsg. für die Historische Kom­ mission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Hans Günter Hockerts und für das Bundesarchiv von Friedrich P. Kahlenberg (bis Band II), Hartmut Weber (ab Band III) München, seit 1983; Pierre Blet, Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg. Die Akten des­ Vatikan, Paderborn 2000. 6 Vismann, Akten (Fn. I. 89), 11. 7 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Fn. III. 18, Bd. 1), 427–452. 8 John. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words 1962), Stutt­ gart 1972, 26.

1. Akten

161

sie rechtliche Institutionalisierungen betreffen, in gesetzlichen Regelungen vom Personenstandsgesetz über das Bürgerliche Gesetzbuch bis hin zur Binnenschif­ fahrtsstraßen-Ordnung und anderen Seefahrtsgesetzen vorkommen, sondern vor jeder rechtlichen Einordnung und Bewertung verlangen diese Handlungen mate­ riell ein Gleiches: die Anlage einer Akte. Keine Heirat ohne Aktenform, keine Tes­ tamentswirksamkeit ohne Anlage einer Akte, keine Zulassung zum Schiffsver­ kehr ohne schifffahrtsamtliche Aktenvorgänge. Wenn ein Jurist das hervorhebt, wirkt das marginal bis komisch. Kein Wunder, dass sich Akten zu Sprechakten finden, wenn doch Juristen zu allem Akten anlegen! Die Kulturwissenschaftlerin Cornelia Vismann9 hat in ihrer Akten-Arbeit betont, dass die Rechtsgeschichte aus Serien von sprechhandlungserzeugenden Aktenakten stammt, die den Sprech­ akten vorausgehen, sie materiell fundieren und erst den Kontext darstellen, aus dem Einzeltexte zitiert werden können. Die Rechtsinstitute des Personenstands, der Erbfolge oder des Schiffsverkehrs werden eingesetzt nur durch Institutionali­ sierungen in Aktenform. Der Sprechakt des Heiratens, Vermachens oder Benen­ nens ist ein Akten-Akt. Grundlegend ist das a) Anlegen Hier geht es um Akten, nicht um Kapital. Eine Akte muss angelegt werden, wenn eine Klageschrift eingeht, eine Anzeige erstattet wird oder verwaltungsmä­ ßig allgemein: Sie muss angelegt werden, wenn ein Vorgang amtliche Aufmerk­ samkeit auf sich zieht. Dann handelt eine Organisation. Anlegen heißt: einen Ort reservieren und weitere Fortsetzungsoperationen für das Aktenstück festlegen. Man braucht dazu zwei Dinge, ein Schriftstück, das mindestens aus einem Blatt bestehen muss und dem ein Akt zugrunde liegt, und einen Aktendeckel. Beides ist nicht trivial. Das Sprechen an sich erhält nämlich die Qualität des Sprechakts erst, wenn und soweit es auf Papier kanalisiert wird und zu einem Vorgang gewor­ den ist. Geheiratet wird eben nicht mit dem berühmten „Ja“, das im Zusammen­ hang des dafür konstitutiven standesamtlichen Aktenvorgangs zu der Arabeske wird, die es tatsächlich nach der Wahrnehmung der Beobachter auch ist. Dem Ja auf dem Standesamt geht voraus ein Antrag der Ehewilligen (und damit Verlob­ ten), den das Amt entgegennimmt und in einem Aktendeckel zum Vorgang macht. Ohne diesen Rahmen gilt das Ja nichts. Ähnlich wird der Sprechakt des Beschul­ digens erst dann zu einem merklichen Akt, wenn sein Inhalt auf einer amtlichen Dienststelle der Polizei oder Staatsanwaltschaft zu Protokoll genommen und da­ mit zu Papier gebracht und in einen Aktendeckel geheftet wird. Der zentrale Sprechakt des Klagens setzt ein papiernes Dokument voraus (§ 253 Abs. 1 ZPO), das bei Gericht in einen Aktendeckel gegeben wird. In allen diesen Fällen kommt neben dem Papier auch dem Deckel eine wesentliche Bedeutung zu. Es geht kei­ neswegs einfach darum, eine Schutzhülle um ein Papier anzubringen, der Deckel 9

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 29.

162

V. Medien des Rechts

instituiert ­vielmehr das sich anschließende Verfahren. Auf dem Deckel sind näm­ lich Antragsteller und Gegner oder – soweit ein Gegner wie beim Heiratsantrag ausscheidet – der Verfahrensgegenstand bezeichnet. Die Beteiligten ergeben sich also aus dem Aktendeckel, dieser bezeichnet die Art des Verfahrens und gibt Aus­ kunft über seine wesentlichen Stationen, die Termine mündlicher Verhandlungen, den Erlass von Haftbefehlen oder den Termin der Wiedervorlage. Auch die Polizei erzeugt einen Fall, indem sie Akten anlegt. Dabei werden Pa­ piere und Dokumente in einer bestimmten Ordnung miteinander verbunden und in dieser Form zum Instrument des Verfahrens erklärt. Wer Akten anlegt, benennt die Streitenden beim Namen, schreibt sie auf den Aktendeckel und ernennt sie da­ mit zu Parteien des Prozesses.10Angelegte Akten erhalten ein Geschäftszeichen, das aus einer Bezeichnung der Behörde und einer Nummer besteht („Aktenzei­ chen“), die nach einem Aktenplan zugeteilt wird. Prozessakten werden beim pro­ zessleitenden Gericht geführt. Stehen Ort der Aktenführung und Namen der dort Registrierten fest, gliedern sich die weiteren Eingänge nach der Zeit, in der sie zu den Akten gelangen. Man kann deswegen nicht von vornherein sagen, wie viele Bände Akten haben, ob sie überhaupt als „die Akte“ gelten (womit man heutzu­ tage gewöhnlich einen gegenständlich zusammengehaltenen Aktenband bezeich­ net.11 Der Aktendeckel ist nur der Operator im Aktenfortgang, über den Deckel orientiert man sich über die Person des Bearbeiters und erfährt dessen wesent­ liche ­Verfügungen. b) Vorlegen Vorlegen ist der anschließende Akten-Akt. Auf dem Deckel und in den Blät­ tern gerichtlicher Akten sind die Vorlagen prozessordnungsmäßig abzulesen. Mit dem Ensemble von Inhaltspapier und Deckel werden die weiteren mit der Akte zu bestreitenden Akte vorgezeichnet. Denn in dem Moment, in dem der Antrag ein­ gegangen oder aufgenommen und die Akte angelegt ist, muss sie auch vorgelegt werden. Vorlegen heißt den Vorgang einem Entscheidungsträger zugänglich ma­ chen und ihn damit gleichzeitig auch zu einer Entscheidung auffordern, die min­ destens darin besteht, dem Akteninhalt nicht zu widersprechen. Das war die Er­ ledigungsweise des Kaisers Franz Joseph, der als der erste Aktenbearbeiter seines Staates nur selten wahrgenommen worden ist, aber nach historischer Beobachtung die Geschicke eines Vielvölkerstaats durch Kanalisierung in Akten über 50 Jahre im Gleichgewicht gehalten hat. Der Kaiser äußerte sich im Randbericht: günstig erledigen. Das war eine wesentliche Entscheidung, die subalterne Entscheidungs­ träger wie Ministerialbeamte und Richter mit mehr semantischem Aufwand er­ ledigen müssen. Dabei gilt: Wer über Macht verfügt, also Handlungen vorneh­ 10 Petra Muckel, Der Alltag mit Akten – psychologische Rekonstruktionen bürokratischer Phänomene, Aachen 1997, 82–93. 11 Muckel (Fn. V. 10), 14 f.

1. Akten

163

men oder unterlassen kann, braucht nicht viel Semantik. Der Haftrichter, dem die Akten vorgelegt werden, unterschreibt den von der Staatsanwaltschaft vorbe­ reiteten Haftbefehl, wenn er dessen Erlass für geboten hält. Der Zivilrichter un­ terschreibt ein Formular über den Erlass einer einstweiligen Verfügung, wenn er sie erlassen will. Nur Haftbefehle nicht zu erlassen oder Verfügungsanträge abzu­ lehnen erfordert mehr Begründungsaufwand, nämlich einen Gerichtsbeschluss. Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, legt sie die Akten dem Gericht vor. Nachdem eine Partei ein Rechtsmittel eingelegt hat, legt das Gericht, das die Ent­ scheidung erlassen hat, die Akten dem Rechtsmittelgericht vor. Aktenvorlage be­ deutet deshalb gleichzeitig: eine Entscheidung verlangen. Wer über die Akten ver­ fügt, muss in der Sache zwar nicht sofort entscheiden, aber irgendwann muss er es. Akten können nur dann zurück an eine Akten führende Behörde gegeben wer­ den, wenn eine Rechtsmittelentscheidung in ihnen enthalten ist. Die Vorlage ver­ bietet strukturell das Nichtstun. Gleichzeitig stehen die vorgelegten Akten für das bis zu diesem Zeitpunkt Getane, für den Diskursverlauf. Zentral ist des­ halb ein nächster Akten-Akt, der grundrechtliche Ausprägung erfahren hat: die Einsichtnahme. c) Akteneinsicht Akteneinsicht hat Cornelia Vismann als delayed transfer,12 als die lediglich auf­ geschobene Übertragung bezeichnet. Der Aufschub oder das Bereithalten von In­ formationen entspricht einer klassischen Aufgabe von Akten und spiegelt gleich­ zeitig auch eine allgemeine Funktion der Sprache. Der Empfänger einer Botschaft soll diese zeitlich verschoben zur Kenntnis nehmen können. Auch die Beteili­ gung an einem Verfahren selbst kann sich zeitlich verschieben. Haupt- und Ne­ benintervention, Streitverkündung, Nebenklage  – das sind alles Rechtsinstitute, denen eigen ist, dass ein Verfahren schon in Gang ist, jemand später kommt und zeitlich versetzt den bisherigen Verlauf wahrnehmen will. Diesen Verlauf kann man nur durch Einsicht in die Akten ermessen. Darüber hinaus haben alle Betei­ ligten ein Interesse daran zu wissen, was die Welt ausmacht, denn die Welt ist nur über Aktenführung zu beobachten. Alle Prozessordnungen erlauben deshalb, dass die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten ein­ sehen können (so ausdrücklich § 100 VwGO). In welcher Weise ein Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt ist, ersieht man an der Reihenfolge der Zeitpunkte, die einzelne Verfahrenshandlungen markieren und den Raum zwi­ schen ihnen  – buchstäblich, den Zwischenraum der Aktenblätter  – als Schwei­ gen auszeichnen. Wegen dieser Berichte, Anzeigen und Eintragungen hat die Akteneinsicht brennende Aktualität erhalten. Sätze wie „Ich will meine Akte“ oder „Freiheit für meine Akte“ sind Losungen gegen die totalitär organisierte­ 12

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 80; dies., Jurisprudence: A Transfer Science, Law and Critique X (1990): 279–286.

164

V. Medien des Rechts

Staatssicherheit geworden.13 Es lebe die Akte! Wer das fordert, weiß schon, dass seine Akte zum Medium seiner Subjektkonstitution geworden ist. Er hat sein Ich an Selbsthefter abtreten müssen, die ehrlich verzeichnen, welche Schurkereien ge­ plant sind: „Erarbeitung von Materialien, inwieweit die politische-ideologische Einstellung und die Arbeiten Kunzes konterrevolutionäre Zielstellungen zum In­ halt haben.  – Kompromittierung des Kunze in Schriftstellerkreisen  …  – Ein­ schränkung seiner Resonanz …“14 Man kann die Bedeutung, die Akten heute er­ langen, geradezu als Merkmal für die Totalität einer Diskursordnung verbuchen. Denn es ist nicht zu verkennen, dass auch demokratische Systeme kaum oder nur beschränkt Einsicht in Akten geben. Auch hier gelten Geheimhaltungsgrundsätze, wenn auch im Interesse des Persönlichkeits- und Datenschutzes. Die Erforschung von Akten verspricht Einblick in Bedeutungen, die aufgrund der Bezeichnung von außen nicht erwartet werden. d) Protokollieren Protokollieren lässt eine Welt entstehen, die es so wiederum nur in Akten ge­ ben kann. Der Akt des Protokollierens definiert Person, Subjekt, Objekt und Tä­ tigkeit. Im Protokoll wird verzeichnet, wer es erstellt, wer erschienen ist, welche Amtshandlungen vorgenommen worden sind, und dann gibt das Protokoll – mal mehr, mal weniger ausführlich – den Gegenstand dieser Amtshandlungen wieder. Vernehmungen, Verhandlungen, Ortsbesichtigungen, Sachverständigenanhörun­ gen, das Ansehen und Aussehen von Urkunden – das alles und damit die kom­ plette Liste der Beweismittel kann Gegenstand von Protokollen werden. Dabei tritt der Akt des Protokollierens scheinbar ganz hinter dem Gegenstand zurück. Er wird zur medialen, unbemerkten Handlung, solange nicht einer der Beteiligten etwa darauf besteht, dass diese oder jene Beobachtung protokolliert werden möge. Ein solches Verlangen kann notwendig, manchmal sinnvoll und oft auch queru­ latorisch wirken, wobei Decorum entscheidet.15 Das Verlangen nach einem be­ stimmten Protokollinhalt zeigt jedenfalls an, dass die eigentliche Verhandlung als nicht ausreichend angesehen wird und jemand möchte, dass in den Akten mehr zu lesen ist, als in der Welt bewirkt werden kann. Dennoch hält man Verhandeln – insbesondere im reformierten Strafprozess nach Feuerbach – für den grundlegen­ den, durch Mündlichkeit bestimmten, die Subjektposition befördernden Sprech­ akt. Niehaus, der das inquisitorische Verhör untersucht, sieht die Schriftlichkeit der Inquisition dadurch begründet, dass auch alle mündlichen Akte – sollen sie wirksam werden – erst einmal protokolliert werden müssen.16 Das gilt im Übri­ gen bis heute trotz dogmatischer Prinzipien wie solchen der Unmittelbarkeit und 13

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 307. Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze, Frankfurt a. M. 1990, 16. 15 Steinhauer (Fn. II. 37), 175. 16 Michael Niehaus, Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, München 2003, 161. 14

1. Akten

165

Mündlichkeit. Wenn Akten einmal angelegt sind und nach ihnen verhandelt wor­ den ist, muss der Inhalt der Verhandlung zu den Akten genommen werden. Dafür ist die Technik des Protokollierens üblich geworden. „Die präsentische Struktur der protokollierenden Schriftform ermächtigt Protokollakten, in eine Beziehung zur Sphäre der amtlich anerkannten Wahrheit zu treten.“17 Vismann sieht darin die wesentliche Verlaufsidee, die es Akten ermöglicht, Welt nicht nur zu repräsentie­ ren, sondern zu konstituieren. Die Akte enthalte sich selbst als ihr eigenes Proto­ koll. Die Elemente, die verknüpft worden sind, bilden nicht einfach ein Ganzes, dessen Teile sie blieben; das Ganze wird vielmehr als Ganzes der Serie der Ele­ mente zugesellt. Nach dem so formierten Ganzen, dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung soll entschieden werden (§ 261 StPO). Befriedigung kann ein Ver­ handlungsbegehren also nur in den Akten finden. Das Verstehen von Angesicht zu Angesicht stellt sich oft nicht ein, das Verstehen des Akteninhalts darf aber pro­ fessionell erwartet werden. e) Bezugnahme Nur durch Verbindungen zwischen Akten-Akten entwickelt sich die Welt des Verfahrens. Sie etabliert die Differenz von Akten und Welt unter Vorrang der Ak­ ten. Was in den Akten nicht enthalten ist, kann im Rahmen des Verfahrens auch nicht berücksichtigt werden. Die Beteiligten beeilen sich nach dieser Maxime, möglichst alles, was sie irgendwie für wichtig halten, zu den Akten zu reichen. Überblick zu behalten fällt dabei schwer. Man nimmt Bezug. Bezugnahme ist ein weiterer grundlegender Akten-Akt, der ein eigenes Problem im Fortgang eines Verfahrens bezeichnet. Auch wenn das wichtig wäre, gibt es doch keine zwingen­ den Vorschriften, jemandem den Akteninhalt in Erinnerung zu rufen. Nur ver­ gleichsweise technische Sollvorschriften wie Nr. 112 S. 2 RiStBV bezeugen, dass eine Textstelle zu finden eine eigene Leistung darstellt, die unterstützt werden sollte. Dementsprechend lautet die Anweisung: Sind die Akten umfangreich, so soll auf die Aktenstellen und möglichst auch auf die Beweismittel für die einzel­ nen Tatvorgänge verwiesen werden. Eine derartige Bezugnahme gilt als vorbild­ lich und hat Eingang gefunden in die Anforderungen an Berufungsbegründungen, in denen der Stoff eines erstinstanzlichen Verfahrens wiederholt und dargestellt werden sollte. Viele Berufungsführer machen es sich da einfach, wenn sie ihren Akten-Akt auf die allgemeine Formel beschränken, „im Übrigen“ werde auf den gesamten Inhalt des erstinstanzlichen Verfahrens Bezug genommen. Damit wird die Bezugnahme so unbestimmt wie die umgebende Welt und deshalb soll eine derartige Formel auch nicht ausreichen. Der Bezug ist konkret, und diese Konkre­ tion befördert den vorhandenen Akteninhalt in eine Vorzugsstellung. Er bestimmt jedes weitere Verständnis für die noch folgenden Handlungen. Man hat sich festge­ legt und kann nicht mehr ohne Weiteres von diesen Festlegungen Abstand nehmen. 17

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 86.

166

V. Medien des Rechts

Die Welt der Akten ist nur scheinbar abgeschlossen. Der Schein wird durch den Ordner, den Pappeinband, gesetzt. Aber man kann ihn stören, das Sein eines Vor­ gangs einfach dadurch verändern, dass man ihn auf andere Aktenvorgänge be­ zieht, die man beizieht. Man zieht in einem Zivilprozess wegen Schadens­ersatz nach einem Totschlagsversuch die Akten des Strafverfahrens bei. Man zieht die Akten der Ordnungswidrigkeitenverfahren bei, wenn die sich ordnungswid­ rig verhaltenden Kraftfahrer sich gegenseitig auf Schadensersatz verklagen. Im Strafverfahren gegen den angeklagten Einbrecher werden die Akten seiner Vor­ verurteilungen beigezogen. Im Verwaltungsprozess werden die Akten des Ver­ waltungsverfahrens beigezogen. Damit verändert sich die Welt. Es war nicht erst Cornelia Vismann, die entdeckt hat, dass die Weltförmigkeit des juristischen Han­ delns sich in und durch Akten spiegelt. Quod non est in actis, non est in mundo hat sie auf dem Deckel ihrer Akten-Arbeit zitiert. Dabei entsteht die Differenz von Welt und Akten dadurch, dass die Akten etwas enthalten, die Welt aber nicht. Sie ist das unbestimmt Ausgegrenzte, das sich erst dadurch Gehör verschaffen kann, dass es durch weitere Schrift formuliert wird. f) Verwaltungsakt In jeder öffentlichen Verwaltung werden Akten geführt, und im öffentlichen Recht ist der Begriff eines Verwaltungsakts dogmatisiert. Aus den Akten wird der Akt, der acte administratif, der den „glanzvollen Singular des souveränen StaatsAkts“ repräsentiert.18 Wenn das einmal geschehen ist, wirken die vielen Akten, aus denen der Akt entstanden ist, nur noch wie unscheinbares Material für die düsteren preußischen Amtsstuben. Der Verwaltungsakt ist notwendigerweise ein Aktenpro­ dukt, das aber im Augenblick seiner Existenz den aktenmäßigen Hintergrund ver­ gessen macht und rechtsdogmatisch dahin überhöht wird, auf ihn komme es gar nicht an. Das Entscheidende der Entscheidung sei eben allein die nach Außen mit­ geteilte Regelung des Falls. In Gerichtsakten geschieht Vergleichbares. „Verkün­ den“ heißt dort die Bekanntgabe der Urteilsformel an die ­Öffentlichkeit. Nur Ur­ teile werden verkündet, und mitgeteilt wird auch nur der sogenannte „Tenor“ der Entscheidung. Er besteht in der (vollstreckbaren) Anweisung an die Parteien, wird aber wegen der Abstraktheit der Tenorierungssprache  – wenn es sich nicht um eine auf Freiheitsstrafen zugespitzte Strafsache handelt – meist für sich genommen nicht verstanden. Man ist deswegen auf die vom Tenor getrennten Gründe ange­ wiesen, die im Dezernatsweg, also nicht mündlich bekanntgemacht werden. Der hehre Akt der Verkündung19 ist postmodern völlig degeneriert. Es ist nichts mehr zu sehen und zu hören, verkündet wird stillschweigend durch Unterschrift unter ein vorbereitetes Verkündungsprotokoll in den Akten (§ 311 Abs. 2 ZPO). Das Be­ gehren nach einem wahren, richtigen Inhalt verwandelt sich spätestens in diesem 18

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 228. Ernst Forsthoff, Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, Halle 1940, 6.

19

1. Akten

167

Moment in Befriedigung durch einen schriftlichen, aktenmäßigen Text. Darauf kommt es an. Die Akten müssen zum Zeitpunkt der Verkündung den Entschei­ dungstext mit dem Eingangsvermerk der Geschäftsstelle enthalten. Entscheiden wird damit zur aktenmäßigen Angelegenheit, soweit es um den weiteren Verfah­ rensgang geht. Andere Entscheidungen  – solche also, die nicht verkündet, son­ dern im Laufe oder beim Abschluss eines Verfahrens in Beschlussform ergehen – werden sowieso nicht mündlich mitgeteilt und können nicht gegenwärtig kom­ mentiert werden. Sie ergehen schriftlich und werden wirksam mit Zustellung. Der Akt der Zustellung ist insofern ein besonderer Akten-Akt, als die Zustellungs­ urkunde zu den Akten gelangen muss und Auskunft über den Lauf einer Rechts­ mittelfrist gibt. Die wesentlichen Verfahrensbestandteile einer Entschedung  – Rechtzeitigkeit, Zustellung, Fristenlauf, Rechtsmitteleingang  – sind nur anhand der Verfahrensakte zu überprüfen. g) Vernichten Der letzte aller Akten-Akte heißt „Vernichten“. Akten werden zerschnitten, ab­ geschnitten, zugeschnitten oder überhaupt durchgeschnitten, neuzeitlich: geshred­ dert. Die Aktenvernichtung beendet jede Aufbewahrung und schafft Raum für neue Übertragungen, für die Anlage neuer Akten. Während nun die Akten-Akte von der Vorlage bis zum Entscheiden juristische Verfügungen voraussetzen und dementsprechend auch von Juristen, nämlich Richtern und Rechtsanwälten je­ weils für ihren Aktenbereich vorgenommen werden, ist das Vernichten von Ak­ ten ebenso wie deren Anlage eine Sache des niederen Personals. Sie wird nicht verfügt, sondern ergibt sich aus einer vorbereitenden Verfügung, die lautet: Weg­ legen. Akten, die lange genug liegen und in dieser Zeit auch nicht mehr bearbei­ tet worden sind, können schließlich vernichtet werden. Das rhetorische Komple­ ment zum Vernichten ist Weglegen. Weglegen beendet die Aktenkarriere und den Gang des Verfahrens – wenn denn wirklich weggelegt werden kann. Hinter die­ sem Können steht Rhetorik in Miniaturen. Akten müssen wieder vorgelegt wer­ den, wenn nach dem Urteil die Kosten festzusetzen sind oder wenn für die Kosten der Gegenstandswert zu bestimmen ist oder wenn Anträge noch nicht beschieden worden sind oder doch noch neue gestellt werden, obwohl die Sache eigentlich ab­ geschlossen ist, oder jemandem auffällt, dass irgendwelche groben Fehler began­ gen worden sind, die so nicht stehen bleiben können. Viele tote Akten leben weiter, sollen zwar weggelegt werden, können es aber nicht, weil sie wegen allerlei weite­ rer mehr oder weniger wichtiger oder unwichtiger Zusatzprobleme im Geschäfts­ gang bleiben. Dann muss die eigentlich weggelegte Akte doch wieder vorgelegt werden. Wer das begehrt, ist dem Justizdispositiv in Gänze verfallen und befindet sich auf dem Weg zum Querulanten.20 Das sind nicht wenige. 20 Thomas-Michael Seibert, Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, Ber­ lin 1996, 19.

168

V. Medien des Rechts

Aus allen Akten-Akten ergibt sich eine gemeinsame Semiotik der Akten und damit das, was sie rechtlich als Zeichen zu denken geben. Von der Anlage über die Vorlage bis zu Einsichtnahme und Bezugnahme scheint man im Rand­bereich der institutionellen Kommunikation zu bleiben. Aber anders als in der Konzeptuali­ sierung des kommunikativen Handelns bei Habermas wird deutlich, dass sowohl Vorlage wie auch Einsichtnahme oder Bezugnahme etwas mit formalen Organi­ sationen und dem von ihnen Instituierten zu tun haben. Es geht nicht mehr und nicht nur um das allgemein Menschliche der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, auch wenn deren Geltung nicht suspendiert werden kann. Aber sie kann aufgeschoben werden, und das ist das Entscheidende des Akten-Akts. Die substantiellen Fra­ gen des Menschseins erscheinen noch nicht sofort, es wird auch mit keinem der Akten-Akte etwas abgeschlossen, es scheint durch Anlage einer Akte, deren Vor­ lage, Beiziehung oder Einsichtnahme und Bezugnahme überhaupt nichts Wesent­ liches zu geschehen. Selbst der Verwaltungsakt ist nur eine Station im Verwal­ tungshandeln. Das Wesen bleibt in der Schwebe, und das ist ein wesentlicher Zug des Akten-Akts. Er greift auf keinen Inhalt zu, auch wenn jeder Akteur, der Ein­ sicht nimmt, sich der Bedeutung von Inhalten bewusst ist. Alle, die Bezug nehmen, müssen für sich in Anspruch nehmen, dass das in Bezug Genommene wahr sei, aber sie müssen es nicht mehr gesondert darlegen und beweisen. Das eben ersetzt die Bezugnahme. Wenn Akten anderer Verfahren beigezogen werden, mag das eine Richtung für die Entscheidung vorzeichnen. Aber inhaltlich angegeben wird diese Richtung nicht, so dass sich die Richtigkeitsfrage erst einmal nicht stellt. Mit allen skizzierten Akten-Akten bleibt man am Rande der instituierten Handlungen. Aber man handelt, und es könnte sein, dass es auch im scheinbaren Zentrum nur so scheint, als sei hier das Zentrum. Die Bedeutung könnte woanders liegen. Der Akten-Akt lässt das Zentrum unbesetzt. Er operiert suspensiv. Noch etwas Weiteres machen Akten-Akte deutlich und ergänzen damit die Sprechaktbedeutung. Es kann sie nicht jeder ausführen (was Austin mit den happiness conditions sprachlichen Handelns zu berücksichtigen versuchte), und sie benötigen einen Medienwechsel, klassisch die Aufzeichnung auf Papier. Auch in­ sofern gilt: Die Aufzeichnung ist dafür nicht konstitutiv, im Gegenteil nimmt man eben Einsicht, indem man hinschaut, man zieht bei, indem man etwas anfordert, man nimmt Bezug, indem man es behauptet. Das alles muss nicht aufgezeichnet werden. Aber indem es aufgezeichnet wird, erhält es eine besondere systemische Bedeutung. Erst wenn Akteneinsicht erfolgt ist und man dies anhand der Akte auch feststellen kann, erhält ein Verteidiger eine besondere Gebühr, kann er zur Stellungnahme aufgefordert werden oder angenommen werden, der Angeklagte schweige. Wenn Akten beigezogen sind, werden damit – je nach Verfahren und Prozessordnung – auch Inhalte dieser Akten zum Gegenstand des Verfahrens, in dem sie beigezogen worden sind. Die Welt der Akte ist durch diesen Akten-Akt erweitert worden. Alle diese Akte sind Supplemente mit den Eigentümlichkeiten einer supplementierenden Zeichenformation. Die Akten erscheinen als sekundär, während die ganze Aufmerksamkeit den sprachlichen Handlungen gilt, die in ih­

2. Archive

169

nen zur Geltung kommen. Aber sie kommt eben nur zur Geltung, wenn und nach­ dem eine Akte angelegt, in sie Einsicht genommen und eine Stellungnahme vor­ gelegt worden ist. Diese Rahmungen ergänzen, aber sie setzen das Institut, um das rechtlich gerungen wird, erst ein. Ohne Akten bleiben alle diese richtigen Beiträge Phonetik, Schall und der sprichwörtliche Rauch. Was man im Diskurs als ­Irritierbarkeit bezeichnen kann, zeigt sich an den Lesarten, die entsprechende Feststellungen hervorrufen.21 Erst in den Akten-Akten erhält der institutionali­ sierte Diskurs einen bestimmbaren Autor, einen praktischen Zweck auf der einen Seite, auf der anderen Seite dagegen ein offenes und nach bisher kaum bestimm­ ten Regeln geordnetes Bewertungsspektrum. Akten werden damit zum Medium des ­Rechtsdiskurses. 2. Archive Wenn Akten wirklich weggelegt werden, füllen sie die Archive. Das Archiv ist ein Ort für Dinge, die man nicht mehr braucht. Es ist ein Ort der Geschichte. Wer ein Archiv aufsucht und dort eine Urkunde oder einen Fall studieren will, dem werden Akten vorgelegt. Geordnet zu haben, was geschehen ist und damit den Fundus für zukünftige Entscheidungen zur Verfügung zu stellen – das ist die eigentliche Aufgabe des Archivs. Das „Archiv“ taucht nicht nur als Titel wichti­ ger juristischer Zeitschriften des öffentlichen und privaten Rechts wie im übrigen auch der Rechtsphilosophie auf, es ist in seiner Genese – wie jeder Rechtshisto­ riker weiß – der Ort, an dem ein Staat oder eine Gesellschaft ihre wichtigen und damit auch ihre rechtlich verbindlichen, gültigen Dokumente aufbewahrt. Steht man nicht unter dem Druck der alltäglichen Minutenentscheidung, kann man sich einen Gang ins Archiv leisten. Es ist der Ort, an dem man nach Büchern und Ak­ ten, nach bedeutenden Entscheidungen und entscheidenden Passagen in diesen Texten sucht. In seiner antiken Tradition ist das Archiv nicht nur ein Ort oder ein Haus, es verfügt auch über Archonten, die es bewachen, überwachen und auf den Umgang oder Gebrauch der Texte achten. „Sie haben die Macht, die Archive zu interpretieren“, führt Derrida in diese besondere juristisch-sakrale Verbindung ein.22 „In einem Depot solchen Archonten anvertraut, besagen diese Dokumente tatsächlich das Gesetz: Sie rufen das Gesetz ebenso hervor wie sie daran erinnern. Um so überwacht zu sein, für eine Rechtsprechung des ‚das-Gesetz-Besagens‘ be­ darf es gleichzeitig eines Wächters und eines Orts. Sogar in ihrer Überwachung oder in ihrer hermeneutischen Tradition konnten die Archive weder Unterstützung noch Bleiberecht (résidence) beanspruchen.“ Derrida führt den Gedanken der Ver­ bindung von Person, Ort und Dokument zu einer paradoxen Konzeption des Ar­ chivs. Ohne den Hüter des Gesetzes an einem für Gesetze ausersehenen, dauerhaf­ ten Ort könne es keine bevorzugte Topik (une topologie priviligiée) geben. Durch 21

Vismann, Akten (Fn. I. 89), 79 f. Jacques Derrida, Le Mal d’Archive, Paris 1995, 13 (eigene Übers.)

22

170

V. Medien des Rechts

c­ onsignatio werde Schriften, Textstücken, Zeichenketten eine mit einer idealen Versinnbildlichung verbundene Einheit verliehen, damit die gesammelten Teile nicht in die ursprüngliche Vielheit, Verschiedenheit und Heterogenität zurück­ fielen. Aber der Zerfall droht. Die Vorstellung von einem ursprünglichen Ort des Gesetzes enthält schon für sich genommen die Bedrohung und die Möglichkeit des jederzeitigen Zerfalls. Für Derrida steckt der Zerfall im gleichzeitig mit ar­ chivierten Zerstörungstrieb, wie ihn Freud für die Möglichkeit menschlicher Ord­ nung als konstitutiv bezeichnet hat. Der Todestrieb, le mal d’archive, wohnt jeder­ consignatio inne.23 Nur wenn man ihn berücksichtigt, kann man ermessen, wie wenig sich ändert, wenn Kommentartexte oder Gerichtsentscheidungen dem elek­ tronischen Archiv hinzugefügt werden. Im Alltag der Rechtsmedien macht sich deren Vergänglichkeit indirekt bemerk­ bar. Man scheut Archive so wie weggelegte Akten. Sie wieder anzusehen, stört die Grabesruhe, und wer es doch tut, erfährt sinnlichen Widerstand. Wer als Histori­ ker Zugang zum Geheimen Staatsarchiv erhält, ist der Erste, der einstaubt. „Pfui, welch ein Staub“ habe Heinrich von Sybel gerufen, als er sich 1886 die „Akten des blutigen Wohlfahrtsausschusses“ der Revolution in Paris habe vorlegen lassen, und er sei vom Archivar belehrt worden: „Mein Herr, haben Sie Respekt vor diesem Staub, das ist Staub von 1795; ich kann mit voller Gewissheit versichern, dass seit­ dem keine Hand diese Akten und diese Kartons berührt hat“.24 Aber das ändert nichts am sinnlichen Befund: Es sind tote Akten, auf die der Historiker trifft, Do­ kumente, denen Leben erst eingehaucht werden muss, indem man sinnvoll davon erzählt. Vom Archiv her wird eine andere Seite der Rechts- und Lebenswelt ent­ wickelt als die gewohnte sogenannte „Lebendigkeit“. Zu den Werken des Monu­ mentalkünstlers Anselm Kiefer gehört eine Serie von Bleibüchern. Dabei werden Buchstaben nicht wie bei Büchern üblich auf eine leicht handhabbare Oberfläche platziert, die es erlaubt, Seiten umzublättern, Bände zu stapeln oder ein einzelnes Exemplar auf- und zuzuklappen, sondern unmittelbar in Blei gedrückt und auf­ gestellt. Sie sind so schwer, dass es mehrerer Männer bedarf, um sie überhaupt zu bewegen. Wer darin eine modische Abartigkeit in der Entwicklung der modernen Kunst sieht, der darf sich von Cornelia Vismann an die Bleiakten eines antiken Ar­ chivs erinnern lassen, das auf der Agora Athens gefunden worden ist. Auf jeweils einer Bleitafel steht ein Name. Dem Namen eines Mannes wird ein Pferd und ein Preis zugeordnet, sonst nichts, noch nicht einmal ein Datum. Man vermutet, dass es sich um ein Register der Kavallerie handelt, das aber wegen seiner Schwere und Unbeweglichkeit nicht gebraucht werden konnte und dessen Gebrauch angesichts der spärlichen Auskünfte auch nicht notwendig war. Worum es ging, war schnel­ ler erzählt. „Akten im Stillstand“25 nennt Vismann dieses Archiv. Es war nicht be­ stimmt, zu etwas anderem zu dienen als da zu sein. Seine Akten sind tot, aber das ist von Bedeutung. Tote Akten kann man sich wieder und wieder vorlegen lassen 23

Derrida (Fn. V. 22), 24. Berichtet bei Vismann, Akten (Fn. I. 89), 250. 25 Vismann, Akten (Fn. I. 89), 333. 24

2. Archive

171

und gestaltet damit die ewige Wiederkehr des Gleichen. Die besondere Zeitform der nicht Gott gegebenen, sondern durch Menschen erzeugten Ewigkeit gestaltet einen eigenen Raum. „Zweistromland“ hat Kiefer seine in zwei Regalreihen auf­ gestellte Bleifolianten genannt, die linke Reihe „Euphrat“, die rechte „Tigris“. Ge­ meint ist Babylon, das Land der Listen, Zeichen und Akten. Geschichtsschreibung muss aus den still stehenden, toten Akten erst wieder den Akt herausarbeiten, den die agierenden Juristen und Administratoren gemeint haben. Das ist die andere Seite des Archivs: Totes wieder lebendig zu machen. Auch wenn das jenseitig klingt, enthält die Geschichte des Rechts doch Beispiele für sol­ che Verlebendigungen des Abgelegten. Der Codex Justinianus war in Europa über 500 Jahre nicht greifbar. Erst Mitte des 11. Jahrhunderts tauchte in Pisa eine Ab­ schrift des Codex auf, von der insbesondere die Digesten Interesse weckten. Mit einer Kopie der Digesten fand der Unterricht eines Rechtslehrers, der ­Irnerius ge­ nannt wurde, Zulauf.26 Der Text war schwierig, zudem erschien die aufgefundene Handschrift lückenhaft und ergänzungsbedürftig. Der Rechtslehrer las deshalb den Text vor und brachte hier und da Ergänzungen an, die die Studenten mitschrie­ ben. Für sie wurde so aus dem alten Codex ein neuer Text mit wissenschaftlichem Gehalt, denn das real existierende Recht im 12.  Jahrhundert verhielt sich nicht nach römischen Regeln.27 Zeitgenössisch spielte Recht überhaupt keine ausschlag­ gebende Rolle. Das änderte sich historisch durch die Rechtsfakultät in Bologna. Irnerius machte dort die Digesten zur Grundlage juristischer Interpolation zwi­ schen Textfragmenten, die einesteils als ehrwürdig und unantastbar, zum ande­ ren Teil aber als lückenhaft und interpretationsbedürftig erschienen. In ­Bologna fanden sich mindestens eintausend Jurastudenten ein, die eine Lehre bezahlten, in der das entfernte römische Recht als zusammenhängendes System in einer Weise interpretiert wurde, die den römischen Juristen ferngelegen hätte.28 Der dort einge­ richteten Rechtsfakultät gelang es, nicht nur den Text, sondern vor allem auch die neue Methode der Analyse und Synthese von Problemen als vorbildlich zu etablie­ ren. Der sogenannte mos italicus forderte auf, Widersprüche zwischen den Quellen zu bezeichnen, die entstehenden Zweifel mit dem wissenschaftlichen Streitstand in pro und contra darzustellen und eine Lösung vorzuschlagen. Die Lösungstypen reichten von der Subordination einer niederen ­Autorität unter die höhere über die Distinktion bis zur Division.29 Diese Verfahren im Umgang mit einem Text waren neu und fügten sich mit den Methoden der theologischen ­Scholastik zu einem Wis­ senschaftstyp, der seitdem die westliche Rechtstradition geprägt hat.30 Neben der Methode war der römische Text dafür als Handwerkszeug wichtig. Bereit­gestellt haben ihn Archive. 26

Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), 314 f. Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition (1983), Frankfurt a. M. 1991, 199 f. 28 Berman (Fn. V. 27), 227. 29 Viehweg, Topik (Fn. I. 25), 66–73. 30 Berman (Fn. V. 27), 247 f. 27

172

V. Medien des Rechts

An diesem grundlegenden Beispiel zeigt sich, dass mit den Medien gleichzeitig auch die Orientierung in der Disziplin wechselt. Der Justizbetrieb orientiert sich an Akten, sie sind sein Medium. Der akademische Rechtsbetrieb greift stattdes­ sen auf Archivalien zurück, es gehört zum Verständnis gelehrten Rechtswissens, frühere Entscheidungen, Meinungen, Gesetze oder sonstige Texte zu kennen, die ins Archiv gelegt sind. Eine Rechtsfrage prüft man nicht einfach im Kopf am so­ fort plausiblen Bestand, sondern man erweitert das Repertoire möglicher Sätze und sucht nach bereits abgelegten Zeichen. Das verlangt handwerkliche Arbeit der Orientierung. Denn in der nicht-elektronischen Form wird Rechtswissen räumlich aufbewahrt. Die Räume dieses Wissens muss derjenige erschließen, der vom Wis­ sen zehrt und aus ihm etwas gewinnen will. Der Raum und die Art seiner Spei­ cherungsform zwingen zum Aufschub in der Frage nach dem Recht. Was Recht ist, kann nicht einfach so und auch nicht so einfach – nach Gefühl, nach Interesse oder nach Meinung – beantwortet werden; was Recht ist, bedarf vielmehr der Prü­ fung am Ort des Rechts, und das ist das Archiv. Geordnet zu haben, was geschehen ist und damit das Archiv für zukünftige Entscheidungen zur Verfügung zu stellen: Das ist die eigentlich juristische Aufgabe. Das Archiv wird damit zum „submedialen Raum“. So bezeichnen Boris Groys oder Wolfgang Ernst31 den ortsgebundenen Effekt, jederzeit etwas (wie ein Ak­ tenstück) in die mediale Präsenz zu befördern, und umgekehrt, aus dieser Präsenz Dinge in einen Vorrats-, Verdachts- und Bereitschaftsraum zurücktreten zu lassen, der selbst allerdings ungesichert ist.32 Archivarisch werden Urkunden nicht mehr wie in Akten nach dem Zeitpunkt des Eingangs geordnet, sondern nach der Wich­ tigkeit des Inhalts. Archiviert werden regelmäßig nur die prominenten Urkunden: aus den Gerichtsakten die Urteile, aus den Notarakten beurkundete Verhandlungen, amtliche Einträge im Handelsregister und im Grundbuch. Die Gerichte, Verbände und Behörden überwachen den Eintritt, die Verwertung und die Auswirkungen des Zeichenbestands. Wenn man Rechte studieren (nicht nur Recht behalten) will, muss man sich in Archive begeben. Das Archiv ist der Ort, an dem man nach ­Büchern und Akten, nach bedeutenden Entscheidungen und entscheidenden Passagen in diesen Texten sucht und das juristisch Wichtige finden kann.33 Aber das Archiv ist nicht nur ein Ort, es repräsentiert gleichzeitig auch eine bestimmte Darstellungsweise. Es war Michel Foucault, der den Begriff des Archivs von seiner räumlich-dinglichen Seite in die Darstellung von Aussagen hin verlagert hat. Deleuze hat ihm deshalb den Ehrentitel des „neuen Archivars“ verliehen, dessen Neuigkeitseffekt darin be­ steht, dass er die Aufmerksamkeit von Sätzen und Pro­positionen auf Aussagen ver­ lagere.34 Aussagen seien an ein Gesetz und einen Knappheitseffekt gebunden. Zum „Archiv“ wird bei Foucault eine geschichtlich gewachsene Sprachkompetenz, näm­ 31

Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, 19–22. Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München Wien 2000, 14 f. 33 Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft (1986), Frank­ furt a. M. 1990, 263. 34 Gilles Deleuze, Foucault (1986), Frankfurt a. M. 1987, 9. 32

2. Archive

173

lich „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht“35. Dabei bemüht sich Foucault im Anschluss an diese anspruchsvolle Definition abzuwehren, was einem an billigen Konkretisierungen eines solchen Gesetzes alles einfallen könnte, und für die Ar­ chivforschung eine Apotheose zu hinterlassen, der kein konkretes Ergebnis stand­ halten kann. Das Archiv soll weder ein „wirres Gemurmel“ noch ein Vademecum für diskursives Überleben sein, sondern das, „was die Diskurse in ihrer vielfachen Existenz differenziert und sie in ihrer genauen Dauer spezifiziert.“36 Auch wenn man in diesen großen Formeln keine Anleitung findet, so kann man an Foucaults eigenen Archivfunden doch nachvollziehen, was unter medialer Perspektive an ab­ gelegten Dokumenten interessiert. Es ist nicht deren monumentaler Charakter, den Foucault verschiedentlich als falsches Ziel der Geschichtsschreibung zurückweist. Es sei nicht entscheidend, die Unterschrift des Königs unter der Kriegserklärung zu finden und aus der Tat ein Monument zu ­machen. Stattdessen spürt er im Ar­ chiv Fälle auf, deren Dokumente an den Verzweigungen eines gesellschaftlichen Wegs stehen. Dokumente – erklärt Foucault diskursarchäologisch – habe man für die Geschichtsschreibung schon immer benutzt, aber jedes einzelne Dokument sei dabei „als die Sprache einer jetzt zum Schweigen gebrachten Stimme“37 behandelt worden. Die dokumentarische Materialität – Foucault nennt neben Büchern, Er­ zählungen, Registern und Akten auch Gebäude, Institutionen, Gegenstände, Sit­ ten usw. – kommt erst zum Vorschein, wenn man archivierte Akten untersucht. Foucault und seine Mitarbeiter forschten in den Archiven nach den Akten, die Bittschriften von Bürgern an den Polizeileutnant oder direkt an die Kanzlei des französischen Königs enthalten. Erstrebt wurde die königliche Order, jemanden festzusetzen. Historisch hat man darin absolutistische Willkür gesehen. Es zeigt sich aber nun anhand der Archive, dass die Lettres de cachet nicht – wie Histori­ ker früher mutmaßten – auf die „Fährte des königlichen Grolls“ führen, sondern viel eher die familiären Probleme in Zeiten ohne Familienrecht verdeutlichen.38 Ein anderes Seminar von Foucault über „Théories et Institutions pénales“ ist von JeanPierre Peter mit einem Fund im Archiv von Caen vorbereitet worden. Er fand in den Akten eines Mordfalls von 1836 das komplette mémoire eines normannischen Bau­ ernjungen, in dem dieser detailliert schildert, wie er seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester erschlagen hat. „Der Fall Rivière“ ist ein archivierter Aktenfall, dessen medialen Charakter Foucault erstmals dokumentiert und kommentiert. Ge­ leistet haben das die Seminarteilnehmer am Collège de France, Philosophen, Psy­ chologen und Analytiker wie Deleuze, Fontana, Castel, Peter und Jeanne Favret.39 Im Rahmen von Foucaults Arbeit erhält das Dokument selbst ­medialen ­Charakter; 35

Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, 187. Foucault (Fn. V. 35), 188. 37 Foucault (Fn. V. 35), 14. 38 Arlette Farge/Michel Foucault, Familiäre Konflikte: Die „Lettres de cachet“ (1982), Frank­ furt a. M. 1989, 10. 39 Michel Foucault, Résumé des cours, Paris 1989, 24 f. 36

174

V. Medien des Rechts

es ist ein Medium. Das hat zur Folge, dass Geschichtsperioden anders als zuvor un­ terschieden werden; jetzt bestimmt der Charakter des Dokuments die Serie. Alle Beteiligten rühmen die literarische Qualität des mémoire, dessen Schönheit den Fall zum „Punkt Null“ für die Eichung des Abstands zwischen Rechts- und Medi­ zindiskurs macht.40 Das hat auch zur Folge, dass nicht mehr die Kontinuität durch verschiedenste Dokumente hindurch „die Geschichte“ ausmacht, sondern – wie Foucault betont – die Diskontinuität zu einem der grundlegenden Elemente der his­ torischen Annalen wird.41 Diskontinuität wirkt als Resultat in Bezug auf Archiv­ funde seltsam und paradox. Denn Archive werden angelegt, um den Lauf der Er­ eignisse so kontinuierlich abzubilden, wie er sich in Dokumenten darstellt. Wenn man Archive als Medien bezeichnet, dann betont man aber ihren Charakter, auf Schrift zuzugreifen, Schrift zu repräsentieren und selbst als Schriften zu wirken. Dass Schrift in einem umfassenden Sinne die Bedeutung jeder Verlautbarung stört, ist ein Forschungsansatz, über den sich Foucault und der etwas jüngere Jacques Der­ rida trotz vergleichbarer Ausgangslage im wirklichen Leben nicht haben einigen können. Archive enthalten, was andere Aufbewahrungsformen nicht mehr preisge­ ben – die Schriften, die Kämpfe, das Ringen um Entscheidungen, die Reden. Da­ für gibt es bisher keine Tradition. Am Anfang der neuen Archivforschungen steht jetzt die These, dass Dokumente nicht nur Träger von Zeichen sind, sondern selbst als Zeichen wirken, insofern sie die Differenz von Medium und Form markieren.42 Weniger abstrakt als bei Luhmann ausgedrückt, könnte man sagen, dass Argu­ mente, Sätze, Ergebnisse oder Reden, die archiviert sind, nicht in dem Zusammen­ hang (der Art „fester Kopplung“) verstanden werden müssen, in dem man sie vor­ findet. Sie werden zum Medium anderer, eigener Ausdrucksformen, die allerdings nicht frei sind, sondern deren „Gesetz“ durch die archivalische Vorgabe begründet worden ist. Auf diese muss man sich beziehen, und man muss behaupten, dass der eigene Ausdruck aufgrund nachvollziehbarer Regeln (Methode) mit dieser Vorgabe verbunden ist. Damit beginnt eigentlich erst rechtswissenschaftliche Arbeit, die den Namen verdient (also nicht nur „juristisch“ wäre und damit nicht nur Schrift zur Er­ weiterung vorgegebener und vorgefertigter Meinungen lieferte). Wenn man einer­ seits Akten als das Arbeitsmedium für Verfahrensjuristen (Praktiker) ansieht und behauptet, dass man sich seriös in einem Verfahren nicht bewegen kann und darf, ohne dass man aktenbezogen handelt, also zunächst einmal Einsicht nimmt, einen Schriftsatz einreicht und einen Antrag stellt, dann stellen auf der anderen Seite Ar­ chive den Sprachvorrat bereit, der eine einzelne Aussage und einen Antrag auf ein Gesetz des regelgeleiteten Sprechens beziehen kann. Das zu tun ist Aufgabe einer gelehrten Jurisprudenz. Wie es geschieht, wechselt in der Zeit. Zwar gibt es auch heute noch das geheime Staatsarchiv, es gibt aber auch den völlig öffentlichen, je­ 40 Michel Foucault, Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Straf­ justiz (1973), Frankfurt a.M.1975, 9–12). 41 Foucault (Fn. V. 35), 17. 42 Niklas Luhmann, Die Form der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Schrift, München 1993, 349–366.

3. Unterschriften

175

derzeitigem Zugriff offenstehenden Textkorpus. Seit Einführung der elektroni­ schen Datenverarbeitung und der informatischen Volltextmethode dienen Such­ worte aus Gerichtsentscheidungen dazu, Archive zu benutzen und das Gesetz des Archivs zu ergründen. Wer heute wissen will, wie man „Umweltverträglichkeit“ juristisch verwendet oder zu welchem Verfahrensanspruch „Fairness“ verhelfen kann, der gibt diesen Begriff in ein Suchsystem ein und enthält in erster Linie Nach­ weise von Gerichtsentscheidungen, in denen die Begriffe auftauchen, aber auch von Lehrbuch- und Kommentartexten, in denen er verwendet wird. Das postmoderne Archiv ist kein staubiger Ort mehr, es bietet sich gegen Bezahlung jederzeit online jedem an. Es hinterlässt ihn aber auch mindestens ebenso ratlos wie der frühere Foliantenleser es gewesen sein mag, der aus den Anträgen zum Erlass königlicher Haftbefehle herauslesen wollte, welche Interessen die Antragsteller gehabt haben mögen. Das von Foucault zitierte Gesetz dessen, was gesagt werden kann, bleibt in der Fülle der Urteilsbegründungen und Kommentartexte erst noch zu formulieren. Es ist nicht beliebig, entspricht aber auch in keiner Weise irgendwelchen Wortlaut­ vorstellungen, die Juristen wie Nichtjuristen gelegentlich mit der Vorstellung vom Gesetz verbinden. Selbst der Leitsatz über Fairness, formuliert vom Bundesverfas­ sungsgericht, legt die Verwendung des Begriffs im nächsten Fall nicht bindend fest, weil die Regel des Besagens und die weitere Vermittlung eines verkündeten Satzes erst noch gefunden werden müssen. Das ist die mithilfe von Archivmaterial zu er­ bringende rechtswissenschaftliche Leistung – eine mediale Aufgabe. 3. Unterschriften Eine ganz andere mediale Funktion haben Unterschriften. Sie sind so randstän­ dig, dass viele Juristen gar nicht bemerken, dass es sich um ein Medium handelt. Die Unterschrift vermittelt und vertauscht Sender- und Empfängerrolle. Sie ist Zweitheit und kommt von außen als dingliche Schrift, auch wenn sie eine gefühlte intime Angelegenheit zu sein scheint und Repräsentation vermittelt. Wie das al­ les zusammen geht, bedarf einer theoretischen Erinnerung, auf die einige Bei­ spiele folgen, und allem voran steht diese von Puschkin komponierte Anekdote, die ­Walter Benjamin und Ernst Bloch etwas abwandeln:43 Dem eifrigen Beamten des Großkanzlers Potemkin gelingt es, seinen kranken, regierungs­ unwilligen Herrn zu einer Vielzahl notwendiger Unterschriften unter Staatsakte zu veran­ lassen. „Dreist erklärte ihm Petuschkow den Sachverhalt und unterbreitete ihm die Papiere. Schweigend ergriff Potemkin seine Feder und unterschrieb der Reihe nach. Petuschkow ver­ beugte sich und trat mit triumphierender Miene ins Vorzimmer. ¸Unterschrieben! …‘ Alle eilten auf ihn zu und sahen: tatsächlich waren alle Papiere unterschrieben. Petuschkow wurde beglückwünscht. ¸Ein gewandter Bursche! Da kann man nichts sagen!‘ Plötzlich je­ 43

Alexander Puschkin, Erzählungen und Anekdoten, hrsg. v. J. v. Guenther, München 1964, 469 f.; Walter Benjamin, Vier Geschichten, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, 4. Bd., Zweiter Teil, Frankfurt a. M., 758; Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt a. M. 1969, 118.

176

V. Medien des Rechts

doch kam es jemand in den Sinn, die Unterschriften anzuschauen – und was sah man da? Auf allen Papieren stand statt der Unterschrift: Fürst Potemkin – nichts als dies: ­Petuschkow, Petuschkow, Petuschkow …“

Der Schreiber tat, wie ihm geheißen worden ist, und heißt dann auch nach dem, für den er es getan hat. Der Empfänger der Unterschrift ist auch ihr Autor; nur merkt man das sonst normalerweise nicht ohne Weiteres. Die Geschichte hat eine semiotische Grundlage, zu der man aus der Theorie fol­ gende Überlegung importieren kann: Wenn Semiotik Auskunft gibt über die Sen­ dung von Mitteilungen an Empfänger, dann gehört die Zuordnung einer Mitteilung zu einem Sender zu den wesentlichen Vermittlungsleistungen. Das geschieht durch Unterschrift ausdrücklich. Wer unterschreibt, soll zu erkennen geben, dass er zum Inhalt der Mitteilung steht als deren Autor, auch wenn er sie nicht formuliert hat. Deshalb wird aufgefordert: Unterschreiben Sie hier! Bei besonders bedeutsamen Unterschriften wird auch noch öffentlich beurkundet, dass der Schreiber mit dem richtigen eigenen Namen unterschrieben hat. Was lässt sich gegen den Satz: „Sie haben doch unterschrieben!“ – noch einwenden? Eben das: Ich unterschreibe an­ ders, das ist nicht mein Name! Aber das fällt normalerweise sofort auf. Ansonsten kann man sich nicht mehr so einfach distanzieren. Man muss viele Worte machen und etwa gegen die Unterschrift setzen: – Das habe ich aber so nicht unterschrie­ ben (Die Umstände jetzt sind andere). Oder: – Als ich es unterschrieb, war der Text ein anderer (Er ist verfälscht worden). Oder: – So kann man den Text gar nicht ver­ stehen (Interpretationseinwand). Das sind nur einige der vielen möglichen Operationen mit und gegen die Unter­ schrift. Dennoch lässt sich mit ihr und damit gegen alle Opponenten meist komfor­ tabel operieren. Die Macht aus Unterschriften kann man übersetzen in die Argu­ mentformen: – Die späteren Umstände müssen sich an dem früheren Text messen lassen. Oder: – Der Text über der Unterschrift ist und bleibt derselbe. Oder: – Einen Sinn, den der Text nicht wirklich zum Ausdruck bringt, kann man nicht nachträg­ lich hineininterpretieren. Wie man sieht, wird das eigentlich juristische Geschäft der Interpretation eines Textes auf seine Geltungsinhalte hin durch Unterschriften erst eröffnet. Die Unterschrift entreißt dem Sender die soeben verfasste und gesen­ dete Mitteilung zum Zwecke der Verwendung durch andere. Das ist die erste me­ diale Wirkung. Unterschriften identifizieren Schreiber mit Texten, beanspruchen Geltung für Texte und trennen sie von den Umständen ihrer Entstehung. Das hat weitreichende Folgen. Zu den Entdeckungen des sprachbezogenen Verhaltens ge­ hört die Einsicht, dass der Zeichengebrauch den sogenannten „Verwender“ steuern kann und nicht umgekehrt dieser die Rezeption regelt, infolgedessen auch nicht ein­ fach „senden“ kann. Will man die Enteignung des scheinbar eigenen Textes insze­ nieren und die dadurch manifestierte Macht des Codes nutzen, dann lässt man je­ manden diesen Text unterschreiben – oder unterschreibt ihn selbst, weil man weiß, welche Macht der Code ausübt. Unterschriebene Texte sind mächtige Texte.44 44

Beatrice Fraenkel, Signature. Genèse d’un signe, Paris 1992, 23. 

3. Unterschriften

177

Auf der anderen Seite ist die Unterschrift das Recht selbst. Sie macht einen Text mindestens zu einem Vorposten im Reich des Rechts. So metaphorisch und halbmilitärisch kann man die Bedeutung dieses Schreibakts zunächst einmal erfassen. Das Unterzeichnen eines Schriftstücks haben alle Rechtsordnungen als prominente Praxis dogmatisiert und zum Ordnungsmerkmal des Rechts erhoben, um Fälschun­ gen und Täuschungen zu verhindern, aber auch um Echtheit auszudrücken. Unter­ zeichnet wurde ursprünglich mit dem Namen, dem Prädikat „subscripsi“ und dem Siegelabdruck.45 Diese römische Praxis wurde im privaten Rechtsverkehr dadurch formalisiert, dass die französischen Könige im 15. Jahrhundert den Vertragsschluss zweier Privatleute durch dafür ernannte „Notare“ notifizieren ließen, indem diese Namen und Siegel beifügten. Der Minister der Justiz ist und heißt in Frankreich „Siegelbewahrer“, le garde des sceaux.46 Die französische Justiz bediente sich be­ sonderer Schreiben, die – von einem Staatssekretär gezeichnet und mit dem kö­ niglichen Siegel versehen  – lettres de cachet hießen. Das gesiegelte königliche Schreiben ersetzte im vorrevolutionären Frankreich das schwerfällige, förmliche Prozessverfahren. Schreiben, die das königliche Siegel trugen und die ein Staats­ sekretär gegenzeichnete, waren rechtens. Farge und Foucault haben die Verfügun­ gen Ludwigs XIV., die „lettres de cachet“, auf ihre Funktion in privaten Angele­ genheiten hin untersucht.47 Erst die Revolution nahm den Siegeln ihre juristische Bedeutung. Revolutionär war die Ersetzung des Siegels durch die schlichte, kurze Unterschrift, die sich in der Regel auf den Nachnamen beschränkt. Zeitlich bindet diese Praxis die massenhafte Verbreitung der Unterschrift an die frühe Neuzeit, in der (bürgerliche) Familiennamen und Testiergebräuche entstanden sind.48 Mit der eigenhändigen Unterschrift wird die Position des Autors, so wie sie Foucault als Kontrollprozedur des rechtsförmigen Diskurses vorstellt,49 zeichen­ praktisch begründet. Sie ist einfach und in einer alphabetisierten Gesellschaft je­ dermann zugänglich. In der Unterschrift verbinden sich zwei rechtssemiotische Basisleistungen: Individualisierung und Legitimation. Mit ihrer Unterschrift unter­ werfen sich die sprechenden Subjekte dem Diskurs, der sie erst zum Autor macht.50 Der Namenszug individualisiert, weil er von der bereits isolierten Subjektposition Gebrauch macht. Zwar wäre jeder Text unter Heranziehung seiner Entstehungsbe­ dingungen ebenfalls einem einzelnen Autor zuzuordnen, der unterschriebene Text leistet diese Zuordnung aber in sich selbst. Er vollzieht sie mit dem Namen als pro­ minentem Merkmal und einem individuell semiotisch variierten Schriftzug, der zur „Paraphe“ verkürzt werden kann.51 Gleichzeitig wird eine Billigung des voranste­ henden Inhalts mit jeder Unterschrift verbunden. Das erweist sich zwar später oft 45

Fraenkel (Fn. V. 44), 34. Fraenkel (Fn. V. 44), 93. 47 Farge/Foucault (Fn. V. 38), 9. 48 Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), 373 f. 49 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses (1971), Frankfurt a. M. u. a. 1977, 20. 50 Foucault (Fn. V. 49) 30. 51 Fraenkel (Fn. V. 44), 41. 46

178

V. Medien des Rechts

genug als Fiktion, tut aber der Realität zum Zeitpunkt der Unterschrift keinen Ab­ bruch. Der Unterzeichnende wird als Sender einer Botschaft identifiziert. Er kann deren Inhalt nicht mehr ohne Weiteres negieren, sondern nur noch interpretieren. Wer unterschrieben hat, ist gebunden, ohne dass dies von außen betont werden muss. Aber jeder Unterzeichner soll sich auch gebunden fühlen. Auf das Gefühl kommt es ebenso an wie auf das abstrakte Sollen. Du sollst ge­ horchen! – flüstert die Unterschrift dem Unterzeichner zu. Was unterschrieben ist, soll auch befolgt werden! – Das ist der zweite Impuls, den ein Text von seiner Unter­ schrift mitnehmen kann. Sachlich rechtlich gesehen und damit jenseits der Sollens­ pragmatik ist die Bindungs- und Billigungsbehauptung meist gar nicht ohne Wei­ teres richtig. Der Urkundenbegriff, wie er beispielsweise im Strafrecht eingeführt ist, kennt Unterschriften nicht als wesentliches Merkmal. Danach soll es ledig­lich darauf ankommen, dass ein Text (und auch das ist noch zu viel an Tradition) einem Aussteller zugeordnet werden kann. Erzählt wird der Beispielsfall, dass Striche auf einem Bierdeckel eine Urkunde darstellen, weil sie Auskunft darüber geben, wie viele Biere die Bedienung einem zahlenden Gast zuordnet. Dennoch und entgegen dem bekannten Rechtsgrundsatz, dass fast alle Vereinbarungen mündlich geschlos­ sen werden können und keiner Schriftform bedürfen, machen Unterschriften für den Rechtsalltag dessen Beginn und Ende deutlich. Wer etwas unterschreiben soll, hat spätestens bei seiner Unterschriftsleistung das Gefühl, dass in diesem Moment irgend etwas rechtlich Institutionelles beginnt, und wer lange überlegt und verhan­ delt hat, sich aber dann doch für etwas entscheidet und unterschreibt, weiß in die­ sem Moment, dass die Entscheidung von Rechts wegen getroffen und nicht mehr ohne Weiteres abänderbar ist. Was unterschrieben ist, tritt ein in den Bereich der bewahrenswerten, würdigen und wichtigen Texte. Dem gegenüber steht die Beobachtung, dass nur Texte zur Unterschrift vorge­ legt werden, die irgendwie für die eine Seite wichtig, aber durchaus nicht immer würdig oder bewahrenswert sind. Mit seiner Unterschrift bekräftigt der Konsu­ ment nicht selten ein weiteres Mal die Marktmacht eines Anbieters. Wer ein Auto kauft oder eine Wohnung mietet, wer eine Urlaubsreise bucht oder einem Sportver­ ein beitritt, wird geradezu genötigt, einen papiernen Text zu unterschreiben. Nicht nur entfällt die symbolische Bedeutung, der Unterschreibende – der von Geset­ zes wegen weder als Käufer noch als Mieter, weder als Pauschalreisender noch als Vereinsfreund unterschreiben müsste, um Leistungen in Anspruch zu nehmen – kann gar nicht anders als schriftlich und scheinbar besonders verbindlich diesen Vertrag schließen. Das Interesse der Anbieter solcher Leistungen muss deshalb jenseits der tradierten juristischen Semantik erklärt werden. Von Rechts wegen ist es oft nur scheinbar vorteilhaft, über einen schriftlichen Vertrag zu verfügen, wenn es zum Streit kommt. Gestritten wird nämlich meist gerade um das, was im schriftlichen Text so nicht oder so nicht ausdrücklich geregelt oder vielleicht auch gar nicht erwähnt ist, und selbst wenn es erwähnt und in offenbar eindeutigem Sinn geregelt scheint, dann gibt es eine eigene juristische Abteilung unter dem Titel „In­ haltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen“, die gerade diese erwähnte und

3. Unterschriften

179

eindeutige Fallgestaltung als rechtlich unverbindlich erklärt und den schriftlichen Text des Vertrags damit außer Kraft setzt.52 Dass nach verschiedenen Entscheidun­ gen des Bundesgerichtshofs seit dem Jahre 2003 fast alle zwischen 1975 und 2002 unterschriebenen Mietverträge wegen Verstößen gegen die Gebote allgemeiner Geschäftsbedingungen unwirksam sind, haben die meisten Unterzeichner nicht verstanden; viele wissen es überhaupt nicht, und doch – so sagt man – sei das die Rechtslage gewesen, die von Anfang an galt, nur nicht „richtig“ erkannt worden sei. Die Unterschrift vermochte den unterschriebenen Inhalt nicht zu sichern. Die mediale Botschaft der Unterschrift ist in sich denkbar einfach und besteht in nichts anderem als in der Identitätsbehauptung a = a; was ich tue, ist hier schrift­ lich angewiesen, gebilligt und kann im Namen des Unterschreibenden erledigt werden. Eben damit lässt sich operieren, wie überhaupt die Unterschrift einer der wesentlichen Operatoren eines Texts ist. „Operatoren“ der Schrift hat Kittler jene Elemente eines Textes genannt, die sich (eigentlich) nicht sprechen lassen, jeden­ falls (wenn man nicht akademischen Unsitten folgt) tatsächlich nicht gesprochen werden wie der Titel, die Ränder, das Motto, die Fußnoten und eben die Unter­ schriften.53 Der Signifikant ist verfügbar, nur damit kann man operieren. Opera­ tive Verfügbarkeit steht für ein politisches Merkmal der Unterschrift, wenn „poli­ tisch“ heißt: über andere zu verfügen, Macht über sie auszuüben. Dabei ist noch nicht entschieden, wer hier über wen verfügt, ob der Unterschreibende über Mit­ welt und Nachwelt oder diese über ihn. Die Urkunde gibt in dem Maße zu Zwei­ feln Anlass, wie sie (vielleicht) Fragen beantwortet. Man muss nur genauer hinse­ hen. Die Form der Schriftbestandteile unterbricht damit die Präsenzillusion jeder Rede und hat Derrida von Anfang an zu dekonstruktiven Operationen über Ti­ tel und Unterschrift motiviert.54 Die Unterschrift ist gerade nicht, was sie zu sein scheint. Sie ist nicht verbindlich. Es sind Juristen (und solche, die es gerne gewor­ den wären), die auf Unterschriften dringen, und es sind Juristen, die über schon unterschriebene Texte urteilen. Deren Einfluss beruht auf theoretischen Voraus­ setzungen: Die Unterschrift gibt einen Musterfall für flottierende Signifikanten ab. Niemand kann genau wissen, was sie bedeutet, ihre Genauigkeit besteht eben in der ungenauen Bezeichnung von Etwas, und dieses Etwas legen Juristen spä­ ter im Streitfall fest. Die Unterschrift besetzt beim Schreiben den Platz, den der Sprechakt beim Re­ den einnimmt, genauer gesagt: den bestimmte, von Austin katalogisierte Hand­ lungen einnehmen sollen.55 Kein Sprechakt kommt ohne normative Grabgaben aus, die ihn beglaubigen, würdigen und fortleben lassen, wenn er vergangen ist, 52 Kent D. Lerch, Verständlichkeit als Pflicht?, in: ders. (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 1: Recht verstehen, Berlin 2004, 244. 53 Friedrich Kittler, Vom take off der Operatoren, in: Norbert Haas/Rainer Nägele/Hans-Jörg Rheinberger (Hrsg.), Im Zug der Schrift, München 1994, 193–202. 54 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie (1972), hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, 291–314. 55 Derrida (Fn. V. 54), 304.

180

V. Medien des Rechts

und keine Unterschrift darf sich im bloßen, also im schlichten, einfachen Schrei­ ben erschöpfen. Einerseits muss und soll sie etwas Besonderes sein, andererseits muss das durch sie eingeführte Besondere auch anerkannt und beglaubigt werden. Die Unterschrift beglaubigt, würdigt und lässt zunächst in ganz explizierter Weise fortleben, indem sie zitiert, was als literarische Existenz des Schreibers gilt: sein Name. Man muss mit seinem Namen unterschreiben und zwar grundsätzlich mit dem vollständigen Namen, und man muss diesem Namenszug eine besondere, un­ verwechselbare, als individuell anerkannte Form geben. Es wird nicht unterschrie­ ben in den Buchstaben des Alphabets für Erstklässler, es darf aber auch nicht un­ terschrieben werden mit dem Krakel des Vorschulkindes oder der einfachen Welle des Vielschreibers. Individualisiert ist eine Unterschrift nur, wenn sie einerseits noch lesbar, andererseits auch nicht von jedermann ohne Mühe jederzeit nachge­ macht werden kann. Das ist selbst noch zum Gegenstand höchstrichterlicher Ent­ scheidungen geworden.56 Wenn also François Ponge einen Text mit seinem Na­ men unterschreibt und das so zitiert wird (signé Ponge), kann man mit der leichten phonetischen Verschiebung durch Derrida zu signe éponge die Unterschrift zum Schwamm werden lassen. Sie saugt den Text gleichsam auf. Dekonstruiert man so ihre Originalität, dann entdeckt man, dass sie von lauter Konventionen, Normen und Fremdbestimmungen umstellt ist. Im französischen Text Derridas heißt das: „La signature est mise en abyme (du propre) elle-même: exappropriation“.57 Die Übersetzung müsste einen literaturwissenschaftlichen Exkurs über die Funktion eines mise en abyme und einen ökonomischen über die expropriation einschlie­ ßen. Meine Fassung lautet: Die Unterschrift ist der Text im Text schlechthin: EntAneignung. Zur Zeichnung  – behauptet der Chef-Dekonstrukteur  – gehört die Gegenzeichnung und verweist auf eine juridische Form, die in der Zeit der Kre­ ditkarten etwas aus der Mode gekommen ist: auf den Reisescheck, amerikanisch: traveller cheque,58 der bei seiner Ausstellung unterschrieben und bei seiner Bege­ bung gegengezeichnet wird, damit der Schecknehmer die Authentizität der Un­ terschrift prüfen möge, während der Akt des Unterzeichnens als Gegenzeichnen in seiner Gegenwart vorgenommen wird. Wiederholbarkeit (Iterabilität) wird auf diese Weise zur Grundlage der Originalität.59 Die Unterschrift überlebt in ihrer originalen Identifizierbarkeit den Schreiber. Sie markiert seinen Tod, so dass es kein Wunder ist, wenn sie als Schrift unter To­ desdokumenten eine doppelt prominente und konstitutive Rolle spielt. Der Name nimmt immer schon den Tod seines Trägers vorweg, und der Träger eines Na­ mens trägt ihn eben deshalb, weil er in dieser Weise jenseits seiner zeitlichen Ge­ 56 Johann Braun, Metaphysik der Unterschrift, in: Egon Schneider, Zivilprozeß und Praxis: Das Verfahrensrecht als Grundlage juristischer Tätigkeit. Festschrift für Egon Schneider zur Vollendung des 70. Lebensjahres, Herne 1995, 447–464 (462f). 57 Jacques Derrida, Signéponge, Paris 1984, 106. 58 Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Frankfurt a. M. 1991, 65. 59 Derrida (Fn. V. 54), 298.

3. Unterschriften

181

genwart benannt werden kann. Als Benannter muss man nicht mehr gegenwärtig sein. Man darf dann sterben. Die anderen, die noch Anwesenden erledigen das Ge­ schäft, die Bedeutung des Namens aufrufen zu können und zu sagen, was der Be­ nannte meinte.60 Diese paradoxe Struktur lässt sich an jenen Schriftstücken ver­ anschaulichen, die gerade das Allerbesonderste, nämlich den angeblich letzten Willen eines Unterzeichners enthalten, die Testamente. Testamente sind nur Er­ klärungen, wenn sie eigenhändig unterschrieben sind. Ihren Adressaten – also den (vermeintlichen) Erben, die sich solcher Schriften bedienen wollen – hilft es nichts zu behaupten, die Schriftzüge des Schriftstückes wiesen wegen ihrer Originalität den Schreiber doch zweifelsfrei aus, es sei eben seine Schrift und was er geschrie­ ben habe, gelte so, wie es da stehe. Weder kann man allein aus einem Text wissen, was der Unterschreibende wirklich meinte, noch erklärt der Text sich selbst. Jeder unterschriebene Text wird zum Geflecht in den Operationen der nächsten Inter­ essenten, und damit tritt der unterschriebene Text in den Prozess ein, in dem alle Texte sich im Rechtsverfahren wiederfinden. Er ist Teil des Interpretanten. Die Unterschrift wird auf diese Weise in einem Dreieck platziert, in dem sie in nicht nur eine Ecke gehört. Sie bedeutet selbst etwas, sie steht unter einem Text, der etwas bedeutet, und sie verweist auf Prozesse, in denen diese Bedeutungen benannt werden. Die Unterschrift versteht sich keineswegs von selbst, sie ereignet sich in wiederholten Prozessen, die besagen sollen, was es heißt, dass sie unter einem be­ stimmten Text steht. Aber insgesamt steht alles, was sich ereignet, in dieser text­ bezogenen Ereignisbeziehung. Insofern machen Unterschriften keine Ausnahme. Die Ereignisse bilden den Mittext oder Kontext, der nicht stumm ist, sondern mit der Schrift gelesen werden muss. Jedenfalls trügt die Erwartung, unterschrie­ bene Texte seien verlässlich. Auch diese Texte werden ausgelegt wie alle ande­ ren auch, und es ist nicht vorhersehbar, welches Ergebnis dabei herausprozessiert wird – wenn überhaupt prozessiert wird. Vielleicht fügt sich jemand in das unter­ schriebene und einmal gedeutete Ergebnis, so wie andere es präsentieren. Aber das steht unter dem Vorbehalt des Vielleicht. Wenn es vielleicht anders ist, schlägt die Stunde der Rechtspolitik. Juristen gestalten, und sie gestalten besonders wirksam mit der ständig wiederholten Versicherung, hier werde nichts gestaltet, schon gar nicht juristisch, alles sei schon vorweg so gewollt und entschieden. Dabei lehrt die Praxis der Auslegung, dass die Bedeutung des unterschriebenen Textes verschoben werden kann und verschoben wird – wenn man denn überhaupt wissen könnte, was der Text vor seiner Auslegung bedeutete. Die Politik, die hier am Werk ist, macht sich nicht lautstark bemerkbar. Die Politik der Unterschrift oder genauer: der ge­ staltende Umgang mit unterschriebenen Texten bleibt still. Man muss geduldig zu­ sehen, um ihn zu entdecken. Das Politische liegt schon in dem steten Fordern und Beharren auf Unterschriften und in der größeren Verfügbarkeit über Texte wie Teilnehmer der semiotischen Beziehung. Unterschriften brechen die Einheit von Autor und Text auf, von Mitteilung und Bedeutung wie auch von Sender und Emp­ 60

Derrida (Fn. V. 54), 313.

182

V. Medien des Rechts

fänger der Mitteilung – vorausgesetzt es gibt oder gab überhaupt jemals eine solche Einheit. Man unterschreibt die Texte anderer, man teilt mit einem unterschriebenen Text nicht nur dem Adressaten etwas mit und löst den so autorisierten Text aus seinem Entstehungszusammenhang. Aber die dogmatische Lehre des Rechts un­ terstellt, dies seien nur sekundäre Wirkungen. Primär werden Pflichten unter An­ wesenden begründet, die Anwesenden verständigen sich darüber, was verpflich­ tend sein soll und haben erst danach Grund, den anderen auf das Ergebnis dieser Verständigung zu verweisen. Informale mündliche Verständigungen genügen des­ halb „eigentlich“, sie sind so gut und so viel Vertrag wie das mit Unterschriftsfe­ derhalter unterschriebene und archivierte Textexemplar. Wenn dennoch immer mehr Unterschriften in Beziehungen wie Kauf, Miete, Darlehen, Handwerker- oder Arztleistungen eingeführt, für Hotelunterkünfte, Ge­ brauchtwagen oder Getränkelieferungen der Namenszug unter allgemeinen Ver­ tragsbedingungen verlangt und vielleicht nur noch Ölbilder oder Rennpferde frei­ händig verkauft werden,61 dann bestimmt nicht mehr die juristische Semantik über das Phänomen. Offenbar gewinnt man mit der Unterschrift etwas anderes. Die­ ses Etwas gilt als Beweismittel. Für den Handwerker ist es nützlich, den zahlungs­ unwilligen Kunden auf seine Unterschrift unter dem Auftrag zu verweisen, der Möbelhersteller möchte nur zu seinen unterschriebenen Geschäftsbedingungen verkaufen, der Getränkelieferant verschafft sich einen Beleg über die Abwicklung seiner Verkaufstour, und auch der Arzt möchte darauf verweisen können, dass er den Patienten schon zuvor auf sein mögliches Ableben und allerlei schlimme Ne­ benfolgen eines Eingriffs hingewiesen hat. Man weiß nicht, ob alle diese Doku­ mente, Belege und Auftragspapiere für die künftige Rechtswelt oder gar für die Welt von Bedeutung sein werden. Meist verbleiben sie in der Bedeutungslosigkeit. Niemand interessiert sich mehr dafür. Aber es sind ja auch nur Beweismittel. Was sie genau beweisen, weiß man erst, wenn das Thema eines Streits einmal formu­ liert ist. Bis dahin bezeichnen Unterschriften auf Dokumenten etwas Unbestimm­ tes, an dem erst noch gearbeitet werden muss, damit man weiß, was es bedeutet. Semiotisch gesehen ist die Unterschrift ein Signifikant, nicht mehr und nicht we­ niger, und wie alle Signifikanten sind auch Unterschriften Machtmittel. Sie zwin­ gen zum Textgehorsam – solange nicht der Aufstand gegen die Zeichen einsetzt. 4. Verhandlungen Juristische Zeichenprozesse sind in formale Organisationen eingebunden. Das hat Folgen für ihren Verlauf. Es sind regelmäßig mehrere beteiligt, die unter­ schiedliche und meist gegensätzliche Interessen verfolgen, aber in ihren Beiträgen aneinander anschließen müssen. Die Stationen dafür sind formal vorgegeben, auch die Art der Beiträge ist bereits geregelt. Das macht es erforderlich, sich nicht nur 61

Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, Frankfurt 1968, 182 f.

4. Verhandlungen

183

auf eigene Ergebnisse zu beziehen, sondern fremde Meinungen und Darstellungen in den eigenen Vortrag einzubeziehen. Im Verfahren stehen Selbst- und Fremdbe­ zeichnungen nebeneinander, also Zeichen, mit denen sich Subjekte reproduzieren und selbst darstellen, neben solchen, die andere produziert haben und zu denen man Stellung nehmen muss,62 und schließlich stellt der Kommunikationsprozess selbst, an dem die einzelnen Subjekte nur teilnehmen und auf den sie sich bezie­ hen müssen, eine Fremdreferenz dar. „Verhandeln“ heißt dann wesentlich mehr als sich zu streiten, seine Meinung zu äußern oder einem anderen zu widersprechen. Alle sind beteiligt an einem Dritten, sie beziehen sich auf etwas Drittes und sollen ein anderes Drittes bewirken. Das ist die Logik des Mediums. Die Verhandlung hat ein Ziel und endet nach Zielerreichung. Allerdings kann sich im Laufe des Pro­ zesses etwas als Ziel erweisen, das keiner oder zumindest einige der Beteiligten so gar nicht verfolgt haben. Spätestens daran wird klar, dass der Rechtsprozess als Kommunikationsprozess ein eigenes System darstellt, in dem Ziele verfolgt wer­ den, die keiner der Beteiligten als vorrangig gesehen hat, wie beispielsweise die Erledigung einer Sache. Interpretantenbewegungen werden von außen im Modus der Zweitheit vorbereitet. Das macht Verhandlungen zu einer nicht immer belieb­ ten Aktivität. Sie dienen nicht der Selbstverwirklichung, auch wenn Selbstdarstel­ ler daran teilnehmen. Erstheit, Zweitheit und Drittheit sind allgemeine Kategorien, mit denen Zei­ chenprozesse organisiert sind. Sie lassen sich deshalb für Bewusstseinssysteme genauso unterschieden wie in Kommunikationssystemen, wobei man Ausprägun­ gen unterscheiden kann. Peirce war in der Nachfolge Kants ein Analytiker des in­ dividuellen Bewusstseins und hat auch in seinen öffentlich wirksamen Beiträgen individuelle Überzeugung, eigene Ideen oder persönlichen Zweifel als Auslöser, Forum und Ziel aller Interpretation vorgestellt. Andererseits ist schon mit der Ka­ tegorie der Zweitheit ebenso wie mit dem Begriff des Interpretanten ein äußerer gesellschaftlicher Bezug hergestellt, wenn auch bezogen auf die Operationen eines reagierenden und agierenden Subjekts. Man muss sich die äußeren Faktoren be­ reits verarbeitet in der Gesetzmäßigkeit eines Interpretanten denken, um so etwas wie Gesellschaft, Anschlussnotwendigkeit und Verhandlungsmöglichkeit denken zu können. Gerade Verhandlungsmöglichkeiten sind nicht das, was einzelne Teil­ nehmer dafür halten. Im Medium der Verhandlung lernen alle Beteiligten, wel­ che Vorstellungen über Möglichkeiten „realistisch“ sind und dem Test der Zweit­ heit standhalten, die sich als weitere Möglichkeitsvorstellung in den weiteren Verlauf einspeisen lässt. Wegen dieser Rückwirkungen fällt Verhandeln in münd­ licher Form leichter als schriftlich. Die schriftliche Verhandlung setzt in der Re­ gel die formale Organisation durch anwaltliche Gepflogenheiten voraus, weil ge­ rade Schriften dazu einladen, eigene Vorstellungen auszubreiten und den Zwang mindern, Fremdes mit eigenen Vorstellungen verbinden zu müssen. Die mündliche 62 Katharina Sobota, Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, Frankfurt a. M. u. a. 1990, 26–29.

184

V. Medien des Rechts

Verhandlung ist immer das Feld für die Ausbildung von Fremdreferenzen, wobei formal organisierte Systeme diesen Prozess erleichtern. Man braucht nicht nur an­ wesende Andere, man braucht auch eine Prozessordnung als Geschäftsordnung, die als mächtiger gedacht wird als jeder Anwesende. Dass man nicht allein sein kann beim Verhandeln, ist ziemlich offensichtlich. Niemand kann mit sich selbst verhandeln, auch dann nicht wenn man sich die Sicht anderer versuchsweise an­ eignet und zum Platztausch in der Lage ist. Alle diese Operationen bleiben Teil des subjektiven Bewusstseins. In einer Verhandlung treffen mindestens zwei – meist sind es mehr – Bewusstseinssysteme aufeinander und operieren. Darüber hinaus ist der Ablauf rechtlicher Verhandlungen in den Prozessordnungen formal geregelt und kann auf alle medial vergleichbaren Situationen übertragen werden. Grob und von außen gesehen kann man als Stationen Eröffnung, Themenfestlegung und die Abfolge thematischer Beiträge der unterschiedlichen Beteiligten unterscheiden. Ob Verhandlungen ein Ergebnis haben, vor allem eines, das für alle Beteiligten verbindlich wirkt, ist damit weder angelegt noch vorbereitet. Viele Verhandlun­ gen verlaufen ergebnislos. Aber bevor man nach der Möglichkeit von Ergebnissen fragen kann, muss man sich die Sequenzen der Eröffnung, Themenfestlegung und Beitragsabfolge näher ansehen. Sie machen das Medium aus. Die Eröffnung einer Verhandlung erfolgt in der Verfahrensform (Kap. VI. 3.) durch Feststellung der Präsenz und Identität der anwesenden Personen. Beispiel­ haft ist das in der StPO geregelt (§ 243 Abs. 1 StPO). Präsenz ist das erste Merkmal der Verhandlung und unterscheidet sie von allen bisher erörterten Medien (§ 226 StPO). Akten werden geführt, um die Gegenwart der Berichtspersonen entbehr­ lich zu machen, Archive sind dem Begriff nach der Ort nicht mehr aktueller Vor­ gänge, und auch die Unterschrift setzt zwar Anwesenheit voraus, wird aber geleis­ tet, um gegenüber Abwesenden als Mittel zu dienen. Die Verhandlung geht zwar in einzelnen Passagen in Akten ein, ist aber ein Medium für Anwesende. Man kann nur verhandeln, wenn die Beteiligten anwesend sind. Dieser an sich ausnahmslos und selbstverständlich erscheinende Satz erfährt im Justizdispositiv dennoch eine sogar normierte Ausnahme: Es kann auch gegen Abwesende verhandelt werden, wenn sie zur Verhandlung wirksam geladen worden sind und ohne Entschuldi­ gung fehlen. Das ist ein hochgradig künstlicher Vorgang, der zeigt, welche media­ len Abwandlungen durch institutionelle Vorkehrungen möglich sind. Die Gerichts­ verhandlung im Zivilprozess institutionalisiert das Versäumnisurteil (§§ 330, 331 ZPO), dessen Verhandlung mit den Feststellungen bestritten wird, dass von zwei Parteien eine fehlt, sie geladen worden ist und ohne Entschuldigung der Verhand­ lung fernbleibt. Die eigentliche Bedeutung dieser Feststellungen, über die jeden­ falls in der Säumnisverhandlung selbst nicht gestritten wird, liegt in ihrem Erfolg. Es kann ein Versäumnisurteil ergehen, und solche Urteile sind Vollstreckungs­ titel wie alle anderen Titel auch.63 „Prozess ohne Gesetz“ hat Johann Peter Hebel 63 Cornelia Vismann, Versäumnisurteile und andere Unverständlichkeiten, in: (Fn. II. 41), 253–261.

4. Verhandlungen

185

solche Verhandlungsergebnisse genannt und damit dem verbreiteten Gefühl zum Ausdruck verholfen, dass Verfahrensprogrammen der Gesetzescharakter eigent­ lich fehlt. In Hebels Erzählung (deren Pointe Cornelia Vismann interpretiert) tut der Klient, dessen Advokat ihm mitgeteilt hat, eine Sache sei wegen der Gesetzes­ lage nicht zu gewinnen, deshalb etwas anderes: Er reißt die entsprechende Seite des Gesetzbuchs in einem unbeobachteten Moment einfach heraus und ist dann der Meinung, damit habe er das Gesetz geändert.64 Die Geschichte betrifft im Ganzen mehr, als sie an der Oberfläche der Aktionen schildert. Nach dem tieferen Sinn der Verfahrensgesetze hätte nämlich ein Versäumnisurteil gegen den Beklagten nur ergehen können, wenn es auf dessen tatsächliches Vorbringen ankäme, nicht aber, wenn der abstrakte Gesetzestext dagegen stünde (§ 331 ZPO). Dennoch kann man sich den Ablauf so denken, wie Hebel ihn schildert. Umso mehr ist er dann ein Verhandlungserfolg – „ohne Gesetz“, durch Präsenz. Präsenz heißt aber nicht nur, dass sich überhaupt jemand als anwesend mel­ det. Es muss sich entweder um die Partei selbst handeln oder doch mindestens um einen anderen, der zur Vertretung befugt ist. Das scheint so selbstverständlich zu sein wie die Verhandlung unter Anwesenden, ist es aber tatsächlich nicht immer. Es gibt Anwesende, die über ihre Identität täuschen und sich unter falschem Na­ men verurteilen lassen. Das hat Vorteile für Drogenkuriere in Strafsachen, die vor Gericht unter anderem Namen schon aufgetaucht sind oder ihr Gewerbe in Zu­ kunft fortzusetzen beabsichtigen (was sie dem Gericht selbstverständlich nicht mitteilen). Identitätsprüfungen gehören deshalb in Strafsachen zu den Routineauf­ gaben der Polizei. Sie sind gelegentlich wirklich schwierig und können der Sache nach gar nicht in der Verhandlung selbst vorgenommen werden. Den Feststellun­ gen haftet deshalb eine Zeremonialität an, die täuscht, deren mögliche Fehler aber nur später und andernorts entdeckt werden. Bevor zur Sache verhandelt werden kann, ist außerdem noch eine Festlegung des Themas notwendig. In Hauptverhandlungen wird die Anklage verlesen. Auch das wirkt nicht selten überflüssig und zeremoniell, weil die inhaltlich Beteiligten das Thema zuvor bereits kennen, es sogar kennen müssen, damit eine Stellung­ nahme und damit der folgende Beitrag sachlich möglich ist. Obwohl aber die An­ klage vor der Verhandlung in Strafsachen zugestellt werden soll, wird sie in der Verhandlung auch verlesen. Die Klageschrift in Zivilsachen (die ebenfalls schrift­ lich vorliegen und zuvor zugestellt sein muss) braucht nicht verlesen zu werden, weil in Zivilsachen eine Bezugnahme auf Schriftsätze möglich ist (§ 128 Abs. 2 ZPO), es müssen nur sogenannte „Anträge“ gestellt, also formuliert werden, was man am Ende will. Diese können sich ändern, etwa indem der Vorsitzende in der Verhandlung auf eine Änderung hinwirkt, was aber voraussetzt, dass ein Kläger die Unmöglichkeit eines ursprünglichen Begehrens einräumt, mögliche Vagheit erkennt oder seine Forderungen reduziert. 64 Johann Peter Hebel, Der Prozess ohne Gesetz, in: ders., Poetische Werke, Darmstadt 1978, 340–342.

186

V. Medien des Rechts

Als Verhandlung gilt allen Beobachtern der Austausch eigener thematischer Beiträge oder die Wechselrede. Die geschilderten Verhandlungen sind deshalb mündlich. Sie geben der Stimme Ausdruck. Das muss nicht die eigene sein, viel­ mehr äußern sich in Zivilsachen grundsätzlich und auch in Strafsachen weitgehend Rechtsanwälte als Vertreter ihrer Mandanten, und zwar auch dann, wenn die Man­ danten selbst anwesend sind. Die mündliche Verhandlung gibt insofern der subjek­ tiven Symbolorganisation (Kap. III. 1.) jeder Partei Zeit und Stimme. Man kann sich ausbreiten und steht vor der Frage, wie viel oder wie wenig Rede tunlich sei. Da sind die Varietäten beträchtlich. Mündliche Beiträge in Zivilsachen sind noto­ risch knapp, und man fragt sich manchmal, weshalb überhaupt verhandelt wird. Wer das fragt, hat aber in der Regel die thematische Funktion der Beiträge nicht richtig bestimmt. Nicht immer geht es um das Angekündigte, jeder Beteiligte kann Korrekturen vornehmen, Abstufungen anbringen und auf besonderes Wichtiges hinweisen, womit gleichzeitig anderes in den Hintergrund rückt. Mit dem eige­ nen mündlichen Beitrag setzt man für die anderen, die zuhören, einen Akzent und operiert gleichzeitig in der Vorher/Nachher-Struktur des Verfahrens. Jedem Bei­ trag ist ein anderer vorangegangen, an den er anschließt, ob der Beiträger es will oder nicht. Wer nicht Bezug nimmt, läuft Gefahr, dass die anderen den Bezug her­ stellen (weshalb – Kap. V. 1. – Aktenkenntnis und ausdrückliche Bezugnahme so bedeutsam sind). Wer es aber tut, entwickelt damit das Thema, und zwar nicht un­ bedingt in dem von ihm gemeinten Sinn, denn die Verfahrenskommunikation bil­ det einen eigenen Sinn aus, für den es beispielsweise eine Rolle spielt, ob sich ein Ergebnis im Sinne einer Erledigung abzeichnet, während der Beiträger in der Ver­ handlung an den eigenen Erfolg denkt. Ein wichtiger Sinn steckt insofern in der Dialogstruktur des Verfahrens. Jede Verhandlung bedeutet eine mögliche Chance, und ist auch aus eben diesem Grund zur modernen Pflichtausstattung des Verfahrens geworden.65 Verfassungen ver­ pflichten die Justiz auf gerechtes und öffentliches Verfahren (so Art. 10 der Reso­ lution 217 A (II) der Generalversammlung der UN v. 10.12.1948) und sind damit auch auf mündliche Verhandlungen festgelegt. Art. 6 EMRK normiert ein Recht auf faires Verfahren und enthält in Abs. 1 den Anspruch auf eine öffentliche Ver­ handlung. Da schriftliche Verfahren aus Akten-Akten (Kap. V. 1.) bestehen, kön­ nen sie nicht öffentlich sein. Mündlichkeit wirkt im Vergleich dazu als Fairness­ garant, wobei noch zu überlegen ist, worin genau der Fairnessanteil liegen kann.66 Mündliche Verhandlungen dienen selten der sachlichen Aufklärung oder Informa­ tionsgewinnung. Die ist aktuell und mündlich nur möglich, wenn sich ein Betei­ ligter offensichtlich täuscht und sein Irrtum aus dem Redebeitrag ersichtlich wird. Aber das ist speziell und weist auf eine recht zufällige Streuung und Zerstreuung der Aufmerksamkeit hin. Aufmerksamkeitsverteilungen sind in der Verhandlung 65

Fritjof Haft, Verhandlung und Mediation. Die Alternative zum Rechtsstreit, 2.  Aufl., München 2000. 66 Dorothea Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, Frankfurt a. M. 2000, 44, 356.

4. Verhandlungen

187

unzuverlässig und bieten weniger Richtigkeitsgewähr als eine ordentliche Akten­ kenntnis. Etwas anderes macht die Besonderheit des Mediums aus, und dieser Be­ sonderheit ist eigen, dass sie sich in den herkömmlichen Prozesslehren nicht son­ derlich gut ausdrücken lässt und in den ungefähren Begriff der „Unmittelbarkeit“ des Verfahrens eingelagert wird. Mündliche Verhandlungen gelten als unmittelbar im Gegensatz zur Mittelbarkeit des Aktenverfahrens, in dem selbst die Beteilig­ ten denjenigen, der Akteneinsicht hat (im Zweifel den Advokaten), fragen müssen, worin der Verfahrensgegenstand eigentlich besteht. Wenn Gerichte demgegenüber eine Entscheidung „unmittelbar“ treffen, heißt das verfahrensmäßig, dass Tatsa­ chen, die der Entscheidung zugrunde liegen, nur auf Wahrnehmungen gestützt werden dürfen, die Richter während der Verhandlung gemacht haben. Man kann diesen Grundsatz dahin steigern, dass auch nicht etwa schriftliche Aussagen in den Akten vorgelesen oder selbst gelesen, sondern die Aussagenden selbst gehört werden müssen. Die Unmittelbarkeit einer Verhandlung und Beweisaufnahme be­ steht dann nicht nur darin, dass die Verfahrensbeteiligten selbst anwesend sind, um zu verhandeln, sondern auch das Beweismittel muss persönlich und unmittel­ bar zur Verfügung stehen, um sich befragen zu lassen. Das ist weniger spannend, als man denkt, und führt dazu, dass ein großer Teil einer Verhandlung darauf ver­ wendet wird, aktuell auszubreiten, was die Beteiligten aufgrund ihrer Aktenkennt­ nis schon wissen oder erwarten. Nur gelegentlich gibt es dabei Überraschungen, und darauf wird gewartet. Die spannende, latente Frage des Mediums richtet sich auf diese Neuigkeiten: Wann und unter welchen Bedingungen kann man erwarten, dass Unmittelbarkeit Neues hervorbringt, wie kann man in einer Verhandlung einen „Einsatz“ erbrin­ gen – un enjeu, um eine wichtige postmoderne Vokabel von Lyotard aufzunehmen. Im Merkzettel zur Lektüre des Widerstreits erläutert Lyotard den enjeu wörtlich als das, was auf dem Spiel steht: „Enjeu. Convaincre le lecteur que la pensée, la connaissance, l’éthique, la politique, l’histoire, l’être, selon le cas, sont en jeu dans l’enchaînement d’une phrase sur une phrase.“67 Ein solcher Einsatz über Gedan­ ken, Wissen, Ethik, Politik oder Geschichte wird in der Verhandlung gemacht, sie ist das „Spiel“, in dem man etwas aufs Spiel setzt, und Sätze aneinander anschließt, einen mit dem anderen „verkettet“ (l’enchaînement d’une phrase sur une phrase). Auch und gerade weil das nicht verlässlich klingt, muss hervorgehoben werden, wie wichtig diese Öffnung zu einem alternativen Ausgang ist. Er kennzeichnet das Medium der Verhandlung. Es wird nicht verhandelt, wenn man verlautbart, was man schon weiß. Eine Verhandlung besteht auch nicht darin, der Gegenseite klar­ zumachen, wie falsch ihr Vorbringen nun eigentlich ist, ebenso wenig wie man sich von dieser Gegenseite den eigenen Impuls abspenstig machen lassen darf. Schließ­ lich wird auch nicht verhandelt, weil am Ende eine Entscheidung stünde, obwohl die juristischen Prozessordnungen das nahelegen. Entscheiden kann man besser, wenn man nicht mündlich verhandelt. Verhandelt wird über die Alternative, das 67

Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983 (dt.: Der Widerstreit, München 1987), 11.

188

V. Medien des Rechts

mögliche Andere, das wirklich werden kann. Der Einsatz (l’enjeu) – sagt Lyotard – bestimmt die Beiträge zum Diskurs nämlich nur wie ein Zweck die Mittel bestim­ men kann.68 Es gibt also immer viele, zumindest mehrere Mittel, einen Zweck zu erreichen, und über den jeweiligen Einsatz werden nur die unpassenden ausge­ schlossen. Alle anderen bleiben möglich. Lyotard distanziert die Diskursentwick­ lung damit von dem aus der Rhetorik bekannten Modell, wonach der Redner das Publikum überzeugt oder verführt – je nach moralischer Bewertung der Zwecke. Auch die Bedeutung und der Redner selbst werden verführt durch ce qui est en jeu dans le genre de discours. Habermas hat das mit ähnlich paradoxen Attributen den „zwanglosen Zwang“ des Diskurses genannt. Wenn der Einsatz im Diskurs alle seine Instanzen – Redner, Adressat und Gegenstand – verändert und wenn diese Veränderung über viele, aber nicht beliebig viele Möglichkeiten vonstatten gehen kann, dann zeigt sich darin die Besonderheit der Verhandlung als eines Mediums. Sie bewirkt das unmerklich – vielleicht, möglicherweise, wenn es sich ereignet. Die Verhandlung inszeniert – semiotisch gesehen – Erstheit, die in dieser Form weder durch Akten noch gar durch Archive zu gewinnen ist. Die firstness der Rechtsdurchsetzung (nicht des Rechts schlechthin) ereignet sich nur im Medium der Verhandlung. Firstness ist hier eine vorsymbolische Qualität, mit der kommu­ niziert wird, ohne dass sich die Beteiligten begrifflich darüber im Klaren sind, was sie tun. Beziehungsqualitäten wie Eitelkeit und Starrsinn oder Nachgiebig­ keit und Empathie können nicht begrifflich mitgeteilt werden. Wer das versucht, zerstört sie im gleichen Moment und macht Empathie zur Eitelkeit und Nachgie­ bigkeit zum Selbstlob. Solche Beziehungsqualitäten kann man nicht explizit he­ rausstreichen oder voranstellen. Sie verändern sich, wenn man es tut. Gelegentlich erfährt das Publikum später, dass die deutsche Vereinigung zwischen „Strick­ jacke“ und ­„Pullover“ ausgehandelt worden sei und die Streitpunkte der Verhand­ lung durch Gespräche in den kaukasischen Bergen erledigt worden seien. Das sind alles schwierig erfassbare Prozesse, schwierig auch für die aktuell Beteilig­ ten, die ein Gefühl dafür entwickeln müssen oder es möglicherweise schon ha­ ben, auf welche Weise das, was einer fühlt und für möglich hält, verwirklicht wer­ den kann. Was in einer Verhandlung möglich ist, was firstness ist, lässt sich selbst nur in der Kategorie der firstness erleben und wird daher als „Erfahrung“ etiket­ tiert, die man erwerben müsse. Ein alter Fahrensmann einer Hauptverhandlung mit 160 Sitzungstagen weiß darüber mehr und anderes als der aktuelle Sitzungs­ beobachter. Vor allen Dingen verlangt das Gespür für Möglichkeiten eine Um­ codierung. Der Streit im Rechtsstreit muss verschoben werden, und man muss die Streitpunkte ändern, Wichtiges von Unwichtigem oder weniger Wichtigem tren­ nen. Dabei ist verhandlungswichtig durchaus nicht, was juristisch für die Begrün­ dung eines Anspruchs wesentlich erscheint. Die Rechtsdisziplin mit ihren binären Codierungen und den damit verbunden Fehlervorstellungen führt tendenziell das Gegenteil von Verhandlungs­erfolgen herbei, nämlich Frontstellungen. Mit rechts­ 68

Lyotard (Fn. V. 67), 187 (dt.: 215).

4. Verhandlungen

189

begrifflichen Ausschlussvorstellungen kann man dem anderen Fehler attestieren und Gräben ziehen. Aber damit verhandelt es sich nicht gut. Das Medium der Ver­ handlung führt deshalb die Paradoxie mit sich, dass es juristischer Form bedarf, um eine Verhandlung überhaupt herbeizuführen, so dass Anwälte, Termine, Ver­ fahrensordnungen und Reihenfolgen das Medium ausmachen, dann aber gleich­ zeitig auch mit der Erfahrung arbeiten, wie wenig hilfreich juristische Begriffs­ formen sind, um sich im Medium der Verhandlung zu bewähren und in ihm zu kommunizieren. In der Verhandlung nützt die herkömmliche juristische Ausbil­ dung nicht viel, und jeder muss selbst erfahren, wie man Interessen vertritt und zwischen ihnen vermittelt. Diese Philosophie der Verhandlung lässt sich nicht so leicht in Rezepten klein­ arbeiten, aber selbstverständlich geschieht das dennoch und führt seit Länge­ rem zu teils mehr strategisch, teils eher argumentativ ausgerichteten regelrech­ ten Schulen, die Kurse verkaufen können. Bekannt und berühmt geworden ist die nicht zufällig von einem amerikanischen Juristen, Roger Fisher, gemeinsam mit William L. Ury, plakativ betitelte Devise: Getting to Yes, die seitdem unter dem Stichwort „Harvard-Konzept“ verbreitet wird.69 Wie immer in solchen Fällen eig­ net sich der Ansatz eigentlich ziemlich schlecht als Rezept, wird aber doch so ver­ wendet. Die Harvard Law School bietet regelmäßig Verhandlungsprogramme zu diesem Konzept an, nimmt dafür selbstverständlich Geld und verspricht greifba­ ren Erfolg mit dem Program on Negotiation (abgekürzt als PON). Die wesentliche firstness, die es dabei zu erlernen gilt, ist nicht von Fisher/Ury erfunden worden, sondern hat psychologische und rhetorische Tradition. Es geht um vier skills, die in der Kommunikationslehre von Paul Watzlawick und seinen Mitarbeitern nur et­ was anders formuliert worden sind,70 nämlich: (1) die Trennung von Inhalts- und Beziehungsebene, (2) die Trennung zwischen Meinung (oder aktueller Position) und (wirklichem) Interesse, (3) die Steigerung oder Vervielfältigung der Ergebnismöglichkeiten und schließlich (4) der Versuch einer Objektivierung von Beurteilungskriterien. Die grundlegende Kompetenz ist die Entdeckung einer Beziehungsebene, die mit den vertretenen und formulierten Inhalten nicht identisch ist. Nicht selten mu­ tet Juristen das spekulativ an, obwohl sie selbst es sind, die auf diese Trennung achten, wenn sie fragen: Was ist das für ein Richter? Mit welchem Gefühl bear­ beitet ein Staatsanwalt das von der Kriminalpolizei vorgelegte Ermittlungsergeb­ nis? Versteht der Rechtsanwalt den Hintergrund der von ihm wortreich vorgetra­ 69

Roger Fisher/William Ury/Bruce Patton, Das Harvard-Konzept (am.: Getting to Yes, 1981), 23. Aufl., Frankfurt a. M. 2009. 70 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (1967), 4. Aufl., Bern 1974.

190

V. Medien des Rechts

genen Sache? Wie lange möchte ein Kläger wohl ein Verfahren führen, in dem er eine Geldzahlung durchsetzen will? Es gibt unzählige solcher und ähnlicher Fra­ gen, die von dem manifest ersichtlichen Akteninhalt wegführen und Aufschluss über die Möglichkeiten einer Verhandlung bieten. Wenn Personen eine besondere Objektposition besetzen und mit Sachen nicht identisch sind, dann können auch die Positionen einer Person von ihren Interessen unterschieden werden. Notwendig ist dafür freilich ein dialektischer Kunstgriff, der nicht jedem gelingt und auch nicht von allen akzeptiert wird. Wer die mei­ nungsmäßige Verlautbarung, also die „Position“, trennt von dem, was jemand sinn­ vollerweise beanspruchen oder als sein „Interesse“ wollen kann, verschiebt da­ mit den konkreten Anderen auf ein virtuell besseres Etwas. Man weiß dann eben besser als derjenige, der sich so positioniert hat, was der andere wollen soll. Eine solche Verschiebung gelingt nur, wenn sich auch der Andere auf eine solche Ver­ schiebung (man kann sie – ohne das Problem damit zu lösen – auch „Transforma­ tion“ nennen) einlässt. Die Steigerung der Ergebnismöglichkeiten erweitert eine Alternative zu einem Vielebenen-Wunschkonzert. Das beflügelt die Phantasie und kann dazu verhelfen, über den durch Entgegensetzungen nicht lösbaren Streit hinwegzukommen. Jeden­ falls geschieht dann im Medium der Verhandlung, was im Aktenvortrag gerade verboten ist. Schriftsätzlich soll ein Antrag formuliert werden als Summe dessen, was ein Anspruchsteller nach seiner Meinung und seinem Rechtsverständnis für sich konkret erreichen möchte: Geld gezahlt, eine Leistung erbracht bekommen o. a. Alle Anspruchsteller bemerken schon bei der Antragstellung, dass bezifferte Geldzahlungen viel leichter formuliert werden können als alle anderen Wünsche und Ideen. Die Verhandlung über Ideen geht umgekehrt vor und beflügelt, was schriftsatzmäßig unformuliert bleibt. Mit der vierten Strategie, die zur Objektivierung von Beurteilungskriterien füh­ ren soll, ist man dann wieder bei traditionell juristischen Fähigkeiten angelangt und findet sich auch inmitten der allfälligen Schwierigkeiten wieder, „Objekti­ vität“ gewinnen und vermitteln zu können. Die Schwierigkeiten beruhen auf der Differenz zwischen Interpretanten und Interpretationen. Die als Zeichengegen­ stand objektivierten Interpretationen sind nicht identisch mit den Bewegungen, die dazu geführt haben, so dass niemand, der Objektiviertes verwendet, sicher sein kann, dass er noch das beurteilt, worum es zuvor ging. Die Chancen, die Verhand­ lungen als Medium eröffnen, verweisen gleichzeitig auch auf die semiotischen Grenzen. Verhandeln allein reicht also nicht aus, um eine Institution und ein Ver­ fahren zu gewährleisten. Darüber hinaus sind weitere Vorkehrungen und Vorrich­ tungen erforderlich, die das Dispositiv der Justiz ausmachen. Akten-Akte, Archive, Unterschriften und Verhandlungen sind allesamt Medien, in denen justizorganisatorisch über Rechtsbegehren verhandelt wird. Das Begeh­ ren nach staatlicher Reaktion und nach dem Einschreiten der Justiz ist von diesen Medien nicht zu trennen.

VI. Das Justizdispositiv Im Mittelpunkt des Rechts steht die Justiz. Das ist ein Ensemble von Objekten, von Personen und Sälen, von Gebäuden und Befugnissen, von Urkunden, Siegeln und Akten, auch von Vollstreckungen, Verhaftungen und Bestrafungen. Die Jus­ tiz reicht mit diesen Objekten in die Zeichenrepräsentationen des Rechts hinein und irritiert sie, die Justiz ist im Recht indexikalisch präsent. Weil das so ist, ru­ fen Rechtszeichen nach Interpretanten oder nach Interpretation. Die Interpretation soll möglichst so beschaffen sein, dass sie zum Ensemble des vergegenständlich­ ten Rechts und damit zu den Dispositionen der Justiz in dem gleichen Verhältnis steht wie die Rechtszeichen selbst. Das ist einmal mehr die Peircesche Formel für Zeichen, diesmal präsentiert als interpretatorische Herausforderung für Rechtszei­ chen, als gedanklicher Zwang und als Gewohnheit für alle diejenigen, die von der disponiblen Präsenz des Justizdispositivs belangt werden. In der Justiz wird über Recht disponiert, „verfügt“ – sagen die Richter selbst, für die alles, was sie tun, wenn sie nicht gerade entscheiden, „Verfügungen“ sind. Der Ausdruck „Justizdispositiv“ ist ein Neologismus, den Juristen alter Schule gern verspotten. Aber wie immer kommt es trotzdem auf das Wort an. Es enthält nicht nur eine Umformulierung und Zusammenfassung richterlicher Arbeitsweise, es konkretisiert einen Zentralbegriff der Lehre vom Rechtszeichen, die in wesent­ lichen Teilen Michel Foucault geschuldet ist, aber hier nicht werkgerecht einge­ ordnet werden soll. Das Justizdispositiv dürfte ein „Teildispositiv“ sein,1 das dem Inhalt jeden möglichen Rechts erst die wirkliche Form gibt. Das Dispositiv der Justiz macht aus dem Recht, das als erstes Gefühl vorhanden ist, etwas anderes, das Begehren auslöst, Befriedigung hinausschiebt und Leiden verursacht. Es ist das Recht des Apparats, und das Dispositiv ist eben ein Apparat, im Französischen (le dispositif) eine Vorrichtung. Diese Vorrichtung ist gespannt zwischen der ge­ sellschaftlichen Not und dem Begehren nach Entscheidung über zentrale Lebens­ inhalte, und sie endet mit der institutionellen Not, dass dieses Begehren nicht er­ füllt werden kann. Dazwischen wirken Faktoren, die an der Verschiebung des Begehrens ins Verfahren und während des Verfahrens arbeiten: Wahrheit, Form, Körper und Zweikampf. Zu beginnen ist mit der Not derjenigen, die von der Jus­ tiz etwas begehren (1.). Die zentrale Verarbeitungsform beruht auf dem Willen zur Wahrheit, der nicht geleugnet werden darf, aber doch auch nicht so erfüllt wird, wie man sich Wahrheit emphatisch vorstellt (2.). Wahrheit unterliegt wie alle Ver­ fahrenshandlungen einem Formenzwang (3.). Die Form als Programm prägt, was die Justiz wirklich tut, sie macht die indexikalische Zweitheit des wirklichen 1

Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht, Wien u. a. 2006, 315.

192

VI. Das Justizdispositiv

Rechts aus. In dieser Kategorie herrschen Zwang und Not. Es gibt Körperzwänge, die nicht in Schlägen und Folter bestehen (4.). Das Dispositiv der Justiz ist keine Idylle, denn der Prozess, den sie anbietet, ist ein Zweikampf oder gefühlter Krieg (5.). Das Recht in Justizform macht Leiden, wie der Krieg alle leiden macht – die, die ihn gewinnen, wie diejenigen, die ihn verlieren. Das Gefühl für Siege und Nie­ derlagen, das man beim Fußball (schneller, übersichtlicher als die Justiz, aber für Zuschauer meist folgenlos) erleben darf, gewinnt im Justizdispositiv Leiden schaf­ fende Wirklichkeit. Dieses Gefühl macht sich nur im Hintergrund bemerkbar, während der Vordergrund von einnehmenden Diskursvorstellungen besetzt wird. Das Ziel des Prozesses verursacht Entscheidungsnot (6.), um die man durchaus gern herumkommt, wenn man die Möglichkeit dazu hat. 1. Rechtsbegehren Am Anfang jeden Verfahrens steht ein Rechtsbegehren. Mit diesem Ausdruck wird bezeichnet, was jemand von einem Gericht will. Aber oft wissen die Betei­ ligten gar nicht wirklich, was sie wollen, und man sagt ihnen, was sie wollen kön­ nen oder sollen. Das Begehren bewegt sich in verschiedenen Modi. Technisch soll es notwendigerweise einen Antrag enthalten, dem der Richter entsprechen kann, und wenn dieser Antrag nicht bereits formuliert ist, soll das Gerichtspersonal­ darauf hinwirken, dass dies später in geeigneter Form geschehe. Das Begehren richtet sich immer auf einen Spruch, also eine Entscheidung, nicht auf Begründun­ gen, und die Kunstfertigkeit bei der Abfassung besteht darin, diese Besonderheit zu beachten und zu wissen, was ein Gericht in einem Ausspruch, dem dispostif du jugement, (nur) erfassen kann.2 Notwendig dafür ist die Sprache des Tenors, die etwa lautet: Die Klage wird abgewiesen. Das ist ein einfacher Satz, der häufig vor­ kommt. Ebenso einfach, aber geradezu von Seltenheitswert begleitet, ist demge­ genüber der Ausspruch: Der Angeklagte wird freigesprochen. Darauf richtet sich ein Rechtsbegehren, das jeweils mit mindestens einem anderen konkurriert, dem anderen nämlich, das eine Verurteilung ausspräche. Rechtsbegehren müssen im­ mer mit einer Konkurrenz rechnen, sie sind binär strukturiert, entweder gibt man ihnen statt oder nicht und weist sie ab. Begehrt wird, dass die eingerichteten Or­ ganisationen in einer für den Begehrenden günstigen Weise tätig werden. Begehrt wird die Justiz als Machtfaktor gegenüber jemand anderem, möglicherweise ge­ genüber dem Staat selbst, der sie eingesetzt hat. Sie möge das schwache Ich erwei­ tern und durchsetzen, was andere zu Unrecht verweigern. Diese Art des Justiz­ begehrens hat erst mit der Formulierung des Begehrens ein Objekt. Aber keine Entscheidung kann dem Mangel an Sinn durch den Akt des Entscheidens abhel­ fen. Das kann manifesten Ausdruck darin finden, dass die Gründe der Entschei­ dung gerade nicht den Begründungen entsprechen, die der Begehrende selbst bei­ gebracht hat. Er wollte zwar den ergangenen Ausspruch, aber er wollte ihn aus 2

Seibert, Zeichen (Fn. V. 20), 79.

1. Rechtsbegehren

193

anderen Gründen. So wird der Angeklagte freigesprochen, aber nicht, weil er nicht Täter wäre, sondern nur, weil er sich über das Verbotene seines Tuns irrte. Wenn die Tat in einer religiös motivierten Beschneidung, vorgenommen an zur Einwilli­ gung nicht fähigen Unmündigen, besteht, ist die Aufregung groß. Spätestens dann ist offenbar geworden, dass ein Begehren unbefriedigt geblieben ist, obwohl ihm entsprochen worden ist. Häufig steht am Anfang eines Verfahrens aber noch kein spezielles, auf ein be­ stimmtes Ziel hin ausformuliertes Rechtsbegehren, wie es die Form des gericht­ lichen Antrags verlangt, am Anfang steht beispielsweise nur ein beharrlicher, sich wiederholender Anspruch auf sofortige allgemeine Befriedigung, der in dieser subjektiven und allgemeinen Form nicht erfüllt werden kann. Wer sich seines Geg­ ners bemächtigen will, wer ein Kind für sich haben will, wer nicht ausgleichbaren körperlichen Schaden doch ausgeglichen oder wer einfach auch nur Geld gezahlt sehen will – der wird erfahren, dass diese Begehren entweder überhaupt erfolglos bleiben oder – soweit sie im Justizsinne „Erfolg“ haben – ihre Durchsetzung nur teilweise, zu spät, zu teuer und insgesamt jedenfalls unbefriedigend ausfällt. Statt­ dessen kann und muss im Verfahren gelernt werden. Dabei bildet sich das Begeh­ ren möglicherweise um, es richtet sich auf etwas anderes und berücksichtigt die Bedingungen und Grenzen des Verfahrens. Das vehemente, drängende Begehren des Anfangs mag eine beweglichere Form annehmen, sich von den Wechselfällen des Streits faszinieren lassen auch in dem Sinne, dass jeder Begehrende Ausdruck für seine Person gefunden hat oder noch finden kann, kurz: Das Begehren nimmt eine Form an, die in Bewegung bleibt und nicht mehr am eigenen Ausdruck klebt. Sieht man die doppelte Richtung des Begehrens – ausgehend vom Begehrenden und umgeformt, geformt wie verformt durch die Institution, in der es befriedigt werden soll –, dann stehen sich Gefühle gegenüber, deren Konkurrenz nicht zu ver­ meiden ist. Das Gerichtsdrama ist ein Wettbewerb der Gefühle. Da ist das übliche, professionelle Gefühl der Gerichtsarbeiter, der Juristen eben, die meinen, man habe es ja immer nur mit Laien zu tun, die nicht sähen, was sie wollen sollten. Das ist ebenso richtig, wie es falsch ist, denn diese „Laien“ wollen eben nicht das, was die Institution bietet. Gleichwohl agieren sie in ihr. Viele tun das nicht freiwillig, wie überhaupt Freiwilligkeit eine Einstellung ist, die in einem Verfahren, das einen An­ fang und ein gerichtetes Ende hat, kein wesentlicher Faktor ist. An einem Verfah­ ren nimmt man nicht freiwillig teil, es zwingt eine Not oder Notwendigkeit, die teilweise auf ausdrücklichem Zwang beruht, wenn Haftbefehle, Verfügungen oder Anordnungen erlassen werden, und ansonsten zwingt zum Verfahren die innere Not des Begehrenden. Das gilt nicht nur für Justizverfahren, in denen oft die For­ mel herrscht, sie würden „von Amts wegen“ betrieben, was nichts anderes heißt, als dass man den Beteiligten ein Verfahren aufzwingt. Es gilt auch für therapeu­ tische Verfahren, in die sich normalerweise auch niemand einfach freiwillig be­ gibt, sondern aufgrund eines Antriebs, eigener Not oder fremden Einflusses, hal­ ber „Freiwilligkeit“. Wenn man nur diese Nöte in den Vordergrund stellt, kommt man schnell zu jener Art von Rechts- und Justizkritik, die bürokratisches Handeln

194

VI. Das Justizdispositiv

lächerlich macht, die Langsamkeit der Organisationen beklagt und insgesamt auf Seiten der Institutionsvertreter Nichtverstehen, Verdrehung, Verschiebung und was dergleichen mehr ist, beanstandet. Man kann diese Art der Kritik in dem Spruch zusammenfassen, wer Gerechtigkeit gewollt habe, bekomme den Rechtsstaat. Das ist ein halb resignativer, halb angriffslustiger Satz, den andere von der DDR-Bür­ gerrechtlerin Bärbel Bohley zitiert haben. Unreflektiert bleibt im Wollen der Ge­ rechtigkeit nämlich die Art und Weise ihrer Realisierung, die sich eine Prüfung gefallen lassen muss und den einfachen Zugriff auf das Richtige in systematischen Zweifel zieht. Das Rechtsbegehren ernst nehmen heißt nicht ihm entsprechen – was freilich die Institutionsvertreter für sich in Anspruch nehmen möchten unter der Maßgabe, dass die Institution bestimme, was „Entsprechung“ heiße. Das Rechtsbegehren beruht auf der Not der Begehrenden, bei einer Institution Zuflucht nehmen zu müssen, und es bleibt eben deshalb nicht sachlich, gibt sich aber so. Justizbegehren haben die eigentümliche Form, dass wir etwas begehren, das wir vielleicht besser nicht begehren sollten, würden wir frei und autonom ent­ scheiden können. Wenn man nach einer Grundparadoxie im Verfahren sucht, dann liegt sie im Gegeneinander von désir und urgence. Diese Stichworte stammen von Michel Foucault, der mit ihnen subjektive Beteiligung und objektive Machtaus­ übung verbindet. Das Gegeneinander von désir und urgence richtet das Begehren auf etwas Unerreichbares, über das unter Knappheitsbedingungen und damit öko­ nomisch disponiert wird. Als Dispositiv bestimmt Foucault „une sorte – disons – de formation, qui, à un moment historique donné, a eu pour fonction majeure de répondre à une urgence“.3 Das Begehren formiert sich über Knappheit, und da es nicht befriedigt wird, auch gar nicht befriedigt werden kann, wird die Verschie­ bung seriell ausgestaltet, nämlich im Instanzenzug, der neuzeitlich zur Grund­ ausstattung des Rechtsstaats gehört. Das Justizdispositiv bildet Serien aus, mit denen das Begehren nach verlorener Einheit und der Mangel an Bestätigung ver­ knüpft werden. Beides muss erläutert werden, denn unter dem Aspekt des Begeh­ rens denkt man zwanglos, der Begehrende wolle sich im Verfahren seines Geg­ ners bemächtigen oder sich den Inhalt des Rechts aneignen. Aber das trifft schon den Ausgangspunkt der Bewegung nicht richtig. Am Anfang des Begehrens steht ein Verlust. Am Anfang steht die Wahrnehmung, dass etwas, das da sein sollte, es nicht mehr ist. Es ist fort. Das Recht ist fort, und nur deshalb begibt man sich auf den offensichtlich mühseligen Weg der Anrufung der Justiz, der Abfassung eines Antrags und des Gangs in ein Verfahren. Merkwürdigerweise wird dann im Ver­ fahren der Verlust wiederholt.4 Man muss den gegenwärtigen Zustand als Unrecht beklagen, muss reklamieren, dass etwas fehlt, das mithilfe eines gerichtlichen Ausspruchs wieder erlangt werden kann. Gern wird diese Wiedererlangung in­ strumentell gedeutet. Das Gericht und der dort erlangte Titel wären dann Mittel 3

Le jeu de Michel Foucault (Gespräch zwischen D. Colas, A. Grosrichard, G. Le Gaufey, J. Livi, G. Miller, J. Miller, J.-A. Miller, C. Millot, G. Wajeman, Juli 1977), in: Michel Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 3, Paris 1994, 299. 4 Vismann (Fn. I. 13), 19–37.

1. Rechtsbegehren

195

zur Wiederherstellung des Rechtszustands. Eine ausreichende Deutung liefert die­ ses instrumentelle Verständnis aber nicht, vor allem dann nicht, wenn man eben keinen Titel erlangt und das Mittel zur Wiederherstellung des verlorenen Rechts­ guts dessen Verlust vertieft. Dann darf man meist noch eine zweite Instanz an­ rufen, um auf diesem Weg möglicherweise noch einmal den Verlust bestätigt zu sehen. Dies alles scheint eine merkwürdige Form zu sein, um ein Begehren zu befriedigen. Denn es geht nicht mehr um die Erfüllung eines Wunschs, sondern tendenziell immer auch um die Vertiefung des Verlusts. Was beklagt wird, kann durch das Verfahren erst recht abhanden kommen. Das Rechtsbegehren gehört damit gesellschaftlich wie individualpsycholo­ gisch auf die Seite jener Antriebe, die auf Befriedigung jenseits des Lustprinzips zielen. Um zu veranschaulichen, was das bedeutet, hat der Entdecker dieses Be­ wusstseinsbereichs ein Kinderspiel zitiert, das seitdem den Fort-Da-Impuls sym­ bolisiert. „Fort“ ist eine kleine Spule, die Freuds Enkel Ernstel an einem Bindfa­ den aus seinem Bettchen wirft. Wenn die Spule wirklich an jenem Faden hängt, kann er sie wieder zurückziehen, und wenn sie dann „da“ ist, dieses Erscheinen – wie Freud notiert5 – durch „ein lautes langgezogenes o-o-o-o“ feiern. Nicht immer ist das der Fall. Dann sind Spule oder andere Gegenstände einfach nur fort, und Ernstel beklagt ihr Fortsein, wenn sich nicht jemand – das Kindermädchen – der fortgeworfenen Gegenstände erbarmt und sie dem Kind zurückbringt. Das kom­ plette Spiel besteht also im Verschwinden und Wiederkommen, wobei nur der zweite Akt – wie man sich denken kann – mit Lust besetzt ist. Dennoch wird es oft nur mit dem ersten Akt gespielt. Individualanalytisch deutet Freud das Fortwer­ fen als Inszenierung, mit der sich das Kind für das Fortgehen der Mutter entschä­ digt. Die Entschädigung gelingt selbst dann, wenn der fortgeworfene Gegenstand nicht mehr erscheint, versteht man das Wegwerfen als symbolische Rache für das Fortgehen, so wie es Freud in den Satz kleidet: „Ja, geh’ nur fort, ich brauch’ dich nicht, ich schick’ dich selber weg“.6 Für Freud liegt in der immer neuen Aktuali­ sierung der Geste eine zwanghafte Wiederholung, die weit über das Kinderspiel und das Kindesalter hinaus zu beobachten ist. Im Spiel, im Traum, in der Phanta­ sie wird wiederholt, was Schmerz bereitet hat – merkwürdigerweise und obwohl die Psychoanalyse im Jahre 1900 mit der Traumdeutung noch das Axiom enthielt, die unbewussten Hervorbringungen seien sämtlich als Wunscherfüllung zu deu­ ten. Im Jahre 1920 nach Flandern, Verdun oder Galizien fügt Freud dem Wunsch ein Komplement bei, die ein Opfer der Psychoanalyse, dann selbst Analytikerin geworden, ihr schon fast ein Jahrzehnt zuvor beigegeben hat. Sabina Spielrein, die Patientin des Analytikers Jung und dessen fallen gelassene Geliebte, hat die De­ struktion neben der Lust als zentrale Triebfeder des Begehrens bezeichnet.7 Sabina Spielrein wusste nichts vom kleinen Ernstel und hatte eine ganz andere Erfahrung 5

Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: (Fn. I. 48, Bd. III), 224 f. Freud (Fn. VI. 5), 226. 7 Sabina Spielrein, Die Destruktion als Ursache des Werdens, in: dies., Sämtliche Schrif­ ten, Freiburg 1987, 98–143 (134). 6

196

VI. Das Justizdispositiv

zu bewältigen: von ihrem Vater geschlagen worden zu sein – eine Erfahrung, die paradoxerweise zur Wiederholung drängt, obwohl sie für sich genommen nega­ tiv ist. Das Negative, Bedrängende, Vernichtende wird nicht als Lust empfunden und dennoch begehrt. Insofern hat Freud ausdrücklich seine frühere Annahme re­ vidiert, Phantasmen seien immer Ausdruck von Lust.8 Aber auch die Unlust muss wiederholt, in ständig wiederkehrenden Praktiken und Vorstellungen gelebt wer­ den, wenn es nicht gelingt, den Zwang zur Wiederholung analytisch zu brechen. Aus den ersten Hinweisen von Sabina Spielrein und der späteren Theorierevision durch Freud geht dann in verallgemeinerter Form die These hervor, dass individu­ elle Begehren unter Umständen zur Wiederholung negativer Erfahrungen drängen. Das ist – auch hier: unter Umständen – der Fall des Rechts. Die Übersetzung individualanalytischer Deutungen in gesellschaftsbezogene Theorien ist nun ein anfechtbares Unterfangen. Sie verrät die Erfahrung der Pa­ tienten in dem Maße, wie eine solche Übersetzung umgekehrt gesellschaftstheo­ retisch nahegelegt wird. Freud nimmt sie selbst vor,9 enthält sich aber hier wie an anderer Stelle einer Deutung des Rechtsverfahrens. Immerhin ist der einzelne Rechtsprozess auch ein individuelles Ereignis und muss auf das Begehren nach Zeichen reagieren. Die These lautet: Das Rechtsverfahren, in das die Beteilig­ ten sich gedrängt fühlen, wiederholt die ihnen zugefügte Verletzung und wird ge­ rade deshalb trotzdem gesucht. Es ist eine probeweise, spielerische oder theatrale Variante des Verlusts (Kap. VIII.), also weder – wie manche denken – die Reali­ tät selbst oder – wie Juristen es gern sehen – der Ort zur Ermittlung der Wahrheit. Es ist der Ort, den Verlust zu wiederholen und sich selbst noch an Verbrechen we­ gen deren Darstellung zu erfreuen. „Nachgespielt werden muss, was aus der Ord­ nung der Sprache herausfällt.“10 Das Rechtsbegehren wird im Verfahren und ins­ besondere in der mündlichen Verhandlung in ein Theater des Urteils kanalisiert (Kap. VIII. 1.). Begehrt wird ein Spruch über ein als Verlust, oft als großen tragi­ schen Verlust empfundenes Geschehen. Begehrt wird, was erst einmal nicht wie­ derherstellt werden kann, sondern  – wie der Gesetzgeber der Naturalrestitution weiß – niemals mehr so wie vorher, d. h. vor dem Verlust wieder erscheinen kann. Im Gegenteil darf man erfahren: Das Rechtsverfahren vertieft das Leiden erst ein­ mal und lässt offen, was es später dafür erscheinen lässt. Den Normen über das Verfahren zufolge muss sich ein Rechtsbegehren auf eine Entscheidung richten. Die Entscheidung ist erst und nur dann da, wenn der Rechts­ verlust schon eingetreten ist. Sie bezieht sich – wie man weiß – auf Vergangenes, berichtet zunächst über den Rechtsverlust, erzählt den Tatbestand und bringt dann das Recht zur Geltung. So sind Urteile gedacht. Aber es bleibt unklar und allein der gerichtlichen Aufführung überlassen, ob und wann wirklich entschieden wird, ein Urteil also wirklich „da“ ist. Ob eine Sache zur Entscheidung reif ist (§ 300 8

Freud (Fn. VI. 5), 242. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: (Fn. I. 48, Bd. IX), 63–134. 10 Vismann (Fn. I. 13), 34. 9

1. Rechtsbegehren

197

ZPO) und tatsächlich entschieden wird, ist nicht definiert und bleibt der theatra­ len Seite des Gerichts überlassen. Das Gericht kann immer noch etwas für auf­ klärungs- und erörterungsbedürftig ansehen und Termine dafür bestimmen, es kann aber auch – obwohl die Parteien noch manches als aufklärungs- und erörte­ rungsbedürftig ansehen – die Sache entscheiden, weil das Übrige, auch subjektiv für wichtig Gehaltene es objektiv, im Rechtssinne doch nicht ist, vielmehr „uner­ heblich“ erscheint. Immer wieder hat es in der Geschichte des Zivilprozesses Ver­ suche gegeben, den Rechtsstreit funktional, entscheidungsorientiert und vor allem: schleunigst, schleuniger jedenfalls als zuvor üblich, auszugestalten. Der Erfolg ist bescheiden geblieben, und selbst wenn ein Urteil ergeht, bewirkt es in der Regel nicht das, was die Begehrenden damit für sich haben erreichen wollen. Befriedigt wird auch das Entscheidungsbegehren niemals. Ein Begehren ist ein Begehren, weil es – man darf an eine ähnliche Formulierung Lacans erinnern – nicht befriedigt werden kann. Das beseitigt aber seine Wirksamkeit nicht, mindert das Begehren auch nicht, im Gegenteil! Daraus ergibt sich die spezifische Wirk­ samkeit des Justizdispositivs. Denn disponiert wird über Justizbegehren, und Be­ friedigung suchen die Petenten in der Entscheidung, auch wenn sie sie nicht erhal­ ten. Das Begehren setzt sich fort, ist nicht etwa dauerhaft erschöpft und bedarf zu seiner Verarbeitung und Verwaltung differenzierter Einrichtungen oder Vorrich­ tungen (Dispositive), die im Recht (aber nicht nur dort) in Verfahren gebündelt werden. In einem Verfahren wird arbeitsteilig auf zeitlich gestreckten Stationen über das Begehren disponiert. Das Justizdispositiv beruht auf diesem Begeh­ ren und inszeniert es im Forum. Dort kämpfen die Auftretenden um das Urteil, und zwar historisch vor dem Prätor auf dem römischen Forum.11 Was man nach­ disputatio und Spruch im Forum erhalten konnte, war ein Urteil, das auch im rö­ mischen Verfahren erst vollstreckt werden musste, wenn es nicht freiwillig befrie­ digt wurde. Das Forum gewährt also nicht ohne Weiteres Befriedigung, wenn man nicht schon durch die Aufführung des Rechts befriedigt wird. Wenn man den Charakter des Rechtsbegehrens als Wiederholung eines Verlusts mit Ausgleichshoffnung ernst nimmt, kann man Rechtsverfahren mit Verfahren anderer Disziplinen vergleichen. Die Justiz selbst bedient sich anderer Verfahren oder verweist darauf, weil inzwischen bekannt ist, dass die Art und Weise, in der justiziell über persönliche Verletzungen, intime Beschädigungen oder Auseinan­ dersetzungen im Nahbereich disponiert wird, den Beteiligten nicht guttut und die Begehrenden unbefriedigt lässt. Als Notmaßnahmen ergeben sich aus dieser Ein­ sicht gewisse prozessuale Schranken. Privatklage (§ 373 StPO) kann man nur er­ heben, wenn ein Sühneversuch vor einem Schiedsmann vorausgegangen ist. Das Verwaltungsgericht darf man in der Regel erst anrufen, wenn ein Widerspruchs­ verfahren vor der Behörde vorausgegangen ist. Aber auch wenn nichts Derartiges notwendig vorausgehen muss, sind im Justizdispositiv Schleifen eingebaut, die den 11 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002, 193.

198

VI. Das Justizdispositiv

unmittelbaren Zugriff auf eine Entscheidung verwehren. Der streitigen mündlichen Verhandlung in Zivilsachen muss eine Sühneverhandlung vorausgehen, in der das Gericht regelmäßig versucht, einen Vergleich zu vereinbaren (§ 278 Abs. 1 ZPO). Schließlich hat es sich eingebürgert, dass bei sozialer Nähe der Streitenden eine ge­ richtsnahe Mediation empfohlen wird. Alle diese vorgerichtlichen Beilegungsak­ tivitäten müssen auf einen Antrieb verzichten, den die Beteiligten mit dem Recht notorisch verbinden. Das ist als symbolische Drittheit die Kategorie der Wahrheit, und wenn es nicht schon direkt um Wahrheitsermittlung und Beweiserhebung geht, dann spielt immerhin der Wille dazu eine wesentliche Rolle. Noch vor der Justiz bürdet Wahrheit den Verfahrensbeteiligten eine schmerzhafte Last auf und dispo­ niert über sie. Dabei ist nicht entscheidend, ob Wahrheit wirklich ermittelt wird, mindestens müssen Wille und Möglichkeit bestehen, sie zu ermitteln. Historisch gesehen, ist das Rechtsverfahren zu diesem Zweck umgebaut worden. Das archai­ sche Gottesurteil und der mittelalterliche Zweikampf sind ersetzt worden durch ein Verfahren zur Ermittlung der äußeren Welt, bei dem so wenig wie bei Zweikampf und Gottesurteil sicher ist, was wirklich aus der Welt in die Justiz dringt. Nur eines hat sich verändert. Herrschen soll:

2. Der Wille zur Wahrheit Im Grunde sind die Zeichenketten des Rechts nicht auf Wahrheit angewiesen. Im Gegenteil lässt sich das Normengefüge erst dann richtig entfalten, wenn man darauf vertrauen kann, dass in der Zwischenzeit niemand die Daten des Sachver­ halts (der sich eben verhalten muss und einhalten soll, was er zu sein verspricht) verändert, die Wahrheitsfrage also keine Rolle mehr spielt. Erst dann schlägt die Stunde der Rechtsdogmatik. Das moderne Recht schätzt Wahrheit zwar hoch ein, verabschiedet die damit zusammenhängenden Fragen aber gern und bald. Den Rechtsfragen kann man sich nämlich erst widmen, wenn Wahrheitsfragen keine Rolle mehr spielen. Das Verhältnis beider ist prekär, weshalb es für die Disziplin wesentlich ist, das eine vom anderen getrennt zu halten. Recht ist nicht identisch mit der Wahrheit der Tatsachen, und es ergibt sich auch nicht einfach aus wahren Tatsachen. Die akademische Rechtsarbeit ist begrifflicher Natur. Sie befasst sich nicht mit dem Staub der Straßen und den Schlägereien des Lokals. Die Trennung von Tat- und Rechtsfrage, die das moderne Recht bestimmt, exis­ tiert nun zwar, ist aber nicht mit einer eigenen Lehre darüber verbunden, wie denn Tatsachenwahrheit und rechtlich-normative Richtigkeit eigentlich getrennt von­ einander behandelt werden sollen. Das eine – obwohl getrennt – mischt sich im­ mer wieder in das andere hinein, und Recht, das um den Preis des Verzichts auf Wahrheit erkannt wird, möchte heutzutage kaum jemand mehr verteidigen. Nur für die Revisionsinstanz gilt etwas anderes. Sie isoliert künstlich die Rechts- von der Wahrheitsfrage. Aus der Perspektive von Revision und akademischer Rechtslehre hat es immer wieder Neuigkeitswert, wenn man sagt, dass der ganz überwiegende

2. Der Wille zur Wahrheit

199

Teil gerichtlicher Arbeit in der Feststellung der Tatsachen, also dessen, was „wahr“ ist, besteht. Auch insofern tun sich Rechtsfragen auf, Fragen, die man gerne als „bloß prozessual“ oder „formal“ bezeichnet und damit auch ablegt. Denn auf wel­ che Art und Weise man Wahres sagen kann und soll, macht den operativen Kern des Justizdispositivs aus. Dass Rechtsarbeit in der Feststellung von Tatsachen be­ steht und es für diese Feststellung ein besonderes Verfahren gibt, in dem Wahrheit zunächst darzulegen und zu behaupten, sodann – wenn „streitig“ – zu beweisen ist: Dieser auch in sich komplizierte Mechanismus macht den disponiblen Teil und da­ mit die steuernden Operationen des Justizdispositivs aus.12 Der Tat­sacheneinwand betrifft das Recht oder die normerzeugenden Operationen gewissermaßen nur von der Seite, man kann ihn – wie es in der Revision geschieht – mit Recht ausschlie­ ßen, aber man kann ihn nicht insgesamt für nebensächlich erklären. Was als In­ halt einer Norm gelten soll, muss als wahr angesehen werden können. Der Wille zur Wahrheit erfasst alle rechtlichen Zeichen. In Methodenlehre und Rechtsphilosophie gilt die Frage nach der Wahrheit als Prämissenklärung. Mit der Wahrheitsfrage kann man den Geltungsanspruch einer Norm bestimmen. Thematisiert werden dabei zum einen logische Wahrheitswerte­ tafeln,13 womit gewisse Sprachbeschränkungen verbunden werden, oder es werden allgemeine wahrheitstheoretische Probleme aufgeworfen, die zum Verfahrenspro­ gramm einen nur lockeren Bezug haben.14 Praktisch lernen Juristen, dass Rechts­ arbeit an der Wahrheit im Verfahren der Darlegung und des Beweises von Tat­ sachen stattfindet. Beides muss man trennen, wenngleich Juristen wie Zuschauer fast immer nur von „Beweis“ reden, wenn es um Streit im Tatsächlichen geht, da­ bei aber ein großzügiges Verständnis der Beweismittel haben. Zum Programm gehört stattdessen, zunächst einmal der Erzählung oder Darle­ gung eines Beteiligten zu glauben. So, wie für jede Partei außerhalb der Angeklag­ tenrolle eine Wahrheitspflicht gilt (§ 138 Abs. 1 ZPO), so sind Zuhörer gehalten, auf das zu achten, was andere und insbesondere der Gegner sagen. Den Willen dafür bringen viele nicht freiwillig auf. Was die Gegenseite vorbringt, hält man schnell für Lüge und übersieht, dass es für die Feststellung von Lügen ein Programm von Indizien gibt. Selbstverständlich ist das Misstrauen nicht. Die Bereitschaft, etwas für eine Lüge zu halten, muss erst erzeugt werden. Indiz mag die Art und Weise sein, in der jemand etwas sagt, Indiz mag sein, dass ein Motiv vorhanden ist oder fehlt, dass ein Widerspruch besteht oder nicht. Jedenfalls ist dies alles nicht auf den ersten Blick festzustellen. Zunächst einmal glaubt man – auch bei Gericht – dem Erzählten, und dementsprechend sollen die Beteiligten zunächst einmal nur sagen, worum es sich handelt und was sie selbst für wahr halten. Wir w ­ erden gezwungen – 12 Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik. Auslegung, Begründung, Subsumtion, 4.  Aufl., Heidelberg u. a. 2006, 136. 13 Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, 37; Fritjof Haft, Juristische Rhetorik, 6. Aufl., Freiburg u. a. 1999, 139. 14 Günter Ellscheid, Strukturen naturrechtlichen Denkens, in: (Fn. I. 28), 164 f.

200

VI. Das Justizdispositiv

kann man mit einer an Foucault angelehnten Maxime sagen –, rückhaltlos und je­ derzeit die Wahrheit zu sagen.15 Wahrheit ist dann eine Eigenschaft der Rede, die sich aus Person und Haltung des Sprechers ergibt. Fast alle, die sich äußern, halten das, was sie selbst sagen, für wahr, aber noch lange nicht das, was sie von anderen hören. Wahrheit ist ein Fahnenwort für die eigene Rede. Ich bin mit mir selbst im reinen Wahren – so ähnlich könnte man die erste Botschaft jeder alltäglich pro­ zessualen Rede übersetzen, die mit ihr verbundene Erstheit. Es scheint deshalb so zu sein, dass man für Wahrheit gar keinen irgendwie besonderen Willen aufbrin­ gen muss, sondern dass Wahrheit immer schon „da“ ist. Auf der anderen Seite ist die Bereitschaft der Zuhörer, anderen ebenfalls einen Teil der Wahrheit zuzugestehen, nicht gleichmäßig und nicht entsprechend dem Vertrauen gegenüber dem Redner verteilt. Aus der Zuhörerperspektive stellt sich die Wahrheitsfrage überhaupt nur in besonders herausgehobenen Fällen, solchen, bei denen sich Entscheidungen aufdrängen. Eine alltägliche Geschichte mag man einfach nur deshalb für wahr halten, weil sie nicht weiter interessant ist und keinen Widerspruch herausfordert. Ansonsten ist Wahrheit ein Attribut für kritische, auf­ rechte, ihrem Status nach eigentlich machtlose Redner. Wahrheit adelt in der Si­ tuation, und kritische Situationen bescherte ursprünglich die Volksversammlung auf der Agora, später der Rat gegenüber dem Herrscher. „Parrhesia“16 erforderten diese Situationen, die Liebe und den Willen zur Wahrheit, wie sie Michel ­Foucault als Tugend herausgearbeitet hat. Man kann aus diesen historischen Rückerinne­ rungen entnehmen, dass nicht jeder Wahrheit für sich beanspruchen kann und nicht alle Situationen sie erfordern. Auch das gerichtliche Verfahren ist ursprüng­ lich nicht als Ort der Wahrheitssuche vorgesehen, wie wir sie uns heute vorstellen. Die Urteilswahrheit fanden die mittelalterlichen Gerichte – wie es Michel Foucault in der unter dem Titel „La vérité et les formes juridiques“ edierten Vorlesungsreihe demonstriert hat17 – in einem System der Probe (épreuve). Foucault stellt Proben des Wortes, des Schwurs und des Körpers vor,18 wobei die so genannten Gottesur­ teile sprichwörtliche Berühmtheit erlangt haben. Sie gelten der heutigen Gerichts­ auffassung als Zerrbild und Widersinn jeder Wahrheitssuche, und es war Cornelia Vismann, die unter Verweis auf Kleists Erzählung „Der Zweikampf“ das thea­ trale Dispositiv des Gerichts anhand solcher Proben erläutert hat.19 Foucault unter­ scheidet das System der Probe von einer Wahrheitssuche nach drei Merkmalen.20 Die Probe müsse man antreten oder nicht, man gewinne sie oder nicht, es handele sich also um ein binäres Spiel, das eben einen Sieger habe und keines Richters be­ dürfe, weil das Ergebnis jedermann klar sei. Wenn jemand einen Zweikampf er­ 15 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I (1976), Frankfurt a. M. 1983, 79. 16 Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1996, 12–19. 17 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen (1994), Berlin 2003, 58. 18 Foucault (Fn. VI. 17), 59. 19 Vismann (Fn. I. 13), 154–160. 20 Foucault (Fn. VI. 17), 60.

2. Der Wille zur Wahrheit

201

folgreich geführt hat, ist er der Sieger im Prozess. Erst wenn das Verständnis für diese Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist, beginnt man am Ausgang der Probe zu zweifeln. So lässt Kleist in der Novelle „Der Zweikampf“ den Sieger töd­ lich erkranken, während der eigentlich Unterlegene, der tödlich verletzt schien, auf wunderbare Weise schnell genesen ist. Vismann sieht in der wahrheitsgerichteten Ermittlung eine Umstellung in der Geschichte der Justiz. An die Stelle des Zei­ chen-Lesens trete eine Deutung, die Dritte, also Richter, vornehmen.21 Wahrheit ist neuzeitlich mit einem Verfahren und mit einer Überzeugung ver­ bunden, die sich am Ende des Verfahrens bilden soll, aus dessen „Inbegriff“, wie § 261 StPO normiert. Am Anfang steht nach wie vor die Rede, die wahrheitsgemäß sein soll und aus deren Divergenzen sich verfahrensmäßig erst der Anlass und Um­ fang einer Beweisaufnahme ergibt. Nur was umstritten ist, ist auch beweisbedürf­ tig, und es führt an dieser Stelle zu keinem Erkenntnisgewinn, wenn man auf den Unterschied von zivilrechtlicher Beibringung und amtlicher Untersuchung ver­ weist. Das ist eine bloß normative Differenz, mit der man übersieht, dass im Zivil­ verfahren schon lange (§ 139 ZPO) erörtert und untersucht werden kann, was dem Gericht erörterungs- und untersuchungsbedürftig erscheint, und im Strafverfah­ ren der Umfang des offensichtlich Wahren das Beweisbedürftige beschränkt und es normativ auch Zurückweisungsgründe für Beweisanträge gibt (§ 244 Abs.  3 StPO). Die Äußerung, die Wahrheit interessiere nicht, hat aber trotz aller Verfah­ renseigentümlichkeiten keinen Platz.22 Gebräuchlich ist ein anderer Kunstgriff, wonach Wahrheit nur insoweit interessiert, als Tatsachen von rechtlicher Bedeu­ tung sind. Unerhebliches ist gleichgültig. Damit wird Wahrheit selbst zum Teil des Dispositivs. Foucault spricht in einem Interview von einem „Wahrheitsdispositiv“, das um den wissenschaftlichen Diskurs herum institutionalisiert sei, ein „Wahr­ heitsbedürfnis“ erzeuge, konsumiert werde und in Apparaten zirkuliere.23 Für die emanzipatorische Wahrheitsbedeutung mobilisiert Foucault dagegen die beson­ ders hervorgehobenen Situationen der alten parrhesia. Die Wahrheitspflicht der Gerichtsrede, wie sie aus einer Norm wie § 138 Abs. 1 ZPO hervorgeht, unterscheidet sich von der parrhesiastischen Rede in der Volks­ versammlung.24 Gerichte zählen nicht auf parrhesia, sondern auf eine gleichsam bürokratisierte Variante einer materiell uninteressanten, weder besonders muti­ gen noch nützlichen Realitätsadäquanz. Wahrheit ist prozessual ein Geltungsbe­ griff. Als wahr gilt nach der privatrechtlich grundlegenden Regel des § 138 Abs. 2 ZPO zunächst, was vorgebracht und nicht bestritten ist. Soweit im öffentlichen Recht (also auch im Strafrecht) angeblich von Amts wegen und ohne Ansehen auf irgendwelchen Vortrag Wahrheit ermittelt wird, ändert das nichts an dem Grund­ satz, dass Unbestrittenes als wahr gilt. Außerhalb des privaten Rechtsstreits wird 21

Vismann (Fn. I. 13), 157. BVerfGE v.12.12.2012 – 2 BvR 1750/12 – (BeckRS 2013, 45462). 23 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wahrheit und Wissen, Berlin 1978, 52. 24 Foucault (Fn. VI. 16), 22. 22

202

VI. Das Justizdispositiv

nur der Umfang der Beweiserhebungen erweitert, was aber auch in Strafsachen nicht heißt, dass nun alles aufwändig zu beweisen wäre. Stattdessen wird es zur rechtspolitisch-strategischen Frage, wegen welcher Fälle man größeren Ermitt­ lungsaufwand treiben will, und hier wechseln die Prioritäten von Gewaltdelik­ ten zu Umweltstraftaten und von dort zur Terrorprävention oder Urheberrechts­ piraterie. Zum Problem, das Ermittlung und Beweiserhebung veranlasst, werden im Übrigen nur solche Fälle, in denen – wie es in einem verbreiteten Justizjargon heißt – „substantiiert“ vorgetragen wird. Substanz im Sinne der darüber disponie­ renden Justiz haben Geschichten, die nachvollzogen werden und in der einen oder anderen Weise einem typischen Vorrat von Erzählinhalten entsprechen. Schon das macht es Abweichlern schwer, etwas zu präsentieren, was zur Beweiserhebung drängt. Umgekehrt erscheint es nicht selten vergeblich, plausible, typische Ge­ schichten zu bestreiten. Zwar darf man prozessrechtlich behaupten, dass Bestrei­ ten eben einfach nur heißt, Nein zu sagen, und nichts Weiteres an Geschichte er­ fordert, aber man entfernt sich damit vom alltäglichen Geschichtenverstehen. Man sagt nicht einfach Nein zu einem Geschehen, das man nicht kennt, sondern un­ terstellt dem Erzähler, dass er Wahres berichtet. So ist die Alltagsnormalität. Sol­ che Sprech- und Verstehensregeln machen Gebrauch von einem Willen zur Wahr­ heit, nach dessen Qualität man nicht mehr sinnvoll fragen kann. Er gilt, und weil er gilt, schränkt er den Umfang des Beweisbedürftigen ein. Man darf die Beweis­ aufnahme beschränken, weil es den Willen gibt, dies zu tun, und weil Wahrheit selbst schon ein Meinungsprodukt ist. Insofern ist es auch ohne ausschlaggebende Bedeutung, ob Verfahren lang oder kurz sind, ob in ihnen aufwändig ermittelt oder nach Strafbefehlsantrag entschieden wird.25 Dennoch ist das Verfahren der Beweisaufnahme der beispielhafte Ort für den gerichtlichen Willen, Wahrheit im Verfahren festzustellen, vielleicht sogar: über­ haupt Wahrheit zu ermitteln, denn auch die alltäglichen Streitereien münden ir­ gendwann in ein Anerkenntnis dessen, was als „Beweis“ gelten soll. Im Justizdis­ positiv gibt es einen beschränkten Vorrat möglicher Beweise. Beweis erbringen die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen, bestimmte, gerichtlich angeordnete Parteierklärungen und der Inhalt von Urkunden. Was man daraus herleitet, wird in der Sprechweise der Justiz als „Feststellung“ einem Urteil vorangestellt. Wegen der Herleitungs- und Formulierungsbedingungen im Verfahren klingt juristische Wahrheit dann zwar wie alltägliche, und Juristen bemühen sich, diesen Anschein zu verstärken, beide bedeuten aber nicht dasselbe.26 Die Wahrheit des Rechts wird nach „Tatsachen“ bestimmt, die dogmatisch von Meinungen zu unterscheiden sind. Was beispielsweise über die Richtigkeit von Urteilen gesagt wird, das bleibt bloße Meinung, die so immer auch anders  – eben kontingent  – ausfallen kann. Dem­ gegenüber werden Tatsachen aus den Aussagen von Zeugen und Sachverständi­ gen, den Parteierklärungen und dem Inhalt von Urkunden hergeleitet und in der 25 Marc Thommen, Kurzer Prozess – fairer Prozess. Strafbefehls- und abgekürzte Verfahren zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, Bern 2013, 250 f. 26 Gast (Fn. VI. 12), 140–142.

2. Der Wille zur Wahrheit

203

Formulierung durch die Justiz als für alle bindende „Feststellungen“ einem Urteil vorangestellt. Tatsachen sind notwendig. Wegen der Herleitungs- und Formulie­ rungsbedingungen im Verfahren klingt juristische Wahrheit dann wie alltägliche, und Juristen bemühen sich, diesen Anschein zu verstärken. Man gebraucht für die­ sen Zusammenhang des Weder/noch und Sowohl/als-auch den Begriff der „foren­ sischen Wahrheit“, womit eben diejenigen Feststellungen gemeint sind, die nach den juristisch anerkannten Mitteln der Darlegung und des Beweises zum Gegen­ stand eines Urteils gemacht werden können. So wird das bürgerliche Formalrecht seit Max Webers soziologischer Grundlegung verstanden.27 Das Recht beglaubigt dann gewissermaßen nur noch den wahren Sachverhalt. Zwar werden Opfer wie Täter gehört, aber das moderne Gericht ist nicht gehalten, deren Rede und Zeug­ nis zu folgen. Es ist in der Beweiswürdigung frei. Die gerichtliche Wahrheit besteht nicht einfach darin, dem vorgetragenen Inhalt einer Partei oder eines Angeklag­ ten zu folgen. Das Gericht entscheidet, ob es die Parteien wollen oder nicht, und es legt den Inhalt dafür selbst fest. Will es der Rede des Angeklagten nicht folgen, spricht man von einer „Einlassung“. Einlassungen stehen in einer sprachlichen Se­ rie des Lassens: Einlassen, Auslassen, Zulassen, Vorlassen, Nachlassen – die Kon­ texte dazu changieren von salopper Alltäglichkeit über üblichen Justiz­jargon zu förmlicher Bezeichnung. Einlassungen sind alles dies: alltäglich, jargonhaft und förmlich. Einlassungen werden historisch zuerst im Zivilprozess abgegeben, der ohnehin die Grundform des Verfahrens darstellt. Köbler definiert die Einlassung als „Bereitschaftserklärung eines Beklagten, mit dem Kläger über die Klage strei­ ten zu wollen“ und übersetzt sie römisch-rechtlich als litis ­contestatio.28 Man ist also – wenn man von Einlassungen redet – mit Technizitäten des Verfahrens be­ fasst, mit der Wahrheit einer Aussage, mit der festgestellten Wirklichkeit und mit neuzeitlicher Objektadäquanz. Aber abgesehen davon, dass es sich dabei um einen technischen Ausdruck aus der Verfahrensordnung handelt, der im Gesetz nicht un­ mittelbar erwähnt wird, man also den Umgang mit Vorschriften und Verfahren ge­ wohnt sein sollte, wenn man Einlassungen hört, schwingt im Wort auch eine Be­ wertung mit, die demjenigen, über den berichtet wird und der sich selbst „einlässt“, nicht günstig ist. So war es nicht! – möchte man dem sagen, der sich einlässt, tut es aber nicht, sondern lässt alles höflich so stehen, wie es gesagt worden ist, ver­ sucht sogar genauer, als der Angeklagte es gesagt hat, zu verstehen, was mit der Einlassung gemeint sein könnte. Die Einlassung ist im Ergebnis eine Darstellung, der man nicht folgen kann, und „man“ ist das Gericht, es sind diejenigen, auf die es bei der Feststellung von Wahrheiten ankommt. Wahrheit im Justizdispositiv ist im Ergebnis eine domestizierte Angelegenheit. Die Beweismittel, vor allem der in fast jedem Beweisverfahren unvermeidliche Zeuge, sind die Instrumente der Vereinnahmung. Der Zeugenbeweis ist ein beson­ 27

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 469 f. 28 Gerhard Köbler, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, Eintrag „Einlassung“ (unter: http://seibert.biz/koeblergerhard).

204

VI. Das Justizdispositiv

ders handliches Mittel (über den noch unter dem Gesichtspunkt seiner Waffentaug­ lichkeit  – Kap.  VI. 5.  – zu berichten sein wird). Personen  – nämlich die des Gerichts – befragen andere Personen, die über den Stoff der Befragung nicht dispo­ nieren können. Zwangsläufig wird jeder, der sich in der Zeugenrolle wiederfindet, zum Objekt des Verfahrens. Eleganter und verfahrensentsprechend ausgedrückt, kann man sagen, dass subjektive Zeugnisse durch die Art der Befragung objekti­ viert und in den Zusammenhang eingeordnet werden, in den sie gehören. Man kann das auch als Instrumentalisierung ansehen. Zum Instrument der Gerichtszwecke wird die Zeugenaussage, weil sie sich jederzeit in den forensischen Begründungs­ zusammenhang nach dessen Anforderungen einpassen lässt. Man mag den berich­ teten Inhalt für glaubhaft oder unglaubhaft halten, man darf das Thema des Be­ weises für bestätigt oder widerlegt ansehen oder auch die Aussage insgesamt für unergiebig halten – in allen Fällen lässt sich etwas mit ihr begründen, und es sind die Gerichtsjuristen, die den Verwendungszusammenhang bestimmen. Ganz so einfach geht das mit dem strukturell vergleichbaren Mittel des Sachver­ ständigenbeweises nicht. Sachverständige sind ebenfalls Personen – die Prozess­ ordnungen reden von „Hilfspersonen“ –, die aber dem Gericht zugezählt werden. Als Person hat der Sachverständige eigenen Zeichenwert. Er repräsentiert im Un­ terschied zu den juristischen Beteiligten die Welt oder doch die außerjuristische Wirklichkeit. Entgegen der dogmatischen Einordnung als bloße Hilfsperson des Gerichts erweist sich der Sachverständige in Wirklichkeit als Hilfsrichter, an den die Detailfragen des Sachverhalts delegiert werden. Sachverständige erbringen in diesem Zusammenhang eine nicht geringe semiotische Transformationsleistung, indem sie die Aussagen anderer Zeichensysteme entscheidungsorientiert zuschnei­ den. Der Sachverständige operiert semiotisch als Richter im besonderen Bereich (auch wenn die Prozessdogmatik dazu anderes lehrt). Auf seine Sätze darf das Ge­ richt referieren, als seien sie eigene Feststellungen,29 d. h. praktisch: Sie können ins Urteil als Textbaustein kopiert werden – und das geschieht regelmäßig. Zwischen Sachverständigen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und die Ergeb­ nisdifferenz nicht untereinander beseitigen können, kann deshalb juristisch nicht mehr entschieden werden. Wer gegen das Votum eines Sachverständigen ein Ver­ fahren doch gewinnen will, muss schon den ganzen Tatsachenzusammenhang, über den Beweis erhoben worden ist, für unerheblich erklären. Ansonsten haben solche Versuche in aller Regel keinen Erfolg. Die Hinzuziehung eines Sachver­ ständigen signalisiert schon, dass es so etwas gibt wie „Wirklichkeit“ und die Wirklichkeit gewissermaßen eine eigene Sprecherposition erhält. Das ist auch der entscheidende Verfahrenszug: Die Sprecherpositionen werden vervielfältigt. Ne­ ben der Stimme des Klägers, des Beklagten und des Gerichts oder der des Ange­ klagten und des Staatsanwalts gibt es nun eine dritte oder vierte Ausdrucksweise, deren Gehalt und vor allem deren Ergebnis nicht ohne Weiteres kalkulierbar sind. 29 Stephan Wolff, Text und Schuld. Die Rhetorik psychiatrischer Gerichtsgutachten, Berlin/ New York 1995, 237–246.

2. Der Wille zur Wahrheit

205

Sachverständige werden programmgemäß herangezogen in Zivilsachen, wenn es um Schadensersatz oder Schadensverursachung geht oder in Strafsachen, wenn es sich um eine außergewöhnliche Tat handelt, bei der personale Besonderheiten bestehen könnten. Im Allgemeinen kann in fast allen Verfahrenslagen ein Sach­ verständiger mit einer Frage beschäftigt werden, wenn sich nur behaupten lässt, die Fragestellung erfordere besondere Sachkunde. Zeitlich gesehen, verzögert der Sachverständige die Entscheidung. Schon das ist eine eigene, nicht unwesentliche Verfahrensleistung. Die Entscheidung über Recht, die Zuteilung des Rechtsprädi­ kats an das behauptete Ergebnis einer Partei, wird zunächst einmal aufgeschoben. Zunächst einmal bleibt das Ergebnis ungewiss. Fachlich muss jeder Sachverstän­ dige, der in Rechtsverfahren tätig wird, seine Denk- und Sprechweise umstel­ len. „Forensische Erfahrung“ nennt man das, und nicht umsonst bilden Fächer, die heutzutage regelmäßig Gerichtsverfahren bedienen, eigene Zweige dafür aus. Psycho­logie und Medizin erscheinen im Verfahren als „forensische Psychiatrie“.30 Im Verhältnis zu Zeugen und Sachverständigen kommt Urkunden ein eigentüm­ lich eingeschränkter Beweiswert zu. Entstanden aus dem heiligen schriftlichen Text, pflegt die Jurisprudenz heute einen besonderen Begriff der auf einen Autor verweisenden, inhaltlich bedeutsamen und von der Diskursordnung anerkannten Urkunde. Unterschieden wird nämlich zwischen Authentizität (Wer ist Urheber?) und inhaltlicher Wahrheit (Was ist geschehen?). Die Erstellung in Urkundenform beweist zunächst einmal nur, wer etwas wem gegenüber erklärt hat. Der erklärte Inhalt wird hingegen nicht bewiesen. Auch der Ersteller einer Urkunde kann lü­ gen, und damit sind urkundliche Erklärungen so täuschungsanfällig wie alle recht­ lich relevanten Zeichen. Die Rechtsmacht der Urkunde erstreckt sich nicht auf die Richtigkeit des in ihr erklärten Inhalts. Da bei jeder Erklärung nicht nur die Mög­ lichkeit besteht, sie nachträglich ohne Willen des Autors zu verändern und damit zu fälschen, sondern damit auch die Gefahr einhergeht, einen gar nicht erklär­ ten Inhalt präsentiert zu hören, muss das Rechtsverfahren als Ganzes Schutz ge­ gen Lügen vorsehen. Das Verbot für Zeugen zu lügen und das Gebot, sich an das zu erinnern, was man noch weiß, entsprechen sich. Die Aussage- und Eidesdelikte weisen ebenso wie die Betrugs- und Urkundendelikte auf die Täuschungsanfällig­ keit der juristischen Diskursordnung hin. Der Wille zur Wahrheit verlangt deshalb wahrheitsgemäße Erklärungen im Zivilprozess selbst dann, wenn sich eine Pro­ zesspartei damit selbst schadet. Der Wille zur Wahrheit wird modern und gegen die Tradition der Rechts­ geschichte jenseits der Urkunden und jenseits des Sicht- und Hörbaren erklärt, ob­ wohl die Beweisaufnahme alle präsentierten Beweismittel einem Hörbarkeitstest aussetzt, der prozessdogmatisch „Beweiswürdigung“ heißt. Der geheime Wahr­ heitstest führt dazu, dass anerkannte Beweismittel wie Augenschein und Partei­ vernehmung (oder allgemeiner: Parteierklärung) als Beweismittel zwar vorhan­ den sind, aber ohne größere Überzeugungskraft bleiben. Der Augenschein müsste 30

Wolff (Fn. VI. 29), 8–11.

206

VI. Das Justizdispositiv

als Person dem Richter zugerechnet werden, der sich aber seinerseits nicht als Be­ weismittel eingeführt sehen möchte. Entweder ist ein Inhalt deshalb augenfällig, selbstverständlich und wird von allen akzeptiert. Dann ist auch Augenschein als Beweismittel ohne selbstständige Bedeutung. Wenn das augenscheinlich Sichtbare aber doch angefochten wird, ist Augenschein in der Text- und Personensemiotik der Moderne kein selbstständiges Beweismittel mehr. Die Erklärung einer Pro­ zesspartei wird im angloamerikanischen Verfahren als Beweismittel zugelassen, wenn sich der Beteiligte – der Angeklagte – zur Wahrheit verpflichtet. Im konti­ nentalen Prozessverfahren war das ursprünglich nicht vorgesehen, wird aber seit einer zeichensetzenden Entscheidung des EGMR (Kap. VII. 4. Beispiel 14) heute doch anders praktiziert. Die Beteiligten werden im Wege einer informellen An­ hörung unabhängig von den Schriftsätzen ihrer Anwälte (die ja ebenfalls Erklä­ rungen der Mandanten darstellen) zur Sache befragt. Am Ende einer Revue über die prozessualen Beweismittel muss man sich fra­ gen, welche Wahrheit durch die genannten Mittel eigentlich entsteht. Was erfährt man, wenn man Zeugen hört, Sachverständige Gutachten erstatten lässt, Urkun­ den verliest, die Beteiligten anhört und an den einen oder anderen Tatort fährt, um sich anzusehen, wie es dort aussieht? Was bleibt bei diesen Domestikationsformen vom Neuigkeitswert der Wahrheit noch übrig? Oder: Weist die Dogmatik der Ver­ dachtsstufen (d. h. des einfachen, hinreichenden oder dringenden Tatverdachts, wie ihn §§ 112, 160, 170 StPO unterscheiden) darauf hin, dass die Wahrheiten ge­ rade nicht in den vergleichsweise strengen Formen des forensischen Beweises zu finden sind, sondern seitlich, nebenbei oder zufällig am Wege stehen? Kriminalro­ man und Kriminalfilm widmen sich in aller Regel nicht den überschaubaren For­ men des Gerichtsverfahrens, sondern erfinden die Figur eines Detektivs oder po­ lizeilichen Ermittlers, der auch jenseits der anerkannten Beweismittel Neuigkeiten sammelt. Man könnte zu dem Ergebnis kommen, dass der eingangs beschworene Wille zur Wahrheit nicht so tiefgründig im Justizdispositiv eingelassen ist, als dass er hier Veränderungen bewirken könnte. Was man nicht schon vor der Beweisauf­ nahme wusste, erfährt man aus ihr bestimmt nicht – mit dieser Regel verarbei­ tet man forensische Erfahrungen besser als mit dem Erwartungshorizont eines Detektivs. Eines allerdings bewirkt nur das Gericht mithilfe des Urteilsspruchs (Kap. VII. 2.): Wahrheit wird als Wahrheit öffentlich verkündet, es redet nicht ir­ gendjemand, der andere nötigt, Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern das Gericht verkündet von Amts wegen eine sachhaltige Entscheidung. Dabei gibt es gerichtshistorische Momente, in denen Geschichtlichkeit, Sach­ lichkeit und Beweisverfahren eine Entscheidung herausprozessieren, die in dieser Form mit diesem Inhalt neu ist. Es gibt solche gerichtshistorischen Wahrheitser­ eignisse, die sich nicht zufällig mit zeitgenössischer Vergangenheitsbewältigung verbunden haben. Dazu zählen in den letzten 50 Jahren die Strafprozesse ge­ gen Adolf Eichmann in Tel Aviv (1961), gegen die Auschwitz-Täter in Frankfurt (1965) oder gegen Klaus Barbie in Lyon (1988). Es gelang nicht in den Verfahren gegen Slobodan Miloševic oder Saddam Hussein, wobei das Zeichen hier immer­

3. Formenzwang

207

hin darin besteht, dass solche Verfahren stattgefunden haben, also überhaupt eine Justiz tätig geworden ist. Wenn das Dispositiv zur Bewältigung politischer Über­ gänge eingesetzt wird, zeigen sich seine Beschränkungen. Es ist weder geeignet, existierende Werturteile nur zu bestätigen, noch ist es geeignet, Bösewichter mit ihren Untaten so zu konfrontieren, dass sie etwa deren Charakter als Untat ein­ sehen oder gar bereuen. Das ist die letzte, durchaus wesentliche Grenze des Wil­ lens zur Wahrheit. Nach der Anlage von Rechtsverfahren lassen sie die Person strukturell unberührt. Die Wahrheit kann man über sich ergehen lassen. Das post­ moderne Wahrheitsverständnis, das einen tiefen intrinsischen Wert in der Fakten­ treue, Rückhaltlosigkeit und Offenheit der Ermittlung sieht, favorisiert ein anderes Verfahren, das seit den südafrikanischen truth commissions weltweit zum Sym­ bol geworden ist. Der Täter soll rückhaltlos und schonungslos offenbaren, was er getan hat und was er davon weiß, er soll dieses Wissen öffentlich ausbreiten und sich den Fragen der Überlebenden unmittelbar stellen. Dann gibt es keine Schwei­ gerechte, auch nicht das Privileg, Advokaten für sich reden lassen zu können, und es gibt kein Gebot, entlastende Umstände zugunsten der Täter ermitteln zu sol­ len. Auf der anderen Seite kennen solche Verfahren auch keine Entscheidungen, keine Schadensersatzleistungen und Verurteilungen. Eine radikal gedachte Wahr­ heit verzichtet auf die Zwangsmittel im Justizdispositiv. 3. Formenzwang Nach alledem ist jedenfalls deutlich, dass Wahrheit zwar ein Faktor im Disposi­ tiv ist, aber nicht etwa die Justiz ausmacht. Neben und vor die Wahrheit gesellt sich anderes, und man darf ausfindig machen, was eigentlich den Willen zur Wahr­ heit ebenso begrenzt wie beschränkt, jedenfalls in seiner vollen Wirkung stört. Man stößt dabei an irgendeiner Stelle auf jene Tendenzen, die Max Weber als mo­ derne Formalisierung des Rechts bezeichnet und gelobt hat.31 Die gleiche Tendenz heißt bei Stanley Fish: Das Recht möchte formal sein – und man weiß dann schon, dass es eben nur formal sein möchte, aber doch nicht kann, weil – wie Fish nicht müde wird zu betonen – die ergebnisorientierten, machtnahen Faktoren sich ge­ genüber den wahrheitsgeneigten Tendenzen durchsetzen.32 Was also ist das For­ male an der Form? Es gibt eine Form, die in der juristischen Ausbildung dominiert und in begriff­ licher Differenzierung besteht. Sätze wie: Wegnahme ist nicht Weggabe, bieten Lehrbeispiele für solche Begriffsdifferenzierungen. Sie erfassen sprachliche Ex­ klusions- und Oppositionsverhältnisse, deren Exklusivität man aber nicht über­ schätzen darf. Es gibt Sätze wie den, ein Unterlassen sei dem Handeln nicht ohne Weiteres gleichzustellen, sondern nur dann, wenn besondere Handlungspflichten bestünden und sich die allgemeine Pflicht in der konkreten Situation konkretisiert 31

Max Weber, Rechtssoziologie, in: (Fn. VI. 27, Kap. VII Rechtssoziologie, § 8), 505. Fish (Fn. II. 78), 115 f.

32

208

VI. Das Justizdispositiv

habe. Das war ein dogmatischer Lehrsatz, der inzwischen Eingang ins deutsche Strafgesetz (§ 13 StGB) gefunden hat und mit begrifflichen Mitteln Lebensprak­ tiken katalogisiert. In einem solchen Fall muss sich jede Einordnung immer wie­ der einem Plausibilitätstest stellen. Im Privatrecht werden aufgrund metaphysi­ scher Grundlegung Positionen geschützt, die vertraglich hergestellt oder dinglich gesichert sind; aber dann gibt es dazwischen doch eine Vielzahl vertragsähnlicher oder jedermann oder bestimmten Einzelnen gegenüber selbstverständlicher Ver­ haltenspflichten, die darüber hinaus Schadensersatzansprüche auslösen können. Wirklich verlassen kann man sich auf begriffliche Formen im Recht nirgendwo, und vor allem kann man sich auf Begriffsverhältnisse im Gesetz nicht nach seinem eigenen Verständnis in natürlicher Leseform verlassen. Die sprachliche Form er­ zwingt im Recht nichts, sie muss – wie Stanley Fish anhand vieler Beispiele aus der amerikanischen Rechtsprechung zeigt – ständig selbst und neu erzeugt wer­ den aus dem „wirklichen Stoff und den Kräften, die es gerade durch den Wunsch, Recht zu sein, vertreiben muss.“33 Aber es gibt Zwingendes, und es gibt andere, für das Verhalten wirksamere For­ men als Begrifflichkeit, auch wenn Begriffe an der Schwelle zum Recht als Ers­ tes zu Gehör gebracht werden. Zwingend sind Verhaltensweisen. Das in diesem Zusammenhang immer zitierte Beispiel stammt aus dem römischen Prozess, der bekanntlich ein privater Rechtsstreit war und die genaue Einhaltung rituell vor­ geschriebener Formen verlangte.34 Das waren Handlungen, die zwingend vorge­ nommen werden mussten, um ein Geschäft wirksam werden zu lassen, wie Klage­ gründe, über deren Zuteilung die Priester wachten und die das Modell für die heutigen Anspruchsgrundlagen von Klagebegehren abgeben. Dieser Formalismus war – so sehen es die Rechtshistoriker – zu überwinden, um Verkehrs­bedürfnissen gerecht zu werden.35 Nicht zu überwinden war die Formenbindung, die das gericht­ liche Verfahren beherrscht, auch wenn alle betonen, es komme auf „die Inhalte“ an. Im Prozess herrscht „Formmagie“.36 Formenbindung erkennt man schon daran, dass jedes Begehren in einem Antrag formuliert werden muss, der an ein Gericht gerichtet ist, und so abgefasst sein soll, dass dieses Gericht dem Antrag entweder entsprechen kann oder ihn einfach ablehnen muss. Diese Umstände orientieren jede Operation im Dispositiv am Modell der in Stationen und Zügen gegliederten Handlungen zwischen mehreren Beteiligten (ggf. „Parteien“). Das Ensemble von Personen, Stationen und Zügen macht den Ablauf eines Ver­ fahrens aus, von denen es im Recht viele unterschiedliche Typen gibt. Modell des Verfahrens ist ungeachtet seiner sachlichen Beschränkungen der seit römischen Verfahrenstagen etablierte private Rechtsstreit. Bretone sieht darin die eigentliche 33

Fish (Fn. II. 78), 135. Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian (1987), München 1992, 84–88. 35 Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Schrift, Weilerswist 2011, 143–146. 36 David R. Wenger, Idealismus und Recht. Gerechtigkeit, Berechenbarkeit und Rhetorik, Wien 2010, 34. 34

3. Formenzwang

209

„Zeichensprache“.37 „Rechtsstreit“ heißt seitdem das formale, kontradiktorische Verfahren zwischen Privatpersonen. Historisch steht der Rechtsstreit am Anfang aller Verfahren, wobei „Verfahren“ als zeitlich gestreckte Situationsfolgen mit be­ grenzten Beteiligten und streitigem Thema verstanden werden sollen. Am Ver­ fahren beteiligt sind in erster Linie Bürger. Es waren – für die Moderne immer noch wesentlich – die Bürger Roms. Sie trugen ihren Streit auf dem Forum aus, und von dort leitet sich auch der Ausdruck „forensische“ Jurisprudenz ab.38 Der private Rechtsstreit begann damit, dass jemand einen anderen vor das Forum zi­ tierte, in dem ursprünglich der Prätor das Verfahren leitete. Aus dem Zwölftafel­ gesetz kann man wesentliche Regeln entnehmen, die dort allerdings in stark ver­ kürzter, ohne Weiteres gar nicht verständlicher Diktion erscheinen, wie auf Tafel XII, 1, 1–3: Si in ius vocat, ni it, antetestamino; igitur em capito (Wer vor Gericht ruft, soll – wenn er nicht geht – Zeugen rufen; danach wiederum soll er ihn grei­ fen) oder: Si calvitur pedemve struit, manum endo iacito (Wer täuscht oder sich sträubt, an den soll Hand gelegt werden) und: Si morbus aevitasve escit, iumentum dato (Wer krank oder alt ist, dem soll ein Zugtier gegeben werden).39 Der Prätor bestimmte für die im Forum anwesenden Parteien, aus welcher actio geklagt wer­ den musste. Dabei darf man sich die persönliche Aktion nicht zu lebhaft vorstel­ len. „Der Prätor“ war eine Behörde, jedenfalls nicht die wirklichen Personen, von denen Marie Theres Fögen liest und für die sie zusammenstellt, wo sich wer ge­ rade befand, während auf dem Forum angeblich gleichzeitig vor ihnen verhandelt wurde. Hinter dem Prätor verbergen sich „die Juristen“.40 Deshalb war der Vortrag stark ritualisiert und formalisiert. Es mussten bestimmte Handlungen in festgeleg­ ter Form vollzogen werden. Wer zum Beispiel sein Herrschaftsrecht über eine Sa­ che behauptete, legte seine Hand auf sie und berührte sie dann mit einem Stab. In der Jurisprudenz des Prätors kümmerte man sich juristisch nicht darum, wem die Sache am Ende gehörte (d. h. wie der Fall zu entscheiden war), festgestellt wurde nur (aber das ist fast schon das Ganze), nach welchem Rechtssatz entschieden werden sollte. In den Edikten des Prätors wurden Prozessformeln, Einreden und Rechtsmittel benannt. Sie formulierten die iurisdictio. In einem einzelnen Streit­ fall wird daraus die litis contestatio bestimmt. Mit dieser Feststellung erhob dann ein (ursprünglich nicht gelehrter oder besonders geschulter) iudex die Beweise. Bei ihm erschienen die Parteien mit der actio. Nach der Prüfung des Sachverhalts ur­ teilte er durch sententia, die nicht zu begründen war.41 Aus dieser groben Skizze des ersten entwickelten Verfahrens lassen sich auch die noch heute wirksamen Formzwänge herleiten: Es gelten Mündlichkeit und An­ wesenheit. Wer etwas begehrt, muss präsent sein und unmittelbar persönlich auf 37

Bretone (Fn. VI. 34), 84. Theodor Kissel, Das Forum Romanum: Leben im Herzen Roms, Düsseldorf/Zürich 2004, 211–217. 39 Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), Rdz. 131. 40 Fögen (Fn. VI. 11), 198. 41 Bretone (Fn. VI. 34), 102–106. 38

210

VI. Das Justizdispositiv

dem Forum verhandeln. Die Anwesenheit kann erzwungen werden. Wer sie her­ beiführt oder wer vor Gericht zitiert wird, ist Partei. Die Partei disponiert auch­ darüber, was zum Streit gestellt wird (Dispositionsmaxime). Die Aufgabe der Ver­ fahrensherrschaft besteht zunächst allein in der Ordnung des zum Streit Gestellten. Die Ordnung ist nicht schon vor dem Streit vorhanden, sondern wird aus ihm durch iurisdictio und Rechtsspruch entwickelt. Der Ausgang des Verfahrens ist also un­ gewiss. Das sind bleibende Formprinzipien. Als überwunden darf die strikte Bin­ dung an Handlungen gelten, die auch im römischen Prozess selbst im Laufe der Zeit verändert worden sind. Kognition und damit gerichtliche „Erkenntnis“ ist an die Stelle der Formelhaftigkeit getreten. Bleibt man bei den Verhaltensformen, die so wirken, als seien sie sachlich notwendig, treten die seit römischen Zeiten bekannten Prozesspflichten hervor. Sie bestimmen die Form. Form ist auch der Zwang, das zum Streit Gestellte mit Worten zu beschreiben. Form beherrscht den Prozessbeginn: Die Erhebung der Klage erfolgt durch Zustellung eines Schrift­ satzes (§ 253 ZPO). Modern ist es zwar dem Gegner überlassen, ob er zu Gericht kommt, aber – wenn er es nicht tut – zieht man aus der Form einen inhaltlichen Schluss: Erscheint der Beklagte zum Termin nicht, so ist das tatsächliche münd­ liche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen (§ 331 ZPO). Ansons­ ten scheinen wichtige und ihrem Anspruch nach richtige Inhalte den Rechtsstreit ganz zu dominieren. Wenn Recht Form ist, dann nicht die für wichtig gehaltene eine Form, sondern die Grenze, die zwischen Position und Gegenposition gezo­ gen wird. Sie bestimmt das Dispositiv. Diese Art der formalen Formbestimmung hat seit Niklas Luhmanns Legitimationsstudie42 eine Kette von Diskussionen und Spekulationen ausgelöst. Denn die Unterscheidung selbst ist semiotisch, und Luhmann gibt das auch zu erkennen.43 Luhmanns Ausgangspunkt ist der SpencerBrownsche Logikkalkül. In ihm ist jede Unterscheidung Form – einen Unterschied zu machen, etwas von etwas anderem zu trennen, macht die Form aus – und Unter­ schiede produzieren immer eine Zweiheit als die zwei Seiten einer Sache. Zweit­ heit wäre dann die Form der Form und die Ausgrenzung als Form die ikonische Operation der ersten Unterscheidung. Stationen und Züge sind wesentliche Faktoren der Form. Sie erst bilden die Pro­ zedur aus, die die Beteiligten zwingt, ihr zu folgen und Beiträge zu leisten. „Sta­ tionen“ sollen die Orte heißen, an denen Handlungen ausgeführt werden. Sie ma­ chen eine Topologie des Verfahrens aus. Schulmäßig gliedert man den Rechtsstreit nach „Stationen“, die danach unterschieden werden, wann man in welcher Beteilig­ tenrolle welche Inhalte vorzutragen hat. Der Zivilprozess kennt dementsprechend Kläger- und Beklagtenstation, von denen her sich jeweils eine Diskurswelt verste­ hen lässt. In diesem Sinne ist „Station“ die Perspektive, von der aus Zeichenbewe­ gungen entstehen und Interpretanten sich bilden. Die Station ist aber auch ein ma­ terieller Ort, an dem man eine solche Perspektive suchen kann. Der Kläger soll 42

Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied u. a. 1969. Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hrsg.): Probleme der Form, Frank­ furt a. M. 1993, 45–69 (49). 43

3. Formenzwang

211

in der Klageschrift Abläufe und Gründe angeben, die sein Begehren rechtfertigen (§ 253 Abs. 2 Ziff. 2 ZPO). Die Anklageschrift soll den inhaltlichen Ablauf be­ zeichnen, der in einer späteren Hauptverhandlung Gegenstand eines Urteils wird. Beklagte sind gehalten, ihre Einwände im privaten Rechtsstreit ebenfalls schrift­ lich vor dem Termin bekanntzugeben (§ 277 ZPO), Angeklagte können das tun, müssen es aber nicht. Sie dürfen ihre Einwände erstmals in der Hauptverhandlung geltend machen und unterliegen selbst dort kaum zeitlichen Beschränkungen (wie aus § 245 StPO hervorgeht). Aus den Stationen im privaten Rechtsstreit ist eine ju­ ristische Textlinguistik entstanden, der theoretische Vertiefung fehlt, die aber durch Praktiker in Praktiken und Ausbildungen tradiert wird. Zu den textpragmatischen Formen gehört beispielsweise das Gebot, einen fremden Inhalt zunächst einmal darzustellen, bevor man ihn zerlegt und widerlegt. Aus der Sicht der Dritten, die praktische Rechtstexte lesen, wirkt schon das formal, weil es keineswegs selbst­ verständlich ist, fremde Behauptungen in ihrer eigenen Logik darzustellen und – wenn möglich – bereits bei dieser Gelegenheit schon so, dass ein Gegenargument aufgerufen wird. Dazu ist besondere Form notwendig, zu der es dann auch gehört, die Logik der Darstellung selbst zu entwickeln und Schwerpunkte von Beiwerk zu unterscheiden. Erst unter der Herrschaft des Justizdispositivs verbreiten sich Be­ richtsinhalte in Klinikdiagnosen, Arztbriefen und Wirtschaftsempfehlungen – und stören dort, weil sie für die Justiz geschrieben werden und im Ablauf anderer Funk­ tionssysteme minder wichtig, aber stattdessen zeitraubend sind. Die juristische Textform ist anhand der Unterscheidung nach Eigen- und Fremd­ referenzen aufgebaut.44 In erster Linie hat sich ein Verfahrenstext daran zu orientie­ ren, dass Fremdinhalte referiert werden, wobei die Frage nach der Richtigkeit der Referenz in aller Regel zurückgedrängt wird. Sieht man näher hin, bemerkt man, dass zu den Dispositionen der Justiz die Wiedergabe des anderen in eigener Fassung gehört, wobei die Darstellung beinahe unmerklich verändert, was gemeint war. Im Justiztext geschieht auch das in Stationen. Nach der Wiedergabe fremder Behaup­ tungen und Meinungen versucht man zunächst, diese zu „würdigen“, was so viel heißt, wie angebliche Widersprüche, Lücken und Fehler aufzuweisen. Danach wer­ den den Fremdinhalten andere Erkenntnisse und Meinungen gegenübergestellt, was rhetorisch immer zu dem Ergebnis führt, dass eigener Vortrag den Vorzug verdiene. Erst in einer letzten Station wird die Rechtsfolge bestimmt. Das ist wohlgemerkt die allgemeine, symbolische Form des Justiztextes, die nicht unbedingt spiegelt, wie diese Texte wirklich ausfallen. Denn die Ausgestaltung der Stationen gibt dem Streitverfahren nur eine erwünschte Form. Dabei handelt es sich nicht um beob­ achtete Verhaltensweisen, sondern um prozessordnungsrechtliche Gebote. Die Be­ teiligten sollen sich so verhalten, sie werden gezwungen es zu tun. Die Form ist im Dispositiv deshalb nicht nur etwas, das sich sowieso aus Handlungen ergibt. Jeder Teilnehmer ist auch gezwungen, der Form zu folgen, kaum jemand tut freiwillig, was prozessuale Stationen verlangen. Die Form hat normative Bedeutung. 44

Sobota (Fn. V. 62), 29–33.

212

VI. Das Justizdispositiv

Zergliedert man Formen, so sieht man, dass jede Form aus Handlungszügen be­ steht. Man könnte auch sagen, die Züge operierten über Stationen. Ein Zug ist eine Verhaltensweise oder auch ein Bündel von Handlungen, die eine Position ausma­ chen, herausfordern oder in eine nächste Position führen. Im Justizdispositiv spricht man dementsprechend vom „Instanzenzug“, in dem ein Verfahren beim Tatrichter beginnt, dort zu einem Spruch führt, der in einer nächsten Tatsacheninstanz (so in größeren Zivilprozessen in Land- und Oberlandesgericht) überprüft wird, was etwa bedeutet, dass die nächste Instanz erwägt, neue Züge an die Stelle der bisher beurkundeten zu setzen oder nicht. Zum Instanzenzug gehört auch die scheinbar „reine“ Rechtsprüfung in einem Revisionszug. Es ist ein Zug im Verfahren, Rechts­ mittel einzulegen (oder nicht und damit das Urteil rechtskräftig werden zu lassen), ein anderer Zug ist es, die Vollstreckung durch ein Vergleichsangebot abzuwehren (oder nicht und den Gegner nach verwertbaren Vermögenswerten suchen zu las­ sen). Züge sind strategische Operationen mit einem beschränkten Formenvorrat. Wenn zwischen Stationen Züge unterwegs sind, ist der Fahrplan der Bahn nicht fern. Man nennt ihn im Justizpositiv besser „Programm“. Das Programm bilden die Züge über denjenigen Stationen aus, die gewohnheitsmäßig praktiziert werden. Die Varianten sind beschränkt, und erst aufgrund dieser Beschränkungen werden Operationen und Argumentationen erwartbar. Die Zwanghaftigkeit, die mit den eingeführten Formen verbunden ist, rührt jedenfalls nicht daher, dass die Beteilig­ ten nicht anders könnten, als sich eben dieses beschränkten Vorrats zu bedienen. Das Programm ergibt sich aus der Form, und formierend wirken die Züge des Ver­ fahrens, die dafür notwendigen Stationen und die geläufigen Gewohnheiten. Pro­ gramme sind das Zweite, sie ordnen definierten Auslösern eine Kette von Hand­ lungen zu und sind selbst binär strukturiert. Es handelt sich nicht um Gesetze. Programme beruhen auf Gesetzen und sind mit ihnen interpretierbar, auch verän­ derbar, in der Programmform leisten sie jedoch etwas anderes als Gesetze, wenn­ gleich diese ohne Programmformationen leerformelhaft blieben. Im Programm werden Ereignisse und Reaktionen indexikalisch verknüpft. Programmatisch er­ gibt sich dann beispielsweise die Form: Wenn jemand eine Anzeige erstattet und den Verdacht einer strafbaren Handlung äußert, dann legt die Ermittlungsbehörde eine Akte an und leitet ein Ermittlungsverfahren ein. Man kann sich die gleiche Aktivität ohne die Existenz eines Programms vorstellen. Dann überlegt vielleicht jemand, ob er den Anzeigeerstatter als Denunzianten verhaftet und in den Ker­ ker wirft. Vielleicht fragt er auch, wieviel Geld der Anzeigeerstatter bereit ist zu zahlen, und je nach Willkür kann man sich genau so gut vorstellen, dass nicht der­ Anzeigeerstatter, sondern der Verdächtigte sofort in Haft wandert und man die Anzeige als ausreichende Information wertet. Alle diese Verfahrensweisen hat es unter anderen historischen Bedingungen gegeben. Das Programm legt fest, was man wirklich tun sollte. Insofern ließe es sich in Wenn/dann-Sätzen wiedergeben, aber tatsächlich versucht man das zu vermeiden. Die Sätze wären zu einfach und würden nicht dem Inhalt entsprechen, den das Gesetz zu prüfen aufgibt. Stattdes­ sen verzichten forensische Programmsätze regelmäßig auf eine inhaltliche Rechts­

3. Formenzwang

213

prüfung und schieben sie auf, stellen Ergebnisse in Aussicht, ohne sie zu formulie­ ren, oder geben etwas zu prüfen auf, was andere erledigen sollten. Es handelt sich im Programm um Züge des Verfahrens, die gewählt werden sollen, und Stationen, die man berücksichtigen muss. Es geht um Prozeduren, nicht um Inhalte. Was im Programm als Rechtszeichen Bedeutung erlangt, verspricht kein bestimmtes Er­ gebnis, sondern eine organisatorisch fertige Struktur, in der Ergebnisse möglicher­ weise herausprozessiert werden können. Das verspricht Hoffnung und begründet die Professionalität der juristischen Berufe, in denen nicht ohne Weiteres etwas „gewusst“, aber das zu Wissende oder noch nicht Gewusste in einem Verfahren „geprüft“ wird. Programme stellen die Muster für die indizierten Abfolgen bereit und begrenzen damit die Möglichkeiten, eröffnen sie aber auch erst. Für einfache Beschreibungen kann man auf das Niveau eines einfachen Falls zurückgehen und sich fragen, weshalb Urteile hingenommen werden. Es gibt we­ nig Anzeichen dafür, dass sie hingenommen werden, weil ihre Gründe überzeu­ gen. Für Verlierer im Rechtsstreit darf man davon ausgehen, dass deren Gefühle und Programmerwartungen nicht durch die Semantik einer Entscheidung berührt werden. Dennoch kann man mit ihr leben, auch ohne von ihr überzeugt zu sein, man kann sie akzeptieren – vielleicht eben als das Verfahrensergebnis, das zum gegebenen Zeitpunkt mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen war. Wer das nicht tut, kann zum isolierten Querulanten werden. Das war Luhmanns Verfahrensbeobachtung, über deren Folgen noch zu reden sein wird (Kap. X. 5.).45 Man kann durchaus jenseits verlautbarter Gründe mit einer Entscheidung weiter­ leben. Um sich nicht weiter streiten zu müssen, um andere Dinge betreiben zu kön­ nen, mit dem Bewusstsein, die gegenwärtige Borniertheit der Entscheidenden nicht erreichen zu können, oder mit der Einsicht, dass die Folgen der Entscheidung be­ herrschbar sind – der Motive gibt es viele, und sie alle haben die wichtige Funktion, Ärgernisse und Lebenskatastrophen individuell beherrschbar zu machen. In eben diesem Punkt ist jedes Urteil ein Zeichen. Es kündet vom gegenwärtigen Zustand der Justiz und verweist die Adressaten auf Handlungen. Man kann Rechtsmittel einlegen – wenn man das kann, also nach dem Verfahrensprogramm beschwert ist. Wenn – wie spektakulär geschehen – in einer für einen Beteiligten günstigen Entscheidung ihn Benachteiligendes mitgeteilt wird, dann entsteht ein nicht ab­ änderbares Zeichen, das mitteilt, dass die Beschneidung neugeborener Knaben eine tatbestandsmäßige Körperverletzung darstellt.46 Dieses Urteil hätte allenfalls von der Staatsanwaltschaft angefochten werden können, die sich aber bereits ein­ mal mit dem Rechtsmittel der Berufung gegen einen in erster Instanz ergange­ nen Freispruch gewehrt und die Entscheidung der Berufungsinstanz im Ergebnis hingenom­men hatte, während die das Verfahren beobachtende Öffentlichkeit oder wesentliche Teile davon sich entsetzt zeigten, dass implizit jahrtausendealte Riten verworfen und unter (mögliche) Strafe gestellt worden seien, so dass postwendend 45

Luhmann (Fn. VI. 42), 118. Urteil des Landgerichts Köln v. 7.5.2012 (Az.:151 Ns 169/11), siehe: http://seibert.biz/op.

46

214

VI. Das Justizdispositiv

der Ruf nach dem Gesetzgeber laut geworden ist, der auch pflichtschuldig reagiert hat. Aber gerade dieses Urteil war ein Zeichen – für das Selbstbestimmungsrecht des Kindes, wie die einen sagen, oder für eine religiöse, wenn nicht sogar anti­semi­ tisch eingefärbte Grundstimmung, wie einige Angehörige der Religions­gemein­ schaft mutmaßten. Leben mussten beide Seiten mit dem Urteil, das ein Zeichen auch dann bleibt, wenn der Gesetzgeber danach Normen ändert. Die Programme des Justizdispositivs sind nicht aus sich heraus zwingend. Sie sind es, weil und solange die meisten sie benutzen und von ihnen ausgehen. Denn ein Programm enthält weit weniger Möglichkeiten zu handeln, als nach der Art der Codierung möglich wären. Deshalb ist es wirksam. Es funktioniert als Index. Für den Rechtsstab, hier also die Angehörigen der Justiz, besteht es aus den vielleicht 50 Textformularen, die für die Eröffnung des Verfahrens, für seinen Fortgang und seine Beendigung unterschieden werden. Ihre Anzahl wird heute elektro­ nisch durch Datenverarbeitung zu einer kaum noch übersehbaren Anzahl verviel­ fältigt, die früher in ausgedruckten Formularen und Mustern selbst herzustellen waren. Das ändert aber nichts daran, dass ein Programm zwar mehr oder weniger reichhaltig ist, aber doch übersichtlich bleibt. Es wäre sonst nicht zu benutzen und würde die wesentliche praktische Funktion nicht erfüllen, die eben darin besteht, komplexe Abläufe übersichtlich zu machen. Das hier vorgestellte Verständnis von Programmen unterscheidet sich von Luhmannscher Begrifflichkeit. Niklas Luh­ mann hält Programme für Merkmalsgliederungen in der Sachdimension,47 semio­ tisch ist die Zeitdimension das Programmkriterium. Programmierte Zeichenver­ wendung verläuft verhältnismäßig schnell und einfach und ist deutlich bestimmter als eine gesetzliche Norm. Hingegen lässt Luhmann die Maxime „Tue etwas zur Verringerung des Drogenkonsums“ allein schon als Zweckprogramm gelten. Er unterscheidet für die Arbeit formaler Organisationen Konditional- von Zweck­ programmen und sieht Konditionalprogramme ausgestattet mit der allgemeinen Form des „wenn – dann“, die aus den Tatbeständen der Norm stamme. Fast alle herkömmlichen Normen sind dann Konditionalprogramme, so dass Luhmann die Anwendungsfrage mit geringem rechtssoziologischen Aufwand umformuliert.48 Er gewinnt dabei einen begrifflichen Vorteil als vermutete tatsächliche Aus­ nahme. Die Ausnahme bilden Zweckprogramme, die in ihren Voraussetzungen offen sind, also keine oder wenig Vorgaben darüber machen, wer wann tätig wer­ den muss. Für die Justiz hält Luhmann Zweckprogramme für ebenso ungeeignet wie Folgenverantwortung. Wegen konditionaler Bindung sei ein Richter von Fol­ genverantwortung gerade entlastet.49 Kehrt man zum Ausgangspunkt der Formbildung zurück, zum Setzen von Unter­ schieden, so ist ein einziger Unterschied zu wenig, um im hier verstandenen Sinn eine Rechtsform ausmachen zu können. Form ist eine Haltung, ein semiotischer 47

Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, 258. Luhmann (Fn. I. 52), 227. 49 Luhmann (Fn. I. 52), 241. 48

4. Körperzwänge

215

Habitus, den man verändern und erklären kann, der aber Entstehung und Praxis nicht diesen Erklärungen schuldet. Mithilfe von Formen stellen Juristen zwischen „uns und der Kontingenz“, die uns umgibt, so etwas wie Recht her.50 Man kann die Betonung an dieser Stelle verstärken und behaupten: Recht ist Form, und je mehr Informalität in das Verfahren einzieht, desto schwieriger wird es, die wichtige la­ tente Form von dem aufdringlichen und nie verlässlichen Inhalt zu unterscheiden. Mit der Maxime, es komme auf Inhalte an, verfehlt man das Wesentliche. Wenn und soweit Recht Form ist, präsentiert es Ketten indizieller Unterscheidungen, die durch das Programm ihres Gebrauchs zusammengehalten werden. Als Verfahren bilden diese Formen Stationen aus, verlangen Züge von einer Station zu anderen, und brauchen ein Programm, damit man weiß, wer wann ziehen muss. Programm­ gemäß interessieren nur die Ausfüllung der Stationen und die Auswahl der jeweils nächsten Züge. Es handelt sich durchweg um Momente der Zweitheit (Kap. I. 4.). Man ist gezwungen, so zu handeln, weil ansonsten Verluste drohen. 4. Körperzwänge Die bisher behandelten Formen erscheinen mehr oder weniger inhaltlich. Pro­ zessuale Stationen und Züge, Programmformen der Justiz oder Formularzwänge einer Begründung kann man inhaltlich infrage stellen, um sie wiederum fallweise inhaltlich neu zu füllen. Grundsätzlich handelt es sich dabei um der Argumen­ tation (Kap. X. 3.) zugängliche Formen. Sie erschöpfen aber das Justizdispositiv nicht. Die Justiz ist keineswegs nur ein Zusammenhang von Räumen und Appa­ raten, die man inhaltlich benutzen, befehden oder bestärken kann. Sie disponiert auch in körperlicher Art und Weise, und darin darf man in der Nachfolge Foucaults das wesentliche Moment des Dispositivs sehen. Im Verfahren wird über die Kör­ per von Personen verfügt. Das deutet sich schon mit dem zitierten Satz aus dem rö­ mischen Zwölftafelgesetz an, der lautete: Si calvitur pedemve struit, manum endo iacito (Wer täuscht oder sich sträubt, an den soll Hand gelegt werden). Die Pro­ zessordnung sieht heute immer noch körperlich wirkende Zwangsmittel vor, auch wenn vernünftige Richter keine Beugehaft mehr verhängen. Stattdessen gibt es eine Reihe oft eher unmerklicher Formen des körperlichen Zwangs im Verfahren, die im Wesentlichen auf der verlangten Präsenz beruhen. Bis zum heutigen Tage soll eine Verhandlung „aufgerufen“ werden (auch wenn die Beteiligten sich bereits im Saal befinden), die Anwesenden sollen sich erheben, wenn das Gericht den Saal betritt (was bei mehrfachen Unterbrechungen mehrfach vorkommt), sie sollen be­ stimmte Plätze im Saal einnehmen (die das Gericht zuweist), und sie dürfen nur re­ den, wenn der Vorsitzende das Wort erteilt hat. Wenn es nicht gleichgültig ist, auf welcher Seite eines Saales jemand Platz nimmt, dann ist noch offen, ob die Seite das Entscheidende ist oder ob man sie tauschen kann und was das im Einzelfall. bedeutet. In europäischen Gerichtssälen besetzt der Ankläger traditionell die Fens­ 50

Fish (Fn. II. 78), 170.

216

VI. Das Justizdispositiv

terseite, und es gibt dafür eine zweckgerichtete Inhaltsinterpretation: Er versperrt dem Angeklagten einen Fluchtweg. Weil aber dieser Inhalt den meisten heutzu­ tage als ziemlich künstlich erscheint, ist die Seite am Ende nicht entscheidend. Man kann die Seiten auch tauschen. Es bleibt nur dabei, dass ein Verfahren zwei Seiten hat und man nicht mit dem Gegner zusammen auf dieselbe Seite gehen soll. Genau darum ist auch gestritten worden. Vor dem November 1989 ist Rudolf Wassermann mit der Forderung hervorgetreten, einen runden Tisch einzurichten, an den sich alle Beteiligten einschließlich des Gerichts begeben. Traditionell sitzt oder thront das Gericht über den Parteien. In alten französischen Gerichtssälen ist die Höhendifferenz beträchtlich. In neuen bundesdeutschen wurde sie kleiner, meist aber gibt es eine immerhin noch in Zentimetern messbare Differenz zwi­ schen Gericht und weiteren Beteiligten. Regelmäßig erkennt man einen für Straf­ sachen hergerichteten Saal daran, dass die Anklageseite zwar an der Seite, aber mit der Höhendifferenz des Gerichts tagt. Dort und nur dort ist ihr Platz. Für An­ geklagte gibt es ganz unterschiedlich ausgestaltete Plätze. Es kann postmodern so sein, dass der Angeklagte an einem Tisch mit seinem Verteidiger sitzt. Das ist aber in der Welt nach wie vor nicht die Regel, und hängt im Übrigen auch von Verfah­ rensform und Anklagevorwurf ab. Angeklagte werden in Abteilen abgesondert und in Käfigen oder Glasboxen verwahrt. Adolf Eichmann wurde auf diese Weise abgesondert, und Michail Chodorkowski befand sich in einem Verhandlungskäfig. Solche Verhandlungsplätze beruhen zweitrangig auf der üblichen Rechtfertigung, die Anwesenheit des Angeklagten müsse gegen Flucht gesichert werden. Erstran­ gig sind sie ein Symbol der Staatsmacht und Verhandlungsführung. Dazu gehört auch, dass der Angeklagte wie die juristisch-professionellen Beteiligten anwesend sein muss und sich nicht – auch nicht zeitweise – entfernen darf. Die Präsenz ist die körperliche Hauptlast. Ihr kann man nur entkommen, indem die Verhandlung unterbrochen wird, und unterbrechen kann sie nur der Vorsitzende, dem man dafür einen Grund angeben muss. Ansonsten müssen die Beteiligten ausharren. Ausharren und damit das reine Dabeisein ist von gegensätzlichen Gefühlen be­ gleitet. Da gibt es das Ikon des Weinens. Vor Gericht weint die Zeugin, und auch alle anderen, die nicht weinen, kämpfen mit ihren Gefühlen – manchmal. Weinen zwingt zu einer Verhandlungspause, und diese Art der kommunikativen Interpunk­ tion hat in einem solchen Fall auch eine inhaltliche Funktion. Vielleicht wird man sich seiner Gefühle bewusst, vielleicht lässt sich etwas verarbeiten, was nur in der körperlichen Gegenwart des Leids verarbeitet werden kann. Jedenfalls ist Weinen ein ikonisches Zeichen, das Respekt verlangt und bisher nicht zu kontroversen Ent­ scheidungen geführt hat. Anderes gilt für das Schlafen in der Verhandlung. Zeichen mangelnder Konzentration oder dessen, was dafür gilt, werden häufig beklagt und sind ein unvermeidliches Zeichen des Justizdispositivs. Die Verfügung über die Körper kann nur soweit gehen, dass die notwendigen Prozessbeteiligten (Gericht, Anklagevertreter, Angeklagter und – soweit notwendig – Verteidigung) körperlich präsent sind. Man kann ihnen nicht vorschreiben, woran sie in der Zeit ihrer Prä­ senz denken. Die meisten empfinden es dennoch eher als humoristischen Beitrag,

4. Körperzwänge

217

wenn das Bundesverwaltungsgericht erwägt, ob „das Schließen der Augen und das Senken des Kopfes auf die Brust, selbst wenn es sich nicht nur auf wenige Minu­ ten beschränkt,“ eine Haltung darstelle, die man „auch zur geistigen Entspannung oder zu besonderer Konzentration“ einnehmen könne.51 Entscheidend dürfte et­ was anderes als derartige Zweckerforschung sein. Zum Justizdispositiv gehört se­ miotisch ein mehr oder weniger feststehendes Decorum als „Hintergrundkunst“, die so funktioniert, dass man zu einem Verhalten etwas Eigenes hinzutun darf, dabei aber die Wertschätzung beachten muss, die gewöhnlich dem Hintergrund ent­gegengebracht wird.52 Allerdings sind solche Hintergrundmerkmale nicht ein­ klagbar, und genau das erstreben im Justizdispositiv alle diejenigen, die sich auf Decorum-Verstöße berufen. Den Körperzwängen kann man sich heimlich entziehen, aber die Verletzung des Decorums wird indexikalisch durch Entscheidungen ausgeglichen. So führte der zitierte Revisionsbeschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung, wobei das Gericht es vermeidet, den Körper­ zwang unmittelbar zu thematisieren und Decorum-Gesichtspunkte durch Zweck­ erwägungen der Art ersetzt, einer der ehrenamtlichen Richter sei für „wiederkeh­ rende und mehr als nur wenige Sekunde währende Zeiträume geistig abwesend und somit nicht in der Lage“ gewesen, dem „in dieser Phase andauernden Rechts­ gespräch zu entscheidungserheblichen Sach- und Rechtsfragen zu folgen.“53 Zum Decorum gehört nach wie vor, dass man sich erhebt, wenn das Gericht den Saal betritt, und im Stehen den Urteilsausspruch anhört. Beim Aufstehen geht es um einen Körperzwang im Justizdispositiv, den nicht nur Fritz Teufel, sondern in um­ gekehrter Weise der RAF-Angeklagte Andreas Baader herausgefordert hat. Wäh­ rend Teufel so tat, als ob er lieber sitzen bliebe, sich dann aber doch langsam er­ hob, weil es der Wahrheitsfindung dienen könnte,54 blieb Baader stehen, um seinen Ausschluss aus der Verhandlung zu erzwingen, der dann allerdings wegen des blo­ ßen Stehens doch nicht erfolgte. Cornelia Vismann hat diese Szenen benutzt, um über Körperpositionen vor Gericht nachzudenken, und sie hat darauf hingewie­ sen, dass ursprünglich das Stehen („to stand up for your rights“) als angemessene Haltung galt und erst später die Freunde des Rechtsgesprächs wie Rudolf Wasser­ mann darauf hinwirkten, dass man allgemein vor Gericht sitzen blieb, sich aber doch beim Einzug des Gerichts erheben sollte.55 Die körperliche Form hat eigenen Wert, und ihre Beachtung wird nicht verlangt, weil es unter diesem oder jenem Ge­ sichtspunkt sinnvoll sein könnte, in dieser Form zu handeln. Verlangt wird körperliche Unterwerfung unter Formen, deren Sinnhaftigkeit nicht auf den ersten Blick einzuschätzen ist. Man muss Rechtssachen dauern las­ sen, anwesend sein und es aushalten, dass weder der Sinn der Dauer noch derjenige 51

BVerwG, Beschluss vom 19.07.2007 – 5 B 84.06; siehe: http://seibert.biz/jurionurteil2007. Heiner Mühlmann, Kants Irrtum, Kritik der Neuroästhetik, München 2013, 49–53. 53 BVerwG (Fn. VI. 51), Rdz. 7. 54 Der Spiegel 40/1968 (http://seibert.biz/spiegel). 55 Vismann (Fn. I. 13), 169–171. 52

218

VI. Das Justizdispositiv

der Anwesenheit einleuchten. Le sens obtus hat Roland Barthes einen solcher Art entfernten Sinn genannt. Der Ausdruck ist schwer übersetzbar. Das lateinische obtindere (obtusus), von dem er abstammt, wird als „durch Schlagen stumpf ma­ chen“ übersetzt, und das wäre dann in der Tat die stärkste, handgreifliche Körper­ form. Wilhelm Scheuerle – der freilich eine andere Epoche juristischer Körperlich­ keit kennengelernt hatte – berichtete von solchen geschlagenen, stumpf gemachten Richtern, die dennoch in dieser Herabwürdigung die Tugend der Angemessenheit übten.56 Aber es handelt sich um Sinn. Le sens obtus wird semiotisch noch feiner gedeutet, als es aristotelische Tugendkataloge zulassen. Der dritte Sinn, von dem Barthes spricht, siedelt in der Zeit, in lang gewordener, stumpfer Zeit, jedenfalls – wie Barthes ausdrücklich vermerkt – außerhalb der Sprache. Sens obtus finde man weder in den zirkulierenden Symbolen noch im Sprechen, so dass ein Semantologe ihm gar keine objektive Existenz zuschriebe (aber – fügt Barthes hinzu – was sei wohl eine „objektive Lektüre?“).57 Der „stumpfe Sinn“ (wie er im deutschen Titel übersetzt worden ist) sei ein Signifikant ohne Signifikat, der außerhalb der geglie­ derten Sprache, aber innerhalb der Gesprächssituation liege. Man muss ihn also inhaltlich auffüllen. Körperzwang im Justizdispositiv bewirkt solche Möglichkei­ ten. Im Alltag der Verhandlungen spricht man darüber zwar nicht, aber man fühlt und denkt sich, dass die Sache langweilig ist. Charles Yablon war so frei, es offen zu sagen: „Ich muss langweilen. Das ist nicht schwer für mich. Ich bin Jurist. Ich kenne viele langweilige Dinge. Viele sehr, sehr langweilige Dinge.“58 Wenn sich der Sinn nicht aufdrängt, wenn man nicht weiß, worauf etwas abzielt und im Übrigen durchaus realistisch damit rechnen kann, es handele sich um folgen­ losen Un-Sinn, dann stellt sich Langeweile ein. Im Deutschen gibt es sowieso eine semantische Nähe zwischen dem semiotisch stumpfen, dem noch nicht ausgebilde­ ten Sinn und dem langweilenden Stumpfsinn. Manche macht Langeweile depressiv, Langeweile kann geradezu ein Index für depressive Gemütsveränderungen sein, än­ dert dabei aber ihre Erscheinungsform. Yablon belehrt uns, dass Juristen Künstler sind im Aushalten von langer Weile. Das Aushalten langer Weile kann man üben, und Juristen müssen das tun. Soziologen sprechen dann (nur noch) von „Gelegen­ heitslangeweile“59 Sie entsteht aus Körperzwängen, denen man sich nicht entziehen kann. Anwesenheit, Dauer und Verhaltensrituale führen zu einem eigenen Erlebens­ stil, dem charakteristischerweise die juristische Vorlesung als Ausbildungsveran­ staltung entspricht. Jurastudenten werden in der Vorlesung darauf vorbereitet, unbe­ kannten, irgendwie bedeutsamen, aber aktuell mit stumpfem Sinn ver­sehenen Reden zuzuhören, wobei niemand behauptet, die konkrete Vorlesung sei für die eigene ju­ 56

Wilhelm Scheuerle, Vierzehn Tugenden für vorsitzende Richter, Berlin 1983, 172–174. Roland Barthes, Der dritte Sinn, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (1982), Frankfurt a. M. 1990, 47–66 (59). 58 Charles M. Yablon, Formblatt, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, 54–59 (54). 59 Martin Doehlemann, Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M. 1991, 22. 57

5. Die Waffen des Prozesses

219

ristische Bildung besonders folgenreich. Das ist sie vielleicht so wenig wie das Plä­ doyer des Gegners in der mündlichen Verhandlung, das nicht enden will und das auch niemand unterbricht. Man bleibt und übt den unauffälligen Schlaf. Zur Disposition jedes Juristen müssen Körperformen stehen, die Möglichkeiten indizieren. Ob daraus etwas wirklich wird, bleibt offen. Es kann so sein. Es kann sein, dass am Ende von 5 Verhandlungsstunden ein Vergleich steht, es kann auch so sein, dass der Angeklagte am Ende von 50 langweiligen Verhandlungstagen verhaftet wird. Die mit diesem Dispositiv verbundene Müdigkeit wird dabei ver­ schwiegen. Sie passt nicht zur Schauseite, auf der Klarheit, Transparenz und natür­ lich alerte Aufmerksamkeit ausgestellt werden. Es sind deshalb höchstens einzelne Akteure müde, weil sie schlecht geschlafen haben. Dass Müdigkeit ein Zustand ist, aus dem Neues entsteht und in dem sich Formen verändern, hat einstweilen nur Peter Handke entdecken können, und dessen Versuche beschränken sich auf all­ tägliche Gewohnheiten. Handkes institutionelle Beobachtungen reichen nur bis in den universitären Hörsaal, in dem Vortragende durch Routine und Langeweile die Aufmerksamkeit für den Stoff vertreiben, den ein müder Student jenseits der amt­ lichen Lehre selbst erarbeiten muss.60 Bei behördlichen Veranstaltungen ist die Ausgangslage nicht viel anders. 5. Die Waffen des Prozesses Müde sind auch die Soldaten. In allen großen Konfliktsituationen stellt sich im Zentrum Müdigkeit ein, und die Justiz ist ein solcher Konfliktfall. In ihrem Zentrum herrscht auch bei gewöhnlicher Ruhe, Routine und offenbarer Lange­ weile nicht Entspannung. Der Prozess, den das Dispositiv prägt, ist ein Krieg. Es dürfte so sein, dass alle menschenfreundlichen Juristen dieser These widerspre­ chen wollen, und das wird umso sicherer, als sich die postmodernen Prozesslehren darum bemühen, Verfahren so darzustellen, als führten sie selbst bereits zu einer Konfliktlösung. Als Konfliktlöser fügt sich jeder Jurist in ein gern gesehenes Bild. Für Unversöhnliches, für Bosheiten und absichtliche Schadenszufügung sind die Wahrnehmungsmöglichkeiten reduziert. Krieg stellt man sich gern vor dem Rechtsverfahren vor und projiziert Zwietracht, Bosheit, Neid und Missgunst in den noch nicht geläuterten, vorrechtlichen Bereich. Dann scheint jedes aktuelle Ver­ fahren ausgleichend zu wirken. Mit einem Urteil sehen manche sogar den Rechts­ frieden wiederhergestellt, und das Wort vom Rechtsfrieden klingt so, als müsse damit der soziale, mitmenschliche Friede erst recht wiederhergestellt sein. Die Prozessrhetorik lehrt etwas anderes. Man sollte darauf achten, dass alle ganz selbstverständlich davon sprechen, Prozesse würden gewonnen oder verloren. Man könnte nun wegen der Begriffe „Sieg“ oder „Niederlage“ auch an ein Spiel denken (wenngleich Beteiligte, die nicht in rechtstheoretischen Modellen denken, 60

Peter Handke, Versuch über Müdigkeit, Frankfurt a. M. 1978, 10.

220

VI. Das Justizdispositiv

auch keine spielerischen Momente im Prozess sehen), wird aber alsbald eines an­ deren belehrt, wenn die Prozesslehre von der „Waffengleichheit“ zwischen Staats­ anwaltschaft und Verteidigung spricht. Seitdem die stratégie de rupture sich im Strafprozess etabliert hat und die Strafverteidigung selbst sich „kämpferisch“ ver­ steht,61 ist die antagonistische Positionsverteilung im Strafverfahren geläufig und die Rede von der „Waffengleichheit“ dort ein anerkannter Rechtsgrundsatz.62 Das Bundesverfasssungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1979 die Not­ wendigkeit gesehen, „Waffengleichheit“ auch im Zivilprozess als Topos zu ver­ wenden.63 Der Ausdruck hat sich durchgesetzt, auch wenn sein kriegerischer Cha­ rakter Juristinnen wie Annett Kwaschik verdächtig vorkommt und sie den Ersatz durch „Mitwirkungsgleichheit“ jedenfalls erwägt.64 „Waffengleichheit“ wird in Ur­ teilsgründen regelmäßig mit Anführungszeichen versehen, so als wolle man sich während der Verwendung von dieser distanzieren. Der Topos wird vom Bundes­ verfassungsgericht „als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes“ auch im Zivilprozess verstanden65 und mithilfe der jeder Par­ tei zur Verfügung stehenden Waffen soll dann „die verfassungsrechtlich gewähr­ leistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter“ hergestellt werden. Es wird eben gekämpft, und dafür braucht jede Partei Kampf­ mittel. Das hat sich praktisch ausgewirkt. Während das Bundesverfassungsgericht 1979 mit knapper Mehrheit noch zurückhaltend in den Konsequenzen der Gleich­ heit geblieben ist, hat spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus dem unterstellten Prinzip der Waffengleichheit die verfahrensmäßige Not­ wendigkeit einer Parteianhörung gefolgert, wenn die Gegenseite für den gleichen Sachverhalt Zeugen anbieten konnte.66 Inzwischen hat sich ziemlich durchgängig die Praxis etabliert, dass bei der Aufklärung eines sogenannten Vieraugengesprä­ ches nicht nur der als Zeuge vernommene Mitarbeiter, sondern – wenn sie kein an­ deres Kampfmittel hat – auch die Partei selbst als Beweismittel in eigener Sache ge­ würdigt werden soll.67 Unbefangen spricht man davon, dass „alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel“ im Zivil­ prozess berücksichtigt werden müssten.68 Die Prozessordnungen kennen Angriffs- und Verteidigungsmittel (die zu geeig­ neten Zeitpunkten angewendet werden müssen) und behandeln ganz selbstverständ­ 61

Emilios Christodoulidis, Strategies of Rupture, Law and Critique 20 (2009), 3–26. Günter Kohlmann, Waffengleichheit im Strafprozeß?, in: Jürgen Baumann/Klaus Tiede­ mann (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburts­ tag. Tübingen 1974, 311–321 (316). 63 BVerfG JZ 1979, 598 f. (Beschluss v. 27.7.1979 – 2 BvR 878/74). 64 Annett Kwaschik, Die Parteivernehmung und der Grundsatz der Waffengleichheit im­ Zivilprozess, Tübingen 2004, 87, Fn. 1. 65 BVerfGE 52, 131 f. (2 BvR 878/74). 66 EGMR Urteil v. 27.10.1993 (37/1992/382/460), in: NJW 1995, 1413, 1414. 67 So OLG Zweibrücken, Urt. v. 18.3.1997 – 5 U 4/96 (NJW 1998, 167) oder BGH, Urt. v. 16.7.1998 – I ZR 32/96 (NJW 1999, 363); Kwaschik (Fn. VI. 64), 225–254. 68 BVerfG – 2 BvR 878/74 – JZ 1979, 598. 62

5. Die Waffen des Prozesses

221

lich ein tatsächliches Rechtsmittelvorbringen als Rüge gegenüber einem angegrif­ fenen Urteil. Im Verfahren herrscht nicht nur begrifflich keine Partnerschaft, sondern es stehen sich Kläger als Angreifer und verklagte Gegner notwendig sach­ lich kontrovers gegenüber. Wenn man Jherings Formel vom Kampf ums Recht zu­ grunde legt, ist das nicht überraschend. Allerdings ist Jhering in der Reihe der Friedensredner eine Ausnahme geblieben und hat sich in seinem 1872 in Wien ge­ haltenen gleichnamigen Vortrag erst einmal von der das 19. Jahrhundert beherr­ schenden Auffassung emanzipieren müssen, das Recht entstehe organisch wie die Sprache und beherrsche einfach aus sich heraus die menschliche Natur. Statt­ dessen ging Jherings bis heute nicht selbstverständlicher Schlachtruf dahin, Recht werde im Kampf geboren, und die Form dieses Kampfes sei auch noch zu ver­ gleichen mit der Form, „in der jene gewaltigen Kämpfe im Völkerleben stattfin­ den“.69 Vom Krieg mag Jhering nicht ausdrücklich reden, schließlich trägt er vor der Wiener juristischen Gesellschaft vor. Den Prozesskrieg lassen alle Juristen lieber draußen vor der Tür, so dass es wenig erstaunt, wenn die antagonistische Form des Rechtsstreits modern erst wieder in der strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers auftaucht. Müller, Christensen und Sokolowski wagen es, zur Kenntnis zu nehmen, wie die Kontrahenten sich bemühen, den Gerichtssaal als „Bühne für das kleinere oder größere ¸Drama ihres Krieges‘ herzurichten“.70 So wie diese Autoren es ausdrücklich tun, muss man an Clausewitz und Foucault erin­ nern, wenn man ein realistisches Bild vom Prozessablauf zeichnen will. ­Foucaults These, das Gesetz sei nicht Befriedung, „unter ihm“ 71 gehe vielmehr der Krieg wei­ ter, kann man noch zuspitzen: Spätestens im Prozess beginnt der Krieg. Das Dis­ positiv des Prozesses ist – wie Cornelia Vismann das in Zusammenfassung vor­ handener Prozesslehren ausgedrückt hat72 – agonal, und es erzeugt darüber hinaus ein nicht notwendiges, aber häufiges Surplus: Die Gegner des Prozesses stehen sich feindselig gegenüber, so feindselig, dass sie nicht einmal sehen, dass sie sich gele­ gentlich in ihren wohlverstandenen eigenen Zielen gegenseitig behindern. Das hat Gründe, die im Verfahren selbst liegen und dazu führen, dass letzten Endes ge­ rade nicht die Parteien über den Prozessstoff disponieren, sondern das Justizdis­ positiv Aktionen und Beweggründe der Parteien erfasst und sie unaufhaltsam in der Kontroverse verstrickt. Zunächst wird im Dispositiv der Justiz das Rechtsbegehren ausgebeutet. Jemand will etwas von jemandem – so werden Anspruchsgrundlagen und Klageanträge definiert. Wenn man ein Begehren so schematisiert (aber schon das ist eine justi­ zielle Abbreviatur), dann gibt es völlig unterschiedliche Formen des anschließen­ den Verfahrens. Man könnte die Beteiligten versammeln, jeden von ihnen fragen, warum das Etwas so dringend gebraucht wird, warum es nicht entbehrt werden kann, welche Beziehungen man in der Vergangenheit hatte oder in der Zukunft 69

v. Jhering, Kampf um’s Recht (Fn. I. 47), 35. Müller/Christensen/Sokolowski (Fn. II. 67), 47. 71 Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin 1986, 11. 72 Vismann (Fn. I. 13), 81. 70

222

VI. Das Justizdispositiv

noch haben wird und was man aus der Sicht des jeweils anderen als Verhaltens­ weise akzeptieren könnte. Der Rechtsstreit nimmt stattdessen von jedem etwas und kombiniert kooperative wie kontroverse Teile in der Weise einer Kriegführung – als Waffen eben. So versammelt man die Beteiligten, aber nicht, um sie sprechen zu lassen, sondern um aus Schriftsätzen vorzutragen und Anträge zu stellen. Die Frage, warum etwas dringend gebraucht wird oder warum es nicht entbehrt wer­ den kann, wird durchaus gestellt, aber schon im Schriftsatz als beantwortet vorge­ tragen. Dabei darf man davon ausgehen, dass Gründe für das Geldhaben sowieso nicht angegeben werden müssen und eine Zahlungsverweigerung als solche so­ wieso keinen Grund abgibt. Kriegsentscheidend ist dann die Art und Weise, in der beides – Begehren wie Verweigerung – als alternativlos beziehungsweise das Ge­ genteil als völlig unakzeptable Zumutung dargestellt werden. Das muss nicht so sein, und einige Schriftsätze vermeiden den im Justizdispositiv üblichen Überwäl­ tigungs- und Attackenstil. Aber auch die juristische Sachlichkeit, die dann bleibt und das Höchstmaß der disziplinären Kultivierung darstellt, muss man noch als Teil  der Kriegführung verstehen. Gefühlsdistanz und Erlebensabstraktion sind scheinbar und rechnen – fast immer mit Erfolg – damit, dass der Adressat ergänzt, was nicht gesagt wird. Ausgleich, Verzeihen und Verstehen sind keine Vokabeln des Justizdispositivs. Dennoch kann man sie finden, nämlich in einer mündlichen Verhandlung, in der sich – wenn glückliche Umstände herrschen – ganz andere Stimmungen ausbreiten, als es die Schriftsätze vermuten lassen. Darüber hinaus eignet sich die Form des Dispositivs dazu, die Qualitäten von Ausgleich, Verzei­ hen und Verstehen jeweils nur der Gegenseite abzuverlangen. Der Gegner  – so trägt man nicht selten vor – sei zum Ausgleich nicht bereit (so dass die eigene Ver­ gleichsbereitschaft scheitern muss), zum Verzeihen ist immer die Gegenseite nicht in der Lage (was ihre menschlichen Defekte zeigt), und schließlich versteht die Ge­ genseite auch nicht, mit welchem Recht etwas von ihr verlangt wird. Dieser Trend zur Fremdzuschreibung wird vom Justizverfahren und seiner agonalen Positionie­ rung selbst hervorgerufen. Das Gegenteil findet sich im analytischen Therapiemodell, in dem sich ein Ana­ lysand (dem freilich dann auch gleich die Rolle des kranken Patienten zugeschrie­ ben wird)  allein mit seinen Antrieben und Geschichten wiederfindet und jede Anklage gegenüber dem oder den anderen verhallt, schlimmer noch: auf den Ana­ lysanden zurückgeworfen wird, der sie erhebt und sich besser fragen sollte, wes­ halb er aus der Enttäuschung nicht hat lernen und sein Verhalten nicht hat ändern können. Ausgleich soll man im Therapiemodell bei sich selbst finden, Verzeihen wird zu einer persönlichen Eigenschaft, und Verstehen ist ein Therapieziel, das am Ende des Verfahrens steht.73 Der Therapie mangelt freilich der Fremdbezug, der nicht selten nötig ist, weil persönliche Unzuträglichkeiten auch äußere Änderun­ gen verlangen. So ist es immerhin möglich, dass ein Therapeut Trennungen favori­ siert. Was er nicht kann, ist den oder die Partner zu Gespräch und Auseinanderset­ 73

Frank Rotter, Sozialer und personaler Wandel, Stuttgart 1976, 147.

5. Die Waffen des Prozesses

223

zung zu laden und ihnen eigene Verhaltensänderungen aufzugeben. Das wiederum ist im Kampf ums Recht möglich, auch wenn die Kampfstellung im Justizverfah­ ren die notwendige Selbstreflexion verhindert und die Pathologisierung sozialer Beziehungen fördert. Die Waffen des Prozesses sind in ihrer Wirkungsrichtung aber noch nicht aus­ reichend erkannt, wenn man nur das Leiden sieht, das sie anrichten. Wie jeder Waffeneinsatz versprechen auch die Waffen des Rechtsprozesses erst einmal Heil und Segen, und man sollte nicht voreilig ihre Wirkung ausschließlich im Negati­ ven suchen. Hinter jeder Waffe steckt Verheißung oder Befreiung von wirklicher oder geglaubter Unterdrückung. Wenn der Einsatz von Prozesswerkzeugen zur Vertiefung des Konflikts führt, dann beruht das auf einer professionellen Ver­ pflichtung der Rechtsvertreter, mit ihren Mandanten die Möglichkeiten der jewei­ ligen Situation zu ergründen. Wer aus der gemeinsamen Wohnung ausgeschlos­ sen und vom Partner geschlagen worden ist, kann nicht nur Zugang zur Wohnung und Unterlassen von Gewalttätigkeiten verlangen. Es kann sinnvoll sein, darüber­ hinaus zu erörtern, welche weiteren rechtlichen Möglichkeiten der Wohnungs­ zuweisung, der Wahrnehmung des Sorgerechts für ein Kind oder einstweiliger Unterhaltsansprüche bestehen. In einer Verkehrsunfallsache erwarten die Betei­ ligten, dass man nicht nur aufgeklärt werde, welche Reparaturkosten man vom Unfallverursacher verlangen könne, sondern auch erfahre und verlange, was an Schmerzensgeld, Verdienstausfall oder Haushaltshilfe ersetzt werde. Die anwalt­ liche Beratung über die Möglichkeiten im Prozess vergrößert damit das Konflikt­ potenzial und schafft Begehren in Bereichen und im Hinblick auf Summen, die vor dem Prozess nicht zur Debatte standen. Wer Waffen hat, entdeckt erst, was man alles verlangen und in welche Bereiche der Prozesskrieg getragen werden kann – und tut es auch. „Konfliktlösung“ wäre etwas anderes. Ein Therapeut würde nicht darauf aufmerksam machen, dass Ansprüche in noch ganz anderer Weise erho­ ben werden können, als das tatsächlich gerade geschieht. Die Mediation zielt auf Reduktion des Streitstoffs, während der Streit den Streit ausweitet. Damit verbun­ den ist die im Rechtsstreit regelmäßig wachsende Neigung, Beweismittel zu erwei­ tern, zu erneuern und zu vertiefen, wenn sie nicht ohne Weiteres zum Erfolg füh­ ren. Wer sich schon einmal in einer Beweisaufnahme befindet, kann an sich selbst die Eigenlogik eines Waffengangs bemerken. Der endgültige, spätere, noch in der Zukunft liegende Sieg soll errungen werden, und dafür werden im Laufe des Pro­ zesses Waffen geschmiedet, die es zu seinem Beginn noch nicht gab. Das sprich­ wörtliche Waschen schmutziger Wäsche ist da noch die haushälterische Variante. Insofern hat die Mediation – selbst wenn sie kein Ergebnis hervorbringt – einen eigenen atmosphärischen Wert.74 Sie ändert das Klima in einem Verfahren, das darauf angelegt ist, durch den Einsatz prozessualer Waffen dem Gegner prozess­ entscheidende, in der Verfahrenswelt tödliche Verluste beizubringen.75 74

Gary J. Friedman, A Guide to Divorce Mediation, New York 1993, 9. Fritjof Haft/Katharina Gräfin von Schlieffen, Handbuch Mediation. Verhandlungstechnik, Strategien, Einsatzgebiete, München 2002. 75

224

VI. Das Justizdispositiv

Wie bei allen Kriegen und Kämpfen bleibt die streitige Auseinandersetzung auch nicht offen und ritterlich. Es werden Illusionen erzeugt, es wird mit erlaub­ ten und unerlaubten Tricks gearbeitet und – wenn außerrechtliche Skrupel erst ein­ mal beseitigt sind und man sich lange genug befehdet hat – wird auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln getäuscht. Illusionstheater, Tricks, und Täuschungen können ansatzweise vorgestellt werden, wenngleich es dafür naturgemäß keine Gebrauchsanweisungen gibt. Der Zeugenbeweis ist ein ebenso beliebtes, wie täu­ schungsanfälliges Beweismittel. Zeugen gelten zwar als Auskunftspersonen über Tatsachen, aber jeder für sich ist nicht nur ein Mittel, sondern auch eine Waffe, die man einsetzen, vorläufig unter Verschluss halten oder gänzlich außer Acht lassen kann, wenn das vermutete Ergebnis nicht in den eigenen Angriffs- oder Verteidi­ gungsplan passt. Denn ein Zeuge muss benannt werden, und damit steht es in der Disposition der Beteiligten, ob es ihn gibt oder nicht. Für den privaten Rechtsstreit gilt das schon von der Anlage der Prozessordnung, aber auch das Strafverfahren ist davon nicht wesentlich unterschieden. Eine Strafanzeige, mit der Zeugen nicht benannt werden und bei der damit zu rechnen ist, dass der Beschuldigte sich auch nicht einfach für schuldig bekennt, gelangt über das Stadium der Aktenanlage regelmäßig nicht hinaus; das Verfah­ ren wird irgendwann mangels Zeugenangebots eingestellt. Im Routinestrafverfah­ ren muss der Anzeigeerstatter die Zeugen „liefern“, und die so gelieferten Namen und Adressen müssen sich auch als ergiebig erweisen. Zu diesem Zweck kann je­ der Zeuge nachhelfen. Zum richtigen Zeugen wird man nämlich in der Regel erst, wenn man zu einem Thema, dem man normalerweise im Alltag keine Be­ achtung schenkt (Befand sich das Schreiben in einem kleinen oder großen Um­ schlag? Stimmte dieser Besteller einer Lieferung zu, ohne etwas zu sagen?), doch etwas sagen kann. Beliebt ist deshalb die Benennung von Ehefrauen, Freunden oder eigenen Firmenangehörigen als Zeugen, kaum jemals wird eine Person der Gegenseite benannt. Wenn man von vornherein damit rechnet, dass man etwas in einem bestimmten Sinne wird beweisen müssen, kann man einen Zeugen auch be­ wusst dazu machen, ihn gewissermaßen produzieren, indem man ihn an den Tat­ ort schickt. Er berichtet dann wie bestellt. Dabei muss nicht einmal für die Ge­ genseite erkennbar sein, dass und wer als Zeuge tätig werden wird. Noch schöner gelingt die Zeugenproduktion, wenn die Tat gleich mit produziert wird. Der agent provocateur ist ein umstrittenes, aber anerkanntes Mittel der prozessualen Krieg­ führung. Dabei bleibt es der prozess- und strafrechtlichen Dogmatik überlassen zu entscheiden, wie weit eine Zeugenmitwirkung oder Hervorlockung nun ge­ hen darf. Nach (entscheidungserheblicher Minderheits-)Meinung des Bundesver­ fassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren76 führte die Zeugenproduktion dazu, dass man die zu verbietende NPD von den produzierten Zeugen nicht mehr unter­ scheiden könne – ein unübliches Ergebnis, das aber zeigt, wie weit die Wahrheits­ findung von der unabhängigen Zeugenbeobachtung entfernt ist. Zeugen sind – darf 76

BVerfGE 107, 339–395, Rdz. 64–85, Beschl. v. 18.3.2003 – 2 BvB 1/01.

5. Die Waffen des Prozesses

225

man zusammenfassen – seit Jahrhunderten Unterstützer der sie jeweils benennen­ den Partei. Jede Partei – muss man in Widerspruch zu einer einseitigen Wahrheits­ lehre feststellen – disponiert über ihre Zeugen so, als seien es die entscheidenden Waffen. Vom Zeugenbeweis darf man Wahrheit nicht erwarten. Eigentlich weiß man das auch. Auf den ersten Blick scheint die Instrumentalisierung, die den Zeugenbeweis beherrscht, für das Mittel des Sachverständigenbeweises nicht zu gelten. Sachver­ ständige sind Wissenschaftler, die ihre Reputation eben daher beziehen, dass sie keiner der Parteien zugerechnet werden, sondern – insbesondere wenn sie vom Ge­ richt ernannt werden – objektiv der Wahrheit dienen. Als Person soll der Sachver­ ständige nicht interessieren. Aber das ist eine prozessdogmatische Illusion, deren Brüchigkeit sich nicht nur an den Rändern zeigt, an denen Ergebnisinteressierte die jeweils entgegenstehenden Sachverständigen kurzerhand als „käuflich“ bezeich­ nen.77 In der Mitte wissenschaftlicher Expertise ist festzustellen, dass jede Art sachlicher Erkenntnisgewinnung von der eigenen, interessegeleiteten Stellung im Unter­suchungsfeld abhängt. Das dürfte heute theoretisch nicht mehr strittig sein, nachdem es Jürgen Habermas im Jahre 1968 als Titel präsentiert hat.78 Was daraus für die Begutachtung im Partei-Streitverfahren folgt, wird aber nicht angemessen diskutiert. Wenigstens müsste man sehen, dass die Erkenntniskonflikte einer Dis­ ziplin sich natürlich in den Gutachten ihrer Angehörigen zeigen. Das ist deutlich, wenn sich eine Disziplin im Umbruch befindet und früher widerspruchslos ge­ glaubte Ergebnisse plötzlich von einer wachsenden Zahl kompetenter Wissen­ schaftler als falsch bezeichnet werden. In dieser Lage befand sich die Medizin in den Neunzigerjahren, als die herkömmlichen, empirisch kaum überprüften Dog­ men der Schulmedizin in Gegensatz zu einer vorher so nicht praktizierten „Umwelt­ medizin“ gerieten. In Fällen, wie sie in der Produkthaftung breit diskutiert worden sind, hängt das Ergebnis eines jeden Verfahrens dann davon ab, welchem Sachver­ ständigen man glauben will. Seine Wahl ist bereits selbst die Waffe.79 Wenn man Person und Hintergrund eines Sachverständigen kennt, weiß man häufig genug, zu welchem Ergebnis er kommen wird. Die prozessualen Wahrheitsvorstellungen rei­ chen dabei ebenso wenig als Korrektiv aus wie Begründungslehren, mit denen man Einzelergebnisse kontrollieren möchte. In jedem streitigen Verfahren muss man auch einem Wissenschaftler – oder gerade ihm – in erster Linie einfach nur glau­ ben, ehe man Zahlen, Maße und Ergebnisdifferenzen untersucht. Ebenso wie Zeugen und Sachverständige eignen sich schließlich auch Urkunden als Waffen des Prozesses. Man könnte sagen: Sie sind die erste und von manchen für einzig erheblich gehaltene Waffe des Rechts, weshalb mächtige Rechts­betei­ 77 Antje Bultmann/Friedemann Schmithals (Hrsg.), Käufliche Wissenschaft. Experten im Dienste von Industrie und Politik, München 1994. 78 Habermas (Fn. II. 24). 79 Herbert Stelz, „Wer uns sehr genehm, wer uns genehm und wer uns unangenehm wäre“ – Gutachter zu Holzschutzmitteln, in: Bultmann/Schmithals (Fn. VI. 76), 359.

226

VI. Das Justizdispositiv

ligte sich Urkunden unterzeichnen lassen, auf die sie ihr Recht glauben stützen zu können (Kap.  V. 3.). Urkunden dürfen nicht nur, sie sollen sogar  – wie man meist sagt – zum Zwecke der Rechtsklarheit produziert werden. Man muss aber über sehr viel Glauben verfügen, wenn man meint, der Wortlaut einer Urkunde sei eben ihr Beweiswert und infolgedessen seien urkundlich belegte Ergebnisse auch nicht manipulierbar. So wie Zeugen bestochen werden können und Sachverstän­ dige nicht bestochen werden müssen, weil sie scheinbar der Natur der Sache we­ gen einem Ergebnis zuneigen, so können Urkunden entweder (besser) interpretiert oder (schlechter) gleich gefälscht werden. Das ist für Stanley Fish die Einbruch­ stelle für Ergebnisorientierung bei gleichzeitiger Förmlichkeit. Man gibt formalen Vereinbarungen eine interpretativ andere Richtung.80 Denn die andere Seite der Waffentauglichkeit ist die Interpretationsnotwendigkeit, die mit jedem Text ver­ bunden ist. Es genügt im Streitfall fast niemals, die Urkunde einfach nur vorzu­ zeigen, man muss auch sagen, was man aus dem Text herausliest, und wenn man es scheinbar ganz deutlich herauslesen kann, stellt sich die zusätzliche Frage, ob bei der Verwendung des Textes nicht andere Interpretationen herangezogen wor­ den sind, als sie den Lesern des Gerichtsverfahrens aktuell gerade einfallen. Dann wird auch der Urkundenbeweis wieder mit dem Zeugenbeweis verknüpft, wie überhaupt fast kein streitiges Ergebnis ohne Beistand und Zuspruch durch Zeugen erzielt werden kann. Stanley Fish hat in seiner amerikanischen Fallstudie zu den Form­bedingungen des Vertrags untersucht, ob es einen schriftlichen Vertrag ge­ ben kann, der – weil er den Streitgegenstand ausdrücklich regelt – gegen den Ein­ wand immun ist, dass die Parteien aber das Gegenteil gewollt und praktiziert hät­ ten. Fish zitiert die verwirrende Regel des Supreme Court, „dass es so etwas wie ein klares und eindeutiges Dokument nicht gebe, weil es ‚unmöglich ist, die Bedeu­ tung, die die Parteien den Worten gaben, allein aus der Urkunde zu entnehmen‘.“81 Damit wird der Urkundenbeweis an den Zeugenbeweis angeschlossen, und die ur­ kundlich belegten Streitigkeiten sind denselben Glaubensgrundlagen überantwor­ tet wie alle anderen auch. Die Urkunde wird damit wie jeder Zeuge auch zu einer Waffe im Kampf der Prozessparteien, nicht mehr und nicht weniger. 6. Entscheidungsnot Im prozessualen Kampf ist es eine Not zu entscheiden, und die Not stammt aus dem Justizdispositiv selbst, d. h. aus den Dispositionen im Verfahren. Denn das Gericht sieht nicht von oben oder aus dem Jenseits auf das Getümmel herab. Es steckt mittendrin und ist unter Umständen am Kampf selbst beteiligt. Genau dar­ auf zielt die stratégie de rupture ab. Es gehört zum anwaltlichen Kalkül, das Ge­ richt einer Unparteilichkeit zu berauben, für die es keine Sprache hat. Denn jede Äußerung im Prozessgeschehen selbst macht von Waffen Gebrauch, die jedem 80

Fish (Fn. II. 78), 116 f. Fish (Fn. II. 78), 116, unter Bezug auf Trident Center v. Connecticut General.

81

6. Entscheidungsnot

227

Sprecher und damit auch dem Gericht zur Verfügung stehen, die allerdings – wenn das Gericht sie wirklich gebraucht – deutlich machen, dass es in vergleichbarer Weise kämpft, mal mit oder gegen diesen, mal gegen jenen anderen Verfahrens­ beteiligten. Gerichte können ihre Ausdrucksweise dabei gegenüber anwaltlicher Polemik mildern, aber es entsteht dennoch oft genug der Eindruck, das Gericht sei einfach nur „autoritär“. In Strömholms Rechtslehre ist das ein Wesensmerk­ mal des rechtlichen Entscheidungsmodells.82 Autorität muss auch noch dafür ein­ gesetzt werden, das zu tun, was bei Gericht prozessordnungsgemäß vorgesehen ist: zu entscheiden. Die allgemeine Semiotik ist keine Entscheidungsdisziplin. Sie sieht nur Zuord­ nungen vor, und jede Zuordnung enthält zwar eine Entscheidung, wenn man sich an die Zuordnung selbst hält. Aber diese semiotische Einstellung ist wenig verbrei­ tet. Meist wird das gemeinte Ereignis als Zeichen genommen, und dann fällt der Entscheidungsanteil nicht mehr auf. Ein Ikon leuchtet ein wie die Mona Lisa, ver­ vielfacht von Andy Warhol, und wenn das Bild sich nicht aufdrängt, dann bleibt es eben nur ein Ding, für das der Interpretant fehlt. Indexikalische Zuordnungen können schon eher als Entscheidung wirken, weil sie entweder als Zeichen oder gar nicht gelesen werden. Wenn sie gar nicht gelesen werden und es Interpretan­ ten für eine Spur nicht gibt, dann bleibt immer noch die Spur als Objekt, die viel­ leicht andere lesen. Sie fällt eben nur nicht auf. Die Not der Entscheidung stellt sich erst auf der von Peirce so bezeichneten höchsten Stufe des Zeichenprozesses ein. Willkürliche, unmotivierte oder widersinnige Entscheidungen sind auf das Feld symbolischer Zeichen mit Argumentfunktion beschränkt. Dort muss man sich dafür entscheiden, einer Codierung zu folgen oder sie zurückzuweisen, weil Interpretanten auf Interpretanten reagieren.83 Weil das so ist, werden die Verfah­ ren des Rechts zu Orten der Entscheidung, die eine Not kanalisieren und selbst aus Nöten bestehen. Gericht und Behörden liefern Entscheidungen und werden für diese Funktion bezahlt. Man sollte denken, damit wäre die Not gebannt. Aber mit einer solchen Sichtweise bliebe man an der Oberfläche. An der Oberfläche begegnet mit loben­ dem Prädikat, was in der Justiz „Entscheidungsfreude“ genannt wird. Entschei­ dungsfreude ist ein wichtiges Attribut für aufstrebende Richter. Die Entscheidung durch Urteil rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Verkündung des Ur­ teils hat beispielsweise Carl Schmitt am Beginn aller juristischen Überlegungen zu Recht und Sprache als den einzigen und wahren Augenblick des Rechts gefei­ ert. Die Interpretation eines Urteils als Entscheidung ist nämlich nicht ohne Wei­ teres selbstverständlich. Bei Carl Schmitt wird das Urteil prozessrechtlich der Norm gegenübergestellt, aus der es nach üblichem juristischem Verständnis nur hervorgehen kann und soll, weil der Richter an das Gesetz „gebunden“ sei. In der 1912 erschienenen Schrift „Gesetz und Urteil“ konfrontiert Schmitt Justiz und­ 82

Stig Strömholm, Allgemeine Rechtslehre. Eine Einführung, Göttingen 1976, 161. Eco, Semiotik (Fn. IV. 82), 104.

83

228

VI. Das Justizdispositiv

klassische Normvorstellungen mit dem Postulat der Bestimmtheit.84 Nach herge­ brachtem Normverständnis müsste jedes Urteil vorhersehbar sein. Streng genom­ men, könnte es dann gar nichts mehr entscheiden, denn wer siegt, gewinnt, weil die Norm es so vorentschieden hat. Entschieden werden kann aber nur etwas, das in der Disposition einer Person steht. An dieser Stelle platziert Schmitt jene selbst wieder klassisch gewordene Aussage über die Richtigkeit des Urteils, die nicht an den Inhalt der Norm gebunden sei. Richtig ist dann jene Entscheidung, die ein „anderer Richter ebenso“ getroffen hätte.85 Diese Orientierung ist auch eine Bin­ dung, aber sie ist von anderer Art als die am Gesetzestext ausgerichtete. Der Rich­ ter kann und muss erst einmal darüber nachdenken, was er wählt, und ihm wird ein Attribut zugeschrieben, das Maßstab sein soll,86 nämlich moderne Gelehrsam­ keit. Den Maßstab gibt der „Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen“. Das Problem, wie zu entscheiden ist, wird also nicht einfach durch die eigene Ent­ scheidung geklärt. Welche Ziele verfolgt werden und in welche Richtung eine Ent­ scheidungsfrage aufgelöst wird, soll mit der Kenntnis von Gerichten, Fällen und anderen Entscheidungen in einem personalen Typus verankert werden, der aller­ dings – weil eben Typus – nicht einfach der wirkliche empirische Richter ist, den das Justizdispositiv einsetzt. Die Entscheidung bleibt damit an einen Idealtypus gebunden, der aber nicht dem des „Gesetzgebers“ entspricht, sondern unmittelbar aus dem Justizdispositiv selbst stammt. Sie soll auch zusammen mit der Begrün­ dung, die der entscheidende Richter für sie gibt, gesehen und gewürdigt werden,87 weil sie nicht Gesetz ist und insofern eine andere Zeichenklasse darstellt, als die Norm (Kap. IX. 1.) es ist. Carl Schmitt hat diese Differenz provokativ zugespitzt und mit einer Absage an die Bindungskraft des Gesetzestextes verbunden. Die (vielfach befehdete) Sentenz dazu lautet: „Die Entscheidung ist, normativ betrach­ tet, aus einem Nichts geboren.“88 Dieser unerhörte Vorgang wird professionell verdeckt, heruntergespielt und von vielen anderen Abläufen und Zergliederungen kleingearbeitet. Der erste, der diesen provokanten Befund nicht aushält, ist nämlich Carl Schmitt selbst. Als Ju­ rist sucht er nach Anlehnung – und findet den „Führer.“89 Die wirkliche Entschei­ dung vergrößert in entscheidungsorientierten Verfahren noch die Not, die Verfah­ ren eigentlich zu beheben scheinen. Professionell wäre dann am Ende nur noch die Entscheidung über Fragen möglich, bei denen das Ergebnis für die Beteiligten – bei Lichte und außerhalb des Verfahrens gesehen – gleichgültig bleiben kann, in dem also so oder so entschieden werden darf. Der „rechte Sinn für das ‚Dahinge­ 84 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, 2. Aufl., München 1969, 46–70. 85 Schmitt (Fn. VI. 84), 71. 86 Schmitt (Fn. VI. 84), 77. 87 Schmitt (Fn. VI. 84), 82. 88 Carl Schmitt, Politische Theologie (1922), 8. Aufl., Berlin 2004, 37 f. 89 Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmo­ derne juristische Methodologie, Weilerswist 2009, 151.

6. Entscheidungsnot

229

stelltseinlassen‘“, den Luhmann90 für Vertrauen eingefordert hat, beruht auf der Beobachtung, dass die wichtigen Fragen des menschlichen Zusammenlebens nicht entschieden werden müssen, sondern nur ein von der Profession klein ge­arbeiteter Rest dafür übrig bleibt. Allerdings trifft diese Charakterisierung für viele Ent­ scheidungen nicht zu, weil doch existenziell in Lebenssituationen eingegriffen wird. Nur selten kann so oder anders entschieden werden. Der Sinn für das Dahin­ gestelltseinlassen wäre das laienhaft-alltägliche Äquivalent für die Möglichkeit juristischer Professionalisierung. Er kann aber – anders als die Professionsanfor­ derungen – nicht zuvor gelernt und geprüft werden, es gibt auch keine Vorberei­ tungsjahre für das Aushalten von Entscheidungen. Sie wären freilich notwendig, weil Professionalisierung mögliche Fehler mit einschließt und keinen Maßstab für Höchstleistungen abgibt. In der Entscheidung stoßen also miteinander unverträg­ liche Sphären zusammen. Soweit im menschlichen Zusammenleben Probleme als unlösbar erscheinen und die Beteiligten mit unerbittlichem Zwang auf das Justiz­ dispositiv verwiesen werden, wird hier ein Verfahren bereitgehalten, das der Not mit weiterer Not begegnet. Es darf entschieden werden, und vieles wird schlim­ mer, als es vorher sowieso schon war. Diese Aussicht ist Ausdruck der Entscheidungsnot. Einerseits mag es tröstlich sein, dass alles nach der Entscheidung anders aussehen könnte, andererseits ist da­ mit natürlich nicht gesagt, dass es sich um das Ende handelt, das man sich wünscht. Besser könnte es deshalb sein, das Ergebnis noch eine Weile offenzuhalten, bis man das Gericht geneigt und überzeugt sehen darf. Das ist jedenfalls ein mög­ liches strategisches Ziel im Prozess, das die Beteiligten anstreben können und mit dem die Abschlussentscheidung verzögert, hinausgeschoben und möglicherweise insgesamt verhindert wird.91 Das gesamte Verfahrensrecht darf unter dem Ge­ sichtspunkt, dass es einseitige Parteirechte begründet, als Reservoir für Verzöge­ rungswirkungen verstanden werden mit dem Effekt, dass neben der Zuteilung des Prädikats „Recht“ oder „Nicht-Recht/Unrecht“ ein „dritter Wert“ etabliert wird: die Ungewissheit der Wertzuteilung.92 Der dritte Wert verlangt von den Beteilig­ ten, sich im Verfahren auch noch zu entscheiden, die Sache entscheiden zu lassen. Nur selten wird erörtert, dass Entscheidungen vermieden werden müssen, weil sie die Not derjenigen, die sie ertragen, noch vergrößert. Wer das in seinen Überle­ gungen strategisch berücksichtigt, möchte eine Entscheidung vielleicht insgesamt verhindern, indem er sich entscheidet, einer Lösung zuzustimmen, die als Verfah­ rensende gelten kann: einem Vergleich. Der Vergleich ersetzt die Entscheidung, er verschiebt sie in den Bereich derjenigen, die gekommen waren, sie von einem Dritten zu erfordern.93 Das ist ein Weg, an dessen Ende sich die Not in einem pa­ 90 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973, 65. 91 Thomas-Michael Seibert, Der aktuelle Stil der juristischen différance, in: Heinrich F. Plett (Hrsg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 120–138 (126). 92 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, 209. 93 Holtwick-Mainzer (Fn. I. 93), 140 f.

230

VI. Das Justizdispositiv

radoxen Rückschlag der Forderung auf den Fordernden zeigt. Man sieht die Para­ doxie aber auch, wenn man nicht mehr den Gang des Verfahrens hin zu einer Ent­ scheidung in den Vordergrund stellt, sondern auf den Inhalt dieser Entscheidung achtet. Eine verantwortliche Rechtsentscheidung – so heißt es allgemein – muss sich begründen lassen, und das ist nur möglich, wenn die Entscheidung auch einer Regel folgt, man also vorhersehen konnte, dass sie einem Fall angemessen war, auf ihn passte. Andererseits – und diesen Aspekt betont Jacques Derrida  – kann die Regelanwendung dem Fall nur dann angemessen sein und auf ihn oder zu ihm passen, wenn die Regel auf den Fall zugeschnitten ist und seine neuen Herausfor­ derungen aufnimmt. Der Richter, der einen Fall nach einer rechtlichen Regel ent­ scheidet, muss also wenigstens die Richtigkeit der Regel am Fall bestätigen und ihr zustimmen. Es reicht keineswegs aus, dass die Regel aus dem Gesetz folgt. Da die Wahl einer Regel aber bekanntlich nicht mehr von der Regel selbst als deren Fall geregelt sein kann, ist die grundsätzliche Zustimmung zur Rechtsregel nie selbst vom Recht verbürgt. Dazu muss man sich selbst erst noch entscheiden, was sprichwörtlich schwer ist und von Derrida im Stil Heideggers die „Heimsuchung durch das Unentscheidbare“ genannt wird. Diese zweite, mit der Regelanwendung eng verbundene Aporie lässt auch die Entscheidung schillern, denn ihr „wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst“ – resü­ miert Derrida.94 Als Gespenst erscheint jene eigentlich unmögliche, aber wirkliche Frage, ob man die Rechtsregel, die sich aus dem Gesetz ablesen lässt, wirklich an­ wenden wolle oder nach Auswegen suche – eine verbotene, gespenstische Frage nicht nur für jeden rechtsanwendenden Juristen, sondern auch für alle dem Recht unterworfenen Antragsteller. Unentscheidbarkeit müssen alle in Rechnung stellen, die sich an Dritte zu­ Zwecken der Entscheidung wenden oder selbst entscheiden wollen. Diese Unent­ scheidbarkeit wird gewöhnlich durch Verfahrenszüge verdeckt. Man entscheidet nicht sogleich, man hört erst einmal die andere Seite an, man versucht erst einmal zu klären, was man wissen muss, um danach zu ermitteln, was man noch nicht weiß, man verhandelt das Problem der Entscheidung mit dem Gegner, mit Dritten oder in ersten, zweiten und dritten Rechtszügen. Die Entscheidung dauert damit an, sie lässt auf sich warten, und doch – da wird Derrida je nach Perspektive zum Untersuchungsrichter oder zum Berufsrevolutionär – soll die Entscheidung gleich, umstandslos, klar und regelnd ergehen, sie muss „frisch“ sein, wenn sie denn über­ haupt etwas entscheidet und nicht abgestanden ist nach Jahren des Wartens, er­ schöpft nach Tagen wiederholter Debatten, zermürbt durch die Aussicht auf un­ lösbare Probleme. Kraft (force) verlangt schnelles Handeln.95 Derrida nimmt hier Gedanken von Stanley Fish auf. Fish demaskiert nämlich bei dieser Gelegenheit die in der Rechtsdarstellung beliebte Regelorientierung und stößt auf ihre latente Gewalt. Denn Schnelligkeit hat ihren Preis. Wer „Lösungen“ durch Entscheidung 94

Derrida, Gesetzeskraft (Fn. I. 84), 50 f. Derrida, Gesetzeskraft (Fn. I. 84), 47.

95

6. Entscheidungsnot

231

will, wird zwar nur selten mit Pistole am Kopf dazu gezwungen, aber häufig genug ist der Kopf selbst die Pistole, die mit sogenannten „Gründen“ feuert, oder nach dem Spottspruch von Stanley Fish: „The gun at your head is your head“.96 Damit kehrt Fish die von H. L. A. Hart eingeführte Metapher um, wonach es sich nicht mehr um Recht handelt, wenn Pistolenhelden es an sich reißen und Befehle geben, und beschäftigt uns mit dem psychischen Zwang oder der Zwanghaftigkeit, kurz und schnell zu entscheiden. Behördenvertreter wie Richter greifen nach Lösungen, die einfach scheinen, weil sie die Sache beenden. Das Justizdispositiv ist am Ende nicht identisch mit der Justiz. Im Justizdispo­ sitiv wird über ein Rechtsbegehren subjektiver Art durch Entscheidung von außen disponiert. Die Entscheidung ergeht nach schematisierten Wahrheitsbedingungen in formalem Verfahren, sie verfehlt insofern regelmäßig das ursprüngliche Begeh­ ren, möglicherweise durch die Art und Weise der Verfahrensdisposition, vielleicht auch wegen der Nöte der Entscheider. Wie die Entscheidung aussieht, ist Gegen­ stand des nächsten Kapitels.

96

Fish (Fn. II. 78), 192.

VII. Die Entscheidung Alle Welt will Entscheidungen. Deshalb ist die Not mit ihnen so groß – sub­ jektiv für diejenigen, die Sachen zur Entscheidung unterbreiten, objektiv für die Entscheider. Aber die Prozessordnungen favorisieren diese Art der Verfahrens­ erledigung und machen nur sie zum Gegenstand prozessualer Regeln. Das Jus­ tizverfahren wird von der Möglichkeit der Entscheidung her gedacht, und Ent­ scheidungen stehen auch im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Rechtsdiskurses. Man zitiert sie, interpretiert ihre Voraussetzungen und Folgen und orientiert so­ gar Begriffe anhand der entschiedenen Fälle. Das ist eine folgenreiche Einschrän­ kung für den Anspruch der gelehrten Disziplin, denn Entscheidungen repräsentie­ ren Zweitheit. Sie sind ein Satz über einen Fall – nicht mehr und nicht weniger –, und Entscheidungssätze (Tenores) thematisieren nicht die Vermittlung des Aus­ spruchs mit dem Anlass. Der Satz „Der Angeklagte wird freigesprochen“ ist wis­ senschaftlich unergiebig. Die Entscheidung ist eben ein Index, der existiert und von außen in Möglichkeiten der Zuordnung eingreift. Sie ist ein Objekt, das aus­ gefertigt werden kann durch ein besonderes mit einem Siegel versehenes Papier, den sogenannten „Titel“. Symbolisch ist der Titel deshalb noch nicht. Die Zuord­ nung kann man zwar kommentieren, man kann ihr widersprechen oder nach Be­ gründungen fragen, also nach Drittheit. Das ändert aber nichts an der einschnei­ denden Zweitheit. Als wirkliche, existierende Zuordnung (nicht: Wahl) ist eine Entscheidung genau das, was sie im Tenor bezeichnet. Sie ist nicht identisch mit ihrer Begründung oder schärfer: Zwischen Entscheidung und Begründung liegt ein Abgrund der Zuordnung. Man kann Entscheidungen mit verschiedenen Grün­ den versehen, aber es sind nicht die Begründungen, die über Entscheidungen ent­ scheiden.1 Entscheidungen bewirken etwas, sollen das zumindest tun (wobei die mögliche Vollstreckung nicht das Entscheidende ist), wirken aber selbst nach je­ nem bereits zitierten Satz von Carl Schmitt, als wären sie „aus dem Nichts gebo­ ren“.2 Das macht den Umgang mit ihnen schwierig und heftet ihnen ein Geheim­ nis an, das in der indexikalischen Zweitheit nicht aufhebbar ist. Keine Begründung vermag Auskunft über das zu geben, was sie nicht enthält – die andere Möglich­ keit nämlich, die Abweisung der Klage oder den Freispruch statt der Verurteilung oder die Erlaubnis anstelle des Verbots. Das Entscheidende bleibt in seinem Kern ein Geheimnis (1.). Die Sprache der Entscheidung wird in dreierlei Hinsichten un­ tersucht. Entscheidend ist zunächst und allein der Spruch selbst, er ist restriktiv 1

Thomas-Michael Seibert, Über Begründungen entscheiden, in: Ralph Christensen/Bodo Pieroth, Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, Berlin 2008, 235–249 (245). 2 Schmitt (Fn. VI. 88), 32.

1. Das Geheimnis der Entscheidung

233

und reduktiv und eignet sich nicht für Verallgemeinerungen (2.). Darüber hinaus sollen und müssen Entscheidungen Gründe haben. Das sind zunächst die Feststel­ lungen zum Tatbestand (3.), die den Fallbezug herstellen und einer Verallgemei­ nerung meist nicht zugänglich sind, und schließlich die für das Publikum meist allein interessanten Rechtsgründe (4.). Am Ende steht ein merkwürdiger Befund. Alle Kunstfertigkeit und der enorme Aufwand, der in Entscheidungen investiert wird, führen zur Modifikation des Entscheidungsverfahrens in ein Verfahren mit unentschiedener Aussicht auf eine Entscheidung. Mal gibt es sie, mal nicht. Das hat beträchtliche Rückwirkungen auf die Rechtsform (5.). 1. Das Geheimnis der Entscheidung Jede Entscheidung hat für die anderen ein Geheimnis, und das gilt selbst für denjenigen, der sie trifft. Denn weder die Frage nach dem „Warum?“ noch die nach dem „Wozu?“ dieser und keiner anderen Entscheidung wird durch die Gründe er­ ledigt, die man für die Entscheidung anführt. Der wirklichen Entscheidung ge­ hen mögliche Entscheidungen als Erstheit des Rechtszeichens voraus. Andere Ent­ scheidungen waren möglich, auch wenn das zu erwähnen trivial ist. Aber was dann wirklich von außen herantritt und verkündet wird, hat eben deshalb eine Innen­ welt, die sich nicht in den benannten Gründen erschöpft. Was möglich war, bleibt es auch noch nach der Entscheidung, und warum es nicht wirklich geworden ist, bleibt verborgen. Das Geheimnis der Erstheit wird nicht durch symbolische Über­ höhung in den Gründen beseitigt. Darauf kommt es für das praktische Verfah­ ren auch erst einmal nicht an. Das Verfahren – die Zweitheit des Rechtsprozes­ ses – leitet nur seinen Zweck aus der Orientierung auf eine Entscheidung ab, und da schadet es nicht, wenn deren Herkunft geheimnisvoll bleibt. Umgekehrt ist es geradezu nützlich, wenn Verfahren im Ergebnis offen bleiben, vieles möglich zu sein scheint und alle Beteiligten Hoffnungen für sich behalten. Legitimation fin­ det man für die Verfahrensabfolge dann allein schon deshalb, weil sie zu einer Ent­ scheidung führen soll, über deren Wirklichkeit die Beteiligten, die nur in Mög­ lichkeiten denken, nicht verfügen. Insofern dient es sogar der Wahrheitsfindung, den Angeklagten aufstehen und die Beteiligten damit fühlen zu lassen, dass sie ihre Lage ändern müssen, wenn sie mit Entscheidungen konfrontiert werden. Unverdrossen aufrechterhalten wird der aufklärerische Anspruch, das Recht dürfe nicht geheimnisvoll sein, sondern müsse sich – als vom Volk beschlossen, über Gerichte im Namen des Volkes verkündet und an alle Bürger gerichtet – jedermann offenbaren. Dieser Anspruch gehört zur verbreiteten Rechtsstaats­ auffassung. Seine Verbreitung macht die Beobachtung fortbestehender und neu entstandener Geheimnisse des Rechts zu einer semiotischen Entdeckung. Rechts­ theoretisch wird diese Entdeckung in die Figur des Paradoxons gefasst.3 Es er­ 3

Luhmann (Fn. VI. 89), 309 f.

234

VII. Die Entscheidung

scheint nach rechtsstaatlichem Anspruch nicht nur widersprüchlich oder defizitär, sondern paradox, dass die von Gerichten öffentlich verkündeten Entscheidungen selbst den anwesenden und zuhörenden Juristen den Inhalt des Rechts nur unge­ nügend verdeutlichen. Größtmögliche Transparenz, ständige Präsenz und fortlau­ fende Publikation tradieren ein neuartiges Rechtsgeheimnis, das allenfalls mit der Klage wahrgenommen wird, Normen seien trotz allem unverständlich.4 Da­ bei kann der geheimnisvolle Charakter des Rechtsdiskurses im öffentlichen Akt der Verkündung am besten erkannt werden. Verkündet wird nur der Tenor einer Entscheidung. Er besteht in einer Anweisung an die Parteien und wurde grund­ sätzlich mündlich mitgeteilt.5 Die davon getrennten Gründe werden nicht mit­ verkündet und nur schriftlich bekanntgemacht. Begründet wird der Tenor unter Bezugnahme auf andere Texte, vorzugsweise des Gesetzes. Das Signifikat des verkündeten Zeichens wird damit zu einer eigenen wiederum deutbaren Signi­ fikantenkette. Was diese bedeutet, soll die wissenschaftliche Lehre in Fallver­ gleich, Kommentar und Doktrinbildung mitteilen. Deren Zeichenketten können aber nicht mehr verkündet, sondern nur im Rahmen der Disziplin empfangen und von Rechtskundigen konsentiert oder abgelehnt werden. Welche Zeichen in dieser Interpretantenbewegung eine Rolle gespielt haben, könnte nur bei Trans­ parenz des Zeichenprozesses erkannt werden, der freilich im entscheidenden Bereich von Geheimnissen durchsetzt ist: dem richterlichen Beratungsgeheim­ nis,6 dem anwaltlichen Mandatsgeheimnis, dem öffentlich-rechtlichen Daten­ schutz, dem gerichtlichen Persönlichkeitsschutz, dem Bank-, Steuer- oder So­ zialgeheimnis. Wer – ohne beteiligt zu sein – Auskünfte über Beteiligte erhalten und auswerten will, trifft auf Geheimnisvorbehalte. Man erfährt nicht, was man wissen will und was zu wissen häufig auch für die Betroffenen unproblematisch wäre, weil Gerichte eine mögliche Auskunft grundsätzlich verwehren. Normierte Geheimnisse bewahren die Kommunikation unter den Mitgliedern eines Gerichts oder zwischen Anwalt und Mandant vor der Offenbarung, dass in der Empirie des Rechts möglicherweise nicht Rechtsregeln, sondern zweifelhafte Strategien eine Rolle spielen. Da mögen Vorurteile herrschen, da mag sogar getäuscht und gelogen werden. Deshalb reichen die Geheimnisse nicht unbegrenzt weit. Nur das anwaltliche Mandatsgeheimnis wird im Grunde auf alle Bereiche ausgedehnt, so weit nicht der Rechtsanwalt selbst an Straftaten beteiligt wird (und diese Aus­ nahme ist schon bei der anwaltlichen Postbeförderung möglicherweise prekär). Ansonsten soll sehr wohl kontrolliert werden, wer unter welchen Umständen zu wessen Gunsten entscheidet. Man will unabhängige Personen als Entscheider, aber man misstraut gleichzeitig der möglichen Willkür dieser Personen und möchte institutionell kontrollieren, was prozessdogmatisch der persönlichen Verantwor­ tung anheim gegeben ist. 4

Regina Ogorek, „Ich kenne das Reglement nicht, habe es aber immer befolgt“. Anmer­ kungen zur Verständnisdebatte, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 656–664 (657). 5 Forsthoff (Fn. V. 19), 2. 6 Kronenberger (Fn. I. 100), 116 f.

1. Das Geheimnis der Entscheidung

235

Was persönlich zu verantworten ist, kann nur begrenzt institutionalisiert und kontrolliert werden, und persönlich sind alle modernen gerichtlichen Entscheidun­ gen zu verantworten. Sowohl gemäß § 286 ZPO als auch gemäß § 261 StPO soll über die Beweiswürdigung nach freier Überzeugung entschieden werden, und nie­ mand zweifelt daran, dass die richterliche Überzeugung auch in allen übrigen Ver­ fahren Grundlage einer Gerichtsentscheidung sein muss. Das Stichwort taucht in den veröffentlichten Methodenlehren nicht auf, so dass man denken könnte, Über­ zeugung sei so frei, dass sie einer Methodenreflexion nicht zugänglich sei. Das Gegenteil wird praktiziert. Überzeugungen sind verdächtig. Angesichts der heuti­ gen Regelungsdichte in Normtexten und der Erledigungsschwierigkeit in Rechts­ verfahren darf man eher umgekehrt fragen, ob in einem bürokratisch geregelten Prozess etwas Ungeregeltes wie eine persönliche Überzeugung eine Rolle spie­ len kann oder ob man nicht die subjektive Seite im Hinblick auf die objektiven Regelmäßigkeiten zurückdrängen kann. Offenbar kann man das nicht  – so lau­ tet jedenfalls die gängige Antwort, in der aber nicht näher gefragt wird, welche Rolle die richterliche Überzeugung im Verhältnis zur dargestellten Begründung wirklich haben könnte. Das Verhältnis zwischen Überzeugung und Entscheidung bleibt ein Geheimnis der Entscheider, als Beratungsgeheimnis gesetzlich ge­ schützt und als Schwierigkeit und Unvorhersehbarkeit der Entscheidung praktisch erfahren. Auch Begründungen klären verkündete Entscheidungen nicht wirklich. Im Widerstreit stehen ein semantisches und pragmatisches Modell, die jeweils für sich einen Teil des Geheimnisses methodisch bearbeiten, es aber nicht auflösen, sondern jeweils in eine andere dunkle Seite verschieben. Nach juristisch harmonischer Vorstellung begegnen sich Entscheidung und Be­ gründung gewissermaßen partnerschaftlich im selben Stockwerk des Rechtsge­ bäudes. Aber was dann geschieht, darüber können unterschiedliche metaphorische Modellvorstellungen verfertigt werden. Nach der einen – Kronenberger7 nennt sie: die semantische – Modellvorstellung beauftragt der überzeugte Entscheider den dienstfertigen Begründer, abwärts in die Verliese der langen, verwinkelten und unübersichtlichen Sätze oder auch aufwärts zu den schlanken Prinzipien der gött­ lichen Gerechtigkeit zu eilen und sich dort nach den Worten umzusehen, die ein Gesetz richtig auslegen und den Sachverhalt zutreffend erfassen. Aber worauf der Auftrag gerichtet ist und welche Sätze man oben oder unten finden kann, ist mit dieser Vorstellung nicht geklärt. Könnte es sein, dass trotz intensiver Suche man­ gels begründender Sätze die Entscheidung zu ändern ist und der dienstfertige Be­ gründer dem Entscheider also die Überzeugung einflüstert und damit das Auf­ tragsverhältnis umkehrt? Oder würde dann der Charakter einer „Überzeugung“ nicht mehr getroffen werden? Was etwa eine „Überraschungsentscheidung“ ist, entscheiden nicht die wirklich oder möglicherweise Überraschten, sondern wie immer juristische Schriftgelehrte. Damit verliert sich das semantische Modell, das

7

Kronenberger (Fn. I. 100), 14–61.

236

VII. Die Entscheidung

eigentlich an offen zutage liegenden Sätzen orientiert ist, in Geheimnissen. Es hat Schwierigkeiten mit dem Verfahren. Deshalb liegt es nahe, anstelle der Texte das Verfahren selbst zum Mittelpunkt der Entscheidung machen, und das entspricht guter juristischer Übung. Heraus kommt ein pragmatisches Modell,8 in dem es weniger auf Sätze als auf Perso­ nen ankommt, und zwar zunächst auf die Beteiligten als Partei, ihre Schriftsätze und Aussagen, erst danach auch auf den Richter als Entscheider. Im pragmati­ schen Modell hat man sich emanzipiert von den dunklen Einflüssen irgendwo auf­ bewahrter Sätze und deren Klärung oder Verheimlichung. Die im pragmatischen Modell entscheidenden Sätze stammen von den Beteiligten und werden im kon­ kreten Verfahren geäußert. Das Geheimnis löst sich im Prozessgeschehen erst ein­ mal auf. Etwas anderes wird stattdessen geheimnisvoll. Recht ist nämlich nicht identisch mit der Erstheit der möglichen Reaktionen und der Zweitheit des verfah­ rensmäßigen Zugriffs. Das symbolische Rechtszeichen wird in keinem konkreten Verfahren vollständig repräsentiert, und die begrenzte Kompetenz der Verfahrens­ beteiligten (zu denen auch das Gericht gehört) verlangt nach einer Vermittlungs­ arbeit jenseits des gerade Artikulierten. Recht kann man sich als das denken, was im Verfahren gerade noch nicht thematisiert worden und aus Büchern, Sätzen und Prinzipien erst noch zur Sprache zu bringen ist. Anderseits ist die Überzeugung nicht mehr plausibel, wenn sie übergeht und verdreht, was andere besser und sicher wissen oder was der scheinbar Überzeugte am Ende selbst schon einmal wusste oder jedenfalls hätte wissen müssen. Allge­ meines Wissen kann an jeder Stelle gegen Überzeugungen ausgespielt werden, und wer an Wahrheit glaubt, darf behaupten, Überzeugungen dürften sich auch nicht gegen etablierte Wissenschaft richten. In einem solchen Fall hätte der Ent­ scheider vergessen, was andere schon wussten. Begründungen geben deshalb nur ein freieres und auch immer willkürliches Zeichen für die im Inneren einer Pyra­ mide begrabene Überzeugung. Die Entscheidung gibt ein Zeichen für die im Inne­ ren begrabene subjektive Wahrheit. Die Wahrheit wird dort wie in einem Schacht aufbewahrt  – jenem Schacht, den Derrida als Ausgang für die Bewegung der­ différance ausgemacht hat.9 Im Inneren des Begründungsgebäudes ist die Über­ zeugung aber gleichzeitig auch begraben. Sie kann vergessen werden, weil wir uns an das Gebäude halten und wissen, dass es im Inneren mit der Ewigkeit der Über­ zeugung geadelt ist. Immerhin: Das Gericht darf und muss in diesen Schacht hi­ nabsteigen. Da Wahrheit im Recht als wahre Bedeutung des Gesetzes aber nicht darstellbar ist,10 kommt der Rechtspflege die spekulative Aufgabe zu, unaufheb­ bare Unbestimmtheit in Zeichen einzugrenzen, mit Zeichen zu ummanteln und hinter Zeichen zu verbergen. Spekulatives Denken sieht Kronenberger im Zen­ 8

Kronenberger (Fn. I. 100), 62–123. Jacques Derrida, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: (Fn. V. 54), 85–118 (96 f.). 10 Müller/Christensen/Sokolowski (Fn. II. 67), 110 f. 9

1. Das Geheimnis der Entscheidung

237

trum der Rechtspflege.11 Das erscheint wenig bürokratisch, merkwürdig sperrig und ist kaum noch semantisch regelgeleitet. Der Schacht der tiefen inneren Über­ zeugung ist geheimnisvoll. Im Rechtsverfahren fällt die Entscheidung nun weder vom Himmel, noch taucht sie aus Abgründen auf. Vielmehr soll sie im Verfahren durch die mündlichen und schriftlichen Beiträge der Beteiligten neu entstehen. Damit wird der andere, der pragmatische Weg der Überzeugungsbildung eröffnet. Das pragmatische Mo­ dell der Überzeugungsbildung lässt die spekulativen Schwierigkeiten der Bedeu­ tungsermittlung zunächst einmal vergessen. Es scheint ganz einfach, sich Auf­ schluss über die Grundlagen einer Entscheidung zu verschaffen, wenn man sich dem Vortrag der Beteiligten im Verfahren wirklich zuwendet. Das ist die Aufgabe der mündlichen Verhandlung in einem Verfahren, in dem die subjektive Über­ zeugung die Entscheidung bestimmen soll. Die öffentliche, mündliche Verhand­ lung sorgt für die rationale Struktur der subjektiven Überzeugung des Richters, in ihr wirkt der Begründungsanspruch nur indirekt und bezieht sich auf das von den Parteien Vorgetragene.12 Nur deren Sachvortrag soll schließlich die Grund­ lage für Überzeugungen bilden. Aber auch die Pragmatik des Verfahrens kennt eine Bewegung hin zum gerichtlichen Begründungsschacht und dessen Geheim­ nissen. Denn Darstellung und Auswahl im Urteil machen am Ende die Wirklich­ keit des Verfahrens zum Begründungstext. Darüber wird beraten, weil Entschei­ dung wie Vertextung in der gerichtlichen Begründung Ausdruck der richterlichen Überzeugung sein sollen. Über die innere Überzeugung selbst wird nach dem Ab­ schluss der Verhandlung erst einmal geschwiegen. Äußerlich zeigt sich das daran, dass die Beratung über die Entscheidung in den Arkanbereich des Beratungszim­ mers verlegt wird, in dem der Einzelrichter mit sich selbst allein ist und das Rich­ terkollegium mündlich und informell in Sätzen operiert, von denen die Öffent­ lichkeit nicht erfahren soll, ja nicht einmal erfahren darf, weil das ein Bruch des Bera­tungs­geheim­nisses wäre.13 Was da geäußert wird, kann kurz oder lang, ein­ seitig oder vielstimmig, pauschal oder schulmäßig sein. Geregelt ist es nicht. Auch die Regeln der Gerichtsverfassung geben wenig Struktur. Aus § 196 GVG erfährt man lediglich, dass es Meinungen in der Beratung geben kann und darüber abge­ stimmt werden soll. Man erfährt nicht, was als Meinung möglich ist, und gewis­ sermaßen zulässigerweise gemeint werden darf. Trotz oder wegen der Öffentlich­ keit des Verfahrens und ihren Forderungen nach Gehör, Hinweis, Verständnis und Wechselseitigkeit umgibt den Vorraum der Entscheidung ein Geheimnis, wonach das ganz Andere, das öffentlich noch nicht Gehörte, auch das Unverstandene und Einseitige ausgedrückt werden darf und nicht mitgeteilt werden soll.14 11

Kronenberger (Fn. I. 100), 53 f. Seibert, Gerichtsrede (Fn. I. 123), 156–162. 13 Kronenberger (Fn. I. 100), 115 f. 14 Wilfried Küper, Historische Bemerkungen zur „freien Beweiswürdigung“ im Strafprozeß, in: Arthur Kaufmann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, Mün­ chen 1979, 23–46. 12

238

VII. Die Entscheidung

Das bleibt das Geheimnis jeder Begründung, das sich selten offenbart, sich aber nicht gänzlich verdecken lässt. So wurde über den Freispruch im Wiederaufnah­ meverfahren gegen Monika Weimar spekuliert, die offensichtlich unzureichende Urteilsbegründung sei darauf zurückzuführen, dass der Freispruch auf der Mei­ nung der Laienrichterinnen beruhte, denen die Berufsrichter keinen Ausdruck ge­ ben konnten und wollten.15 Das wäre schlechter Stil, denn öffentlich und in der nach außen gegebenen Darstellung soll die Entscheidung homogen wirken. Aber eines fällt methodisch auf: In beiden Modellen der Überzeugungsbildung – in sub­ jekt- und wahrheitsbezogen semantischer wie auch in verfahrens-, raum- und zeit­ bezogen pragmatischer Perspektive – endet die Frage nach der Überzeugung an einer Stelle, die nicht mehr artikuliert werden kann, und diese Stelle liegt nicht irgendwo am Rande, sondern mitten im Zentrum der Entscheidung. Es ist in der Sprache Derridas der Grabesschacht in und unter der Pyramide der Bedeutung. Er bleibt dunkel und kann nicht erhellt, nur geleert oder ausgeraubt werden.16 Dort ist und bleibt ein Geheimnis. Das helle Licht der Verfahrensöffentlichkeit richtet sich allein auf die aus dem Dunkel des Beratungszimmers veröffentlichte Darstel­ lung. Ihr voran geht das Ergebnis, das Antwort auf die agonale Frage gibt: Wer hat gewonnen, wer verloren? 2. Dicents oder Urteilsformeln Am Anfang jeder verkündeten Entscheidung steht ein Spruch, „Tenor“ genannt. Auch wenn man theoretisch einsehen kann, dass Entscheidungen ein Geheimnis haben und auf Geheimnissen beruhen, sind alle wirklichen Entscheidungen in die­ sem Punkt rituell, öffentlich und einfach. Man übersieht das Geheimnis im Ur­ teilsspruch. Urteile schließen das Verfahren damit insgesamt oder wenigstens in der Instanz ab. Durch den Urteilsspruch bricht der Dritte in den Streit von zweien ein, nicht notwendig indem er ihn schlichtet, löst oder beendet, aber durch autori­ tative äußere Anordnung. Die Entscheidung muss ein solches Moment der Zweit­ heit enthalten, das es überflüssig macht, nach einer symbolischen Entfaltung zu fragen. Entscheidungen wirken durch ihre Existenz, und sie existieren als Spruch. Der Entscheidungsspruch hat eine eigene Sprache, in der man nicht viel Worte machen soll. Sie muss als Sprache des gerichtlichen Tenors geübt werden. Der Ent­ scheidungsspruch wird normalerweise auch gar nicht in seinem Wortlaut, sondern nur so berichtet, dass man erfährt, einer habe „gewonnen“ oder „verloren“ – mit in­ dexikalischen Legizeichen also, die es in der Entscheidung nicht gibt, höchstens in ihrer Begründung. Die Sprache des Tenors hat eine eigene Form. Sieht man sie sich näher an, so bemerkt man sofort, dass sich im entscheidenden Teil einer Entschei­ dung nichts Wichtiges sagen lässt, wenn man einmal annimmt, dass ­Semantik – und gemeint ist hier: der Vorrat bewahrenswerter, würdiger und intersubjektiv 15

BGH StV 1999, 5 f. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft (1994), Frankfurt a. M. 2000, 104.

16

2. Dicents oder Urteilsformeln

239

bedeutsamer Sätze und Worte – wichtig wäre.17 Ich zitiere aus der Sprache des Te­ nors, in der einfach und im Übrigen auch eindeutig der Satz wirkt: (1) Die Klage wird abgewiesen.

Dieser Satz – auch wenn die These rechtssoziologischer Überprüfung bedürfte – ist der in erster Instanz beliebteste Satz der deutschen Justiz. Ebenso einfach, aber geradezu von Seltenheitswert begleitet, ist demgegenüber der Ausspruch: (2) Der Angeklagte wird freigesprochen.

Es ist nicht so, dass Freisprüche nicht vorkämen, aber sie indizieren einen insti­ tutionellen Konflikt. Der Strafrichter, der freispricht, fordert einen institutionellen Mitspieler heraus und macht ihn zum Gegenspieler. Der strafrechtliche Freispruch enthält immer auch den Vorwurf: Die Anklage hat keine ausreichende Substanz, man hätte – reduziert man die Perspektive auf das Ergebnis – auch ohne Haupt­ verhandlung auskommen können. Demgemäß gewinnen Freisprüche vor allem für die polizeiliche Arbeit den Charakter einer Schmähung. In Zivilsachen ist das anders. Nicht dass dort keine Konflikte aufträten, wenn man Klagen abweist oder Ansprüche zuerkennt. Nicht dass in Zivilsachen etwa nur Gelegenheitsarbeiter aufträten, deren sachliche Vorarbeit man weniger ernst nehmen müsste als das Ermittlungsverfahren von Polizei und Staatsanwaltschaft. Wer aber die Arbeit in forensischen Zivilsachen und in Strafsachen kennt, weiß, dass Entscheidungen in Zivilsachen viel eher möglich sind und viel sachlicher hin­ genommen werden, so dass dort von einem irgendwie persönlichen Konflikt nur ganz selten gesprochen werden kann. Die Entscheidung in Zivilsachen ist selbst auch ein Angebot für eine Konfliktdeutung und -lösung. Wenn man die Verurtei­ lung auf Geldsummen beschränkt, kann man von der unendlichen Teilbarkeit und dennoch andauernden Bestimmtheit des Mediums Geld zehren. Der Titel: (3) Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 111.232,85 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2.09.2004 zu zahlen. Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.

ist prekärer als die Abweisung oder auch das Zusprechen eines Antrags. Prekär – oder mit den Worten der Prozessdogmatik: nicht vollstreckungsfähig – erscheint ein Ausspruch der Art: (4) Dem Antragsgegner wird untersagt, eine Wegegrunddienstbarkeit zu behindern und zu stören.

Vermutlich wüssten die Beteiligten, was damit zu tun und zu lassen ist. Vor Ge­ richt sind aber auch die Beteiligten gehalten, sich der Perspektive unbeteiligter Drit­ ter zu fügen. Man übernimmt, was Dritte bereits vorgesprochen haben, weshalb die Sprache der Tenorierung nur im Gericht und beim Verfassen von Urteilen weiter­ gegeben wird. Auch das Gericht – selbst wenn es so schöpferisch wie möglich mit dem Recht umgeht – bleibt in der Sprache der Entscheidung wirklich gebunden, viel 17

Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, 45 f.

240

VII. Die Entscheidung

mehr gebunden, als es jeder Gesetzestext vermöchte. Denn grundsätzlich muss die Entscheidung des Gerichts den Antrag einer Seite ganz oder den beider Seiten je­ weils teilweise übernehmen. „Übernahme“ ist die beherrschende Operation in der Sprache der Entscheidungen. Das Gericht muss den gestellten Antrag übernehmen, der Antragsteller wiederum soll seinen Antrag so stellen, dass eine solche Über­ nahme möglich ist, worauf zuvor das Gericht „hinwirken“ soll. Man ist einander in der Sprachlichkeit unauflöslich verhaftet und achte tunlichst darauf, Anträge zu stellen, die Vorläufer ihrer Art hatten. Die Sprache der Entscheidung erlaubt nichts Kreatives, sie reduziert jedes komplexe Begehren auf kanonische Formeln und un­ terwirft alle Beteiligten einer geistlosen binären Erwartung, die allerdings eine eigentümliche Attraktivität gewinnt. Die Reduktivität der Entscheidungssprache erlaubt eine Transformation in sehr gut fassliche Ergebnisse. „1:0“ heißt der Sieg in erster Instanz, und man kann ihn feiern wie den Erfolg im Hinspiel des Achtelfi­ nales. Nicht nur die Zahlenwerte selbst und damit das Indexikalische des Zeichens heben die Entscheidung hervor, auch die Pragmatik der Interpretantenbewegung wird hier bestimmt, und zwar in eindeutiger Weise: Die Entscheidung unterschei­ det Gewinner von Verlierern, und zwar selbst dann, wenn einer seinen Antrag nur teilweise durchsetzt. Hat man einen skalierten Maßstab, kann jeder ablesen, wer mehr durchgesetzt hat; 5:1 – die Kostenquote spätestens teilt solche Ergebnisse mit. Entscheidungssprüche muss man sportlich nehmen; Anwälte wissen das. Jeder muss auch verlieren können, und keiner kann sich des Gewinns wirklich sicher sein. Denn Entscheidungen verweisen noch auf etwas anderes. Es gibt gar keine „eine Entscheidung“. Jede Entscheidung lässt nach einer anderen fragen, die nächste könnte eine andere als die gerade erlassene Entscheidung sein, es könnte aber auch eine Entscheidung über diese Entscheidung sein, ihre Fortsetzung im Rechtsmittelzug, die sie bestätigt, abändert, aufhebt oder durch etwas anderes er­ setzt. Alle diese Operationen gehören zu den Routinefunktionen eines geregelten Verfahrensbetriebs. Über Entscheidungen kann man schließlich nicht sprechen, ohne Paradoxa zu entfalten. Zwar wird überall irgendwie und über irgendetwas von irgendwem auch entschieden, so dass man nicht sagen kann, Entscheidungen seien gerade eine Spe­ zialität des Rechtsbetriebs. Allerdings mangelt es in allen anderen gesellschaft­ lichen Bereichen an einer besonderen Verfahrensform. Der Rechtsbetrieb und das Gericht reservieren für die Entscheidung Orte, an denen nicht irgendwer irgend­ wie und über irgendetwas entscheidet, sondern der sogenannte „gesetzliche Rich­ ter“ urteilt über das formularmäßig formulierte Begehren bestimmter Parteien nach einem festgelegten Ablauf. Das ist einzigartig und sichert dem forensischen Geschehen öffentliche Aufmerksamkeit.18 Man muss theoretisch werden, um zu verdeutlichen, wie merkwürdig Entscheidungen vor Gericht in Wirklichkeit oder nach dem Rechtsprogramm eigentlich sind.19 Denn wenn Recht eine Gesamtheit 18

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 36 f. Luhmann, Organisation und Entscheidung (Fn. VI. 47), 136 f.

19

2. Dicents oder Urteilsformeln

241

von Regeln wäre und wir es ernsthaft als eine Angelegenheit verstünden, die be­ rechenbar und vorhersehbar, lehr- und lernbar sei, was eigentlich sollte dann der Entscheidungsraum des Rechts sein? Was kann, worüber sollte entschieden wer­ den, wenn es doch eine richtige Regel des Rechts schon gibt? Tatsächlich bemü­ hen sich ja die Methodenlehre und die praktische Sprache der amtierenden Juristen gleichermaßen, die Wahlfreiheiten bei Entscheidungen unsichtbar zu machen.20 Erst am Ende stößt man auf das sprachlich nicht ausgedrückte Geheimnis, das prozessdogmatisch von einem prekären Begriff verhüllt wird. Zum Spruch gehört „Rechtskraft“, und Rechtskraft ist ebenso notwendig wie prekär. Notwendig er­ scheint sie auf den ersten Blick, weil man ein Verfahren schließlich nicht unbe­ grenzt fortsetzen kann, und prekär wird Rechtskraft, wenn Beteiligte es doch versuchen. Das geschieht täglich. Gegen rechtskräftige Entscheidungen werden unzulässige Rechtsmittel eingelegt – das ist noch der einfachste Fall versuchter Rechtskraftdurchbrechung, denn vielleicht ist die schulmäßige Einstufung als „un­ zulässig“ doch nicht das letzte Wort. Raffinierter, wenn auch gleichermaßen un­ zulässig ist es, einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, der zurück­ gewiesen worden ist, an einem anderen Tag an anderer Stelle in derselben Form erneut zu stellen. Oft merkt es niemand. Man kann aber auch versuchen, den Vor­ trag, der im Erkenntnisverfahren keinen Erfolg gebracht hat, in geringer Abwand­ lung im Vollstreckungsverfahren wieder vorzubringen. Zu allen diesen Verfahrens­ lagen darf angemerkt werden: Sie halten sich noch im Rahmen der Verfahrensform, aber der Respekt vor der Rechtskraft schwindet. Die Gerichte bemühen sich nicht selten, Entscheidungen zweimal zu rechtfertigen und das unzulässige Vorbringen doch noch für zulässig und prüfenswert zu erklären. Begründungen sollen Ent­ scheidungen jene Aura zurückbringen, die sie als Entscheidung verloren haben. Zum Entscheidungsspruch gehören schließlich weitere Teile, die außerhalb der Justiz ziemlich unbekannt bleiben und von denen auch die Betroffenen nur am Rande erfahren. Das sind Vollstreckbarkeit und Kosten. Jeder Spruch regelt die Art und den Zeitpunkt seiner endgültigen oder vorläufigen Wirkung selbst, und er re­ gelt, wer das bisherige und künftige Verfahren bezahlt. Wenn man Zeichen unter dem Aspekt ihrer Konsequenzen sieht, dann sind diese beiden Sprüche wichtiger als der Tenor selbst. Denn auch wenn man gegen eine Entscheidung Rechtsmittel einlegt und ihre Richtigkeit anficht, muss man sich zumindest die vorläufige Voll­ streckung aus diesem Spruch gefallen lassen. Anfechtbarkeit beseitigt nicht jede Wirkung. Es mag zwar sein, dass im Falle einer Vollstreckung und späteren Abän­ derung des Urteils Schadensersatz geschuldet wird. Aber ein Spruch ist und bleibt mehr als ein Satz. Der Urteilsspruch ist nämlich der Musterfall, für den gilt, dass unsere Auffassung von seinen Wirkungen das Ganze dessen ausmacht, was es un­ serer Auffassung nach ist, also dem schon eingangs zitierten (Kap. I. 1.) und hier wiederholten pragmatischen Imperativ entspricht „Consider what effects, which might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception 20

Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 307 f.

242

VII. Die Entscheidung

to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.“21 Diese Maxime erfasst die Substanz eines Urteils. Substanziell sind nicht die Begründungen und Verfeinerungen argumentativer Art, es ist die mögliche Vollstreckung aus dem Titel. Das heißt nicht, dass Entscheidungen immer auf Ge­ walt und auf gewaltsame Durchsetzung im Wege der Vollstreckung angewiesen wären. Man kann sehen, dass oft nach einem Spruch bezahlt wird – nicht eben frei­ willig, sondern im Hinblick auf die mögliche Vollstreckung, aber doch ohne dass wirklich vollstreckt werden müsste. Nur die Möglichkeit einer Vollstreckung be­ stimmt die Entscheidung, und zwar bis hinein in die Wortwahl. Der Spruch soll nur aus vollstreckungsfähigen Sätzen bestehen, und von daher erscheinen Tenores wie in (4) vage und anfechtbar, weil auslegungsfähig. Der Vorzug leichter und eindeuti­ ger Vollstreckbarkeit begünstigt Zahlungsaussprüche. Im Medium des Geldes sind Sätze vollstreckbar, die Sprache selbst, deren Interpretationsfähigkeit nicht ausge­ schlossen werden kann, eignet sich schlechter zur Durchsetzung als Geldansprüche. Neben und nach dem substanziellen Urteilssatz und der Vollstreckungsanord­ nung gibt es schließlich einen weiteren, notwendig in Geld auszudrückenden Ent­ scheidungsteil. Das sind die Kosten des Verfahrens. Über Kosten schweigt sich die Rechtstheorie aus. Jedenfalls weiß Röhl, dass Kosten sich in „vertretbaren Grenzen“ zu halten hätten, weil Gerichtsverfahren in jeder Hinsicht aufwändig und teuer seien. Es stehe deshalb zu befürchten, dass bei Prozessen mit geringem Streitwert das hohe Pensum bei geringen Gebühren eine „intensive Bearbeitung der Sache“22 verhindere und auch gar nicht im wohlverstandenen Interesse der Be­ teiligten liege. Das ist die abstrakt gefasste Erfahrung aus unzähligen Zivilprozes­ sen, für die ein würdiges theoretisches Stichwort fehlt. 3. Indizierung im Tatbestand Die Entscheidung in Urteils- wie in Beschlussform besteht in nachrömischer Zeit nicht nur aus dem Spruch, der am Anfang steht. Zitiert, tradiert und verbreitet wer­ den Sätze und Formeln aus den Gründen, und es bleibt erst einmal ein Geheim­ nis, ob diese Formeln und Sätze für zukünftige Entscheidungen prägende Wirkung haben werden. Interessant für den Diskurs sind nicht Spruchergebnisse, sondern Gründe. Das Verfahrensprogramm verpflichtet dazu, Sätze als Gründe einer Ent­ scheidung auszuweisen, und fordert auf diese Weise eine besondere Zeichenklasse für die Darstellung eben dieser Gründe. Gründe bestehen schulmäßig aus zwei Teilen, die gelegentlich auch als Ziffern I und II dem Text vorangestellt werden. Zunächst wird unter I der Tatbestand geschildert, und Tatbestand ist, was als Ge­ schehen festgestellt worden ist und was die Beteiligten dazu sagen und meinen. Erst danach folgt als II die eigentliche Begründung. Sie steht in einem Beziehungsver­ hältnis zum Tatbestand derart, dass tatbestandlich nur erwähnt werden soll, was 21

Charles S. Peirce, How to Make Our Ideas Clear, in: (Fn. I. 18, Bd. 1), 132. Röhl (Fn. I. 5)., 503.

22

3. Indizierung im Tatbestand

243

für die Begründung notwendig ist, und umgekehrt nur Rechtsgründe für Abläufe aufgeführt werden sollen, die im Tatbestand für die Entscheidung „erheblich“ her­ vorgehoben sind. Der Tatbestand einer Entscheidung ist der Index ihrer Gründe, und die These dazu lautet in einem Satz: Die Tatbestandsdarstellung erfasst Ab­ läufe unter der Perspektive ihrer Entscheidbarkeit, sie zwingt zu einer verknapp­ ten, reduktiven Sprache. Die Sätze in einem Entscheidungstatbestand indizieren also, worauf es ankommt. Das Bewusstsein dafür geht allerdings verloren. Das Publikum erwartet Erzählun­ gen, und Gerichte erzählen neuerdings auch gerne, wenn sie ihren Entscheidungen überhaupt Tatbestände beifügen. So wenig wie auf den Spruch achtet die Fachöf­ fentlichkeit in der Regel auf Tatbestände und damit auf den eigentlichen Fall mit seiner Geschichte (Kap. XI. 1.). Für die indizierende Wirkung in Tatbestandsdar­ stellungen braucht man eine Erfahrung im Umgang damit. Der ebenso politisch blinde wie sprachlich treffsichere Niederlandist André Jolles hat einen solchen In­ dex mit zwei Sätzen der Art veranschaulicht:23 (5) „Ein Taschendieb stiehlt mir im Gedränge der Großstadt meine Brieftasche, in der hun­ dert Mark in kleinen Scheinen waren. Mit seiner Geliebten, der er von dem glücklichen Fang erzählt, teilt er seine Beute.“

Mit der Rechtsnorm der Hehlerei erkennt man sofort den Entscheidungsindex, der auf die Frage antwortet: Wird die Geliebte als Hehlerin bestraft? Die Frage, die Hruschka einst als Konstituente des Falls ausgemacht hat,24 verlangt einen solchen Index, wenn sie nicht unbeantwortbar bleiben soll, und in der Kasus-Form von Jolles wird der Index im Nebensatz versteckt, der lautet: „der er von dem glück­ lichen Fang erzählt“. Ansonsten bliebe die Geschichte unentscheidbar. Ihr fehlte ein subjektives Tatbestandsmerkmal, das inzwischen jedenfalls teilweise durch den neuen Straftatbestand der Geldwäsche entbehrlich gemacht worden ist. Der Fall gibt dem Entscheidungsbedürfnis Stoff, und der Stoff stammt aus konstativen Aussagesätzen. Als Jurist benennt man die Dinge beim Namen und sagt, wie es ist – wie es „wirklich“ ist, ergänzen Juristen gerne, denn sie beanspruchen Objek­ tivität für ihre Tatbestände. Eben darin liegt die Bedingung der Sachlichkeit. Da man die Sache gleichzeitig auch immer bestreiten kann, stehen jedem rechtlichen Sachvortrag und jedem Argument Gegenargumente gegenüber. Duncan Kennedy macht ein gegliedertes Verhältnis von Argument und counter-maxim geltend.25 Abgebildet wird es in der Sprache der Tatbestände aber nicht. Die Basismaxime: Stelle eine Sache sachlich dar – verpflichtet deshalb dazu, auf die Meinungen und Behauptungen der anderen einzugehen, belässt der eigenen Sprechweise aber den Modus des indikativen Aussagesatzes. Es treten lediglich bestrittene Perspektiven 23

André Jolles, Einfache Formen, 5. Aufl., Tübingen (1. Aufl. 1930) 1974, 72. Joachim Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalls. Studien zum Verhältnis von Tatsa­ chenfeststellung und Rechtsanwendung, Berlin 1965. 25 Duncan Kennedy, A Semiotics of Legal Argument, in: ders., Legal Reasoning. Collected Essays, Aurora 2008, 87–152 (96). 24

244

VII. Die Entscheidung

dazu. Aussage und Perspektive sind nicht selten gefährlich verknappt und werden mit Worten dargestellt, die sofort den Kanzleistil verraten, etwa so:26 (6) „Der Kläger verunfallte mit seinem Fahrzeug. Er fuhr einen Metallpfosten um und das Fahrzeug blieb auf dem Pfosten stehen. Die Polizei beauftragte die Beklagte mit dem Abschleppen des Fahrzeugs. Der Kläger behauptet, dass bei der Bergung des Fahr­ zeugs weitere Schäden entstanden seien.“

An dieser Kleingeschichte fällt der Index kaum auf. Zunächst ist man versucht zu sagen, (6) schildere nur die Sache und entscheide nichts. Man liest juristische Kern­ sätze, bestehend aus Subjekt, Prädikat und Objekt mit ganz wenigen adverbialen Zusätzen. Drei Sätze machen die Geschichte aus, und erst der letzte, der vierte Satz lässt erahnen, wie sie sich zuspitzt und auf welches Problem sie zusteuert: ob näm­ lich weitere Schäden entstanden sind. Indiziert wird das durch ein besonderes per­ formatives Verb, das den wesentlichen Zug zur Entscheidbarkeit anzeigt. Die Tat­ bestandssprache kennt performative Verben wie „behaupten“ oder „bestreiten“ und kanonisiert deren Gebrauch. „Behaupten“ führt eine Tatsachenbeschreibung als be­ stritten ein. Dementsprechend kehrt „behaupten“ wie in (6) in fast allen privatrecht­ lichen Urteilstexten wieder. Die Behauptung eröffnet den Zugang zur subjektiven Geschichte des Klägers. Der Behauptungsmodus im Tatbestand und der Index mit einem ausdrücklichen Sprechakt teilen mit, nur der Kläger gehe davon aus, dass bei der Bergung Schäden entstanden seien. Die Beklagte bestreitet das, weshalb dieser Umstand bewiesen werden müsste. Mit der sprachlichen Einführung als „Behaup­ tung“ erklärt ein Gericht den behaupteten Inhalt zur mindestens möglichen Tatsa­ che. Bezeichnet es hingegen jemandes Vortrag mit „er meint“ oder „ist der Auffas­ sung, dass …“, so handelt es sich nur um die unverbindliche Weltsicht der anderen. Die Differenz zwischen Auffassungen und Behauptungen oder Fakten und Meinun­ gen kann man auf die philosophische Sprachanalyse zurückführen, die zwischen Sein und Sollen trennt. Man kann aber weniger grundsätzlich auch einfach nur an­ nehmen, dass als Tatsache gilt, was entweder nicht bestritten oder nicht beweis­ bar ist, so dass nur der nicht beweisbare Rest zum Meinungs­mäßigen erklärt wird. Wenn also eine Äußerung nicht mit dem Sprechakt des Behauptens eingeführt wird, wird Unerhebliches indiziert. So heißt es beim Thüringer Oberlandesgericht:27 (7) „Der Kläger hat die Ansicht vertreten, bei dem durch das Kreisgericht Eisenach mit Beschluss vom 8.12.1992 angeordneten vorläufigen Verbot der Tierhaltung habe es sich um eine Maßnahme gehandelt, die nach § 2 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) entschädigungspflichtig sei. Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichts Eisenach vom 16.6.1995 stehe die Entschä­ digungspflicht auch dem Grunde nach fest.“

Es gibt natürlich keine Norm, die mitteilte, dass der Kläger am Ende mit seiner Ansicht scheitern werde. Das bewirkt nur die Einkleidung dieses Vortrags als „An­ ­ isenach an­ sicht“, wobei man auch sagen könnte: Bei dem durch das Kreisgericht E 26

OLG Saarbrücken, NJW Spezial 2000, 539. Thüringer Oberlandesgericht OLG-NL 2000, 251.

27

4. Legizeichen der Entscheidung

245

geordneten Verbot der Tierhaltung hat es sich um eine Maßnahme gehandelt, die nach § 2 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) entschädigungspflichtig ist. Formuliert man indikativ, erscheint die Rechts­ folge als Normtatsache. Diesem Eindruck wird durch den Konjunktiv vorgebeugt. Konjunktivisch werden Normbehauptungen der Entscheidung durch das Gericht un­ terworfen und gewinnen auf diese Weise ihren Status als Rechtsfragen, für die es nach juristischem (wenn auch durchaus zweifelhaftem) Verständnis nur eine richtige Lösung gibt, nämlich die, die das (Ober-)Gericht ausspricht. Was das Gericht als – im Ergebnis nicht zutreffende – Ansicht einer Partei aussondern möchte, bezeich­ net es als „Ansicht“ und berichtet darüber. Wer das liest, darf es von vornherein mit normativer Skepsis aufnehmen, und das ist wichtig, wenn man eine Entscheidung herbeiführen will. Die Trennung von Tatsache und Meinung, die Beweisbedürftig­ keit bestrittener Tatsachen und die Freigabe anstößiger Meinungen sind unter Zei­ chengesichtspunkten die grundlegenden Indices für die Tatbestandsdarstellung. 4. Legizeichen der Entscheidung Wenn heute Entscheidungen im Mittelpunkt des Rechtsdiskurses stehen, so richtet sich das Interesse auf Legizeichen. Das sind regelbezogene Interpretanten, die über den Einzelfall hinaus Bedeutung haben und für eine Mehrzahl von Fäl­ len wie ein Gesetz wirken. Zitiert, tradiert und verbreitet werden dabei meist nur Sätze oder einzelne Terme aus den Gründen, und es bleibt eine Aufgabe der Ent­ scheidungsanalyse zu überprüfen, ob diese Terme und Sätze verallgemeinerungs­ fähig sind und für zukünftige Entscheidungen als Vorlage taugen. Interpretanten, die verallgemeinern, sind keine Rezipienten. Wenn man Rezipienten als perso­ nale Systeme im Zeichenprozess berücksichtigt, muss man davon ausgehen, dass im Personsystem die Zeichenhaftigkeit eines Urteils erst einmal nicht auffällt. Personen beschäftigen sich mit semantischen Fragen einer Begründung. Man be­ merkt erst viel später, dass etwa eine Entscheidung, wonach die einsame Gegen­ stimme in einer ansonsten vollkommen konsentierten Angelegenheit ein Zeichen setzt, den Charakter eines Rechtszeichens hat, etwa für die Teilnahme an strafba­ ren Gremienentscheidungen, wenn das Gremium der „nationale Verteidigungsrat der DDR“28 oder auch etwas personal ganz Anderes wie die Krisenkonferenz eines Warenproduzenten sind.29 Interpretationsfähigkeit (die aus weiteren Zeichenpro­ zessen stammt) macht die Zeichenhaftigkeit des Interpretanten aus. Als Zeichen ist er – wie Peirce es ausdrückt – „bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Inter­ pretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum“.30 Das ist die Art der semiotischen Bewegung, die nicht abschließbar ist. 28

BGHSt 5 StR 98/94 – Urteil vom 26. Juli 1994 (LG Berlin), Bd. 40, 218. BGHSt 2 StR 549/89 – Urteil vom 6. Juli 1990 (LG Mainz), Bd. 37, 106. 30 Peirce (Fn. I. 6, Bd. 1), 375. 29

246

VII. Die Entscheidung

Unter dem Aspekt der Interpretantenrelation stelle ich im Folgenden Textbei­ spiele aus den Rechtsgründen teils zufälliger, teils paradigmatischer Entscheidun­ gen vor, zunächst einmal drei (unter 8–10), die sich erkennbar an den Fall bin­ den, dann vier weitere (11–14), die teils herrschende Rechtsprechung präsentieren und teils zukünftig wirkende Leitsätze oberhalb von Verfassung und Gesetz (weil diese oberstgerichtlich interpretierend)  als Legizeichen instituieren. Das ist ein weiterer Schritt in der Zumutung für Gründe, die von Gesetzes wegen eigentlich nichts Besonderes darstellen sollen, heißt es doch nur: Die Entscheidungsgründe enthalten eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entschei­ dung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs.  3 ZPO). Die Darstellungs­regel für die gesetzlich geschuldeten Rechtsgründe ist selbstbezüg­ lich. Das Gericht ist gehalten, mit Sätzen eine Entscheidung zu begründen, und das Gesetz erklärt zu Gründen, was in den unter dieser Überschrift folgenden Sät­ zen ausgeführt worden ist. Dennoch und trotz aller Unzulänglichkeiten des All­ tags: Mit Sätzen begründet zu entscheiden, ist die eigentliche Leistung des pro­ fessionellen Rechtsbetriebs. Begründungen funktionieren dabei in erster Linie als Einbruchstelle für andere Meinungen und andere Ergebnisse, vorzugsweise sol­ che, die obergerichtlichen Richtern als zwingend erscheinen. Erst in zweiter Linie dienen Begründungen auch dazu, den Beteiligten etwas verstehen zu geben. Zu überzeugen vermögen sie den Verlierer kaum jemals. Im Gegenteil: Die Begrün­ dung macht ein Ergebnis anfechtbar und verdeutlicht, inwiefern und an welcher Stelle man anderer Meinung sein kann. Schließlich gibt es in den Rechtsgründen auch eigene Zeichenkreationen der begründenden Rechtsprechung, Legizeichen, die man funktionell der gelehrsamen universitären Jurisprudenz oder dem Ge­ setzgeber zuschreiben würde, wüsste man nicht, dass Rechtsprechung ein aus sich selbst heraus funktionierendes System ist. Sie setzt ihre Zeichen und deutet sie auch selbst. Zunächst also zu den schlichten aktualen oder dicentischen Gründen für eine Entscheidung. Sie bestehen zu einem wesentlichen Teil aus tatsächlichen Annah­ men der Art: So ist es. Das ist die eigentliche richterliche Aufgabe in frühen Sta­ dien der modernen Rechtsentwicklung gewesen, und sie hat bis heute Bedeutung. Teilweise hat man gemeint, in richterlichen Annahmen, wie sich etwas in der Welt verhalte, steckten unzulässige „Alltagstheorien“, Sätze also, die in Theoriezusam­ menhängen geprüft und bewiesen oder widerlegt werden könnten, aber im Ge­ richtsalltag einfach nur ungeprüft unterstellt würden.31 Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass die wiederholte, gebetsmühlenartige Wiederholung tat­ sächlicher Annahmen jede Veränderung blockiert, auch wenn gute Gründe be­ stehen, sie vorzunehmen. Übersehen wird allerdings, dass Alltagsannahmen ein rhetorisches Mittel darstellen und für Entscheidbarkeit sorgen. In dieser Funktion werden sie von keiner Sozialwissenschaft zur Verfügung gestellt, schon deshalb 31 Rüdiger Lautmann, Justiz – die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entschei­ dungssoziologische Analyse, Frankfurt a. M. 1972, 57–59.

4. Legizeichen der Entscheidung

247

nicht, weil Wissenschaften empirisch und nicht fallbezogen arbeiten. Entscheid­ barkeit am Fall muss (auch) durch Unterstellungen herbeigeführt werden. Hinter jedem Aussagesatz steckt eine Welt von Annahmen, verbunden mit der Geschichte eines teilweise sehr spezifischen, in seinen Unterstellungen alles andere als selbst­ verständlichen juristischen Diskurses. Ein beliebtes Feld zeichenhafter Unterstel­ lung bietet das Wettbewerbsrecht. Das OLG Hamburg berichtet im Aussagesatz:32 (8) „Der Referenzverbraucher weiß, dass jede Werbung es bezweckt, die Vorzüge des eige­ nen Produkts herauszustellen, um deren Absatz zu fördern. Allein aus der eigenen An­ preisung wird aber der Verbraucher nicht schlussfolgern, diese Eigenschaften fehlten bei anderen Konkurrenzprodukten.“

Die abstrakte Rechtsnorm über unlauteren Wettbewerb (etwa in § 3 UWG) kann man demgegenüber kaum verstehen, wenn man nicht schon weiß, worum es gehen soll. Die Norm muss durch kühne Annahmen über den Zustand der Welt ergänzt werden, und zum Objekt solcher Annahmen wird der in der wirklichen Welt nicht aufzufindende „Referenzverbraucher“ erklärt. Der Ausdruck ist ein Term oder allgemein: ein Zeichen, das weder wahr noch falsch ist. Im Rahmen des Interpre­ tantenbezugs nennt Peirce solche Terme „Rhema“. Sie sind inhaltlich unbestimmt und lassen viele Möglichkeiten der Interpretation zu. Die Unbestimmtheit des Terms ist notwendig, um den Schluss ziehen zu können, dass semantisch schein­ bar gehaltvolle Werbung mit einem möglichen Alleinstellungsmerkmal es doch nicht ist. Dem künstlich hergestellten Term „Referenzverbraucher“ wird deshalb ein Verhalten indexikalisch zugeschrieben. Im Satz steht dafür ein sicher geglaub­ tes Futur-Modal. Das „wird … nicht schlussfolgern“ bezeichnet keine zukünftigen Abläufe, sondern einen Verhaltensmodus, der so sicher erscheint, dass man den Konjunktiv vermeiden möchte. Was jemand tun „wird“, ist durch normative Ver­ knüpfung sprachlich mit dem verbunden, was er getan hat. Die Zeitform lässt an eine Tatsache glauben, und zwar nicht dadurch, dass früher etwas anderes galt als heute oder morgen, sondern weil der Index auf den Term es so enthält. Dieser Typ des Verbrauchers weiß etwas – will das jemand bezweifeln? Die nächste Begründungsaufgabe ist dicentischer Art. Gerichte sind gehalten, ihre Rechtsgründe mit dem Vortrag der Parteien zu verknüpfen. Es sind also die Beteiligten selbst, die die Probleme eines Falls präsentieren und in ihren Schrift­ sätzen zumindest für sich selbst als gelöst darstellen. Die Gründe stammen nicht mehr einfach aus dem Recht, sie sind dem Vortrag der Parteien entlehnt, die  – wenn sie die rechtlichen Gründe selbst nicht sehen – auch darauf hingewiesen wer­ den sollen, worin sie zu suchen sind, und dazu selbstständig Stellung nehmen sol­ len (§ 139 ZPO Abs. 2 ZPO). Angesichts einer derartigen Orientierung an schon vorhandenen (Dici-)Zeichen entstehen komplexe Urteilszusammenfassungen mit eingeschobenen Schlüssen, wie sie in einer Anleger- und Bankensache so formu­ liert worden sind:33 32

OLG Hamburg NJOZ 2007, 51. KG NJOZ 2007, 3307.

33

248

VII. Die Entscheidung

(9) „Soweit die Beklagten wiederholt darauf verweisen, bei der Angabe des Überweisungs­ betrags in den Besuchsberichten handele es sich nicht um eine konkrete, zusicherungs­ fähige Eigenschaft des finanzierten Objekts, die Zusicherung eines konkreten Mieter­ trags sei aber von der Klägerseite gar nicht behauptet worden, vermag der Senat dem gleichfalls nicht zu folgen. Es ist zwar zutreffend, dass nach der Rechtsprechung des BGH (BGHZ 169, 110) ein die Aufklärungspflicht der finanzierenden Bank auslösen­ der Wissensvorsprung im Zusammenhang mit einer arglistigen Täuschung des Anle­ gers eine entsprechend konkrete, dem Beweis zugängliche Angabe des Vermittlers oder Verkäufers über das Anlageobjekt voraussetzt. Bei dem in den Besuchsberichten als Abbuchungsbetrag oder Mietüberweisung bezeichneten Betrag handelt es sich jedoch um eine solche konkrete Angabe über die vom Kläger erworbene Eigentumswohnung.“

Die drei wiedergegebenen Sätze enthalten das Kernstück eines Legizeichens. Sie handeln von der vortragsabhängigen Konstruktion des Sachverhalts, die sich zwischen verschiedenen, der Prozessrolle nach bezeichneten Beteiligten abspielt. Der Rechtsgrund wird in indirekter Weise mit dem Gesetz vermittelt, oder an­ ders: Wenn man will, kann man (9) je nachdem als Ausfluss des allgemeinen ver­ traglichen Wahrheitsprinzips, als Ergebnis einer Überprüfung von Prospektinfor­ mationen oder als strafrechtliches Betrugsverbot interpretieren. Das ist weniger wichtig als die konkrete Begründung an einzelnen Handlungen und damit die di­ centische Ebene des Interpretantenbezugs (wer sagt etwas). In diesem Dicizeichen kommen vor: der Kläger, die Beklagten und der Senat, das Gericht also, und die Kernfrage bleibt klassisch im Ja/Nein-Schema des Wahrheitswerts: Täuscht die Bank durch den Hinweis auf Überweisungen – oder nicht? In die Frage ist eine unerhörte, jedenfalls für Bankinstitute früher anzügliche Unterstellung eingeflos­ sen, die dahin geht, dass eine Einrichtung wie eine Bank täuschen könnte. Muss sie das in dem Moment wissen, in dem getäuscht wird? Soll der Augenblick der Täuschung hervorgehoben sein durch besondere sprachliche Merkmale? Schließ­ lich: Wer ist überhaupt „die Bank“? Das Kammergericht in Berlin, aus dessen Rechtsgründen die Sätze stammen, beantwortet keine dieser Fragen direkt und bleibt damit auf der Ebene von Dicizeichen, die auf Existenz verweisen und dem Interpreten die Bewegung der Interpretation überlassen. Man erfährt, dass bei der Einwerbung von Darlehen für den Verkauf von Eigentumswohnungen „Besuchs­ berichte“ von Vertretern gefertigt worden sind mit „Überweisungsbeträgen“. Eben diese Beträge – so muss man selbst schließen – enthielten die Täuschung, denn sie vermittelten den Wohnungskäufern den unzutreffenden Eindruck, es sei jeden Monat mit Überweisungen zu rechnen. Man bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Verfahrensoperationen zitiert werden und das Gericht darauf eingeht. Die Beklagten verweisen auf etwas, das Gericht räumt eine Tradition der Rechtspre­ chung ein („ist zwar zutreffend“), kommt dann aber doch zu einem anderen Er­ gebnis. Das ist degenerierte Begründungspraxis, auch wenn man aus den angebo­ tenen Sätzen eine vollständige Begründung machen könnte. Vollständigkeit hätte aber nur eine Regel, die lautete: Immer wenn im Zusammenhang mit Wohnungs­ finanzierungen Zahlen für Erträge genannt werden, sichert man die Erträge zu. Eine Regel von dieser Reichweite als Argument wird aber nicht aufgestellt. Da­

4. Legizeichen der Entscheidung

249

mit bleibt die Begründung fragmentarisch, obwohl durch die Veröffentlichung an­ gedeutet wird, man könne mit solchen Regelunterstellungen in Zukunft argumen­ tieren. Das verallgemeinerungsfähige Resultat solcher Begründungen muss man erst noch suchen.34 Argumentform erreicht die Praxis der Obergerichte nur selten. Argument nennt Peirce ein Repräsentamen, „das selbständig anzeigt, welches Objekt es zu repräsent­ieren beabsichtigt.“35 In der „Lowell Lecture“ von 1903 heißt es, das Ar­ gument enthalte ein wirkliches Gesetz, dem „Existierendes“ folgen werde.36 Das Argument stellt eine der drei semiotischen Formen des Interpretantenbezugs dar und steht neben dem Satz als Bezug der Zweitheit und dem Begriff, Ausdruck oder Term als Kategorie der Erstheit. Als Klassen von Argumenten bestimmt Peirce Deduktionen, Induktionen und Abduktionen, und man wird fast ausschließ­ lich abduktiv operierende Argumentformen in Entscheidungsbegründungen fin­ den, in denen man von den Tatsachen eines Falls auf die Begründungsregel, die nicht ­formuliert wird, schließen muss.37 Zwiespältig wirken deshalb die häufig be­ anstandeten Begründungsmängel, dass eine Entscheidung die Regel, die sie zu­ grunde lege, nicht erkennen lasse. Wenn Überzeugungen frei sein sollen, darf man nicht be­anstanden, dass sie vertreten worden sind. Möglich bleibt jede Schluss­ folgerung, sie wird im Durchgang durch argumentative Satzfolgen nur schwieriger und unwahrscheinlicher – was im Übrigen auch den Ausgang solcher Verfahren immer weniger vorhersehbar macht. Zum Beispiel hält der Bundesgerichtshof den folgenden Umstandszusammenhang zwar für möglich, aber unwahrscheinlich:38 (10) „Aus Rechtsgründen wäre es nicht zu beanstanden gewesen, wenn das Landgericht nach vollständiger und fehlerfreier Würdigung der erhobenen Beweise der Einlassung des Angeklagten nicht gefolgt wäre, die Angaben des Belastungszeugen Ki. zu den Vorgän­ gen in der Nacht vom 4. zum 5.1.1996 für glaubwürdig erachtet und darauf seine Über­ zeugung von der Beteiligung des Angekl. am Rauschgiftgeschäft vom 4./5.1.1996 ge­ stützt hätte. Die auch für Alibibehauptungen zu fordernde vollständige Erörterung von wesentlichen Beweisergebnissen hätte es aber notwendig gemacht, in die Abwägung einzubeziehen, dass nach den im Urteil wiedergegebenen Bekundungen der Zeugin A, einer Ärztin des St.Vincenz Krankenhauses in Limburg, der Angekl. am 5.1.1996 gegen 1 Uhr dort zur Behandlung gewesen sei und die durchgeführte Untersuchung „zwischen 1/2 und maximal 1 Stunde gedauert“ habe. Damit ist nicht ohne Weiteres die Feststel­ lung vereinbar, er sei am 5.1.1996 gegen 2 Uhr von der Beschaffungsfahrt aus den Nie­ derlanden nach Wetzlar zurückgekehrt.“

34

Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens. Berlin 2001, 233 f. Peirce (Fn.  I. 6, Bd.  1), 91; in der 5.  Harvard Vorlesung (Fn.  I. 18, 42) v. 30.4.1903: „An argument is a representamen which separately shows what interpretant it is intended to­ determine.“ 36 Peirce (Fn. I. 6, Bd. 2), 146. 37 Lorenz Schulz, Recht und Pragmatismus, in: Winfried Brugger u. a. (Hrsg.), Rechtsphilo­ sophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008, 286–314 (306f). 38 BGH NStZ 2000, 48. 35

250

VII. Die Entscheidung

Es geschieht, was nach der Basisnorm für richterliche Überzeugungen eigentlich nicht geschehen dürfte. Der Revisionsrichter in Strafsachen leistet alles, was er mit seinen Mitteln tun kann, ohne selbst Beweise zu erheben. Zwar ist die Überzeu­ gung für sich genommen frei und nicht an bestimmte Zeugenaussagen noch gar an Geständnisse gebunden, aber diese Freiheit wird sofort eingeschränkt durch Dar­ stellungszwänge. Was im Urteil nicht steht, man aber für naheliegend hält, kann als Darstellungsmangel gerügt und zu weiterer Aufklärung zurückverwiesen wer­ den.39 Im Normalfall soll – wie es das Beispiel lehrt – abgewogen werden, ob der Bericht einer Ärztin über die Dauer einer Behandlung verträglich sein kann mit der zeitlichen Darstellung eines Belastungszeugen. Da eine unbeteiligte Krankenhaus­ ärztin wohl kein Motiv haben dürfte, den Angeklagten zu begünstigen, muss man es bei der geforderten Abwägung also für möglich halten, dass der Belastungs­ zeuge sich irrte oder am Ende bewusst eine falsche Zeit zu Protokoll gegeben hat, und das – denkt ein in Normalitätsfolien operierender Beobachter40 – darf doch nicht sein. Wer sich in einem irrt, irrt sich auch im Ganzen. Mit der Konsistenz­ norm für Rechtsbegründungen ist also gleichzeitig eine Ergebnisregel verbunden, auch wenn von dieser wie von jeder Regel abgewichen werden kann. Man kann hier ausnahmsweise etwas anderes meinen, müsste dafür aber wieder einen Grund haben und kehrt damit erneut in die begründende Satzschleife ein.41 Begründungen leisten noch etwas, das einer Entscheidung geradezu zuwider­ läuft. Sie steigern die Möglichkeit des Widerspruchs und stellen ein Forum für die Entwicklung von Regeln dar. Beide Funktionen finden keinen Widerhall in ju­ristischen Schulmeinungen. An sich soll die Begründung den Tenor oder das Ergebnis als die einzig überzeugende Lösung ausweisen, und an sich sind Be­ gründungen nur dazu da, das eine voranstehende Ergebnis und den einen Fall zu stützen; obiter dicta  – heißt es seit römischen Zeiten  – sind zu vermeiden. Der Begründungspraxis entspricht das nicht. Mit jeder Begründung wächst die Mög­ lichkeit, zum einen vorhandene Ergebnisse für unrichtig anzusehen und ihnen zu widersprechen, zum anderen den Fall als Vorlage und Schulfall für künftige Fälle zu nehmen. Die Korrektur eines Ergebnisses ist die vornehmste Aufgabe eines Obergerichts. Oben weiß man es besser – das zu glauben, liegt jedenfalls in der Logik gerichtlicher Hierarchie. Aus diesem Grunde gehört zum Rechtsstaat auch die Möglichkeit der Überprüfung von Urteilen. Über einen Rechtsstreit entschei­ den im Normalfall nicht nur einfach ein Gericht und ein Richter, sondern meh­ rere, und die haben unterschiedliche Meinungen. Das betont die Bedeutung des Verfahrens. Die Richtigkeit eines Ergebnisses zeigt sich erst durch das Verfahren und nur in ihm. Auch ehrwürdige Allgemeingesichtspunkte sind nicht davor ge­ 39 Wolfgang Naucke, Der Revisionsrichter in Strafsachen, in: Günter Bemmann/Ioannis Manedolakis (Hrsg.), Der Richter in Strafsachen. Griechisch-Deutsches Rechtssymposion, Baden-Baden 1992, 108–118 (116). 40 Ludger Hoffmann, Rechtsdiskurse zwischen Normalität und Normativität, in: Ulrike Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht, Berlin 2001, 80–99. 41 Christensen/Kudlich (Fn. VII. 34), 334.

4. Legizeichen der Entscheidung

251

feit, zurückgewiesen zu werden. Das OLG Köln, das als Beschwerdegericht über einen Vertrag zwischen einem Zahnarzt und seinem Labor zu entscheiden hatte, liefert dafür das folgende Beispiel:42 (11) „Die Ansicht des Landgerichts, eine solche Vereinbarung unterliege dem Grundsatz „pacta sunt servanda“, ist ersichtlich verfehlt. Eine von einem Arzt mit einem Labor getroffene Vereinbarung, die dem Arzt den Betrug an den Patienten bzw. den Kassen ermöglichen soll, ist entweder nach § 134 BGB wegen Verstoßes gegen § 263 StGB oder nach § 138 I BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig; je nach den Umständen, un­ ter denen dem Labor eine Mitwirkung an dem gesetzeswidrigen Vorgehen abgenötigt wird, kommt auch eine Nichtigkeit nach § 138 II BGB in Betracht.“

Entnommen ist die Passage einem Beschluss im Prozesskostenhilfe-Verfah­ ren, und sie stammt aus dem unglaublichen Feld der möglichen Betrugsmanöver in der kassenärztlichen Versorgung. Ein Dentallabor ist von einem Zahnarzt ver­ traglich verpflichtet worden, einen Prozentsatz gezahlter Auftragssummen wie­ der zurückzuerstatten, während der Zahnarzt die höheren Rechnungsbeträge nach den (ebenfalls höheren) Listenpreisen der Kassen diesen gegenüber abrech­ net. Auch wenn das Beschwerdegericht eine andere Meinung als die erste Instanz vertritt, hält man diese doch gewöhnlich für „alternativlos“. So selbstverständ­ lich schmiegen sich die Rechtsgründe an allgemeine Meinungen an. Die Alterna­ tive wird von einem Topos besetzt, der an Strahlkraft verloren hat. Wenn sich je­ mand weigert, eine Leistung zu erbringen, zu der er sich einmal verpflichtet hat, scheint pacta sunt servanda als Topos einschlägig zu sein. Aber er widerspricht allem, was man, was Dritte, was die Öffentlichkeit von ärztlichen Leistungen er­ warten. Das Obergericht eröffnet dafür die alternativen Begründungen und Topoi: entweder Betrug oder Sittenwidrigkeit, nichtig nach § 134 BGB wegen Verstoßes gegen § 263 StGB oder nach § 138 I BGB. Auch in dieser Form sind die Stichworte nicht mehr als Topoi, aus denen systematische Begründungen erst noch entwickelt werden müssten. Das überlässt die Beschlussbegründung dem sich anschließen­ den weiteren Verfahren. Aber wenn diese im Verfahrensgang nicht abschließende Entscheidung dennoch veröffentlicht wird, dann interessiert sie wegen des Wech­ ­ opoi und indiziert den juristischen Lesern: Mit pacta sunt servanda sels in den T können in einem gesellschaftlichen Problembereich nicht einfach mehr jedes wei­ tere Nachdenken und alle weiteren Sachverhaltsüberlegungen abgeschnitten wer­ den. Die entscheidungsbezogene Begründungssprache wird insofern zum Medium der Veränderung, auch der Einbeziehung von Theorie und wissenschaftlicher Ent­ wicklung, zwar nicht in dem Sinne, dass universitäre Lehre oder fachbezogene Zeitschriften den Entscheidungsinhalt bestimmen, aber immerhin so, dass weitere Differenzierungen in einen Bereich hineingetragen werden, der vormals mit pacta sunt servanda hätte bestritten werden können. Die entscheidungsbezogene Begründungssprache dient insofern keineswegs mehr allein der Begründung der Entscheidung, sondern in hervorragenden Fällen 42

OLG Köln NJW-RR 2002, 630.

252

VII. Die Entscheidung

der Entwicklung neuer, bisher nicht vorhandener Topoi. Das allgemeine Persön­ lichkeitsrecht ist heute ein anerkannter Topos, ein subjektives, kaum mehr zu be­ zweifelndes Recht. In der folgenden Passage kann man die Genese dieses alles an­ dere als selbstverständlichen Rechts beobachten. Sie stammt aus dem Jahre 1954 und betrifft den eigentlich nicht so spektakulären Fall der Veröffentlichung eines Anwaltsschreibens. Die Zeitung tat das in der Rubrik „Leserbriefe“, während der Anwalt eine Gegendarstellung beabsichtigte. Man hat sich also im Register der Verlautbarungen vergriffen. Für diese vergleichsweise wenig gewichtige Rechts­ beeinträchtigung hat der BGHZ (13, 334–341) gewichtige Sätze formuliert: (12) „Nachdem nunmehr das GG das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art. 1 GG) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt, soweit dieses Recht nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz ver­ stößt (Art. 2 GG), muß das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden (vgl. Lehmann-Nipperdey, Allg. Teil, 14. Aufl. § 78 I 2; Enneccerus-Lehmann, SchuldR, 14. Aufl. § 233 2 c; Coing, SJZ 47, 642) Es bedarf hier keiner näheren Erörterung, ob und inwieweit der Schutz dieses all­ gemeinen Persönlichkeitsrechtes, dessen Abgrenzung in besonderem Maße einer Gü­ terabwägung bedarf, im Einzelfall durch berechtigte private oder öffentliche Belange eingeschränkt ist, die gegenüber dem Interesse an der Unantastbarkeit der Eigen­ sphäre der Persönlichkeit überwiegen; denn im Streitfall sind schutzwürdige Belange der Bekl., aus denen sie eine Berechtigung zu ihrem von dem Kl. beanstandeten Vor­ gehen herleiten könnte, nicht ersichtlich. Dagegen sind durch die von der Bekl. ge­ wählte Art der Veröffentlichung des Berichtigungsschreibens unter Weglassung we­ sentlicher Teile dieses Schreibens persönlichkeitsrechtliche Interessen des Kl. verletzt worden. Jede sprachliche Festlegung eines bestimmten Gedankeninhalts ist, und zwar auch dann, wenn der Festlegungsform eine Urheberschutzfähigkeit nicht zugebilligt werden kann, Ausfluß der Persönlichkeit des Verfassers. Daraus folgt, daß grundsätz­ lich dem Verfasser allein die Befugnis zusteht, darüber zu entscheiden, ob und in wel­ cher Form seine Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; denn jeder unter Namensnennung erfolgenden Veröffentlichung von Aufzeichnungen eines noch lebenden Menschen wird von der Allgemeinheit mit Recht eine entspr. Willens­ richtung des Verfassers entnommen.“

Mit dieser Passage ist Rechtsgeschichte geschrieben und mehr als mit einer Gesetzesformulierung bewirkt worden, denn bemerkenswert ist an der Begrün­ dung, dass eben im BGB des Jahres 1954 dem Namen nach kein allgemeines­ Persönlichkeitsrecht enthalten war. Rechtsgeschichte im Sinne einer Argumenta­ tionsgeschichte (Kap. X. 3.) schreibt die Erwähnung zweier Generalklauseln des Grundgesetzes wie auch die Berufung auf Meinungen in der wissenschaftlichen Literatur. Das ist ein bis zu diesem Zeitpunkt ungewohnter Stil. Weder war es üb­ lich, mit Verfassungsartikeln dem Fachgesetz etwas hinzuzufügen, noch gehörte es zum gewöhnlichen Entscheidungsstil, dass Vorgaben aus der Literatur zitiert werden. Beides wird hier – und zwar von einem Fachgericht, nicht vom Verfas­ sungsgericht – herangezogen, um etwas wirklich Neues einzuführen, und im tra­ ditionellen Stil begründender Entscheidungssprache erkennt man dieses Neue gar

4. Legizeichen der Entscheidung

253

nicht als neu. Es „muss“ einfach angenommen werden, und man hält sich nicht weiter mit Abgrenzungen auf, deren Schwierigkeit vielleicht dazu motivieren würde, das Recht nicht anzunehmen. Die Kasuistik, auf die man sich hier im Jahre 1954 einlässt (Kap. XI. 3.), wird nicht thematisiert. Unter dem zitierfähigen Na­ men „Leserbriefe“ (auch „Schacht-Leserbrief“) machen die Gründe Geschichte.43 Charakteristischerweise werden Rechtsprechungsneuerungen in Entscheidungs­ gründen so dargestellt, als seien sie keine. Gerichte in Entscheidungen wollen – wenn das irgendwie geht – nicht originell sein und lieben den Stil von Tradition und Gesetzesbindung. Das gilt bis in die Fälle hinein, in denen um die Gesetzes­ bindung gerungen werden muss, weil es ausgearbeitete Fachgesetze gar nicht gibt. Auf supranationaler Ebene kann sich Tradition nur ausbilden, indem sich Entschei­ dungen an Entscheidungen orientieren und die zur Entscheidung berufenen Or­ gane eine eigene Tradition bilden, indem sie sich an ihre eigenen Vorentscheidun­ gen binden. So verfährt der Europäische Gerichtshof in der folgenden Passage44: (13) „In seinen Urteilen Brasserie du pêcheur und Factortame, Randnrn. 50 und 51, British Telecommunications, Randnrn. 39 und 40, und Hedley Lomas, Randnrn. 25 und 26, hat der Gerichtshof angesichts der Umstände des konkreten Falles entschieden, dass die Geschädigten einen Entschädigungsanspruch haben, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die gemeinschaftsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, be­ zweckt die Verleihung von Rechten an die Geschädigten, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.“

Der Begründungsstil lässt die international üblich gewordene Bindung erken­ nen: die an eigene Entscheidungen. Vier davon werden ausdrücklich erwähnt, und sie bilden von „Brasserie du pêcheur“ bis „Hedley Lomas“ eine Tradition für die Begründung von Staatshaftungsansprüchen für unrichtige Urteile, die im deut­ schen Recht zuvor nicht bekannt war. Das kann man aber nicht aus den Grün­ den ablesen. Bemerkenswert ist vor allem, dass der EuGH Gerichtsentscheidun­ gen, die seiner eigenen Rechtsprechung nach als fehlerhaft gelten, umstandslos als rechtswidriges Staatshandeln ansieht, ohne etwa auf die nationale Gesetzesbin­ dung oder den Gerichtsvorbehalt auch nur einzugehen. Ein Verstoß und eine Ur­ sache (an der es fast niemals fehlt) sollen genügen, hat man einmal die gemein­ schaftsrechtliche Norm identifiziert. Auf diese Weise entstehen eine ganze Anzahl neuer Rechte und Verfahrensweisen, die nach früherer, nationaler und einfachge­ setzlicher Regelung aus gutem Grund nicht vorgesehen waren. So werden auch die Darlegung (einer Meinung oder Behauptung) und die dafür benannten Beweismit­ tel kaum noch auseinandergehalten. Es ist neuerdings geboten, eine Partei als Be­ weismittel für die eigenen Behauptungen zumindest anzuhören, was insbesondere in Kapitalanlagestreitigkeiten eine besondere Bedeutung erlangt, weil das Kapital­ 43

Wesel, Fast alles was Recht ist. Jura für Nicht-Juristen, Frankfurt a. M. 1992, 134–137. EuGH MP Traveline v. 8.10.1996 Rdnr. 21 auf einen Vorlagebeschluss des LG Bonn NJW 1996, 2489–2492. 44

254

VII. Die Entscheidung

anlegende (Bank-)Institut über Zeugen verfügt, der Anleger aber höchstens über eine Ehefrau, die alles mithört. Für solche Fälle gibt es eine Vorentscheidung des EuGH mit der Folge, dass nationale Obergerichte sich so selbstsicher darstellen können wie hier der BGH:45 (14) Die Feststellung des Berufungsgerichts, die Klägerinnen hätten eine solche Weisung nicht erteilt, ist rechtsfehlerhaft. Sie beruht ausschließlich auf der Zeugenaussage eines Angestellten der Beklagten. Die Klägerin zu 1) hat das Berufungsgericht trotz eines entsprechenden Antrages der Klägerinnen zu dem Vier-Augen-Gespräch, in dem die Weisung erteilt worden sein soll, weder gemäß § 448 ZPO vernommen noch gemäß § 141 ZPO angehört. Diese Verfahrensweise verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (vgl. EGMR NJW 1995, 1413, 1414) und Art. 103 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfG NJW 2001, 2531). Der Grundsatz der Waffengleich­ heit, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Gewährleistung eines fairen Prozesses und eines wirkungsvollen Rechtsschutzes erfordern, dass einer Par­ tei, die für ein Vier-Augen-Gespräch keinen Zeugen hat, Gelegenheit gegeben wird, ihre Darstellung des Gesprächs in den Prozess persönlich einzubringen. Zu diesem Zweck ist die Partei gemäß § 448 ZPO zu vernehmen oder gemäß § 141 ZPO anzu­ hören (BGH, Urteile vom 16. Juli 1998 – I ZR 32/96, NJW 1999, 363, 364 und vom 19. Dezember 2002 – VII ZR 176/02, WM ZR 176/02, WM 2003, 1740, 1741 f.; je­ weils m. w. Nachw.). Die Notwendigkeit, der Partei Gelegenheit zur Äußerung in einer dieser beiden Formen zu geben, setzt entgegen der Auffassung der Revisionserwide­ rung keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für ihr Vorbringen voraus (BVerfG NJW 2001, 2531, 2532).

Die grundlegende Entscheidung, auf die hier Bezug genommen wird, hat 10 Jahre zuvor der EuGH verkündet. Sie wird zitiert (EGMR NJW 1995, 1413, 1414) und ist in mehrfacher Weise bemerkenswert, weil es dabei um „Waffengleichheit“ ge­ hen soll (Kap. VI. 5.). Gelegenheit zur Äußerung hat man im Formenrepertoire des Prozesses über einen Advokaten, der im Rechtsstreit nach der Regel des § 78 ZPO immer vertreten muss. Die Anhörung ist keine Äußerung, sondern würde der ge­ richtlichen Prüfung des Wahrheitsgehalts von Äußerungen dienen, weil Anwälte nicht immer vortragen, was Mandanten wissen bzw. ihnen mitgeteilt haben. Inso­ fern steckt in jeder Anhörung ein Stück Misstrauen gegen den anwaltlichen Sach­ vortrag. Die Parteivernehmung ist letztendlich überhaupt keine Äußerungsform, sondern ein Beweismittel, das ausdrücklich an die Person des Gegners und nicht an die eigene geknüpft ist. Die Rechtsprechung nach einer inzwischen feststehen­ den Formel wie (14) ebnet diese dogmatischen Unterschiede ein und macht sie zum Bestandteil einer Darstellung, in der Äußerung und Beweis schon deswegen nicht unterschieden werden, weil Ziel der Darstellung auch gar nicht die Entscheidung sein muss. Man kann Verfahren auch anders abschließen, und das wird zur bevor­ zugten Praxisform.

45

BGH Urteil v. 27.9.2005 – XI ZR 216/04.

5. Verfahren ohne Entscheidung

255

5. Verfahren ohne Entscheidung Die vorangegangenen Abschnitte sind dem Aufbau des Urteils gefolgt – vom Tenor über den Tatbestand zu den Entscheidungsgründen und haben Beispielsfor­ mulierungen dazu vorgestellt. Rechtssprache und Begründungsinhalte, mit denen man sich im Recht gewöhnlich umgibt, stammen fast ausschließlich aus Urteilsoder Beschlussbegründungen, und wenn sie nicht aus wirklichen Entscheidungen herrühren, dann legen ihre Autoren nahe, dass es solche Begründungen sein könn­ ten und man qualitativ bessere als die wirklichen Entscheidungsbegründungen präsentiere. Wenn man also von Entscheidungen und Begründungen als den ein­ geübten und anerkannten Formen der juristischen Arbeit ausgeht, kann man sich wundern, wie viel Zeit und Mühe mit anderen Arbeiten verbracht wird: mit Termi­ nen und Verhandlungen, mit beiläufigen oder gezielt herbeigeführten Gesprächen, mit Zuhören und Schweigen, mit Schreiben ohne Begründungen, mit Formularen, Anträgen, Ortsbesichtigungen oder Konferenzen. Die Entscheidung als höchs­ tes Gut – wenn sie denn geschätzt und hochgehalten wird – ist auch eine prekäre, knappe Quelle im wirklichen Recht. Man kann deshalb beobachten, dass Verfah­ ren ohne eine begründete Entscheidung enden und viele Aktionen in Verfahren gar nicht auf eine Entscheidung abzielen. Gerichte seien gezwungen zu entscheiden, liest und hört man, erfährt es auch, wenn man in ein Verfahren verwickelt ist. Aber gerade wenn man auf den Entscheidungszwang in der Disziplin vertraut und das Justizdispositiv als einen Prototyp der Disziplinarität ansieht, dann muss man sich darauf gefasst machen, dass auch das Gegenteil gilt. Zur fortgeschrittenen Übung in der Rechtsdisziplin gehört, dass nicht entschieden wird und infolgedessen auch nicht begründet werden muss. Die Justiz ist einst als formale Organisation eingerichtet worden, damit der Streit über Recht in angemessener Zeit entschieden werde. Marie Theres Fögen zitiert Codex 3.1.13.8,46 um zu verdeutlichen, dass es schon immer Richter gege­ ben hat, die korrupt, unfähig oder bestechlich gewesen sind und auch die Notwen­ digkeit, Streit zu entscheiden, entweder einfach beiseitegeschoben haben oder sich abkaufen ließen. Trotz aller wirklichen Beschränkungen ist die Notwendigkeit zu entscheiden allgemein anerkannt – bis heute. Der „Entscheidungszwang“ war ein rechtstheoretischer Erkenntnisgewinn, den Ottmar Ballweg programmatisch eingeführt hat.47 Aber Einsichten sind keine Aussichten. Es besteht die Aussicht, dass die eingerichtete Justiz den Zwang, alle Sachen entscheiden zu sollen, fallen lässt – und zwar mit Billigung aller oder der meisten Beteiligten, deren Kulturver­ ständnis anders geworden ist. Gerade die Nichtentscheidung darf auf schlichte, be­ gründungslose Anerkennung hoffen, selbst wenn sie nicht gefällt und man etwas anderes, insbesondere den eigenen Sieg lieber hätte. Denn nicht wenige Rechts­ verfahren, deren Zweck angeblich darin besteht, dass am Ende entschieden wird, 46 Marie Theres Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, Anmerkungen zu einer Selbstverständ­ lichkeit, in: Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden, München 2006, 38. 47 Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970, 109.

256

VII. Die Entscheidung

sind gar nicht mehr in der Lage, die angekündigte Entscheidung auch ergehen zu lassen. Dabei ist sicher Vorsicht mit Mehr/Weniger-Abstufungen angeraten. Am Ende gilt der immer wieder aktuelle Spruch von Rudolf Wiethölter: „Recht ist (nicht mehr), was es (ohnehin nie) war!“48 Unterschieden werden vier Varianten in der Art, nicht zu entscheiden. Nachei­ nander aufgezählt sind das: Mit der Entscheidung wird nicht entschieden [a)]; der Entscheider entscheidet, jetzt doch lieber noch nicht zu entscheiden [b)]; jene, die gekommen sind, eine Entscheidung zu erfordern, fordern sie in einer Art und Weise, von der sie wissen können, dass so nicht entschieden werden kann und auch nicht entschieden werden wird [c)]; und schließlich: Die Entscheidung bleibt einfach aus, das Verfahren „versickert“, wird zur Stapelware, bis seine Akten vergessen, weg­ gelegt oder vernichtet werden können [d)]. Alle diese Varianten gibt es wirklich. a) Scheinbare Entscheidungen Mit der Entscheidung wird nicht entschieden. Das ist die Variante, in der ein Ur­ teil zwar ergeht, aber nur in einem Sinne, der von den Beteiligten zuvor verabredet ist. Das Urteil ist der von außen verkündete Vergleich. Ein Spielraum für das Gericht besteht nicht oder so gut wie nicht mehr, das Gericht vollzieht, was von den Betei­ ligten erwartet wird. Bekannt ist diese Form der Entscheidung, seitdem es eine so­ genannte „Konventionalscheidung“ gegeben hat. Mit ihr wurde das Schuldprinzip des alten Eherechts in verabredeter Weise unterlaufen, indem einer der Ehepartner die Schuld „auf sich nahm“. Nachdem das Eherecht in diesem Punkt verändert wor­ den ist, hat sich die verabredete Entscheidung vornehmlich in Strafsachen ausgebrei­ tet, bekannt geworden als „deal“, geschätzt, geächtet, dann gesetzlich geregelt, aber in den wirksamen Formen durch Regelung nicht einzufangen. Hier interessiert nur, dass das Gericht verkündet, was zuvor schon bekannt ist. Die Entscheidung wird durch Vorverständigung in einen Bereich verschoben, in dem sie möglich wäre, der aber mit dem Verfahren der Entscheidung nichts mehr zu tun hat. Man brauchte noch für die reine Oberfläche eine so wenig regelnde Regelung wie § 257 c StPO. b) Die Bartleby-Variante der Nichtentscheidung Der Entscheider entscheidet, jetzt doch lieber noch nicht zu entscheiden. Das fällt zunächst gar nicht auf und kann – wie das Verhalten des legendären Bartleby49 – erst einmal noch hinzunehmen sein oder zunächst doch ziemlich unauffällig blei­ ben, also jedenfalls mit Verständnis behandelt werden. Die Verfahrensordnungen 48

Rudolf Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschaftsrechts, in: Christian Joerges/ Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, 17. 49 Herman Melville, Bartleby. Erzählung (1853; dt. Hamburg 1957), und zur Legenden­ bildung Deleuze (Fn.  III. 75) und Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz (1993, dt. Berlin 1998).

5. Verfahren ohne Entscheidung

257

gewähren vielfältige Möglichkeiten, erst noch einmal nicht zu entscheiden und mit einem Urteil noch zuzuwarten. So kennt die Zivilprozessordnung in § 300 den dog­ matisch wenig strukturierten Begriff der „Entscheidungsreife“. Ob eine Sache zur Entscheidung reif ist, bleibt dem Gefühl des Gerichts überlassen und ist nicht dog­ matisch ausgearbeitet. Will man nicht von vornherein auf obstbauspezifische oder volkspädagogische Reifungsvorstellungen abheben, dann müsste man vorsichtig sagen: Eine Sache ist dann zur Entscheidung reif, wenn die Beteiligten ausreichende Gelegenheit zum Verfahrensvortrag hatten, die notwendigen Anträge gestellt und die entscheidungserheblichen Beweise geführt sind. Der Satz leidet daran, dass er so viele Modalitäten vereint. Was reicht aus, was ist notwendig, was erheblich? Das Verfahren ohne Entscheidung wird inzwischen gesetzlich in den Rechtsstreit im­ plantiert. Güteverhandlung und Mediation kann man nicht mehr abwehren. Man muss sich zwar nicht auf einen Vergleich einlassen, aber man kann zur Verhand­ lung darüber gezwungen werden. Neu und zunächst einmal systemfremd findet sich in der Zivilprozessordnung die Möglichkeit, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinzuwirken (§ 278 Abs. 1 ZPO). Jede Lage? Immer? Etwa so: Das Gericht führt eine Beweisaufnahme durch und bestimmt einen Verkündungs­ termin. Nach früher geltenden Regeln müsste ein Urteil erlassen werden oder die Beweisaufnahme durch Ergänzungsbeschluss fortgesetzt werden. Stattdessen wird ein Vergleichsvorschlag in Beschlussform verkündet. Das ist nicht nur möglich, es geschieht auch – manchmal. Mancher möchte lieber noch nicht.

c) Die Unmöglichkeit der Entscheidung Jene, die gekommen sind, eine Entscheidung zu erfordern, fordern sie in einer Art und Weise, von der sie wissen können, dass so nicht entschieden werden kann. Wenn in antagonistischen Strafsachen nicht im Wege des Deals und damit auf Beziehungsebene eine Entscheidung überhaupt verhindert wird, dann nimmt das Verfahren einen Weg in möglicherweise nicht mehr abschätzbare Sitzungstage. Wenn in Zivilsachen, die durch law firms antagonistisch betrieben werden, die gütliche Einigung nicht mehr am Horizont auftaucht, werden Schriftsätze produ­ ziert, mit deren ordnungsgemäßer Berücksichtigung eine Sache in übersehbarer Zeit nicht mehr entscheiden werden kann, weil sie so verkompliziert ist, dass nie­ mand mehr weiß, wie die einzelnen Details jemals durch wen zusammengefasst werden könnten. Das ist das Feld für Beweisanträge, für die Veränderung recht­ licher Gesichtspunkte, für Rahmen-, Zusatz-, Rand- und Teilgeschichten. Dem entspricht – ohne dass man sich dabei große Mühe geben muss – der sachliche Stoff nicht weniger Zivilsachen. Zwar kann man Streitfragen aus Großbauvorha­ ben zur Entscheidung stellen (Muss der gesicherte Tunnelvortrieb bei großstädti­ schen Untertageverkehrswegen 1 m oder 5 m betragen?), man kann auch die man­ gelhafte Erstellung einer Wohnungseigentumsanlage mit 74 Einheiten für jede dieser Einheiten sachverständig vorbereiten, aber man wird nicht mit einer Ent­ scheidung, die den Namen verdient, rechnen können.

258

VII. Die Entscheidung

d) Vergessene Verfahren Das Verfahren „versickert“, wird zur Stapelware, bis seine Akten vergessen, weggelegt oder vernichtet werden können. Manche reden kulinarisch metapho­ risch vom „Schmoren-lassen“, wobei dann offenbleibt, ob die vergessene, weg­ gelegte, vernichtete Sache nicht doch eines Tages wieder erinnert, hervorgeholt und rekonstruiert wird (die Titorelli-Warnung: Kap. IV. 7.). Das ist immerhin mög­ lich. Für die Zwischenzeit und überhaupt fehlen der Rechtstheorie die Worte: Un­ glaublich, unerträglich oder völlig unsachlich  – diese Prädikate können einem dazu aus der Beobachterperspektive einfallen. Man kann einfach nicht glauben, dass Akten (und damit Verfahren) vergessen werden können. Wenn sie ohne Ent­ scheidung und ausreichende Bearbeitung weggelegt werden, ist das auf die uner­ trägliche Misswirtschaft der Justizverwaltung zurückzuführen. Dann muss die Gerichtsorganisation geändert werden  – könnte man denken. Man könnte auch denken – und hört es gelegentlich –, dass einflussreiche Gönner darauf hinwirken, bestimmte Verfahren liegen zu lassen, nicht zu betreiben und eben versickern zu lassen, so dass diese Variante der Nichtentscheidung immer nur gegen mindestens einen Verfahrensbeteiligten regelrecht durchgesetzt werden müsste. Dieses Ver­ schwörungsverständnis übergeht die regelmäßige Einverständlichkeit bei der Er­ ledigung einer Sache, und gerade der Modus des Versickerns und Versandens ist auf Einverständlichkeit angewiesen. Da mag es zwar einen Beteiligten geben, dem zunächst einmal an einer Entscheidung gelegen war, aber dessen Interesse wird dann auf den eigentlich interessierenden Gegenstand umgelenkt. Was so geheim­ nisvoll und abstrakt klingt, ist am Fall leicht einzusehen. Der Bundesgerichtshof hebt die Verurteilung zu 6 Jahren Freiheitsstrafe wegen Heroinhandels auf, ver­ weist zurück, der gleichzeitig bestehende Haftbefehl wird ebenfalls aufgehoben, und der Angeklagte wird aus der Untersuchungshaft entlassen. Er entschwindet nach Pakistan, und die Sache versickert. Die Anklagevertretung besteht nämlich auf einer sachlichen Aufklärung des Tatvorwurfs angesichts der Höhe der Frei­ heitsstrafe, eine sachliche Aufklärung wäre aber nur mit einem Aufwand möglich, der nicht betrieben wird, weil es sich nicht mehr um eine Haftsache handelt. Der Letzte, der noch eine Entscheidung will, ist der Verteidiger. Dann werden seine Gebühren als Pflichtverteidiger durch die Justizkasse ausgeglichen, und die Sache kann in Frieden ruhen – ein Einzelfall? Möglich, solche Geschichten müssen für jeden Fall neu erzählt werden. Aber es gibt sie. Das führt für alle diese Fälle zu der allgemeinen Frage, wie sich denn die Be­ teiligten, die gekommen waren, eine Entscheidung zu erfordern, mit der Modali­ tät der Nichtentscheidung abfinden. Was gerade für die Spielart des Versickerns erzählt worden ist, gilt auch für die anderen Varianten. Man will sie nicht wirk­ lich, man zeigt sie auch nicht vor, aber man kann sie sehen, wenn man sehen kann, und dann sieht man auch, dass jeweils alle Beteiligten mit den Nichtentscheidun­ gen einverstanden sein können, vielleicht etwas anderes vorzögen, aber es dann doch nehmen, wie sie es erleben. Dass ein Verfahren nicht versickern kann, so­ lange einer der Beteiligten einen Strom von Schrift ergießt, leuchtet gewisserma­

5. Verfahren ohne Entscheidung

259

ßen von der Natur dieser metaphorischen Sache her ein. Es verschwindet nur, was für alle Eingeweihten ohne Interesse geworden ist. Dass Verfahren aufgrund eige­ ner Aktivität oder den Anträgen anderer Verfahrensbeteiligter unentscheidbar ge­ worden sind, darf man zwar anzweifeln, man kann auch finden, dass sehr wohl ein Weg der Entscheidung offenstünde, wenn das Gericht mehr Mut, mehr Einfalls­ reichtum oder mehr Arbeitseifer an den Tag legte, aber irgendwann verstehen alle, dass es so ist, wie es ist – und akzeptieren das. Akzeptieren muss man selbstver­ ständlich eine Entscheidung, die nichts mehr entscheidet, eben weil man es zuvor so verabredet hat. Die Beteiligten finden dabei selbst einen Modus weiterzuleben und weiterzumachen, ohne das Gericht weiter zu bemühen, und das – so kann man es sehen – ist ein Verfahrenszweck, der dem Ende durch Entscheidung und der Entscheidung nach Rechtsgründen noch übergeordnet ist. Während in der Rechts­ soziologie nach der „thematischen Grenze“ für eine Mediation gefragt worden ist,50 entgrenzt der Bartleby-Effekt des Verfahrens alle Vergleichsanstrengungen. Wenn das Gericht lieber noch nicht entscheiden will, kann man auch entscheiden, auf die Entscheidung lieber ganz zu verzichten. Man kann – wie es Bartleby’s Ar­ beitgeber tut – umziehen und den Skribenten seinem Schicksal überlassen. Man kann klüger sein als das unkluge Gericht. Was geschieht mit dem Rechtsverfahren, wenn Entscheidungs- und Begrün­ dungszwang zeitweise, teilweise oder stellenweise aufgehoben sind? Fehlt dann ein Merkmal des Rechts oder des Verfahrens? Wenn man den Wegfall des Entschei­ dungszwangs sieht, muss man sich mit dem Verzicht auf einen Einbruch äußerer Justizrealität anfreunden. Das ist nicht so schlimm, wie man denken könnte, eher erfreulich und erwünscht. Die mächtigen Angeklagten der jüngeren Justizge­ schichte, die Entscheidungen haben verabreden lassen, wussten warum. Abstrakt gesehen möchten die meisten den Einbruch äußerer Realität vermeiden und in ih­ rem eingerichteten Innenleben bleiben. Leider muss man dann aber auch auf das gewünschte Ergebnis, das über Dritte hereinbrechen soll, verzichten. Es gibt dann keine Siegesnachricht mehr, so wenig wie die Niederlage verkündet wird. Das hindert freilich nicht, dass der Ausgang oder das Ende einer Sache doch als Nie­ derlage erlebt werden. Man hatte sich einen anderen Ausgang erhofft. Zu schät­ zen, was man wirklich erlangt hat, braucht psychische Übung. Wenn am Ende des Strafverfahrens keine Verurteilung des Täters mehr steht, sondern lediglich das Bekenntnis und die Erkenntnis dessen, was geschehen ist, dann soll dieser Akt des Bekenntnisses auch als Lösung verstanden werden – „reconciliation“ hieß es in der viel zitierten, aber fremd gebliebenen Praxis der südafrikanischen Wahrheits­ kommissionen. Diese Art des Versöhnungsausgleichs ist auch historisch einzigar­ tig auf staatliche und zwischenmenschliche Ausnahmelagen beschränkt geblieben. Der Alltag der kleinen Straf- und Zivilsachen ist durchaus nicht auf Versöhnungs-, sondern auf Durchsetzungserlebnisse trainiert. Ob diese Übung geändert werden 50 Kai-Olaf Maiwald, Die Anforderungen mediatorischer Konfliktbearbeitung. Versuch einer typologischen Bestimmung, Zeitschrift für Rechtssoziologie 25 (2004), 175–189 (186).

260

VII. Die Entscheidung

kann und ob eine Programmschrift wie § 278 Abs. 1 ZPO dafür als Vorlage die­ nen kann, ist ziemlich offen. Eva Geulens Kommentar auf Fögens Berufung des Entscheidungszwangs darf man ausbauen.51 Die Literaturwissenschaftlerin tritt der juristischen Anmaßung durch binäre Aufspaltung der Welt grundsätzlich entgegen und macht darauf auf­ merksam, dass die Operation der Differenz (die Luhmann empfiehlt) den Objek­ ten ein Gegenteil ebenso aufzwingt, wie die damit hergestellte Teilung den einen Teil vor dem anderen bevorzugt – zum Schaden der Interpretantenbewegung, er­ gänze ich, weil die auf Entscheidungen zugeschnittene Erzähl- und Benennungs­ weise die Objektbeziehungen festlegt. Das wäre ein grundsätzlicher Vorteil der Welt ohne Entscheidungen. In ihr ist mehr möglich. Aber das ahnen wir schon. Nur eines ist dann nicht mehr möglich: die Zurückweisung eines Begehrens unter Hinweis auf Entscheidungen, also jene Legitimation durch Verfahren, in der Teil­ nahme und Ergebnis oft ausreichen, um eine Sache zu erledigen. Das ist eine Leis­ tung der Rhetorik,52 die immer dann unentbehrlich wird, wenn mehr eben nicht möglich ist. Das kann eine Wohltat sein. Darüber hinaus wirkt sich der Verzicht auf Entscheidungen wohltätig für die beteiligten Juristen aus, wenn man Wohltaten aus institutioneller Perspektive be­ trachtet. Die Wohltat besteht selten in der Zeit- oder Denkersparnis für das ausge­ bliebene Urteil. Richter und mit ihnen alle Justizjuristen leben von der Aussicht auf Entscheidungen, die das Verfahren in Gang bringen, am Leben erhalten und als Fernziel zitiert werden können. Die Verhandlung aber ist eine Bewegung über Interpretanten. In der Verhandlung bezieht man sich auf etwas vermittels eines Dritten – manchmal genügt schon die Person –, und man braucht für diesen Pro­ zess in Wirklichkeit keine Entscheidungen. In Verhandlungen kann man sich auf Texte, auf Eingaben und Schriftsätze der Beteiligten, auf Protokolle, Berichte und Gutachten beschränken, und juristisch ist das viel schöner als ein schnödes, meist unbefriedigendes richterliches Diktum. Im Medium der Schrift ver­arbeiten alle Beteiligten ihre gegenseitigen Anstöße symbolisch. Wenn alle das tun, gibt es viele Rechte, jeder reimt sich das Seine zum Recht. Eben wegen dieser Pluralität erwar­ tete man bisher eine Entscheidung, die eine Position vor der anderen auszeichnet. Hier nun setzt der kulturelle Wandel ein. „Rechtspluralismus“ könnte der Topos sein,53 auch wenn vorläufig nicht klar wird, ob die Lehre vom pluralen Recht den notwendigen Verzicht auf Entscheidungen realisiert hat. Wenn das eine Recht den vielen weicht, muss sich etwas in der Erwartungsgewohnheit der Beteiligten än­ dern. Dabei darf und muss das Verfahren als Ablauf über mehrere Stationen im­ mer noch so verstanden werden, dass ein Anfang und ein Ende zu sehen sind, auch 51

Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: (Fn. VII. 46), 51–55. Martina Wagner-Engelhaf, Überredung/Überzeugung. Zur Ambiguität der Rhetorik, in: Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hrsg.), Amphibolie, Ambiguität, Ambivalenz, Weinheim 2009, 33–52 (49). 53 Ralf Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, Tübingen 2015. 52

5. Verfahren ohne Entscheidung

261

wenn Verfahren nicht mit Entscheidungen eines Dritten enden. Man könnte sagen, die Beteiligten entschieden jetzt selbst, ob sie das Verfahren als beendet ansehen wollten oder nicht. Sie verzichten auf eine Differenzprojektion54 und leben, so ge­ sehen, ohne Urteil besser als mit der extern verkündeten Entscheidung. Dann bleibt immer noch die Frage, was sich am Verfahren ändert, wenn auf Entscheidungen verzichtet wird und sie verabredet werden. Es bleibt die Frage, ob es sich bei so strukturierter Form eigentlich noch um Recht handelt, das dort prozediert wird. Konzentriert man sich zunächst einmal auf den Verfahrenscharakter, so fällt auf, dass ein Verfahrensbegriff, der das Verfahren auf Entscheidungen orientiert, ohnehin weitgehend nicht mehr zutrifft und historisch auch die Ausnahme dar­ stellt. Man darf zwar nicht annehmen, Entscheidungen seien inzwischen überflüs­ sig und postmodern gestalteten sich Verfahren eben entscheidungslos. So ist das gegenwärtige Bild des Verfahrens (noch) nicht. Natürlich gibt es sie, die vielen Urteile, die täglich verkündet werden, die Entscheidungen, über die man streitet, die überraschen und Zustimmung oder Empörung auslösen. Sie stehen neben den verabredeten, zeitweilig oder dauerhaft ausbleibenden Entscheidungen, neben je­ nen Verfahren, die in einer „Hängepartie“ nicht enden wollen und auf irgendeinen Vergleich warten. Es gibt beides: Verfahren mit und ohne Entscheidung. Das Ver­ fahrensverständnis des Verwaltungs- und Justizpersonals ändert sich gleichzeitig. Einerseits weiß jeder, dass Verfahren mit Entscheidungen enden sollen und diese Art der Beendigung die einzige ist, die den Beteiligten von Amts wegen aufge­ zwungen werden kann. Gerichte können falsch entscheiden, aber sie haben dann jedenfalls entschieden und die Sache zu einem Ende gebracht, und ob dieses Er­ gebnis nun wirklich richtig oder falsch ist, wird erst einmal in der nächsten Instanz herausprozessiert werden müssen. Andererseits genügt die Möglichkeitsbedin­ gung für Entscheidungen, um diejenigen, die gekommen waren, sie herbeizu­ führen, auf einen anderen Weg zu führen, einfacher gesagt und aus Verfahrens­ beobachtungen entlehnt: Das Gericht erklärt, wenn die Parteien nicht selbst eine Lösung fänden, was für sie zuträglicher sei als eine Entscheidung, bestehe durch­ aus die Möglichkeit zu entscheiden, was beide enttäuschen werde. Wer Verfahren nur aus der Perspektive der Rechtsbücher kennt, mag solche Be­ funde für befremdlich, ironisch oder auch als nicht ganz ernst zu nehmen halten. Versuchsweise und für die Zukunft darf man die Perspektive aber einmal umkeh­ ren. „Verfahren“ ist kein juristischer Begriff, und auch wenn die Justiz viele Verfah­ ren bereithält, hat sie den Stil einer Erledigung durch mehrere Beteiligte in geglie­ derten Stationen und Terminen in der Moderne – nach Kant, nach Freud und nach Lévinas – nicht mehr für sich gepachtet. Mit Kant wird die moralische Prüfung zu einer kategorischen Selbstprüfung (für die man auf Dialoge angewiesen ist),55 mit Freud braucht man für die Erkundung seines eigenen Fühlens und Erlebens das 54

Luhmann, Organisation und Entscheidung (Anm. VI 47), 140. Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: (Fn. III. 9), 76; Günther (Fn. III. 24), 82. 55

262

VII. Die Entscheidung

Ohr eines Dritten, der das Verfahren der Analyse organisiert,56 und mit Lévinas hat in den Rechtsstreit eine begrifflich systemfremde Mediation Eingang gefun­ den.57 Verfahren sind ein Ensemble zeitlicher Abschnitte und inhaltlicher Abfol­ gen in der Interpretantenbeziehung unter Beteiligung unterschiedlicher Beiträger. Es gibt unzählige Verfahren, und deren Begriff wie Ablauf sind keine Justizei­ gentümlichkeit. Notwendig ist nur, dass sich mehr als einer über einen längeren Zeitraum mit einer Aufgabe beschäftigt, die man nicht auch sofort erledigen kann. Als Gegenpol zur Justiz bietet die Therapie Verfahren an, die in ihrer Form am meisten ausgeprägt sind im Bereich der Psychoanalyse, die mit einem Erstinter­ view beginnt, zeitlich genau begrenzte „Stunden“ absolviert und im Idealfall mit Erfolg und einverständlich endet. Vom Verfahren der Psychoanalyse her gewin­ nen alle anderen therapeutischen Varianten das Vorbild für den Dritten, der zu­ hört und nicht die eigene Meinung vorstellt, sondern auf die fremde hört, sie auch nicht in der gehörten Betonung annimmt und verstärkt, sondern vorsichtig in Zu­ sammenarbeit mit den Beteiligten auf eine Verhaltensänderung hin entwickelt, mindestens untersucht – eben: analysiert –, weshalb solche Änderungen schwer­ fallen, unmöglich wirken oder im Ergebnis nicht realisiert werden können. Frank Rotter hat bereits vor Jahrzehnten die Ansicht vertreten, die Einbeziehung psy­ choanalytischer Verfahren in das Rechtssystem verspreche eine größere Sachhal­ tigkeit sowohl des jurisprudentiellen Wissens als auch der Konfliktlösung, die mit juristischen Mitteln in Gerichtsverfahren kaum jemals stattfindet.58 Der Dritte im therapeutischen Verfahren wirkt auf den ersten Blick als Gegenbild des richter­ lichen, streitentscheidenden Dritten und ist in einem unmittelbaren Sinne auch gar kein Dritter, sondern – wenn man so will – Zweiter oder einfach nur der Andere. Dieser Andere besetzt eine sonst im Justizdispositiv unbekannte Position, die ich grob als Medium anstelle einer möglichen Botschaft durch Entscheidung verstehe. Die in der Mediation Beteiligten benutzen die Mediatorin, die Wege, Beiträge und auch Beendigungsmöglichkeiten eröffnen, aber nicht verordnen kann. Schmitt macht am Ende einen deutlichen Unterschied zwischen Mediation und Therapie und setzt für das mediatorische Verfahren den seiner selbst gewissen, Ausdruck findenden und Eindruck aufnehmenden Beteiligten voraus.59 Er sagt nichts zu den in Zivil­sachen nicht seltenen Verfahren, in denen mindestens auf einer Seite nicht therapiefähige Parteien stehen, die Querulanz erzeugen (wenn man sie denn nicht einfach als „Querulanten“ bezeichnen will). Aber der Einbruch der Mediation ins 56 Peter Fuchs, Das Unbewusste in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewusstseins, 1998, 234. 57 Stephan Schmitt, Recht jenseits des Rechts. Gerichtsmediation im Lichte von Emmanuel Lévinas, Baden-Baden 2012, 109–113. 58 Frank Rotter, Zur Einbeziehung nichtrechtlicher Verfahren in das Rechtssystem, in: ders./Ota Weinberger/Franz Wieacker (Hrsg.), Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz: Referate von dem Internationalen Symposium der Österreichischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Retzhof bei Graz vom 7. 12. Mai 1979, Wiesbaden 1980, 83–96 (93 f.). 59 Schmitt (Fn. VII. 57), 355.

5. Verfahren ohne Entscheidung

263

streitige Verfahren hat bereits einen Kulturwandel für die Wahrnehmung gerichts­ förmiger Verfahren herbeigeführt, der das Justizdispositiv zumindest teilweise und fallweise abändert. Die Entscheidung nach streitigem Verfahren erweist sich semiotisch als ein knappes Gut. Wenn und weil das Verfahren formalisiert ist, dauern Entscheidun­ gen, und den Beteiligten wird während des Verfahrens nahegelegt, auf eine Ent­ scheidungen doch zu verzichten. Dann bleibt vom Justizdispositiv nur noch das, was angeblich nur Mittel sei, Entscheidungen herbeizuprozessieren: die Verhand­ lung selbst, das Theater des Gerichts.

VIII. Das Theater des Gerichts Verhandlungen repräsentieren Drittheit. Sie sind ein Symbol (Kap.  II. 4.) für einen Fall und thematisieren die Vermittlung des möglichen Ausspruchs mit dem Anlass. Die Verhandlungen entscheiden zwar als solche nichts, und juristisch pflegt man vorsichtig zu sagen, dass sie eine Entscheidung nur vorbereiteten und damit den Verfahrenszweck förderten. Dem Zweck – wenn es denn eine erkennbare, un­ erwünschte Entscheidung wäre – kann man widersprechen und weitere Aussprache fordern, Vermittlung wünschen, also Drittheit. Ginge es nur um Entscheidungen, wäre – wenn nicht das gesamte Verfahren – so doch mindestens die mündliche Ver­ handlung überflüssig. Verhandlung und Entscheidung sind nicht identisch, und die Vermittlung beider ist theoretisch wie praktisch prekär. Cornelia Vismann weist in ihrer grundlegenden Arbeit über die Medien der Rechtsprechung die Entscheidung dem Agon zu und führt die Verhandlung auf das Theater und dessen Rahmungs­ bedingungen zurück. Der Wettkampf, der ursprünglich in einem Stadion stattfand, habe sich zur sprachlich-darstellerischen Verhandlung gewandelt, über deren red­ nerischen Erfolg aber die Zuschauer nicht mehr entscheiden. Das „Ding“  – ger­ manisch buchstäblich der „Thing“-Gerichtsplatz – wird zum Forum des Rechts.1 Heute entscheiden die Zuschauer nichts mehr, und der theatralische Eigenwert der Verhandlung scheint zu vernachlässigen zu sein. Im Vordergrund steht das agonale Dispositiv der Entscheidung. Übergangen wird die theatrale Dimension (1.), überse­ hen werden die Rollenanforderungen für Aufführende (2.) und die Arten der Insze­ nierung (3.), ebenso wenig wie das Publikum (4.) zeitgenössisch von Bedeutung ist. 1. Die theatrale Dimension Mit der Beobachtung, die Bühne für das Ding verblasse vor der „wuchtigen Selbstinszenierung der Justiz“, erklärt Vismann das Fehlen jeder Diskussion über das Theater des Gerichts.2 Allein schon wer „Theater“ als Aspekt einer Kommu­ nikation betont, ist vielfältigen Verdächtigungen ausgesetzt. „Theater“ klingt in juristischen Ohren nicht gut. „Theater“ klingt nach überflüssigen Effekten, nach Darstellung von hintersinnigen Problemen ohne gegenwärtigen und wirksamen Lösungsansatz, eben nach inszeniertem, überflüssigen Spektakel. Peter Müller – vordem Ministerpräsident des Saarlandes – hat im Jahre 2002 theatralische Ab­ sichten offenbart, als die CDU-Mitglieder im Bundesrat gegen eine umstrittene Art der Stimmabgabe und -bewertung durch das Bundesland Brandenburg protestier­ 1

Vismann (Fn. I. 13), 19. Vismann (Fn. I. 13), 21.

2

1. Die theatrale Dimension

265

ten. Der Bericht darüber im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ lautet: „Der saar­ ländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) gab während einer Kulturveran­ staltung in Saarbrücken zu, dass die Union schon vor der Abstimmung wusste, was passieren würde. ‚Die Empörung hatten wir verabredet‘, sagte Müller. ‚Das war Theater, aber legitimes Theater‘, erklärte er. Die Aufgeregtheit der Union habe schließlich einen echten Hintergrund gehabt, fügte der Ministerpräsident hinzu.“3 Diese Art der Echtheit und Wahrheit (Kap. VI. 2.) ist nach gegenwärtiger Theo­ rie über praktisches juristisches Verhalten entscheidend, und die Abstimmung im Bundesrat war selbstverständlich ein solches praktisches juristisches Verhalten, über das später das Bundesverfassungsgericht (im Übrigen zugunsten des CDUAntrags) entschieden hat.4 Inszenierungen werden dennoch verachtet. Wer davon redet, gibt etwas zu – wie es im „Spiegel“-Bericht heißt –, und wer etwas zugibt, hätte es eigentlich verbergen wollen und sollen. Juristen sind es gewohnt, ihre thea­ tralischen Talente zu verbergen. Dabei sind Darstellung und Wirkung genuine Merkmale jeder Verhandlung in einem Rechtsverfahren. Begehren, Sachverhalt und Normauslegung müssen dar­ gestellt werden. Daran besteht gar kein Zweifel. Zweifelhaft erscheint nur deren theatralischer Gehalt. Juristen, die weniger rhetorisch versiert sind als ­Müller, ver­ suchen, davon nicht zu sprechen und den Eindruck von Theater auch nicht auf­ kommen zu lassen. Theater wirkt als Gegenteil von Jurisprudenz und Gericht. Wenn man die Rahmenregeln von Erving Goffman zugrunde legt, der Auffüh­ rungen nach ihrer „Reinheit“ (purity) unterscheidet, dann sind Gerichtsdarstel­ lungen ganz unreine Angelegenheiten.5 Für Goffman hängt der Aufführungscha­ rakter vom Publikum ab. Insofern gilt für das eigentliche, eben „reine“ Theater: kein Publikum, keine Aufführung. Das Gericht bietet dazu nicht etwa eine Misch­ form, sondern – wenn man Goffman folgt – das pure Gegenteil. Eigentlich sind Verhandlungen öffentlich und gestatten Publikum, tatsächlich finden aber 95 % der Verhandlungen ohne Publikum statt. Das Fernbleiben von Zuschauern ist ge­ wissermaßen der Normalfall, so dass allgemein gilt: „Kein Publikum, aber Auf­ führung.“6 Das verändert den Charakter der Darstellung. Der Rechtsanwalt, der ohne Mandantschaft in einer Zivilsache verhandelt, verhält sich dem Gericht ge­ genüber anders als ein Parteivertreter bei persönlichem Erscheinen der Partei. In Gegenwart des Betroffenen lässt sich schlecht sagen: Der Kläger ist nun mal ein bisschen pingelig! Wenn man mit der Gegenseite und dem Richter allein ist, mag man als Parteivertreter aber in Rechnung stellen, dass die beiden anderen genau diese Art der Distanzierung erwarten und die vollständige, insbesondere gefühls­ mäßige Identifikation mit der Mandantschaft als unprofessionell einstufen. Die Darstellung ohne Publikum ist dann die eines institutionellen Profis, ändert ihren 3

http://seibert.biz/union. BVerfGE 106, 310–351 – Urteil v. 18.12.2002 2 BvF 1/02. 5 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Versuch über die Organisation von Alltagserfahrun­ gen. Frankfurt a. M. 1977, 143–175. 6 Goffman (Fn. VIII. 5), 144. 4

266

VIII. Das Theater des Gerichts

Charakter, bleibt aber durchaus auch Darstellung. Ob der Anwalt, der eine klein­ liche Partei vertritt, ein Nachgeben in Kleinigkeiten vermeiden kann oder nicht, wird nicht damit entschieden, dass man sagt, der Mandant sei eben so. Der Ab­ stand zwischen Verhaltensoberfläche und Sache bleibt, und ihn zu wahren wird allen Professionellen abverlangt. Ob dennoch ein Verhältnis zur Sache besteht, dürfte die delikate Frage an ein theatralisches Verständnis des Gerichts sein. So, wie Juristen es sehen, ist Thea­ ter nicht sachlich und hat möglicherweise gar nicht so etwas wie eine Sache. Aber­ darüber muss man nachdenken. Zwar hat sich das Theater in den letzten hundert Jahren vom Text emanzipieren können. Es ist Aufführung, performance, kein Text. Aber eben diese Emanzipation vom Text fördert auf der anderen Seite die Sachlichkeit. Performativ will man im Theater Sachen erörtern, die gerade auf­ grund der Aufführung zur Sache werden. Dabei zeigt sich, dass man sogar die Theorie über das Theater und seine Wirkungen theatralisch inszenieren und mit Theoretikern diskutieren kann, was das klassische autoren- und stoffgebundene Theater nicht kannte.7 Erika Fischer-Lichte, semiotische Theaterforscherin, klärt darüber auf, dass theatralische Aufführungen im 19. Jahrhundert als Inszenierun­ gen von Texten, insbesondere klassischen und ehrwürdigen Texten kon­zipiert und verstanden worden sind. Dass die Aufführung Vorrang vor dem Text hat, versteht sie als Take-off der Theaterwissenschaft, wie sie heute betrieben wird.8 Dieser Ge­ danke kann ohne Weiteres auf die Rechtswissenschaft übertragen werden, wenn­ gleich der wissenschaftliche Ansatz in die umgekehrte Richtung geht. Die Aus­ legung von Texten oder überhaupt die Arbeit damit war und ist wissenschaftlicher Gegenstand des Rechts. Daneben und danach gibt es auch noch Verhandlungen, mündliche Auftritte, spontane Einlassungen und Eingriffe – eben jene Dinge, die als Zweitheit das Rechtserleben erschüttern und nach wissenschaftlicher Bearbei­ tung erst noch verlangen. Die Inszenierungen, Auftritte und Einlassungen wer­ den juristisch gerade erst als selbstständige Form und als Medium erfasst. Selbst in diesem Moment dominiert noch der Text, auch wenn Juristen empfohlen wird, nicht mehr die Einheit des Gesetzestextes, sondern die „Transkriptivität“ zwi­ schen einem Präskript der Norm, dem Transkript im Verfahren und dem Post­ skript zu berücksichtigen.9 Angesichts derart vieler Schreibakte, die Vorschriften ausschreiben sollen, ist immer noch zu entdecken, was Mündlichkeit im Unter­ schied dazu bedeutet und welche Performance damit vorgestellt wird. „Action writing“ ist bei Cornelia Vismann ein Ausdruck für die Verschiebung des Han­ delns ins Schreiben.10 Eine juristische „Verhandlungswissenschaft“ gibt es nicht. Stattdessen macht sich jeder Rechtspraktiker, der seine Auftritte als Parteiver­ 7

Till Nikolaus von Heiseler, Medientheater, Berlin 2008. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 43. 9 Ralph Christensen/Kent D. Lerch, Performanz – Die Kunst, Recht geschehen zu lassen, in: Kent Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 3: Recht vermitteln, Berlin 2005, 55–132 (131). 10 Cornelia Vismann, Action writing: Zur Mündlichkeit im Recht, in: (Fn. II. 40), 394–416 (399). 8

1. Die theatrale Dimension

267

treter, Behördenmitglied, Richter oder Staatsanwalt hat, seine eigenen Gedanken über das Setting dieser Gelegenheiten. Verhandlungen sind Aufführungen. Das gilt ohne Einschränkungen, wenn man wie Goffman einen weiten, alle alltäglichen Verhaltensweisen einschließenden Aufführungsbegriff vertritt. Dann ergibt sich der Aufführungszwang aus dem Rahmencharakter jedes Verhaltens und betrifft Begrüßungen, Musik spielen, die Teilnahme an Wettkämpfen, das Abhalten von Vorlesungen, die Erledigung von Arbeiten und dabei eben auch Arbeiten im Gericht, von denen Goffman selbst nichts weiß.11 Für diese Arbeiten gibt es einen zuvor mehr oder weniger festgeleg­ ten, auch unter den Beteiligten verbreiteten Text, dessen wesentlicher Gehalt dar­ gestellt werden soll. Die Darstellung darf und muss ihn aber abwandeln. Wie im Theater ist dies der Kürze der Zeit geschuldet. So wie der „ganze Faust“ die üb­ liche Wachzeit von Zuschauern überstrapaziert, kann ein 100-seitiger Schriftsatz in einer Verhandlung nicht verlesen oder frei vorgetragen werden. Man wählt aus, verschiebt, spitzt zu und aus dem vorbereiteten sachlichen Schriftsatz wird ein emotionaler Auftritt – so, wie ein polemischer, an der Grenze der Beleidigung ab­ gefasster Schriftsatz in der Verhandlung in eine responsive, fast schon versöhn­ liche Stellungnahme verwandelt werden kann. Die Aufführung erhält damit ge­ genüber dem Text einen selbstständigen Charakter. Man kann zwar auch von einem „Text“ im linguistischen Sinne sprechen, verändert dann aber dessen Inhalt. Das ist die Besonderheit des Mediums, von der schon die Rede war (Kap. V. 4.). In der Verhandlung ereignet sich etwas Neues, das nicht schon zuvor Gegenstand schriftlicher Ausführungen war. „Performanz“ lautet das aktuelle, in der Zwi­ schenzeit auch in der Rechtstheorie angekommene Stichwort, das etwa Christen­ sen/Lerch oder in anderer Weise Sabine Müller-Mall verwenden.12 Verhandlungen können performativ gestaltet werden, sie erlauben einen idealisierten Ausdruck und bilden damit für alle Beteiligten eine Fassade, hinter der man zwar etwas an­ deres vermuten kann, mit der man sich aber zunächst auseinandersetzen muss. Das ist das erste theatralische Merkmal. Aber was ist eine Fassade, und was ist das dahinter verborgene Andere? Wie in­ tensiv wird es verborgen? Semiotisch geht es offenbar um unterschiedliche Codie­ rungen wie auch um eine andere Art des Interpretantenverhältnisses. Die Zuord­ nung für Erfolge – ein Element der rechtlichen Codierung – wird durch das Forum geändert. Im Theater bleibt dem Zuschauer nur die Entscheidung über das Gefallen überlassen, und das unterscheidet eine Aufführung vom sprachlichen Wettkampf der Begründung, in dem man nicht gefallen, aber bei den Richtern Erfolg haben will. Das ästhetische Urteil setzt die Interpretanten in ein anderes Verhältnis, auf dem die Aufmerksamkeit der juristischen Wettkämpfer nicht ruht, das für sie je­ doch nicht ohne Bedeutung ist. Das forensische Darstellungstheater wird nach 11

Goffman (Fn. VIII. 5), 244 f. Christensen/Lerch (Fn. VIII. 9), 78; Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Weilerswist 2012. 12

268

VIII. Das Theater des Gerichts

Goffmans Beobachtungen wie jedes Theater von einer „Art freiwillig unterstütz­ ter freundlicher Täuschung“13 begleitet. Im Theater ist damit das Spiel gemeint, das die Zuschauer sehen und von dem sie annehmen sollen, es habe etwas mit der äußeren Welt zu tun, in der sich alle bewegen. Die Vorstellung täuscht, wird aber freundlich unterstützt. Die Zuschauer wissen auch, dass sie nicht die Welt sehen und sehen zum Teil auch, welche Auflösung die gebotenen Verwicklungen alsbald nehmen werden. Schon das ist unterstützte Täuschung. Gleichzeitig sollen sich die Zuschauer einer Theateraufführung von dem, was sie sehen, bewegen lassen, und zwar nach der klassischen Auffassung zum Lachen oder zum Weinen, in der post­ klassischen zur revolutionären Aktion, in der post- wie prämodernen Konzeption sogar zu einer anspruchsvollen Aktion, deren Imperativ Sloterdijk14 einem RilkeGedicht über den archaischen Torso Apollos entnimmt:15 Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie die Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht: Du musst dein Leben ändern.

Wie ein Geschoss enden Rilkes Verse in dem schmucklosen Imperativ „Du musst dein Leben ändern“. Man könnte ihn auch für nicht wenige Verhandlungs­ aufführungen verwenden. Wirkliche Änderungen sind zwar selten, auch wenn die Vorstellung täuscht, man müsse, könne oder wolle sein Leben ändern, wird we­ nigstens doch die Regel freundlich unterstützt. Man wird nicht viele Gelegenheiten finden, bei denen wirkliche Änderungen, tatsächliches Lachen oder Weinen auf Bühnengeschehen beruhen (und nicht auf dem Innenleben der Zuschauer). Den­ noch unterstützen Zuschauer gerne die Vorstellung, das Theater bewege sie. Sie wollen sich bewegen und vom Bühnengeschehen faszinieren lassen, selbst oder gerade dann, wenn sie es selbst sind, die sich bewegen. Der Bühne wird mindes­ tens für die Darstellung des psychischen Innenlebens ein wesentlicher Einfluss bei­gemessen, und man ist dankbar, dass die Darstellung auf der Bühne von eige­ nem Erzählen entlastet. Auch das Gericht wird von einer ähnlichen Art freiwillig unterstützter freund­ licher Täuschung begleitet. Laienbeteiligte lassen sich doppelt täuschen: hinsicht­ lich des Gegenstands und hinsichtlich des möglichen Erfolgs. Die gerichtliche Aufführung soll wahr sein (Kap. VI. 2.), und die Täuschung, dass das aktuell zu­ treffe, durchschauen Zuschauer nicht ohne Weiteres, so dass die Gerichtsdarstel­ lung für das wahre Leben gehalten wird. Das ist die eine Richtung der Täuschung. Sie zielt darauf ab, mithilfe rechtlicher Darstellung eine neue Form und neue In­ halte für das Leben gelten zu lassen (und nicht nur einer anderen Zweitheit, einer 13

Goffman (Fn. VIII. 5), 156. Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, 40. 15 Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 2006, 483. 14

1. Die theatrale Dimension

269

Fremdbeschreibung, gegenüberzustehen). Das Gericht meint, es beschreibe das Leben mit wahren Sachverhalten, und auch wenn der Schein der Sachverhaltsspra­ che und die Verschönerungen wie Verschlimmerungen mit Rechtstexten durch­ schaut werden können, geht niemand in Verhandlungen so weit, sie wegen Schein­ haftigkeit abzubrechen. Im Gegenteil: Der Rechtsschein wird allseitig unterstützt. Dem Rechtstext ordnet man sich angeblich gern unter, auch und gerade weil man ihn anders liest. Anders als es professionelle Juristen selbst sehen, fungiert das Ge­ richt durchaus als moralische Anstalt. Freundlich unterstützen Laien wie Profes­ sionelle das angebliche Ziel, durch das Gericht und seine Darstellung, durch Ver­ handlungen und Entscheidungen belehrt zu werden und am Ende mehr zu wissen als zuvor. Wenn man vom Rathaus komme, sei man klüger, lautet eine verbreitete Auffassung. Der anderen Täuschung erliegen nicht alle. Sie besteht darin, die Dar­ stellung – vor allem die eigene – insgesamt für das Wahre zu halten. Der eigene Rechtsanwalt tut so gut, wenn er in einen Schriftsatz fasst, was man eigentlich längst hat selbst sagen wollen – und das muss Erfolg haben, weil es wahr ist. Dass es mehrere Wahrheiten geben könnte, lässt die gerichtliche Aufführung jedenfalls in ihrer Textform nicht merken. In der Aufführung selbst – performativ – kann man es wohl erleben, hören und sehen. Rechtsanwälte, die zuvor schriftsätzlichen Krieg geführt haben, reden miteinander, Vergleichsmöglichkeiten werden erör­ tert, wo zuvor nur das reine Recht und die eine Wahrheit herrschten. Das lässt man sich gefallen, ohne am Stil der ausschließlichen Richtigkeit zu zweifeln und ohne den Modus der alleinigen Richtigkeit aufzugeben. Das ist freiwillig unterstütz­ tes, freundliches Darstellungstheater. Allerdings geht aus ihm nicht eine „Lesart“ hervor, die am Ende alle anderen widerlegt oder sie integriert hätte und ihnen über­ legen wäre.16 Das Theater kennt keine Sieger. In Darstellungstheater münden die Handlungsformen der Prozessführung, auch wenn sie scheinbar geradezu das Gegenteil eines Theaters bedeuten. Es wird ge­ klagt, angeklagt, widersprochen, bestritten, behauptet, verdächtigt oder nachgewie­ sen, und man hält diese Sprechakte für die Wirklichkeit selbst. Alle diese Darstel­ lungen entfernen ein Rechtsverfahren aus der latenten alltäglichen Konsenssuche und erlauben Konflikt. Das empfand Luhmann als Besonderheit, die man schät­ zen lerne,17 und es ist auch etwas Besonderes, wenn man sieht, wie sehr die alltäg­ liche Erzählung auf Zustimmung angelegt ist und wie sehr Zwangskonsense und Scheineinverständnisse die abstrakte Rechtswelt beherrschen. Zwar wollen auch Prozessdarstellungen akzeptiert werden, aber Rechtsverfahren schaffen immer­ hin die Möglichkeit zur gespielten Kontroverse. Adversarität, wie sie die meisten Verfahren prägt, wird nicht erzwungen, ist aber immer möglich. Die Handlungs­ formen selbst laden dazu ein. Mit Schriften – Klagen, Anklagen, Anzeigen oder Beschwerden – wird etwas hervorgehoben und gleichzeitig jemand von etwas und jemand anderem abgesondert, und diese Grenzziehungen laden zum Neinsagen 16 17

Christensen/Lerch (Fn. VIII. 9), 130 f. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 100.

270

VIII. Das Theater des Gerichts

und zur Kontroverse ein. Die Kontroversen entstehen nicht nur, wenn der Ablauf des Verfahrens den Darstellungen der Beteiligten überlassen wird, wie es zivilis­ tische Prozessmaximen nahelegen („Beibringung“ vs. „Untersuchung“). Auch die öffentliche Anklage, die eine mehr oder weniger neutrale Untersuchung voraus­ setzt, wirkt kontrovers, wenn ihr eine Verteidigung gegenübersteht, die der Gesetz­ geber in den Verfahrensordnungen für Strafsachen allerdings nur manchmal als notwendig anordnet und die ansonsten von den Angeklagten selbst organisiert wer­ den muss. Man ist nicht verpflichtet, den Prozess mit der Zustimmung zu den allge­ mein beobachteten Normalformen zu beginnen. Damit entsteht Raum für Taktiken, mit denen Differenzen aufgemacht, gepflegt und aufrechterhalten, ausgenutzt oder beiseitegelegt werden. Nur wenige Angeklagte können das so aufwändig organi­ sieren wie William Kennedy Smith gegen seine Anklage wegen Vergewaltigung.18 Dieser Spross des Kennedy-Clans ließ Prozesstheater inszenieren und hatte Er­ folg: Er wurde freigesprochen. Aber anhand seiner Hauptverhandlung zeigt Matoe­ sian als teilnehmender Sprachsoziologe nur, was an allen Verhandlungen auffallen kann. Jede forensische Tätigkeit befördert eine besondere Darstellung. Bei Goff­ man heißt das, Alltägliches müsse transkribiert werden, um es aufführen zu kön­ nen, und Goffman nennt acht Kunstgriffe, mit denen Bühnencharakter hergestellt wird.19 Einer davon besteht darin, die aufgeführten Handlungen nicht mit den Auf­ führenden zu identifizieren, eben etwas darzustellen. Wenn aber ein Vordergrund dargestellt wird, darf man dahinter noch etwas anderes vermuten. Es gibt insbe­ sondere bei den Professionsbeteiligten „eine Art von expressiver Rollendistanz“20. In deren Rahmen sind Differenzen und Konflikte im Verfahren zwar erlaubt oder sogar gefordert, in ihrer personalen Wirkung werden sie aber gleichzeitig abge­ mildert. Jede Partei – sagt Luhmann über die theatralische Verfahrenswirkung – „gibt der anderen gleichsam einen Freibrief für Gegnerschaft, ohne dass dadurch der Ausgang des Konflikts beeinflusst würde.“21 Die Differenz besteht dann nicht mehr in einem persönlichen Verhältnis. Man pflegt sie als „sachlich“ zu bezeich­ nen, was verdeckt, dass die Sache durch personale Darstellung zustande kommt. Die zweite grundlegende theatralische Veränderung bewirkt der Ort selbst. Theater braucht einen Raum, eine Bühne eben, so improvisiert sie auch immer ausfallen mag, und mit diesem Raum wird viel bewirkt, beispielsweise die grund­ legende Trennung zwischen Schauspielern und Publikum. Nicht nur muss für die Bühne ein Raum vorgesehen werden, sie ist auch nur eine Bühne, wenn Publikum zusehen kann und einen Platz dafür hat.22 Auch wenn man das Publikum nicht in der heute nach wie vor praktizierten Guckkasten-Form vor die Bühne platziert, sondern um sie herum oder die Bühne mitten ins Publikum hineinsetzt, so bleibt 18 Gregory M. Matoesian, Law and the Language of Identity. Discourse in the William Kennedy Smith Rape Trial, New York 2001. 19 Goffman (Fn. VIII. 5), 159–163. 20 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 95. 21 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 103. 22 Goffman (Fn. VIII. 5), 159.

1. Die theatrale Dimension

271

es bei dieser Trennung.23 Nur mit ihr fallen dem Publikum jene Reaktionen zu, die man von einem Publikum erwartet: Beifall, Zustimmung sowie Kritik, aber eben aus der Drittperspektive. Auf der Bühne erscheinen die Darsteller körperlich präsent, was zwar für alle Situationen direkter Interaktion zutrifft, dort aber we­ niger auffällt und bedrängt als in der Bühnenpräsenz.24 Der alltäglichen Begeg­ nung kann man sich entziehen, indem man sie beendet. Dagegen wird die Bühnen­ begegnung erst beendet, wenn das Theater sie für beendet erklärt, oder man begibt sich in eine andere Rolle, die dann nicht mehr die des Zuschauers, sondern die des Nach-Hause-Gehers ist, der – solange er nicht lautstark protestiert – für die Aufführung keine Rolle mehr spielt. Der Ort binde materiell, erläutert Fischer-­ Lichte die Materialitäten des Theaters.25 Darsteller wie Publikum werden in die Präsenz der Personen und die „Extase des Dings“ verstrickt, die nicht so weit ge­ hen muss wie in den von Fischer-Lichte beschriebenen Selbstverletzungs- und Verwundungsperformances (die solange betrieben werden, bis die Schauspiele­ rin zusammenbricht und jemand aus dem Publikum eingreift).26 Man kann bei der klassischen Vorform der Darstellung bleiben, der Verkörperung von Rollen. Im Theater wird vorgeführt, was wir zu wissen meinen und fühlen: dass es Hel­ den gibt und Opfer, Rächer und Schurken, Hilflose und Helfer. Diese Rollenper­ formanz kehrt im Verfahren wieder. Jeder Prozess hat seinen Ort, an dem die Rol­ len vorgeführt werden. „Der Richter hegt das Ding“ heißt der Ausgangssatz von Cornelia ­Vismann,27 mit dem sie das theatralische Dispositiv einführt. Das Ding verlangt Anschluss in zwei Richtungen. Man kann es als die Sache ansehen, die eben vor Gericht verhandelt wird, die Rechtssache, die zu fördern ist. Das Ding ist aber auch der alte, überkommene Platz (Thing) des Gerichts, wie ­Vismann her­ vorhebt. Gefördert wird die Sache nur auf diesem Platz und in der Weise, in der sie zu verhandeln ist. Vismann verweist auf die Orestie als klassisches Gerichts­ drama, in dem dieser Ort eingerichtet wird. Die Orestie wird beherrscht vom Lauf der Erinnyen, der jagenden Ankläger, die den bei der Göttin Schutz suchenden Angeklagten Orest verfolgen. Athene, die Göttin, rettet Orest zunächst einmal da­ durch, dass sie dessen unmittelbare Tötung hinauszögert und ein Forum, einen Ort, einrichtet, auf dem die Tat nachgespielt wird. Dafür wird – wie Vismann am Halbrund des antiken Theaters zeigt28 – die Spielstätte des Theaters zu einer be­ sonderen Szene umgebaut. Während „Agon“ ursprünglich eigentlich ein Fest be­ zeichnet, bei dem auch Läufe und Wettkämpfe in einem geschlossenen Oval statt­ finden,29 wird dieses Oval nun halbiert und vor die verbleibende Zuschauerhälfte eine Bühne gesetzt. Auf dieser Bühne können Ankläger, Angeklagter und alle wei­ 23

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 124. v. Heiseler (Fn. VIII. 7), 91 f. 25 Fischer-Lichte (Fn. VIII. 8), 187. 26 Fischer-Lichte (Fn. VIII. 8), 10 f. 27 Vismann, Medien (Fn. I. 13), 19. 28 Vismann, Medien (Fn. I. 13), 84. 29 O. W. Reinmuth, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Stichwort: „Agon(es)“, Mün­ chen 1979. 24

272

VIII. Das Theater des Gerichts

teren Gerichtspersonen agieren. Zum Gericht werden die im Oval sitzenden Zu­ schauer bestimmt, und die Beteiligten – anklagende Eumeniden und Angeklagter Orest – unterwerfen sich dem durch Los entscheidenden Gericht. Das ist die seit­ dem praktizierte örtliche Szene für ein Gericht. Sie kombiniert die theatralische Darstellung und den Kampf um eine Entscheidung. Die Entscheidung ist nicht Teil der Darstellung und obliegt auch nicht den Darstellern selbst. Die dritte theatralische Veränderung vollzieht sich im Zeiterleben bzw. durch die Herausbildung einer eigenen Theater- und Verfahrenszeit. Jedes Theaterstück bildet seine eigene Zeit aus und nimmt das Publikum in diese Theaterzeit mit hin­ ein. Das Stück stellt eine Einheit von Personen auf der Bühne für die Theaterzeit her. Ähnlich funktioniert die Verhandlung und darüber hinaus das gesamte Ver­ fahren, das seine eigene Zeit ausbildet. Dieser Zeitrahmen braucht mit den Erleb­ nissen des Alltags nicht übereinzustimmen; die Entscheidung kann einerseits so schnell herbeiprozessiert werden, dass die Beteiligten sprachlos werden, weil alles so schnell geht. Die Entscheidung kann andererseits aber auch in so entfernte Sta­ dien verschoben werden, dass die Beteiligten am Ende die Eröffnungszüge schon vergessen haben. Die Zeitautonomie erlaubt es, einen anderen sachlichen Sinn als rechtserheblich auszuzeichnen mit der Folge, dass im Verfahren insgesamt trotz gleichen Zeichenvorrats und vieler vertrauter alltäglicher Worte etwas anderes als von jedem Einzelnen gemeint herausgearbeitet wird. Die Verfahrensbeteiligten, die ihre Rollen gespielt haben, verstehen deren Sinn nachträglich – vielleicht und bestenfalls.30 In der Regel kommt es nicht mehr auf Motive an, sondern auf Handlungen, und zwar nicht selten auf solche Handlungen, die während des Verfahrens recht bei­ läufig und zufällig erschienen. Dennoch wird ihnen im Ergebnis entscheidende Bedeutung zugemessen. Der juristische Sinn  – so lautet dann die Schlussfolge­ rung  – sei nicht der alltägliche, er beziehe sich auf verfahrensspezifische Sinn­ setzung und bilde Selbstreferenz aus. Auf diese Weise werden die Beteiligten in der Verfahrenszeit schrittweise eingebunden. Die Prozessbeteiligung entbindet die Akteure aus schon vorhandenen anderen Kontaktsystemen und lässt professio­ nelle Akteure zu Verteidigern oder Staatsanwälten, Laiendarsteller zu Angeklag­ ten oder Zeugen werden. Auch der Abteilungsleiter im Justizministerium, der die Motive eines Gesetzgebungsverfahrens formuliert hat, muss im Gerichtsverfahren die dafür vorgesehene Rolle des Zeugen übernehmen.31 Vor allen Dingen muss je­ der, dessen Rechte bestritten werden, die Rolle des Angreifers oder Verteidigers entweder selbst übernehmen oder mit professionellen Anwälten besetzen lassen. Er erlebt sein Recht als bestritten und gewöhnt sich mit der Intensität seiner Ver­ fahrensbeteiligung daran, dass man Erwartungen auch anders bilden kann. In die­ sem hinter dem Verfahren und jenseits der artikulierten Rede angesiedelten Sinn ­ uhmann die eigentliche dramatische Aufgabe. Ausgedrückt findet man sie in sah L 30

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 70. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 60.

31

1. Die theatrale Dimension

273

einem Satz, an dem sich die Geister scheiden: „Vermutlich ist dies die heimliche Theorie des Verfahrens: dass man durch Verstrickung in ein Rollenspiel die Per­ sönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivie­ ren könne.“32 Die These von der Hinnahme von Entscheidungen, die nicht selten als „affir­ mativ“ bezeichnet wird, schien der Verfahrensdarstellung eine antiaufklärerische Tendenz beizulegen. Luhmann selbst hat in diesem Zusammenhang zwischen der sogenannten „Herstellung“ einer Entscheidung und ihrer Darstellung unterschie­ den. Die Darstellung – lautet seine These – sei nicht herstellungsabhängig, und sie sei vor allen Dingen nicht abhängig von der Qualität einzelner guter oder schlech­ ter Gründe. Das eben macht ihren theatralischen Charakter aus. Der Verurteilte – so sieht es im Übrigen nicht nur Luhmann – gehe niemals mit dem Gefühl nach Hause, eine gerechte Strafe erhalten zu haben, ebenso wenig wie der säumige Schuldner dem Erlass des Zahlungstitels applaudiere, wie immer er auch begrün­ det sei. An dessen Stelle setzen Verfahrensdarstellung und Gerichtstheater etwas anderes. Man ist als professioneller Jurist wie als beteiligter Laiendarsteller nach­ träglich in der Lage, die Verfahrenszüge und Entscheidungen der anderen als Aus­ druck ihrer Rolle zu verstehen. Dann ist man vielleicht in der Lage, die Fehler zu erkennen, die zu einem bestimmten Ergebnis geführt haben, und kann zumindest nachträglich die Entscheidung als durch die Verfahrensmöglichkeiten gerechtfer­ tigt verstehen.33 Die räumlichen und zeitlichen Effekte der Verfahrensdarstellung führen am Ende zu jener merkwürdigen Symbolwirkung, die hier als die erste theatralische Veränderung vorgestellt worden ist, jener freiwillig unterstützten freundlichen Täuschung von der Besonderheit des Orts, der Verfahrenszeit und der Rollen­ träger. Nicht immer ist das Ergebnis wirklich überraschend. Man hätte ein Ge­ fühl für den Effekt haben können, aber ein solches Gefühl wäre nur Möglichkeit, bloße Erstheit gewesen. Die theatralische Dimension eröffnet mehr. Sie erlaubt die Qualität eines solchen Gefühls zu steigern, indem es zu einem Teil symbolischer Vermittlung wird. Bei Peirce heißt das: degenerierte Drittheit.34 Das ist eine Ver­ mittlung, die symbolisch nicht vollständig entwickelt ist und teilweise vorsprach­ lich bleibt. So wird für den Verfahrensort nicht sprachlich oder konzeptuell ent­ wickelt, wie und welcher Interpretant Zeichen und Objekt vermittelt. Denn in dem Augenblick, in dem der Interpretant bezeichnet wird, erscheint er selbst als Zei­ chen – und nicht mehr als Interpretant. Die Triade der Vermittlung wird also auf zwei Stellen – indexikalisch – oder eben auf nur eine – als Ikon – reduziert. Dann vermittelt die Darstellung ein Gefühl der Richtigkeit, das umso stärker ist, je we­ niger es symbolisch-argumentativ ausdifferenziert wird. Das ist als Verfahrens­ leistung bedeutsam. 32

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 87. Seibert, Gerichtsrede (Fn. I. 123), 62. 34 Peirce, Vorlesungen (Fn. I. 43), 43. 33

274

VIII. Das Theater des Gerichts

2. Die Aufführenden Für die Darstellung des Rechts hat die ikonische Reduktion weitreichende Fol­ gen. Wer ein Rechtsbegehren vorbringt, soll es – so lehrt die Moderne – münd­ lich, unmittelbar und selbst vortragen dürfen. Damit wird das alte römische Fo­ rum wiederbelebt. Verschwunden sind die rituellen, festgefügten, unpersönlichen Formen. Die Rituale bleiben, aber sie werden Teil eines Darstellungstheaters, und Darsteller im Gerichtstheater kann jeder werden. In vielen Verfahren muss man sich nicht unbedingt anwaltlich vertreten lassen, und selbst wenn das vorgeschrie­ ben ist, ordnet das gegenwärtige Gericht gerne das persönliche Erscheinen von Parteien an, nicht immer, weil es sachlich notwendig wäre, oft eher aus atmosphä­ rischen Gründen, etwa um die Notwendigkeit eines Vergleichs wirksam gegen­ über den Beteiligten und ungefiltert durch anwaltliche Kommentare darzustellen oder einem der Beteiligten die Aussichtslosigkeit seines Begehrens demonstrieren zu können. ­Niklas Luhmann hat das einst zum Anlass genommen, auf die Not­ wendigkeit „unbezahlter zeremonieller Arbeit“ hinzuweisen.35 Alle sind Darstel­ ler, und alle müssen auch Darstellungsleistungen erbringen. Dabei gibt es zwei besondere, unentbehrliche Rollenspieler, die auch für das­ Publikum die Szene bestimmen. Für alle interessant tritt dabei zuerst die Rolle des Richters hervor, komplementär dazu verhält sich die des Angeklagten. Die Rich­ terrolle ist interessant und wird mit Attributen belegt wie: „Abwägender, Lenker, Machthaber, Aussagen-, Informationssammler, Voyeur“.36 Eine solche Zusam­ menstellung ist weder abschließend, noch trifft sie insgesamt die spezifisch thea­ tralische Dimension. Fabricius, von dem sie stammt, will auch nur „Positionen im Rahmen einer Rolle“ herausarbeiten, geht also von einem grundsätzlichen Rol­ lenskript schon aus. An der Richterrolle lässt sich ein solches Skript auch am besten plausibel machen, weil alle Verfahrensordnungen mindestens dem Vor­ sitzenden (aber heute gibt es überhaupt nur noch wenig Kollegialgerichte mit der Folge, dass jeder Einzelrichter sein eigener Vorsitzender wird) definierte Aufga­ ben zuweisen. Am auffälligsten ist das in der deutschen Strafprozessordnung, die (in § 243) bestimmt, der Vorsitzende stelle fest, ob der Angeklagte und der Ver­ teidiger an­wesend und die „Beweismittel herbeigeschafft“ seien, der Vorsitzende befrage den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, und er berichte von Verhandlungen über Absprachen. Leitung der Verhandlung, Vernehmung des Angeklagten und Beweisaufnahme erfolgen gemäß § 238 StPO durch den Vor­ sitzenden. Da kann man ohne Weiteres auf den Gedanken kommen, der Richter sei Lenker wie Machthaber, und wenn man den Beziehungsgehalt aus zwischen­ menschlichen Erfahrungen überträgt: Vater in einer personalen Rolle. Das Verbot,

35

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 117. Dirk Fabricius, Hauptverhandlung: Rationales Verfahren zur Wahrheitsfindung oder eine Art Stegreiftheater?, in: Brigitte Boothe/Pierre Bühler/Paul Michel/Philipp Stoellger (Hrsg.), Textwelt – Lebenswelt, Würzburg 2012, 69–86 (71). 36

2. Die Aufführenden

275

in das Strafverfahren übertragen durch Pierre Legendre,37 entstammt dem nom du père, wobei Lacans französische Phonetik über den Charme verfügt, le non und le nom gleich klingen und fast ununterscheidbar werden zu lassen. Dass der Richter die Verbotsinstanz schlechthin ist, erscheint in Strafsachen auf den ersten Blick plausibel. Der zweite Blick richtet sich auf den Angeklagten, ohne den die Richterrolle leer bliebe. Man mag sich fragen, weshalb hier so viel von Angeklagten die Rede ist, wenn das doch ein Ausdruck aus Strafsachen ist, die nur einen kleinen Teil des gerichtlichen Routinebetriebs ausmachen. Dieser kleine Teil trägt aber die ganze Last des Gerichtstheaters. Die Vorstellung, die wir davon haben, und die Auffüh­ rungen, die wir erwarten, stammen aus Strafsachen, und natürlich hat Pierre Le­ gendre diese und nichts anderes im Blick, wenn er über Verbote und ihre Per­ sonifikationen spekuliert. Das Spiel zwischen Richtern und Angeklagten, das juristisch hinter dem vielfältigen Stoff kaum noch bemerkt wird, tritt grell her­ vor, wenn man sich darauf beschränkt, zuzuhören und zuzusehen, was Richter und Angeklagte aufführen. Das setzt die mühsame Transkription und Analyse einzelner Verhandlungen voraus, wie sie Soziologen und Linguisten vornehmen, die Darstellungen im Gerichtssaal beiwohnen. Sie sind in diesem Zusammenhang die­jenigen, die Rahmungen und Darstellungen im Justiztheater für die anderen sichtbar machen. Man kann nämlich zweierlei beobachten: einmal die Selbstdar­ stellung des Angeklagten, dann aber auch und vor allem die Macht- und Beschädi­ gungspraktiken der Richter, die neinsagen, indem sie etwas anderes beim Namen nennen, das der Angeklagte nicht gelten lassen will und unerwähnt lässt. Das ist rituelles Theater. Dessen Entdeckung stand am Anfang der juristischen Diskurs­ analyse. Sie belehrt heute am besten über die Leistungen der Darsteller auf der forensischen Bühne. Es waren rechtssoziologische und soziolinguistische Unter­ suchungen, die gezeigt haben, dass reale Verhandlungen etwas anderes bewirken, als die Grundlage für richtige Entscheidungen abzugeben. Im Jahre 1956 hat Harold Garfinkel unter dem Titel „Conditions of Success­ ful Degradations Ceremonies“ eine theatralische Perspektive auf Handlungen der juristischen Akteure im Gerichtssaal eröffnet. Sie war und ist Bestandteil des ethnomethodologischen Blicks, mit dem die Selbstbeschreibungen einer Gesell­ schaft nicht als das genommen werden, was sie zu sein scheinen. So legen Ju­ risten der Hauptverhandlung in Strafsachen einfach nur die Funktion der Wahr­ heitsfindung bei – und verfehlen ihren Charakter damit. Das heben sogar Kritiker der Verhandlungspraxis wie Fabricius hervor. Juristisch erscheint es nur als Ver­ irrung, wenn von der Wahrheitsfindung nicht mehr viel übrig bleibt und nur noch Theater zum Nachteil des Angeklagten gespielt wird.38 Zurück zur Wahrheit  – möchte man rufen und würde dabei nicht mehr sehen, dass man „nur in vollstän­ 37 Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater (1989), Freiburg 1998. 38 Fabricius (Fn. VIII. 36), 78.

276

VIII. Das Theater des Gerichts

dig demoralisierten Gesellschaften keine derartigen Rituale wird vorfinden kön­ nen“.39 Degradierung – beobachtet Garfinkel – sei die erste und eigentliche Auf­ gabe der öffentlichen Verhandlung, von der sie sich als Rollenspiel nicht lösen kann. Als einer der ersten Analytiker des Rechtsdiskurses hat Garfinkel die Ge­ richtsverhandlung nicht als Werkzeug zur Wahrheitsfindung, sondern als Bühne für die Aufführung eines notwendigen Gesellschaftsspiels verstanden. Das ge­ schah mit dem Blick des Anthropologen auf Praktiken der Identitätsdegradierung, die notwendiger Gesellschaftsbestandteil seien. Garfinkel ging davon aus, dass jede nicht vollständig anomische Gesellschaft über Prozeduren verfügen müsse, mit denen Gesellschaftsmitgliedern ihr Unwert gezeigt werden könne. Die öffent­ liche Anklage entspreche insofern dem Paradigma moralischer Entrüstung und müsse aus diesem Grunde eine Anzahl besonderer, alltäglich bekannter Zeremo­ nien pflegen. Sie machen den Rechtsfall aus und werden von Garfinkel in acht Stu­ fen geschildert, die damit beginnen, dass Vorfall und Täter als „außergewöhnlich“ hervorgehoben und in ein Wertschema überpersönlicher Art gebracht werden, und die damit enden, dass der an den unteren Rand der Werteskala herabgestufte Täter als „Fremdling“ der Gesellschaft erscheine. Damit wird die Rolle des Angeklagten mit der Figur des Bösewichts besetzt. Oft genug entspricht dem weder, was man in einer wirklichen Verhandlung sehen kann, noch vermögen alle Anklagen auf der Klaviatur von Gut und Böse zu spielen. Die Rolle des Angeklagten kann tragisch von der Macht des Richters abhängen. Wenn 1955 vor dem Obersten Gericht der DDR gegen Elli Barczatis wegen Spionage verhandelt wird, hört man den Rich­ ter schneidend, kreischend, unpassend jovial und höhnisch triumphieren, obwohl es gar keine Schlacht zu schlagen gibt. Gegeben wurde ein grausiges Exempel auf die Degradierungsthese. Am Ende beantragt der Staatsanwalt die Todesstrafe, und man hört in der Aufzeichnung den Schrei der Angeklagten.40 Die Todesstrafe wird auch verhängt – natürlich, Milderungen darf man im Spiel der Klassenjustiz von den Darstellern nicht erwarten. Die theatralische Dimension eröffnet in solchen und vielen anderen Beispie­ len nicht etwa Unterhaltung und Vergnügen. Weder beseitigt sie den Ernst des Zu­ griffs, noch suspendieren Darstellungszwänge mögliche Ergebnisse, wie man sie im Theater gern dem vorläufigen Nachdenken überweist. Was Garfinkel als Pro­ zess gesellschaftlicher Herabwürdigung beschreibt, ist auch keine Fehlform, kein Auswuchs eines Verfahrens. Niemand kann übersehen, dass in einem Land wie Indien die gesellschaftliche Normalverteilung erst dann wieder hergestellt wird, wenn vergewaltigenden jungen Männern bedeutet wird, dass sie nichtswürdig sind. Nicht nur Strafprozesse nach Schändungen und Tötungen sind Foren für die Reaktion auf üble Taten, und es ist eine Kulturleistung, wenn es gelingt, durch Ver­ 39 Harold Garfinkel, Conditions of succesful degradation cermonies (1956), dt. in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten III. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Frankfurt a. M 1977, 31. 40 Audioaufnahme bei Maximilian Schönherr, Fallbeil für Gänseblümchen. Feature, Basel 2012.

2. Die Aufführenden

277

fahrensgestaltung die blinde Rache in das von Garfinkel beschriebene Ritual der herabwürdigenden Verständigung zu überführen. Nur sind die Erwartungen des Publikums in heutiger Zeit differenzierter als in den Jahrhunderten, in denen sich der Strafprozess als Forum richterlicher Herabwürdigung des Angeklagten ritua­ lisiert hat. Strafprozesse haben sich ausgebreitet. Es ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, dass jeder als Angeklagter zum Mitspieler werden kann. Mit der Ab­ schaffung der Klassenjustiz durch flächendeckende Strafverfolgung gelangt je­ denfalls in weiten Teilen Europas und Nordamerikas jeder als Verkehrsstraftäter, Steuerbetrüger oder Wirtschaftsverbrecher vor die Schranken eines Gerichts. Es mag offen bleiben, ob er auch verurteilt wird, aber es geht eben um die Offenhal­ tung dieser Möglichkeit. In dem Maße, in dem die Rolle des Angeklagten wirk­ lich mit jedermann besetzt werden kann, sind auch die Sympathien für die Ange­ klagten gestiegen. Der Richter als Machthaber kann sich des Beifalls im großen Publikum nicht mehr sicher sein, wenn er die unglückliche Autofahrerin abkan­ zelt. Mit einer solchen Verhandlungsanalyse hat zum ersten Mal die Linguistin Ruth ­Leodolter der wissenschaftlichen Öffentlichkeit den Unterwerfungscharak­ ter eines Rechtsverfahrens demonstriert.41 Was 1910 in Wien außer Karl Kraus­ niemanden beunruhigt hätte, war im Jahre 1975 durchaus befremdend. Das ist im Ergebnis offen und im Verfahren riskant. Offen und riskant war die explorative Studie von Fritz Schütze in den Verwaltungsgerichten der Siebziger­ jahre. Schütze hatte eine Forschungsstrategie entwickelt, in deren Mittelpunkt das „Hervorlocken“ von Erzählungen steht.42 Der einstigen Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, zu der er gehörte, ging es programmatisch darum, Leute in eigener Sprache darstellen zu lassen, was sie für ihren Lebenszusammenhang als zentral erleben, welche Krisen sie erfahren haben und welche Probleme daraus entstan­ den sind. An die Stelle der Argumentation im Rahmen theoriegeleiteter Prozesse tritt die Erzählung als Kern des Verfahrens. Der Forscher fragt aus dem Analysan­ den nicht heraus, was er zu wissen meint oder zu vermuten sich berechtigt glaubt, sondern er hört zu und gelangt zum Kern der Untersuchung dort, wo er zuhören kann, weil der Bericht als Erzählung ein Stück Wirklichkeitskonstitution erahnen lässt.43 Eine solche Verweisung auf den Beitrag des Untersuchungsobjekts erin­ nert durchaus an das Freudsche Verfahren der Hervorlockung von Kindheitserleb­ nissen, in dem der Primat des Zuhörens für den Analytiker gilt. Aber anders als der Psychoanalytiker hat sich Fritz Schütze mit einer solchen Methode in Verfah­ ren der Zwangskommunikation begeben, an die zu erinnern heute schon wieder ein historisches Unternehmen ist. Die verwaltungsbehördliche Anerkennung von 41 Ruth Leodolter, Das Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht. Ansätze zu einer­ soziolinguistischen Theorie der Verbalisierung, Kronberg 1975. 42 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Kommunikative Sozialforschung, München 1976, 159. 43 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaft­ liche Wirklichkeit, Reinbek 1973, 2 Bde, Bd.  2 (Grundlagentheoretische Voraussetzungen methodisch kontrollierten Fremdverstehens), 433–495 (480).

278

VIII. Das Theater des Gerichts

Kriegsdienstverweigerern mit peinlicher Gewissensprüfung gibt es inzwischen nicht mehr, dennoch bleiben die Merkmale zwangskommunikativer Verhörstile beachtenswert: Diskreditierung, Überdehnung, Überlagerung, Alternation, Unter­ grabung, Fluchtverlegung44 – das sind paradoxe Stichworte im Arsenal des angeb­ lich aufklärenden Verhörs. Die Rolle des Richters ist seitdem umgestellt worden, jedenfalls in der ideali­ sierenden Vorstellung und in der symbolischen Vermittlung. Gehörte es einmal zu den selbstverständlichen rituellen Aufgaben des Richters, dem Angeklagten klar­ zumachen, dass sein Platz in der Gesellschaft ganz unten und seine Tat Ausdruck verwerflicher Neigungen ist, sind seit der Renovierung der Gerichtsbühne für eine bürgerfreundliche Justiz Takt, Abwarten und das Bemühen um Ausgleich die we­ sentlichen Merkmale der richterlichen Rolle geworden. Dementsprechend sind im kontinentaleuropäischen Rechtsraum seit den Achtzigerjahren auch die Verste­ hensmöglichkeiten der Parteien und insbesondere der Angeklagten betont worden. Die Rolle des Angeklagten sollte besser ausgestattet und vor allem sollte der An­ geklagte als Person besser behandelt werden. Solche Forderungen haben Juristen ­ udolf innerhalb der Gerichtsbarkeiten selbst formuliert. In Deutschland war etwa R Wassermann ein solcher Jurist mit rechtspolitischer Macht und öffentlichem Ein­ fluss als Gerichtspräsident. Sein Titel „Justiz mit menschlichem Antlitz  – die­ Humanisierung des Gerichtsverfahrens als Verfassungsgebot“ legte die normative Grundlage für weitere empirisch und analytisch orientierte linguistische Arbei­ ten.45 Die Degradierung ist nicht tot, sie ist auch nicht generell überwunden, sie kann allerdings meist mit weniger Beifall rechnen. Die Praxis des Jugendrichters Ronald Schill (der einmal Hamburger Innensenator wurde) und dessen ebenso un­ gnädige wie ignorante Härte in dieser Rolle sind schon in den Neunzigerjahren justizintern mit Ablehnung aufgenommen worden. Das gerichtliche Theater soll heute Aufführungen unterlassen, die traditio­ nell zum Bestand der Bühne gehörten, von schreienden, drohenden bis zu gelang­ weilten und verächtlichen Richtern, gesammelt in Honoré Daumiers viel zitierter Typensammlung. Dieses Gebot der Verständigung hat Eingang in die Forschungen in und über den Gerichtssaal gefunden. Begonnen haben die Untersuchungen 1967 in den USA mit deutlicher Kritik von Aaron Cicourel an der Herrschaftsattitüde der gerichtlichen Rollenspieler.46 Diese Kritik ist Grundlage der linguistischen Prag­ matik, wie sie – ausgehend von einer damals programmatischen Studie von Dieter Wunderlich47 – durch differenzierte Studien von Ludger Hoffmann weitergeführt worden ist und heute in der Tradition konversationsanalytischer und ethnometho­ 44 Fritz Schütze, Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht – eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstver­ weigerer, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Hubert Rottleuthner/ders./Andreas Zielcke (Hrsg.), Interaktion vor Gericht, Baden-Baden 1978, 19–100 (84f). 45 Rudolf Wassermann (Hrsg.), Menschen vor Gericht, Neuwied/Darmstadt 1979, 13. 46 Aaron V. Cicourel, The Social Organization of Juvenile Justice (1967), Brunswick 1995. 47 Dieter Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt a. M. 1976.

2. Die Aufführenden

279

dologischer Feldforschung praktiziert wird.48 Thomas Scheffer (auch er mit vie­ len angelsächsischen Beispielen), Peter Drew oder Gregory M. Matoesian haben das Gerichtstheater nicht nur auf der forensischen Bühne, sondern auch im Vor­ feld der Rollenvorbereitung in Details dargestellt.49 Das Verteidigungsteam, zu dem Matoesian gehörte, hatte erfolgreiche Arbeit geleistet und die Wirkung der Belas­ tungszeugin auf die Jury unterminieren können. Matoesian bekennt ein schlechtes Gewissen bei seiner Mitwirkung und hat sie durch umfangreiche Studien zur De­ gradierung (oder „Reviktimisierung“) der Opfer in Vergewaltigungsprozessen ver­ arbeitet.50 Auch Thomas Scheffer hatte Verteidiger-Zugang und konnte beobachten, was außerhalb des Gerichtssaals zur Vorbereitung auf die Rolle getan worden ist.51 Wie im richtigen Theater versteht man mehr, wenn man die Regieanweisungen kennt und bei den Proben dabei ist. Das Problem liegt jeweils im Zusammenhang zwischen den untersuchten Details und einer Perspektive auf die theatrale Form insgesamt bzw. auf den Sinn einer Verhandlung. Solcher Sinn müsste sich den Ak­ teuren zuallererst erschließen, und man könnte erwarten, dass Richter und Ange­ klagte selbst über den von ihnen erfahrenen Sinn und Unsinn schreiben, also nicht nur auf dem Forum darstellen, was sie darstellen sollen, sondern einen Blick hin­ ter die Kulissen erlauben. Dazu gibt es auffällig wenige Berichte. Die berühmten amerikanischen Richter wie Holmes oder Cardozo haben wohl wesentliche Mei­ nungen und theoretische Beiträge veröffentlicht, allerdings handeln sie nicht von den eigenen Arbeitsbedingungen und -beschränkungen. Es liegen wenige prakti­ sche und noch weniger empirische (also reflexiv theoriebezogene) Berichte von Richtern vor. Jerome Frank war Richter und Rechtsphilosoph in einer Person,52 Rüdiger Lautmann war Rechtssoziologe und zu Forschungszwecken verdeckter Proberichter.53 Sie haben immerhin einen Anfang in der Beschreibung gemacht. Angeklagte pflegen Kryptodarstellungen ihrer Rolle zu verfassen, in denen ver­ hüllt bleibt, was sie taten, während die immer gleiche Wertung dominiert, die Ge­ richte seien voreingenommen gewesen. Offenbar sind die Darsteller selbst selten in der Lage, sich selbst zu beobachten. Das Gerichtstheater nimmt sie gefangen und hält sie oft genug lebenslang unbeweglich in derselben psychischen Pose. Für Veränderungen in Aufführung und Darstellung ist es wichtig, Reziprozität zu erproben, d. h. für Richter die Perspektive des Angeklagten zu eröffnen und für Angeklagte, Anwälte oder Zeugen die Interessen der Richter im Gerichtssaal rich­ 48 Stephan Wolff/Hermann Müller, Kompetente Skepsis: Eine konversationsanalytische Un­ tersuchung zur Glaubwürdigkeit in Strafverfahren, Wiesbaden 1997; John M. Conley/William M. O’ Barr, Just Words. Law, Language and Power, Chicago 1998. 49 Matoesian (Fn. VIII. 18), 5.  50 Gregory M. Matoesian, Reproducing Rape: Domination through Talk in the Courtroom. Chicago 1993. 51 Thomas Scheffer, Materialitäten im Rechtsdiskurs. Von Gerichtssälen, Akten und Fall­ geschichten, in: (Fn. V. 52, Bd. 3), 349–376 (354). 52 Jerome Frank, Courts on Trial: Myth and Reality in American Justice, Princeton 1970. 53 Lautmann, Justiz (Fn. VII. 31).

280

VIII. Das Theater des Gerichts

tig einzuschätzen und darzustellen. Immer wieder bot das Jugendgericht Anlass und Raum für solche Untersuchungen. Nach Cicourel in Chicago stellen die Un­ tersucher um Varinard in Lyon oder Reichertz in Nordrhein-Westfalen die Bühne des Jugendgerichts dar.54 Für Jugendliche können Analysen in Verstehenshilfen umgesetzt werden, und damit wird dieser Bereich des Gerichts exemplarisch be­ deutsam für die moderne Verstehensfrage, die nicht einfach damit erledigt wird, dass man sich einfach ausdrücken möge. Verständlichkeit ist mehr, und sie ist et­ was anderes als Einfachheit. Verständlich wirken Geschichten und Anspielungen, die in der Situation nicht neu geschaffen werden müssen, sondern auf einen Vor­ stellungsvorrat zurückgreifen können. „Mythisch relevant“ nennt Christoph Sauer den Rückgriff auf Ordnungen und Grundsätze,55 die nicht ohne Weiteres infrage gestellt werden können. Mit Sauer kann man diese kulturellen Schemata theater­ wirksam ausgestalten: mit Märchenelementen, biblischem Stoff, typologischen Karrieren des Aufstieg und Erfolgs oder des schicksalhaften Abstiegs und schließ­ lich der Spielbarkeit des Stoffs. Die Aufführenden müssen sich in einem Skript selbstständig bewegen können. Das Verhältnis zwischen Richter und Angeklagten definiert in der Regel Insze­ nierung, Rollenausgestaltung und Ergebnis. Nur ausnahmsweise spielen Anklage­ vertreter oder Verteidiger eine derartige Rolle so, dass man auch sie als spielbe­ stimmend verstehen kann. Meistens fällt die Last der Inszenierung Richtern und Angeklagten zu, oft auch nur den Richtern. Wenn das Verhältnis zwischen Rich­ ter und Angeklagten das Auftreten auf der Gerichtsbühne bestimmt, dann fällt noch ein Strukturmerkmal im Verhandlungstheater auf. Es entsteht aus der Mög­ lichkeit, sich an ein Skript zu halten oder die Rolle selbst auszugestalten, also nicht nur die Rechtszuständigkeit, sondern auch sich selbst darzustellen. Dahinter steckt eine grundsätzliche Frage nach der Freiheit nicht nur der Gerichtspersonen, son­ dern auch all jener unbezahlten Darsteller, denen nach angelsächsischem Sprach­ gebrauch contempt of court unterstellt werden kann, die also unter Strafandrohung würdig handeln sollen. Auch wenn es zu den bestgeglaubten und immer wieder gern gehörten Sätzen der gutmeinenden Gerichtsbesucher gehört, Richter müssten an ein rechtsstaatliches Skript gebunden sein, trifft dies nur die halbe Wahrheit. In der Tat eröffnet nur ein Verfahren, das wir „rechtsstaatlich“ nennen, die Mög­ lichkeit zu Improvisation, Veränderung und Rollenverschiebung. Der rechtsstaat­ liche Richter kann den Angeklagten aus dem Stegreif vom notorischen Missetäter zum verlorenen Sohn machen. Wenige Diskursstudien haben das analytische Verständnis so bereichert wie jene von Christoph Sauer über einen ganz alltäglichen niederländischen Fall des 54

André Varinard, Actions et interactions dans l’institution judiciaire. Paris 1982; Jo Reichertz, (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Analysen jugendgerichtlicher Interaktion, Tübingen 1984. 55 Christoph Sauer, Mythisches als Quelle für Deutungen und Konstruktionen im Strafver­ fahren, in: Detlev Frehsee/Gabi Löschper/Gerlinda Smaus (Hrsg.), Konstruktion der Wirk­ lichkeit durch Kriminalität und Strafe, Baden-Baden 1997, 261–282 (278).

2. Die Aufführenden

281

Drogenhandels.56 Sauer folgt der wohl meinenden Richterin und lässt offen, ob diese mit ihrer dem Angeklagten günstigen Verfahrenswendung nun die wirk­ liche Wahrheit getroffen, das übliche Verfahren eingehalten oder sich am Ende in Person, Verfahrensführung und Prognose geirrt haben könnte. Die aktuelle Ver­ handlung erhält – nachdem die Richterin eher oberflächlich den Anklagevorwurf, die strafrechtlichen Vorbelastungen und ein Rückfalldelikt nach Anklageerhe­ bung thematisiert hat – eine grundsätzliche Wendung, als ein anwesender Bewäh­ rungshelfer einwirft, es habe sich „ziemlich viel verändert“ und es sei eine „be­ merkenswerte Veränderung in vielerlei Hinsicht“57 eingetreten. Man staunt, was in Straf­sachen möglich ist, und weiß auch nicht, ob und wann solche günstigen Wendungen eintreten. Man sieht und hört nur, dass sie möglich sind – aus dem­ Stegreif. Die charmante Erstheit im Stegreiftheater will Fabricius nicht gelten las­ sen. Doch sind Stegreiftheater gerade das, was ein rechtsstaatliches Verfahren möglich macht. Es steigert die Ungewissheit im Bühnenspiel. Zu den Aufführenden gehören natürlich nicht nur Richterin und Angeklagter, auch wenn zwischen diesen beiden Rollen das Spannungspotenzial entsteht. Um Spannung zu erzeugen, zu steigern, hitzig und heiß werden zu lassen, sind im Re­ gelfall mindestens zwei weitere Mitspieler vorgesehen. Der Angeklagte ist nicht allein, er kann sich einen Verteidiger bestellen, und es gibt die Fälle des § 140 StPO, in denen das Gericht ihn selbst bestellen muss. Früh in der Geschichte des Rechts tauchen Advokaten auf. Zwar waren sie selten wohlgelitten, aber schlecht­ hin unverzichtbar wegen der Unverständlichkeit einer in Ordnungen des römischen Rechts prozedierenden Justiz. Im 18. Jahrhundert hat es dann ein preußischer Kö­ nig für notwendig befunden, das Verfahren insgesamt umzustellen und die Rollen anders auszugestalten – ohne Advokaten. Es war Friedrich II., der schrieb: „Es ist wider die Natur der Sache, dass die Partheyen mit ihren Klagen und Beschwerden von dem Richter nicht selber gehört werden, sondern ihre Nothdurft durch gedun­ gene Advokaten vorstellen sollen. Diesen Advokaten ist sehr daran gelegen, dass die Prozesse vervielfältigt und in die Länge gezogen werden; denn davon depen­ dirt ihr Verdienst und ihr ganzes Wohl …“58 Advokaten sollten mit einer 1781 ein­ geführten neuen Prozessordnung durch gerichtlich bestellte „Assistenzräte“ er­ setzt werden, die den Parteien bei der Abfassung ihrer Gesuche helfen sollten und dabei ein festes Gehalt bezogen. Geblieben ist davon noch heute die Möglichkeit, in allen Fällen, in denen anwaltliche Vertretung nicht zwingend vorgeschrieben ist, Anträge über eine Rechtsantragsstelle formulieren zu lassen, wobei regelmä­ ßig eine Rechtspflegerin hilft. Zwar ist das heute nur noch eine Arabeske, aber insgesamt ist das friederizianische Gefühl über Advokaten als Darsteller und Ver­ 56 Christoph Sauer, Der wiedergefundene Sohn. Analyse eines Strafverfahrens vor dem nie­ derländischen „Politierechter“, in: Ludger Hoffmann (Hrsg.), Rechtsdiskurse. Untersuchun­ gen zur Kommunikation in Gerichtsverfahren, Tübingen 1989, 63–128; ders. (Fn. VIII. 55), 261–282. 57 Sauer (Fn. VIII. 56), 118. 58 Wiedergegeben bei Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), Rdz. 250.

282

VIII. Das Theater des Gerichts

diener in eigener Sache nach wie vor gegenwärtig. Wer betroffen ist, möchte gern selbst und unmittelbar sprechen und hält dies für wirksam. Wer bei Gericht ent­ scheiden soll, möchte die Betroffenen gern selbst und unmittelbar hören und hält das für authentisch. An Existenz und Verbreitung der Advokatur hat das nichts Wesentliches ge­ ändert. Anwälte – die in Preußen erst seit 1849 so heißen – gibt es nach wie vor, und sie haben sich den Versuchen, die Advokatur zu veramtlichen,59 weitgehend entzogen. Was sie tun und wie sie Sachen vorbereiten, verarbeiten, vertreten und erledigen, entzieht sich weitgehend dem justiztheatralischen Blick. Auch in die empirische Darstellungsforschung linguistischer und soziologischer Art geht an­ waltliches Handeln kaum ein, weil sich kaum jemand als Anwalt von einem So­ zialforscher über die Schulter sehen lässt. Thomas Scheffer ist das als Soziolo­ gen gelungen.60 Sichtbar ist auch für Beobachter nur die Spitze des Eisbergs. Von den Betroffenen, mit denen man reden kann, treten nur einige Wenige bei Gericht wirklich auf, werden verklagt oder klagen selbst, viele aber waren schon mal beim Anwalt – ohne dass wir wissen, was sie dort wollten und wie es behandelt wor­ den ist.61 So unbekannt die wirkliche, tägliche praktische Arbeit des Anwalts ist, so prominent treten demgegenüber einzelne als Darsteller ihrer Rolle hervor. Fast immer sind das Strafverteidiger, auch wenn Verteidiger in Strafsachen unter den Anwälten nur eine Minderzahl ausmachen. Unter diesen wenigen gibt es einige begnadete Rollenspieler mit beträchtlichem Unterhaltungswert. Dabei kommt es nicht darauf an, dass etwa das Gericht selbst unterhalten würde, was im Rahmen einer theatralischen Perspektive schon nicht folgerichtig wäre, gehören die Rich­ ter doch selbst zu den Aufführenden. Ob die ebenfalls mit aufführenden Ange­ klagten ihrerseits unterhalten werden, kann ebenso dahinstehen. Den Unterhal­ tungswert hat das nicht anwesende Publikum, heute „Öffentlichkeit“ genannt. Für die Öffentlichkeit schreiben solche berühmten Aufführenden ihre Werke und er­ freuen sie mit Verteidigerleistungen. Über deren Wert und Nutzen im Verfahren selbst muss man noch nachdenken. Am Anfang einer solchen Ahnenreihe stehen die Verteidigerreden Ciceros.62 Schließlich gibt es noch Staatsanwälte, Advokaten der staatlichen Macht. Der moderne Staatsanwalt ist kein Prätor, er wird im revolutionären Frankreich der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts instituiert und bildet dort bis in die Fünfte Republik le parquet, was eigentlich das Herz des Gerichtssaals bezeichnet, die von Publikum, Anklage- und Richterbank umgrenzte Saalmitte, in der aber nun der Procureur de la République auftritt. Er gehört zu einer Behörde, die dem Strafanspruch gegen Klassenunterschiede zur Durchsetzung verhelfen soll – der­ 59

Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), Rdz. 273. Thomas Scheffer, File work, legal care, and professional habitus – An ethnographic re­ flection on different styles of advocacy. International Journal of the Legal Profession 2007 (14), 57–81. 61 Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Heidelberg 1995, 55. 62 Seibert, Gerichtsrede (Fn. I. 123), 47. 60

3. Inszenierungen

283

Guillotine auch und gerade für die Adligen. Die Rolle des Staatsanwalts, die dar­ aus entstanden ist, wird kaum definiert und jedenfalls nicht von forensisch wirk­ samen Rahmungen begleitet. Im öffentlichen Bewusstsein sind Staatsanwälte in ihrer Rolle nicht präsent. Kaum weiß man, inwiefern und durch welche Darstellun­ gen sie sich von Richtern unterscheiden. Schriftsteller wie Max Frisch motivierte die Rolle des Staatsanwalts zum Weglaufen, wohlgemerkt: Der Staatsanwalt läuft weg, er ergreift die Axt und wird zum mordbrennenden Grafen Öderland. Er will vor den Normen, der Ordnung und der Logik der Verurteilungen Reißaus nehmen und steht – als ihm das am Ende gelungen ist – vor Normen, der Notwendigkeit einer neuen Ordnung und neuen Verurteilungen. „Wer, um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht, und ich verstehe ihren persönlichen Schreck vollauf“, sagt der „Präsident“ und stellt den Staatsanwalt vor die Wahl, entweder die Regierung zu bilden, um Ruhe und Ordnung wieder­ herzustellen, oder als Mörder gerichtet zu werden.63 Das ist nicht typisch und viel zu grob, um den Gedanken einer machtvollen Durchsetzung zu entwickeln. An­ kläger stellen wir uns anders vor, und sie sind theatralisch nicht als Staatsanwälte, sondern als Kohlhaase oder private Aufklärer mit der Geste des J’accuse präsent. Wort und Geste hat bekanntlich Emile Zola gegen die realen Vertreter des parquet in der Strafsache gegen Dreyfus benutzt, und damit ging die Rolle des Anklägers dorthin zurück, wo sie hergekommen ist: in die private Empörung und Verfügung. Die wirklich existierende Anklagebehörde pflegt wenig theaterwirksam, nämlich aktenmäßig und außerhalb öffentlicher Verhandlungen zu arbeiten. Routine und Akten haben den Vorrang vor Anklagegestus und Auftritt. In gerichtlichen Verhandlungen treten durchaus noch viele andere, auch verfah­ rensmäßig vertypte Figuren auf wie Zeugen, Sachverständige, Wachtmeister, Pro­ tokollführer, Laienrichter oder Schöffen. Sie alle spielen ihre Rolle und machen das gerichtliche Theater zu einem Stück Welt, das über den Dialog zwischen Ge­ richt und Ankläger oder Angeklagten hinausgeht. Nur weil es mehr als diese drei Hauptrollen gibt, stellt sich die Frage nach den möglichen Inszenierungen. 3. Inszenierungen Die Frage ist ungewöhnlich und scheint nach der Verfahrensordnung nicht er­ laubt zu sein. Was kann man eigentlich mit der Rollenausstattung durch Ange­ klagte, Ankläger, Richter und Verteidiger darstellen? Gibt es dafür mehr oder we­ niger geeignete Stoffe? Sind manche Inhalte gar ausgeschlossen? Oder umgekehrt: Wenn man mit Anklagen, Richtern und Angeklagten operiert, verändern sich dann Stoffe, die auf diese Weise mit diesen Beteiligten dargestellt werden? Inwie­ fern bestimmen die Mittel der Inszenierung Abläufe, Inhalte und schließlich Er­ gebnisse des dargestellten Rechts? 63 Max Frisch, Graf Öderland (Moritat aus 1961 in zwölf Bildern), 12.  Bild (Ausgabe Frankfurt 1966, 92).

284

VIII. Das Theater des Gerichts

So, wie die Perspektive hier gewählt ist, entstehen Thesen, die in der bisheri­ gen Rechts- und Verfahrenslehre nicht auftauchen. Sie lauten: Mit den Rollen der Angeklagten, Richter, Verteidiger und Ankläger lassen sich am besten Abläufe im Modus der „kleinen Welten“ darstellen. Alle Verhandlungen im Schema der Straf­ sachen machen – aus welchem Stoff auch immer – eine kleine Welt. Wenn das nicht gelingt, muss man Hilfsmittel einführen, die Großes kleinschneiden. Zeugen und Sachverständige, Akten und Urkunden sind solche Hilfsmittel. Sie etablieren neben und über der äußeren Welt eine eigene Realität des Verfahrens, in der eben­ falls kleine Dimensionen bevorzugt werden. Neben den vorherrschenden KleineWelt-Inszenierungen und nach den Reduktionen auf diese Form tauchen hier und da Neuinszenierungen auf, die selten gelingen und meist weder wiederholt werden können noch sollen. Schließlich wird die Kleine-Welt-Form auch noch zur Erle­ digung der großen benutzt und die Verhandlung erschöpft sich im nur theatralen Zweck. Diese Reinform der theatralen Seite des Gerichts ist gleichzeitig ihr Ende: der Schauprozess. Von den Fällen pervertierter Darstellung soll aber erst die Rede sein, wenn einigermaßen deutlich ist, was Kleine-Welt-Inszenierungen bieten. Das Publikumsinteresse an Strafsachen richtet sich auf „Kleine Welten“. Man kann das schlicht auffassen und beobachten, dass man andere gern in Situationen sieht, in denen man selbst nicht sein möchte, die man für möglich hält und die doch außerordentlich wirken. Das „Small-World“-Phänomen wird seit Experi­ menten des Psychologen Milgram für die Vernetzung von Personen diskutiert, die einander völlig unbekannt sind. Der Ausdruck hat sich in der computerisier­ ten Netzwerktechnologie etabliert und hat inzwischen in Filme, Romane und da­ mit in die Literatur Eingang gefunden. Als „kleine Welten“ kann man Verhält­ nisse, Handlungen und Abläufe verstehen, die mit geringem Personenaufwand und ohne lange Erläuterungen aufzubauen und einzurichten sind. Kleine Welten sind unvollständig und adressieren an alle diejenigen, die mit ihnen leben wollen oder müssen, eine Aufforderung, die Umberto Eco in den Imperativ fasst: „Habe Vertrauen zu mir. Sei nicht zu subtil und fasse das, was ich dir sage, so auf, als ob es wahr wäre.“64 Diese mehrfachen Zumutungen machen klar, dass kleine Welten nicht allein durch die gesehene und erlebte Darstellung geprägt sind. Sie leben von dem, was jeder sowieso schon weiß oder zu wissen meint, sie brauchen, was in der Rechtstheorie nach Josef Esser „Vorverständnis“ heißt, und sind selbstverständlich auf rhetorische Plausibilität angewiesen. Während Esser das Vorverständnis mehr auf das Verstehen der Norm bezogen hat, die man nicht aus dem Gesetzestext, sondern eben aus eigenem Vorverständnis erschließen müsse,65 geht die theatrale Sicht darüber hinaus und unterstellt Vorverständnis für alle tatsächlichen Abläufe. Was passiert, stammt aus einer uns bekannten Welt und wird mit den bekannten Mustern erklärt. Die Kleinheit der kleinen Welt besagt insofern nichts über ihre Bedeutung, über die Größe des Problems oder die Anzahl der wirklich Beteilig­ 64

Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München u. a. 1992, 271. Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a. M. 1970, 44. 65

3. Inszenierungen

285

ten. Es können viele Personen im Rahmen eines gesellschaftlichen Problems von großer Tragweite betroffen sein, und trotzdem kann man die sie betreffende Hand­ lung nach dem Schema einer kleinen Welt darstellen, wenngleich die amüsanten Geschichten in diesem Genre tatsächlich klein bleiben, aber vorhanden sind.66 Das Genre unterhält. Ehe man über Grund und Folgen des Unterhaltungsinte­ resses nachdenkt, muss man es erst einmal sehen. Die Morde und Vergewaltigun­ gen, die Handgreiflichkeiten und Unflätigkeiten der Welt werden nicht aus Mitleid mit den Opfern berichtet oder etwa einfach nur deshalb, weil so etwas vorkommt. Sie sind passiert, und die Passagen interessieren uns, wobei zweitrangig wird, ob es „wirklich“ so war.67 Sie stammen aus unserer Welt. Die kleine Welt besteht aus Elementen und Personen, die jeder schnell kennenlernen kann und die keine lange Erklärung brauchen. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen haben Darstellun­ gen der kleinen Welt hohen Unterhaltungswert und gehören zum Standardreper­ toire der Medienberichterstattung. Nachbarn, Ehegatten, Verwandte, Kollegen und ehemalige Freunde sind die Darsteller, aus deren Rahmen Kleinigkeiten in den Rechtsfall und anschließend in den Gerichtssaal eindringen, weil die Rechts­ form nicht für spezielle oder wichtige Inhalte reserviert werden kann und damit auch Banalitäten als rechtlich relevante Subjekt-Prädikat-Aussage erscheinen und Eingang in Verfahren finden.68 Damit bleibt der Verfahrenszugang von Sträu­ chern und Maschendrahtzäunen jederzeit möglich, der Halbsatz „Wenn der Nach­ bar zum Feind wird“ findet jederzeit Ergänzungen im Gerichtstheater.69 Nach den Nachbar- kommen die Verwandtenstreitigkeiten, die gesellschaftsrechtliche, straf­ rechtliche oder erbrechtliche Form annehmen können. Zur kleinen Welt gehört die Abfassung von Testamenten und Erbverträgen, dazu gehört das Drama zwi­ schen leiblichen Kindern und einer späten Ehefrau oder gar Geliebten (oder wen Sterbende dafür hielten), dazu gehören aber auch alle Auseinandersetzungen im Rahmen oder nach einer Vertragserfüllung. Der Bau eines Hauses kann zwischen Bauherrn, Architekten, Handwerkern und Bauunternehmern zu einer Beziehungs­ geschichte führen, von der diese Personen, die sich zuvor gar nicht kannten, sich nicht haben träumen lassen. Dann gibt es da auch noch das weite Feld der Verletzungen des Persönlichkeits­ rechts, auf dem die persönliche und soziale Ehre ausgetragen wird, seitdem es das Duell nicht mehr gibt. Es amüsiert der Satz: „Herr Lindemann ist ein ganz blöder Dackel“, und es ist dabei für Zuschauer und Zuhörer ziemlich gleichgültig, was die Justiz entscheidet bzw. ob sie überhaupt darüber entscheidet (was in aller Regel vermieden wird). Unterhaltsam für Dritte sind wahre Geschichten der Art: In der Universitätsklinik stellt man sich gegenseitig nach. Eines Tages wird die auf dem 66

David Lodge, Small World. An Academic Romance, Middlesex 1985. So Günther Wallrafs Bildzeitungsberichte in: Der Aufmacher. Der Mann, der bei ‚Bild‘ Hans Esser war, Köln 1977 (Der BILD-Anwalt, 115 f.). 68 Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. I. 52), 255. 69 Thomas Bergmann, Giftzwerge. Wenn der Nachbar zum Feind wird, München 1992. 67

286

VIII. Das Theater des Gerichts

Fensterbrett abgestellte Milchtüte einer Ärztin mit einem Luftgewehr zerschos­ sen. Die Ärztin erstattet Anzeige gegen einen mutmaßlichen Feind, der die Tat be­ streitet. Nach und nach kann man den Radius der kleinen Welten dann erweitern. Wenn die große Welt klein wird, unterhält dies noch viel mehr. Der Satz „Was al­ les man darüber lesen und hören kann, ist ja, dass der Finanzsektor nicht bereit ist, auf unveränderter Basis noch weitere Fremd- oder gar Eigenmittel zur Verfügung zu stellen“ stammt aus der kleinen Welt eines Interviews, hat einem Moribunden eine Geschichte serviert und das Gerichtstheater auch zehn Jahre danach nicht nur unverändert beschäftigt, sondern die Beendigung des Theaters hat sich die größte deutsche Bank auch einen Betrag knapp unterhalb einer Milliarde kosten lassen.70 Es sind also keineswegs nur Strafsachen, die Stoff für kleine Welten liefern, aber es sind durchgängig Geschichten, die sich reduzieren lassen, etwa auf einen Satz – wie soeben geschehen – oder auf einen Ablauf zwischen wenigen Personen. Darauf kommt es an. Auch wenn die große Welt klein sein kann, muss sie über­ sichtlich bleiben. Für die Inszenierung werden deshalb unter Umständen juristisch eigentlich unzulässige Reduktionen vorgenommen. Das betrifft Vorfälle, die sich mehrfach, vielfach oder seriell ereignen. Sie ergeben Fallgeschichten, die als Se­ riendelikte vom Einbruchsdiebstahl über den Scheckkartenmissbrauch bis in den Kindesmissbrauch reichen. Etwas ereignet sich nicht einmal, sondern mehrmals, zehn, zwanzig oder hundert Mal. Die einfachste forensische Lösung besteht darin, den Fall nur einmal darzustellen. In der monströsen Missbrauchsvariante liest man dann:71 „Seit August 1990 wurde die Geschädigte S. B., Tochter der Lebens­ gefährtin des Angesch., geboren am 1.5.1977, vom Angesch. an verschiedenen Besuchswochenenden am Abend aufgefordert, nicht in das eigene Bett zu gehen, sondern in das der Mutter, welche zu diesem Zeitpunkt sich nicht in der Wohnung aufhielt. Hier wurde die Geschädigte, welche sich meist auf den Bauch gelegt hat, vom Angesch. auf den Rücken gedreht, ihr der Schlüpfer herunter gezogen und das Glied des Angesch. in das Geschlechtsteil der Geschädigten gesteckt.“ Im praktischen Strafverfahren kämpfen Juristen dabei um die Frage, wie bei einer „Vielzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder, die häufig erst nach Jahren auf­ gedeckt werden“,72 eine Individualisierung der einzelnen Akte nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf vorgenommen werden soll. Es gibt prozessuale Er­ satzlösungen, die dann wiederum eine übliche Inszenierung erlauben. Serielle De­ likte werden durch vielfältige Verfahrenseinstellung auf kleine Formen so redu­ ziert, dass sie für die gerichtliche Darstellung taugen, man nur noch eine begrenzte Anzahl von Zeugen hören bzw. nur einige Sätze dazu formulieren muss. In Straf­ sachen steht dafür etwa die Einstellung nach § 154 StPO wegen nicht beträchtlich ins Gewicht fallender anderer Straftaten. Niemand prüft, was nicht beträchtlich 70

Nur eine Zwischenstation: Urteil des OLG München v. 14.12.2012 – 5 U 2472/09 – ZIP 2013, 558. 71 BGH NStZ 1994, 350 f. 72 BGH (Fn. VIII. 71), 351.

3. Inszenierungen

287

ins Gewicht fällt, es kommt allein darauf an, den Darstellungsstoff zu vermindern. Die Verfahrensherrschaft liegt insoweit bei den erstinstanzlichen institutionellen Darstellern, nämlich bei Staatsanwaltschaft und Gericht, und diese beiden pfle­ gen sich im Normalfall schnell zu einigen. Bei Betrugsfällen mit 32.000 Opfern kann man eben nicht 32.000 Zeugen hören. Das verträgt die theatrale Form der Darstellung nicht mehr. Künstlich wirkt es auch, wenn ein Gericht bei der Beweis­ würdigung logisch-rechnerische Mindestgrößen für ein Geschehen annimmt, von denen eigentlich jeder weiß, dass sie zu gering sind. Wenn jemand von einer Miss­ handlung berichtet und erklärt, diese habe so oft stattgefunden, dass er sich an ein­ zelne Tage nicht mehr erinnere, darf ein Gericht annehmen, die Tat habe jedenfalls zweimal stattgefunden, und es verhängt dann für diese beiden Taten eine Strafe, die so deutlich ist, dass damit auch andere Übergriffe stillschweigend erfasst wer­ den. Aber das sind schon Krypostrategien, um der Serialität den Anschein der kleinen Welt zu erhalten. In der juristischen Diskussion werden sie übergangen. Man tut so, als komme das nicht vor. Unter den Inszenierungen fallen wie im wirklichen Theater die Premieren auf. „Premiere“ hat ein Stoff bei Gericht, wenn er zuvor noch nicht oder nicht in dem aktuell erforderlichen Umfang verhandelt worden ist, wenn besondere Angeklagte oder auch andere Verfahrensbeteiligte, die ansonsten bei Gericht nicht erscheinen, dort sprechen müssen oder wenn Rollenskripte erprobt und gespielt werden, die in dieser Form aus der Verfahrensordnung nach bisheriger Praxis nicht üblich gewe­ sen sind. Insgesamt sind das Stücke oder Fälle, die sich in das Rollenschema zwi­ schen Richter und Angeklagten, flankiert von Anklägern und Verteidigern, nicht ohne Weiteres einfügen lassen. Theoretisch war das ausgeschlossen. Im modernen Recht kann bekanntlich alles zum Fall und jeder Staatsbürger zum Täter werden. Es gehörte zu den rechtssoziologischen Entdeckungen, dass dennoch A ­ dlige, Fabrik­ besitzer und Einkommensmillionäre vor Gericht so gut wie gar nicht erscheinen. Daraus hat sich die These von der Klassenjustiz entwickelt.73 Sie beruht auf der gesellschaftlich und semiotisch plausiblen Überlegung, dass sozialer Hintergrund und gesellschaftliche Rolle auch im Verfahren wirksamer sind als die Verfahrens­ aufforderung, ohne Ansehen der Person allen gegenüber gleich zu ermitteln. Ent­ deckt wird damit ein zweiter Code, der hinter dem für geltend erklärten Gesetzes­ kodex wirkt und das Gesetz verdrängt, es aber im Bewusstsein der Rechtsanwender dogmatisch unangetastet lässt. Ein solches Bewusstsein stammt aus Erziehung und Ausbildung, und es schien lange Zeit die Analyse des eigenen Handelns und dessen Veränderung zu verhindern.74 Das hat sich dramatisch geändert. Seit etwa dreißig Jahren gibt es vermehrt und immer häufiger Premieren im Steuerstrafverfahren, im Betrugs-, Bestechungs- und Untreuestrafrecht wie auch in Umweltverfahren, in denen Angeklagte vor Gericht erscheinen müssen, die gerade zu den Fabrik­ 73

Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, Frank­ furt a. M. 1973, 162–183. 74 Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen – eine soziologische Analyse, Neuwied/Berlin 1969.

288

VIII. Das Theater des Gerichts

besitzern und Einkommensmillionären gehören (nachdem die Rolle des Adels an gesellschaftlicher Bedeutung drastisch verloren hat). Insofern wird die Premiere eines Stoffs von der Premiere durch bestimmte Darsteller überlagert. Als Kanzler­ berater Peter Hartz, der bis zum heutigen Tag eine Chiffre für Sozialverhältnisse geblieben ist, sich vor Gericht wegen Untreue und Begünstigung des Betriebsrats verantworten musste, war das eine Premiere im Gerichtstheater, die selbst dann besondere Qualität hat, wenn Verfahrensablauf und -ergebnis nicht außerordent­ lich ausfallen. Erstaufführungen bei mäßigem juristischen Problemstoff enthielten die Auftritte von Josef Ackermann, Klaus Zumwinkel und schließlich des ehemali­ gen Bundespräsidenten Wulff, der wegen dieser Gerichtspremiere hat zurücktreten müssen. Dabei muss man semiotisch analysieren, für wen und warum diese Auf­ tritte riskant sind. Natürlich sind sie es für die jeweiligen Angeklagten, weil sie in ihrer Verfahrensrolle über die Entscheidung nicht disponieren können. Bank, Post, Telefon­gesellschaft oder Bundespräsidialamt fehlen ihnen als Kontext bei Gericht. Dessen Zweitheit bleibt unzugänglich. Sie kann über noch so lange Ausführungen noch so hochbezahlter Rechtsanwälte nicht beseitigt werden, und es ist keineswegs sicher, dass man die Entscheidungsfreiheit kaufen kann, wie Kritiker oft anmerken. Aber eine solche Premiere ist auch riskant für das Gericht selbst. Die Richter ih­ rerseits sind Darsteller, und sie sind es noch viel weniger als die prominenten An­ geklagten gewohnt, Gegenstand einer die Gerichtspraxis reflektierenden Medien­ berichterstattung zu werden. Die Entscheidungen in den Sachen Ackermann oder Zumwinkel sind kritisch, zum Teil aggressiv aufgenommen worden. Im Strafver­ fahren gegen Ackermann hat der Bundesgerichtshof die tatrichterliche Entschei­ dung aufgehoben.75 Premieren sind also auch im Ergebnis für das entscheidende Gericht kaum vorhersehbar, weil das jeweilige Ergebnis sich seinerseits an einem gesellschaftlichen zweiten Code bewähren muss, in dem zugeordnet wird, welcher Urteilsspruch und welches Strafmaß denn jeweils akzeptabel erscheinen. Schließlich werden neue Bereiche des alltäglichen Lebens und Wirtschaftens für die Gerichtsdarstellung erschlossen. Im Umweltstrafrecht sind neue Stücke geschrieben worden. In deren Skripten werden Täter- und Opferrolle anders als zuvor besetzt und die Szene erweitert. Das passive Ereignis „Ein Mädchen er­ krankt an Leukämie“ wird durch einen Zu-Satz erweitert und verändert: „nach­ dem es in einem pestizidbehandelten Zimmer gewohnt hat“. Ermittelt und verhan­ delt wurde gegen Mitarbeiter der Herstellerfirma, wobei die Frage, wer bei einem solchen Drama nun eigentlich den Täter spielen muss, nicht ohne weitere Zu-Sätze zu beantworten ist.76 Das passive Ereignis „Einem Mann muss das Bein abgenom­ men werden“ erhält eine neue Bedeutung mit dem Zu-Satz: „weil jahrzehntelan­ ger Nikotingenuss seine Blutgefäße verändert hat.“ An den Zusätzen merkt man, dass die Dramatik erweitert, verlängert, gestreckt oder mit einem anderen Wort: erst hergestellt werden muss. Im jeweils neuen Drama bezieht sich die Satzaus­ 75

BGH Urteil v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 . Lothar Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, Heidelberg 1989, 58 f.

76

3. Inszenierungen

289

sage auf Subjekte, die von dieser Prädikation früher nichts ahnten. Der Apotheker kann ebenso zum Giftmischer oder Giftmörder werden wie der Produzent von Ta­ bakwaren zum Körperverletzer und Lebensvernichter, der Abfallentsorger findet sich etikettiert als Umweltverschmutzer und Müllmafioso. Dabei wird nicht nur die Dramatik der Erzählung vergrößert, sondern die als Fall erzählten Zusammen­ hänge verlangen vor allem eine Fortentwicklung und Veränderung der juristischen Semantik. In und mit der Erzählung erfolgt eine Umwertung bestehender Werte, und es beginnt ein Kampf um die Durchsetzung einer bestimmten Codierung. Ge­ kämpft wird dabei immer auch um die theatrale Form. Das neue Handlungsdrama muss auf die Bühne gebracht werden können, d. h. es muss im gerichtlichen Fo­ rum darstellbar sein. Frank Rotter hat verglichen, inwiefern bürokratisches und künstlerisches Handeln denselben Performanzbedingungen gehorchen und da­ mit jeweils etwas anderes als eine „Nachahmung der draußen etablierten Rea­ lität“ erzeugen.77 Gunther Teubner hat die elend begrenzten Möglichkeiten der Gerichtsbühne beklagt und daran gezweifelt, dass neue Geschichten über das Ver­ schwindenlassen von Menschen oder die Vorenthaltung überlebensnotwendiger Arzneimittel sich im Repertoire des Gerichtsfalls darstellen lassen.78 Gleichzei­ tig wissen alle Beobachter – auch Teubner –, dass es ohne eine solche Darstellung nicht gelingen wird, den Fall zu erzählen. Erst wenn auch das gerichtliche Forum Entführung und Gesundheitsschaden als Prädikat wirtschaftlicher oder politischer Produktion darstellt, kann man die Folgen daraus nicht mehr einfach als kollek­ tives, persönlich nicht zu verantwortendes Schicksal aus dem Strafrecht heraus­ halten.79 Mit einer Aufführung auf der Gerichtsbühne ist nicht nur ein neuer Scha­ densersatzfall geboren, auch der Makel der Körperverletzung wird verhandelt. Die Neuinszenierung wird zum anerkannten Drama. Allerdings zeigt sich an dieser Stelle auch die Differenz. Gerichtsverhandlun­ gen werden zwar inszeniert, erschöpfen sich darin aber nicht. Das Justizdispositiv stellt Entscheidungen zur Verfügung. Am Ende einer Verhandlung sollte eine Ent­ scheidung stehen, die man wiederum in die Inszenierung nicht einbeziehen kann. Genau das übersehen viele Regisseure von Gerichtsverhandlungen. Ihr Ende ist nicht planbar. Für Premieren wirkt das besonders schwerwiegend. Eine Anklage wegen Wirtschaftsverbrechen oder in Umweltstrafsachen, an deren Ende ein Frei­ spruch steht oder die im Sande verläuft, gilt nicht als erfolgreich, weil viele Be­ teiligte nicht auf die Verhandlung selbst sehen, sondern auf das Ergebnis schie­ len. Insofern haben die Premieren etwa im Holzschutzmittelverfahren80 oder im Mannesmann-­Strafverfahren nicht den Erwartungen der Beteiligten entsprochen. 77 Frank Rotter, Bürokratisches und künstlerisches Handeln. Eine Studie zur Kultursozio­ logie, Freiburg/München 1988, 50. 78 Gunther Teubner, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2012, 220 f. 79 BGHSt Urt. v. 2.8.1995 – 2stR 221/94 – Bd. 41, 206 (Holzschutzmittel). 80 Lorenz Schulz, Strafrechtliche Produkthaftung bei Holzschutzmitteln, Zeitschrift für Umweltrecht 1993, 26–31.

290

VIII. Das Theater des Gerichts

Es fehlte eine Entscheidung, ganz abgesehen davon, dass nicht die erwartete und von manchen erwünschte beispielhafte Verurteilung am Ende stand. Beide Ver­ fahren wurden gegen Zahlungsauflagen eingestellt und entsprechen damit einem Typus von Wirtschaftsstrafsachen ohne Entscheidung, der in Kap. VII. 5. vorge­ stellt worden ist. Wenn Entscheidungen ausbleiben, wirkt das auf die Inszenierung zurück. Polizeiliche Mittel in größerem Umfang werden nur eingesetzt, wenn eine entsprechende Rendite zu erwarten ist, und die Polizeiführung pflegt solche Er­ folge in Strafmaßen zu messen. Bleiben diese mangels Entscheidung überhaupt aus, sinkt flächendeckend die Verfahrenshäufigkeit, und wenn es überhaupt zu Verfahren kommt, wird der Ermittlungsaufwand drastisch begrenzt. Weitere In­ szenierungen unterbleiben dann oder sie fallen bescheiden aus. Es gibt in diesem Sinne eine ganze Anzahl von theatralen Einflussgrößen auf den Rechtsstoff, von denen man im Rahmen des Stoffs nichts erfährt. Nominell gilt hier immer der Gleichheitsgrundsatz. Zwar denken Ermittler durchaus an die Art und Weise der Präsentation ihrer Ergebnisse im Gerichtssaal. Aber sie er­ wecken regelmäßig den Eindruck, dass ihre eigene Arbeit davon nicht beeinflusst würde. Wenn schon in Strafsachen die Bereitschaft fehlt, den Charakter der In­ szenierung für die juristische Arbeit zu berücksichtigen, so fehlt erst recht in den möglicherweise gar nicht zu Gericht gelangenden privaten Streitigkeiten ein Be­ wusstsein für Inszenierungen. Beteiligte gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich einmalige Vorfälle – Beleidigungen, Verunglimpfungen, Schlägereien, Bedrohungen oder komplexe Geschehensabläufe wie das sogenannte „Mobbing“ – ohne Weiteres auch im Gerichtssaal darstellen und beweisen lassen. Selten ist das der Fall. Aber mangelnde Beweisbarkeit beeindruckt Kläger und Beklagte in ih­ rer jeweiligen Sichtweise nicht. Selbst nach dem Verfahren und nach dem Erleb­ nis fehlgeschlagener Inszenierung wird nach Schuldigen gesucht, nicht aber nach Mängeln der Darstellbarkeit. Am Ende bleibt nur das juristische Publikum üb­ rig, das anhand fallbezogener Traditionslinien darüber urteilt, ob eine Inszenie­ rung den juristischen Stoff erweitert hat oder nicht – wenn ja, werden diese Fälle erzählt, gelernt und in weiterer Zukunft diskutiert. Erst dann hat die Inszenierung unabhängig von ihrem konkreten Entscheidungsergebnis Erfolg gehabt. Schließlich gibt es natürlich Tendenzen, auch noch die Entscheidung zu insze­ nieren. Man möchte planen können, wie entschieden wird, und zwar am besten von Anfang an bei Beginn der Aufführung. Gerichtsförmige Verfahren, bei de­ nen schon feststeht, wie entschieden werden wird, pflegt man „Schauprozesse“ zu nennen. Damit sind nicht die vielfältigen internationalen Tribunale gemeint, die in den letzten zwanzig Jahren eine neue Art von Gerichtsbarkeit eingeführt ha­ ben, der internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court oder ICC) in Den Haag in erster Linie. Der ICC ist durch einen internationalen Vertrag be­ gründet worden, andere Tribunale haben einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats als Legitimationsgrundlage (so der Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien: ICTY), wieder andere sind aus der Gelegenheit und Notwendigkeit heraus ent­ standen, so der Militärgerichtshof in Nürnberg 1945. Je mehr Gelegenheit in der

3. Inszenierungen

291

Entstehung zu beobachten ist, umso eher entsteht der juristisch-methodische Vor­ wurf, es handele sich um selbst eingesetzte und ernannte Gerichtsbarkeiten, die Gehorsam nicht einfordern dürften. Tatsächlich sind alle internationalen Gerichts­ höfe auf nationale Zulieferungen (auch schon der Angeklagten selbst) angewie­ sen. Was die Durchsetzung von Urteilen angeht, müssen nationale Polizeikräfte für die Vollstreckung von Haftstrafen mobilisiert werden. Das sind Elemente der Inszenierung, die eine im alten Sinne ordentliche Gerichtsbarkeit nicht braucht. Es handelt sich aber um Gerichtsbarkeit, weil und solange adversarische Prozess­ führung möglich ist. Trotz des gelegentlich zu hörenden Vorwurfs werden vor in­ ternationalen Gerichtshöfen keine Schauprozesse geführt, auch wenn zugeschaut werden sollte, wie der Angeklagte Milosevic sich verteidigt oder es unterlässt. Im­ merhin konnte er sich verteidigen, was in den eigentlichen Schauprozessen nicht mehr möglich ist. Diese Verfahren haben keine Entscheidung, die den Namen ver­ dient (Kap. VII. 5.), ihre Regisseure legen aber dennoch Wert darauf, ein Urteil am Ende stehen zu haben. Makaber wird die Inszenierung, wenn man von Anfang an weiß, dass es ein Todesurteil sein wird. Die stalinistischen und nazistischen Re­ gisseure des 20. Jahrhunderts haben bis zum heutigen Tage die Vorlagen für den Schauprozess geliefert und dem Begriff buchstäblich den gegenteiligen Inhalt ge­ geben. In den Jahren 1936 bis 1938 hat die damalige Sowjetführung in Moskau mit Wissen und Wollen von Stalin eine Reihe von Revolutionären angeklagt, die nach Stalins Meinung in Verbindung mit dem für die Sowjetunion nicht greif­ baren Leo Trotzki gestanden haben sollen.81 Drei solcher Verfahren waren öffent­ lich, es gab Aussagen von Angeklagten und Zeugen, für deren Unrichtigkeit sich die Prozessbeteiligten nicht interessierten. Die Aussagen waren durch Drohungen gegen Angehörige und Folter erzwungen worden. Gegen die meisten Angeklagten wurde die Todesstrafe verhängt. Berüchtigt wurden dann jene Prozesse, die nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 in Deutschland vor dem damaligen Volks­gerichtshof durchgeführt worden sind und sämtlich mit Todesurteilen ende­ ten. Totalitäre Schauprozesse sind Verfahren, auf die man nicht schauen kann und die in der Inszenierung eines Hinrichters wie Freisler schon in ihrer allgemeinen Darstellung so verwerflich wirken, dass niemand hinsieht.82 Das hindert nicht, die gerichtsförmige Inszenierung nach wie vor für politische Zwecke zu nutzen. Eine größere kritische Öffentlichkeit haben die sogenannte „Russell-Tribunale“ erreicht, die seit 1966 zur Lage in verschiedenen Ländern ver­ anstaltet worden sind. Das erste von dem Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell initiierte Tribunal richtete sich gegen amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam, das zweite Tribunal behandelte Menschenrechtsverletzungen in Latein­ amerika und Südafrika, das dritte Berufsverbote in der damaligen westdeutschen Bundesrepublik. Russell-Tribunale gibt es bis ins 21. Jahrhundert hinein, das letzte 2009 war der Wahrung der Menschenrechte im besetzten Palästina gewidmet. Re­ gelmäßig werden für diese Tribunale Fragen vorformuliert, die von Berichterstattern 81

Karl Schlögel, Terror und Traum, Moskau 1937, München 2008, 105–118. Ortner (Fn. II. 50), 223 f.

82

292

VIII. Das Theater des Gerichts

behandelt werden, die teilweise als Zeugen, zum anderen Teil als Sachverständige verstanden werden können. Eine Jury soll am Ende die Fragen bejahen oder vernei­ nen, regelmäßig werden sie bejaht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Beweis­ aufnahme oder Berichterstattung Kontroversen vermeidet und nicht solche Personen hört, die bekanntermaßen andere Auffassungen vertreten und über andere Um­ stände reden. Das Tribunal hat keine Durchsetzungsmacht, weder hinsichtlich der Zeugenladung noch gar wegen der Folgen aus Beschlüssen und Ergebnissen. Es versteht sich selbst als Gegenmacht zu insbesondere angloamerikanischer Politik und ist als solche auch von den sogenannten „westlichen“ Staatsorganen ganz un­ tersagt, im Tagungsort verlegt oder im Ergebnis verspottet worden. Als „ideolo­ gisch“ wird man alle bisher durchgeführten Russell-Tribunale bezeichnen müssen. Sie vermeiden, was zu einer agonal ernstzunehmenden gerichtlichen Darstellung gehört, nämlich Personen und Meinungen des Gegners darzustellen, und bevorzu­ gen eine parteiliche Sicht auf Sachverhalte, in der freilich durchaus Umstände auf­ tauchen, die zu denken geben. So war der Sache nach die Kritik an Berufsverboten in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre berechtigt, eine Abänderung ging aber nicht vom 3. Russell-Tribunal aus.83 Es gewann nur Publikum bei denjenigen, die sich für Einzelheiten in Verfahrensverläufen nicht interessieren und auf das große Ganze schauen, das sie zu kennen meinen. Das bleibt ein Problem auch der – wenn man so will – linken Schauprozesse. Auch sie schrecken das Publikum eher ab, als es für unbekannte Inhalte zu gewinnen. Damit rückt die letzte große Variable der theatralen Dimension in den Vorder­ grund, jener Faktor, der eigentlich für Juristen ohne Bedeutung wäre, wenn das Gericht nicht doch auch Theater wäre. 4. Das Publikum Zuschauen sei die Bedingung der Möglichkeit zu urteilen, kategorisiert Cornelia Vismann die Installierung von Zuschauern auf, vor oder hinter der gerichtlichen Bühne.84 Die juristisch anerkannte Formel dafür heißt „Öffentlichkeit“. Verhand­ lungen sind regelmäßig öffentlich, und Entscheidungen gehen nicht nur die unmit­ telbar als Partei Betroffenen an, sondern tendenziell alle. Sie sollen Beobachter des Rechtsbetriebs sein und darauf achten, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Mit dem Zuschauen werde Kontrolle durch die Öffentlichkeit geübt – lautet eine geläu­ fige Rechtfertigung für die gelegentlich kostspielige Ausgestaltung eines Verfahrens für das Publikum. Auch wenn man damit einen Teil der Geschichte des modernen Gerichts und der heutigen Entscheidung erklären kann, so sind beide Handlungen – Zuschauen und Urteilen/Entscheiden – doch professionell getrennt. Der Zuschauer entscheidet jedenfalls heute nichts mehr. Die Befugnis zu entscheiden ist auf pro­ 83 3. Internationales Russell-Tribunal. Zur Situation der Menschenrechte in der Bundes­ republik Deutschland, hrsg. v. Deutschen Beirat und Sekretariat, Berlin 1978. 84 Vismann (Fn. I. 13), 80 f.

4. Das Publikum

293

fessionelle Richter, allenfalls auf Laienrichter übergegangen. Zwar kann man sa­ gen, dass Richter, die entscheiden, auf den wesentlichen Teil des Stoffs auch schauen müssen, ihm zuschauen, wenn er auf der Bühne des Gerichts ausgebreitet wird. So jedenfalls wird das Gebot der Darstellung in Hauptverhandlungen verstanden, in denen Laienrichter, die die Akten nicht kennen, sitzen und (mit-)entscheiden. Den­ noch sind Laienrichter Richter und keine Zuschauer, damit selbst Aufführende auf der Gerichtsbühne, auch dann, wenn sie nichts weiter als sich selbst aufführen, also präsent sind, ohne Fragen zu stellen oder sich sonst bemerkbar zu machen. Zuschauer sind heutzutage diejenigen, die kommen und gehen können, wann sie wollen, die sich mit der Sache beschäftigen oder es sein lassen können und sich eine private Meinung bilden, auf das Verfahren selbst aber keinen Einfluss haben. Dabei muss das Publikum nicht anwesend sein, jedenfalls nicht im Ge­ richtssaal. Real anwesende Zuschauer in Gerichtssälen gibt es, aber sie sind sel­ ten. Wenn sie nicht mit einem speziellen Auftrag gekommen sind, dann suchen sie im Saal oft nicht viel mehr als eine Heimstatt, in der man sich vom Leben drau­ ßen erholen kann – meist warm und meist ruhig. „Gerichtssaalkiebitze“ heißen sie in Österreich. Trotzdem gibt es Publikum. Heute ist das die nicht anwesende Öf­ fentlichkeit, die durch das, was man zusammenfassend „Medien“ nennt, unterhal­ ten wird, meist über Reporter für Zeitungen, manchmal über Berichterstatter des Rundfunks oder Fernsehens. Prozesse mit öffentlichem Interesse gibt es dann, wenn Massenmedien das Interesse auf ein Verfahren lenken. Genau das fürchten die Angehörigen der Justiz meist, oder sie finden diese Art von Interesse mindes­ tens lästig. Es richtet sich oft auf das, was im Verfahren keine Rolle spielt, nicht zur Entscheidung steht und vor allem nicht einfach zu sehen ist. Man muss es sich nur vorstellen können, aber dafür muss man nicht zuschauen. Zeichen des Ange­ klagten wie jene beiden ausgestreckten Finger eines Vorstandsvorsitzenden im Mannesmann-­Strafverfahren sieht man nur dann, wenn Bildberichterstatter foto­ grafieren, präsenten Zuschauern entgehen sie unter Umständen. Wegen der medialen Vermittlung besteht das Publikum heutzutage kaum aus realen Zuschauern, sondern aus Lesern und Hörern mit virtuellem Wirklichkeits­ bezug. Das Publikum ist eine symbolische Kategorie, in der allerdings viele Mo­ mente der Erstheit, also des Eindrucks, des Gefühls, der noch nicht versprach­ lichten Empfindungen eine Rolle spielen. Im Peirceschen Sinne sammelt das Publikumsinteresse degenerierte Drittheit, Vermittlung auf wenig vermitteltem Niveau. Was heißt das für das Theater des Gerichts? Erstaunlich kann man finden, dass das Gericht trotz langweiliger Darbietungen überhaupt ein Publikum hat. Wenn man gerichtliche Darstellungen aus der Nähe sieht, benötigen sie buchstäblich eine lange Weile, und Sachen, die schnell erledigt werden, zielen in ihrem möglichen Problem- wie Unterhaltungsgehalt am Publi­ kum sowieso vorbei. Verfahren, die eine lange Weile dauern, produzieren Lange­ weile, allerdings nicht unbedingt beim Publikum. Langeweile entsteht erst, wenn man einem Ereignis oder einer Abfolge von Ereignissen eine besondere Bedeutung

294

VIII. Das Theater des Gerichts

beimisst. Dann kann und muss man warten, bis sich entweder ereignet, was man erwartet, oder sogar etwas anderes Überraschendes passiert. In der Zwischenzeit stellt sich nicht selten Langeweile ein. Diese Einstellung setzt fachliche Kenntnis der Verfahrensabläufe voraus. Wenn alles neu ist oder man gar nicht weiß, worum es eigentlich geht, dann erscheint auch alles bedeutsam. In diesem Sinne sind für das unbeteiligte Publikum Verfahrensabläufe neu und zunächst einmal ohne Sinn, vielmehr eine Aufforderung zur Sinnsuche, die gerne angenommen wird, wenn man sich überhaupt auf die entsprechende Sorte von Texten und Abläufen einlässt. Hinzu kommt etwas Weiteres. Das Medienpublikum bleibt systematisch aus­ geschlossen. Es soll an den aktuellen Abläufen nicht teilnehmen dürfen, weil es Verfahrensordnungen wie § 169 Abs. 2 GVG so vorsehen oder die professionel­ len Darsteller den Verfahrensanforderungen eine Deutung geben, die das Zu­sehen ausschließt. Das beliebteste Argument in diesem Zusammenhang geht dahin, dass Bild- und Tonaufnahmen das Verhalten der Laiendarsteller, also der Angeklag­ ten und Zeugen, veränderten und die Wahrheit der Feststellungen beeinträchtig­ ten.85 Solche Annahmen sind unwiderlegbar, weil es Versuchsanordnungen für ihre Überprüfung nicht gibt und auch gar nicht geben soll. Juristen agieren als Darsteller lieber ohne Publikum. In aller Regel sind sie sich ihrer Wirkung kei­ neswegs sicher und betonen auch gern, auf solche Wirkungen solle und dürfe es nicht ankommen. Sie würden durch mediales Publikumsinteresse verändert. Was man dabei erfahren kann, hat Rüdiger Lautmann schon vor über 40 Jahren in den Titel von der Justiz als „stiller Gewalt“ aufgenommen. Die Stille – diagnostizierte Lautmann – „leitet sich her vom Zustandekommen ihrer Akte, also von den Pro­ zessen, die bei Gericht ablaufen. Wenige Beteiligte in abgezirkelten Rollen un­ terbreiten hier ein Problem, das von den Richtern als Experten einer esoterischen Wissenschaft gelöst wird. Die Problemlösung  – das Urteil  – ist nur beschränkt kritisierbar, baldige Ruhe ein allseits erklärtes Ziel.“86 Öffentliches Publikums­ interesse unterläuft dieses Ziel. Das merkt man schon, wenn die wirklichen Pro­ zessbeobachter so zahlreich werden, dass sie auf den vorgesehenen Zuschauerbän­ ken keinen Platz mehr haben, ihre Ansprüche auf einen solchen Platz aber geltend machen und das Gericht darüber entscheiden muss.87 Auch die Öffentlichkeit der Verhandlung entspricht durchaus nicht dem historisch gewachsenen juristischen Selbstverständnis, sondern ist ihm politisch aufgepfropft worden. Insofern wird zwar heute  – ohne zu murren  – Öffentlichkeit akzeptiert, solche Öffentlichkeit aber nur im Stil des 19. Jahrhunderts ertragen in Form des „Gerichtssaalkiebit­ zes“, also als physische Teilnahme. Schon Videoübertragungen in einen anderen Saal, bestimmten Zuschauern vorbehalten, werden verboten.88 Man darf warten, wie lange es dauert, bis sich das ändert, aber es wird sich ändern. 85

Danziger (Fn. I. 108). Lautmann (Fn. VII. 31), 13. 87 Bundesverfassungsgericht 1 BvR 990/2013, Beschluss v. 12.4.2013 im sogenannten „NSUProzess“. 88 Bundesverfassungsgericht 1 BvQ 13/13, Beschluss v. 1.5.2013, ebenfalls im „NSU-Prozess“. 86

4. Das Publikum

295

Das Gericht verändert sich nicht, eigentlich. Eigentlich und für sich genommen prozediert es meistens wie gewohnt und wie immer – es sei denn, man ist Bundes­ verfassungsgericht. Aber im Routinebetrieb können ein einzelner Dezernent oder ein Richterkollegium davon ausgehen, dass sich die Medienberichterstattung für ihre Sache nicht interessiert. Dabei sind Irrtümer leicht möglich. Sie entstehen, weil gerichtliche Erstheit nicht dem allgemeinen Empfinden entspricht. So se­ hen Richter nicht, dass gewisse Vortragsweisen einer Partei darauf abzielen, wenn nicht das Gericht, dann wenigstens das Publikum und die Öffentlichkeit zur Ur­ teilsschelte zu gewinnen. Mängel einer Pauschalreise, die zur Minderung des Prei­ ses berechtigen, können in allem gefunden werden. Manche fühlen sich durch den Lärm von Kindern, andere angeblich sogar durch Anblick und Erscheinen behin­ derter Menschen belästigt. Als das Landgericht Frankfurt a. M. sich einst zu der Annahme hinreißen ließ, die Anwesenheit einer Urlaubsgruppe von Behinderten könne bei manchen Menschen eine Urlaubsbeeinträchtigung darstellen,89 brach ein Sturm der öffentlichen Entrüstung aus. Aus justizförmiger Sicht pflegt man solche Reaktionen als „Urteilsschelte“ zu bezeichnen. Urteilsschelte ist heute eine Reaktion des Publikums. Sie hat nichts mehr mit der rechtshistorisch überliefer­ ten Urteilsschelte zu tun, die ein Recht anderer berufener Urteiler war, einen Ent­ scheidungsvorschlag zurückzuweisen, indem man einen anderen machte oder zum Zweikampf herausforderte.90 Urteilsschelte wird heutzutage von mächtigen Stim­ men im Publikum geübt, die ohne juristische Kompetenz vor allem das Ergebnis einer Entscheidung angreifen. Es geht also nicht um die Reaktion der unmittelbar betroffenen Partei, gar der unterliegenden Partei, von der man kaum jemals erwarten kann, dass sie mit dem sie zurückweisenden Urteil einverstanden sein wird. Es geht um öffentliche Stel­ lungnahmen meist von Politikern, dann auch und vorzugsweise von Ministern und Machthabern gegen einzelne Gerichtsentscheidungen, seien sie auch von obers­ ten Gerichten getroffen. Das (damals bereits im zweiten Durchgang zweitinstanz­ liche)  Urteil des Landgerichts Frankfurt a. M. v. 20.10.1989 zu der als Beleidi­ gung gewerteten Äußerung, Soldaten seien „potentielle Mörder“ war Gegenstand auch ministerieller Kommentare und hat zu einer Anfrage von Abgeordneten des deutschen Bundestages geführt, deren erste Frage lautete: „Sieht sich die Bundes­ regierung nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsbegründung des Landgerichts­ Frankfurt im sogenannten Soldatenurteil in der Lage, von der voreiligen Urteils­ schelte abzurücken, die sie in Unkenntnis dieser Begründung in vielfältiger Form abgegeben hatte?“91 Die Bundesregierung beeilte sich in ihrer Antwort, die Un­ terstellung zurückzuweisen, bei ihren Stellungnahmen handele es sich um so et­ was wie Urteilsschelte, bekräftigte aber deren Inhalt. Das Prädikat wird von den Äußernden selbst nicht geschätzt, aber jedes Gericht hat sich in den letzten ­fünfzig 89

LG Frankfurt a. M., NJW 1980, 1169. Nachzulesen im Sachsenspiegel, Erstes Buch, XVIII Satz 3. 91 Deutscher Bundestag, 11.  Wahlperiode, Drucksache 11/6889 bzw. 7068 (Antwort der Bundesregierung) v. 8.5.1990. 90

296

VIII. Das Theater des Gerichts

Jahren daran gewöhnen müssen, dass seine Verfahrensweise, vor allem aber seine Entscheidungen harsche, öffentliche Kritik erfahren. Das ist eine Reaktions­weise des Publikums, vielleicht die einzige wirklich berichtenswerte, denn die Zustim­ mungen bleiben leise, unauffällig und selbstverständlich. Die harsche öffentliche Kritik, geübt von Abgeordneten, Ministern oder Machthabern, darf allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die Diskursgewichte hier so ungleich ver­ teilt sind wie im Gerichtssaal selbst. Gilt dort die Macht des Vorsitzenden, so herrscht hier die Autorität des Ministers, der gegenüber der Gerichtsvorsitzende machtlos ist, nicht einmal etwas entgegnen kann, darf oder soll. Wenn das Publi­ kum Macht ergreift, dann bleibt es mächtig und schürt die Erstheit der Zeichen. Im Fall des Frankfurter Soldatenurteils hat der Vorsitzende erst einmal Personen­ schutz in Anspruch nehmen müssen, um unverletzt zu bleiben. Hier sollen nicht die Probleme des Falls und der Auslegung von Äußerungen vertieft werden. Es gilt, die Macht des Publikums zu sehen, das sich gegenüber Gerichtsentscheidungen oft selbst als machtlos versteht. Seine Macht ist freilich auf wenige Einzelfälle beschränkt, die zur öffentlichen Skandalisierung taugen. Die Parteinahme für Behinderte, das Selbstverständnis der Soldaten und andere Zweitheiten können die Macht eines nichtjuristischen Publikums begründen. Die­ ser Macht ist diskursiv nicht mehr beizukommen, weil sie von Erstheit flankiert wird, von direkten oder indirekten Drohungen, persönlichen Sentiments und Ein­ flüssen, die sich – wie im Übrigen das Schicksal der Bundestagsanfrage zeigt – diskursiv nicht ändern lassen. In symbolischer Perspektive können bewusst her­ beigeführte Publikumsreaktionen nicht nur ein Problem sein, sie werden gegen das Verfahren insgesamt in Stellung gebracht und gefährden es. Diskutiert wird das in Fällen, in denen Strafverfolgungsorgane, Medien oder Private sich an die Öffentlichkeit wenden, „um die Prangerwirkung des Strafverfahrens zu verfah­ rensfremden Zwecken zu instrumentalisieren“.92 Als verfahrensfremd bewerten Juristen dabei allein schon den Umstand, dass sich kein Publikum lange mit Ver­ dachtslagen zufrieden gibt, sondern entweder einen Verdacht für ganz unberech­ tigt hält – was eher selten vorkommt – oder ihn als gewiss und nicht nur als mehr oder weniger wahrscheinlich ansieht. Publikumsreaktionen repräsentieren indi­ zielle Zweitheit; wer zusieht, entscheidet für sich sofort in der einen oder anderen Richtung und mutet sich die Verzögerungswirkungen des Verfahrens nicht zu. In der Tat kann das zu einer Prangerwirkung führen. Durch juristische Appelle kann man einer solchen Wirkung aber nicht wirksam begegnen. Aber in dieser Form sind das extreme und unwahrscheinliche Reaktionen. Das Publikum besteht normalerweise aus Juristen, die genügend professionelle Distanz zum Fall haben, solange sie juristisch agieren und nicht auch ins Publikum wech­ seln (was vorkommt). Jedenfalls kann man aus der Furcht vor der Öffentlichkeit entnehmen, dass sich der Öffentlichkeitsbegriff wandelt, wenn man von der Saal­ 92

Frank Saliger, Aushöhlung der Unschuldsvermutung durch gezielte Öffentlichkeit? KritV 96 (2013), 173–187 (187).

4. Das Publikum

297

öffentlichkeit in die Medienöffentlichkeit wechselt. Das Publikum genießt Wert­ schätzung nur, solange man es nicht wahrnimmt. Dann hält man es für einen Ga­ ranten der Rechtsstaatlichkeit. Real anwesende Zuschauer werden mitleidig als Gerichtssaalkiebitze belächelt oder großzügig übersehen, virtuell zusehende Zei­ tungsleser und Fernsehzuschauer gelten schnell als lästige bis gefährliche Ein­ mischung. Deshalb muss betont werden, dass der letzte Grund der Rechtsgeltung aus dem Publikum selbst kommt, und nicht von den agierenden Juristen gemacht wird. Es ist das Publikum, das über Meinungsbildungen entscheidet. Die „herr­ schende Meinung“ stammt der Sache nach aus einer besonderen Art von juristi­ schem Publikum, sie ist die Meinung derjenigen, die am Fall nicht beteiligt sind und sich zu ähnlichen Fällen fachkundig geäußert haben.93 Ob und inwieweit mit dem allseits zitierte Kürzel „h. M.“ wirklich die Stimme des Publikums gemeint ist oder es sich darin spiegelt, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Die For­ mel dient in erster Linie der Zurückweisung von Argumenten und der Beendigung einer Argumentation.94 Dabei herrscht als Meinung, was – wie ein Justizkalauer besagt  – von den Herrschenden gemeint wird. Jedenfalls kann sich ein Gericht nicht nur mit den Verfahrensbeteiligten und aktuellen Darstellern begnügen. Es soll mehr als ein Advokat leisten, und auch wenn es sich an den jeweiligen Anwalt wendet, muss es dabei berücksichtigen, dass das Verfahren zwei Seiten hat. Der Antragsteller hat einen Gegner. Wer den einen leicht damit überzeugt, dass er ihm Recht gibt, missfällt in gleichem Maße der anderen Seite. Im Kopf der agierenden Gerichtsjuristen erscheint deshalb normalerweise die jeweils nächste Instanz als verallgemeinertes Publikum. Da man eine Instanz als Institution nicht fragen und selbst aus der späteren Reaktion eine Bedeutung nur ungenügend ablesen kann, erscheint auch der nächst zuständige Jurist im Instanzenzug als verallgemeiner­ tes Publikum. Diese Ebene müssen schließlich auch alle Anwälte berücksichtigen. Wenn sie nicht schon hier und jetzt Erfolg haben, dann könnte sich morgen oder übermorgen das Rechtsmittel im Instanzenzug als erfolgreich erweisen, und weil auch der Richter so denkt, agieren alle so eingestellten Juristen auf einer virtuellpraktischen, einer verallgemeinert quasi-theoretischen Ebene.95 Deshalb ist am Ende noch eine letzte rhetorisch-philosophische Variante des Publikums zu bedenken. Das sind weder agierende Juristen noch empörte Minis­ ter, auch wenn sie alle mit zum Publikum gehören. Mit Perelman kann man das aktuelle Publikum verallgemeinern und den Kreis der konkret Anwesenden er­ weitern, verändern und verschönern. Zum Publikum werden dann die Besonne­ nen unter den Scharfsinnigen gerechnet und diejenigen, die nicht nur viel, sondern vor allem das Notwendige richtig verstehen. Die Gerichtsrede kennt drei bis vier Arten des besonderen Publikums, an die sie in unterschiedlicher Weise adressiert ist: die Richter des konkreten Gerichts, die anwesende Öffentlichkeit, das nicht anwesende, aber beobachtende Fachpublikum und – wie bereits vorgestellt – die 93

Wesel, Fast alles, was Recht ist (Fn. VII. 43), 28 f. Müller/Christensen, Juristische Methodik (Fn. IV. 76), Rdz. 413. 95 Gast (Fn. VI. 12), Rdz. 443. 94

298

VIII. Das Theater des Gerichts

Medienöffentlichkeit. Natürlich adressiert ein Anwalt seine Rede in erster Linie an das Gericht und zielt dabei selten auf universale Interessen ab. Die partikulare präsente Macht gilt es zu überzeugen, und wer hier Erfolg hat, darf diesen Erfolg zu Recht gegen das abwesende Publikum verteidigen. Aber mit einer Universa­ lisierung muss gerechnet werden. Das Auditorium nach Perelmans Verständnis muss sich vor der geschichtsphilosophischen Bühne sehen lassen können.96 Es ist würdig. Zu ihm gehören keineswegs nur oder in erster Linie die Juristen der herr­ schenden Meinung. Eine solche Verengung auf die Klasse der Rechtsinterpreten scheidet schon deshalb aus, weil der rhetorisch-argumentative Prozess der Mei­ nungsbildung sich nicht auf die juristischen Zuhörer beschränkt. Auf dem Feld der Argumentation haben alle einen Platz,97 und die juristische Argumentation wird auf offener Bühne dargestellt. Sie ist nicht fachspezifisch selektiv auf professionell vorbereitete Sprecher und Hörer zu beschränken. Perelman und Olbrechts-­Tyteca lassen jeden einzelnen Zuhörer zum Mitglied eines universalen Auditoriums werden. Das auditoire universel beseitigt den Unterschied zwischen juristisch-­ fachlichen, literarischen, massenkommunikativen oder politischen Gesichtspunk­ ten. Die Auditorien mögen wechseln und die Anwendungsfälle sich je spezifisch verengen – gleichwohl: Vor dem Horizont des Gerichts soll doch nur bestehen, was sich in der allgemeinen Argumentation noch darstellen lässt.98 Das liegt nicht zu­ letzt daran, dass ein Publikum für Gerichtsurteile nicht begrenzt werden kann. Es reicht je nach Interesse immer über die unmittelbar Beteiligten hinaus. Das univer­ sale Auditorium erweitert insofern nur die gängige kommunikative Orientierung zwischen Sprecher und Hörer von zwei auf mindestens drei Beteiligte, die Rede ist nicht mehr nur an konkrete Zuhörer adressiert, sondern sie hat es mit einem wei­ ten Publikum zu tun, dessen allgemeine moralische Auffassungen und Einstellun­ gen die Rechtsprechenden berücksichtigen müssen. Das Rechtsverfahren zwingt seit der Inthronisierung einer pflichtgemäßen Öf­ fentlichkeit auch zur grundsätzlichen Verständlichkeit. Niemand kann sich vor der gerichtlichen Bühne auf seine fachlichen Orientierungen und die Traditionen ein­ geübter Rede zurückziehen. Der forensische Darsteller muss wissen, dass seine Rede unterschiedlichen Auditorien gilt und regelmäßig über die jeweils gerade Anwesenden hinausgeht. Er stellt auch für ein nicht real anwesendes Publikum dar. Seine Reden haben vielleicht direkten Erfolg und bewirken – wenn sie denn überhaupt wirken – in der Justiz Zweitheit (der Haftbefehl wird unter Auflagen außer Vollzug gesetzt). Darüber hinaus haben sie immer auch eine Fernwirkung, rufen Interpretanten auf und werden von nicht Anwesenden gehört, gelesen oder – wie man juristisch gerne sagt – „überprüft“. Das stellt jeden unmittelbaren Erfolg unter Unsicherheitsbedingungen. Juristen sollten das wissen.

96

Chaïm Perelman/Lucie Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhéto­ rique, 2. Aufl, Bruxelles 1970, 40. 97 Chaïm Perelman, Das Reich der Rhetorik (1977), München 1977, 23 98 Kopperschmidt (Fn. I. 128), 21.

IX. Die Norm Der Normbegriff gehört zu den grundlegenden Kategorien der Rechtslehre. So­ weit die allgemeine Rechtslehre eine Strukturtheorie enthält, beginnt sie mit dem Normbegriff. Allgemein üblich ist es, für Normen den Bereich des Sollens zu re­ klamieren, wobei nur klar wird, dass dieses Sollen von einem anderen, gewöhn­ lich „Sein“ genannten Bereich abgegrenzt werden soll. Die Unterscheidung ist unglücklich, weil zumindest die Erstheit der Norm natürlich eine Existenz und damit ein Sein hat. Man will aber sagen, das Sollen erhalte aufrecht, was man je­ denfalls nicht immer oder gerade im Moment nicht sieht. Die Norm beschreibt ein Handeln, das gerade nicht anzutreffen ist, und sieht deshalb eine Sanktion für das Andershandeln vor. In der Geschichte des Rechts war es Gott, der einen Katalog oder Dekalog verbindlicher Normen offenbarte. Der Dekalog ist ein Index, der durch die Art seiner Verkündung am Berge Sinai zum Symbol geworden ist. An­ deres ist unmöglich oder soll wenigstens unmöglich sein. Das weltlich gewordene Recht braucht eine andere Semiotik der Begründung. Die Verkündung eines Ge­ setzes in der noch nicht so alten Moderne erfolgt im Gesetzblatt, und dieser pro­ saische Index fordert zum Widerspruch geradezu heraus. Es könnte auch etwas anderes im Gesetzblatt stehen. Für das weltliche Recht werden im Folgenden drei Merkmale seiner indexikalischen Begründung vorgestellt: der Befehl des Geset­ zes als Kernbegriff der Imperativentheorie, die Anerkennung durch alle Betroffe­ nen als zentrales Element der Diskurstheorie und schließlich die Umstellung der Normenbegründung von den Normverletzern auf Dritte, die die Normenbefolgung beobachten (1.). Alle drei Merkmale geben Auskunft über die Zweitheit der Norm, auch wenn sie symbolisch für sich genommen nicht auszureichen scheinen. Die Strukturierung des Norminhalts erfolgt mithilfe des Schemas von Tatbestand und Rechtsfolge im objektiven Tatbestand (2.) und der Doppelcodierung durch Zurech­ nung und Zuschreibung für die subjektive Seite (3.). Die Differenzierungen werden schließlich in Generalklauseln (4.) wieder eingeholt und aufgehoben. 1. Normbegriff und Normenbegründungen John Austin hat die allgemeine Rechtslehre als Imperativentheorie mit dem Lehr­ satz begründet, gesetzliche Normen seien Befehle und soweit sie das nicht seien, handele es sich nur um uneigentliches Recht (improper law).1 Noch 1960 bezeich­ nete Larenz die „Imperativentheorie“ als „heute in Deutschland vorherrschend“.2 1

Austin (Fn. I. 2), 1. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin u. a. 1960, 152.

2

300

IX. Die Norm

Die Imperativentheorie prägt die angloamerikanische Rechtslehre bis heute, und sie entspricht einem geläufigen allgemeinen Verständnis, wonach das Recht einem „Rechtsunterworfenen“ befehle, etwas zu tun, und es „der Gesetzgeber“ sei, der einen solchen Normbefehl erteile. Auf diese Weise verbindet sich die imperativi­ sche Normenbegründung mit dem Positivismus des einmal gegebenen Gesetzes. Was der Gesetzgeber beschlossen hat, hätte auch anders beschlossen werden kön­ nen, soll aber so gelten, wie es eben beschlossen worden ist. Dahinter steht zwei­ fellos der Befehl des einstigen Königs und Kaisers und damit einer Person, die ihre Autorität von einem Gott herzuleiten pflegte. Aber auch die Demokratisierung des Herrschaftsgedankens hat dem Befehlskonzept keinen Abbruch getan, nur die sym­ bolischen Schwierigkeiten sind erhöht. Man kann auf den Gedanken kommen, es befehle „das Volk“, vertreten durch Organe, die wiederum von Personen repräsen­ tiert werden, auch wenn bei so vielen, teilweise ungreifbaren Beteiligten der Be­ fehl so zwischen den Zuständigkeiten und Organen verteilt ist, dass ihn eigentlich niemand mehr gibt, jedenfalls kein ansprechbarer Jemand. Neben Imperativ und positiv-rechtlicher Regelung tritt damit noch ein drittes Problem, das der Geltung. Weil das gegebene Gesetz kontingent ist, also auch anders hätte beschlossen wer­ den können und nur wegen des gegebenen Beschlusses befolgt werden soll, stellt sich die Frage, ob es allein wegen dieses Beschlusses auch gelte, und wenn man das bejaht, mit welchem Inhalt.3 Denn unter semiotischen Gesichtspunkten kann die Norm nicht ohne Weiteres mit dem beschlossenen oder verkündeten Normtext identifiziert werden. Wäre das so, würden Juristen nicht benötigt, und das Justizdis­ positiv wäre ohne praktische Funktion. Derart inhaltlich arbeitet die Imperativen­ theorie aber nicht, und insofern verfährt man auf ihrer Grundlage wie die meisten Juristen und Laien, die glauben, „das Grundgesetz“ oder einfach „das Gesetz“ er­ laube oder verbiete dieses und jenes. Der Kern jeder Normbefehlsvorstellung liegt in der ebenfalls normativen Vorstellung, was beschlossen und gesetzt ist, möge eben deshalb gelten. So wird der Vorrang für das geltende Recht und gegen konkurrie­ rende Deutungen begründet. Man hat eine Wahl gehabt, kann sie aber jetzt nicht mehr nutzen, weil inzwischen ein anderer Gesetzesbefehl ergangen ist. Er steht für das positive Gesetz. Die Differenz de lege lata/de lege ferenda folgt aus dieser Gesetzesvorstellung. Wer sich im gegebenen Gesetz nicht wiederfindet, mag für das Machen oder den Erlass eines neuen Gesetzes streiten, aber bis dahin warten. Gesetzesimperativ, Normenpositivismus und Inhaltsgläubigkeit sind Merkmale eines juristischen Ha­ bitus wie auch eines juristentypischen Problems, das entsteht, wenn das Gesetz von außen kommt und semiotische Zweitheit repräsentiert, aber als symbolische Drittheit die Grundlage für ikonische Handlungsprozesse bilden soll. Positivis­ mus und den Abschied von Letztbegründungen wie von Spekulationen hat Funke als Strukturmerkmale der allgemeinen Rechtslehre bezeichnet,4 die durch ­Autoren 3

Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. I. 52), 178. Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie. Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung der Rechtstheorie um 1900, Tübingen 2004, 20–23. 4

1. Normbegriff und Normenbegründungen

301

wie Merkl, Bierling und Somló am Begriff der Norm gearbeitet hat. Wer Recht als Zwang begreift, braucht keine Letztbegründung, muss nicht spekulieren und darf sich an das verkündete Gesetz halten. In diesem Verständnis nimmt das Ge­ setz die Form eines Indexes an, der scheinbar keine Alternative zulässt. Juristen – auch wenn sie nicht selten für die Herstellung von Zweideutigkeiten bestellt wer­ den – lieben durchaus die Vorstellung eines klaren und eindeutigen Gesetzes, von dem ein unleugbarer Befehl ausgeht. Dass darin ein wirkliches Problem liegt, er­ fährt die Umwelt jedenfalls dann, wenn die jeweiligen Machthaber handgreiflich imperativische Durchsetzung bevorzugen. Juristischer Widerstand gegen einen wirklichen oder auch nur gedachten Führerbefehl blieb aus. Dementsprechend endet Funkes Untersuchung der Rechtslehren im Jahre 1933. Es folgten „Wende-­ Experten“, wie Bernd Rüthers die juristischen Berufsvertreter nennt, die ideolo­ gische Befehle zur Rechtsnorm machten.5 Der imperativische Charakter von Rechtsnormen wird modern umgeben, er­ gänzt oder abgemildert durch rechtliche Beschreibungen, die das Vorschreiben erst ermöglichen sollen, wie Kelsen das über den Unterschied von Natur- und Rechtsge­ setz ausgeführt hat.6 Gustav Radbruch hebt in seiner Rechtsphilosophie die Verbin­ dung zwischen Recht und moralischer Geltung hervor, wobei der „rechtliche Im­ perativ“ nicht nur eine Anweisung enthalte, sondern als Norm zum „Maßstab“ für ein Verhalten werde. Unabhängig davon werden Rechtsnormen dabei als Befehle, Gebote und Verbote gegen den einzelnen Bürger oder gegenüber staatlichen Or­ ganen verstanden.7 Die Befehlsform muss dabei nicht bereits an der sprachlichen Oberfläche zu erkennen sein.8 Bernard Jackson rekonstruiert anhand von Bent­ hams Verständnis der Rechtsnorm sieben Stufen der sprachlichen Umformulie­ rung, die mit der königlichen Entschließung beginnen: Es beliebt mir anzuordnen, dass Sie Getreide nicht ausführen mögen („It is my pleasure that you do not export any corn“), und mit dem Rechtssatz enden: Es ist jedermann verboten, Getreide auszuführen („It is not permitted to any man to export corn“).9 Auch Normen der Art: Du sollst nicht töten, oder: Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen, kann man als Imperative verstehen, weil sie in juristischer Sicht Ansprüche enthalten und Verbote setzen. Der kontingente positive Normbe­ fehl steht jedenfalls für einen Typ des Rechts auch dann noch, wenn dessen Begrün­ dung nicht mehr imperativisch ist. Das soll an einem, vielleicht dem gegenwärtig wesentlichen Werk der allgemeinen Rechtslehre erläutert werden. Hans Kelsen hat als ihr wichtigster Erneuerer im 20. Jahrhundert auf positivis­ tischer, im Kern imperativischer Grundlage eine analytische und im Titel „rein“ 5 Bernd Rüthers, Die Wende-Experten. Zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe am Bei­ spiel der Juristen, 2. Aufl., München 1995, 162–187. 6 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, 83. 7 Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 1994, § 2 Rdnr. 41. 8 Pavel Holländer, Abriss einer Rechtsphilosophie. Strukturelle Überlegungen, Berlin 2003, 30. 9 Jackson (Fn. I. 3), 39 f.

302

IX. Die Norm

genannte allgemeine Rechtslehre begründet. Kelsen distanziert sich zwar von je­ der direkten Befehlsform, betont aber, dass das Recht nicht in erklärenden, erläu­ ternden und wissenschaftlich gemeinten Aussagen zu finden sei, sondern in SollSätzen. Deren Problem besteht nur darin, dass am Grunde des Rechts kein Inhalt zu finden ist, also auch kein Gebot oder Verbot der Art: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), geschweige denn ein zweites, neuntes oder fünftes Gebot – obwohl deren Kernsätze für die Normen­ vorstellung bis heute eine wichtige Rolle spielen. Jedes gesetzliche Gebot ist im Sinne Kelsens ein Rechtssatz und kann nicht als Grundnorm gelten, wobei ­Kelsen einen kategorialen Unterschied zwischen Rechtssatz und Norm macht. Normen sind Handlungsdispositionen, „Gebote und als solche Befehle, Imperative; aber nicht nur Gebote, sondern auch Erlaubnisse, und Ermächtigungen; jedenfalls aber nicht – wie mitunter, Recht mit Rechtswissenschaft identifizierend, behauptet wird – Belehrungen.“10 Rechtssätze hingegen sind Aussagen, die wahr oder falsch sein können und abänderbar sind, wobei das etwa im Falle von Art. 14 GG einge­ schränkt worden ist (Art. 79 Abs. 3 GG) unter Beziehung auf eine angenommene Grundnorm. Zur Grundnorm und damit als nicht abänderbar erklärt Kelsen einen grundlegenden und nur unzureichend formulierbaren Satz: „Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historisch erste Staatsverfassung und die ihr gemäß gesetzten Normen statuieren (In verkürzter Form: Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt.)“11 Mit der Frage nach der Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht befindet man sich also schon in einer verfassungshistorischen Problemzone, die mit der Virginia ­Declaration of Rights von 1776 und der 1789, also nur wenige Jahre später beschlossenen­ Déclaration des droits de l’homme et du citoyen zu bestreiten wäre und in der Tat im abschließenden Art. XVII der Déclaration eine zumindest das Eigentum er­ wähnende Bestimmung vorsieht. So gesehen erklärt Art. 79 Abs. 3 GG nur, was vielleicht als Inhalt einer Grundnorm verstanden werden kann, und so versteht die gegenwärtige Rechtslehre den Sinn dieser Verfassungsvorschrift. Insofern gibt es für Rechtsbefehle Grenzen, aber es bleibt dabei, dass die Rechtsordnung im Grunde und von ihrem Anfang her als unbeschränkte Befehlsordnung zu verste­ hen ist. Der Rechtsbefehl stellt eine „Ordnung menschlichen Verhaltens“ her, wo­ bei die „Ordnung“ im wissenschaftlichen Sinne erst dadurch hergestellt wird, dass ein System von Normen erkannt werde, „deren Einheit dadurch konstituiert wird, daß sie alle denselben Geltungsgrund haben“.12 Mit Kelsens Konzeption der „Grundnorm“, die allen anderen Rechtsnormen ih­ ren Rechtscharakter verleiht, beginnt eine heftige Auseinandersetzung über den Inhalt des Rechts. Denn Kelsen hat die Wissenschaftlichkeit der Rechtslehre da­ durch begründet, dass er Fragen nach dem Inhalt einzelner Normen im Allge­ meinen und der Grundnorm im Besonderen ausgespart und dem Gesetzgeber 10

Kelsen (Fn. IX. 6), 73. Kelsen (Fn. IX. 6), 203 f. 12 Kelsen (Fn. IX. 6), 32. 11

1. Normbegriff und Normenbegründungen

303

überlassen hat. Das gab ihm die Möglichkeit, eine Rechtslehre allgemein und nicht etwa öffentlich- oder zivilrechtlich oder für spezielle Rechtsordnungen zu verfas­ sen. Das Recht bleibt nach Kelsens Auffassung immer eine Zwangsordnung in dem Sinne, dass sie auf bestimmte, für unerwünscht angesehene menschliche Ver­ haltensweisen mit einem Zwangsakt – einem Übel wie der Entziehung von Leben, Gesundheit, Freiheit oder wirtschaftlichen Gütern – reagiere.13 Es sei aber nicht Aufgabe der Rechtswissenschaft, das Verhalten einerseits oder die Art der Übels­ zufügung andererseits zu bestimmen. „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein“14 lautet der anstößige Ausgangspunkt für die von Kelsen „rein“ genannte Rechtslehre. Seitdem konzentriert sich ein wiederkehrendes Problem der analyti­ schen Rechtswissenschaft in dem von Hart diskutierten Imperativ, der – obwohl als Regel mit Zwangswirkung formuliert  – doch offenbar nicht als Rechtsnorm gelten kann, nämlich „der Fall, wo der Bankräuber dem Angestellten sagt: ‚Geld her oder ich schieße!‘“15 Hart gibt der Imperativentheorie eine bewusst anstößige Fassung und löst das selbst formulierte Problem – wie in der analytischen Tradi­ tion üblich – mit einer Unterscheidung von Sprach- bzw. Normebenen: Von den ein Verhalten anbefehlenden Regeln sind jene Regeln zu unterscheiden, mit denen die Normsetzungsbefugnis begründet wird und die infolgedessen ausschließen, dass Befehle von Bankräubern befolgt werden müssen, es stattdessen gebieten, diese Befehlsgeber nach dem Tatbestand des Raubs zu bestrafen.16 Alle analytischen Lehren in der Rechtswissenschaft haben sich seitdem mit dem als metaphysisch geltenden Postulat auseinanderzusetzen, dass Gegenstand der Rechtswissenschaft in erster Linie die inhaltliche Legitimation eines Systems von Normen sei. Insbesondere die deutsche Rechtswissenschaft hat nach wie vor den modernen Sonderfall zu bearbeiten, dass ein Räuber und Mörder „Führer“ und oberster Normsetzer geworden ist. Die deutsche Rechtspraxis hatte nach 1989 über weitere historische Fälle („Mauerschützen“) zu entscheiden, in denen das Gebot zu töten von den im Sinne Harts nach sekundären Rechtsregeln eigentlich legiti­ men Instanzen gesetzt worden ist. Dabei hat der Bundesgerichtshof eine alte, von dem ersten sozialdemokratischen Justizminister und Rechtsphilosophen Gustav Radbruch stammende Formel zitiert, wonach staatliche Normen wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtlich seien, wenn „die allen Völkern gemein­ samen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen ver­ letzt“ würden.17 Diese sogenannte „Radbruchsche Formel“ bezeichnet dabei die Schnittstelle zwischen geltendem Recht und einer Rechtswissenschaft, deren erste Aufgabe die Legitimation der Geltungsgrundlagen ist. Ihre Tradition reicht juris­ tisch auf Rudolf Stammler und dessen „Lehre von dem richtigen Rechte“ zurück. 13

Kelsen (Fn. IX. 6), 34. Kelsen (Fn. IX. 6), 201. 15 Hart (Fn. I. 4), 35. 16 Hart (Fn. I. 4), 119 f. 17 BGHSt Urt. v. 3.11.1992 – 5 StR 370/92 – Bd. 39, 15 f. (Mauerschützen). 14

304

IX. Die Norm

Richtiges Recht kann danach nicht jeder im Einzelfall für sich bestimmen, so dass auch kein einziger Rechtssatz einfach vor dem Horizont einer etwa naturrecht­ lich vorausgesetzten Richtigkeit überprüft werden kann. Richtigkeit verlangt „die rechte Verbindung zwischen dem obersten Gedanken einer rechtlichen Ordnung und zwischen den mannigfaltigen zerstreuten Einzelheiten des konkreten Rechts­ lebens.“18 Die Wissenschaftlichkeit erweist sich insofern auch an der Kenntnis der relevanten Einzelheiten, die sich dann jedoch aufgrund wissenschaftlich anerkann­ ter Rechtsprinzipien kritisieren lassen.19 So verfachlicht, ist Richtigkeit nicht weit von der analytischen Konzeption entfernt. Richtigkeit verlangt eine Abstimmung zwischen den positiven Rechtsregeln unter den dazu berufenen Rechts­gelehr­ten und ergibt sich nicht einfach aus dem Votum der Laien. Mit diesen Vorstellungen von Richtigkeit wird die imperativische Genese durch den Spruch eines Gesetzgebers relativiert, was sogar ein Befehlstheoretiker wie Hobbes anerkennt (Kap. XII. 1.). Hobbes lehrt aber auch, dass sich damit am Be­ fehlscharakter des Gesetzes nichts ändert. Der Imperativ bleibt das wesentliche Merkmal des Rechtszeichens.20 Imperative sind semiotisch attraktiv. Peirce erklärt die imperativische Zeichenwirkung in seinen Briefen an Lady Welby mit der Ka­ tegorie der Zweitheit und damit als handlungsauslösenden Index.21 Der Imperativ bedarf nicht unbedingt irgendeiner Sprachform, wenngleich sie ihn oft begleitet. Der dynamische Interpretant wirkt für denjenigen, der ein Zeichen interpretiert, unter den gegebenen Umständen so zwingend, dass eine Alternative ausgeschlos­ sen erscheint. Peirce nennt ihn den effektiven Interpretanten. Das imperativische Zeichen gibt insofern nicht nur die Rechtsnorm wieder, sondern repräsentiert mo­ dellhaft eine heute weitverbreitete Zeichenvorstellung. Danach sendet jemand an jemanden eine codierte Botschaft, deren Code es zu entschlüsseln gilt, so dass da­ durch ein Handeln veranlasst wird. Mitteilung, Botschaft und deren Verständnis sind dann ein- und dasselbe, in allen Stationen des Zeichenprozesses trifft man das Gleiche an, so dass der Prozess zum Kommando-Unternehmen der Kommu­ nikation wird. Peirce hat dafür einen besonderen Fall reserviert. Er wird militä­ risch und zitiert in seinem Entwurf zum Pragmatismus aus dem Jahre 1907 das Kommando „Gewehr bei Fuß“.22 Das ist ein Musterfall indexikalischen und im­ perativischen Zeichengebrauchs. Aber rechtliche Kommandos fehlen bei Peirce, und das ist kein Zufall. Das Recht ist weder am Anfang noch am Ende ein Kom­ mando-Unternehmen. In der Rechtstheorie ist die Befehlsform des Rechts von Anfang an fragwürdig gewesen. Zum einen konkurrieren imperativische Konzepte seit langem mit Aner­ kennungslehren. Die altliberale Lehre eines Karl Theodor Welcker ging von Anfang an davon aus, dass Recht „stets auf Anerkennung oder Einwilligung aller gegründet 18

Rudolf Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Berlin 1902, 215. Karl Larenz, Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979, 23–32. 20 Thomas Hobbes, Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, Hamburg 1996, Kap. XXVI. 21 Peirce, Letters to Lady Welby (23 December 1908), in: (Fn. I. 18, Vol. 2), 48. 22 Peirce, Pragmatism, in: (Fn. I. 18 Vol. 2), 398–433 (430). 19

1. Normbegriff und Normenbegründungen

305

werden“ müsse,23 ist heute aber weitgehend vergessen und verdrängt worden von Konsenstheorien, die darauf abstellen, dass alle oder die meisten oder die Weises­ ten unter den meisten einer Norm zustimmen müssen, damit sie als Norm anerkannt sei. Die erste Fassung solcher konsensuellen Zustimmung lieferte Chaïm Perel­ man mit seiner Version des universalen Auditoriums (Kap. VIII. 4.). Die zweite zu­ nächst rechtsfern und nicht-institutionell konzipierte konsensuelle Normenbegrün­ dung hat dann Jürgen Habermas versucht,24 und Robert Alexy und Klaus Günther gelten im Zusammenhang der Diskursethik als die Juristen, die eine früher herr­ schaftsfreie, egalitäre und solidarische Konsensfindung doch in die Normen und Foren des Rechts implantiert haben.25 Dabei geht es um die „Zwanglosigkeit des zur Überzeugungskraft sublimierten Zwangs“.26 Wo gibt es etwas, das sich selbst her­ stellt und im Herstellungsprozess den Hersteller bindet, also selbstreflexiv verfährt? Die Antwort darauf haben vor Habermas und Apel schon die Philosophen der Allgemeinsprache (Wittgenstein und der jüngere John Austin) gegeben. Im linguistic turn der Philosophie konzentriert man sich nicht mehr auf die vielfältigen Alltagsereignisse zweifelhafter Art (ein Bau stürzt ein, der Baumeister ist schuld), sondern die Analyse setzt an der Ausdrucksweise für diese Ereignisse ein, und dabei trifft man an verschiedenen Stellen Normbestandteile, Maximen und Un­ terstellungen, über deren Berechtigung sich diskutieren lässt. Mit dem schlich­ ten Satz „Die Polizei steht vor der Tür“ kann man jemanden zur Begrüßung auf­ fordern, ihn warnen, man kann eine bevorstehende Festnahme als wahrscheinlich feststellen oder die Nachricht von einer Razzia verbreiten. Sofort tauchen Zu­ schreibungen auf. Wer ist es, der da sagt: Die Polizei steht vor der Tür? Dabei be­ merkt man, dass jeder Satz (und damit auch eine einfache Aussage wie: Jemand steht vor der Tür) eine Äußerung ist, die man einem anderen gegenüber zu einem bestimmten Zweck macht, vielleicht im Jahre 1944 der Nachbar in Izieu, der den Abtransport der jüdischen Kinder durch die Gestapo kommen sieht. Der Satz kann Index für ein Verbrechen sein oder Ikon einer unbestimmten Gefahr. Dabei sieht man, dass es im Äußerungssystem Operationen gibt, mit denen die Richtigkeit des propositionalen Gehalts (also des Sachverhalts, um den es geht: Ist das wirklich die Polizei? Wer steht da?) überprüft werden soll. Man kann fragen: Woher wissen Sie das? Wie konnten Sie den Täter erkennen? um die Aussage zu überprüfen. Es sind mögliche Fragen, die an einen Zeugen der Razzia des Jahres 1944 in Izieu, M. Favet, gestellt worden sind.27 Wie in einer Vernehmung so kann und muss man in jedem Gespräch unter Umständen überprüfen, ob der Sender einer Aussage oder deren Empfänger es ernst meinen, ob sie glaubwürdig sind oder lügen. Mit einem 23

Karl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, Gießen 1813, 80–82. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 119–226. 25 Robert Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1995, 109–126; Günther, Angemessenheit (Fn. III. 24), 60–64. 26 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts, Frank­ furt a. M. 1992, 41. 27 Jacques Vergès, Je défends Barbie, Paris 1988, 103. 24

306

IX. Die Norm

Wort der Rechtstheorie: Als „Diskurs“ geben Frage und Antwort darüber Auf­ schluss, welche Tatsachen unseren Platz in der Welt einrahmen, welche Normen ihn bestimmen und welche Personen im Umfeld handeln – das alles nicht absolut, nicht für immer, aber ausreichend für eine Orientierung.28 Den Diskurs unterscheidet von allen Formen der Anerkennung, dass er aktu­ ell und unter Einbeziehung aller Betroffener wirklich geführt werden soll. Als Diskurs hat Habermas in frühen Schriften eine handlungsentlastete, zwangsfreie Äußerungssituation verstanden, in der die Wahrheit einer Aussage, die Richtigkeit der dafür unterstellten Normen und die Wahrhaftigkeit der dabei Beteiligten durch sprachliche Mittel der Alltagskommunikation überprüft, beraten und verändert werden können.29 Das Justizdispositiv war damit nicht gemeint. Den ursprüng­ lichen, politischen Anspruch hat Habermas zwar niemals aufgegeben, später aber hinter ethische und begründungstheoretische Fragen zurücktreten lassen. Den Einstieg dafür bietet eine von Alexy angebotene „Sonderfallthese“, derzufolge in Rechtsverfahren die allgemeinen Diskursprinzipien nur in besonderer Weise aus­ geformt werden.30 So überprüft man in den Foren des Rechts die Ehrlichkeit eines Versprechens (diese Sache ist einwandfrei), die Angemessenheit einer Maxime (du sollst nach einem Unfall den Geschädigten informieren) oder den prognostischen Gehalt einer Aussage (der Verurteilte wird in Zukunft keine Straftat mehr bege­ hen). Gebraucht werden dafür nur die Mittel des Diskurses selbst (Beschaffen­ heitszusagen stehen im Beipackzettel, nicht in der Produktwerbung; Verhaltens­ regeln macht man sich selbst oder übernimmt sie von Normerzählern, denen man glaubt; man glaubt dem, der sich verlässlich und loyal verhält). Nun ist durchaus fraglich, ob eine Rechtsnorm solchen konsenstheoretischen Überprüfungen folgt oder nicht. Die These, das Recht sei ein Sonderfall des all­ gemein moralischen Diskurses, wird etwa von Alexy so vertreten, dass sich daran die Legitimität einer Rechtsnorm überprüfen lassen müsste:31 Dient sie der Wahr­ heitsfindung? Was trägt sie zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei? Lässt sie sich vor einem Forum allgemein informierter, moralisch kompetenter Laien rechtfer­ tigen? Andererseits ist offensichtlich, dass im Recht neben Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit noch manch andere Zwecke verfolgt werden und viele andere Formen auftauchen, die man vor dem allgemeinen Diskurs nicht recht­fertigen könnte: Der Angeklagte darf lügen. Die Prozesspartei darf alles in Zweifel zie­ hen, was ihr zweifelhaft erscheint. Im Prozess kann man immer nein sagen. Man muss nie zustimmen. Der Prozess wird durch einen Machtspruch beendet. Wer sich dem nicht fügt, wird am Ende manchmal mit der Gewalt einer Zwangsvoll­ 28

Alexy (Fn. IX. 25), 98–104. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1981, 148; ders., Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Sys­ temforschung?, Frankfurt a. M. 1971, 137. 30 Habermas (Fn. IX. 26), 281–287. 31 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a. M. 1978, 263–272. 29

1. Normbegriff und Normenbegründungen

307

streckung gezwungen. Wenn man das alles nur als Besonderung des allgemein moralischen Diskurses auffasst, braucht man einen langen, idealistischen Atem. Dieser lange Atem soll in der Darstellung von Habermas den kantischen katego­ rischen Imperativ neu beleben.32 Das unterscheidet diese Ausprägung der Diskurs­ theorie von rhetorischen und semiotischen Konzepten bei Peirce oder Perelman, die Handlungsorientierung von Diskursivität unterschieden haben. Das diskurs­ ethische Fundament entfernt die Lehre auch von der Beobachtung. Man beob­ achtet, dass Diskussionen, die Einverständnis herstellen, Beschlussfassungen im Politbüro eher ähneln als zwangsfreien Diskursen. Was Handeln antreibt, ist iko­ nische Motivation, was Handeln erzwingt, indexikalische Einwirkung, aber beide Formen sollen im Diskurs latent bleiben und ihn nicht prägen. Zwar ist die Neigung groß, die diskursive Normenbegründung wie die kategori­ sche Prüfung in eine weltferne Ideensphäre zu verweisen, aber das wäre voreilig. Normen enthalten beides, Zwang wie Konsens. Die Mengenverhältnisse verschie­ ben sich gerade. Wir glauben jedenfalls gern, dass Betroffene und Beteiligte den Rechtsnormen in zunehmendem Maße zustimmen (wollen und sollen) und dass blo­ ßes Gehorchen der Modus von gestern war. Auch wenn die Vorstellung von Hand­ lungskonsensen viel Fiktion in jede reale Situation hineinträgt, so kann sie doch nicht einfach abgelegt werden, wenn es für Normen weder göttliche noch sonst ma­ jestätische Stützung gibt. Die Kontingenz jeder möglichen Norm sucht die Impera­ tiventheorie heim, und wenn Gott oder Kaiser nicht helfen, weil sie beide tot sind, dann bliebe anstelle des Konsenses allenfalls noch die Tafel ewiger Werte, als die sich manche heute das „Naturrecht“ vorstellen. Aber in dieser Ewigkeits­tafel ist in Wirklichkeit nichts über die Entsorgung radioaktiver Abfälle gesagt. Was man im Atom-, im Immissionsschutz- oder Abfallrecht als Normen beschließt, befolgt oder gelten lässt, kann seinen Grund nur in dem finden, das man anerkennt, und das wäre dasjenige, dem man auch zustimmt. Die symbolische Existenz von Rechts­ normen wird anerkannt, und man sagt, sie gelte, obwohl und weil über ihren In­ halt und Gegenstand gestritten werden kann. Rechtsnormen sind nicht nur durch das Zwangselement vom moralischen Normverständnis unterschieden, als „Code der Legalität“ kommt ihnen auch eine „radikale Unbestimmtheit“ zu.33 Damit hängt Normgeltung von Zwang, von Anerkennung und fallweiser Kon­ kretisierung ab, was sich im Handlungscharakter jeder Zeichenbeziehung zeigt. Zeichen werden adressiert. Sie gelten für jemanden in Bezug auf etwas. Insofern konzentrieren sich Zwang wie Anerkennung auf diejenigen, die Normen befol­ gen sollen oder wollen. Mit Imperativen meint man, Bürger zum Normgehorsam zu verpflichten, durch Anerkennung würden sie diesen Gehorsam freiwillig leis­ ­ ällen ten. Was die Effektivität dieser Normenverhältnisse angeht, ist sie in beiden F 32 Jürgen Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: (Fn. IX. 24), 9–30. 33 Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität, in: Lutz Wingert/ ders. (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2001, 539–567 (562).

308

IX. Die Norm

weitgehend unbekannt. Gewiss kann man sagen, dass Mieter, die zwangsweise geräumt werden, einen Normbefehl befolgt haben – mit der Faust in der Tasche und der Wut gegen die exekutierende Rechtsordnung auf den Lippen, und ebenso wahrscheinlich hat der revolutionäre Ungehorsam etwas damit zu tun, dass herr­ schende Normen nicht anerkannt worden sind. Aber das sind Extremfälle. Ob man aus dem Schweigen der meisten schließen kann, dass sie die Normen der einfachen Gesetze und der Verfassung anerkennen, bleibt Hypothese, ebenso wie die frei­ willige Räumung einer Wohnung vielleicht mehr darauf beruht, dass sich eine an­ dere hat finden lassen, als dass ein Normbefehl befolgt worden sei. Jedenfalls ist es möglich, dass andere das so interpretieren, und darauf kommt es an. Insofern hat Niklas Luhmann der Normenbegründung eine grundsätzlich andere Richtung ge­ geben und die Perspektive umgekehrt. Im Vordergrund stehen für Luhmann nicht mehr der Normverletzer und dessen Gefühle, sondern die Aufmerksamkeit gilt den anderen, den Dritten, also denjenigen, die sich konform verhalten, oder – sys­ temanalytisch gewendet – dem Beobachter. Die Norm ist dann nicht mehr wichtig, um Gehorsam herbeizuführen oder einzufordern, sondern mit dem Normenbegriff ist schon unterstellt, dass sich andere nicht normengehorsam verhalten und man sie dazu auch nicht zwingen kann, weil die Normbrüche immer wieder vorkom­ men, es eine Lust, Neigung oder sogar einen Zwang zum Normbruch geben mag. Der Normbegriff hält stattdessen für alle anderen eine Entlastung bereit, mit der sich die Abweichungsenttäuschung kompensieren lässt.34 Die Norm stabilisiert in Luhmanns Diktion „Erwartungssicherung und Enttäuschungsabwicklung“.35 Sie ermöglicht es anderen, an ihrer Vorstellung vom Weltlauf festzuhalten, auch wenn die Welt anders verläuft. Für einen solchen Normbegriff kommt es gar nicht dar­ auf an, ob und welche Verfahren sich an die Normverletzung anschließen, wesent­ lich ist zunächst nur, dass diejenigen, die anderes erwartet hatten, im von ihnen so gefühlten Recht bleiben (Kap. I. 3.). Diesem Normbegriff kann es deshalb nichts anhaben, wenn die Norm in Wirklichkeit nicht befolgt wird oder der Norminhalt nicht geeignet ist, Befolgung zu erwirken. Wesentlich ist nur, dass andere in ihrer Mehrheit oder in den Personen, auf die es ankommt, so erwarten, wie der Norm­ inhalt es vorgibt. Die Drittperspektive führt für eine zeichenorientierte Beschreibung weiter als der fiktive Blick auf Befehlsunterworfene. Für alle Dritten führen Normen eine Symbolik ein – semiotisch gesehen eine Drittheit der Beschreibung, die zu neuen Interpretationen führt. Normen schreiben um, sie schreiben nichts vor, auch wenn man sagt, Normen seien Vorschriften. Die Vorschrift ist vor mir, ich schreibe sie ab und überlege, was sie bedeuten soll. Mit praktiziertem Verhalten hat die Vor­ schrift deshalb im Ansatz nichts zu tun. Zwar gibt es eine juristische Schwärme­ rei, die zu wissen meint, bevor man handele, lese man Vorschriften. Mit zentralen ­Abweichungen in einer Gesellschaft – Überfällen, Wegnahmen, Freiheitsberau­ 34

Luhmann, Kontingenz und Recht (Fn. III. 69), 76 f. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. I. 52), 54.

35

1. Normbegriff und Normenbegründungen

309

bungen – haben Vorschriften aber erst in einer zweiten Linie zu tun. In erster Li­ nie wird gehandelt. Männer überfallen andere, und man kann darüber nachden­ ken, wer es bei welcher Gelegenheit tut, weil auch die Räuber nicht unablässig rauben  – im Gegenteil, meistens tun sie es nicht. Aber wenn diese Handlungs­ dispositionen ausgespielt sind, wenn ein Verbrechen passiert ist, dann schlägt die Stunde der Vorschrift. Mithilfe der vorgeschriebenen Norm wird einem Ablauf eine Bedeutung zugeordnet, die wiederum auf eine zukünftige Maßnahme hin­ weist, und diese Norm tritt an die Stelle des anderen Verhaltens. Der geschehene Mord kann nicht rückgängig gemacht werden, aber er ist für die Überlebenden und Zeit­genossen nur auszuhalten, wenn es nicht beim schlichten Mord bleibt, sondern wenn man ihn so nennt und mit der Nennung auch ein Urteil, eine Verurteilung, verbindet. „Die Norm substituiert sich gleichsam selbst für die Realität, die even­ tuell ausbleibt (ausbleiben wird, ausgeblieben ist); und sie setzt an die Stelle des erwarteten Verhaltens, wenn es ausbleibt, ein Verhalten des Erwartenden – näm­ lich expressives Bekenntnis zur Norm, Formulierung der Erwartung, symbolische Aktivitäten, Sanktionen.“36 Damit erhalten Imperativ und Anerkennung am Ende eine mehrfach fiktive Be­ deutung. Weder kommt es darauf an, ob die Norm wirklich etwas befiehlt oder wirklich anerkannt wird, noch kommt es überhaupt auf einen anderen Effekt der Norm an als auf ihre symbolische Existenz. Die Norm erschöpft sich niemals nur im Wortlaut und lässt sich aus der äußerlichen Textgestalt auch nicht herleiten. Das ist der Einstieg in alle Fragen der Auslegung (Kap. X. 1.). Die Norm kann nicht auf jede Anweisung so bezogen werden, wie derjenige, der sie ausspricht, ihren Ge­ halt verstehen möchte. Sie ist auf allgemeine Anerkennung angewiesen, und dabei bleibt unklar, wer es ist, der zustimmen soll. Durchaus nicht immer und nicht not­ wendig sind das Richter und Gerichte. Das Justizdispositiv (Kap. VI.) ist nur eine Erscheinungsweise des Rechts. Viel häufiger als innerhalb der Justiz und durch die Justiz tritt Recht unter Laien im Alltag auf, manchmal mit, oft auch ohne an­ waltlich-fachliche Unterstützung. In all diesen Fällen treten eine oder mehrere Normen als Realität hervor. Man geht also mit Normen auch und gerade außer­ halb des Justizdispositivs um. Das Ikon, im Wesentlichen normgerecht zu han­ deln, beherrscht alle, die sich nicht in späten Gefühlen der Distanzierung, Krank­ heit oder des Snobismus zum Freerider und Outlaw stilisieren. Wichtig sind dabei zwei binäre Unterscheidungen im Symbolverstehen, die in der Jurisprudenz vom Privatrecht bis ins öffentliche Recht üblich sind. Die erste unterteilt die Norm in einen Vergangenheits- und einen Zukunftsbestandteil, die zweite unterscheidet In­ nen und Außen oder Person und Welt. Vergangenheit und Zukunft sind wie Innen und Außen als differenzierende Zeichenprozessionen notwendig, um aus einer ge­ fühlten, ikonisch wirksamen Anerkennung oder einem von außen indexikalisch auferlegten Normbefehl eine verallgemeinerbare Rechtsnorm zu machen. Sie be­ schreiben außerdem die Form der Rechtssätze. Zunächst geht es um: 36

Luhmann, Kontingenz und Recht (Fn. III. 69), 75.

310

IX. Die Norm

2. Tatbestand und Rechtsfolge Tatbestand und Rechtsfolge sind die beiden Grundelemente, mit denen man nor­ mativ operieren muss, um dem Recht Zugang zur Welt zu verschaffen und damit etwas zu implantieren, was vorher nicht da war. Das geschieht durch ein Zeichen für die Zukunft, „Rechtsfolge“ genannt, und da Rechtsfolgen nicht beliebig, son­ dern eben aus dem Recht heraus begründet erfolgen, brauchen diese Folgen einen Tatbestand, aus dem sie folgen. Infolgedessen werden Normen wiedergegeben als geordnete Verknüpfung von Zeichen, die paarweise syntaktisch geordnet sind nach der Art: Wenn p, dann q.37 Nur gelegentlich haben sie die Form einer juristi­ schen Fiktion: Es sei p anstelle von q.38 In jedem Fall handelt es sich um eine Ab­ folge, nach der – wenn ein Tatbestand T gegeben ist – dann die Rechtsfolge R ein­ treten solle. Das ist die Struktur des normativen Obersatzes, dem die Feststellung nachfolgen muss, ein bestimmter Sachverhalt verwirkliche T, so dass syllogistisch zwingend behauptet werden darf, für diesen Sachverhalt gelte die Rechtsfolge R. So lautet das Schema der Normanwendung, wie es die von Canaris fortgeführte Methodenlehre von Karl Larenz beispielhaft für alle anderen ausführt,39 und es ist die Grundlage für den „Justizsyllogismus“, der zwar mit den wirklichen Prozes­ sen im Justizdispositiv nichts zu tun hat, aber auch dort gern gebraucht wird, um Außen­stehenden etwas glauben machen zu können. Rechtsfolgen haben einen oft großen Ermessensspielraum. Strafbarkeitsfolgen etwa werden mit weiten Strafrahmen beschrieben (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jah­ ren, von ein bis zehn Jahren usf.), oft wird dabei noch nicht einmal die Strafart festgelegt, sondern es bleibt normativ einer Konkretisierung durch den Anwender überlassen,40 ob Freiheits- oder Geldstrafe die Rechtsfolge sein werden. Fachlich präzise wirken dagegen die Tatbestandsformulierungen, die Gegenstand der juris­ tischen Ausbildung sind, nicht die Rechtsfolgen, die praktisch viel mehr interessie­ ren. Schulmäßig genau abgegrenzt werden soll der Tatbestand des Diebstahls von dem des Betrugs, genau feststellen soll man, ob ein Anspruch auf Herausgabe aus einem Vertrag zwischen Beteiligten, aus Eigentumsrechten, die gegen jedermann wirken, oder aus Delikten herrührt, die den Täter im besonderen Fall verpflich­ ten. In all diesen Fällen ist der Tatbestand Gegenstand der fachlichen juristischen Arbeit. Dabei bleibt es ein zunächst unerörtertes Problemfeld, dass Tatbestände aus Fällen gewonnen werden müssen. Nur im einfachen Fall wird schon in der Fallschilderung gesagt, dass jemand etwas „weggenommen“ habe, und auch dann bleibt offen, ob die damit gemeinte Wegnahme genau das ist, was der Tatbestand des § 242 StGB damit meint. Die Tatbestandsseite einer Norm wird erst einmal im­ mer umgangssprachlich wiedergegeben und ist dann der „Sachverhalt“. Die Bedeu­ 37

Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, 87. Paul Dubouchet, Sémiotique juridique. Introduction à une science du droit. Paris 1990, 34. 39 Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin u. a. 1995, 92. 40 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 467. 38

2. Tatbestand und Rechtsfolge

311

tung des Tatbestands muss erst auf den so geschilderten Sachverhalt hin konkreti­ siert werden, und das geschieht in weiteren Sätzen. Jeder Ausdruck im Tatbestand muss also durch einen Satz erläutert oder kommentiert werden, wenn man mit der Norm etwas praktisch anfangen will. Einen normativen Kommentar kann man akzeptieren oder zurückweisen, und schon entsteht die agonale Prozesslage des­ Justizdispositivs (Kap. VI. 3.). Wenn man die Zuordnung als geboten ansieht, dann wird sie auch zu einem Teil der Subsumtion, wenn nicht, darf und muss man sie als „Rechtsfehler“ brandmarken, wobei auffällt, dass die akademische Rechtslehre über Rechtsfehler schweigt und die Fehlerfeststellung – dann aber ungehemmt – der Ausbildungspraxis überlässt. Erst Niklas Luhmann, der Beobachter, kann die Al­ ternative von Gründen und Fehlern problematisieren.41 Jedenfalls wird jede Norm durch Sätze des Sachverhalts ko- und prädeterminiert, wie es die Kelsen weiter denkende Rechtslehre von Timsit betont.42 In der herkömmlichen Praxis heißt das: Liegt ein Tatbestand vor (oder nicht)? Ist der Anspruch gegeben (oder nicht)? Erscheint der Verwaltungsakt durch einen Rechtssatz gedeckt (oder nicht)? Die binär strukturierte Zuordnung grenzt Recht von „Nichtrecht“ ab, das jedenfalls von Juristen mit Unrecht identifiziert wird. Die Formel „Tatbestand und Rechtsfolge“ klingt so, als würde hier etwas sach­ lich unterschieden. Unterschieden werden aber zunächst einmal nur Zeiten. Der Tatbestand war gestern, mit einem Tatbestand behandelt man einen Ablauf als ver­ gangen und unterscheidet ihn damit von Gegenwärtigem und Zukünftigem, denn die Rechtsfolge erreicht uns erst morgen. Tatbestand und Rechtsfolge unterschei­ den die Vergangenheit von der Zukunft, und der Gebrauch einer solchen Formel räumt für die Gegenwart dieser Unterscheidung eine nicht ausdrücklich ausgewie­ sene Zeit ein, die Zeit, in der das Dispositiv der Justiz wirken kann. Wenn man „Tatbestand und Rechtsfolge“ sagt, reserviert man Zeit für die Feststellung des­ sen, was dann als „Tatbestand“ bezeichnet wird, und man eröffnet Zeit für die Ver­ handlung über zukünftige Maßnahmen, Rechtsfolgen genannt. Es ist die Zeit des Verfahrens. Die Norm ist in semiotischer Sicht erst einmal ein Mittel, Prozesse einzuleiten, durchzuführen und ihnen einen Sinn zu geben. Das sind semiotische Prozesse, die in Rechtsverfahren eingehen, aber keine Gerichtsform annehmen müssen. Es kann sich auch um eine Therapie, eine Mediation oder einen Waf­ fenstillstand handeln. Man braucht das Justizdispositiv für Anwendungsprozesse nicht unbedingt, und wenn sich beides verbindet, kann die Justiz weniger schnell mit Normen disponieren als mit einem schlichten Maßnahmensystem. Normen machen das Dispositiv, den Apparat, langsamer als es ein einfacher, programm­ gemäßer Ablauf ermöglichen würde. Gelehrt wird der Unterschied von Tatbestand und Rechtsfolge vor allem im Straf­ recht, in Ausbildung und Lehre werden dabei meist nur Tatbestände behandelt. Vom Tatbestand war schon die Rede (Kap. VII. 3.), jedenfalls von der Tatbestands­ 41 42

Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 342 f. Gérard Timsit, Les noms de la loi, Paris 1991, 109.

312

IX. Die Norm

sprache in Entscheidungen. In Urteilen sind Tatbestände die Sachverhaltserzählun­ gen, aus denen die Elemente hervorgehen, die man als Tatsachen für die Gründe der Entscheidung benötigt. Urteile markieren im Verfahren allerdings den Zeitpunkt, zu dem am Tatbestand kaum noch Interesse besteht, weil die Rechtsfolge ausge­ sprochen wird. Wenn man weiß, wie entschieden werden soll, kann man auf den Tatbestand unter Umständen auch verzichten, und in privatrechtlichen Verfahrens­ ordnungen ist das ausdrücklich so vorgesehen (§§ 313 a, 540 Abs. 1 ZPO). Auch in­ sofern macht das Strafverfahren eine Ausnahme. Dort sind Tatsachen selbst dann im Urteil anzugeben, wenn ein Rechtsmittel nicht eingelegt worden und das Ur­ teil somit rechtskräftig ist (§ 267 Abs. 4 StPO). In jedem Fall soll das Strafurteil in seinen Gründen die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die ge­ setzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Das ist die amtliche Umschrei­ bung eines Tatbestands. Ein Tatbestand umschreibt die Straftat mit den Worten des Gesetzes, er schreibt den Fall um und gibt einen Ablauf, den jedermann hätte erzählen können, so wieder, dass von Anfang an ersichtlich ist, dass hier Juristen am Werke waren. Der gesetzliche Tatbestand des Diebstahls heißt also weder „Du sollst nicht stehlen“ noch „Jeder Diebstahl wird verfolgt“, sondern – ziemlich um­ ständlich –: Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weg­ nimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen (§ 242 StGB). Was ist mit einer derart tatbestandlichen Ausdrucksweise gewonnen? Gewonnen wird eine Anzahl von Problemen, die mit den Worten „Stehlen“ und „Diebstahl“ verdeckt würden. Manchmal wird nämlich ein Diebstahl auch nur mit dem Satz: Er hat mir das Geld weggenommen – behauptet. Die gesetzliche Formulierung des § 242 StGB unterscheidet nun Wegnahme und Zueignungsabsicht, beschert also das Problem festzustellen, ob jemand im Zeitpunkt der Wegnahme eine bestimmte Absicht hatte. Das ist im Alltag nicht gerade üblich. Man klärt das dort durch den Kontext. Ein weggelegter Regenschirm wird für den Verlierer aufbewahrt, eine eingesteckte (und nicht abgegebene) Geldbörse wird aber eben „weggenommen“ oder genauer: gestohlen. Wenn der Wegnehmer dem Gericht nicht (durch Geständ­ nis) seine Absicht im Zeitpunkt der Wegnahme ausdrücklich sprachlich serviert, dann muss man sie – wie es ein Urteil verlangt – eben „feststellen“, also anhand von Indizien zuschreiben (Kap. IX. 3.). Denn nach einer wiederkehrenden Problem­ beschreibung kann man niemandem in den Kopf hineinsehen. Mit einer solchen Feststellung der Zueignungsabsicht kann man es sich bei der Konkretisierung des Tatbestands leicht oder schwer machen, man kann der Ansicht sein, dass sie im­ mer schon vorliegt, wenn jemand Hand an eine Sache legt, aber man kann auch skeptisch und zurückhaltend sein, und die Hand an einer Sache allenfalls für das Merkmal der Wegnahme, keineswegs aber für die Zueignungsabsicht genügen las­ sen. Die Norm des Gesetzes löst diese Probleme nicht nur nicht auf, sondern schafft sie neu, indem sie den Anwender zwingt, das einheitliche Stehlen zu zergliedern. Das ist nicht der Regelfall. Manchmal ist ein Umweg notwendig. Ein Tatbestand wie § 185 StGB heißt nur: Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit be­

2. Tatbestand und Rechtsfolge

313

gangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Norm operiert also anders als § 242 StGB gerade nicht mit einer gesetzlichen Umschreibung eines Geschehens. Das könnte man verfeinern, und der Gesetz­ geber hat das längst gesehen. Bereits im Jahre 1962 hieß es im damaligen Gesetz­ entwurf der Bundesregierung zur Reform des StGB (sogenannter E 1962) als § 173 unter dem Titel „üble Nachrede“: Wer eine ehrenrührige Behauptung tatsächlicher Art über einen anderen aufstellt oder an einen Dritten gelangen läßt, …43 In einem Absatz 2 sollte auch gesetzlich definiert sein, was ehrenrührig heißen sollte. Die einfache Beleidigung fand sich im Normenkatalog nicht mehr. Auch der Alterna­ tiventwurf von Strafrechtslehrern aus dem Jahre 1971 hielt eine gesetzliche Um­ schreibung nur der üblen Nachrede vor mit den Worten: Wer ehrenrührige Tatsa­ chen vor oder gegenüber Dritten behauptet oder verbreitet, wird mit Geldstrafe bis zu sechs Monaten bestraft.44 Gesetz wurde beides nicht. Man hielt sowohl am Tatbestand der Beleidigung fest als auch an ihrer lakonischen Bezeichnung. Das veranlasst dann die Rechtslehre nachzuholen, was der gesetzliche Tatbestand versäumt, und man umschreibt bis heute: Eine Beleidigung begeht, wer seine Miss­ achtung kundgibt. Der Beleidigungstatbestand bezieht sich demnach nicht nur auf Tatsachen (wie die üble Nachrede der Reformentwürfe), er erfasst auch herabset­ zende Worte (Affe, Dackel u. ä.), und er verlangt offenbar ein Tätigwerden nach Außen, die Kundgabe, an der es fehlen sollte, wenn man „Innen“, im Kreise Ver­ trauter etwas Abfälliges äußert – eine Problembeschreibung, die auf Karl Engisch und das NS-Spitzelwesen zurückgeht und modern im Rahmen der Briefkontrolle wieder aktiviert worden ist.45 Wenn also die im Gesetz geschriebene Norm keinen Tatbestand enthält, wird er durch Rechtsprechung und Lehre nachgeliefert. Allerdings verfährt der moderne Gesetzgeber durchaus nicht mit lapidarer Kürze, sondern pflegt in den letzten fünfzig Jahren einen Stil der vorgeblichen Genauigkeit, die sich aber trotz maximaler Wortfülle jeder Konkretisierung ent­ hält und die Rezeption der Rechtsprechung überlässt. Das ist ohne Beispiele kaum zu verstehen. Wie moderne Tatbestände aussehen, kann man aus einer Norm wie der Strafvorschrift gegen Geldwäsche (§ 261 StGB) herauslesen, deren umgangs­ sprachliche merkwürdig leichtgängige Gesamtbezeichnung in einen mehr als nur schwergängigen Text der folgenden Art zerlegt wird: Wer einen Gegenstand, der aus einer in Satz 2 genannten rechtswidrigen Tat herrührt, ver­ birgt, dessen Herkunft verschleiert oder die Ermittlung der Herkunft, das Auffinden, den Verfall, die Einziehung oder die Sicherstellung eines solchen Gegenstandes vereitelt oder gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Rechts­ widrige Taten im Sinne des Satzes 1 sind 1. Verbrechen, 2. Vergehen nach a) den §§ 108e, 332 Absatz 1 und 3 sowie § 334, jeweils auch in Verbindung mit § 335a, 43

Bundestagsdrucksache IV/650 v. 4.10.1962 unter: http://seibert.biz/bundestag. http://seibert.biz/alternativentwurfmedia. 45 BVerfG 90, 255 (Beschluss v. 26.4.1994 – 1 BvR 1968/88). 44

314

IX. Die Norm

b) § 29 Abs.  1 Satz 1 Nr.  1 des Betäubungsmittelgesetzes und § 19 Abs.  1 Nr.  1 des Grundstoffüberwachungsgesetzes, 3. Vergehen nach § 373 und nach § 374 Abs. 2 der Abgabenordnung, jeweils auch in Ver­ bindung mit § 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorga­ nisationen und der Direktzahlungen, 4. Vergehen a) nach den §§ 152a, 181a, 232 Abs. 1 und 2, § 233 Abs. 1 und 2, §§ 233a, 242, 246, 253, 259, 263 bis 264, 266, 267, 269, 271, 284, 299, 326 Abs. 1, 2 und 4, § 328 Abs. 1, 2 und 4 sowie § 348, b) nach § 96 des Aufenthaltsgesetzes, § 84 des Asylverfahrensgesetzes, nach § 370 der Abgabenordnung, nach § 38 Absatz 1 bis 3 und 5 des Wertpapierhandelsgesetzes sowie nach den §§ 143, 143a und 144 des Markengesetzes, den §§ 106 bis 108b des Urheber­ rechtsgesetzes, § 25 des Gebrauchsmustergesetzes, den §§ 51 und 65 des Designgeset­ zes, § 142 des Patentgesetzes, § 10 des Halbleiterschutzgesetzes und § 39 des Sorten­ schutzgesetzes, die gewerbsmäßig oder von einem Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, begangen worden sind, und 5. Vergehen nach § 89a und 89c und nach den §§ 129 und 129a Abs. 3 und 5, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, sowie von einem Mitglied einer kriminellen oder ter­ roristischen Vereinigung (§§ 129, 129a, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1) begangene Vergehen.

Wenn man sich nicht auf die Einzelheiten in diesem Tatbestand einlässt und ihn nur unter dem Gesichtspunkt liest, dass viele moderne Normen sprachlich ähn­ lich gestaltet sind, fallen drei Merkmale solcher Gesetzgebung auf. Zunächst ein­ mal und offensichtlich: Man kann den Text gar nicht mehr lesen, ohne in einem Gesetzbuch, für das auch das StGB nicht ausreicht, weiter nachzuschlagen und die Verweise aufzusuchen, die der Tatbestand ausdrücklich enthält. Die Norm ist aus sich heraus nicht mehr verständlich und kann insofern auch nicht einfach ge­ lesen werden. Sodann pflegt der Tatbestand einen modernen Stil möglichst all­ umfassender Regelung und häuft Tathandlungen mit der Beschreibung an, be­ straft werde, wer verberge, etwas verschleiere, allerlei strafverfahrensmäßige Zugriffe ver­eitele oder gefährde. Ohne dass man in die Einzelheiten geht, darf man sagen: Wegen irgendeiner Handlung wird man immer bestraft, der Tatbe­ stand der Geldwäsche soll alles strafbar machen, was mit aus strafbaren Handlun­ gen rechtswidrig erlangtem Geld geschieht. Das ist der dritte Grundzug, der erst auffällt, wenn man sich mit dem Verweissystem und den Handlungserstreckun­ gen des Tatbestands vertraut gemacht hat. Der Tatbestand wird zum sprachlichen Abstraktum und benennt das auch im Titel, dem nach der „Geldwäsche“ mit Se­ mikolon nachgestellt ist: Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögens­ werte. Alle drei Merkmale dieses Tatbestandtyps führen zu einer Unanschau­ lichkeit und Lebensferne, bei der man nie sicher sein kann, ob der Tatbestand dem Leben weiterhin fernbleibt oder doch ganz plötzlich zupackt. Der Fall dazu kann einfach sein: Ein Anlagebetrüger sucht einen Verteidiger auf und möchte im Strafverfahren vertreten werden. Der Verteidiger verlangt einen Vorschuss, den der Betrüger sofort in bar zahlt. Geldwäsche? Ja – sagt der Bundesgerichts­ hof (in einer Sache, deren Fall im Sachverhalt um einiges komplizierter als dar­

2. Tatbestand und Rechtsfolge

315

gestellt liegt).46 Der Fall könnte nach der Struktur des Tatbestands die Strafver­ teidigung in großen Kriminalitätsfeldern selbst strafbar machen  – ein Effekt, der nicht eintritt, weil der Tatbestand im Einzelfall dann doch nicht so flächen­ deckend bekannt wird und infolgedessen auch nicht so oft verfolgt wird, wie es notwendig wäre, wollte man mit ihm ernst machen. Er gehört zum symbolischen Strafrecht. Tatbestände außerhalb des Strafrechts werden anders konstruiert. Für das Auf­ finden von Normen gilt auch hier, dass man Recht nicht nach dem Wortlaut des Ge­ setzes findet. Es hilft nicht, Gesetze zu lesen. Es gibt allerdings nach wie vor Ju­ risten, die diesen gewiss bedauerlichen Befund leugnen, auch wenn die praktische Zeichenverwendung darüber hinweggegangen ist. Auf Tatbestände des Gesetzes bezieht man sich heutzutage, indem man sie einem Tatbestand in Form eines Sach­ verhalts zuordnet, und die Art der Bezugnahme kann einen eigenen Tatbestand schaffen, wenn die Zuordnung im Gesetz nicht gefunden wird. Das ist die Entwick­ lung bei der Kreation des Persönlichkeitsrechts und eines gesonderten Schadenser­ satztatbestands, der heute mit dem Kürzel „gem. §§ 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 1, 2 GG“ zitiert werden kann und ohne juristische Skrupel als Ausfluss des Gesetzes­ rechts verstanden wird. Im Fall des Persönlichkeitsrechts haben Rechtsfolgen die Tatbestandswahl bestimmt. Das müsste man paradox finden, wenn man zeitliche Unterscheidungen nach vergangenen Tatbeständen und zukünftigen Folgen wirk­ lich in dem Sinne ernst nimmt, dass man über die Zukunft erst etwas sagen könne, wenn man die Vergangenheit bestimmt habe. Aber in der juristenüblichen Rede­ weise, man stelle einen Tatbestand fest, und bestimme damit, was in der Vergan­ genheit geschehen sei, steckt schon das Dispositiv, das in der Justiz wirksam wird. Man bestimmt und stellt fest, man tut also in der Gegenwart etwas, das man nur so darstellt, als beruhe die Darstellung nicht selbst auf einer aktiven Handlung. Vom Zeichenprozess her beobachtet, kann man ein solches Darstellungskonzept so gel­ ten lassen, durchschaut aber den Gestus. Die so geschaffenen Normen sind nicht so gebaut, dass man sie aus dem Gesetz unmittelbar ablesen könnte, sondern man braucht – etwa um zu wissen, aufgrund welchen Tatbestands man Schadensersatz in Geld verlangen kann – eine Verfeinerung durch Lehre und Rechtsprechung. Da­ für muss man den Tatbestand selbst herstellen, was nicht heißt, dass man beliebige Wege gehen könnte. „Selbst“ heißt: so, wie es andere, bedeutende Juristen und vor allem bedeutende Gerichte schon getan haben. Ein Beispielsfeld dafür ist die Beleidigung. Modern erstattet man im Falle der Beleidigung nicht mehr Anzeige, sondern man erhebt Schmerzensgeldklage we­ gen Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Noch bis 1945 war der Begriff oder das Rechtsgut der Ehre oberster Bezugspunkt für alle herabsetzenden Äußerungen und Angriffe. Es schien auch gesetzlich klar zu sein, dass es dafür nicht zivilrechtlichen Geldausgleich geben könne, weil das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 bestimmte, 46 BGHSt 47, 68, Urt. v. 4.7.2001 (2 StR 513/00), und in: ders., Sache BVerfGE 110, 26–274, Urt. v. 30.3.2004 (2 BvR 1520/01).

316

IX. Die Norm

dass immaterielle Schäden – und die Beschädigung der Ehre ist etwas deutlich Im­ materielles – nicht in Geld ausgeglichen werden sollten. Man versteht unter diesen Vorzeichen vielleicht auch, weshalb das Duell bis in die Weimarer Republik hinein trotz normativer Ächtung seine faktische Kraft behielt.47 Dann tauchten Anfang der Fünfzigerjahre mehr oder weniger plötzlich und unvermittelt Kläger auf, die einen Persönlichkeitsschaden liquidieren wollten. Was damit tatbestandlich gemeint sein sollte, war nicht bekannt bzw. soweit es bekannt war, konnte man wissen, dass es wohl erfolglos sein würde, eine unerbetene Darstellung der Person als Vermögens­ wert in Geldbeträgen zu messen und für die Darstellung Ausgleich zu verlangen. Der Rechtsanwalt des berüchtigten Dr. Hjalmar Schacht war der Erste, der es den­ noch erfolgreich versuchte, weil eine von ihm als Anwalt abgegebene Stellung­ nahme gegenüber einer Zeitschrift als „Leserbrief“ abgedruckt worden war, wäh­ rend sie doch nach schon aktuellem Normverständnis eine Gegendarstellung war. Dieser Rechtsanwalt setzte sich mit seinem Begehren durch, den Abdruck seines Schriftsatzes in der Zeitungskolumne der Leserbriefe als persönlichkeitsverletzend aufzufassen und dafür die Zeitung zu einer Geldzahlung zu verurteilen.48 Welche normstürzende Bedeutung diese Fallentscheidung hatte, war 1954 mög­licherweise keinem der Beteiligten klar. In der Kette der Normen waren jedenfalls mehrere Symboltatbestände freigelegt, die man erst später als solche formulierte. Die ge­ ringste symbolische Wirkung bestand noch darin, dass anstelle von Ehre plötzlich „Persönlichkeit“ als Rechtsgut auftauchte, obwohl der einschlägige Schadenser­ satztatbestand (§ 823 Abs. 1 BGB) Eigentum, Körper, Gesundheit u. a., nicht aber die Persönlichkeit nennt. Man hätte (trotz anderer Begründungen in den Motiven der Beratungen zum BGB) die Persönlichkeit vielleicht als nicht genanntes „sons­ tiges Recht“ verstehen können. Das tut man jedenfalls heute und beruft sich da­ bei zusätzlich auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949, das dem alten BGB eine neue Bedeutung gegeben habe. Die Redeweise überdeckt, dass Normen des Grundgesetzes wie Art. 2 über die Handlungsfreiheit und Art. 1 über die Würde mithilfe der Zweitheit von Gerichts­ entscheidungen zu symbolischen Tatbeständen für Dritte werden. Symbolisch nicht einfach ist dabei die Verteidigung der neuen Regel gegen eine offensicht­ lich entgegenstehende Tatbestandsausnahme im BGB, die einst besagte, dass im­ materielle Schäden nicht in Geld ausgeglichen werden sollten (§ 253 BGB a. F.).49 Diese Vorschrift galt, aber sie hinderte die Gerichte nach 1954 gleichwohl nicht, für Persönlichkeitsrechtsverletzungen einen Geldausgleich zuzusprechen. Dahin­ ter steckt eine methodische Paradoxie, über deren Grundlage gerätselt wurde und wird. Wenn man sie positiv auflöst, dann hat der Bundesgerichtshof in der Leser­ brief-Entscheidung im Interesse des neu geschaffenen Grundrechtsschutzes genau 47 Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, 240–256. 48 BGHZ 13, 335, Urt. v. 25.5.1954 – I ZR 211/53 („Schacht – Leserbrief“). 49 Friedrich Müller, ‚Richterrecht‘. Elemente der Verfassungsinterpretation IV, Berlin 1986, 68.

2. Tatbestand und Rechtsfolge

317

jene Entwicklung einleiten wollen, die dann folgte. Weniger freundlich geht die Version zur Entscheidungsherstellung dahin, dass eine stille Koalition von „Nazi Old Boys“ sich ein Rahmenrecht geschaffen hat, mit dem nach Bedarf operiert werden kann.50 Wirklich ist der Persönlichkeitsrechtsbedarf bei Bankpräsidenten, Schauspielerinnen und Ex-Kaiserinnen entstanden.51 Verlässt man die Spekulation zum Paradox, dann bleibt in juristischer Sprechweise einfach nur ein Verstoß ge­ gen eine eindeutige gesetzliche Vorschrift. Der Verstoß ist erst fast 20 Jahre spä­ ter benannt worden, als nämlich der früheren persischen Kaiserin Soraya wegen der Fiktion eines Interviews Geldersatz wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung zu­ gesprochen worden ist und über die Revision zu entscheiden war. Dazwischen la­ gen andere bedeutende Urteile, in denen die Gerichte sich gegenseitig bestätigt hatten, dass es ein Persönlichkeitsrecht gebe und dass dafür im Verletzungsfall Geld zu zahlen sei. Brüggemeier berichtet von diesen Entscheidungen und entwi­ ckelt in der Beobachtung jene Gegenläufigkeit von Normen und Folgen, die bei der Lektüre einzelner Entscheidungen erst einmal nicht auffällt. Die Serie beginnt mit „Schacht-Leserbrief“ und reicht über Männer, deren Fotografie für Potenz­ mittel verwendet worden ist („Herrenreiter“52) oder deren Bild nur überhaupt ver­ wendet worden ist (Paul Dahlke53), bis zu einem liberalen, strafrechtskritischen Judikat des Bundesverfassungsgerichts zugunsten des damaligen Chefpräsiden­ ten Richard Schmid, der sich – etwas heftig, aber aus heutiger Sicht fast sachlich – dagegen gewehrt hatte, von dem auch damals schon marktbeherrschenden Maga­ zin „Spiegel“ den ehedem fürchterlichen Vorwurf angeheftet zu bekommen, er sei ein „Kommunist“.54 Alle diese Entscheidungen schienen im Ergebnis berechtigt, ihr Tatbestand zwang allerdings nicht unbedingt dazu, in der Folge alle Persönlichkeitsrechtsver­ letzungen mit Geld zu kompensieren. Im Falle der Bildbenutzung hätte man auch eine mögliche Lizenzzahlung für die Benutzung von Fotografien als Äquivalent zusprechen können, rechtstheoretisch gesehen: Mit der Rechtsfolgenwahl konnte man auf Tatbestandslücken reagieren, sie schadeten nicht für Ergebnisse, die man als gerecht ansehen mochte. Rechtsfolgenwahl konnte beim anonymen Herren­ reiter oder bei Paul Dahlke und Catarina Valente helfen (weil alle diese der Be­ nutzung ihres Bildes gegen Geld hätten zustimmen können), wurde aber nicht als Begründung herangezogen. Rechtsfolgenwahl ermöglicht aber auch die andere Richtung, die doch keinen Geldersatz bereithält, obwohl ein Portrait ohne Erlaub­ nis verwendet worden ist. Im Jahre 1999 verwendete der Autoverleiher „Sixt“ ein Foto von Oskar Lafontaine nach dessen überraschendem Rückzug aus der rot-­ 50 Gert Brüggemeier, „Du sollst dir kein Bildnis machen …“ Der I. Zivilsenat und die Para­ doxien des Persönlichkeitsrechts, in: Gralf-Peter Callies u. a. (Hrsg.), Soziologische Jurispru­ denz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, 231–248 (236). 51 Müller (Fn. IX. 49), 77. 52 BGHZ 26, 349, Urt. v. 14.2.1958 („Herrenreiter“). 53 BGHZ 20, 345, Urt. v. 8.5.1956 (Paul Dahlke). 54 BVerfGE 12, 113, Beschl. v. 25.1.1961 (Schmid – Spiegel).

318

IX. Die Norm

grünen Bundesregierung mit der Unterschrift: Sixt verleast auch Autos für Mit­ arbeiter in der Probezeit.55 Norm und Rechtsfolge werden in ein Abwägungsver­ hältnis gesetzt, das Lizenzverhältnissen fremd ist. Das Bundesverfassungsgericht wertete die Bildrechtsverletzung nämlich als nicht gewichtig, weil die Anzeige vor allem dem satirischen Interesse der Öffentlichkeit diene. Dennoch gibt es die Norm der Ausgleichszahlung bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts. Sie ist seit dem Soraya-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts56 unangefochten und ist auf einen tautologischen Topos gestützt worden, wonach es ein Persönlichkeits­ recht und den Geldersatz bei seiner Verletzung gibt, weil Gerichte schon lange ge­ sagt haben, dass es ihn gibt und auch die juristischen Autoren es würdig fanden, dass es so etwas gibt. Friedrich Müller hat das unverblümt kommentiert:57 „Unter Missachtung der vom Grundgesetz vorgesehenen Normenkontrollverfahren – die Zivilgerichte hätten nach Art.  100 Abs.  1 GG vorlegen können  – rechtfertigt, ja ­feiert das Bundesverfassungsgericht eine Praxis von gesetzeskorrigierendem Richterrecht.“ Damit war ein Tatbestand contra legem geschaffen  – wenn man denn der Meinung ist, dass die Zweitheit des Textes besonderer Gegenstand der lex sein kann. Mit ihr ist meist ein aktiver, gegenwärtiger Zugriff auf zukünftige Maßnahmen verbunden. Das sind die Rechtsfolgen, die – wie das Persönlichkeits­ recht zeigt – schon die Normausgestaltung begleiten. Im Allgemeinen bleibt die aktive Folgenbestimmung Politikern und Soziolo­ gen vorbehalten und wird der politischen Planung zugeordnet. Juristen sollen et­ was anderes tun, Politiker und Soziologen meinen gelegentlich, es sei juristisch geradezu verboten, sich gestalterische Überlegungen zu Rechtsfolgen zu machen. Der Blick auf die Genese von Tatbeständen lehrt etwas anderes, wenngleich ein Unterschied bleibt. Tatbestände werden im Blick auf Fälle entwickelt, Planungen und Überlegungen dazu bleiben kleinteilig und sind abgekürzt. Eine reale Folgen­ abschätzung ist unmöglich und wird auch gar nicht angestrebt. Die Input-Grenze könne nicht an der Output-Grenze gezogen werden, hat Niklas Luhmann das et­ was idiosynkratisch, aber selten grundsätzlich vorgeführt.58 Trotzdem wird über Folgen entschieden, und die Wirkung solcher Entscheidungen bleibt nicht nur symbolisch. Mit einem Blick auf die Tatbestände des Diebstahls, der Beleidigung und Geldwäsche ist man konfrontiert mit Strafrahmenbestimmungen für Verge­ hen, die von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren (Beleidigung) zu solchen bis zu fünf Jahren (Diebstahl und Geldwäsche) reichen, jeweils mit Geldstrafe als Al­ ternative unterlegt, wobei sowohl der Tatbestand des Diebstahls wie auch der der Geldwäsche in Strafzumessungsregeln (§§ 243, 261 Abs. 4 StGB) Merkmale des schweren Falls vorhalten, die zu Strafrahmen zwischen drei oder sechs Monaten und zehn Jahren führen und die Geldstrafe nicht mehr zulassen. Die strukturierte 55 BGHZ 169, 340 (GRUR 2007, 139), Urt. v. 26.10.2006; dazu Brüggemeier (Fn. IX. 49), 242–245. 56 BVerfGE 34, 269, Urt. v. 14.2.1973 (Soraya). 57 Müller (Fn. IX. 49), 69. 58 Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart u. a. 1974, 36.

2. Tatbestand und Rechtsfolge

319

Botschaft, die davon ausgeht, führt die Folgenbestimmung zu anderen Kriterien, als die akademische Rechtslehre sie diskutiert. Normativ gesehen gibt es für die Rechtsfolgenbestimmung ebenfalls einige Tat­ bestände, nämlich vor allem § 46 StGB, gefolgt etwa von § 47 und § 56 StGB. Die Grundregel des § 46 StGB ähnelt strukturell dem Geldwäschetatbestand und wird im Rechtsunterricht trotz ihrer enormen praktischen Bedeutung allenfalls ein­ mal erwähnt, aber nicht gelehrt. Sie eröffnet Möglichkeiten, die der Tatbestand in seiner Handlungsbeschreibung einzuengen scheint. Man weiß nicht mehr, wie ein Dieb bestraft wird, wenn die Rechtsfolge des Diebstahls mit dem Rahmen einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe gesetzt wird, und man weiß es noch weniger, wenn man weiß, dass ein Strafverfahren so gestaltet werden kann, dass es ohne Urteil eingestellt wird (unter Auflagen). Auf der Rechtsfolgenseite wird die Rechtsnorm so geöffnet, dass Festlegungen auf Tatbestandsseite prak­ tisch folgenlos bleiben.59 Dieser Befund ist nicht auf das Strafrecht beschränkt. Zwar könnte man denken, dass ein Auswahlermessen für Rechtsfolgen in Zivilsachen schon deswegen ent­ fällt, weil das Gericht an die Anträge der Parteien gebunden ist und diese gehal­ ten sind, genau – nämlich in vollstreckungsfähiger Tenorierung (Kap. VII. 2.) – zu formulieren. Aber abgesehen davon, dass es dem Gericht unbenommen bleibt, we­ niger als beantragt zuzusprechen, gibt es große Bereiche wie das Schadensrecht, in denen Beschränkungen auf Tatbestandsseite mit Erweiterungen auf der Folgen­ seite konkurrieren und jedes Ergebnis normativ unsicher machen. Wichtige Tat­ bestände (der positiven Vertragsverletzung oder der unerlaubten Handlung), deren Rechtsfolge in der Verpflichtung besteht, Schadensersatz zu leisten, bürden dem Gericht eine Zumessung der Verletzungsfolgen auf. Das ist – auch wenn das ma­ terielle Zivilrecht diesen Ausdruck nicht kennt – eine Ermessensfrage. Schadens­ recht ist zur eigenen Disziplin geworden und hat dazu geführt, dass die Beschädi­ gung eines Kraftfahrzeugs Folgen nach sich zieht, die bei der Beschädigung eines Kühlschranks unbekannt sind. Die Beeinträchtigung des Urlaubs durch Reisemän­ gel hat zu einem eigenen Normensystem geführt (§§ 651 a-m), das aus der Scha­ densrechtsprechung entstanden ist. Eine vergleichbare Regelung für Mängel einer Mietsache gibt es nicht, so dass alles, was hier von Bedeutung ist – vom tropfenden Wasserhahn bis zum durchtropfenden Dach – durch eine Kasuistik der Rechtspre­ chung (Kap. XI. 3.) behandelt werden muss. Allerdings sieht man an den Zusätzen durch §§ 536 a-d, dass tatbestandliche Einschränkungen für mögliche Schadens­ folgen in den letzten 20 Jahren die Norm erweitert haben. Grundsätzlich gehört die Frage, was ein Schaden denn sei, noch zu den tatbestandlichen Fragen, bei denen man bestreiten kann, dass der Schadenserfolg durch die schädigende Handlung ver­ ursacht worden ist, oder man kann ein Mitverschulden des Schädigers behaupten. 59 Wolfgang Naucke, Konturen eines nach-präventiven Strafrechts, KritV 1999, 336–354 (344); ders., Das System der prozessualen Entkriminalisierung, in: Erich Samson u. a. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1999, 403–418 (405).

320

IX. Die Norm

Im praktischen Zivilrecht sind die prozessualen Möglichkeiten aber so eng mit den tatbestandlichen Voraussetzungen verknüpft, dass die Begrenzung auf der einen mit erweiterten Möglichkeiten auf der anderen Seite dazu führt, dass jeden­ falls vom geschriebenen Recht her Ergebnisse kaum vorherzusagen sind. Zivil­ rechtlich gibt es dafür die folgenreiche Unterscheidung nach Grund und Höhe. Der Grund des Anspruchs betrifft die Tatbestandsseite und führt in vielen Fällen dazu anzunehmen, dass ein Anspruch überhaupt – eben dem Grunde nach – be­ steht. Aber das bestimmt noch nicht die Höhe, denn die Höhe eines Wertausgleichs oder Schadensersatzes ist häufig viel schwieriger und differenzierter zu entschei­ den als die Frage nach dem Grund. Der Unterschied kann so gravierend sein, dass ein Urteil im Ausspruch nach Grund und Höhe getrennt ergeht (§ 304 ZPO), auch wenn das für die Prozessführung der Beteiligten selten nützlich ist. Die Parteien wissen häufig selbst nicht, worauf sie sich mit Schadensersatzbegehren einlassen. Im Falle einer dem Grunde nach berechtigten Klage führen die Überhöhungen in der Anspruchsfolge nicht selten dazu, dass eine Partei materiell so viel Geld er­ streitet, wie sie prozessual verliert. Diese Unübersichtlichkeit in der Rechtsfolge eröffnet den Markt für Rechtsschutzversicherungen. In kleinen Zivilsachen haben versicherte Parteien das Feld für sich. Ihre Hartnäckigkeit lässt sich messen.60 Mit der Kostenzusage der eigenen Versicherung lässt sich trefflich streiten – denken Privatleute zumindest solange, bis im Unterliegensfalle die Kostenforderung der Gegenseite präsentiert wird, denn die Kosten der Gegenseite werden vom eigenen Versicherer nicht ersetzt. Dass man sie zu tragen hat, müsste man wissen. Im Ganzen ergibt sich für ein so grundlegendes Schema wie das von Tatbestand und Rechtsfolge ein irritierender Befund: Was zunächst und auf der einen Seite dif­ ferenziert und in viele fachliche Ausdrücke zerlegt wird, ist auf der anderen Seite die Vorlage für eine generalisierte, fachlich kaum strukturierte Folgenwahl. Man kann auch umgekehrt von der Folgenseite her irritiert werden: Wo es klar unter­ schiedene, grundlegend andere Rechtsfolgen gibt wie Geld- oder Freiheitsstrafe, Nachbesserung einer mangelhaften Sache oder Umtausch, Geldzahlung oder Wi­ derruf und Entschuldigung, da sind diese Folgen teilweise rechtlich gar nicht ka­ nonisiert, weil Entschuldigung oder Umtausch im Normprogramm nicht vorkom­ men, und soweit Folgen dort vorkommen, hängt ihre Zuordnung zum Tatbestand von einem Ermessensakt ab, den die juristische Dogmatik als Ermessen gar nicht wahrnimmt. Auch Strafzumessung oder Examensbenotungen sind nach neuerem Verständnis in mehr oder weniger umfassender Weise rechtlich gebunden, Rechts­ anwender, insbesondere Richter können dabei nicht tun und lassen, was sie wollen. Aber niemand kann anhand der Oberfläche der Codierung oder anhand der Wort­ wahl für Tatbestand und Rechtsfolge vorhersagen, wie die Zuordnung ausfallen wird. Wer es doch versucht (und gelegentlich sogar erfolgreich vorhersagt), muss auf etwas anderes als auf die Worte von Tatbestand und Rechtsfolge achten. Die postmoderne Norm erfährt man im Prozess ihrer Herstellung. 60 Erhard Blankenburg/Jan Fiedler, Die Rechtsschutzversicherungen und der steigende Ge­ schäftsanfall der Gerichte, Tübingen 1981, 96–113.

3. Zurechnung und Zuschreibung

321

3. Zurechnung und Zuschreibung Tatbestände beschreiben Tathandlung und Taterfolg ebenso wie einige Umstände der Tat, nur den Täter beschreiben sie nicht. Er oder sie sind: Wer … Zivilrecht­ lich kann man „Wer“ noch nicht einmal aus dem Gesetz ablesen, sondern muss aus dem Satz des § 535 Abs. 1 Satz 1 BGB eine Anspruchsgrundlage auf Zurver­ fügungstellung der Wohnung und aus Abs. 2 auf Mietzahlung herleiten, also den Gesetzessatz oberflächlich umformulieren, wenn man einen Tatbestand ermitteln will. Wer Ansprüche stellt oder wer handelt, ist dann zwangsläufig auch Täter oder aus einer Tat Verpflichteter. Das ist offensichtlich, wenn der Anspruchsverpflich­ tete seine Verpflichtung höchstpersönlich begründet hat oder der Täter eigenhändig vorgeht. Aber schon wenn eine Hausverwaltung den Mietvertrag abschließt oder ein Dritter auf Geheiß seines Arbeitgebers eine unechte Urkunde herstellt, sind Zu­ rechnungsregeln notwendig, mit denen das Handeln anderer wie eigenes behan­ delt werden kann. Bei Geheißtaten oder Verwalterabschlüssen liegt die Sache von Gesetzes wegen einfach. Der Verwalter wird aufgrund rechtsgeschäftlicher Voll­ macht tätig (§ 164 BGB), und es kann dann höchstens noch fraglich sein, aus wel­ chen Umständen der Vertragspartner auf das Bestehen einer Vollmacht schließen kann und darf. Darf er annehmen, dass eine gewerbsmäßige Wohnungsverwaltung nicht eigenmächtig vermietet, sondern eben dafür beauftragt ist, oder muss er ab­ warten, bis der Verfügungsberechtigte selbst durch Unterschrift den Abschluss ge­ nehmigt, muss also verlangt werden, dass der selbst abschließende Verwalter ein Vollmachtsdokument (§ 172 BGB) vorlegt? Das sind schon nicht mehr ganz selbst­ verständliche, aber doch routiniert und programmgemäß lösbare Fragen. Ob aber jemand eine Maklerprovision für die Vermittlung einer Wohnung beanspruchen darf, wenn er vom Eigentümer für die Vermittlung gar nicht beauftragt ist, geht schon über den Kreis der Routinelösungen hinaus. Die Zurechnung von Folgen auf Handlungen sowie dann von Handlungen auf Täter (oder eben Handelnde)  ist zunächst einmal eine normative Operation mit dem Gesetz. Man sucht neben und hinter dem Tatbestand nach weiteren Normen, die etwa darüber Auskunft geben, wie es zu beurteilen ist, wenn mehrere handeln. In Strafsachen enthält das Gesetz eine Reihe anerkannter und nicht ernsthaft zu bezweifelnder Zurechnungsregeln. Gehandelt wird eben oft nicht nur von einem, sondern von mehreren (§ 25 Abs. 2 StGB). Manche, die handeln, sind nicht Täter, sondern Anstifter (§ 26 StGB) oder Gehilfen (§ 27 StGB). Mittäterschaft, Anstif­ tung und Beihilfe sind alte und anerkannte Institute der Strafrechtsdogmatik und beruhen auf differenzierten Anforderungen zum objektiven wie subjektiven Tat­ bestand. So geht man von Mittäterschaft aus, wenn ein gemeinsamer Tatplan be­ steht und der Täter einen Teil  der Tatausführung übernimmt. Schwieriger wird es in dem gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten Fall, in dem ein gemeinsamer Plan gar nicht besteht und derjenige, der die Straftat plant, zur Ausführung nichts beiträgt.61 Mittelbare Täterschaft ist eine Erfindung der ­Strafrechtsdogmatik, die 61

Klaus Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, Baden-Baden 1967, 210.

322

IX. Die Norm

man aber nicht als Erfindung verstehen, sondern als im Konzept der Täterschaft enthalten ausgeben möchte.62 Fest steht nur, dass man eine Tat nicht selbst ausfüh­ ren muss, um sie zu begehen. Man kann sich zur Ausführung eines Werkzeugs be­ dienen, das im Übrigen gut- oder bösgläubig sein kann, ohne dass das die Täter­ eigenschaft berührte; gleichzeitig ist der Ausführende nicht notwendig auch Täter, wenngleich der Satz im Raume steht, dass Täter jedenfalls sei, wer alle Merkmale der Tat in seiner Person verwirkliche. Jedenfalls bauen die strafrechtlichen Zu­ rechnungsregeln auf Verabredungen, Absichten und Plänen auf, die für die Tatbe­ teiligten festgestellt werden sollen. Schwierig und mit den traditionellen Mitteln der Dogmatik nicht mehr lösbar sind Verläufe, in denen sich der Plan nicht nach­ weisen lässt, das Handeln aber  – nach außen oder von außen beobachtet  – den Eindruck erweckt, als würden gemeinsam und abgestimmt Verbrechen begangen. Zurechnung kann man herkömmlich nur deuten, indem die fehlenden Ausfüh­ rungsteile durch Planungsaktivitäten ersetzt werden. Wenn Soldaten eines Gene­ rals nach dem Überfall auf unbewaffnete Dörfer in der zentralafrikanischen Re­ publik Frauen und Mädchen vergewaltigen,63 lässt sich das mit Aussicht auf Erfolg dadurch verteidigen, dass der General schweigt oder sich dahin einlässt, davon habe er weder etwas gewusst, noch habe er es gebilligt oder gar angewiesen. Es müsste für die Zurechnung fremder Taten nämlich einen Tatplan gegeben haben, den man positiv feststellen müsste – es sei denn, man lässt es schon ausreichen, dass Völkerrechtsexperten feststellen, Massenvergewaltigungen seien wegen ih­ res dauerhaft stigmatisierenden Effekts bei den Opfern ein geeignetes Mittel zur Unterwerfung ganzer Länder und würden von Befehlshabern regelmäßig zum Be­ standteil einer Besetzung gemacht. Dann bliebe so etwas wie abgestimmtes Ver­ halten als mindere Stufe eines gemeinsamen Plans. Planung und Beschlussfassung bleiben aber die Zurechnungsformen für eine am Tatbestand orientierte Justiz. „Wer“ legt von der indexikalischen Zuordnungspraxis her außerdem nahe, dass eine Person handelt. Das juristische Personenschema hat aber durch symbolische Erfindungen eine Komplexität erreicht, der das Personenschema der Tatbestände noch nicht entspricht. Seit langer Zeit haben juristische Personen denselben Sta­ tus wie natürliche, und juristische Personen sind Menschen wie du und ich, wenn sie ein fiktives Wir bilden. Juristische Person sind die Bundesrepublik Deutsch­ land, das Land Nordrhein-Westfalen, die SG Dynamo Dresden oder die Bayer AG. Diese Personen – so kann man jedenfalls die Geschichte der Fallerzählung verste­ hen (Kap. XI. 1.) – begehen Straftaten, oder es ist – abgesehen von Faktizität und Nachweis – denkbar, dass sie solcher beschuldigt werden. Die Unternehmensstraf­ barkeit wird in der Strafrechtslehre lebhaft diskutiert. Die Gesetzgebung hat auf die Diskussion insofern reagiert, als ein sogenanntes objektives oder selbstständi­ 62 Günter Spendel, Zum Begriff der Täterschaft, in: Cornelius Prittwitz u. a. (Hrsg.), Fest­ schrift für Klaus Lüderssen, Baden-Baden 2002, 603–611. 63 Der „Bemba Case“, am 21.3.2016 verurteilt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Mord, Vergewaltigung, Verschleppung und Freiheitsberaubung durch den International Criminal Court (ICC-01/05-01/08).

3. Zurechnung und Zuschreibung

323

ges Verfahren (§ 76 a StGB) gegen juristische Personen wegen Verfalls (§ 73 StGB) oder Einziehung (§ 74 StGB) eingeleitet werden kann, wenn ansonsten niemand verfolgt werden kann. In der Norm des § 76 a StGB ist die Einschränkung enthal­ ten, dies gelte, wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt werden könne. Die bestimmte Person ist dann die natürliche Per­ son. Die Ikonizität des Rechts hat keinen Erlebnisrahmen für diese Erweiterung des Personenschemas. Weil die Rechtsfolgen einer Norm etwa in der Verhän­ gung von Freiheitsstrafe bestehen und eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, ein Verein oder eine Aktiengesellschaft nicht eingesperrt werden können, meint man, dass ihnen Straftaten auch nicht persönlich zugerechnet werden können, und sucht weiter nach Plänen und Absprachen zwischen den handelnden Tätern und den bestellten Organvertretern dieser juristischen Personen. Geld hingegen kön­ nen solche juristischen Personen bezahlen. Das ist das Feld objektiver Verfahren (§§ 73–75 StGB). Insofern werden gegen juristische Personen zwar keine Geldstra­ fen verhängt, es werden aber Gelder eingezogen oder für verfallen erklärt, sofern man nur annehmen kann, dass Körperschaft, Firma oder Verein durch die Straftat etwas erlangt haben. Die Firma kann die Kosten ordnungsgemäßer Abfallbeseiti­ gung erspart haben, der Verein kann Eintrittsgelder für den Besuch seiner Sport­ veranstaltungen erlangt haben. Alles das könnte eingezogen werden. So sehr im Strafrecht die Zurechnung zu Unternehmen Sondervorschriften ver­ langt oder solcher Vorschriften entbehrt, so unproblematisch ist im Zivilrecht die Zurechnung von Mitarbeiterhandeln zum Unternehmen. Das Institut der Erfül­ lungsgehilfenschaft (§ 278 BGB) eröffnet ebenso wie die Haftung für Verrichtungs­ gehilfen (§ 831 BGB) die Zurechnung zum Unternehmen, die oft auch wegen der Zahlungsverpflichtungen allein erstrebt ist. Soweit das alte Privatrecht noch eine Differenzierung zwischen deliktischer und vertraglicher Zurechnung kannte und für die Haftung nach § 831 BGB die Exkulpation zugelassen hat, sind solche al­ ten Differenzierungen mehr und mehr in die neuere Frage verlagert worden, wel­ che vertraglichen und vorvertraglichen Verpflichtungen ein Auftragnehmer gegen­ über Dritten hat. Die Einbeziehung Dritter in die Rechtssphäre des Vertrags ist ein Modell der dogmatischen Zurechnung geworden, wie sie in den gesetzlichen Re­ geln, so wie man sie früher verstanden hat, nicht enthalten war. Aber auch der an­ dere Weg der Zurechnung über Delikt wird eröffnet. Die Elektrozuleitung durch­ trennt im Zweifel nicht der Geschäftsführer einer Firma, sondern ein Arbeiter. Dafür war ursprünglich der „Verrichtungsgehilfe“ als Zurechnungsfigur in § 831 BGB vor­gesehen, aber weil man sich für dessen mögliches Verschulden exkul­ pieren kann, befriedigt diese Norm nicht mehr die Ansprüche, den eine um er­ weiterte Haftung bemühte Gesellschaft heutzutage jedem schädigenden Verhal­ ten beilegt. Wer einen Schaden erleidet, hält es postmodern für selbstverständlich, dass es einen Haftenden dafür gibt. Ein Teil dieser Selbstverständlichkeit ist in die­ Kreation gegen jedermann wirkender „Verkehrspflichten“ eingegangen, die heut­ zutage das System der absolut geschützten Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 BGB aner­ kanntermaßen erweitern. Das war ein normatives Problem und von Bar hat gesehen,

324

IX. Die Norm

dass die ­„gesetzliche Vorausbestimmtheit der Haftung abnimmt, wenn man im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung neue Pflichten in Schadensersatz­urteilen schafft.64 Dogmatisch ist ein neuer Tatbestand geschaffen worden, funktional han­ delt es sich um ein Modell der Zurechnung, das gegenüber jedermann, also mit de­ liktischer Unbedingtheit nach § 823 Abs. 1 BGB wirkt. Die Entwicklung hat einst mit der Begründung von Verkehrssicherungspflichten an Sachen, Wegen und Ver­ kehrs­f lächen begonnen und heute zu einer „sektor- und rollenbezogenen Haftung“ geführt, die Brüggemeier von Produzentenpflichten über ärztliche Behandlungsund Aufklärungsfehler bis zur Krankenhausträgerhaftung darstellt.65 Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Sicherung eines Verkehrs im Sinne der Fortbewegung auf einem Grundstück, sondern um allgemeine Verhaltenspflichten, etwa bei der Produktion einer Sache oder vorangegangenem, noch nicht einmal notwendig ge­ fährdendem Tun. Unter „Zurechnung“ muss man in diesem Zusammenhang eine symbolische Operation verstehen, durch die für sich genommen neutralem Han­ deln, dem man einen Haftungsgrund nicht ansieht, durch die Einführung weite­ rer Kontexte ein solcher Grund doch beigegeben wird, und zwar durch gesetzlich verkündete anerkannte Normen. Derjenige, dem zugerechnet wird, muss dann für­ Erfolge eintreten, auch wenn er sie selbst aktuell nicht herbeigeführt hat. Das ist aber nur die Oberflächenstruktur des Rechtscodes, eben jener Teil, der aus dem Codex explizit entnommen werden kann. Aber auch für jede Zurechnungs­ norm muss am Ende jemand (und das sind keineswegs immer Richter) sagen, dass sie vorliegt und die Zurechnung „zu Recht“ erfolgt. Normen werden auf Normen und nicht einfach auf Handlungen zugerechnet. Das ist einfach, wenn die Person, die von der Norm betroffen ist, der Zurechnung zustimmt. Dann ist auch das Jus­ tizdispositiv überflüssig. Im antagonistischen Justizdispositiv ist mit einer Zustim­ mung aber nicht nur nicht zu rechnen, sie soll verfahrensmäßig geradezu verhin­ dert werden, etwa indem der schwerer Straftaten Angeschuldigte von Amts wegen einen Verteidiger beigeordnet bekommt, der der Anklage tendenziell entgegentritt. Insofern scheint es also nur so, als ob die Zurechnung auf Verhalten und Absichten derjenigen angewiesen sei, denen Handlungen zugerechnet werden. Zwar wird im Recht tatbestandlich darauf abgestellt, dass es um die Ergründung und Vergegen­ ständlichung fremden Verhaltens gehe (wenn es um Zueignungs-, Bereicherungs-, Ausnutzungsabsichten o. ä. geht). Der Antrieb, Absichten, Vorsatz oder Fahrläs­ sigkeit zu ergründen und zuzurechnen, liegt aber ersichtlich nicht bei denen, die handeln, sondern bei denen, die zurechnen (wollen). Zurechnung ist ein semioti­ sches Schema für den Zugriff auf ein Verhalten, das intern auch anders verstanden werden kann. Um nicht an interne Maßstäbe gebunden zu sein, werden zum Zweck einer Zurechnung vorzugsweise objektivierbare Merkmale benutzt. Der Tatplan, der Merkmal einer Mittäterschaft sein soll, ist dabei ein merkwürdiger Zwitter. 64

Christian von Bar, Verkehrspflichten. Richterliche Gefahrsteuerungsgebote im deutschen Deliktsrecht, Köln u. a. 1980, 168. 65 Gert Brüggemeier, Haftungsrecht. Struktur, Prinzipien, Schutzbereich. Ein Beitrag zur Europäisierung des Privatrechts, Bremen 2006, § 6 (394–519).

3. Zurechnung und Zuschreibung

325

Man könnte ihn sich als Ergebnis eines Ratschlags bei der Wilden Dreizehn vor­ stellen, aber normalerweise findet niemand das Dokument der geplanten gemein­ samen Straftaten. Nur ganz wenige bürokratisch strukturierte Verbrecherorgani­ sationen bringen es tatsächlich fertig, den Plan des Massenmordes so kurz und bündig zu protokollieren, wie das Adolf Eichmann auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1941 erledigte. Seitdem versucht die Justiz allerorts, verbrecherische Pläne zu entdecken, oder – wenn man sie denn in Dokumentform nicht erwarten darf – von Beteiligten bezeugt zu hören oder – wenn weder Dokumente noch Zeu­ gen Pläne verraten – solche Pläne aufgrund gewisser Umstände zuzuschreiben. Zuschreibung ist kein Ausdruck im Gesetzbuch und ist doch für jede Form der Zurechnung unentbehrlich. Wenn man Sprechweisen unterscheiden will, gehört der Ausdruck „Zuschreibung“ in das Vokabular der Soziologie, und zwar heute vorzugsweise einer anklägerisch etikettierenden Sozialforschung. Allerdings fin­ det man in den Arbeiten von Forschern wie Aaron Cicourel oder Peter McHugh viel weniger Anklage, als die rezipierenden Juristen es unter dem Namen eines labeling approach wahrnehmen.66 Zuschreibungen sind Teil notwendiger Situations­ deutung. Man muss den Zusammenhang verstehen, in dem andere handeln – und kann sich dabei täuschen. Aber selbst die Täuschung ist Zweitheit des Zeichens, so dass die Annahme, etwas sei real, mindestens zu realen Folgen führt.67 Die Sozio­ logen sprechen in diesem Zusammenhang von Situationsdefinitionen, und die Ge­ richtsbeobachtung von Aaron Cicourel konzentriert sich auf genau diesen Effekt, also auf die Annahme von Juristen und Gerichten, etwas sei so und müsse eben deshalb normbestimmte Konsequenzen haben.68 Das gesamte sprachliche Handeln erscheint grundlagentheoretisch auf „Situationsdefinitionen des Sprechers und den Situationsinterpretationen des Hörers“ zu beruhen. Fritz Schütze hat das in einer umfänglichen theoretischen Arbeit ausgeführt und seine eigene Gerichtsbeobach­ tung auf Situationsdefinitionen, etwa im heute historisch gewordenen Anerken­ nungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer, konkretisiert.69 Die situationsdefinierende Zuschreibung gehört nun einerseits zur Grundaus­ stattung im Zeichenprozess, ist aber normativ nicht ohne Weiteres gerechtfertigt. Schütze hat am früheren KdV-Verfahren die schnellen, schematisierten Definiti­ onsprozesse beanstandet, mit denen die vielfältigen Sachverhaltserzählungen der Antragsteller ihres Gewissensgehalts beraubt wurden. Die Art und Weise der Zu­ 66 Klaus Lüderssen, Gebotene Zuschreibung?, 307–318 (310); Winfried Hassemer, Person, Welt und Verantwortlichkeit. Prolegomena einer Lehre von der Zurechnung im Strafrecht, 350–372 (362f), beide in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Bd. I: Legitimationen, Baden-Baden 1998. 67 Peter McHugh, Defining the Situation. The Organization of Meaning in Social Inter­ action, Indianapolis/New York 1968, 8. 68 Aaron V. Cicourel, The Social Organization of Juvenile Justice, New Brunswick/London 1967, 112–123. 69 Fritz Schütze, Sprache – soziologisch gesehen, München 1975, 511 f.; ders. (Fn. VIII. 44), 19–100.

326

IX. Die Norm

schreibung steht in jedem konkreten Verfahren infrage. Es kommt darauf an, mit welchem Toleranzrahmen zugeschrieben wird und in welchem Umfang Zuschrei­ bungen selbst Gegenstand des Diskurses sind oder auch revidiert werden. In der ju­ ristischen Verfahrenspraxis sind Zuschreibungen nicht selten das eigentlich End­ gültige, das der Revision besser widersteht als jedes Entscheidungsergebnis. Die Mitglieder des Rechtsstabs befassen sich danach gar nicht mit den Einzelheiten einer angeklagten Tat, sie suchen gar nicht die Wahrheit bestrittener Umstände, sondern verfügen eben durch Zuschreibung der entscheidenden Merkmale dar­ über, dass etwas wirklich so sei, wie man es sage und aufgeschrieben, nämlich ins Urteil hineingeschrieben habe. „Zuschreibung“ ist insofern ein negatives Wertprä­ dikat und wird unterschieden von Feststellungen, die sich auf Tat­sachen und ratio­ nale Beweisergebnisse beziehen. Zuschreibung gilt unter Juristen als willkürliche Attribution. Der kulturellen Praxis wird das nicht gerecht. Insgesamt kommt der Zuschreibung grundlegende sozialwissenschaftliche Bedeutung zu. Im Schema von ascription vs. achievement hat Talcott Parsons Handlungen erfasst und da­ mit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf Eigenschaften der Person anders als auf deren Handlungen reagieren. Bis zum heutigen Tage legt die Askription in einem kulturwissenschaftlichen Verständ­ nis Statuseigenschaften extern fest. Forscher der Stanford University haben dazu den Merksatz formuliert: „Ascription means that status is attributed to you by things like birth, kinship, gender, age, interpersonal connections, or ­educational record.“70 Das muss man für den Rechtsgebrauch in Verfahren übersetzen, also – wie Niklas Luhmann hervorgehoben hat71 – die vermeintlichen Eigenschaften des Seins in ein Zeitschema übersetzen, in dem zugeschriebene Merkmale vergangene Festlegungen betreffen und zur Zukunft hin offen sind. Die rechtliche Zukunft ist die des Verfahrens. Zuschreibungen finden hier Ein­ gang in dem Maße, in dem Verfahren erweitert oder abgekürzt werden. Zum Ver­ fahren gehört dabei, dass zunächst einer darlegen kann, was sich in der Welt er­eignet habe, und darauf warten darf, ob und inwieweit diese Darlegung im Ver­ fahren Widerspruch findet  – entweder weil ein Gegner die Darstellung bestrei­ tet, oder weil die maßgeblichen Amtsträger ihr nicht glauben. Wenn das nicht der Fall ist, werden Eigenschaften ohne Weiteres zugeschrieben, ohne dass man Be­ weismittel braucht. Nur dann, wenn Tatsachen als „streitig“ erscheinen, tritt man in ein über Beweismittel (Kap. VI. 3.) streng geregeltes oder auch durch Mittel der Glaubhaftmachung frei ablaufendes Beweisverfahren ein, an dessen Ende freilich auch wieder die justizielle Feststellung steht, dies oder jenes sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als wahr anzusehen. Auch an dieser Stelle muss zugeschrie­ ben werden, so dass es im Rechtsverfahren unterschiedliche Formen der Zuschrei­ bung gibt: je nach Länge des Verfahrens umstandslos sofortige, unterbrochen auf­

70

http://seibert.biz/stanford. Niklas Luhmann, Schematismen der Interaktion, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, 83. 71

3. Zurechnung und Zuschreibung

327

geschobene bis zu späten, umkämpften Zuschreibungen. Immer beruhen sie auf justizeigenen, abschließenden Zeichenverwendungen. Das Zeichenkonzept der Zuschreibung ist nur lose mit der Diskussion über den labeling approach verbunden, wie sie Eingang in die Kriminologie gefunden hat. Der These, es seien Definitions- und Zuschreibungsprozesse, die darüber ent­ schieden, ob ein Verhalten als kriminell erachtet werde oder nicht,72 kann für sich genommen nicht widersprochen werden, sie ist aber auch banal. Kriminalsozio­ logisch brisant wird diese These nur dadurch, dass mit ihr tatsächliche oder ver­ mutete Aussagen über die rechtliche Zweitheit verbunden werden, der Art nämlich, dass die Regeln für die Zuschreibung des Verbrechens schichtenspezifisch selektiv ausfielen, Mitglieder der Unterschichten, Angehörige anderer Hautfarbe, Frauen oder – wie es Neubacher in Anlehnung an ein Lied von Franz-Josef Degenhardt plastisch sagt – „Schmuddelkinder“ verhaftet, inhaftiert, bestraft und weggesperrt würden, während andere – weiße, wohlhabende Männer – gar nicht belangt wür­ ­ oward Beckers den oder jedenfalls besser davonkämen. Zuschreibung im Sinne H erfasst und betrifft „Außenseiter“, so dass Kriminalität in diesem Sinne zielgerich­ tet geschaffen wird, indem herrschende gesellschaftliche Gruppen Regeln aufstel­ len, deren Verletzung dann als abweichendes Verhalten bestraft wird.73 Das Kon­ zept betrifft Makrostrukturen der Gesellschaft, für die es einzelne Belege gibt, die aber schwierig zu beurteilen sind. Nicht sie sind gemeint, wenn in der Folge die Zuschreibung einzelner Tatbestandsmerkmale im Justizdispositiv vorstellt wird. Semiotische Zuschreibungen sind Handlungen, deren Besonderheit H. L. A. Hart einst in Kontakt mit dem jüngeren Austin über „The Ascription of Responsibility and Rights“ herausgearbeitet hat.74 Sie erfassen die spezifisch richterliche Auf­ gabe, das Vorliegen eines Begriffs oder Tatbestands anzunehmen, und kommen in dieser Funktion auch alltäglich vor, weil eine Aussage wie „This is his“ nicht nur hinweisend ist. Auch wenn eine Beweisaufnahme nicht stattfindet, liegt in der ge­ richtlichen Aussage, von einer Behauptung sei auszugehen, die Feststellung, sie sei glaubhaft, weil man andernfalls auf eine Beweisaufnahme hätte hinwirken müs­ sen, sich also nicht einfach mit irgendeiner hanebüchenen Scheintatsache begnü­ gen darf. Eben das ist eine Zuschreibung. Sie setzt einen Schlusspunkt unter einen prinzipiell und möglicherweise unendlichen Zeichenprozess. Hart hebt hervor, dass Zuschreibungen auf einem widerlegbaren (defeasible) Verfahren beruhten und Ein­ wände wie Gegeneinwände im gleichen Akt verarbeiteten oder zurückwiesen.75 Sie stellen insoweit eine besondere Klasse im System der Sprechakte dar, weil sie Wahrheit zuschreiben, aber selbst nicht in einem logischen Sinne wahr oder falsch sein können. Die Askription unterscheidet Hart von der Deskription. Sie sei nicht 72

Frank Neubacher, Kriminologie, 2. Aufl., Baden-Baden 2014, 107 (Rz. 10.5). Howard S. Becker, Außenseiter, Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt a. M. 1973, 8. 74 Herbert L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Antony G. N. Flew (Hrsg.), Logic and Language, Oxford 1951, 145–166. 75 Hart (Fn. IX. 74), 152. 73

328

IX. Die Norm

in gleicher Weise wahrheitsfähig, setze stattdessen eine Behauptung in Kraft oder markiere eine Situation, so dass schon allein der Satz „This is mine“ zuschreibend wirken muss,76 weil er die Eigentums- oder Besitzbehauptung in einem Kontext ver­ ankert, der rechtlich voll komplizierter Voraussetzungen, Regeln und Ausnahmen sein kann. Man kann möglichen Ausnahmen nachgehen oder einfach behaupten: Das ist meins und das deins. Insofern ist eine Zuschreibung linguistisch nichts an­ deres als eine prädizierende exklusive Bezugnahme. Man hat ein Objekt im Sinne und behauptet exklusiv dafür ein Zeichen. Diese von Hart hervorgehobene Beson­ derheit steht auf der Stufe, auf der Kant in der Metaphysik der Rechtslehre prakti­ sche Urteilskraft verlangt hat. Irgendwann muss man im System mehr oder weniger leerer Allgemeinbegriffe zum anwendenden Ergebnis kommen und sagen, worum es geht. Dafür ist – insbe­ sondere im strafrechtlichen – Rechtssystem noch eine Zusatzbedingung zu beach­ ten. Zuschreibung ist hier auch notwendig, weil Angeklagte sich nicht selbst belas­ ten müssen. Sie sind nicht gehalten, im Rahmen eines Geständnisses die Wahrheit der Anklage zuzugestehen. Selbst wenn sie es tun (etwa weil sie es aus dem ang­ loamerikanischen Strafverfahren so gewohnt sind), ist der von Amts wegen ermit­ telnde Strafrichter gehalten zu überprüfen, ob das Geständnis wahr, ausreichend detailliert und insgesamt glaubwürdig ist. Umgekehrt muss in irgendeiner Sprach­ form die unglaubhafte Einlassung des leugnenden Angeklagten zurück­gewiesen und an seiner Stelle die Kenntnis der gesetzlichen Tatmerkmale „festgestellt“ wer­ den, wie es in der amtlichen Ausdrucksweise des Justizdispositivs heißt. Das ist eine Aufgabe des Tatrichters mit der Folge, dass Zuschreibungen überhaupt eine Sache des tatrichterlichen Urteils sind und in der Revision (und damit auch in der veröffentlichten Rechtsliteratur) nur insoweit auftauchen, wie man mit ihnen nicht einverstanden ist. Im Ganzen kann man zusammenfassen: Die Feststellung normativer Tatsachen setzt ein gestuftes Verfahren voraus, in dem es Stationen, Rollen und Begründungen gibt, wobei früher oder später ein Sprechakt des Zu­ schreibenden notwendig wird, der eben hinschreibt, etwas sei so, wie man es dann nachlesen kann. In der Reihe der Beispiele soll deshalb als erster Fall eine beanstandete Zu­ schreibung stehen, an der man ablesen kann, wie die Wahrheitsfrage verschoben wird. In einer rechtspolitisch ebenso brisanten wie berühmten Sache hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts eine tatrichterliche Bedeutungszuschreibung beanstandet, die eine ganze Serie von Einzelentscheidungen betraf. Gegenstand war in all diesen Fällen der inzwischen Rechtsgeschichte gewordene Satz „Solda­ ten sind Mörder“, der teilweise genau in dieser (von Tucholsky erstmals kreierten) Form auftaucht oder auch in allerlei Abwandlungen. Eine dieser Abwandlungen betraf eine eigentlich sprachlich verunglückte Version, adressiert an amerikani­ sche Soldaten als „A soldier is a murder“, deretwegen der Angeklagte vom Tat­ richter wegen Beleidigung verurteilt worden ist. Es gibt in der englischen Sprache 76

Hart (Fn. IX. 74), 158 f.

3. Zurechnung und Zuschreibung

329

zwar das Wort murder, gemeint wird damit aber keine Person. Person ist hinge­ gen der Mörder, der ganz ähnlich oder fast genauso wie murder klingt. Wie geht man damit um? Vielleicht handelt es sich um mangelhafte Beherrschung des Engli­ schen – oder auch gerade nicht. Die verfassungsgerichtliche Beanstandung lautet:77 (1) „Im Unterschied zur Vorinstanz hat das Landgericht das Vorbringen des Beschwerde­ führers, er habe bewußt den Ausdruck „murder“ = Mord anstelle des Ausdrucks „mur­ derer“ = Mörder verwendet, um die aktive und die passive Rolle des Soldaten als Täter und Opfer auszudrücken, als wahr angesehen. Der Beschwerdeführer, der undifferen­ ziert jede Tötungshandlung von Soldaten als „Mord“ bezeichne, habe durch das Spruch­ band den am Manöver beteiligten Soldaten, namentlich den nahe seinem Aufenthalts­ ort in Stellung gegangenen US-Soldaten, und der Bevölkerung einen Denkanstoß geben wollen. Dem Beschwerdeführer sei aber bewußt gewesen, daß das englische Wort „mur­ der“ = Mord wie das deutsche Wort „Mörder“ klinge und deshalb von Personen, die der englischen Sprache weniger mächtig seien als er, leicht verwechselt werden könne; ihm sei ferner bewußt gewesen, daß ein Mörder ein Schwerstkrimineller sei, der mit lebens­ langer Freiheitsstrafe bedroht werde.“

Während das Amtsgericht (das im Ergebnis ebenfalls verurteilt hat) also von einem Versehen ausgegangen ist (aber dann hätte sich der Angeklagte geirrt, was Folgen für den Tatbestand hätte haben können, die nicht erörtert wurden), hat ihm das Landgericht die für ihn ungünstigste Auslegungsvariante zugeschrieben. Da­ nach war ihm nicht nur der Sprachfehler bewusst, sondern er hätte die zwischen­ sprachlichen Fehlerverständnisse auch noch bewusst ausnutzen, nämlich den deut­ schen „Mörder“ zum englisch-amerikanischen murder umetikettieren wollen. Man sieht an diesem Beispiel, dass die Zuschreibung von nicht erklärten Sprach­ normen Gebrauch macht, deren Inhalt man dem Sprachbenutzer unterstellt. Die Zuschreibung eröffnet eine Wahlfreiheit der Tatbestandsbegehung, die erstaunen muss, wenn man vom Schema des Normaufbaus nach Tatbestand und Rechtsfolge ausgeht und den Tatbestand an beweisbare Tatsachen gebunden sieht. Deshalb er­ scheint es auch anstößig, Elemente des Tatbestands nicht objektiv dem Täter an­ lasten zu können, sondern darin ein aktives Element der entscheidenden Gerichte zu sehen. Diese Aktivität überführt man lieber in Wahrheitsfragen. Klaus Gün­ ther hat deshalb vorgeschlagen, zwischen dem „Für-wahr-halten“ und dem „WahrSein“ zu unterscheiden, weil man sich über die Wahrheit auch einer Zuschreibung irren könne, sie prinzipiell also durchaus wahrheitsfähig sei.78 Dafür könnte (1) sprechen, weil die Verfassungskontrolle offenbar die fachgerichtliche Zuschrei­ bung als nicht tatsachengerecht beanstandet. Das Bundesverfassungsgericht stellt entscheidend darauf ab, dass es auch eine andere als die zur Strafbarkeit führende Deutung gebe.79 Insofern beruht die Aufhebung des Urteils nicht etwa darauf, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ oder im Sinne des zweitinstanzlichen Tatrichters 77

BVerfGE 93, 266 im Verfahren 1 BvR 1476/91 („Soldaten sind Mörder“). Klaus Günther, Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung auf der Grundlage des Verstehens, in: (Fn. IX. 65), 319–349 (344). 79 BVerfGE, Bd. 93, 266 unter Ziff. V I a-c. 78

330

IX. Die Norm

übersetzt „Ein Soldat ist ein Mörder und wird gemordet“ gerechtfertigt wäre. An­ geblich beruht die Auslegung auf einer mangelhaften Tatsachengrundlage. Aber solche Tatsachenfeststellungen sind regelmäßig gar nicht weiter durch Objektrela­ tionen aufklärbar. Die Begründung im verfassungsgerichtlichen Urteil läuft des­ halb über drei oder mehr Interpretanten und jedenfalls über zwei Objekte, die aus­ einanderzuhalten sind. Objekt ist nicht nur der Satz selbst, zum Objekt wird auch die Wirkung seines Verständnisses. Dieses Objekt steckt hinter der „konkreten Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz“,80 die das Bundesver­ fassungsgericht mehrfach zitiert und verlangt. Die konkrete Abwägung kann nur das gegenteilige Ergebnis haben, so dass die Interpretantenbewegung weder frei ist noch wahrheitsfähig, sondern eben zuschreibungsabhängig. Das Bundesver­ fassungsgericht hat seine alternative Zuschreibung gegen politischen Meinungs­ widerstand durchsetzen müssen, weil es alle in dieser Entscheidung behandelten Äußerungen weder als Schmähkritik noch als Formalbeleidigung hat gelten las­ sen. Umgekehrt ist das Bundesverfassungsgericht gerade wegen dieser Entschei­ dungen heftig gerügt und befehdet worden.81 Zuschreibung ist eine prekäre, aber unvermeidliche gerichtliche und darüber hinaus allgemein juridische Aufgabe. Wer sie vornimmt, operiert, als wäre er ein Gericht.82 Unvermeidlich ist sie, weil auch im Alltag zugeschrieben werden muss, was jemand gemeint haben könnte. Allgemein wird bei der Auslegung von Äuße­ rungen zielgerichtet festgestellt, dass jemandem etwas bewusst sei. Dazu werden auch keine Sprachsachverständigen benötigt. Bis zum heutigen Tage bestimmen die Gerichte selbst, wie man eine Äußerung zu verstehen hat. Gerechtfertigt wird das mit dem obergerichtlichen Leitsatz:83 (2) „Liegen keine Besonderheiten vor, kann der Tatrichter regelmäßig von allgemein ver­ breiteten, durch die Verkehrsanschauung und den rechtlichen Rahmen bestimmten Erwartungen auf den tatsächlichen Inhalt konkludenter Kommunikation schließen. Ein derartiger Schluss des Tatrichters von den Gesamtumständen eines Geschehens, die auch von normativen Erwartungen geprägt sind, auf einen bestimmten Kommuni­ kationsinhalt führt nicht zur ‚Fiktion‘ einer Erklärung.“

Das ist die methodische Rechtfertigung von Zuschreibungen, wobei das Pro­ blem des mangelnden Beweisverfahrens weder diskutiert noch überhaupt gese­ hen wird. Die Sätze in (2) stammen aus einer im Verfahren durchaus überraschen­ den Entscheidung über den betrügerischen Charakter manipulierter Fußballwetten (damaliger Fall „Hoyzer“: Die Angeklagten haben einen Schiedsrichter bestochen, damit er – meist unterklassige – Fußballspiele so leitete, dass die von ihnen vor­ hergesagte Mannschaft gewann). Dabei hätte man nicht darüber gestritten, dass es 80

BVerfGE, Bd. 93, 266 lit.a. Michael Hepp/Viktor Otto, Soldaten sind Mörder. Dokumentation einer Debatte 1931–1996, Berlin 1996, 242. 82 Hart (Fn. IX. 74), 157. 83 BGHSt Urt. v. 15.12.2006 – 5 StR 181/06 – Bd. 51, 165 (Sportwettenbetrug). 81

3. Zurechnung und Zuschreibung

331

anstößig und strafbar sei, den Schiedsrichter mit dem Ziel zu bestechen, eine be­ stimmte Mannschaft in einem Spiel siegen zu lassen, durchaus fraglich war aber, ob der Inhaber eines Wettscheins mit dessen Abgabe erklärt hat, er werde sich normgerecht verhalten. Eben eine solche „Erklärung der Manipulationsfreiheit“ schreibt der Bundesgerichtshof dem Wettteilnehmer zu und gewinnt damit einen Strafbarkeitsraum, den die Bundesanwaltschaft im gleichen Verfahren zugunsten der Angeklagten noch verneint hatte. Das Ergebnis ist nicht ganz überraschend und entspricht einer ikonischen Rechtsvorstellung, wonach es eben nicht mit rech­ ten Dingen zugeht, wenn man auf den Verlauf eines Geschehens Einfluss nimmt, das man sich als „von selbst“ ablaufend denkt. Juristisch methodisch zeigt das Bei­ spiel ein wiederkehrendes Muster für Zuschreibungen. Es wird nicht einfach eine Einstellung zugeschrieben mit der Behauptung: Der Angeklagte wollte täuschen (obwohl er das abstreitet). Dann stünden einfach Behauptungen gegeneinander. Stattdessen werden kleinteilige tatsächliche Umstände benannt, für die man ent­ weder andere Beweismittel als die Einlassung des Angeklagten mobilisiert oder auf nicht streitige, scheinbar allgemein anerkannte Faktoren zurückgreifen kann. So geschieht es hier. Blass und wenig greifbar sind die „allgemein verbreiteten, durch die Verkehrsanschauung und den rechtlichen Rahmen bestimmten Erwar­ tungen,“ die der BGH zitiert. In sie wird nun die Zuschreibung hineinverlegt. Zwar wird man sagen können, dass in Vertragsverhältnissen die Erwartung besteht, dass sie sich nach Recht und Gesetz abwickelten, aber so allgemein wäre die Erwartung nur tautologisch und würde gerade nicht die feststellungsbedürftige Einzelheit aussagen, dass man nicht manipuliert, wie die Wettangeklagten es getan haben, sich also überhaupt immer ordnungsgemäß verhält. Das muss konkretisiert werden und fällt mit der folgenden Begründung an der Oberfläche auch nicht mehr auf:84 (3) „Zwar reicht die allgemeine Erwartung, der andere werde sich redlich verhalten, für die Annahme entsprechender konkludenter Erklärungen nicht aus. Abgesehen davon, dass die Vertragspartner aber ein Minimum an Redlichkeit im Rechtsverkehr, das auch verbürgt bleiben muss, voraussetzen dürfen (vgl. Cramer/Perron aaO § 263 Rdn. 14/15), ist die Erwartung, dass keine vorsätzliche sittenwidrige Manipulation des Vertrags­ gegenstandes durch einen Vertragspartner in Rede steht, unverzichtbare Grundlage je­ den Geschäftsverkehrs und deshalb zugleich miterklärter Inhalt entsprechender rechts­ geschäftlicher Erklärungen. Dem Angebot auf Abschluss eines Vertrages ist demnach in aller Regel die konkludente Erklärung zu entnehmen, dass der in Bezug genommene Vertragsgegenstand nicht vorsätzlich zum eigenen Vorteil manipuliert wird.“

Die subjektive Seite, die in wirtschaftlich komplexen Fällen darzustellen schwie­ rig wird, vereinfacht man, indem Tatsachen eingeführt und festgestellt werden, die zu begreifen dann ganz einfach erscheint. Im obigen Spielmanipulationsfall wird auf diese Weise eine Erklärungsfiktion unterstellt, von der es heißt, es handele sich um eine stillschweigende Selbstverständlichkeit. Tatsächlich wirkt es selbst­ verständlich, dass man einen Vertragsgegenstand nicht vorsätzlich zum ­eigenen Vorteil manipulieren darf. Durchaus nicht selbstverständlich ist die g­ leichzeitige 84

BGHSt (Fn. IX. 83).

332

IX. Die Norm

Annahme, das werde auch erklärt. Damit wird Subjektives verobjektiviert. Die Auffassung, beim Abschluss einer Sportwette erkläre der Wetter zugleich die Nichtmanipulation des sportlichen Ereignisses, wird in der Entscheidung zu einer eigenen Tatsache gemacht, an die sich dann alles andere reibungslos anschließen kann. Normativ bedeutsam ist dabei, dass und wie der Fallbereich der Norm durch Zuschreibung erweitert wird. Wenn man näher hinsieht, bemerkt man, dass die Zuschreibung subjektiver Tatmerkmale weniger durch problematische Wissensbehauptungen erfolgt, son­ dern eher durch die Kleinarbeitung objektiver Umstände, die dann ins Wissen des Angeklagten verschoben werden können. Das Wirtschaftsstrafrecht bietet für diese Methode vielfältige Belege. So gab es einmal Überlegungen zur Filmför­ derung mit entsprechenden anlagebegünstigenden Steuervorteilen. Der deutsche Film sollte durch privates Kapital Mittel erhalten, und die Privatleute wollte man motivieren, dies zu tun, indem sie Verluste, die bei der Filmproduktion entstehen, steuer­mindernd geltend machen konnten. Das führte dazu, dass viele Gelder in Fonds eingezahlt worden sind, auf deren Gewinne man gar nicht hoffen musste, weil es für die Anleger ausreichte, eigene andere Gewinne nicht versteuern zu müssen. Der Vorteil des Fondsanlegers bestand vor allem in der Steuer­ersparnis, die im Übrigen umso größer ausfällt, je weniger Erfolg der Fonds hat. Das ist aber nicht ohne Weiteres rechtswidrig. Vielmehr machen solche Fondslösungen im An­ satz nur von der allgemein verbreiteten politischen Unfähigkeit Gebrauch, Geld angemessen verteilen, streuen oder gar sinnvoll verwalten zu können. Eine Sub­ vention kann viele Wirkungen haben, nur eine ist immer gewiss: Dass auch dieje­ nigen von ihr Gebrauch machen, die sie eigentlich nach Ansicht der Geld verteilen­ den Politiker nicht hätten bekommen sollen. Die große Koalition in Deutschland hat nach 2005 die steuerliche Filmförderung zwar anstößig gefunden, aber nicht ändern wollen. Stattdessen ließ man die Finanzverwaltung herausfinden, dass ver­ schiedene der steuerlich anerkannten Filmfonds gar keine gewesen seien (sondern stattdessen Geldmarktfonds). So wurde es jedenfalls im Nachhinein zugeschrie­ ben, weil das eingezahlte Geld zum überwiegenden Teil  durch die Fonds geld­ marktähnlich verwahrt und nur zu einem kleinen Teil, etwa einem Fünftel der ein­ gezahlten Summen, für Filmproduktionen verwendet worden ist. Dass man das nicht habe tun dürfen, war nicht offensichtlich. Es wird erst offensichtlich, wenn man den Investitionsvorgang so darstellt wie in einem Urteil des Landgerichts München, das Freiheitsstrafen von zwei und sechs Jahren verhängte:85 (4) „Der tatsächliche Geldfluss wurde so organisiert, dass der Fonds 100 % der budgetier­ ten Produktionskosten ‚zur Zahlung der Produktionskosten‘ auf ein Konto überwies, das auf den Namen des Produktionsdienstleisters bei der schuldübernehmenden Dresd­ ner Bank errichtet worden war. Von dort wurde durch den PDL vereinbarungsgemäß die bei der Bank anzulegende Summe (gesondert oder mit anderen Beträgen) weiter auf ein Konto überwiesen, das ebenfalls bei der schuldübernehmenden Dresdner Bank, 85

LG München 4 Kls 313 Js 38077/05, 13.

3. Zurechnung und Zuschreibung

333

aber auf den Namen des Lizenznehmers errichtet worden war. Als Verwendungszweck wurde ¸Darlehen‘ bzw. ‚inter company loan‘ angegeben, um darzustellen, dass Zah­ lungsgrund ein Darlehen (Inter Company Loan) zwischen PDL und LN, die jeweils zur gleichen Firmengruppe gehörten, sei. Dieses Darlehen war zu keinem Zeitpunkt ernst­ haft gewollt und wurde auch nicht praktiziert, was die Angeklagten auch wussten.“

Auf den letzten Satz kommt es an. Er ist Kern wie Ergebnis einer Tatsachen­ darstellung, die den Geldverkehr zwischen unterschiedlichen Firmen als Verschie­ bebahnhof ein und derselben Firma unter der Verantwortung ein und derselben Angeklagten erscheinen lassen soll. Zugeschrieben wird das Fehlen ernsthaften Willens. Dem dienen die Prädikationen „als Verwendungszweck angeben“, „ver­ einbarungsgemäß weiter überweisen“ wie auch „den Geldfluss organisieren“, und dem dienen auch die beim unbefangenen Lesen nicht selbstverständlichen Ab­ kürzungen wie PDL und LN, die indizieren, dass „Produktionsdienstleister“ wie „Leasingnehmer“ nicht selbsttätige gewerbliche Akteure, sondern nur gleichför­ mig abzukürzende Adressen sind. Die dabei angewendete Technik der Zuschrei­ bung ist komplex. Zwar steht am Ende der aus der mündlichen Urteilsbegründung zitierte ebenso simple wie übliche Satz „Beide Angeklagten wussten, dass die Angaben in den Steuererklärungen falsch waren“,86 aber dieses Wissen wird nicht einfach etwa unmittelbar behauptet. Die Begründung für Zuschreibungen, die er­ folgreich sind, erfolgt mittelbar, und der Akt der Zuschreibung wird durch Zweit­ heit, d. h. durch die Einführung äußerer Umstände vorbereitet. Die Organisation des Geldflusses, mit der die Satzreihe in (4) beginnt, ist dabei wichtig, weil sie als ein System unechter Zahlungen beschrieben werden soll. Wenn das gelingt, kann die innere Tatsachenwahrheit verhältnismäßig knapp behandelt werden. Da­ bei wird die Kenntnis auf Augenschein reduziert, nämlich auf das Ansehen von Überweisungsträgern:87 (5) „Die Einlassung des Angeklagten A, den Geldfluss vorab nicht gekannt zu haben, wird widerlegt durch die Aussage der Zeugin B, die die Fund Flow Memos vorbereitet, ver­ schickt und gesammelt hat. Die Zeugin B gab nämlich weiter an, dass die einzutragen­ den Zahlen jeweils mit dem Angeklagten A und den Rechtsanwälten abgestimmt wor­ den seien. Der Angeklagte A habe jeweils die komplette Überweisung gesehen, so habe er auch die Überweisung vom Fonds an den PDL unterschrieben. Bei VIP 3 sei das Geld für die Schuldübernahme immer aus Mitteln des PDL gekommen, der LN habe nie di­ rekt das Geld für die Schuldübernahme bezahlt.“

Die Zuschreibung wird erleichtert durch eine hauptverhandlungstypische Ein­ lassung der Art: Ich weiß von allem nichts. Dagegen lassen sich eigentlich im­ mer viele Einzelheiten aufbieten, die zumindest eine gewisse Kenntnis nahele­ gen. Hier geht die zugeschriebene Kenntnis weiter, und das Gericht benutzt das beliebteste aller strafprozessualen Beweismittel, die Zeugenaussage. Eine Zeugin habe „angegeben“, dass die Zahlen mit dem Angeklagten und den Rechtsanwäl­ 86

FAZ v. 13.11.2007. LG München I Urt. v. 13.11.2007 – 4 Kls 313 Js 38077/05, 33.

87

334

IX. Die Norm

ten abgestimmt worden seien. In vier Sätzen kann eine Einlassung zurückgewie­ sen werden, die darauf besteht, dass Geld zwischen drei unterschiedlichen Firmen transferiert worden ist, und das Ergebnis lässt sich in einen einzigen Satz fassen, der lautet:88 (6) „Nach alledem ist die Kammer davon überzeugt, dass die Verantwortlichen des Fonds, d. h. die beiden Angeklagten die Zahlungsreihenfolge und den Geldfluss festgelegt ha­ ben und dies in den Vertragsverhandlungen auch nicht zur Disposition der Beteiligten stellten.“

Damit wird die Schlussfolgerung aus einer insgesamt über 15 Seiten reichenden Beweiswürdigung zusammengefasst. Sie unterscheidet sich nicht mehr von jedem anderen Beweisergebnis, das äußere Tatsachen beträfe; die innere kann wie eine äußere Tatsache behandelt werden. Das Ergebnis lässt sich dann rechtlich als be­ griffliche Subsumtion darstellen:89 (7) „Steuerlich sind diese 80 % kein ‚Aufwand‘. Denn sobald die 80 % bei der Bank ein­ gehen, sind sie zugunsten des Fonds zu verzinsen und bilden dessen Guthaben, weil einzig der Fonds am Ende der Laufzeit berechtigt war, die Auszahlung zu verlangen. Eine solche Hingabe von Geld an die Bank zum Zwecke der Kapitalanlage ist keine Betriebsausgabe, weil sie schon keine ‚AUSGABE‘ ist. Auf eine betriebliche Veran­ lassung kommt es daher nicht an.“

Den scheinbar rein begrifflichen Charakter der „AUSGABE“ erkennt man an den Großbuchstaben. Der Tatrichter präsentiert die Feststellung in der schlichtes­ ten Form wörtlicher Subsumtion, die nicht mehr ausgeführt werden muss: Wenn jemand Geld ausgibt, muss er es an jemand anderen weggeben. Wenn er es behält, gibt er es eben nicht aus. Man muss dieses Verfahren eine „Zuschreibung“ nennen, auch wenn man bemerkt, dass eine ganze Reihe zivil- und strafgerichtlicher Ur­ teile nicht zustande kämen, gäbe es solche Zuschreibungsprozesse nicht. Weder die Gerichtsurteile noch ihre Kritiker noch auch nur die veröffentlichten Methodenlehren kennen den Ausdruck „Zuschreibung“ als methodisches Merk­ mal. Man redet von „Zurechnung“ und verlangt, in rechtsstaatlich kontrollierter Weise, Erfolge auf Handlungen und Handlungen auf Personen zuzurechnen. Ge­ dacht wird dabei an symbolische Normtexte, mit denen eine solche Zurechnung möglich ist, nicht aber an Fälle und Sachverhalte. Nicht gesehen wird jener we­ sentliche Teil praktisch-juristischer Arbeit, den indexikalische Zeichen ausfüllen, die von außen kommend jene wesentliche Arbeit erledigen, die in jeder Metho­ denlehre vorausgesetzt und in den leeren Satz gefasst wird, es sei eine Rechts­ frage, ob die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sei und die Beweismittel nicht ausschöpfe oder ob der Tatrichter überspannte An­ forderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt habe.90 88

LG München I 4 Kls 313 Js 38077/05, 35. LG München I 4 Kls 313 Js 38077/05, 71. 90 BGH, Urt. v. 21.6.1978 – 2 StR 46/78. 89

3. Zurechnung und Zuschreibung

335

Zuschreibungen können nicht auf jeder beliebigen Stufe der normativen Konkre­ tisierung vorgenommen werden. Das liegt am Verfahrenscharakter. Wenn gestrit­ ten wird und wenn die Zuschreibung im Justizdispositiv erfolgt, benötigt sie eine Vorbereitung und Absicherung, die sie von alltäglichen Behauptungen, wie Hart sie zitiert, unterscheidet. Es geht dann nicht mehr darum, einfach zu setzen „This is yours“ oder „This is his“, sondern es werden anfechtbare Umstände mobilisiert, die eine Begründung abarbeiten muss. Das tut sie nicht immer. Erscheint es so, als ob nicht Handlungen festgestellt, sondern nur Einstellungen ohne festgestellte Tatsachenwahrheit zugeschrieben werden, so hat auch der Freispruch keinen Be­ stand wie im Fall des Mannesmann-Verfahrens beim Landgericht Düsseldorf. Es ging um eine Anklage wegen Veruntreuung von Unternehmensgeldern für einen „goldenen Fallschirm“, mit dem der Vorstand verabschiedet worden ist. Das Ur­ teil wurde mit der Begründung aufgehoben:91 (8) „Die Beschlussfassungen vom 4.  Februar 2000 erfolgten innerhalb kürzester Zeit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur beschlossenen freundlichen Übernahme. Der An­geklagte Zwickel nahm an den Abstimmungen telefonisch nach einer nur kur­ zen mündlichen Information durch Prof. Dr. Funk teil, obwohl keine Eilbedürftig­ keit vorlag. Die Höhe der Sonderzahlung für den Angeklagten Dr. Esser, die für den Wirtschaftsstandort Deutschland außergewöhnlich war, wurde von den Präsidiums­ mitgliedern weder näher diskutiert noch begründet, vielmehr folgten diese dem mit der Übernehmerin Vodafone abgestimmten Vorschlag der Großaktionärin Hutchison Whampoa Ltd, deren Interessen offensichtlich nicht mit denen der Mannesmann AG übereinstimmten. Sie nahmen keinen Anstoß an der von ihnen erkannten Selbstbe­ günstigung des Angeklagten Prof. Dr. Funk mit Beschluss vom 4. Februar 2000, dem eine – letztendlich nicht ausbezahlte – Prämie von ca. 4,8 Mio. € zuerkannt wurde. Bei der am 17.  April 2000 beschlossenen und später ausbezahlten Anerkennungs­ prämie von ca. 3 Mio. € handelten die Angeklagten Dr. Ackermann und Zwickel mit der sachwidrigen Motivation, dem Wunsch des Prof. Dr. Funk nachzukommen, eine sachlich nicht gerechtfertigte Sonderzahlung zu erhalten (vgl. B. I.). Der Angeklagte Dr. Ackermann befürwortete diese Prämie, obwohl er zuvor von den mündlich und schriftlich geäußerten Bedenken der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zu den Sonderzahlungen für die aktiven Vorstandsmitglieder hinsichtlich Vertragsgrundlage, Veranlassung und Größenordnung Kenntnis erhalten hatte.“

Mit diesen Sätzen werden allgemeine Ausführungen des Senats zur Zulässig­ keit einer kompensationslosen Anerkennungsprämie auf den Tatvorwurf konkre­ tisiert und damit eine strafbare Absicht zwar nicht zugeschrieben (weil es sich um eine Revisionsentscheidung ohne tatrichterliche Feststellungen handelt), aber doch nahegelegt. Zu einer Verurteilung ist es im Ergebnis zwar nicht gekommen, die Begründung zeigt aber die Grenzen für Zuschreibungen. Es sind nach dem Sinn dieser Entscheidung Rechtsgrenzen, wobei das Recht mit der Regel, dass ein Dienstvertrag nachträglich nicht abgeändert werden dürfe,92 selbst die Gren­ zen setzen soll. Zuschreibungen machen insofern einen grundlegenden Bestand 91

BGHSt Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04  – Bd. 50, 331 (Fall Mannesmann). BGHSt (Fn. IX. 91).

92

336

IX. Die Norm

an Rechtssetzung innerhalb der Rechtsanwendung deutlich. Die Rechtsregel ist unter keinen Umständen in sich selbst ausreichend. Sie erfordert in jedem Akt der Anwendung die Zuschreibung, dass der hier dokumentierte Stand der Kon­ kretisierung abschließend sei und mit Recht als Recht bezeichnet werden könne. Die Geltung einer Norm wird unter diesen Umständen im Streitfall vom Gericht und dessen Urteilsgründen in Kraft gesetzt. Das ist eine notwendige Konsequenz, wenn man Normgeltung tatsächlich (und nicht nur vorstellungsweise) in Kraft set­ zen will. So wird auch verfahren, wenn die Norm scheinbar alles zulässt. Das ist der Fall bei:

4. Generalklauseln Wenn Tatbestand und Rechtsfolge die Grundelemente des normativen Zeichens sind, dann liegt in der Differenzierung von beiden der Versuch, Klassen von Zei­ chen zu trennen. Deshalb heißt die logische Grundoperation der Verknüpfung: Wenn p, dann q. Die Interpretation von p als Tatbestand und die von q als Rechts­ folge muss nun nicht notwendig auf eine andere Zeichenklasse verweisen. Das ist nur der Fall, wenn man beispielsweise p als Zeichen für Tatsachenzweitheit und q als symbolische Folgendrittheit versteht. So sind Straftatbestände verfasst. Wenn § 242 des deutschen StGB lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jah­ ren oder mit Geldstrafe bestraft.“

dann wird zwar der Tatbestand mit mehr oder weniger differenzierten Zeichen für Weltverhältnisse erfasst, nicht aber die Rechtsfolge. „Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe“ heißt, dass für die Gerichte im konkreten Fall alles offen bleibt und man vom Text her nicht weiß, wie die konkrete Höhe der Rechtsfolge zu bestimmen ist. Dafür gibt es sogar eine Norm, nämlich § 47 Abs. 1 StGB: „Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Um­ stände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Frei­ heitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung un­ erlässlich machen.“

So, wie diese Norm formuliert ist, wird man sie als Ausnahme für die – hier un­ terstellte, aber nicht formulierte – Regel verstehen müssen, die dahin geht, dass Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nicht verhängt werden sollen. Für die Strafe insgesamt gilt neben dieser Regel aber auch eine gesetzliche Norm, die immer anzuwenden ist, wenn im Strafurteil Rechtsfolgen zu bestimmen sind, nämlich § 46 StGB, dessen Absatz 1 generell besagt: Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Aber was ist „Schuld“? Darüber werden Abhand­ lungen geschrieben, die allein schon den Umfang der vorliegenden Arbeit errei­ chen. Das Gesetz sagt noch etwas darüber in Absatz 2, und das ist umfangreich:

4. Generalklauseln

337

„Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters (wobei neuerdings noch ‚rassistische, fremden­ feindliche oder sonstige menschenverachtende‘ besonders erwähnt werden), die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.“

Der Text wirkt so vielfältig, dass man nach Präzision schon nicht mehr fra­ gen kann, seine Vermittlungsleistung geht in eine andere Richtung. Er ist eine Generalklausel. Die Generalklausel enthält ein einheitliches Rechtszeichen und überlässt dessen Konkretisierung den Gerichten. Naucke hat die Bedenken für das Strafrecht formuliert, aber zugleich angemerkt, die gesetzgeberische ­Praxis sei anders.93 Das Rechtszeichen ist und bleibt „Schuld“, und für Schuld werden zwar weitere Zeichen angeboten, deren Verwendung ist aber normativ nicht fest­ gelegt. Weder wird ein Vorrangverhältnis begründet, noch werden eine Rang­ folge aufgestellt oder Anteile an der immerhin numerisch zu bestimmenden Rechtsfolge (wie 2 Jahre und 6 Monate)  festgelegt. Insgesamt gesehen ist das ungewöhnlich und könnte als Rückfall hinter bereits erreichte Differenzierun­ gen  – nämlich die zwischen Tatbestand und Rechtsfolge  – verstanden werden. Im Strafrecht dürften solche Generalklauseln eigentlich gar nicht vorkommen, weil normativ die verfassungsmäßige Regel aus Art. 103 Abs. 2 GG gilt. Infolge­ dessen vermeiden Kommentatoren im Strafrecht diesen Ausdruck. Die Wir­ kung können sie aber nicht vermeiden. In einem schlichten Satz heißt sie: Stra­ fen sind gesetzlich der Höhe nach nicht festgelegt, Strafen spricht das Gericht aus, und dabei bleibt es, wenn sie nicht durch ein anderes Gericht abgeändert wer­ den, was im Tatbestand auch nicht festgelegt ist. Die Generalklausel gibt dem­ jenigen, der sich auf sie beruft, also eine besondere Bestimmungsmacht, wobei die Macht zeichenpraktischer Art ist. Der Anwender und Verwender von Gene­ ralklauseln kann das Symbol des Gesetzes zum Index des Eingreifens machen. Er produziert Degenerationen des symbolisch entwickelten Zeichens, indem gehan­ delt wird. Eine Generalklausel, die man auch so nennt, ist Grundlage des Polizeirechts, das bis auf das allgemeine preußische Landrecht zurückgeht. Dort hieß es im 17. Ab­ schnitt des Zweiten Teils: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehen­ den Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“

93 Wolfgang Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, Tübin­ gen 1973, 8–11.

338

IX. Die Norm

Was für die Strafzumessung in eine Reihe gesetzlicher Normen aufgegliedert ist, die man zusammenfassen muss, um die Generalklausel zu erkennen, sagt die polizeiliche Generalklausel in einem Satz, noch genauer: in zwei Worten, die so inhaltsreich und auslegungsbedürftig sind wie die Schuld des Täters in § 46 StGB: nötige Anstalten, Maßnahmen also. Der später die Klausel aufgreifende § 14 des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 gibt bis zum heutigen Tage die Vorlage für die Formulierung gesetzlicher Generalklauseln. Er lautet: „Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem ein­ zelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“

§ 14 preußPVG ist § 10 ALR nachgebildet, und dieser galt nicht wegen seiner besonders einprägsamen Formulierung als vorbildlich, sondern wegen der Recht­ sprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts, die ihn – wie einige Staats­ rechtslehrer meinen – „zur staatsrechtlichen Grundnorm“ erhoben haben.94 Denn in der OVG-Rechtsprechung ist diese Generalklausel nicht wegen ihrer Weite oder etwa, weil sie (fast) alles erlaubte, angerufen worden, sondern zur Rechtfer­ tigung möglicher Beschränkungen. Der berühmteste Fall einer solchen Beschrän­ kung der Polizei (mit der Folge einer Begünstigung der Bauspekulation) war das „Kreuzberg-Urteil“, das eine Baubeschränkung zur gesetzlich nicht normierten Ordnungsmaßnahme erklärte, weil der Blick auf ein Denkmal verbaut würde.95 Die Generalklausel aus dem preußischen PVG kehrt in den heutigen Gesetzen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung wieder, in denen es wie in § 14 des nordrhein-westfälischen Ordnungsbehördengesetzes heißt: „Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren.“

Die indexikalische Formel lautet immer wieder: Wenn eine Gefahr besteht, können/müssen die notwendigen Maßnahmen getroffen werden. Aber was Gefah­ ren sind und was notwendig ist, das findet man nicht konkretisiert. Es bleibt der Auslegung im Einzelfall überlassen. Nun ist es nicht etwa so, dass Normen, die sich in der (Kap. IX. 2.) dargestellten Weise in Tatbestand und Rechtsfolge glie­ dern, keiner Auslegung bedürften und konkret vor Augen stünden, wenn sie an­ gewendet werden. Auslegungsbedürftig sind Paare von Tatbestand und Rechts­ folge ebenso wie Generalklauseln. Nur das Verfahren ist anders. Gesetzliche Tat­bestände, die sich nach Tatbestand und Rechtsfolge unterscheiden, haben auch unterschiedliche Instanzen, die jeweils bestimmen, was tatbestandsmäßig ist und welche Rechtsfolge sich später daraus ergeben soll. Die Ermittlungsbehörden mit der Staatsanwaltschaft kümmern sich um die Tatbestandsmäßigkeit und klagen konkrete Tatbestände an. Die Staatsanwaltschaft darf und soll auch einen An­ 94 Stefan Nass, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931. Ein Beitrag zur Geschichte des Polizeirechts in der Weimarer Republik, Tübingen 2003, 117. 95 Nass (Fn. IX. 94), 119.

4. Generalklauseln

339

trag zur Rechtsfolge stellen, aber nicht mehr. Die Strafe selbst gehört allein zum Ausspruch des Gerichts, das in diesem Rahmen – weil eben die in der Tat zum Ausdruck kommende Schuld Grundlage der Strafe ist – den Tatbestand feststel­ len muss, aber eben nur so weit es zur Strafbemessung erforderlich ist. Die poli­ zeiliche Generalklausel ermöglicht mehr. Sie erlegt der Polizei in einem Akt die Feststellung des Notwendigen und gleichzeitig auch die Bestimmung der Maßnah­ men auf. Die Polizei bestimmt das Recht und vollzieht es gleichzeitig auch. Das – so sah es Walter Benjamin – gibt ihr „eine gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten“. Benjamin, der kulturpolitische Beobachter, hat auf der Trennung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt bestanden, wo es denn überhaupt eine solche Trennung gibt. In den absoluten Monarchien gab es sie sowieso nicht, weshalb Benjamin deshalb gerade der Polizei in Demokra­ tien attestiert, ihr Geist sei insbesondere dort „verheerend“ und bezeuge die „denk­ bar größte Entartung der Gewalt“.96 Es ist die Definitionsgewalt, die sich nicht auf Sprachzeichen beschränkt, sondern je nachdem unmittelbar den Eingriff rechtfer­ tigt. Die Polizei hat kraft eigener Definitionsgewalt immer recht, denn hätte sie es nicht, würde sie sich außerhalb des polizeilichen Rahmens bewegen, wäre also materiell gar nicht mehr Polizei. Das ist die Macht einer Generalklausel. Solche Macht ist rechtlich verdächtig, weil die Rechtsentwicklung auf Dritt­ heit und symbolische Vermittlung drängt. Auch die polizeiliche Generalklausel war rechtlichen Angriffen ausgesetzt, hat sie aber überstanden, weil sie zeichen­ praktisch unentbehrlich scheint. So wie bei der nicht als Generalklausel etikettier­ ten Grundlage der Strafzumessung regelt die polizeiliche Generalklausel nicht die Voraussetzungen ihrer Anwendung, sondern überlässt das dem Anwender. Das – befindet das Bundesverfassungsgericht in einer Beschlussentscheidung zum Tau­ benfütterungsverbot  – sei gleichwohl verfassungsgemäß und verletze den Be­ stimmtheitsgrundsatz nicht. Denn die Gerichte hätten alles „in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachge­ brauch verfestigt …“97 Anhand des Streitgegenstands, einer Polizeiverordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf Straßen und An­ lagen, kann man allerdings ablesen, wie weit solche Generalklauseln noch wichtig sind: kaum. Selten und oft im Bagatellbereich beruft sich die Verwaltung darauf, in der Regel sind spezialgesetzliche Eingriffsermächtigungen an die Stelle der Ge­ neralklausel getreten.98 Das nimmt der Polizeikritik nichts an Gewicht und Rele­ vanz, weil auch Spezialregelungen im Polizeibereich nach wie vor rechtssetzende und rechtserhaltende Gewalt verbinden (müssen). Auf diese Weise schafft sich die Polizeiverwaltung im konkreten Fall das passende Recht, das nur noch verfas­ sungsrechtlich revidiert werden kann. 96

Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, 43. BVerfGE 54, 143 (144 f.), Beschluss v. 23.5.1980 – 2 BvR 854/79 (Taubenfütterungsverbot). 98 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Michael Kniesel, Polizei und Ordnungsrecht, 7. Aufl., München 2012, 114 (§ 7 Rdn. 12). 97

340

IX. Die Norm

Generalklauseln sind in der Lage, Tatbestände zu verändern. Sie ersetzen eine fehlende Gesetzgebung. Diese Tradition ist nicht neu. Das Reichsgericht hat sie im Rahmen einer damals allerdings neuen geldpolitischen Entwicklung erstmals 1923 in dieser Richtung konkretisiert; es sollte nicht ausreichen, dass eine – nach dem Goldmarkstandard begründete – Hypothekenschuld im Nennbetrag zurück­ gezahlt worden war, denn zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung notierte eine Goldmark mit 522  Milliarden Papiermark. Der Grundsatz „Mark gleich Mark“ galt hinfort nicht mehr. Das Reichsgericht verwies auf § 242 BGB und damit auf die zivilrechtliche Generalklausel, wonach Verträge nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu erfüllen seien. Aus diesem Grunde könne auch der Richter selbst einen neuen Währungskurs festsetzen. Das war eine be­ deutende, für die Rechtsprechung zentrale Interpretationskonkurrenz, die Kriti­ ker wie Bernd Rüthers dazu veranlasst hat, zwar eine ergänzende Lückenfüllung, nicht aber eine eigene Währungsentscheidung durch das Gericht zu billigen.99 Die Meinungen dazu gehen normativ wie methodisch auseinander. Anders als Rüthers sieht Joachim Rückert in der Rechtsgerichtsentscheidung vom 28.11.1923 (dem­ sogenannten „Aufwertungsurteil“) eine vorsichtige, sorgfältige Argumentation, gestützt auf die überschaubare Wirkung von Treu und Glauben.100 Bedeutsam für die Frage nach Bau und Funktionsweise von Normen bleiben solche Generalklau­ seln, von denen im Falle der Vertragsanpassung immer mehrere in Betracht kom­ men wie §§ 133, 138, 157, 242 BGB. Generalklauseln wie die Berufung auf Treu und Glauben oder gute Sitten und generalklauselartige Operationen wie die ergänzende Vertragsauslegung reprä­ sentieren degenerierte Drittheit. Es werden also symbolische Vermittlungen er­ bracht, der Charakter des Symbols und die Art seiner Vermittlung werden aber in der Klausel nicht mehr dargestellt. Sie funktioniert als richterlicher Index. Das hat Kritiker wie Rüthers bewogen, in solchen Klauseln das Einfallstor für die welt­ anschauliche Umgestaltung der Norm zu sehen. Die Degenerationsformen im Zeichenprozess erlauben es, einen ideologischen Gehalt in die Rechtsgewinnung einziehen zu lassen. Rüthers nennt bei seiner Übersicht über die Funktion der Ge­ neralklauseln in der NS-Gerichtspraxis als Indices die „guten Sitten“ in § 1 UWG, „Treu und Glauben“ als Kampfklausel zur Herabsetzung oder vollständigen Be­ seitigung bestehender Ansprüche und dann vor allem den „wichtigen Grund“ bei der Auflösung von Dauerschuldverhältnissen im Rahmen der Miete und von Ar­ beitsverträgen.101 Bemerkenswert ist dabei, dass etwa die „Treu und Glauben“Klausel widerstreitenden Zwecken diente. Sie wurde zum einen dazu verwendet, betriebliche Ruhegeldverpflichtungen außer Kraft zu setzen (wegen gewandelter 99 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1973, 66–79 (§§ 8, 9). 100 Joachim Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes: Die Weimarer Erfüllung einer alten Versuchung, in: Knut Wolfgang Nörr/Bertram Schefold/Friedrich Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, 267–313 (287f). 101 Rüthers (Fn. IX. 99), 216–269.

4. Generalklauseln

341

politischer Wertvorstellungen), sie taucht zum anderen aber auch auf, um Ruhe­ geldansprüche jüdischer Angestellter aufrechtzuerhalten, weil das zwangsweise Ausscheiden aus Rassegründen nach Treu und Glauben dem Ausscheiden wegen Arbeitsunfähigkeit gleichgestellt werden müsse. „Vielzweckformel“ nennt Rüthers „Treu und Glauben“.102 Normativ spricht Rüthers in Einklang mit der herrschenden Methodenlehre von Wertungen, wobei er selbst den Wertungen des Gesetzgebers den Vorzug geben möchte und vor richterlichen Eigenwertungen warnt. Nun ist diese Konsequenz angesichts seiner eigenen Untersuchung der NS-Gerichtspraxis nicht zwingend, denn auch Rüthers sieht, dass Wertungen des Gesetzgebers rich­ terlich konkretisiert werden müssen, und plädiert dann dafür, dass „zugunsten der sozial geltenden Wertanschauungen entschieden“ werde.103 Zeitgenössisch ist es schwierig zu entscheiden, ob die skandalösen Gerichts­ urteile dem Irrtum erlagen, damit tue man eben dies, nämlich „zugunsten der so­ zial geltenden Wertanschauungen“ entscheiden, während  – was Rüthers sieht  – eine abweichende Gewissensentscheidung erforderlich war. Ebenso wenig ist klar, ob denn gerade Generalklauseln das Einfallstor für politische Rechtsprechung sind. Wer die Norm beim Gesetzgeber ansiedelt und für vorherbestimmt hält, um die ungefähren Gerichtsentscheidungen zu vermeiden, müsste allerdings Gene­ ralklauseln tunlichst aus der Rechtsanwendung heraushalten. Tatsächlich findet man aber an den entscheidenden Stellen eines jeden Gesetzes Blankettnormen, in denen die Gründe für einschneidende Rechtsakte wie polizeiliche Verhaftung, private Kündigung oder polizeiliche „unmittelbare Ausführung“ durch general­ klauselartige Regelungen abgedeckt werden. Untersuchungshaft darf angeord­ net werden, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig ist und ein Haft­ grund besteht (§ 112 Abs.  1 StPO). Fristlose Kündigungen müssen immer auf einem wichtigen Grund beruhen, wobei grundsätzlich eine Abmahnung voraus­ gehen soll, es sei denn, die sofortige Kündigung sei aus besonderen Gründen un­ ter Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt (so im Mietrecht nor­ miert in § 543 Abs. 3 BGB). Die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme durch die Polizei soll nur zulässig sein, wenn der polizeiliche Zweck durch Maßnahmen gegen die Handlungs- oder Zustandsstörer nicht erreicht werden kann (so § 8 PolG BW). Die Kommentierungen reden in diesen Fällen nicht von Generalklauseln. Man hält Haft- oder Kündigungsgründe ebenso wie die Voraussetzungen unmittel­ barer Ausführungen für Spezialregelungen, obwohl sie den Grund nicht angeben, falls man nicht Attribute wie „wichtig“, „dringend“ oder die Erreichung des poli­ zeilichen Zwecks für ausreichende Beschreibungen hält. Tatsächlich sollte die ju­ ristische Arbeit in allen diesen Fällen darin bestehen, mit dem Wortlaut der Norm zu beginnen. Das ist die Empfehlung in der Methodenlehre von Friedrich ­Müller und Ralph Christensen, die als Einzige auf diesem Feld sehen, dass der Wortlaut nicht die Norm ausmacht. Von ihm aus beginnt man erst, nach der Norm zu ­fragen 102

Rüthers (Fn. IX. 99), 231. Rüthers (Fn. IX. 99), 269.

103

342

IX. Die Norm

und sie während des Prozesses ihrer Konkretisierung als Fallnorm auszubilden – im Falle von Generalklauseln im Übrigen wie bei spezialgesetzlichen Regelun­ gen oder was man dafür hält.104 Der eigentliche Normtext ist jeweils immer noch zu bilden. Das fällt bei Generalklauseln jedem auf, während es bei spezialgesetz­ lichen Regelungen etwas länger dauert, ehe man bemerkt, dass kein einziges Wort im Wortlaut einer Norm seine Anwendung regelt, sondern dafür weitere Texte, Entschlüsse und Kontexte benötigt werden. Generalklauseln ragen aus der Menge der Normtextproduktionen nur inso­ fern heraus, als zeitgenössische politische Gründe der Produktion schneller deut­ lich werden, als das bei spezialgesetzlichen Regelungen der Fall ist. Darin liegt der fortwirkende Impuls in den Textbeobachtungen von Bernd Rüthers. Das „Wende-Expertentum“ der Juristen greift gern auf Generalklauseln zurück, und insofern sind solche Normtexte von anderer Qualität als Regeln über die Berech­ nung der Betriebskosten im Mietverhältnis. Es gibt allerdings nicht nur die will­ fährige richterliche Wende zur Unterstützung staatsverstärkter Kriminalität, wie Rüthers sie im Anschluss an die Nürnberger Unrechtsgesetze gedeutet hat. Nur Generalklauseln ermöglichen es, private Normsetzung nach der Einhaltung von Mindeststandards ausgleichender Gerechtigkeit zu prüfen. Es ist ja nicht nur der parlamentarische Gesetzgeber, der Normen beschließt. Die Masse der normati­ ven Textproduktion findet sich praktisch in den unzählbaren Vertragstexten, für die Formulare verwendet oder formelhafte Regelungen ersonnen werden. Priva­ ter Normsetzer ist der wirtschaftlich Mächtige oder sozial Einflussreiche. Unter­ nehmen, Versicherungen, Banken, Versorger, Verkehrsbetriebe, Krankenhäuser – sie alle machen sich ihre Normenkataloge unter der Geltung der Generalklausel des § 305 BGB zurecht, des Vorrangs privater Vertragsgestaltung nämlich. In al­ ler Regel ist es nicht tunlich, über die Regelung der Renovierungskosten zu strei­ ten, wenn man eine Wohnung anmieten will, oder die Festsetzung eines erhöh­ ten Beförderungsentgelts abzulehnen, wenn man ein öffentliches Verkehrsmittel ohne Fahrausweis benutzt. Dennoch gibt es Fälle, in denen es Gründe, gerechte, am Ende sogar anerkannte Gründe gegeben hat, die Normgeltung im Einzelfall zu verneinen. Das ist nur über eine gerichtliche Kontrolle mithilfe von General­ klauseln möglich. So sehen neue scheinbar detaillierte gesetzliche Regelungen zur Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen einmal scheinbar genaue Einzelre­ gelungen vor (§§ 308 und 309 BGB), vorgeschaltet gibt es aber die Generalklausel des § 307 BGB, der in Abs. 1 die Bestimmung enthält, allgemeine Geschäftsbedin­ gungen seien unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligten. Die Generalklausel überhöht die Wirkungen, die wenig bestimmte Rechtsbe­ griffe in allen Spezialgesetzen ohnehin erzeugen. „Unbestimmt“ heißen im Ver­ waltungsrecht alle (Rechts-)Begriffe, deren Konkretisierung zwar notwendig ist, aber aus dem Gesetz nicht zu entnehmen ist. Das sind „schädliche Umwelteinwir­ 104

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 314–319.

4. Generalklauseln

343

kungen“ einer Anlage (§ 4 BImSchG) ebenso wie die „Zuverlässigkeit“ eines Gast­ wirts (§ 4 GaststG) oder auch alle einzelnen Begriffe einer Generalklausel wie die polizeiliche „Gefahr“, die erst die Polizei zum Einschreiten ermächtigt. Eine Staats- und Verfassungsgeschichte berichtet auch über den Umfang, in dem sol­ che unbestimmten Rechtsbegriffe durch Dritte, insbesondere durch Gerichte, über­ prüft werden können oder nicht. Die Kontrolldichte hat über die Betonung einer Verfassungsnorm wie Art. 19 Abs. 4 GG zugenommen, und Röhl widmet in seiner allgemeinen Rechtslehre der Frage, ob Verwaltungsbehörden einen sogenannten „Beurteilungsspielraum“ haben oder ihnen ein „Ermessen“ zusteht, längere Aus­ führungen.105 Über Gefahren, Zuverlässigkeit oder Schädlichkeit kann man so oder so denken. Den Ausschlag dafür gibt die Erstheit im Zeichenprozess, aber Erst­ heit hindert symbolische Vermittlung nicht. Heutzutage gelten die meisten Verwal­ tungsentscheidungen als gerichtlich voll überprüfbar. Allerdings ändert das nichts daran, dass weder der polizeilichen Verdachtsschöpfung noch der behördlichen Umweltbeurteilung durch Begriffe und Entscheidungen beizukommen ist. Die alte Einschätzungsprärogative des Königs übersteht und überlebt alle späten justizdis­ positiven Überformungen und belässt den Vorrang bei der Exekutive, obwohl die Prärogative im gewaltengeteilten Staat an sich dem Gesetzgeber zustehen müsste. Im Rückblick darauf, was „die Norm“ bewirkt, fällt in erster Linie die Möglich­ keit zur symbolischen Verarbeitung auf. Mit Normen wird vielleicht etwas vor­ geschrieben, möglicherweise stimmen ihrem Inhalt auch viele zu, sicher ist aber, dass symbolische Differenzierung und damit die professionelle juristische Arbeit einsetzt. Wenigstens an der Unterscheidung von Tatbestand und Rechtsfolge, von objektiver und subjektiver Tatbestandsseite und an der Praxis objektiver Feststel­ lung innerer Merkmale kann man die Differenzierungsleistungen erkennen. Nur endet die juristische Arbeit damit nicht. Sie schließt generalklauselartige Verein­ heitlichungen wieder ein, so dass am Ende nicht mehr steht, als man am Anfang der Sache nach wusste. Dieser selbstbezügliche Prozess wird insgesamt zur Me­ thode gemacht.

105

Röhl (Fn. I. 5), 212–216.

X. Methode Keine Norm versteht sich von selbst. Eine Norm muss als (Zeichen-)Erstes emp­ funden und gelebt werden können, wenn sie gilt, und daneben widerfährt jedem die Durchsetzung von Ansprüchen und Titeln, von denen andere sagen, dass sie gelten – die Zweitheit des Zeichens. Beides ist nicht ohne Aufwand zusammen­ zubringen. Notwendig sind Gedanken symbolischer Vermittlung. Normen  – so sagt man oft – müssten ausgelegt werden. Was das heißt, ist nicht so klar. Viel­ leicht sollte man einfach davon sprechen, dass eine Norm so ausgedrückt werden muss, dass sie für ein Feld von Situationen, das damit gemeint sein könnte, etwas besagt. Dazu muss man sie konkretisieren. Wie das geschehen soll, versteht sich freilich nicht von selbst. Es ist Gegenstand dieses Kapitels. Die Gesichtspunkte der herkömmlichen Methodenlehre werden zunächst vorgestellt (1.), begleitet von der These, dass juristische Methodenlehre eine Rhetorik der Darstellung be­ reitstellt und deren Möglichkeiten erweitert, nicht etwa beschränkt. Wie man zu einem Ergebnis kommt, erfährt man nur anhand eingeführter, allgemein erprob­ ter Topik (2.), und wenn man mithilfe von Topoi auslegt, befindet man sich auf dem Feld der Argumentation (3.). Die Argumentation eröffnet auch zwei patholo­ gische Seiten. Auf der einen Seite schützen Argumente nicht vor verbrecherischer Rechtsbeugung (4.), auf der anderen Seite kann Argumentation zur Droge des Querulierens gesteigert werden (5.). Die Methode der Bezeichnung schützt nicht vor Zeichenkrankheiten. 1. Auslegung Die Auslegung von Gesetzen ist Rhetorik. Als Vorbild wird in diesem Zu­ sammenhang zwar meist die Hermeneutik genannt, deren Tradition des hei­ ligen oder jedenfalls unantastbaren Texts aber nicht mehr auf die gegenwär­ tige juristische Ausgangslage passt. Der Gesetzgeber ist nicht heilig, und man befindet sich selbst bereits auf dem Felde der Auslegung, wenn man behaup­ tet, ein Gesetzgeber sei Autor des Gesetzes. Am ehesten konnte noch der Kö­ nig als Autor des Gesetzes gelten, dessen Willen man auslegen kann, aber schon nach 1806 wussten auch in Deutschland alle, dass die Könige zu den in ihrem Namen ausgelegten Gesetzen nichts Wesentliches sagen konnten. Noch weni­ ger als den König kann man eine gesetzgebende Versammlung fragen. Meist hat sie Fachgesetze im Paket beraten und beschlossen, und wenn jemand etwas über ein Gesetz wüsste, dann wäre es der den Entwurf vorbereitende Ministe­ rialreferent, dem aber jede Aura fehlt. Also will man lieber niemanden fragen und hält sich an Coings Satz: „Die Auslegung des Gesetzes dient seiner Anwen­

1. Auslegung

345

dung.“1 Das ist ein rhetorischer Appell, der im Übrigen auch bei den Autoren An­ klang findet, denen es dem Begriff nach um Hermeneutik geht.2 Auslegung soll eine Norm für bestimmte Anwendungsfälle passend machen, und das heißt: Es soll plausibel sein, dass die Norm für die Art von Fällen gilt, die man gerade be­ handelt. Denn die Normen des Gesetzes sind zu kurz und zu abstrakt, als dass man sie anwenden könnte, ohne etwas hineinzulegen, zu unterstellen, zu ergän­ zen oder eben allgemein: auszulegen. Modern sagt man deshalb: Der Normtext muss konkretisiert werden.3 Dabei soll und muss er erhalten bleiben, es darf also nicht so aussehen, als machte man sich die Norm selbst, die man dann sogleich anwendete. Die polizeiliche Generalklausel (Kap. IX. 4.) bietet dafür das Muster­ beispiel. Sie ist so abstrakt, dass sie (fast) immer passt, muss aber für jeden Fall ihrer Anwendung konkretisiert werden. Dennoch ist sie nicht einfach selbst ge­ macht, sondern in eine Auslegungstradition eingebunden. Von den dort entstan­ denen anderen Zeichen her (als Zweitheit der Auslegung) ist sie zu interpretieren. Angewendet werden Normen auf Fälle, was man in alter Weise (Kap. IX. 2.) lo­ gisch so ausdrückt: Für jeden Fall von T (Tatbestand) gilt R (Rechtsfolge, formal: T → R).

Zu klären ist dann jeweils die Behauptung einer Partei: S ist ein Fall von T. So formuliert es jedenfalls die traditionelle Logik, die ihre Grundlage noch in der Rhetorik hat.4 Wenn nun auf der einen Seite der Tatbestand der Norm steht, auf der anderen das Ereignis als Fall und noch etwas als Auslegung dazwischen­ tritt, muss dieser Zusatz sofort wieder verschwinden. Denn auf beiden Seiten der Anwendungsgleichung soll die gleiche Wertbeziehung aufrechterhalten bleiben. Was hinzu- oder dazwischentritt, darf insofern inhaltlich nichts Zusätzliches und Selbstständiges bedeuten. In semiotischem Sinne ist es ein Supplement, das zu einem Zeichen hinzutritt, es ergänzt, aber schon während des Prozesses der Er­ gänzung wieder verschwindet. Das Supplement stammt aus dem Formenvorrat der Dekonstruktion und wird von Jacques Derrida so vorgestellt, dass es „Fülle“ sei, die eine andere Fülle bereichere, „die Überfülle der Präsenz“ nämlich, etwa den unmittelbar verpflichtenden Eindruck einer Norm, und ihn gleichzeitig supple­ mentiere, sich beigeselle, um zu ersetzen, und zwar so auffülle, „wie man eine Leere füllt“, weil und solange der unmittelbare Eindruck begrifflich leer bleibt.5 Wenn die Auslegung nur supplementiert, dann eben bleibt auch die gleiche Sub­ stanz auf beiden Seiten erhalten, und diese inhaltliche Gleichheit ist die Grund­ lage jeder Normenlogik. Die logische Transformation darf die Gewichte auf bei­ den Seiten nicht verändern, die Auslegung muss unsichtbar bleiben. Sprachlogisch 1

Helmut Coing, Juristische Methodenlehre, Berlin/New York 1972, 37. Ulrich Schroth, Hermeneutik, Norminterpratation und richterliche Normanwendung, in: (Fn. I. 28), 270–297 (275). 3 Müller, ‚Richterrecht‘ (Fn. IX. 48), 46–53. 4 Ulfrid Neumann, Juristische Logik, in: (Fn. I. 28), 298–319 (300). 5 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, 250. 2

346

X. Methode

heißt das, dass alle Zusätze auf die Form einer Tautologie gebracht werden könn­ ten. Tautologien sind die Sprachbedingung für logisches Schließen, nur rhetorisch wirken sie etwas unschön, wenn man zum Beispiel einfach sagt: Eine Gefahr liegt vor, wenn ein Ereignis gefährlich ist. Die Sätze der Logik bestehen sprachlich aus nichts anderem. In Worten heißt die Gleichung dann, ganz abstrakt genommen: Recht ist Recht, oder als Topos und mit rhetorischem Appellcharakter: Recht soll (auch) Recht bleiben.6 Solche Wiederholungen sind unwiderstehlich. Man möchte sich an einen gleich bleibenden Text halten, so dass die Aufgabe „das Invariantset­ zen und das Erweitern und Neugestalten des Textes in anderen Texten“7 sein muss. Man beruft sich im Verfahren auf Texte und bezeichnet sie als wesentlich, weil auslegungsfähig und damit unmittelbar oder sinngemäß verwendbar. Die juristische Opposition gegen die Tautologie des „Recht ist Recht“ mobi­ lisiert einen Widerspruch, der die kategoriale Zeichendifferenz deutlich macht, wenn man ihn auf Formeln verkürzt wie: Jenes Recht ist Unrecht, oder: Was jene Unrecht nannten, ist in Wirklichkeit – nämlich so, wie wir es jetzt meinen – Recht. Recht ist nämlich etwas, was sich kategorial unterschiedlich darstellt. „Recht“ (so wie es einem begegnet, als Zweitheit) kann entweder (wirkliches) Recht (im ide­ ellen Sinne der Drittheit) oder auch Unrecht (im Protest, als Erstheit) sein. Für­ Luhmann gilt die Recht/Unrecht-Differenz als fundierende Paradoxie, mit der man allerdings nicht arbeiten könne, auch wenn sie immer gegenwärtig sei. Von der Zeichenperspektive her könnte man diesen Befund für das Ergebnis eines Zei­ chenkonzepts halten, dem die Drittheit fehlt. Es fehlt auch der praktische Blick. Denn es wird fortlaufend und ohne allzu große Irritation mit der Recht/UnrechtDifferenz gearbeitet. Sie wird keineswegs verhüllt und unsichtbar gemacht, und ihrer ansichtig zu werden, führt auch nicht zu „sthenographischer“ Erstarrung, wie Luhmanns hübsche antike Assoziationen es beschreiben. Die Recht/UnrechtDifferenz kann man in die logischen Wertetafeln eintragen, die normalerweise eben so verstanden werden, als ginge es um Wahrheit und Unwahrheit oder um die Verknüpfung wahrer und falscher Aussagen im Satz.8 Wenn die Verknüpfung zweier wahrer Aussagen wieder eine wahre Aussage erwarten lässt, die Verknüp­ fung einer wahren und einer falschen eine falsche und schließlich die Verknüpfung zweier falscher Aussagen etwas Beliebiges, dann kann man das versuchsweise auf die Recht/Unrecht-Differenz übertragen. Dann ergibt sich, dass die Verknüp­ fung zweier zutreffender Aussagen über das Recht wieder eine zutreffende Aus­ sage erwarten lässt, die Verknüpfung einer zutreffenden und einer unzutreffen­ den eine unzutreffende und schließlich die Verknüpfung zweier Unrechtsurteile etwas Beliebiges. Mit Unrechts- (oder auch Nichtrechts-)Urteilen lässt sich also durchaus operieren. Sie werden in die juristische Argumentation einbezogen und verdecken die Tautologie. Diese und nicht die Grundwerte-Opposition wird ver­ 6

Gast, Rhetorik (Fn. VI. 12), 359 (Rdz. 988–994). Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 340. 8 Jochen Bung, Die Norm im wahrheitskonditionalen Interpretationsschema, Rechtstheo­ rie 36 (2005), 41–47. 7

1. Auslegung

347

hüllt. Es wäre logisch zwar geboten, etwas sprachlich durch das Gleiche zu bestä­ tigen. Dann ist ein Verwaltungsakt ein Verwaltungsakt. Aber Juristen lassen derart­ Tautologisches besser unausgesprochen, weil es erkennbar macht, wie wenig weit Begründungen begründen. „Diskursive Verknappung“ herrscht an der Oberflä­ che der Auslegungslehre.9 Der sprachwissenschaftliche Befund, dass „dasjenige, was als Ergebnis der Interpretation dastehen soll …, gleichzeitig zu seiner eige­ nen Voraussetzung gemacht wird“,10 überrascht aus juristischer Sicht nicht. Denn eben deshalb gilt die rhetorische Maxime, die Wortgleichheit und damit die offen­ bare Tautologie zu vermeiden. Die offensichtliche Tautologie wirkt rhetorisch platt, und man umgeht die Platt­ heiten, indem man nur andeutet, welche Merkmale ein Ereignis zum Fall von T werden lassen. Die von Katharina Sobota, Gräfin von Schlieffen, dazu vertre­ tene These lautet: Die Norm darf nicht vollständig formuliert werden, die Anwen­ dungsregel muss offen bleiben, die Fallbestandteile der Regel sollten nur teilweise entfaltet werden. Das führt zur rhetorischen Kunst des Enthymems.11 Sie war das Ziel der Rhetorik, die von jeher weiß, dass Tautologien zu vermeiden sind, und auch definiert, dass es sich nur dann um eine Tautologie handelt, wenn ein Wort durch das gleiche Wort erklärt wird. Quintilian bemerkt an Ciceros Verteidigung pro Cluentio, wie unschön es wirke auszuführen, dass ein Prozess doch gar kein Prozess gewesen sei.12 Zwar ist brevitas zu beachten, das eandem rem dicere wird aber abgelehnt. Die „Rhetorica ad Herennium“ führt dazu aus: „Ein- und dieselbe Sache führen wir nicht auf dieselbe Weise aus – denn das bedeutete dem Zuhörer lästig fallen, nicht einen Sachverhalt ausmalen –, sondern auf veränderte Art. Wir verändern auf dreifache Weise: in der Wortwahl, in der Vortragsart und in der Art der Erörterung“.13 Die juristischen Tautologien bleiben verdeckt, weil die angeb­ liche logische Subsumtion in der Praxis nicht durchgeführt wird. Es wird nämlich subsumiert, ohne dass „die Kluft zwischen dem abstrakten Tatbestand T und der Konkretisierung von T im Untersatz überwunden wird.“14 Katharina von Schlief­ fen fügt hinzu, dass eine solche Subsumtionslücke weder hinderlich wirke, noch beanstandet werden müsse, sondern gerade umgekehrt Unausdrücklichkeit not­ wendig sei, um am Fall dessen Begriffsmerkmale zu entwickeln. Das geschieht in unvollständiger Weise, und das heißt in den Begriffen der alten Rhetorik: als­ Enthymem. Das Enthymem ist ein Schluss, in dem entweder die Norm (als Ober­ satz), die Konkretisierung am Fall oder auch die Schlussfolgerung fehlen  – mit

9

Ralf Christensen/Hans Kudlich, Die Auslegungslehre als implizite Sprachtheorie der Ju­ risten, ARSP 88 (2002), 230–246 (233). 10 Busse (Fn. I. 33), 75. 11 Sobota (Fn.  V. 62), 71; dies., Don’t Mention the Norm!“ International Journal for the­ Semiotics of Law IV (1991), 45–60. 12 Marcus Fabius Quintilian, Institutio Oratoria. 12 Bde., übers. v. H.  Rahn, Darmstadt 1988, 3, 50. 13 Rhetorica ad Herennium, übers. v. Th. Nüßlein, Zürich 1994, 4, XLII, 54. 14 Sobota, Sachlichkeit (Fn. V. 62), 109.

348

X. Methode

einem Wort: ein unvollständiger Schluss.15 In der rhetorischen Rechtstheorie ist seit längerem diskutiert worden, dass zwar in jedem Einzelfalle eine nachträgliche Formalisierung durchaus möglich sei,16 wegen des nur wahrscheinlichen Charak­ ters der am Fall gebildeten Merkmale aber eine vorausschauende Prognose der Norm ausscheide. Deshalb wird auch eine Subsumtion in Form der Darstellung gleicher Merkmale auf Norm- wie auf Fallseite im Justizdispositiv vermieden, so dass man allenfalls ahnen kann, welche Regeln normativ relevant werden. Der Normtext bleibt abstrakt und sachverhaltsfern. Eben deshalb muss fortlaufend ausgelegt werden. Ein Altmeister der deutschen Sprache hat dazu die Sentenz hinterlassen: „Im Auslegen seid frisch und mun­ ter! Legt ihr’ s nicht aus, dann legt was unter.“17 Der Spruch wird gerne dahinge­ hend verstanden, dass eben nur kundige Hermeneutiker nach langem Nachdenken auslegen dürften. Dabei ist freshness ein wesentliches Merkmal jeder juristischen Anwendungssituation, denn fresh – wie Stanley Fish es nennt18 – sind nur unmit­ telbare, zeitgerechte und persönlich passende Muster, keine abgestandenen Al­ lerweltseinsichten. Seid also frisch und munter beim Auslegen, Einlegen, Unter­ legen, oder versucht es mit Überlegen – so heißt die juristische Abwandlung dieser Sentenz durch Rudolf Wiethölter. Überlegung sollte das rechtswissenschaftliche Werkzeug sein, das der Auslegung dient, sie aber auch als expliziten Vorgang überflüssig machen kann. Mit dem Gesetz soll man überlegt umgehen, es nicht einfach nur auslegen. Tatsächlich ist nur in ganz wenigen Urteilsbegründungen von einer Auslegung die Rede. Im Normalfall genügen Gesetz und Fall. Die Aus­ legung formuliert das Gesetz um, nicht mehr und nicht weniger. Semiotisch über­ setzt heißt das: Am Anfang muss für jede Auslegung ein erstes Ganzes oder ein ganzes Erstes des Gesetzes unterstellt werden, jedenfalls etwas, von dem man aus­ gehen kann. Sonst gäbe es nichts auszulegen. „Das Ganze des Rechts“ ist in der juristischen Tradition hierarchisch verstanden worden.19 Oben waren Verfassung, Generalklauseln und Grundsätze zu finden, anschließend zerfaserte das Recht in Tatbestände, Anspruchsgrundlagen und andere Banalitäten. Wenn eine An­ spruchsgrundlage fehlt, kann man deshalb überlegen, ob sie durch Auslegung er­ gänzt werden soll, etwa als Anspruch auf Schadensersatz wegen Verletzung eines Persönlichkeitsrechts. In der Logik des Ganzen musste dafür eine Lücke fest­ gestellt und die Frage beantwortet werden, ob die normative Lücke darauf beruhe, dass im Sinne des Ganzen ein solcher Anspruch bewusst nicht bestehen solle – 15 Markus H. Wörner, Enthymeme – ein Rückgriff auf Aristoteles in systematischer Ab­ sicht, in: Rhetorische Rechtstheorie (Fn. I. 124), 73–98 (75). 16 Georges Kalinowski, Die Rhetorik des Aristoteles und die juristische Logik: Zum forma­ len Charakter der rhetorischen Beweisführung, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.) (Fn. I. 124), 99–110. 17 Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte. Kommentiert von Erich Trunz, 13. Aufl., Mün­ chen 1982, 329. 18 Stanley Fish, Doing what comes naturally. Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Durham/London 1989, 513. 19 Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts. Vom hierarchischen zum reflexiven Verständnis deutscher und europäischer Grundrechte, Berlin 2007, 23–52.

1. Auslegung

349

auch in der Ausdrucksweise: dass der Gesetzgeber den Anspruch nicht habe be­ gründen wollen – oder ob es sich um eine sogenannte „Planwidrigkeit“ handele.20 Selten wird heute noch derart schulmäßig ausgelegt. In der Postmoderne bleibt das Ganze zwar erhalten, die Hierarchie wird aber destruiert oder dekonstru­ iert und durch Reflexion ersetzt. Christensen und Fischer-Lescano plädieren für Überlegung anstelle von Auslegung und lassen im Ganzen des Rechts dessen he­ terogene Elemente wieder auftauchen. Das verstehen die Autoren nicht als Feh­ ler oder als Schwäche einer konkreten Auslegung, sondern als Grundbedingung für Konkretisierungen. Unterstellt wird nach wie vor die Einheit der Rechtsord­ nung als Form, es fehlt aber am Sinnverständnis für diese Einheit, die immer erst konkretisiert werden muss.21 Es soll zwar ein Ganzes da sein, aber dessen Inhalt – gern auch als „unsere Werte“ berufen, aber nicht im Einzelnen benannt – kann nicht zuvor angegeben werden. Wer in der Auslegung so operiert, dem bleibt nur noch die Form oder der Text des Gesetzes. Tatsächlich ist ja Auslegung auch nach kontinentalem Rechtsverständnis immer Gesetzesauslegung. Man meint, ein vor­ handenes Gesetz anzuwenden, und übersieht, dass vom Gesetz nur der Normtext in Gestalt eines Textformulars vorhanden ist.22 Die angloamerikanische Tradi­ tion geht anders vor (abgesehen davon, dass es auch dort inzwischen überbordend viele ­statutes gibt, die statutory law nach sich ziehen) und muss die in einer Fall­ entscheidung genannte, unterstellte oder erst noch zu erschließende Norm entwi­ ckeln, um sie dann auf den jeweils vorliegenden Fall anzuwenden. Normwissen spielt aber auch dort eine Rolle. Auch oder gerade im Fallrecht ist die Norm im­ mer schon da. Entweder kann man sie aus dem Gesetzblatt ablesen oder aus vor­ angegangenen Fällen formulieren, ansonsten könnte sie nicht ausgelegt werden. Die Normenproduktion scheint sintflutartig angewachsen zu sein, und die „Flut“ der Gesetze ist eine beliebte Metapher. Aber weder Gesetzblatt noch Präzedenzfall sind notwendig, um ein Gesetz vorauszusetzen. Wenn und weil es ausgelegt wer­ den kann, reicht es weiter, gründet tiefer und wirkt weiser als die Verkündung im Gesetzblatt – sonst brauchte man es nicht auszulegen. Es ist schon vor jedem Fall und jeder Verkündung da. Wenn man also auslegt, ist doppelte Überlegung von­ nöten, einmal, ob man überhaupt auslegen will (oder die Norm für klar hält) und – wenn man es tut – wie die Auslegung dargestellt werden sollte. Für die Darstellung gibt es einen Kanon von Gesichtspunkten, der nach einer verbreiteten Auffassung insgesamt als juristische Methode gilt. Gelernt wird an dieser Stelle schlagwortartig, dass die Methode für die Normauslegung vier soge­ nannte „Canones“ umfasse und man einen oder mehrere davon anwenden müsse, um ein juristisch richtiges oder wenigstens vertretbares Ergebnis zu erzielen.23 Die kanonische Auslegung wird bis zum heutigen Tage auf Friedrich Carl von­ 20

Larenz/Canaris (Fn. IX. 39), 246. Christensen/Fischer-Lescano (Fn. X. 19), 113. 22 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 185–187. 23 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz 90. 21

350

X. Methode

Savigny zurückgeführt und dabei übersehen, was Joachim Rückert hervorhebt, dass es nämlich eigentlich nur drei „Ansichten“ der Rechtsbetrachtung hat geben sollen, die philologische, systematische und historische, und die Auslegung auf einen „gesunden Zustand“ des Gesetzestextes zugeschnitten sei.24 Daraus ist etwas anderes geworden, etwas, das Benjamin Lahusen 150 Jahre später als „RechtsUnordnung“ etikettiert.25 Mit Savignys methodischen Vokabeln kann die prak­ tische Jurisprudenz heute (so Lahusen) „befreit agieren.“ Freiheiten nimmt man sich schon insoweit heraus, als Inhalt und Kriterien oder Canones für eine geis­ teswissenschaftlich orientierte Auslegung ganz unterschiedliche Titel tragen. Die Varianten reichen von Helmut Coings rechtsphilosophischer Darstellung der ju­ ristischen Methodenlehre über gängige, mehr dogmatisierende und vermeintlich studiengeeignete Empfehlungen zu vergleichsweise rabiaten Zusammenfassun­ gen rhetorischer Art. Coing zählt zu den vier Canones das Streben nach Objektivi­ tät, nach Einheit, die Berücksichtigung der Textgenese und der Sachbedeutung.26 Rolf Wanks Studienbuch benennt die Canones so, wie man sie üblicherweise lernt, nämlich nach der Sinnermittlung entsprechend Wortlaut, System des Gesetzes, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck.27 Für dieses vierte Auslegungskrite­ rium, nämlich Sinn und Zweck, gebe es – meint Wank – „stets ein Übergewicht“28, während freilich Rückert „Obacht mit dem Telos“ empfiehlt.29 Demgegenüber lässt Fritjof Haft Hermeneutik wie Kanonisierung fallen, redet ausdrücklich über Rhetorik und weist darauf hin, dass die allgemeinsprachlichen, historischen oder zweckorientierten Auslegungsüberlegungen in die Irre führen, wenn man den ju­ ristischen Kontext nicht kennt. Es gibt nämlich weder Reihenfolge noch Hierar­ chie unter den vier von Savigny entlehnten Auslegungsgesichtspunkten. Das sind nach heutiger Lesart: – der Wortlaut des Gesetzes, und man darf überlegen, wie wohl aus dem Wort selbst ausgelegt werden soll (die wörtliche Auslegung); – das System des Gesetzes, das man selbstverständlich schon vorher verstanden haben muss, ehe man sich anschickt, darüber nachzudenken (die systematische Auslegung); – die Geschichte, die Absichten, Meinungen und Zwecke des Gesetzgebers (die historische Auslegung), mit denen einerseits Analogien begründet werden kön­ nen, insofern man einen gesetzgeberischen Willen annimmt, ähnliche Fälle so zu behandeln, wie die explizite Regel lautet, aber auch umgekehrt wegen aus­ 24

Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: ders./ Ralf Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 2. Aufl., BadenBaden 2012, 35–72 (44, 54). 25 Benjamin Lahusen, Alles Recht geht vom Volksgeist aus. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, Berlin 2013, 52. 26 Coing (Fn. X. 1), 25–27. 27 Rolf Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 4. Aufl., München 2008, 41–70. 28 Wank (Fn. X. 27), 71. 29 Rückert (Fn. X. 24), 30.

1. Auslegung

351

gebliebener gesetzgeberischer Regelung e contrario geschlossen werden kann, dass eben ein ähnliches Recht oder ein ähnlicher Anspruch nicht bestehe; und – der Sinn und Zweck schlechthin (die teleologische Auslegung), wobei man damit endlich dort angekommen ist, wo schließlich jeder hinwill, der ein ge­ wünschtes Ergebnis im Kopf hat. Hat er es, wird es nicht schwerfallen, Sinn und Zweck so auszulegen, dass sie genau zu diesem Ergebnis passen. Alle vier Canones lassen sich nur nebeneinander erwägen. Wolfgang Gast fasst sie deshalb gleich zum „Vierer-Kanon“ zusammen. Der eine ist nicht ohne den an­ deren zu haben.30 Zur Übung gehört auch, dass Widersprüche zwischen den Ge­ sichtspunkten nicht dargestellt werden, so dass sie – wie etwa Haft es vorführt – auch und gerade an sinnlosen Inhalten wie „Wer mazt, wird gechupzt“ ausprobiert werden können. „Leerformeln“ nennt Haft die Canones, und semiotisch kann man das als Zweitheit der Zeichenketten verstehen.31 Man sieht, wie sie von anderen aufgedrängt werden. Wer von einem eigentlich naheliegenden, mit Haft könnte man sagen: „normalen“ Ergebnis abweichen will, ist gehalten, mit Abstraktions­ schwung Abstand von der Norm zu nehmen und als Vermittlungsergebnis etwas zu präsentieren, das scheinbar den Wortlaut mit dem System des Gesetzes, seiner Entstehungsgeschichte und seinem Zweck vereint, aber etwas ganz anderes ist, als man zuvor dachte. Denn darin sind sich am Ende alle Methodenlehrer irgendwie einig, auch wenn man den Grund dafür meist vergeblich sucht. Ein Gegeneinan­ der im „Vierer-Kanon“ darf es nicht geben, und zwar schon deshalb nicht, weil die wahre Bedeutung im Gesetzestext aufbewahrt worden ist.32 Alle Canones zusam­ men sind Darstellungsmittel für die Auslegung, und weil man mit ihnen eben nicht gegeneinander, sondern nur nebeneinander argumentieren kann, spricht man bes­ ser nicht von einer Methode, sondern von Routinen für eine Normkonkretisierung. Kein Gesichtspunkt dürfe vernachlässigt werden, meint Coing, und je intensiver man die Canones ansehe, umso mehr wiesen sie alle in die gleiche Richtung.33 So ist das mit der Erstheit in der Drittheit. Das Symbol, das man sich als beliebig den­ ken könnte, ist es konkret durchaus nicht, weil man weiß, in welche Richtung man es entwickelt. Deswegen kann Haft auch „Chupzen“ auslegen. Wer anfängt, es zu tun, muss aber schon wissen, dass „Mazen“ auch ein Fall des „Chupzens“ sein muss. Auch wenn es keine Gewichtung und kein Gegeneinander unter den Canones gibt, so steht doch immer ein Gesichtspunkt am Anfang, und das ist der Wortlaut. Vesting erinnert in seiner Rechtstheorie daran, dass es sich einfach um eine alte und sogar biblische Vorstellung handelt, die mit der Buchstabenschrift verbunden sei. Dem Buchstaben habe man nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen.34 Das 30

Gast (Fn. VI. 12), 260 f., Rdz. 698–702. Haft (Fn. VI. 13), 159. 32 Gast (Fn. VI. 12), 238 f., Rdz. 640–643; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., München 2006, 62 (§ 10 VI). 33 Coing (Fn. X. 1), 36. 34 Thomas Vesting, Rechtstheorie, München 2007, 102 (Rdz. 198). 31

352

X. Methode

ist die Existenzbehauptung des Zeichens, so wie Peirce sie dem Ikon beigibt: Eine Linie ziehen heißt behaupten, dass dies eine Linie ist. Das lässt sich nicht bestrei­ ten, wenngleich die Behauptung im Rahmen der Auslegung für weitaus mehr stehen soll als für Buchstaben oder Linie. Wörtliche Auslegung soll darin bestehen, dass man dem Wortlaut des Gesetzes folge.35 Es gebe eine Wortlautschranke, die ge­ biete, nur so weit und nicht weiter auszulegen, wie der Wortlaut reiche. Da nun das lautende Wort eigentlich gar nichts sagt, wenn man die Sprache, zu der die Worte gehören, nicht vorher schon kennt, steht „Wortlaut“ für die Normalform der Norm, für das, was man normalerweise damit meint, obwohl diese Normalität wiederum nicht vom Normverständnis desjenigen zu trennen ist, der sie zu finden meint. Ju­ risten pflegen Norm und normales Verständnis nicht zu erwähnen, sondern spre­ chen in diesem Zusammenhang vom „Kern“ eines Begriffs und – soweit eingeräumt wird, dass es verschiedene Verständnisse gebe – vom „Begriffshof“. Ähnliche Un­ terscheidungen sind international üblich. Amerikanische Autoren nehmen ordinary meaning als Auslegungskanon an und führen diese auf „plain, obvious, and com­ mon sense“ zurück,36 der durchaus auch core und penumbra aufweisen kann (Kap. X. 3.). Aus dem französischen Rechtskreis stammt die „Sens-clair-Doktrin“,37 die europarechtlich als „Acte clair“ wiederkehrt.38 „Hof“ und „Kern“ sind deutsche Spracherzeugnisse, für die oft Philipp Heck als Urheber zitiert wird. In der neue­ ren Methodenlehre von Koch und Rüßmann wird neben dem Dual noch der dritte Wert sogenannter „neutraler Kandidaten“ eingeführt, für die ein Verfahren der Be­ deutungsfestsetzung anstelle einer empirischen Feststellung empfohlen wird.39 In der sprachwissenschaftlichen Diskussion hat diese Ergänzung der Dichotomie von Hof und Kern durch eine andere von Feststellung und Festsetzung nicht überzeugt.40 Strikt konservative Vertreter wie Scalia/Garner gehen fortlaufend von Möglichkei­ ten des common sense aus und können fallweise durchaus Plausibilität erzeugen. Semiotisch handelt es sich um Terme (und damit um die Erstheit des Zeichens), aber nicht um Kategorien, mit denen sich Zeichenqualitäten klären ließen. Neben dem Wortlaut bleiben dann noch die drei weiteren Gesichtspunkte. Wäh­ rend das mögliche System des Gesetzes und eine entsprechende systematische Aus­ legung noch verhältnismäßig professionell und überschaubar wirken, sind der te­ leologische Schluss, der Sinn und Zweck in Betracht zieht, und erst recht Analogie oder argumentum e contrario Giftbüchsen für jedes normale Normverständnis. So wie man aus der gesetzlichen Regelung, dass es Geldersatz und Schmerzensgeld für immateriellen Schaden nur in genau bezeichneten Einzelfällen gebe, e ­contrario schließen kann, dann gebe es eben für den nicht bezeichneten Fall des „Persönlich­ 35

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 304–311. Antonin Scalia/Bryan A. Garner, Reading Law. The Interpretation of legal texts, St. Paul 2012, 69–77 (69). 37 Timsit (Fn. IX. 42), 69. 38 Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, Tübingen 2005, 214. 39 Koch/Rüßmann (Fn. VI. 13), 196. 40 Busse (Fn. X. 10), 130 f. 36

1. Auslegung

353

keitsschadens“ kein Schmerzensgeld, so kann man – wie tatsächlich geschehen – mit Sinn und Zweck einer grundgesetzlichen Bestimmung den Mangel der Erwäh­ nung im einfachen Recht als Aufforderung verstehen, diese „Lücke“ durch ergän­ zende Auslegung zu füllen. Diese Gifttöpfe, mit denen sich konträre Ergebnisse begründen lassen, dürfen nicht in jeder Begründung geöffnet werden, denn dann träte deren Vielgestaltigkeit zu Tage. Die juristische Pragmatik wird aber nach wie vor vom Grundsatz des Justizdispositivs regiert, es gebe für jeden Fall eine rich­ tige Entscheidung, und derjenige, der die Entscheidung verkündet, lässt in seiner Begründung keinen Zweifel daran zu. Auf diese Weise erhält die agonale Rhetorik einen nicht verzichtbaren Platz in der Auslegung, und mit ihr wird das Dispositiv des Streits und des Wettkampfs etabliert. Man muss und soll streiten, wenn eine Sa­ che zur Rechtssache wird, und man kann auch immer streiten, weil mit den gegen­ sätzlichen Möglichkeiten zwischen Wortlaut und System, Gegenteilsschluss und Zweck in jedem Fall auch immer Gegensätzliches entsteht. Die Canones sind her­ vorragend geeignet, die professionelle Aufgabe des juristischen Rhetors zu erfül­ len, nämlich seinem Auftrag entsprechend das gewünschte Ergebnis als unwider­ leglich darzustellen. Zur wissenschaftlichen Durchdringung eignen sie sich freilich nicht, weil die Auslegungsmethoden gar keine Methode enthalten. Sie sind Legi­ zeichen für eine symbolisch degenerierte Auslegung, die sich nicht mehr im Dis­ kurs bewegt, sondern der Entscheidung dient. Aus diesem Grund wird man keine Gerichtsbegründung finden, in der eine Differenz zwischen verschiedenen Aus­ legungsgesichtspunkten aufgemacht wird, sondern man kann jeweils nachlesen, warum und weshalb schon der Wortlaut in die Richtung weist, die dem System des Gesetzes entspricht und seinem Sinn auch gerecht wird. Rhetorisch regiert jenseits des Wortlauts eine einträchtige Dreifaltigkeit von System, Geschichte und Zweck. Wenn es also überhaupt eine juristische Methode für die Arbeit mit gesetz­ lichen Normen geben soll, müssen zentrale Illusionen der ganzheitlichen Rechts­ semiotik aufgegeben und ein holistischer Weg beschritten werden. Vom Ganzen des Rechts war als Ausgangspunkt und Unterstellung bei jeder Auslegung bereits die Rede, und es gehört zur ganzheitlichen Tradition, Verfassung und Grundsätze oder Prinzipien als Ausgangspunkt der Methode anzusehen und nach dem Inhalt eines Wortlauts zu suchen, der doch nicht im Wort versteckt ist. Innerjuristisch be­ ginnen nur ­Friedrich Müller und Ralph Christensen anders, die ihre Rechtslehre deshalb „strukturierend“ nennen.41 Eine Methode, die den Namen verdient, kann man nicht im Text selbst finden, weshalb der Text einer Norm auch in der Metho­ dik von Müller/­Christensen nur „Normtext“ heißt und als Eingangsdatum für die Arbeit an der Norm gilt.42 Aus dem Normtext wird ein Normprogramm entwickelt, das allerdings nur eine allgemeine, konkretisierungsbedürftige Richtung angibt. An einer fallbezogen wirksamen Entscheidungsnorm muss erst noch gearbeitet werden. Damit gehen alle Routinen, Praktiken und Entscheidungsgewohnheiten 41 42

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 298. Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 276.

354

X. Methode

im Justizdispositiv in diese Methodenlehre ein, die weit über eine einsame Ausle­ gungsanweisung hinausreicht, allerdings auch im anleitenden Text immer nur teil­ weise und fallweise strukturiert werden kann. Der zentrale Begriff der Konkretisie­ rung erfasst weder einfach den herkömmlichen Syllogismus im Sinne fallbezogener „Subsumtion“ noch den „Nachvollzug“ im Gesetzestext angeblich enthaltener Interessenabwägungen und Wertungen.43 Ebenso wenig soll damit die Vorstellung verbunden werden, eine schon abstrakt vorhandene Norm werde in ihrem Umfang verkleinert und anschaulich gemacht, damit man das Ergebnis erkenne. Für Müller/ Christensen bedeutet Auslegung Konstruktion der Entscheidungsnorm und damit des Satzes, der in Bezug auf die festgestellte Situation etwas besagt. Im Vorgang der Konkretisierung werde die Norm erst hergestellt, und der vorgegebene Norm­ text fungiere dabei ebenso als Datum wie der Handlungslauf und die Sachgesichts­ punkte des jeweiligen Fallbereichs. Den Leitsatz erklären Müller/Christensen als Teil der Rechtsnorm. Nur der letzte Schritt der Konkretisierung vollzieht sich „als methodisch simple Schlussfolgerung“.44 Die Formaltechnik der Falllösung – das Fortschreiten „von Stufe zu Stufe“45 – soll den äußeren Rahmen für die Konkreti­ sierungsarbeit darstellen. Für diesen Arbeitsprozess, an dem mehrere Beteiligte mit gegensätzlichen Meinungen mitwirken, kann man nicht ernsthaft annehmen, einer von ihnen wisse bereits vorher, welches Ergebnis der Prozess erbringt. Eine Rechtskonkretisierung anstelle, oder besser: in Ausführung des Auslegungs­ konzepts relativiert den Normtext ebenso wie die konkrete Entscheidung. Sie ist so wenig die Gestalt für „die eine Wahrheit dieses Falles“,46 wie der herangezogene Normtext der Ursprung wäre. Auslegung als Textarbeit verbleibt in einem Gewebe von Texten, die kein Äußeres zulassen und mithin auch keine abgeschlossene Be­ deutung entstehen lassen, sondern Anfang wie Ende der Bedeutungskonkretisie­ rung unablässig verschieben. Auch das Urteil ist ein Text, und weil es Text ist, kann es das Verfahren nicht wirklich abschließen. Noch weniger kann das Urteil Streit befrieden, wie manche entgegen besserer forensischer Erfahrung meinen. Es setzt den Streit fort, vertieft ihn gelegentlich und verschiebt ihn möglicherweise in einen anderen Instanzenzug. „Semantische Kämpfe“ entstehen, und es ist inzwi­ schen Gegenstand empirisch linguistischer Forschung, wie sie geführt werden.47 Nur dass überhaupt entschieden wird, ist keine Textfrage mehr. „Es ist eine – wenn auch in Texten behandelte, von Texten begleitete – Frage von Macht/Gewalt in den tatsächlich konflikthaften menschlichen Gruppen.“48 Auf dem Boden der Ausle­ gung herrscht Gewalt. 43

Katharina Gräfin von Schlieffen, Susumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Urteile, in: Gottfried Gabriel/Rolf Gröschner (Hrg.), Subsumtion. Schlüsselbegriff der Juris­ tischen Methodenlehre, Tübingen 2012, 379–419 (395f). 44 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 468. 45 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 461. 46 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 512. 47 Janine Luth, Semantische Kämpfe im Recht. Eine rechtslinguistische Analyse zu Kon­ flikten zwischen dem EGMR und nationalen Gerichten, Heidelberg 2015. 48 Müller/Christensen, Methodik I (Fn. IV. 76), Rdz. 513.

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch

355

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch Gewalt ist aber auch nur der untere Boden. Im oberen Bereich gibt es ein dif­ ferenziertes Zeichenfeld, das verdeckt wird von der tautologischen Formel des Rechts, das Recht ist und bleibt. Die Gesichtspunkte der Auslegung und deren Ver­ fahren der Spracherweiterung bringen keine Substanz in die Norm, nicht mehr je­ denfalls, als man sowieso schon als Substanz kennt. Es bleibt bei der Gleichung: Recht ist Recht. Wie kommt man aber zu etwas Neuem, wenn jeder nur wieder­ holt, was er sowieso schon meint, oder verneint, was der andere sagt, und damit den anderen Pol der Identität besetzt? Wie lässt sich der Inhalt dessen erschließen, was zwischen Norm und Fall liegt, das Ergebnis verändert, aber nicht vollständig formuliert werden kann, ja gar nicht formuliert werden soll, also Tautologie und Negation ebenso überschreitet wie das sprachlose Schweigen? Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat das einen „Übergang“ (un passage) genannt. Ausgangspunkt ist die postmodern gewendete, aber an Kants Vernunftkritiken entwickelte Beobachtung, dass es zwischen zwei praktisch vernünftig urteilenden Diskursen keine Verbindung gibt und keine dritte Position, von der man die erste und zweite begründet beurteilen könnte.49 Solche Diskurse führen auch Kläger und Opponent eines jeden Verfahrens (auch wenn Lyotard selbst dem Justizdis­ positiv zu viel Ehrfurcht entgegenbringt und meint, im litige gebe es eine solche, wenn auch gewaltsame Verbindung, die im différend fehle). Das Verbindende oder – wie Lyotard es nennt – die „Verkettung“50 entwirft näm­ lich jeder einzelne Sprecher für sich nach den von ihm selbst für sinnvoll erach­ teten Regeln, und man darf nicht ernsthaft erwarten, dass die Verkettungsart des eigenen Diskurses auch für den entgegengesetzten Diskurs des Anderen gelte. Je­ der redet und urteilt für sich selbst und folgt dabei eigener Logik, und doch braucht man eine Logik der Verkettung. Man braucht den Übergang vom einen zum an­ deren. So kennt die Praxis des Zeichens den Anstoß von außen, die Zweitheit, die im besten Fall symbolisch vermittelt wird, wobei auch hier jeder die symbolische Vermittlung für sich selbst besorgen muss. Jeder Tatrichter weiß das oder erfährt es bei der Arbeit am Fall. Man kann für sich persönlich bei hinreichender Übung einen Zusammenhang zwischen Entscheidungsergebnissen und ihrer Begründung herstellen. Aber auch wenn man selbst einen solchen Zusammenhang sieht, kann man ihn nicht ohne Weiteres weitergeben. Dazu sind lange, manchmal lebenslange juristische Übungen erforderlich. Sie stellen Übergänge zwischen den unterschied­ lichen Inseln der Diskurse her. Für solche Übergänge – so sieht es Lyotard51 – gibt es weder Regeln noch Zwecke. Sie ereignen sich, sie verwalten das Privileg des­ Arrive-t-il,52 jenes ursprünglichen Ankommens, Überkommens und Verweilens mit Sätzen, die Verkettung stiften. Lyotard stellt diese Formel dem „Différend“ pro­ 49

Lyotard (Fn. V. 67), 219–222. Lyotard (Fn. V. 67), 59 (Ziff. 41), 119 (Ziff. 102), 215 (Ziff. 179). 51 Lyotard (Fn. V. 67), 116 (Exkurs Kant I). 52 Lyotard (Fn. V. 67) mit Textziffern 110, 131 f., 160, 172 f., 190 f., 232, 254, 263 f. 50

356

X. Methode

grammatisch als „Merkzettel zur Lektüre“ voran und kleidet sie in die eigentlich unübersetzbare Frage: „Une phrase ‚arrive‘. Comment enchaîner sur elle?“ Ein Be­ gründungssatz setzt den Entscheidungssatz fort, indem er sich als der ihm folgende, eben der begründende vorstellt, und der dritte – der die Verbindung zwischen den ersten beiden feststellt – verkettet sie weiter und macht den Beobachter glauben, dass es eine Verbindung zwischen Entscheidung und Begründung gäbe. Eine „In­ sel“ nennt Lyotard die jeweils entstehenden Diskursarten und tauft die Verbin­ dungsstücke, die Übergänge, die – wie schwankend und zeitweilig auch immer – diese Inseln verbinden, überbrücken oder überhaupt nur zugänglich machen, den „Archipel“. Das praktische Urteilsvermögen im kantischen Sinne sei „ein Reeder oder Admiral, der von einer Insel zur anderen Expeditionen ausschickte mit dem Ziel, auf der einen darzustellen, was auf der anderen gefunden (erfunden im ur­ sprünglichen Sinn von invenire) wurde und der ersteren als ‚Als-ob-Anschauung‘ zu ihrer Validierung dienen könnte“.53 Die Übergänge bilden den Archipel. Das ist philosophische Metaphorik. Man kann sie gebrauchen, um die übliche Rede von Gesichtspunkten mit einem Hintergrund zu versehen und als Methode zu verstehen, und man muss sie gebrauchen, um zu entdecken, weshalb trotz einer tautologischen Zuordnung so etwas wie ein Einverständnis zwischen unter­ schiedlichen Positionen zustande kommen kann. Unter Juristen redet man nor­ malerweise anders. Zur gehoben juristischen Alltagssprache gehören sogenannte­ „Topoi“, die genau diese Wirkung eines Übergangs haben. Ebenso wenig, wie man einen „Archipel“ begrifflicher Art kennt, ist klar, was denn eigentlich ein To­ pos sei. Gerhard Struck hat einmal 64 solcher Topoi aus Literatur und Rechtspre­ chung zusammengestellt. Wenn man sie auf sich wirken lässt – von res ­iudicata pro ­veritate accipitur über „ Priorität“ bis zu „Willkür ist verboten“ –,54 dann weiß man, dass keine praktische juristische Begründung ohne solche Topoi auskommt. Topoi erlauben Übergänge von einer zur anderen Position, von einem zum an­ deren Diskurs einfach deshalb, weil man sich ihnen nicht entziehen kann, wenn man noch ernstgenommen werden will. Gegen Verhältnismäßigkeit, Priorität oder Schikaneverbot lässt sich nichts einwenden, jedenfalls solange nicht, wie man sich auf der Ebene der Norm bewegt und noch nicht das konkrete Verhältnis bestimmt, den Zeitpunkt für die Berechnung der Priorität festlegt oder eine eigentlich zuläs­ sige Reaktion doch als unerlaubt am Fall bestimmt. Topoi sind schlagende Argu­ mente, die andere deswegen aus dem Feld schlagen, weil „das Neue das Alte ist, aber auf eine Weise, die nicht nur in der einseitigen Perspektive eines dem Zwei­ fel ausgesetzten und nach Verteidigung suchenden Partners als Verbindung von These und Antithese gilt, sondern in der Perspektive aller Teilnehmer diesen Vor­ zug aufweist.“55 53

Lyotard (Fn. V. 67), 218. Gerhard Struck, Topische Jurisprudenz. Argument und Gemeinplatz in der juristischen Arbeit. Frankfurt a. M. 1971, 2–33. 55 Rüdiger Bubner, Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt a. M. 1990, 64. 54

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch

357

Wenn man mit Bubner von einer solchen alltäglichen oder alltagsweltlichen Kon­ senswirkung der Topik ausgeht, kann man sich nur wundern, weshalb die Berufung auf Topik gerade im Rechtsbereich eine so kontroverse Wirkung gehabt hat (die hier nicht ein weiteres Mal dargestellt werden soll). Viehwegs schmale Schrift zur ju­ ristischen Topik als historischer Methode56 war noch lange nach ihrem ersten Er­ scheinen im Jahre 1953 dem Verdacht ausgesetzt, mit der Topik werde die verbind­ liche, vor allem die gesetzliche Norm abgeschafft oder zumindest infrage gestellt. Für das bis dahin übliche (und heute noch durchaus geläufige) Methodenverständ­ nis der akademischen Jurisprudenz war die Vorstellung, das Gesetz könne selbst ein Topos sein, eine Herabsetzung, die wirkte wie eine Mohammed-Karikatur auf Muslime. Das Gesetz – so denkt man sich die Sache – möge die allein verbindliche Norm darstellen. Das ist selbst eine Norm. Wenn man sie auslegt, dann bleibt man tunlichst beim Wortlaut dieser Norm, die das Gesetz als verbindlich für jede Ent­ scheidung erklärt. Im nächsten Schritt muss man aber fragen, was durch den Wort­ laut verbunden wird, und das Verbindende der Verbindlichkeit lässt sich nicht mehr vorschreiben. Dafür ist jeder auf Zustimmung (Konsens) und Applaus (Plausibi­ lität) angewiesen, und die findet man in Gesichtspunkten, die unbezweifelbar er­ scheinen, aber noch nicht als solche den Fall entscheiden. Der juristische Topos for­ muliert das Geltende und Überzeugende im Rechtsfach: Er eröffnet ein Problem, bindet es an einen Fall und verweist gleichzeitig auf eine Tradition.57 Das geschieht in Stichworten, in Regel- oder in Merksätzen ebenso wie in Sachverhaltserzählun­ gen. Dort überall sind Orte, von denen die Topik als Sammlung der „Denkörter“ ih­ ren Namen bezieht. In einem geordneten Rahmen zu suchen, ist der Sinn des Unter­ nehmens.58 Dazu gehört zunächst einmal das Wissen um die Orte, an denen man im Vorfeld einer Auseinandersetzung zu einem Problem überzeugende Gesichtspunkte findet: im Gesetz, in Lehrbüchern, in Entscheidungssammlungen. Topoi sind Stel­ len – Textstellen, Gesprächspositionen, Indizien –, die man zu einem Ganzen ver­ binden kann. Die Topik soll es in den Worten von Aristoteles ermöglichen, dass wir „über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“.59 Unklar ist allerdings, wie man das macht, und mit der Liste der 64 Stichworte, wie sie Struck zusammengestellt hat, weiß man es auch nicht besser als vorher. Es nützt nichts, gebetsmühlenartig „Priorität“ oder „Gleichbehandlung“ zu rufen, denn mit Bubners methodischen Beobachtungen weiß man, dass Topoi keine Gründe sind, sondern gerade dann bedeutsam werden, wenn man keine Gründe hat und danach sucht. „Das geregelte Aufsuchen solcher Örter, von denen aus Argumente zu bilden sind, hat der ‚Topik‘ ihren Titel eingetragen“, fasst Bubner das Ergeb­ nis zusammen.60 Man muss also – um überhaupt die einschlägigen Stichworte zu 56

Viehweg, Topik (Fn. I. 25), 46–80. Struck (Fn. X. 54), 14. 58 Viehweg, Topik (Fn. I. 25), 35. 59 Aristoteles, Topik 101 a 18 (in der Übersetzung v. Eugen Rolfes, Hamburg 1968, 1). 60 Bubner (Fn. X. 55), 68. 57

358

X. Methode

finden – nicht zu den Stichworten selbst gehen, sondern – ja, wohin wohl? Und warum überhaupt? Warum akzeptiert man in einem solchen Fall nicht einfach, was verlangt wird? Wenn man doch noch gar keine Gründe hat, sondern sie erst suchen muss? Professionell darf man antworten: Weil dafür bezahlt worden ist. Eine Partei bezahlt einen Advokaten dafür, die für sie günstigen Argumente zu finden. Manche sehen darin eine besondere Verirrung des Rechtsbetriebs durch advokatorische Rabulistik, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es solche Fälle gibt. Aber es gibt auch die Fälle, in denen vor und jenseits der professionel­ len Fachkunde etwas anderes als richtig behauptet wird, das seinen Rechtsgrund noch nicht hat oder erst sucht. Gesucht wird eben jener Admiral, der von einer In­ sel zur anderen Expeditionen ausschickt mit dem Ziel, auf der einen darzustellen, was auf der anderen gefunden wurde – so lautet Lyotards oben dargestellte Meta­ phorik. Dazu muss man kreativ werden, weil in semiotischer Redeweise die Erst­ heit des Zeichens dazu drängt. Wer mit der Norm nicht einverstanden ist, wird gedrängt, die Akten des Falls zu lesen, um Gesichtspunkte zu finden, die eine andere Lösung nahelegen. Wer mit einer Falldarstellung nicht einverstanden ist, wird gedrängt, sich mit der richtigen Lesart der Norm zu beschäftigen, um Gesichtspunkte zu finden, die ein anderes Ergebnis nahelegen. Das Lesen des Gesetzes erleichtert die Rechtsfindung – ­sagen manche, nämlich diejenigen, die von der Norm eine Richtungsänderung erwar­ ten. Die anderen sagen: Es kommt darauf an. Damit kommt man dann langsam zu den Gesichtspunkten der Oberfläche, zu den vorhandenen, schon gebildeten, schon archivierten Sätzen in den juristischen Texten. Diese Sätze kann man nicht einfach zurückweisen. Das ist das Berückende der Topik. Sie verpflichtet dazu, sich auf sie zu beziehen, erlaubt aber immer wieder neue Prädikationen und legt inhaltlich nichts fest. Analogie oder Sinn und Zweck sind solche Gesichtspunkte, die vielfältig verwendet werden können und etwas Altes neu aussehen lassen. Es gibt andere Gesichtspunkte, die ebenfalls offen lassen, für wen sie sprechen, die man aber als gemeinsamen Übergang verwenden kann. Das Gesetz selbst ist ein solcher Gesichtspunkt, wenn eine Norm überhaupt Gesichtspunkte erkennen lässt, wie Kenntnis, Kennenmüssen, Gefahrübergang oder Verhältnismäßigkeit. Wo das nicht der Fall ist, gesellt man dem Wortlaut des Gesetzes solche Gesichtspunkte bei und macht es damit verwendungsfähig. Für den modernen Topos gibt es keine verbindlichen Kataloge mehr.61 Jede An­ ordnung bleibt frei und verpflichtet kaum, man muss einen Topos noch nicht ein­ mal beim Namen nennen, sondern es genügt, ihn nur ahnen zu lassen. Nachträglich wird eine Prädikation mit einem Topos identifiziert, werden juristische Topoi mit Namen wie „Vertragsfreiheit“ oder „Verteidigung der Rechtsordnung“ benannt. Mit solchen Topoi gelangt man zu einer anderen Insel im Rechtssystem – vielleicht.62 61

Struck (Fn. X. 54), 20. Katharina Gräfin v. Schlieffen, Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens. Resultate empirischer Rhetorikforschung, in: Lerch (Hrsg.), (Fn. V. 52), 405–448 (440). 62

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch

359

Gleichzeitig bindet der Topos den Rechtsdiskurs an den Fall und erzeugt da­ mit einen wichtigen Unterschied zum philosophischen und politischen Diskurs. Schließlich müssen Juristen sich auf einen oder mehrere Sachverhalte als konkrete Problemlagen beziehen. Der Topos gilt zwar ohne Konkretisierung, er ist „aus­ deutbar“,63 brauchbar ist er aber immer nur relativ in Bezug auf einen Sachverhalt, den man kennen und würdigen muss. Schließlich reiht der Topos jeden, der ihn erwähnt – ob beabsichtigt oder nicht –, in eine Tradition ein, in der es schon ver­ gleichbare Problembehandlungen und Fallentscheidungen gegeben hat. Im Lichte der herangezogenen Topoi erscheint ein Problem niemals als gänzlich neu.64 Alle drei Merkmale – Problembindung, Fallbezug und Herkömmlichkeit – treten zeit­ genössisch wechselnd hervor. Der Topos hat eine Karriere, die aus Überzeugungs­ bildung, Textvorkommen und Publikumsinteresse gespeist wird. Das führt zur praktischen Topik der Gerichte und Gesetzblätter. Praktisch kann man Topoi, die sich auf bestimmte Rechtsprinzipien inhaltlich beziehen, von an­ deren unterscheiden, die Verfahrensfragen betreffen. Die topisch erfassten Inhalte beziehen sich auf allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze. Die Anerkennung fußte früher auf alten Texten, etwa auf dem Corpus Iuris, dem kanonischen Recht oder germanischen Landrechten. Die in germanischen Rechtssammlungen statuierten Sätze erhalten modern nicht selten den Charakter eines Sprichworts.65 Aus dem Satz des Sachsenspiegels: „Man en sal nimande zu keiner klage twingen, der her nicht begonst hat“66 wird: Wo kein Kläger, da kein Richter. Solche inhaltlichen Topoi ha­ ben eine als Rechtssatz geltende Form. Sie können später selbst zum Inhalt des Ge­ setzes werden. Pacta sunt servanda – Verträge müssen eingehalten werden (dog­ matisiert von Hugo Grotius, nicht bereits römischer Herkunft) ist eine Regel, die für das gesamte Vertragsrecht gilt und es vom Deliktsrecht unterscheidet. Ergänzt wird dieser Topos durch den weiteren Topos Volenti non fit iniuria – Wer etwas will, dem geschieht kein Unrecht.67 Beide sind ehrwürdig, katalogisiert und kom­ mentiert im mittelalterlichen mos italicus, einer Auslegungsmethode, mit deren Hilfe das Corpus Iuris als Text für aktuelle Problemlagen aufbereitet wurde.68 In­ haltliche Topoi verweisen auf eine Tradition der Textauslegung, die für neue Sach­ bereiche aufgerufen werden kann. Pacta sunt servanda wird von Haustürverkäu­ fen bis hinein ins Völkerrecht benutzt. So durfte die irische Regierung mit Erfolg geltend machen, sie habe bei der Beschlagnahme eines jugoslawischen Flugzeugs, das ein türkischer Charterer während des Kosovo-Kriegs in Dublin gelandet hatte, völkerrechtlichen Verpflichtungen der Europäischen ­Gemeinschaft ­nachkommen 63

Bubner (Fn. X. 55), 69. Struck (Fn. X. 54), 105. 65 Ruth Schmidt-Wiegand, Rechtssprichwörter im Gericht. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in mittelalterlichen Rechtsquellen, in: Heinrich Scholler/Silvia Tellenbach (Hrsg.), Rechtssprichwort und Erzählgut. Europäische und afrikanische Beispiele, Berlin 2002, 9–24 (15). 66 Sachsenspiegel Landrecht, Erstes Buch, LXII Satz 1. 67 Digesten 47, 10, 1. 68 Viehweg (Fn. I. 25), 67 f. 64

360

X. Methode

müssen.69 Inhaltliche Topoi eignen sich für Fälle der Normenkollision, dem schein­ bar ungeregelten Aufeinanderstoßen gegensätzlicher Norm­massen, wie sie im in­ ternationalen Privatrecht den Problembestand bilden.70 Verfahrensbezogene Topoi binden Redner, Respondent und Auditorium nicht an Rechtsinhalte, sondern an die Prozedur, in der man solche Inhalte finden und (nur) geltend machen darf.71 Audiatur et altera pars (Auch die andere Seite muss gehört werden) fand die römische Jurisprudenz bereits vor. Der Satz gehört zu­ sammen mit Nemo damnatus nisi auditus vel vocatus (Niemand ist verurteilt, der nicht gehört und geladen worden ist)72 zu einem heute im deutschen Recht als Art. 103 GG zusammengefassten Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Angesichts der modernen totalitären Praxis, ohne Verfahren zu verhaften und zu liquidie­ ren, kann der bürgerrechtliche Gehalt des Topos gar nicht hoch genug geschätzt werden. Er geht inzwischen weit über seinen ursprünglichen Anwendungsbereich­ hinaus. Unter „Hören“ versteht die aktuelle Jurisprudenz zunehmend mehr als die bloße Möglichkeit, vor Gericht vortragen zu dürfen. Gehört wird man in freier Fortführung der Tradition erst dann, wenn man in Kenntnis der Rechtsauffas­ sung des Gerichts sprechen durfte.73 Damit erhält ein ehrwürdiger Topos ein über­ raschendes und der Rechtslehre früher widersprechendes Gewicht, denn es galt daneben auch der Topos: Jus civile scriptum est vigilantibus (Das Privatrecht ist für die Wachsamen geschrieben).74 Topoi haben eine Karriere. Einige sind gerade modern, um nicht zu sagen: mo­ disch, andere dürfen nicht mehr beim Namen genannt werden, verschwinden aber im Gehalt auch dann nicht, wenn sie als Name bekämpft werden. Prominentes ju­ ristisches Beispiel dafür ist das „gesunde Volksempfinden“. Es bezeichnet den Einbruch außergesetzlicher, – der Sache nach – politischer Einflüsse in den an­ sonsten autonomen Rechtsbetrieb.75 Rechtliche Gesundheitsvorstellungen haben eine lange Tradition und können ohne normativen Appell bei Savigny beobach­ tet werden,76 der Topos gehört aber politisch der NS-Zeit an und tauchte damals im strafrechtlichen Nötigungstatbestand auf,77 wonach eine Tat nur rechtswidrig sein sollte, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht (§ 240 StGB in der Fassung von 1943). Die dadurch eröffnete politische Einschät­ 69

EuGH NJW 2002, 202. Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a. M. 2006, 62. 71 Viehweg, (Fn. I. 25), 118 f. 72 Digesten 48, 17, 1. 73 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 222. 74 Digesten 42, 8, 24. 75 Bernd Rüthers, Entartetes Recht, München 1988, 183. 76 Joachim Rückert, Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys?, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 103 (1986), 199–247. 77 Sabine Fabricius, Die Formulierungsgeschichte des § 240 StGB: Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der Nötigungsnorm, Frankfurt a. M. 1991, 132–135. 70

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch

361

zungsprärogative wurde nach dem Ende der NS-Zeit nicht beseitigt, sondern durch eine andere Formulierung ersetzt. Maßstab soll heute nicht mehr „gesundes Volks­ empfinden“, sondern die „Verwerflichkeit“ einer Mittel-Zweck-Beziehung sein. Das ist eine nur scheinbar technische Angelegenheit, wie sich am Streit darüber gezeigt hat, ob Sitzblockadedemonstrationen gegen die Nachrüstung der 1980er Jahre verwerflich seien oder nicht.78 Nicht wenige Topoi veranschaulichen ohne große Umstände, was Struck die „politische Methode der Rechtsprechung“ ge­ nannt hat.79 Von der politischen Karriere ist die schlichte Mode manchmal schwer zu ­unterscheiden. Der modische Topos nistet sich stichwortartig ein und breitet sich in alle Berei­ che aus. Modisch sind Stichworte wie: Gleichbehandlung, Diskriminierungsver­ bot oder Verhältnismäßigkeit. Diese Topoi machen Karriere und werden als be­ deutend geschätzt, weil sie verfassungsrechtliche Akzente aufzunehmen scheinen. Aber Skepsis ist angebracht. Innerhalb der Topik lässt sich Politik zwar darstellen, aber nicht machen, denn jeder aufgerufene Gesichtspunkt lässt sich konterkarie­ ren und relativieren. Duncan Kennedy nennt Topoi Argument-Bites und gruppiert sie anschaulich in Paaren. Kein Topos bleibt ohne Gegenteil stehen und bringt auf diese Weise alle juristischen Operationen in Bewegung, in operation, aus der sich fallspezifische Cluster entwickeln. So wird pacta sunt servanda einmal kon­ frontiert mit There was no promise oder True, but I kept my promise, dann aber auch mit rebus sic stantibus.80 Was bleibt, ist allenfalls noch eine Tendenzaussage. Wenn das Diskriminierungsverbot sich gegen politisch oder wirtschaftlich mäch­ tige Gewalthaber richtet, kann der Topos helfen, aber sobald er die Form eines Gesetzes annimmt, werden Inhalte und Wirkungen zweifelhaft. Verhältnismäßig­ keit ist kein Allheilmittel. Es kann darauf hinauslaufen, dass alles bleibt, wie es ist, es ein bisschen weniger wird oder sogar ganz ausfällt – je nach diskursivem Einsatz. Mäßigung, ein bisschen weniger eben – das kann man vielleicht bewir­ ken, und das mag als etwas ausreichen.81 Als Rechtsbegriff hat „Verhältnismäßig­ keit“ seinen Ursprung im Polizeirecht bei der Ausübung polizeilicher Gewalt und im Strafrecht im Rahmen der Notwehr. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um einen juristisch wenig konkreten Versuch, in der Situation unbegrenzte Eingriffs­ befugnisse doch noch zu begrenzen. So darf die Polizei Gewalt immer anwen­ den, wenn eine „Störung“ nicht anders zu beseitigen ist; auch jeder Einzelne darf Gewalt immer anwenden, wenn er sich verteidigen will. Juristisch begrenzt wur­ den diese Rechte durch die Forderung, Gewalt dürfe nicht „unverhältnismäßig“ 78 Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung, in: Friedrich Müller/Rainer Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 227 f. 79 Gerhard Struck, Fallstudien zur politischen Methode der Rechtsprechung, in: Eike Schmidt/Hans-Leo Weyers (Hrsg.), Liber Amicorum Josef Esser. Zum 85. Geburtstag am 12. März 1995, Heidelberg 1995, 167–190 (175). 80 Kennedy (Fn. VII. 25), 94, 98, 102. 81 Gast (Fn. VI. 12), 151.

362

X. Methode

sein. Neuerdings soll dieser Grundsatz auch für ganz andere Bereiche gelten.82 So wird im ­Arbeitsrecht die Videoüberwachung zur Verhinderung von Postdiebstäh­ len und Terroraktivitäten in einem Briefzentrum als unverhältnismäßiger und da­ mit verbotener Eingriff in das Persönlichkeitsrecht aller in der Bearbeitungshalle beschäftigten Arbeitnehmer aufgefasst.83 Die Begründung besteht in wertender Sachverhaltserzählung: Durch Videoüberwachung würden Arbeitnehmer einem ständigen Überwachungsdruck ausgesetzt, weil sie stets damit rechnen müssten, gerade gefilmt und später anhand der Aufzeichnungen kontrolliert zu werden. Die Ambivalenz aller dieser Topoi wird ebenso geschätzt wie bekämpft, und je nachdem rechnet man Erfolg oder Misserfolg der Topik als Methode zu, als ob der Schraubendreher (der früher „-zieher“ hieß) seine Qualität aus dem Aufoder Zudrehen bezöge. Topoi bewirken vielleicht etwas, stören aber häufig im in­ nerjuristischen Betrieb. Was das heißt, erfährt man heutzutage beispielsweise an res iudicata – einem Topos mit mehreren herkömmlichen Satzausformungen wie: Das Urteil gilt als Wahrheit (res iudicata pro veritate accipitur);84 oder: Das Ur­ teil schafft Recht unter den Parteien (res iudicata ius facit inter partes,85 was im deutschen Recht § 325 Abs. 1 ZPO entspricht). In der öffentlichen Wahrnehmung werden erstaunlich viele Rechtsfragen unter Vernachlässigung aller Probleme als eindeutig und wahr behandelt, weil die Sache einmal entschieden worden ist. Rechtskraft verschafft einem inhaltlichen Spruch Autorität. Diese Autorität stört aber den Fortgang im juristischen Diskurs, in dem die Beteiligten gerne andere Inhalte oder die unterlegene Meinung zum Sieg führen möchten.86 Modern finden sich deshalb immer wieder Gründe zur Fortsetzung, Wiederaufnahme oder Revi­ sion durch Urteil abgeschlossener Sachen.87 Dazu trägt die Einrichtung einer Ver­ fassungsgerichtsbarkeit ebenso bei wie die Anrufung übernationaler Foren. Topos steht gegen Topos, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus­ führt, unter außergewöhnlichen Umständen entstehe im Interesse einer wirksamen Rechtspflege „aus der Natur der Sache“ die Befugnis, einen für abgeschlossen er­ klärten Fall wieder aufzunehmen und Irrtümer zu berichtigen, wenn es zu einem offenkundigen Irrtum über Tatsachen gekommen sei.88 Insgesamt müssen gerade internationale Gerichte um die Berücksichtigung ihrer Konkretisierung am Fall ringen. Dieses Ringen führt bis an die Grenze der Rechtsbeugung auf Seiten der Instanzgerichte, wie Janine Luth am Fall Görgülü und an der Renitenz des OLG Naumburg gezeigt hat.89

82

Walter Leisner, Der Abwägungsstaat: Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, Berlin 1997. BAG NZA 2004, 1278. 84 Digesten 1, 5, 25. 85 Corpus iuris canonici 1642 § 2. 86 Chaïm Perelman, Justice, Law, and Argument. Essays on Moral and Legal Reasoning, Dordrecht 1980, 125–135. 87 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 422 f. 88 EGMR NJW-RR 2006, 308. 89 Luth (Fn. X. 46), 197–205. 83

2. Juristische Topik und Topoi im Gerichtsgebrauch

363

Wenn man die fallbezogene Arbeit mit Topoi methodisch ernst nimmt, dann kann sich der Charakter der Rechtsdisziplin ändern. Möglicherweise ahnten das die Verächter der Topik, die um den bindenden Charakter der Auslegung besorgt waren. Theodor Viehweg fügte seiner Schrift über die Topik im Jahre 1974 einen „Anhang zur Fortentwicklung der Topik“ bei, und dieser Anhang verschob das juristische Methodenverständnis insofern, als eine „situative“, am Verfahren und am Problem orientierte Methode, „die sich innerhalb der pragmatischen Rede­ situ­ation bewegt“,90 neben eine „nichtsituative“ deduktive, syntaktisch formierte und semantisch verfestigte Redeweise als deren Gegenstück trat. Die behauptete Differenz zwischen syntaktisch-semantischer und pragmatischer Redeweise ver­ band Viehweg mit dem wiederholten Hinweis auf Perelmans argumentations­ analytische Untersuchungen.91 Viehwegs „Schritte zur rhetorischen Rechtstheo­ rie“92 beförderten die Bewegung einer Pragmatik, die sich aus der von Charles Morris verordneten Einheit der Zeichenbewegungen löste. Pragmatik ist im ju­ ristischen Methodenverständnis als das Neue eingeführt worden und wird noch heute so verstanden. Bubner betont in seinem Topik-Essay ganz ähnlich – ohne dass Viehweg oder die Rechtstheorie erwähnt würden  – die „pragmatische Di­ mension“ als Wirkung der Topik.93 Dabei bleibt umstritten, inwieweit Topoi einen Konsens stiften, ihn bewirken oder auf ihm beruhen. Während Bubner, der Phi­ losoph, Konsentieren als ein mögliches Ergebnis, aber keineswegs als Grundlage der Topik ansieht, hat Lüderssen am Beispiel des Streiks eben diesen Konsens und seine Grundlage in „konkreten Ordnungen“ als zweifelhaftes Merkmal der Topik beschrieben und kritisiert. Denn wären Topoi auf vorgängige, noch dazu konkrete Ordnungen bezogen, wie sie einst Carl Schmitt dem Rechtsdenken empfahl, so würde es sich um eine je nach Gesellschaftsordnung wahrhaft diabolische Eigen­ tümlichkeit handeln. Was konkret sei und worin die Ordnung liege, das war Ein­ fallstor für die NS-Justizmanipulation.94 Nun müssen es nicht immer Verbrecher sein, die über die Konkretheit eines Topos befinden, aber nicht zu verkennen ist, dass zu einer gegebenen Zeit die meisten Adressaten einen Topos in einer ziemlich konkreten Richtung verste­ hen – und gleichzeitig missverstehen. Chaïm Perelman demonstriert das nicht nur einmal an einer Entscheidung des belgischen Kassationsgerichts vom 11. Novem­ ber 1889, wonach Frauen nicht zur Anwaltschaft zugelassen werden dürften.95 Das zeitgenös­sische belgische Gesetz verhielt sich zu diesem Punkt nicht, so dass die Klägerin auf eine „Lücke“ hinweisen konnte. Diese liege aber nicht vor, meinte das oberste belgische Gericht zu seiner Zeit. Das Gesetz schweige keineswegs, viel­ 90

Viehweg, Topik (Fn. I. 25), 112. Theodor Viehweg, Rechtsphilosophie und Rhetorische Rechtstheorie. Gesammelte kleine Schriften, mit einer Einleitung hrsg. v. Heino Garrn, Baden-Baden 1995, 191, 216, 218. 92 Theodor Viehweg, Schritte zur Rhetorischen Rechtstheorie, in: (Fn. X. 91), 200–205. 93 Bubner (Fn. X. 55), 65. 94 Klaus Lüderssen, Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt a. M. 1996, 251–258. 95 Chaïm Perelman, Gleichheit und Gerechtigkeit, Rechtstheorie (10) 1979, 385–390 (388). 91

364

X. Methode

mehr sei es ein so einleuchtender Grundsatz, „die Rechtspflege den Männern vor­ zubehalten“, dass dies – weil es eben so sehr einleuchte – auch nicht ausdrücklich angeordnet werden müsse. Tatsächlich ist das Beispiel im Kontext einer Rechtsent­ wicklung von nur einem halben Jahrhundert so augenfällig, dass man sich darüber nur wundern kann. Im Jahre 1922 erkannte der Gesetzgeber in Belgien nämlich, dass er tätig werden müsse, weil eine Regelung doch notwendig sei. Mit Gesetz vom 7. April 1922 wurden belgische Frauen, die ein juristisches Doktordiplom er­ worben hatten, zur anwaltlichen Vereidigung zugelassen. Das 1889 Offensichtliche ist – so resümiert Perelman – „dreißig Jahre später unvernünftig geworden. Und unvernünftig ist das, was in einer Gemeinschaft in einem gegebenen Zeitpunkt unzulässig ist“.96 Perelman konkretisiert an dieser Stelle die All-Interpretierbar­ keit des Rechts. Alles ist interpretierbar, aber nicht alles, was interpretiert werden kann, wird auch zu einem gegebenen Zeitpunkt wirklich Auslegungsergebnis. Die Bewegung der Topoi ist nicht beliebig. Aber es ist nicht der Text, der die Beliebig­ keit verhindert, sondern der Kontext, anders ausgedrückt: In sozialer und zeitlicher Dimension wird beschränkt, was sachlich möglich wäre. Hier berühren sich eine rhetorische und eine systemische Konzeption des Rechts. Zwischen beiden Seiten – der Interpretierbarkeit jedes Rechtssatzes und seiner dann doch überraschend eindeutigen, aktuellen und widerspruchslosen Prä­ sentation – siedelt Perelman sein eigenes theoretisches Vexierspiel an. So betont er in einer Studie über die Topoi „Gleichheit und allgemeines Interesse“, dass seit 200 Jahren Gleichbehandlung der ausschlaggebende und letztlich allein überzeu­ gende Gesichtspunkt vor Herkunft oder Geschlecht, Bildung oder Vermögen ge­ worden ist.97 Das habe aber die Ungleichbehandlung nicht verhindert oder auch nur erschwert. Wenn Steuern von allen gleich zu entrichten seien, so würden doch nicht alle das gleiche Geld entrichten müssen. Der Steuersatz könne nach Einkom­ menshöhe gestaffelt, nach Staffelung progressiv gestaltet und schließlich je nach Gestaltung subventioniert werden. Solche Einschränkungen dürfen mit dem all­ gemeinen Interesse gerechtfertigt werden, das neben dem Gleichheitsgebot gilt, ihm scheinbar untergeordnet ist, seinen konkreten Inhalt aber bis zur inhaltlichen Unkenntlichkeit bestimmt. Man weiß, dass gleiches Wahlrecht für alle galt, nicht aber für Frauen, man erinnert sich auch noch daran, dass ein Vermögenszensus die Klassen gleicher Wähler bestimmen konnte. Schließlich kann dem Gesetzgeber, der ein gleiches Gesetz für alle erlässt, eine Verletzung des Gleichheitssatzes ange­ lastet werden. Das – hebt Perelman98 unter Bezug auf den frühen Verfassungsrich­ ter Leibholz hervor – sei deutsche, bundesrepublikanische Rhetorik, höchst wirk­ sam, um jenseits des politischen Systems eine judizielle Steuerung dieses Systems einzurichten, schweigend und unter Berufung auf geltende Gesetzlichkeit. Unter 96 Chaïm Perelman, Das Vernünftige und das Unvernünftige im Recht, Rechtstheorie (13) 1982, 151–160 (156). 97 Chaïm Perelman, Egalité et intérêt général, in: Léon Ingber (Hrsg.), L’Egalité, Bruxelles 1982, 615–624. 98 Perelman (Fn. X. 97), 620.

3. Argumentation und Abduktion

365

den drei bekannten Gewalten sei die Justiz am besten zu einer derart delikaten Systemkontrolle geeignet, sofern sie von einer öffentlichen Meinung unterstützt werde, die das Recht achte. Das allein bietet am Ende Gewähr dafür, dass die Kon­ kretheit einer Ordnung nicht zum konkreten Verbrechen wird. Perelman entwickelt Vernunft als steuernden Topos und verwendet ihn auch gegen den  – unvernünftigen, nämlich totalitären  – Gesetzgeber. Die Nürnber­ ger Prozesse hätten gezeigt, dass „das Unannehmbare, das Unvernünftige“ über­ all eine Rechtsgrenze darstelle.99 Wenn man also versucht, den Gehalt der Ver­ nunft zu bestimmen, wäre es zu kurz, hier einfach nur die Akzeptanz durch das Publikum entscheiden zu lassen. Sie spielt auch eine Rolle. Aber in der Akzeptanz wird noch etwas über die bloße Plausibilität Hinausgehendes bezeichnet. Akzep­ tiert werden kann – von Rechts wegen – nur, was sich innerhalb gesetzter Grenzen hält und dennoch als Ausdruck von Freiheit zu respektieren ist. Was dann durch eine aktuelle Entscheidung verkündet und ein aufnehmendes Publikum beifällig beurteilt wird, geht über den bloßen Applaus hinaus. Perelmans Argumentations­ konzept zeichnet sich an dieser Stelle dadurch aus, dass es den Zuhörer überhöht. Topoi werden dort einem normativen Forum vorgestellt, es ist keineswegs allein der Beifall, der sie auf die Dauer wirksam und mächtig erscheinen lässt. Das führt in die Besonderheiten einer Theorie juristischer Argumentation. 3. Argumentation und Abduktion Mit dem Argumentationsmodell hat sich die Rechtsdisziplin in pragmatischer Hinsicht verändert. Dabei ist „Auslegung“ als methodischer Gesichtspunkt nicht verschwunden. Beides existiert irgendwie nebeneinander, und viele meinen, es werde eben im Wege der Argumentation ausgelegt. Identisch sind die Operationen aber nicht. Auslegung von Gesetzen – so lautete der Eingangssatz (Kap. X. 1.) – sei Rhetorik, und zwar jene spezielle Form der Rhetorik, mit der man für jeden Fall von T (Tatbestand) die gesetzlich bestimmte Rechtsfolge R zur Geltung bringen soll (T → R), wobei nur die Behauptung, S sei gerade ein Fall von T durch Aus­ legung von T zu klären sei. Das muss man nicht so eng sehen, und man will es – heute – auch nicht mehr so eng sehen. Hält man diese Tendenz für abträglich, so sagt man, das Gesetz sei begrifflich unzuverlässig geworden, werde von „Richter­ recht“ durchzogen und überhaupt im angeblich gemeinten Gehalt nicht mehr zu­ verlässig befolgt. Denn Argumentation ist ein Prozess zwischen mehreren und be­ wirkt etwas, das man ohne diesen Prozess nicht ohne Weiteres vorhersehen kann. Es wird mehr als früher möglich, und das heißt: möglich als Erstheit des Zeichens, und wer argumentiert, ist mutig genug, diese Erstheit auch zur Drittheit des Zei­ chens zu machen. Nun kann man sofort darüber streiten, ob es früher wirklich an­ ders war und ob das etwa besser so war. Das Argumentationsmodell wurde und wird jedenfalls als Fortschritt verstanden. 99

Perelman (Fn. X. 96), 159.

366

X. Methode

Mit Argumenten kann man machen, was man mit einer Auslegung nicht er­ reicht. Zwar gibt es bis zum heutigen Tage die Vorstellung, das richtige rechtliche Ergebnis sei im Gesetz enthalten, werde gehorsam ausgelegt und dürfe dann in der Entscheidung folgerichtig auch als das vom demokratisch legitimierten Ge­ setzgeber gewünschte Ergebnis angesehen werden. Die Methode zwischen Norm und Fall verschwinde also, wenn sie richtig angewendet werde. Auch der Anwen­ der verschwindet in diesem vor-argumentativen Modell hinter der Norm und jen­ seits des Falls. Aber jeder, der näher mit dem Rechtsbetrieb befasst ist und es wagt, seine Gefühle dabei mit Theorievorstellungen zu vermitteln, bemerkt, dass in wirklichen Verfahren etwas anderes vonstattengeht, als die Auslegungslehre es vorsagt. Die Personen verschwinden keineswegs, und man weiß auch nach der Entscheidung nicht immer, ob Normen richtig auf einen Fall angewendet worden sind. Wenn der Fall komplex wird – gleichgültig, ob es dabei um die weltweit ange­ messene Preisbildung für lebensrettende Arzneimittel geht oder um die Ahndung von Massenerschießungen in entlegenen Gegenden der Welt –, dann verschwin­ det zwar nicht das Gefühl für eine Norm, die angemessen ist, und es verschwin­ det auch nicht der beunruhigende Fall, aber es fehlen die scheinbaren Sicherhei­ ten, die eine Auslegung böte. Es gibt Personen – je nachdem Betroffene, Empörte, Täter oder Opfer –, aber es gibt keine formulierte Norm. Alle Augen richten sich auf die Anwender, die aus einer gefühlten, aufgedrängten oder anders kodifizier­ ten Norm etwas Passendes machen sollen. Es sind die Anwender, die bei der Ar­ gumentation ins Rampenlicht treten, auch wenn sie anschließend wieder hinter dem Fall verschwinden möchten. Aber das wird schwierig. Dass die Normanwen­ der nicht mehr verschwinden, hat vermutlich am meisten beunruhigt, als die To­ pik nicht mehr nur praktisch, sondern auch noch mit theoretischem Anspruch in der Methodenlehre aufgetaucht ist. Hinter der Topik, die gleichsam unpolitisch er­ scheint,100 regieren der Machtanspruch der Topoiverwender und damit deren Wirk­ vorstellungen ebenso wie die tatsächlichen oder nur möglichen Effekte. Soweit das alles in eine pragmatische Vorstellung vom Argumentieren mündet, ist die juris­ tische Methode nicht mehr personen- und verfahrensunabhängig. Argumentation ist eine Funktion im Justizdispositiv (Kap. VI. 3.). Wenn man beurteilen will, was als Entscheidung aus der Norm hergeleitet wird, reicht es nicht mehr aus, Nor­ men zu kennen und zu lesen. Man muss auch die Verfahren kennen, in denen sie wirksam werden, und auf die Personen sehen, die mit ihnen umgehen. Dann kennt man auch die Topoi, auf die es ankommt. Seit den Siebzigerjahren hat eine pro­ zedurale Grundlegung der Rechtsanwendung die alte Hermeneutik und Gesetzes­ auslegung abgelöst. In der Entwicklung verbinden sich Tendenzen innerhalb und außerhalb des Rechtsfachs. Argumentation ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst einmal außerhalb des Rechtsfachs zu einer bestimmenden methodischen Vokabel gewor­ den. Dafür kann man zeitgeschichtliche Gründe geltend machen (und argumen­ 100

Struck (Fn. X. 54), 104.

3. Argumentation und Abduktion

367

tiert bereits). Die Weltkriegszeit zwischen 1914 und 1945 hat Gewissheitsverluste mit sich gebracht. Schon die Trennung zwischen Tatsache und Norm oder zwi­ schen Apriori und Aposteriori sind nicht mehr so gewiss und begründbar, wie sie in Kants Schriften wirken. Man kann argumentieren, was als Tatsache gelten soll, und man kann und muss Normen, die andere für tatsächlich geltend halten, als Tatsache zugrunde legen. Der Prozess der gesellschaftlichen Argumentation ist zu einem breiten, vielfältig ausgearbeiteten Modell geworden, das seinerseits das Verständnis jeder einzelnen Norm beeinflusst. Historisch stehen die Namen von Stephen Toulmin und Chaïm Perelman in den Fünfzigerjahren für den Be­ ginn einer neuen gesellschaftlichen und philosophischen Bedeutung der Argu­ mentation.101 In Deutschland haben Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel die wesentlichen Stichworte für ein neues methodisches Verständnis gegeben, wenn man nicht schon von Adorno und Horkheimer den Sinn der List des Odysseus verstanden hat, der den Sirenen lauscht, ihnen aber durch die eigene Fesselung entgeht.102 Denn gesellschaftlicher Fortschritt entsteht nicht allein durch die Er­ kenntnis des Wahren. Die Wahrheiten, die einer propagiert, sind vor dem Hin­ tergrund seiner Interessen und Beschränkungen zu verstehen. Wahrheit beruht mit Apel auf einem intersubjektiven Prozess der Verständigung. Apel war der deutsche Peirce-Exeget im 20.  Jahrhundert, einflussreicher als der textgenaue Klaus Oehler, der sich um sozialwissenschaftliche, gar institutionelle Wirkun­ gen der Zeichenpragmatik nicht weiter gekümmert hat. Das Leitbild für den uni­ versellen Diskurs stammt von Karl-Otto Apel, und Apel belegt es mit Peirce als Gewährsmann. Die Rechtsdisziplin war empfänglich für diese vorbereitenden Anstöße, und das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich klarmacht, dass umgekehrt Stephen Toulmin, der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, Verfahren und Beispiele aus dem gerichtlichen Prozess entlehnt und diesen als Vorbild für eine argumenta­ tive Verständigung nimmt.103 Es hat nicht lange gedauert, ehe von Toulmins „Uses of Argument“ und dem Gemeinschaftswerk von Chaïm Perelman und Lucie Ol­ brechts-Tyteca,104 die beide erstmals im Jahre 1958 erschienen sind, das Stichwort von der Argumentation in Gerichtsurteilen auftaucht. Innerhalb des Rechtsfachs hat das Soraya-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Indikator gezeigt, dass die alte Auslegungsidee ungenügend geworden ist. Wer es nicht glaubt, kann die folgende viel zitierte Begründungssequenz des Bundesverfassungsgerichts noch einmal auf sich wirken lassen:105 101 Harald Wohlrapp, Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, Würzburg 2008, 22–27. 102 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Odysseus oder Mythos und Aufklärung. Exkurs I, in: dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1969, 50–81 (66). 103 Stephen E. Toulmin, The Uses of Argument, Cambridge 1958. 104 Perelman/Olbrechts-Tyteca (Fn. VIII. 96). 105 BVerfGE 34, 269 (286/287).

368

X. Methode

„Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wert­ vorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür frei­ halten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen.“

Man hat die Begründung für schlecht, verschroben und essentialistisch gehal­ ten. Wie immer hätte man sie auch anders fassen können. Bemerkenswert über die Zeit hinaus bleibt sie aber einfach deshalb, weil der Ausdruck „Argumentation“ im Jahre 1973 in einem höchstrichterlichen Urteil vorkommt. Robert Alexy hat seine „Theorie der juristischen Argumentation“ im Jahre 1978 mit eben diesem Zitat beginnen lassen106 und in dieser Arbeit die bis zu diesem Zeitpunkt international vorgelegten Argumentationsmodelle – so auch Toulmin und Perelman – zusam­ mengefasst. Der von ihm zitierte Rechtsprechungsimpuls ging aus von einem im Gesetz nicht vorgesehenen Recht, dem Persönlichkeitsrecht, dessen Anerkennung in der Rechtsprechung auf Argumentation beruhen sollte, denn Auslegung hätte dafür nicht ausgereicht. Es gab nicht nur kein allgemeines Persönlichkeitsrecht mit monetärem Schadensersatz, alle Versuche, etwas Ähnliches als deutsches Gesetz zu verfassen, waren auch in den Sechzigerjahren gescheitert, also bevor das Bun­ desverfassungsgericht über die Auslegungsmöglichkeit zu entscheiden hatte. Das Soraya-Urteil schildert die Erfolglosigkeit der parlamentarischen Anstrengun­ gen im Tatbestand. Dennoch blieb es beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Was­ Juristen aufgrund rationaler Argumentation – ohne dieses Attribut geht es seitdem nicht mehr – für rechtens angesehen haben, das sollte auch Recht bleiben. Daneben tritt eine weitere innerjuristische Institution, die offensichtlich auf et­ was anderem als auf einer Auslegung des Gesetzes beruht. So wie in der Kom­ munikationstheorie Argumente des Einen die Kraft haben sollen, die Position des Anderen zu verschieben, ihn zu überzeugen, so soll und darf das Urteil auf der Überzeugung der Richter beruhen, auch auf der Überzeugung der Laienrichter, die die Gesetze nicht studiert haben. Überzeugung ist ein Terminus der Verfahrens­ ordnungen. Dort bezieht er sich auf die Meinung, die ein Gericht für sich allein als Ergebnis eines streitigen Verfahrens gebildet hat. In Kap. VI. 1. ist schon aus­ geführt worden, was es heißt, wenn über die Beweiswürdigung nach freier Über­ zeugung entschieden werden soll (§§ 286 ZPO, 261 StPO). Die Entscheidung bleibt geheimnisvoll. Die Überzeugung ist gesetzlich nicht das, was von einem Zeichen zum anderen nach einem Subsumtionsverfahren zu übertragen wäre, sondern eben das, was sich jeder selbst gebildet hat – und zwar auch in einem Richterkollegium jeder für sich selbst und am Ende alle nach Beratung. Mit der Auslegung von Nor­ men hat die gerichtliche Überzeugung gerade nichts zu tun. Allerdings soll ein Gericht für die eigene Überzeugung argumentieren, die conviction intime allein­ 106

Alexy (Fn. IX. 31), 15.

3. Argumentation und Abduktion

369

genügt nicht. Das verändert Position und Wirkungsmacht der Argumente und hebt die Argumentation in jene kompetitive oder agonale Arena, in der man mit Ar­ gumenten der eigenen Überzeugung zum Siege verhelfen will. Praktisch befindet man sich auf dem Feld der Rhetorik, und semiotisch sind Argumente eine Sache des eigenen Denkens. Mit einem Argument bezieht man sich auf den Interpretan­ tenbezug, also auf das durch ein Zeichen hergestellte Verhältnis eines Dritten zum Objekt. Peirce versteht das Argument als „Zeichen, dessen Form dahin tendiert, auf den Interpreten über dessen eigene Selbstkontrolle zu wirken, wobei es einen Prozess der Veränderung in Gedanken oder in Zeichen so darstellt, als ob es diese Veränderung beim Interpreten hervorrufen wollte.“107 In Argumenten steckt se­ miotisch gesehen also eine fundamentale Fiktion. Als Zeichen scheint ein Argu­ ment den Interpreten zu verändern, was aber – wie die Klassifikation der Zeichen (Kap. II. 1.) zeigt – offensichtlich unmöglich ist. Es gibt keinen Interpretenbezug, sondern eben nur den Interpretantenbezug, der verändert wird und in der Darstel­ lung – und das heißt: mit anderen Zeichen – eine Veränderung bewirkt. Ob sich deshalb Ego, Alter oder das Ergebnis ändern und ob sich überhaupt etwas ändert im Sinne indexikalischer Bezüge, weiß man nicht. Argumente sind symbolische Legizeichen des Interpretanten.108 Sie bewirken definitionsgemäß einen Regelbezug mithilfe anderer Zeichen und umfassen als Legizeichen auch primäre Rhema- und sekundäre Dicizeichen. Peirces Klassi­ fikation wird an dieser Stelle ziemlich unübersichtlich, ist selten systematisch ge­ braucht und nur von ganz wenigen Autoren auf den Rechtsbereich übertragen worden.109 Aber eines wird daraus praktisch deutlich: Mit Argumenten kann man machen, was man mit einer Auslegung nicht erreicht. Die Auslegung ist auf Zweit­ heiten verwiesen, auf das, was schon da ist. Niklas Luhmann bemerkt dazu lako­ nisch,110 Argumentation sei eben eine Form mit zwei Seiten. Semiotisch lassen sich die zwei Seiten sicher nicht mit den je nach Perspektive im Übrigen ganz un­ terschiedlichen Vorstellungen über die Güte eines Arguments bestimmen. Es sind nicht auf der einen Seite gute, auf der anderen schlechte Gründe anzutreffen, son­ dern nur andere. Infolgedessen verwirft Luhmann auch die These, Geltung könn­ ten nur gute Gründe beanspruchen, und setzt an die Stelle eines manchmal ge­ glaubten Fortschritts von den schlechten zu den guten Gründen eine Differenz. Argumente bewirken nicht, was Verträge, Verwaltungsakte oder Strafbefehle be­ wirken; sie setzen keine Folgen in Kraft. Luhmann spricht hier von „Geltung“.111

107

147.

Charles S. Peirce, Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus, in: (Fn. I. 6, Bd.3),

108 Charles S. Peirce, Nomenclature and Divisions of Triadic Relations, as Far as They Are Determined., in: (Fn. I. 18, Bd. 2), 289–299. 109 Lorenz Schulz, Das rechtliche Moment in der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce. Ebelsbach 1988; ders., Semiotik und Recht. Zeichen im Recht und Recht der Zeichen, in: (Fn. I. 37), 390–411. 110 Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 338. 111 Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 338.

370

X. Methode

Das Argument unterlegt die Rechtswahl mit einem Interpretanten, nicht mehr. Weil Interpretanten zu Zeichen der nächsten Operation werden, kann es insofern doch so wirken, als ob Argumentation Erfolg habe. Peirce zählt zu den Merkma­ len des Arguments die Möglichkeit „to determine an acceptance of its conclusion“, was gleichbedeutend mit der Bedeutung (meaning) des Arguments sei.112 Aber das ist eine Sache der Darstellung durch denjenigen, der argumentiert. Im Zeichen­ prozess kann jeder ein Argument fortsetzen oder dazu ein Gegenargument finden. Das sieht man keinem Argument an. Man kennt die Umgebung oder erfährt, was aus einem Interpretanten gemacht wird. Insofern bewirken Argumente etwas ande­ res als Ergebnisbestimmung. Entscheidungen als Fallergebnisse sind Dici­zeichen der Art: Das hat der Bundesgerichtshof schon entschieden (ohne dass sich jemand die Mühe machte, „das“ zu erläutern). Argumente selbst entscheiden nichts, aber sie bewirken etwas Entscheidendes, indem sie das Operationsfeld herstellen, ver­ größern oder verkleinern.113 Immerhin haben Argumente auch ein Erstes und ein Zweites als degenerierte Formen, und hier kommen Glauben, Hoffen und Wir­ ken ins Spiel. Das Erste ist der Glauben des Argumentierenden an die von ihm be­ wirkte Veränderung, und genauso ein Erstes ist die Hoffnung, das eigene Argu­ ment bewirke die Überwindung der gegnerischen Position. Das Zweite wäre der Erfolg, gar die Auszeichnung eines Arguments in einem wirklichen Urteil als ent­ scheidend. In einem argumentativen Interpretantenbezug wird man fragen, ob es für ein mögliches Ergebnis einen Bezugstext gibt. Anzahl und Art der Bezugnah­ men sind aber nicht festgelegt. Unter dem Titel der Argumentation wird die Bezugnahme zum Zweck der Inter­ pretation erweitert. Argumente zieht man nicht einfach aus Gesetzestexten, im Ge­ genteil: Mit Argumenten will man plausibel machen, was aus dem Gesetz eigent­ lich nicht herausgelesen werden kann. Aus der juristischen Methodenlehre lässt sich kein numerus clausus zugelassener Argumente entnehmen. Sie lässt als Ar­ gument gelten, was als Argument daherkommt, und klassifiziert die (Kap. X. 1.) vorgestellten kanonischen Ordnungsmuster, übt aber im Übrigen keine irgendwie geartete Türhüter-Funktion aus. Das muss man noch nicht einmal philosophisch beanstanden. Jedenfalls macht Harald Wohlrapp, Philosoph und postmoderner Methodiker der Argumentationsanalyse, Mut, das als Argument anzuerkennen, was für eine Behauptung als Grund verstanden und für eine Folge als Rechtfer­ tigung anerkannt wird – oder auch nicht. Behaupten, Begründen und Kritisieren machten das „thetische System“ der Argumentation aus.114 Das ist nach herkömm­ lichen juristischen Maßstäben fast ein Nichts von Anforderungen. Was ein Argu­ ment ist und wie es wirkt, kann man dann – Wohlrapp führt es in umfänglicher Analyse vor – nur anhand von Beispielen erschließen. 112 Charles S.  Peirce, Harvard Lecture on Pragmatism VI „The Nature of Meaning“, in: (Fn. I. 18, Bd. 2)), 208–225. 113 Gunther Teubner/Peer Zumbansen, Rechtsentfremdungen. Zum gesellschaftlichen Mehr­ wert des zwölften Kamels. Zeitschrift für Rechtssoziologie 2000 (21), 189–215. 114 Wohlrapp (Fn. X. 101), 188.

3. Argumentation und Abduktion

371

Es gibt also für die Argumentation keine Rezeptur. Trotzdem kommt sie in Gang. Demonstrieren kann man das an gesetzlichen Bestimmungen, die beispielsweise so lauten: a) Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet oder die Abtötung durch einen anderen zulässt oder wer sonst die Leibesfrucht einer Schwangeren abtötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft. b) Wer Empfängnis verhütende Mittel gebraucht oder einem anderen verschafft, wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.

Wenn man sich vorstellt, dass beide Normen von den zuständigen Parlamenten so beschlossen worden sind – und sie wurden es –, dann kann man zuerst fragen, ob sie sich so auslegen lassen, dass sie im Ergebnis nicht gelten. (a) war bis 1975 Bestandteil des deutschen StGB. Topoi gegen den damaligen § 218 (unter a in der inhaltlichen Fassung v. 1.4.1970) gibt es und gab es. „Mein Bauch gehört mir“ – das war ein Satz, den die Frauen gebraucht haben, die sich in den Siebzigerjah­ ren öffentlich gegen den Abtreibungstatbestand engagiert haben. Aber wie das mit­ Topoi so ist, haben auch die Abtreibungsgegner (die schon mit dieser Bezeichnung Gefühle mobilisieren) sofort einen polemischen Namen, der hieß: Kindesmord. Für (b) gibt es gar keine prägnanten deutschen Sätze, weil sich hierzulande keiner einer solchen staatlichen Norm gegenüber sah. Zwar hat die katholische Kirche je­ denfalls das tatbestandliche Verbot ebenfalls ausgesprochen und von ihren Gläubi­ gen erwartet, dass sie es befolgten, die meisten taten es aber einfach nicht, manche traten aus der Kirche aus und andere lebten mit dem Normverstoß, zumal er ohne staatliche Sanktion blieb. Anders war das zu etwa gleicher Zeit in den USA. Die Ärzte Griswold und Buxton wurden im Jahre 1961 als Mitarbeiter einer Liga für geplante Elternschaft in Connecticut in einer Klinik verhaftet, weil sie Frauen über Empfängnisverhütungsmittel berieten und diese verschrieben, meist gegen Hono­ rar, teils auch unentgeltlich. Sie wurden jeweils zu Geldstrafen verurteilt, weil sie gegen geltende Strafnormen des Bundesstaats Connecticut verstoßen hätten. Wenn man sich mit einer Auslegung von (b) begnügt, wird man wohl zu keinem anderen Ergebnis kommen können. Aber reicht das? Wird durch eine solche bestätigende Zweitheit des Zeichens der elementare Protest gegen solche und ähnliche Normen begrifflich ausreichend verarbeitet? Jedenfalls lässt sich dagegen argumentieren. Man braucht über oder jenseits der auszulegenden Norm eine andere oder besser: ein ganze Klasse von Normen. Für diesen juristischen Metadiskurs, der selbst wieder zum Bestandteil des Dis­ kurses wird, gibt es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine besondere Normen­ kategorie, nämlich Verfassungen. Darauf ist noch entwicklungsgeschichtlich zu­ rückzukommen (Kap. XII. 1.). An dieser Stelle soll es genügen zu behaupten, dass der Argumentation ohne kategoriale Verfassungsnormen der Boden weitgehend entzogen wäre. Man könnte nicht erreichen, was man erreichen will, und darum geht es. Von der Verfassung lernen heißt siegen lernen – kann man einen anderen Topos leichthin abwandeln. Das Soraya-Urteil des Bundesverfassungs­gerichts, aus dem oben zitiert worden ist, weil es den Argumentationsbegriff in die Rechtspre­

372

X. Methode

chung eingeführt hat, stammt natürlich ebenso aus dem Verfassungsdiskurs wie die Einrichtung dieses Gerichts selbst. Verfassungsgerichte sind – wie alle wissen sollten – keine Fachgerichte und damit auch nicht Teil des normalen Justizdispo­ sitivs. Dort soll von den Fachgerichten selbst „im Lichte“ der Verfassung ausge­ legt werden, und das geschieht über Argumentation. Erinnert werden soll an ein Rechtszeichen aus der amerikanischen Verfassungsargumentation. Die amerikanischen Gerichte befanden den Straftatbestand (b)  des Staates Connecticut für verfassungswidrig. Der Fall Griswold vs. Connecticut, vor dem Supreme Court verhandelt im Jahre 1965, gilt als Wegweiser für ein neues Recht, für das auch ein neuer Name als Topos geschaffen worden ist, das Recht der Pri­ vatheit, amerikanisch „right to marital privacy“.115 Worum es geht, lässt sich ju­ ristisch mit einer Analyse von Duncan Kennedy erschließen, der Argumentati­ onsbeispiele aus der Rechtsprechung des Supreme Court in drei Muster unterteilt, die in der deutschen Verfassungsrechtsprechung (auf die sich Kennedy auch be­ zieht) wiederkehren.116 Das erste und bekannteste bezeichnet er als Classical ­Legal Thought. Das klassische Rechtsdenken sei beherrscht von einer induktiv/dedukti­ ven Methode, die vorgebe, das Ergebnis aus dem Gesetz herzuleiten, ihm sei his­ torisch ein Modus der Folgenberücksichtigung gefolgt, den Kennedy teleological und social nennt, bis schließlich Kollisionsrecht (conflicting considerations) den widerstreitenden Charakter der Argumentation deutlich mache, wenngleich nicht auflöse. Wie bei allen Modellen, die einerseits beanspruchen, eine Zeitenfolge ab­ zubilden, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass andererseits alle auch neben­ einander auftreten. Kennedy ordnet den Verfassungsrechtsfall nach (b) dem klas­ sischen Rechtsdenken zu, obwohl oder vielleicht weil in der Entscheidung des Supreme Court weder zweckgerichtet auf Folgen noch kollisionspraktisch argu­ mentiert wird. Das die Entscheidung tragende Votum entwickelt einen Vergleich zu mehreren Verfassungsartikeln, der nach einer Erörterung möglicherweise ein­ schlägiger Präzedenzfälle in den Sätzen kulminiert:117 „The foregoing cases suggest that specific guarantees in the Bill of Rights have penumbras, formed by emanations from those guarantees that help give them life and substance. Various guarantees create zones of privacy. The right of association contained in the penumbra of the First Amendment is one, as we have seen. The Third Amendment, in its prohibition against the quartering of soldiers ‚in any house‘ in time of peace without the consent of the owner, is another facet of that privacy. The Fourth Amendment explicitly affirms the ‚right of the ­people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures.‘ The Fifth Amendment, in its Self-Incrimination Clause, enables the citizen to create a zone of privacy which government may not force him to surrender to his detriment. The Ninth Amendment provides: ‚The enumeration in the Constitution, of certain rights, shall not be construed to deny or disparage others retained by the people.‘“ 115

381 U. S. 479 (1965) (http://seibert.biz/oyez). Duncan Kennedy, The Hermeneutic of Suspicion in Contemporary American Legal Thought, Law Critique (2014) 25, 91–139 (94–96). 117 381 U. S. 479 Griswold v. Connecticut, 481. 116

3. Argumentation und Abduktion

373

Mit Argumenten begründet das Gericht, was es mit einer schlichten Auslegung oder mit einem Präzedenzienbezug nicht erreicht hätte. Aus einer nicht beson­ ders systematisch wirkenden Zusammenstellung von Fällen schließt der Supreme Court, dass in einzeln erwähnten Amendments zur amerikanischen Verfassung eine Privatsphäre garantiert wird, die als Wort und Wert aber so gerade nicht ge­ nannt wird. Nach Auslegungsgrundsätzen hätte es offen gestanden zu behaup­ ten, eben deshalb sei sie auch nicht gewollt. Stattdessen begründet das Gericht ein neues Recht. Kennedy nennt die Methode „deduktiv/induktiv“ und zählt sie zur klassischen juristischen Ausstattung. Induktiv wäre sie, wüsste man überhaupt, welche Grundsätze in den verschiedenen amerikanischen Verfassungsartikeln die Regel ergäben; dann könnte man aus dieser Gesamtheit etwas herleiten. Nun mag man zwar annehmen, dass ein Verbot der Inanspruchnahme Dritter für militäri­ sche Zwecke etwas mit Privatheit zu tun hat, ein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen oder die Lückenergänzung trotz Nennung einzelner Rechte haben da­ mit aber kaum noch oder allenfalls ganz entfernt zu tun. Semiotisch gesehen wird hier so wenig induziert wie deduziert, weil die Grundmenge und ihre Beschaffen­ heit unklar sind. Die einzelnen Phänomene müssen erst in einen bestimmten Zu­ sammenhang gebracht und miteinander verknüpft werden, ehe sie eine Bedeutung haben. Vorher sind es einfach Textoberflächen, die als Resultate ausgebreitet vor­ liegen und zum bedeutsamen Text erst dadurch werden, dass jemand eine Regel er­ findet, die auf eine gemeinsame Erfahrung interpretierend verweist. Das geschieht mit der Aufzählung über die anerkannten Einzelrechte. Auf diese Weise erfindet der Supreme Court eine Norm, die Heterogenes einheitlich erscheinen lässt. Bei Peirce heißt diese Art der Erschließung von Hypothesen „Abduktion“, und auch Kennedy sieht, dass anstelle von „deduktiv/induktiv“ eigentlich von „Abduktion“ die Rede sein müsste. Abduktiv erschließt man aufgrund von Einzelereignissen, die als Resultat einer Regel verstanden werden, erst die verbindende Regel und be­ hauptet dann den vermutlich zugrunde liegenden Fall. Ursprünglich sprach Peirce von hypothesengeleiteten Folgerungen und ver­ stand darunter begründete Vermutungen. In einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1878118 erklärt er die einzige inhaltlich ertragreiche Art des Schlussfolgerns mit einem berühmt gewordenen Bohnen-Beispiel: Dort sieht man lauter weiße ­Bohnen und neben ihnen steht ein Sack. Was heißt das? Heißt es überhaupt etwas, oder treffen hier nur zwei Ereignisse zufällig zusammen, ein Sack und ein paar weiße Bohnen eben? Das muss man raten, und der alt gewordene Peirce hat sich gerne als Logiker fürs Raten stilisiert (sein nie vollendetes Hauptwerk hätte „A Guess at The Riddle“ heißen sollen), und dabei soll rational geraten werden. Peirce betrach­ tet also einen Sack, der auf dem Tisch steht, sieht die Handvoll weißer Bohnen, die umherliegen, und eröffnet das Feld pragmatischer Hypothesen. „Ich schließe sofort als wahrscheinlich oder als eine berechtigte Vermutung,“  – argumentiert der Pragmatiker  – „dass diese Handvoll aus jenem Sack entnommen wurde“.119­ 118

Charles S. Peirce, Deduktion, Induktion und Hypothese (Fn. I. 118), 373–392. Peirce (Fn. I. 118), 375.

119

374

X. Methode

Präsentiert wird der abduktive Schluss von einem Resultat auf einen Fall. Unter­ stellt wird dabei, dass man aus Erfahrung schon weiß, dass Behältnisse und Um­ herliegendes etwas miteinander zu tun haben. Das unterscheidet die Abduktion von der deduktiven Ableitung. Man muss mitdenken und darf nicht alle möglichen Prämissen auch für wirklich halten. Das Mitdenken aus Erfahrung hat die empi­ rische Sozialforschung aufgenommen und Juristen wie Soziologen animiert, das Lernen aus Erfahrung zu empfehlen.120 Peirce hat später – so in der Lowell Lecture im Jahre 1903 – von drei Klassen von Argumenten gesprochen und neben Deduk­ tion und Induktion „Abduktionen“ genannt.121 Die Redeweise ist in der weiteren Sozialforschung erst spät aufgenommen worden, und wie so oft ist eine fiktionale Figur vorangegangen. Umberto Eco hat im Rosen-Roman den Detektiv theore­ tisch wiederbelebt und lässt ihn aussprechen, was Kriminalromane üblicherweise unerwähnt lassen. Man dürfe in der Logik der Abduktion eine Anzahl unzusam­ menhängender Elemente betrachten und solle dabei Hypothesen entwickeln, die nicht vorausgesetzt werden könnten. „Aber“ – sagt der William von Ockham nach­ empfundene Detektiv – „ich muss so viele Hypothesen entwickeln, und manche davon sind so absurd, dass ich mich schämen würde, sie zu nennen“.122 Beispiels­ weise ist es eigentlich absurd anzunehmen, dass jemand mordet, weil er ein Buch über das Lachen versteckt halten will. Nur wenn man weiß, dass die Abhandlung über die Komödie von Aristoteles wirklich auf ungeklärte Weise verschwunden ist, dann gewinnt Ecos Hypothese vom Büchermörder aus Dogmatismus an Plau­ sibilität. Wer abduziert, kennt weder die Regel noch den Fall, er errät nur mög­ liches Wirkliches und kann Gründe für sein Raten nennen, wobei freilich nicht diese Gründe das Raten erfolgreich machen, sondern nur der Aufklärungserfolg, den das Ergebnis bietet. Der Ertrag macht das Raten sinnvoll. Die Berufung auf eine allgemein anerkannte Privatsphäre in der Sache Griswold vs. Connecticut hat eine solche Aufklärung geboten. Ein halbes Jahrhundert nach der Entscheidung erscheint sie so selbstverständlich, dass man sich fragt, weshalb es überhaupt eines solchen argumentativen Aufwands bedurfte, um Empfängnis­ verhütungsmittel verbreiten zu dürfen, aber zu berücksichtigen ist, was zum Zeitbe­ zug der Topoi schon ausgeführt worden ist. Was gestern ein Problem war, ist heute eine Selbstverständlichkeit, oder anders: Was gestern eine Selbstverständlichkeit war, ist heute ebenso selbstverständlich falsch (ich erinnere an den Zugang von Frauen zum Anwaltsberuf). Methodisch lenkt Kennedy die Aufmerksamkeit auf eine gut bekannte rhetorische Argumentationsfigur, die Metapher.123 Die er­örterten 120 Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion und Falsifikation von Hypothe­ sen im juristischen Entscheidungsprozeß. Eine Fallstudie aus dem Kartellstrafrecht. Frankfurt a. M. 1972, 109–151; Jo Reichertz, Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizei und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart 1991, 9–70. 121 Charles S. Peirce, Teil 2 des 3. Entwurfs der dritten Vorlesung von 1903, in: (Fn. I. 6, Bd. 2), 147. 122 Umberto Eco, Der Name der Rose (1980), München 1982, 390. 123 Kennedy (Fn. X. 116), 98.

4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung

375

Fälle – meint der Supreme Court – legten nahe, dass es gewisse ­penumbras gebe, die zusammen genommen eine Zone der Privatheit oder Intimsphäre schüfen. Man übersetzt den „Halbschatten“ vermutlich besser mit der in der deutschen Staats­ rechtslehre gut bekannten „Ausstrahlungswirkung“, die ebenfalls auf der Licht­ metaphorik beruht, und kann dann sehen, dass mithilfe eines erdachten Zeichens aus vorgefundenen Judikaten und Verfassungstexten ein neues Zeichen gebildet werden kann – a zone of privacy. Verfassungsartikel verändern die Auslegung des einfachen Rechts, sie zwingen zu einem Ergebnis, das im Wortlaut sowieso nicht steckt, das man im System des Gesetzes nicht entdeckt und dessen Folgen man nicht diskutiert. Gerade darin sieht Duncan Kennedy den Sinn klassischen Rechts­ denkens: Es schafft etwas Neues und Anderes aus vorgeblich Vorhandenem. Es ist zugleich der Sinn eines juristischen Arguments. Dessen Rationalität liegt dann in den vielfältigen Fall- und Verfassungsbezügen, die der Supreme Court zusammen­ stellt. Sie verhindern, dass der Eindruck entsteht, man komme zu einem bestimm­ ten Ergebnis, weil man zu diesem Ergebnis kommen wolle. Dennoch weiß man um diese Verbindungen. Sie machen den ideologischen Verdacht aus, den Kennedy im Anschluss an seine Beschreibung gegenüber allen Formen der Argumentation ausbreitet.124 Sie sind im Kern nicht rational und erwecken nur den Eindruck, es zu sein. Kennedy deutet den Verdacht, der zur juristischen Methode gehört wie der Kragen zur Jacke, psychoanalytisch. Jeder konstruierende Jurist wisse von sich selbst, dass vor, neben und nach seiner juristischen Arbeit Überzeugungen be­ stehen, die von ihr nicht berührt werden, und schämt sich ihrer. Das Produkt der Verdrängungsarbeit ist der Verdacht, die anderen, die ja auch nicht davon reden, machten es genauso wie man selbst. Wer also methodisch mehr als eine Begrün­ dungsoberfläche erschließen will, entfaltet einen Verdacht nicht gegen sich selbst, sondern gegen die anderen. 4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung Die juristische Methode gerät notwendig unter Verdacht, denn sie hängt offen­ bar von Absichten, hintergründigen Überzeugungen und ideologischen Verfesti­ gungen (um nicht zu sagen: Verkrustungen) ihrer Akteure ab. Was unter dem Ti­ tel einer Auslegung dem Wort und dem Text zugerechnet worden ist, schreibt man in Kenntnis der Methode, die gerade nicht auf einen Inhalt verpflichtet, sondern dessen Gestaltung dem Akteur überlässt, eben diesem selbst zu. Es ist nicht allzu schwierig, als Vertreter einer Partei Argumente für deren Vertretung zu finden und darzustellen, dass gerade die eigene Partei sich völlig im Recht befindet. Es ist auch nicht allzu schwierig, als Vertreter der anderen Seite Gegenargumente zu finden, und insgesamt weiß man, dass sich jeweils Argumente für die eine oder die andere Seite finden lassen.125 Insofern darf es nicht verwundern, dass jeden ­Akteur 124

Kennedy (Fn. X. 116), 132 f. Kennedy (Fn. X. 80), 96. .

125

376

X. Methode

ein Verdacht umweht und ihm die Vermutung nicht von der Seite weicht, etwas Wesentliches verkannt, übergangen oder nicht ausreichend berücksichtigt zu ha­ ben – und zwar bewusst. Je glatter die Darstellung ein sicheres Ergebnis vorweist, umso unvermeidlicher gerät sie unter den Verdacht, dass alles eigentlich ganz un­ sicher ist und der Darsteller das Objekt oder die Zweitheit der Zeichen absichtlich verdrängt hat. Man kann sich bemühen, dieses vage eigene Gefühl nach außen zu wenden und mit der Zweitheit anderer Zeichen zu verbinden. Der Verdacht lässt sich dann möglicherweise konkretisieren oder auch entkräften. Dabei spielen die­ selben Momente eine Rolle, die scheinbar zum Inventar der sicheren Auslegung und Argumentation gehören. Wenn Auslegung Rhetorik ist und Argumentation das Arsenal rhetorischer Mittel noch erweitert, dann kann die Begründung, die man für eine Entscheidung gibt, etwas ganz anderes bedeuten, als sie besagt. In der soziologischen und rechtstheoretischen Beobachtung gibt es seit langem die Unterscheidung zwischen Darstellung und Herstellung.126 Sie läuft darauf hinaus, dass die gelehrte und gezeigte Methode bloße Darstellung sei und ihr ein ganz an­ derer Prozess der Herstellung zugrunde liege, in dem andere als die dargestell­ ten Gedanken eine Rolle gespielt hätten. Die wahre Begründung könnte ganz wo­ anders als in den Sätzen, Gesichtspunkten und Argumenten liegen, die in einem Text nachzulesen sind. Deshalb hat sich außerhalb der Jurisprudenz, aber durchaus auch unter den Juristen selbst ein semiotischer Verdacht verbreitet. „Semiotisch“ soll der gegen die juristische Methode gerichtete Verdacht heißen, weil er sich aus dem semiotischen Dreieck ergibt. Wie bereits vorgestellt (Kap. I. 1.), sind Interpre­ tanten nur über repräsentierende Zeichenmittel zugänglich. Will man wissen, was das Zeichen repräsentiert, muss man ein anderes neues Zeichen schaffen. Zwar ruft die Bezugnahme auf Objekte Interpretanten hervor und die Beziehung von Objekten auf Interpretanten kann selbst zum Gegenstand eines Zeichens und da­ mit einer Repräsentation werden, aber wenn der Interpretant zum Repräsentamen wird, ändert er seine Form. Er wird ein anderes Zeichen, das sich wiederum auf ein Objekt bezieht und Interpretanten hervorruft. Das war die Figur des re-entry. Der Wiedereintritt des Interpretierten in die Interpretation ist wegen des For­ menwechsels zwingend notwendig. Repräsentierende Zeichen sind nicht mit der ausgelösten Bewegung der Interpretation identisch und können es auch gar nicht sein. Man muss also von der Bewegung ins Objekt wechseln und den Prozess einst­ weilen mit einem Zeichenmittel stillstellen. Das zu bemerken, geht über eine theo­ retische Spitzfindigkeit hinaus. Denn damit verbunden ist ein Verdacht, der auch ohne Peircesche Terminologie gut bekannt ist. Das hörbar Genannte muss nicht das Wahre sein, der gedruckte Text entspricht nur vielleicht dem gemeinten Sinn und verdeckt ihn möglicherweise teilweise oder ganz. In der Zeichentheorie wird der „medienontologische Verdacht“ diskutiert.127 Die Botschaft entspricht niemals dem Botschafter, und wer sich für das eine interessiert, muss das andere hinneh­ 126 127

Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 124. Groys (Fn. V. 32), 54–64.

4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung

377

men. Aus einem Gespräch zwischen Niklas Luhmann und Friedrich Kittler erfährt man die Sentenz, seit dem alten Babylon sei das Problem bekannt: Der Bote reitet zu Pferd durchs Tor. Der eine (Kittler) interessiere sich für das Pferd, der andere (Luhmann) für die Botschaft.128 Der Bote bleibt überhaupt unerwähnt. Es ist also eine grundsätzliche, unvermeidliche Konstellation, in der der Verdacht entsteht, das Wahre sei nicht aus der Botschaft herauszulesen, sondern woanders zu finden. Na­ turgemäß ist auch eine juristische Begründung diesem Verdacht ausgesetzt. Da sie nichts anderes als repräsentierende Zeichen enthält, weiß man nicht, ob diese neuen Zeichen sich in genau derselben Weise auf die entschiedene Sache (das Objekt) wie der Interpretant selbst beziehen. Nicht einmal die Begründungen anfertigen­ den Juristen wissen es. Sie wissen nur, dass die Überzeugung sich nicht in dersel­ ben Weise bildet, wie die Begründung sie in Worte fasst. Deshalb wird ja begrün­ det oder – wie es im Justizjargon heißt – das Urteil „abgesetzt“. Es ist schon vorher und auf andere Weise da. Die begründenden Zeichen sind an das Publikum adres­ siert, und in der ersten Reihe sitzen dabei nicht die Parteien (wie die Wohlgesinn­ ten meinen), sondern die Revisionsinstanzen. Also versucht man umgekehrt von außen her hinter den Zeichenketten einer Begründung verdeckte Interpretanten auf­ zudecken. Das ist die methodische Grundlage eines allgegenwärtigen Verdachts. Propagiert haben ihn zuerst Rechtssoziologen, und zwar in der gerade diskutier­ ten generalisierten Form. Die Zuordnung eines Tatsachensatzes zu einem Normsatz sei nicht durch die gesetzliche Regel der Zuordnung programmiert, sondern durch eine andere Sorte von Regeln, „mit deren Hilfe der Betrieb tatsächlich läuft“ –­ second code nannten sie Kriminalsoziologen.129 Der Verdacht geht dahin, dass es Programme für die Anwendung von Programmen gibt, die dem Gehalt der anzu­ wendenden Programme schlicht zuwiderlaufen. MacNaughton-Smith weist darauf hin, dass jede Gesellschaft auf beide Codes angewiesen ist, wenngleich aus der Per­ spektive der einen Codierung die andere jeweils keine Rolle spielt. So verdrängt der zweite Code als Motiv der Herstellung einfach den ersten Code als bloße Dar­ stellung des Gesetzes. Die Entdeckung eines zweiten Codes führte demgemäß zu einem Angriff gegen die Gerichte, die solchen außerrechtlichen Motiven erliegen. Entsprechend griffig und semiotisch einfach waren die Zuordnungsmerkmale. Et­ was wird durch etwas anderes bestimmt. Bestimmt wurde in der Zeit der Weimarer Republik Ernst Julius Gumbel zufolge das Urteilsergebnis durch die Schichtzuge­ hörigkeit von Richter und Angeklagten,130 nach Hannover und Hannover-Drück die Sympathie mit Angeklagten durch das politische Bewusstsein der Richter,131 128

Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hrsg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler, Archiv für Mediengeschichte 2013, 5 (Editorial). 129 Peter MacNaughton-Smith, The Second Code. Toward (or Away from) an Empiric Theory of Crime and Delinquency (1968), dt. in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.), Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Frankfurt a. M. 1975, 197–212 (202). 130 Emil Julius Gumbel, Vier Jahre politischer Mord (1922), Neuausgabe Heidelberg 1980, 149. 131 Heinrich Hannover/Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918–1933, BornheimMerten 1987, 30 f.

378

X. Methode

nach Gräf im Rechtssystem der ehemaligen DDR das Urteilsergebnis durch die Linientreue,132 in der Bundesrepublik nach Dorothee Peters die Kriminalitätskon­ zeption der Strafrichter durch die Schichtzugehörigkeit der Angeklagten,133 nach Rodingen die Urteilsverständlichkeit durch die „schichteneigenen Sprechweisen und Erlebnisfelder“,134 nach Mikinovic und Stangl in Wien der Rechtsmittelerfolg von Angeklagten durch einen schichtenspezifischen Deliktscharakter,135 nach Le­ vin in ­Pittsburgh und Minneapolis wiederum das Urteilsergebnis durch den regi­ onalen oder metropolitanen Standort.136 Im Rahmen dieser jeweils zweiten Codes spielt das Gesetz keine selbstständige Rolle. Politische Meinung und Klassen- oder Schichtenzugehörigkeit erscheinen als wirksame Faktoren der Zweitcodierung. Die These von der Klassenjustiz hat ihr semiotisches Fundament in der Funktion des zweiten Codes, den ersten Code zwar praktisch zu verdrängen, im Bewusstsein der Rechtsanwender aber als dogmatisch gültig zu bewahren.137 Dieses Bewusstsein wird in Erziehung und Ausbildung dressiert und scheint die Analyse des eigenen Handelns und dessen Veränderung zu verhindern.138 Alle diese groben Entgegensetzungen und Verdächtigungen eint, dass sie von außen an Operationen im Justizdispositiv herangetragen werden, auch wenn die Protagonisten zum Teil aus dem Rechtsfach kommen. Sie sind Beobachter und he­ gen einen generalisierten Verdacht. Das lässt Juristen meistens kalt. Die juristische Methode soll bei Teilnahme an der Konkretisierung des Rechts beachtet werden, und der Verdacht, den einer anschließend äußert, muss sich auf diese konkrete Teil­ nahme beziehen. Also: Nicht die Richter der Weimarer Republik bevorteilen natio­ nalistische Angeklagte zu Unrecht, sondern: Der Richter in der Hochverratssache gegen den Angeklagten Hitler stand unter dem Verdacht der Rechtsbeugung, für die aber kein Verfahren eröffnet worden ist.139 Deshalb galt dieser konkrete Satz nicht in der Zeit, in der er hätte wirken sollen. Normalerweise begegnen sich Juristen innerhalb wie außerhalb der Justizwelt freundlich, höflich und vor allem sachlich. Sie vermeiden es, erkennbar werden zu lassen, dass einer unter ihnen wesentliche Bausteine der Methode beiseite­ schiebt, abgesehen davon, dass auch keine Einigkeit besteht, auf welche Bausteine es eigentlich ankommt. Es gibt nur ein repräsentierendes Zeichen, das einen dann 132

Dieter Gräf, Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR, München/Berlin 1988. Dorothee Peters, Richter im Dienste der Macht. Zur gesellschaftlichen Verteilung der Kriminalität. Stuttgart 1973, 106 f. 134 Hubert Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation. Was Gesetze anrichten und was rechtens ist, Freiburg 1977, 40 f. 135 Stephan Mikinovic/Wolfgang Stangl, Strafprozeß und Herrschaft. Eine empirische Un­ tersuchung zur Korrektur richterlicher Entscheidungen, Neuwied/Darmstadt 1978, 153. 136 Martin A. Levin, Urban Politics and the Criminal Courts, Chicago/London 1977, 154 f. 137 Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln (Fn. VIII. 73), 162 f. 138 Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung (Fn. VIII. 74). 139 Otto Gritschneder, Der bayerische Richter Georg Neithardt und sein folgenschweres Hitler-­Urteil von 1924, NJW 2000, 484–487; ders., Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-Putsch und die bayerische Justiz, München 1990, 95. 133

4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung

379

selbst wieder strafrechtlichen Verdacht ins Justizdispositiv trägt. Das methodische Repräsentamen heißt „Rechtsbeugung“, und Rechtsbeugung ist nicht nur irgend­ eine Straftat, sondern ein methodisches Verbrechen. Begangen wird es von Amts­ trägern, die sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache einer „Beu­ gung des Rechts“ schuldig machen. Mehr sagt der abstrakte Text des Tatbestands (im deutschen StGB heute normiert als § 339) nicht aus. Gefragt ist also nach dem Wiedereintritt der Methode in eine methodische Norm. Denn die Frage nach einer Beugung dessen, was als Recht gerade heraus, frank, frei und frisch sein soll, ent­ hält einen in anderen Tatbeständen unbekannten Appell an die Erstheit der Ausle­ gung und die Empörung gegen Machenschaften im Justizdispositiv. Zu fragen ist also: Welche methodischen Anforderungen sind so wesentlich, dass eine Rechts­ ordnung ihre Verletzung bestraft? Beugt ein Richter das Recht immer dann, wenn er einen Fehler macht? – Und wer stellt dann fest, dass es sich um „Fehler“ handelt? Der allgemeine semiotische Verdacht wird dabei zum hinreichenden strafrecht­ lichen Tatverdacht konkretisiert. Das Strafrecht wird zum Exerzierfeld der Me­ thodenlehre und Rechtstheorie. Dafür ist es nicht gut gerüstet. Das fällt immer dann auf, wenn die Staatsform wechselt und die Zeiten anders werden. Dafür gab es in der deutschen Geschichte zwei Konstellationen: nach 1945 und nach 1990. Der erste Wechsel verlangte nach dem, was zeitgenössisch ausdrücklich als „Ver­ gangenheitsbewältigung“ apostrophiert worden ist, der zweite Wechsel galt für die Beschuldigten als „Siegerjustiz.“ Schon an diesen Etiketten kann man sehen, dass bereits die Verdachtschöpfung unter Verdacht steht. Über die verhandelten Einzel­ fälle hinaus kann man aus der Rechtsprechung zur Rechtsbeugung ein Zeichen he­ rauslesen, dessen Botschaft heißt: Es gibt Auslegungen, die nicht mehr vertretbar sind, obwohl sie praktiziert wurden. Sie sind kein Recht mehr, auch wenn sie so heißen. „Vertretbarkeit“ ist als Zeichen der Entscheidungsbeurteilung anerkannt, wenn man etwa die ständige Prüfungsformel des Bundesverfassungsgerichts für das Vorliegen einer Grundrechtsverletzung berücksichtigt, die nur bei einer „un­ vertretbaren“ Auslegung oder Rechtsauffassung“ gegeben sein soll. Ulfrid Neumann hat die Vertretbarkeitsprüfung dem Modell der einzig rich­ tigen Entscheidung gegenübergestellt und verdeutlicht, dass es neben möglichen auch unmögliche Antworten auf Rechtsfragen gibt.140 Allerdings besteht auf der Seite dessen, was nicht mehr möglich ist, keine Beurteilungsgewohnheit, und es kann eine solche Gewohnheit auch gar nicht geben, wenn das Unvertretbare eben das aus allen Gewohnheiten Herausfallende ist. Dennoch muss das Unvertretbare zugerechnet werden. Der Täter soll wissen, dass ein von ihm herausprozessiertes Recht nicht den symbolischen Rechtstitel für sich in Anspruch nehmen kann, also in Wahrheit kein Recht ist. Strafrechtlich handelt es sich um die subjektive Tat­ seite. Die Formel dafür kann man aus frühen Urteilsgründen des BGH im Jahre 1952 entnehmen, in denen es heißt, dass „mit dem unverbildeten Sinn des überwie­ genden Teils der Bevölkerung“ beispielsweise die Todesstrafe nicht die Antwort 140

Ulfrid Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: (Fn. I. 28), 340.

380

X. Methode

auf allenfalls beleidigende Äußerungen sein dürfe. Wenn aber die Strafe „ganz offensichtlich außer jedem Verhältnis zum Schuld- und Unrechtsgehalt der Tat“ stehe und „nicht mehr als Sühne für begangenes Unrecht, sondern nur als Mittel der Unterdrückung jeder unerwünschten Gesinnung zur Einschüchterung der Ge­ waltunterworfenen verstanden“ werden könne,141 sei die methodische Grenze für eine mögliche Rechtsanwendung überschritten. Es sind also zwei grundlegende methodische Operationen, mit denen ein Verdacht so konkretisiert wird, dass er jene juristischen Methoden erfasst, die in einer Zeit nicht verletzt werden dürfen, wenn das Ergebnis noch Recht heißen soll. Die eine stellt auf die Einschätzung des universalen Auditoriums ab, die andere auf Verhältnismäßigkeit. Stößt man mit beiden Prüfungen auf Empörendes, muss strafrechtlich bestimmt werden, was das objektive Recht einer vergangenen Rechtsbeurteilung war und vom Publikum der Juristen noch toleriert worden wäre. Das Strafrecht hätte damit zum wirklichen In­ strument der Methodenlehre werden können. Tatsächlich kam es anders. Die beiden in den Fünfzigerjahren bereits bekannten Topoi haben die Nachkriegsrechtsprechung doch nicht bestimmt. Der objektiven Auslegung begegnete der nullum crimen-Topos. Etwas sollte nicht nachträglich so ausgelegt werden, wie man es zum Zeitpunkt der Tat nicht tat. Man fragte nicht, inwieweit die Mörder des Holocaust ahnten, dass sie nur im Schatten des Krieges und ohne Kenntnis der Welt morden konnten. Ihre Tarnsprache aus dem Wörter­ buch des Unmenschen hätte es angezeigt. Unverbildeter Sinn wusste immer, dass Mord weder durch Rasse noch durch Religion gerechtfertigt werden kann. Fest­ zuhalten bleibt lediglich: Einer Praxis, die den Verdacht gegen die Rechtsanwen­ der richtet, können hehre Rechtsgrundsätze entgegentreten. In der Verfolgung von Richtern wegen Rechtsbeugung brauchten diese Grundsätze noch nicht einmal ge­ gen etwas anzutreten. Sie herrschten stillschweigend – erstaunlicherweise. Weder eine objektive Auslegung noch ein unverbildeter Sinn billig und gerecht Denken­ der sind in späteren Entscheidungen der obersten deutschen Gerichte noch anzu­ treffen, weil für die subjektive Seite direkter Vorsatz verlangt wurde.142 Also: Verdächtigt werden sollte ein ehemals amtierender Richter nur, wenn er von sich sagte, er habe bewusst nicht als Jurist gehandelt. Das war absurd, denn „die innere Zustimmung zur Rechtsbeugung und das Handeln gegen das eigene Ge­ wissen können nur dem ‚bösen‘ Richter eines Unrechtsstaats zugetraut werden“,143 und ein Angeklagter, der sich im Verfahren selbst als böse bezeichnet, muss erst noch gesucht werden. Diese Form der Bosheit vermochte das Land­gericht Berlin in dem in der Einleitung zitierten spektakulären Urteil nicht einmal für den Freis­ ler-Beisitzer Rehse, Berichterstatter für 231 Todesurteile, festzustellen, nachdem 141

BGHSt 3, 110, Urt. v. 8.7.1952 – 1 StR 123/51. Arnd Koch, Zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes nach Systemwechseln, ZIS 6 (2011), 470–474. 143 Walter Kargl, Die Rechtsbeugung – ein Exempel des Abbaus rechtsstaatlicher Gesetz­ lichkeit, in: Werner Beulke u. a (Hrsg.), Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts. Sym­ posium für Bernhard Haffke zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, 39–60 (58). 142

4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung

381

dieser erst wegen Totschlags durch Rechtsbeugung verurteilt,144 dieses Urteil dann aufgehoben, die Sache zurückverwiesen und Rehse schließlich 1968 im zweiten Rechtsgang freigesprochen worden ist – ein Justizskandal, den die Justizangehöri­ gen mit verbildetem Sinn erst einmal nicht bemerkt haben. Nimmt man diese Entwicklung ihrerseits als beispielhaft für die Karriere eines semiotischen Verdachts, dann gibt es ein Nachkriegsdispositiv, das den Verdacht so konkretisiert, dass man ihn niemals feststellen kann. Dieses Rechtszeichen wurde verstanden, zunächst überwiegend gebilligt, aber dann, wenn auch spät doch aufgegeben. Da hatten sich die Zeiten erneut wesentlich geändert. Im Jahre 1995 hat der BGH das bereits eingangs (in der Einleitung) zitierte außergewöhn­ liche obiter dictum unter Bezug auf den Fall Rehse verfasst. Denn zu diesem Zeit­ punkt befand man sich bereits in einem anderen Abschnitt juristischer Verdachts­ geschichte. Geändert hatte sich die Einstellung der Lebenden zu den Verbrechen der Vergangenheit. Die Vergangenheit erschien Ende der Achtzigerjahre nicht als bewältigt, wie man in der Nachkriegszeit gehofft hatte, und noch lebende NS-­ Täter mussten in der Folge mit Prozessen rechnen, die in den Fünfzigerjahren hät­ ten geführt werden müssen. Vor allem aber rückte nach 1989 das DDR-Regime der Rechtsbeugung in den Blickwinkel von Staatsanwaltschaften und Gerichten. Erneut ging es darum, dass Richter und Staatsanwälte Todesstrafen oder Frei­ heitsstrafen im oberen Bereich der Strafrahmen und für Bagatellen beantragt und verhängt haben. Es ist nun nicht gerade üblich, dass Obergerichte, die eine stän­ dige Rechtsprechung verwalten, diese nicht nur ändern, sondern auch ein histori­ sches Wort zur geänderten Rechtsprechung verlauten lassen. Das geschah in einem Verfahren gegen den späteren Professor Reinwarth, früher Richter am Obersten­ Gericht der DDR, als der er an Todesurteilen mitwirkte, die er selbst für unan­ gemessen hielt, denen er aber als Beisitzer dennoch zustimmte, weil er es nicht wagte, seine abweichende Meinung geltend zu machen. Reinwarth tat der Straf­ justiz also den Gefallen einzugestehen, dass er Urteile unterschrieben hatte, die eigentlich Totschlagsbegleitpapiere waren. Dazu hat der BGH ausgeführt:145 „Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hatte eine ‚Perversion der Rechtsordnung‘ bewirkt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war (Spendel, S. 43), und die damalige Recht­ sprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als ‚Blutjustiz‘ bezeichnet worden. Obwohl die Korrumpierung von Justizangehörigen durch die Machthaber des NS-Regimes offenkundig war, haben sich bei der strafrechtlichen Verfolgung des NS-Unrechts auf diesem Gebiet erhebliche Schwierigkeiten ergeben (vgl. Gribbohm, NJW 1988, 2842 (2843 ff.).“

Man kann die Schwierigkeiten der Strafrechtsdogmatik überlassen und sich auf die höchstrichterliche Einsicht beschränken, dass eine Rechtsordnung Unrecht und die Justiz blutigen Mord verwirklichen kann. Das ist eine nachaufklärerische, durch böse Erfahrungen erzwungene Einsicht. Zu ihr gehört auch, dass die amtlichen 144 145

LG Berlin DRiZ 1967, 390. BGHSt Urt. v. 16.11.1995 – 5 StR 747/94 – Bd. 41, 317 (Fall Reinwarth).

382

X. Methode

Mörder ihr Tun im Verfahren weder einsehen noch bereuen. Der Verdacht gegen mordende Juristen muss immer gegen die Verdächtigten bewiesen und durchgesetzt werden, und zwar lange nach der Tat. Während im Falle Rehse die Verjährungs­ frage noch eine wesentliche Rolle spielte, wird sie nach dem Ende des DDR-Re­ gimes gar nicht gestellt, weil bereits der Gesetzgeber des vereinigten Deutschlands bestimmt, dass eine Verfolgung der Rechtsbeugungstatbestände in der DDR ausge­ schlossen gewesen sei und infolgedessen die Verjährung geruht habe. Es gibt aber noch eine andere Frage, die sich in dem nur zwölf Jahre andauern­ den NS-Unrechtssystem nicht ganz so prägnant stellte. Wenn es richtig ist, dass zur Norm als normative Methode gerechnet werden muss, was ihrer Konkretisie­ rung dient, also Auslegung und Topik (Kap. X. 2.), dann könnte man meinen, dass hier eine allgemeine Sinnverbildung doch zu berücksichtigen ist. Anders: Wenn jemand als Richter so agiert wie alle Richter zu seiner Zeit, darf man ihm dann dennoch Rechtsbeugung attestieren? Dazu hat das Bundesverfassungsgericht an­ lässlich einer Verfassungsbeschwerde der Witwe des inzwischen verstorbenen An­ geklagten Reinwarth die Meinung vertreten, zwar könne die Auslegung des Rechts der DDR nicht ohne Rücksicht auf die damalige Anschauung und Rechtspraxis erfolgen, das bedeute aber nicht, „daß der nunmehr erkennende Richter in reiner Faktizität in jeder Hinsicht an die Interpretation des Rechts gebunden wäre, die in der damaligen Staatspraxis Ausdruck gefunden hat.“146 Das ist eine gewichtige Konkretisierung des semiotischen Verdachts. Wie es in der Entscheidung heißt, ist das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Interpretation von Straf­ gesetzen „nicht mehr durch Art. 103 Ab. 2 GG geschützt, wenn die ihr zugrunde liegende Staatspraxis durch Aufforderung zu schwerstem kriminellen Unrecht und seiner Begünstigung die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet hat.“ Damit fällt die rechtstheoretisch übliche Unterscheidung zwischen positivem und nichtpositivem Recht praktisch. Wolfgang Naucke hat das für die Nachkriegs­ justiz bereits beobachtet.147 Es wäre absurd anzunehmen, ein Machthaber würde bei Ausübung seiner ideologisch sowieso verbrämten Macht selbst auch gleich noch die Strafbarkeit dieser Ausübung beschließen. Darauf kann es nicht ankom­ men. Aber man muss keine Philosophie des Naturrechts entwickeln, um straf­ würdiges von noch hinzunehmendem Handeln zu unterscheiden. Im Jahre 1998 heißt es ebenso schlicht wie theoretisch erstaunlich, die Idee der Gerechtigkeit er­ fordere, „dass Tatbestand und Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zu­ einander stehen“ und eine verhängte Strafe also ein gerechtes Verhältnis zum Maß der Schuld des Täters einzuhalten habe.148 In der BGH-Rechtsprechung der Neun­ 146 BVerfGBeschl. v. 12.5.1998 – 2 BvR 61/96 – in: Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Rechtsbeugung, Berlin 2007, Bd. 5, Tlbd. 1, 487. 147 Wolfgang Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat. Eine Annäherung, Münster 2012, 16. 148 BGHSt (Fn. X. 146).

4. Unter Verdacht: Rechtsbeugung

383

zigerjahre entsteht also eine methodische Formel für den Verdacht der Rechtsbeu­ gung, die als Topos wirkt. Das ist die Forderung, einen verdächtigen „Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege“149 anzusehen, wenn man davon reden wolle, dass es sich um eine Rechtsbeugung handele. Symbolisch bemerkens­ wert ist die Formel insofern, als nicht jeder Verstoß als Rechtsbruch im Sinne des Tatbestands gelten soll, sondern der Objektbereich auf schwerwiegende (elemen­ tare) Verstöße eingeschränkt wird. Weil es um Gewichtungen geht, ist positives Recht teilweise, weitgehend oder manchmal unbeachtlich – in der Reichweite ist das nicht klar, klar ist nur, dass nicht jeder Satz aus der DDR-Justiz Verbindlich­ keit für sich beanspruchen kann, nur weil es eine Textgrundlage für ihn gibt. An die Stelle des Tatbestands treten drei Fallgruppen, die entweder in der Methode oder im Verfahren oder schließlich in der Unverhältnismäßigkeit der erkannten Rechtsfolgen liegen sollen. „Tatbestandsüberdehnung“ als Methodenbruch, syste­ matische Unfairness im Verfahren und die Zumessung extremer Straffolgen sind die Topoi für eine neue Kasuistik (Kap. XI. 3.). Der Wiedereintritt solcher Interpretanten in weitere Verfahren unterliegt frei­ lich selbst wieder einem Verdacht, dem eine problematische Maxime unterlegt wird. Sie lautet: Richter verurteilen andere Richter nicht. Manchmal wird noch hinzugefügt, sie fürchteten, selbst verurteilt zu werden. Das ist auch nach dem Ende der DDR die Regel, aus der nur wenige Fälle (wie der bereits diskutierte Fall Reinwarth und einige wenige Anklagepunkte in einer Strafsache gegen eine frü­ here DDR-Staatsanwältin150) ausscheren. Wenn es doch Verurteilungen wegen Rechtsbeugung gibt, dann darf man fragen, welche Interpretanten das Wesent­ liche in der Methode zum Ausdruck bringen. Die Entscheidungen zur Rechtsbeu­ gung erbringen keine Klarheit darüber, wann Tatbestandsüberdehnung, Abwä­ gungsunfähigkeit und Folgenblindheit strafbar machen. Wenn diese Topoi dazu hätten dienen sollen, Einzelfälle zu unterscheiden, wartet man vergeblich darauf, die Trennschärfe der Unterscheidung am Fall dargestellt zu sehen. Eine Bedeutung muss also in anderen Zeichen gesucht werden, die diesen Entscheidungen ikonisch zugrunde liegen und keinen symbolischen Ausdruck gefunden haben. Rechtsbeu­ gung bleibt ein wichtiger und nicht zufälliger Tatbestand, den man mitdenken muss, wenn er nicht sowieso Inhalt des gesetzten Rechts ist. Dem Tatbestand der Rechtsbeugung liegt ein Ikon zugrunde, das in einen Seufzer mündet, dem der Strafrechtler Günter Spendel, einer der wenigen aufrechten Strei­ ter auf diesem Gebiet, Satzform gegeben hat: „Was nützt aller guter Vorsatz, alle pflichtmäßige Überzeugung, wenn der Richterspruch in Wahrheit eine ‚verkehrte Entscheidung‘, ein ‚Fehlurteil‘ ist?“151 Was Spendel hier unter „in Wahrheit“ ver­ 149

Formel aus BGH 4 StR 97/09 – Urteil vom 29. Oktober 2009 – NStZ-RR 2010, 310. BGH NJW 1995, 3324–3332 (3325), Urt. v. 15.9.1995 – 5 StR 713/94 mit Kommentar der Angeklagten (http://seibert.biz/benser). 151 Günter Spendel (Bearbeiter), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: §§ 339–358, 11. Aufl., Berlin u. a. 2006, § 339, Rdz. 6. 150

384

X. Methode

steht, ist nicht durch Indexikalität, also nicht durch Hinsehen auf tatsächliche Ob­ jekte und Ereignisse zu entscheiden. Es ist die unvertretbare Rechtsauffassung, die zu beanstanden ist. Eine solche Entscheidung verlangt eine zugleich ikonische und symbolische Operation, die mit vorgegebenen Entscheidungen nicht aus­reichend zu erschließen ist. Rechtsbeugung ist, wie Mord und Totschlag oder Betrug und Dieb­ stahl, nicht irgendein Delikt, das sich irgend jemand in der Ministerialbürokratie gerade mal ausdenken und auch wieder vergessen kann, je nachdem wie es gerade ins öffentliche Geschäft passt. „Rechtsbeugung“ enthält ein Rechtszeichen. Es ist nicht entbehrlich, der willfährigen Staatsanwältin im spätstalinistischen Dienst vorzuhalten, dass sie das Recht gebeugt hat und den Einflüsterungen ihrer Partei erlegen war. Es ist nicht entbehrlich, denjenigen zu bestrafen, der Freislers Hass­ tiraden und seine unerträglichen Beratungssprüche widerspruchslos hingenommen hat. Das ist die indexikalische Seite eines Rechtszeichens. Eine Reaktion von außen muss kommen. Einer wird ein Zeichen setzen und diesen Mörder bestrafen. Dieser Anspruch muss aufgenommen werden, aber um zu sehen, wie das gelingen könnte, muss man weiter zurückgreifen, wie Naucke vorführt,152 und die Nürnberger Pro­ zesse gegen die Hauptkriegsverbrecher, aber auch gegen Machthaber in Verwal­ tung und Wirtschaftsunternehmen zitieren. Dort ist das Rechtszeichen enthalten, dass Tätigkeit in staatlichen Diensten kriminellen Gehalt haben kann und es nicht darauf ankommt, dass zuvor jemand die Straftat angekündigt hat. Das ist beun­ ruhigend, so wie die semiotische Bewegung selbst beunruhigt und durch Defini­ tionen immer nur fallweise und stellenweise stillgestellt werden kann. Mit solchen Beunruhigungen muss man professionell wie individuell und das heißt: psychisch umgehen können. Das ist nicht einfach und führt zu einem Komplex, den gewöhn­ liche Methodenlehren übergehen oder der Rechtssoziologie für Sonderlinge über­ lassen. Wer es psychisch nicht aushält, wird Querulant. 5. Querulanz Querulanz kann zu den Interpretanten des Zeichens Rechtsbeugung gehören oder anders gesagt: Wer von „Rechtsbeugung“ spricht, ist nicht selten ein Queru­ lant. Wie man dazu auf dem Boden der anerkannten Methoden werden kann, de­ monstriert Naucke anhand eines „alltäglichen Falls.“153 Beschäftigt man sich etwa im Jahre 2015 mit den Urteilen gegen Richter und Staatsanwälte aus der früheren DDR, so entdeckt man ohne große Schwierigkeiten Veröffentlichungen im Netz wie im Buch, in denen der bundesdeutschen Rechtsprechung mindestens politische Willfährigkeit, meist aber gleich Rechtsbeugung zugeschrieben wird. Nicht selten sind es die Verurteilten oder jene, denen eine Verurteilung drohte, die das ange­ messen finden. Nun kann man von Angeklagten nicht verlangen, dass sie am gegen sie selbst geführten Strafverfahren zustimmend mitwirken. Man darf auch nicht 152

Naucke (Fn. X. 147), 20 f. Naucke (Fn. IX. 58), 403–418 (408).

153

5. Querulanz

385

erwarten, dass sie eine ihnen ungünstige Entscheidung als richtig akzeptieren. Die eigene psychische Organisation erlaubt das meist nicht. Günter Schabowski war einer der ganz wenigen, die das vermochten, und er ist von seiner alten Umge­ bung (in der er vor 1989 freilich auch nicht durch eine erkennbare Form von Wi­ derstand auffiel) dementsprechend befehdet worden. Jedenfalls fällt spätestens an dieser Stelle die ständige Wiederkehr des semiotischen Verdachts auf. Wer den Verdacht äußert und am Ende vielleicht sogar durchsetzt, dass ein Akteur im Jus­ tizdispositiv der Rechtsform nicht mehr genügte, sondern mordete oder sich selbst bereicherte, der darf seinerseits verdächtigt werden, sich außerhalb der Rechts­ form zu bewegen. Vielleicht ist das sogar richtig. Wer von „Rechtsbeugung“ spricht, enthüllt nicht einfach eine verbrecherische Wirklichkeit. Wirklichkeit ist ein Moment der Zweitheit, und Zweitheit kann man nicht selbst setzen. Über sie verfügt niemand, auch wenn man selbst die Zeichen setzt, mit denen Wirklichkeit wahrgenommen und interpretiert werden kann. Insofern macht es auch einen Unterschied, ob von Rechtsbeugung nur gesprochen wird oder ob eine amtliche Entscheidung sie im Tenor feststellt. Zweitheit kommt nur der Entscheidung zu, nicht den vielen Wohlund Übelmeinenden, die solche Entscheidungen kommentieren. Aber man muss solche Kommentare – welchen Titel sie immer voranstellen – dennoch ernstneh­ men. Es war schon davon die Rede, dass die Relationierung von Zeichen zu Ob­ jekten über Gefühle erfolgt (Kap. I. 3.), und die Erstheit eines Zeichens sollte nicht selbst schon unter den Kriterien von Richtig und Falsch interpretiert werden. Wenn sie in eine Wirklichkeit führt, dann könnte es die eines psychischen Systems sein. Tatsächlich ist Querulanz ein psychologischer Krankheitsbegriff, der – nicht ge­ rade selbstverständlich – in analytischen Verfahren auffiel, obwohl doch gerade diese auf Mitteilungsfreude und Sprachbedürfnis der Analysanden setzen. „Ko­ lossale Redseligkeit“ stellte der ungarische Analytiker Sandor Ferenczi bei einem seiner Patienten fest und reagierte in einem Brief an seinen Lehrmeister Sigmund Freud im Jahre 1909 seinen Ärger mit drastischen Worten aus. Der Patient sei „ein fürchterlicher Schwätzer“, der zwar Einfälle habe, aber die Sachen, die dabei zur Sprache kämen, taugten nichts. Freud pflichtet bei und erwähnt „ausschweifen­ des Schwatzen“ bei einer seiner Patientinnen,154 was man eigentlich für methoden­ widrig halten müsste, animiert doch gerade die Analyse die Probanden dazu, über alles zu reden, auch und insbesondere über das, was ihnen nicht wichtig vorkomme und scheinbar zur Sache gar nichts beitrage. Offensichtlich wird dabei aber ein vor­ gängig brauchbares Verständnis von Sache und Umwelt oder – wie es im Justizdis­ positiv heißt – von „erheblich/unerheblich“ unterstellt, ohne das die Aufforderung zur Rede auch analytisch nicht zu brauchbaren Ergebnissen führt. „Themenlosig­ keit“ registriert Rupert Gaderer als erstes Merkmal dieses Rechtsgefühls, beglei­ tet von „Geschwätz“, verbunden mit der Gefahr der „Übertragung“.155 ­Querulanz 154 Sigmund Freud – Sándor Ferenczi. Briefwechsel: Briefwechsel, 6 Bde., Bd.1/1, ­1908–1911, hrsg. v. Ernst Falzeder u. a., Wien 1993, 118/19. 155 Gaderer (Fn. IV. 23), 36–38.

386

X. Methode

ist ansteckend, könnte es wenigstens sein und macht sich jedenfalls bei den Adres­ saten als infektiöses Gift bemerkbar. Man hat gegenüber obstinatem Rechthaben das Gefühl, es sei schädlich und man werde in den Schaden hineingezogen. Ge­ nau das wollen und wünschen sich Querulanten auch. Sie sind zu allererst bemüht, „die Presse“ oder „die Medien“, oberste Gerichte, den Bundespräsidenten und die Weltöffentlichkeit für ihre Sache und den damit zusammenhängenden Skandal zu interessieren. Das führte zur klinischen Einordnung eines Querulantenwahns, den Otto Fenichel unter Bezug auf Freud im Jahre 1931 als Abwehr eigener uneinge­ standener Homosexualität interpretiert hat, als einen Beziehungswahn, dem das ewige Gefühl „die anderen tun mir unrecht, ich bin unschuldig“ als projektive Ab­ wehr eines eigenen Gefühls „ich bin doch schuldig“ entspreche.156 Aber man ist nicht so schnell bei diesen Deutungen. Niemand möchte heute mehr einfach vom „Querulantenwahn“ sprechen, geschweige denn jemandem die Ab­ wehr eigener uneingestandener Homosexualität attestieren, und als jemand, der von dem Phänomen betroffen ist, kommen nur die Akteure im Justizdispositiv infrage, die Amtsträger in Gerichten und Verwaltungen. Mit Gaderer muss man Querulanz in der „Bürokratie des Rechts“ lokalisieren. Es sind die Juristen mit ih­ ren merkwürdigen, als vollkommen klar, nachvollziehbar und verständlich etiket­ tierten Methoden, die fast unvermeidlich für die Gegenprodukte ihrer Tätigkeit sorgen. Das preußische Allgemeine Landrecht wusste das schon im Jahre 1794, und ­Gaderer zitiert die Erwähnung hartnäckiger Querulanten (in § 176 ALR, II. Teil, 20).157 Die Justiz hat sie zweihundert Jahre lang bekämpft und etikettiert. Es ist das Verdienst von Wolfgang Kaupen,158 wenn man heute mit der Etikettierung mindestens vorsichtig umgeht oder sie ganz unterlässt, denn anders, als jede klini­ sche Einordnung es vermuten lässt, ist Querulanz ein gradueller Begriff, ein Dis­ positionsprädikat, das man zuschreiben kann und für das es besondere Situationen gibt, das aber nur an der Person hängt, weil es eben angehängt wird. Die Objektre­ lation des Zeichens ist in besonderem Maße von den Interpretanten abhängig, die seinen Gebrauch motivieren. Querulatorisch soll es schon sein – Gaderer hat in­ sofern auf die preußische Gerichtsordnung von 1793 verwiesen –, wenn man „of­ fenbar grundlose und widerrechtliche Beschwerden“ anbringt. Denn es sind die Amtsträger selbst, die über Rechtmäßigkeit und mögliche Begründetheit urteilen, weshalb eben Anfeindungen gegen Amtspersonen mit besonderer Strenge behan­ delt worden sind. Wenn man methodisch erkennt, dass Querulanz die andere Seite der Rechts­ beugung bezeichnet, dann muss man es zumindest für möglich halten, dass der Querulant recht hat und ein Amtsträger Rechtsbeugung begeht. Das meinen zu­ 156 Otto Fenichel, Perversion, Psychosen, Charakterstörungen. Psychoanalytische spezielle Neurosenlehre (1931), Darmstadt 1967, 86. 157 Gaderer (Fn. IV. 23), 19–32. 158 Wolfgang Kaupen, Sind Querulanten geisteskrank? Zeitschrift für Rechtssoziologie 3 (1982), 171–179.

5. Querulanz

387

mindest Querulanten, und das macht den besonderen psychischen Unterschied im Gebrauch des Zeichens aus. Denn „Rechtsbeugung“ ist im aktuellen Verkehr ge­ genüber eben diesen Amtsträgern als Prädikat verboten. Im Fortgang der Rechts­ geschichte war es ohnehin sinnlos, etwa den Vorsitzenden eines Standgerichts im Februar 1945 als Rechtsbeuger zu bezeichnen oder die Amtsträger der SED-Justiz in ihrer gedankenlosen Aburteilung der vermeintlichen Systemfeinde mit solchen Worten zu stören. Wer das tat, demonstrierte nicht nur, dass er situativ und sprach­ lich unangepasst agierte, sondern riskierte auch seine Existenz. Weder die Ange­ klagten der NS-Justiz noch die der SED-Justiz taten es. Aber es gibt sie wirklich, die Querulanten. Es gibt Antragsteller im Justizdispositiv, die sich von der Jus­ tiz nicht mehr trennen können, die nach dem Scheitern eines Antrags den nächs­ ten stellen und nach der erklärtermaßen rechtskräftigen Abweisung das Wieder­ aufnahmeverfahren betreiben wollen. Es gibt diejenigen, die sich allein durch die Kosten oder durch die Art und Weise der Antragstellung ruinieren. Zwar kann aus den Aktionen selbst – dass jemand eine Begründung nicht hinnimmt, gegen die Ablehnung eines Antrags protestiert oder nach Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs Verfassungsbeschwerde einlegt  – natürlich nicht einfach auf Que­ rulanz geschlossen werden, auch wenn nach wie vor (und nicht nur in der preu­ ßischen Justiz) erwartet wird, dass sich die Parteien von ablehnenden Justizent­ scheidungen beeindrucken lassen. Wohlmeinende Justizreformer wie Rudolf Wassermann haben die Vorstel­ lung befördert, es sei Aufgabe einer Urteilsbegründung, die Parteien zu überzeu­ gen,159 wobei freilich die Anforderungen an eine Überzeugung von einer liberalen Justizverwaltung skizziert werden, deren Wirken Wassermann ebenfalls beglei­ tet hat. Die Justizreform verliert dabei aus dem Blick, dass Querulanz etwas ist, das mit einem Wort von Rupert Gaderer „dazwischen liegt“.160 Zwischen der un­ ter normalen Umständen aus der Perspektive der bürgerfreundlichen Justiz erwar­ teten Zustimmung und den Erwartungen eines aufgeklärten Zeitgenossen an Ge­ richtsentscheidungen liegt etwas, das beide Perspektiven auslassen, etwas, das unvernünftig ist und sich gegen reflexive Symbolisierung sträubt. Man könnte es als ikonisches Beharren verstehen, als Festhalten am ersten Zugriff auf ein inde­ xikalisches Zeichen. Wer nach dem Verlust in einer Sache eine Millionenklage wegen Amtshaftung anhängig machen will, ist auf dem besten Weg zum wirk­ lichen Querulanten. Wer den Ablehnungsbescheid des Bundesverfassungsgerichts an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umadressiert, begeht  – ohne solche Kleinigkeiten zu bedenken – ein Urkundendelikt bei der Umadres­ sierung und bewirkt, dass das nächste Gericht eine Missbrauchsgebühr erlässt. Diese Verfahrensweise provoziert weitere Reaktionen, die sich in eine Vorstellung vom vernünftigen Gebrauch des Justizdispositivs nicht mehr einfügen lassen. Der­ 159

Rudolf Wassermann, Recht und Verständigung als Element der politischen Kultur, in: ders./Jürgen Petersen (Hrsg.), Recht und Sprache. Beiträge zu einer bürgerfreundlichen Justiz, Heidelberg 1983, 40–71 (59). 160 Gaderer (Fn. IV. 23), 33.

388

X. Methode

Zeichenverwender wird auf dem Weg dazwischen selbst zum Zeichen. Es entsteht das Bild eines Querulanten, das alle zukünftigen Aktionen begleitet. Wie in ande­ ren Fällen auch, ist ein Etikett nicht etwas, das etwas ganz anderes dahinter ver­ deckt, es programmiert aber den Umgang mit dem Dahinterliegenden. In ­Gaderers „Querulantologie“ ist beides vorgesehen,161 der Querulant und die Querulanz der Medien, die ihn erzeugen und am Leben erhalten. Querulanz hat nämlich auch eine Bedeutung für das Justizdispositiv selbst. Kaupen ahnte das, als er vermerkte, die deutschen Behörden seien „oft ebenso hartnäckig und formalistisch wie der Querulant selber.“162 Hartnäckigkeit  – das kennzeichnet die durch Verhandlungen und Begründungen nicht veränderbare Wiederholung des eigenen Antrags im Rechtsmittel, wobei der Rechtsmittelweg für sich genommen sowieso schon ein Zeichen für Hartnäckigkeit ist. Es fällt gar nicht leicht, beim zweiten Mal deutlich zu machen, dass man durch Begründungen belehrbar wäre, wenn es überhaupt eine Belehrung wäre, die den Rechtsmittelfüh­ rer umstimmen kann. Das ist eine Gratwanderung auf und in der Form. „Forma­ lismus“ heißt das zweite Merkmal, das Kaupen Amt wie Querulant zuerkennt, und er trifft damit das Richtige. Der Formenzwang (Kap. VI. 3.) prägt das Justizdispo­ sitiv, es kann nicht anders als in verfahrensmäßiger Form auftreten, wenn es denn über Justiz disponiert. Eben deshalb ist der Justiz an sich kein Betrag zu gering und kein Anlass zu nichtig, als dass er nicht Gegenstand eines Verfahrens werden könnte. Die Amtsträger haben keine Begrifflichkeit dafür, wann etwas unerheb­ lich ist und übergangen werden sollte, auch wenn es in speziellen Verfahren durch­ aus Regeln gibt, mit denen man Gegenstände nicht weiter behandeln kann, weil sie mindere Bedeutung haben (man denke an § 154 StPO). Im Dispositiv selbst werden serienmäßig Anträge hervorgebracht, von denen man im weiteren Verlauf ­sagen muss, dass sie besser vergessen worden wären, hätte man ihre Bedeutung richtig einschätzen können. Die Agenten sind hartnäckig, und sie sind formalistisch. Sie bestehen darauf, dass jemand erst einmal zum anberaumten Termin kommt, ehe die Sache wegen Geringfügigkeit eingestellt wird – und wenn er nicht kommt, er­ geht stattdessen eine nachteilige Entscheidung. Aber dafür gilt nicht das Etikett des Querulanten. Das ist für andere vorgesehen, für diejenigen, die hartnäckigen Formalismus selbst übernehmen und gegen das Dispositiv wenden, die Vorrich­ tungen der Justiz damit unbrauchbar machen. Als Gegenteil von Formalismus wird der Themenbezug eingeschätzt. Er schützt gleichzeitig vor querulatorischer Etikettierung. Aber es ist durchaus nicht klar, was ein Thema im Rechtsstreit oder überhaupt in juristischen Auseinandersetzun­ gen wäre. Es gibt dort keine Themen, sondern Anträge und Entscheidungen. The­ men bewegen sich auf einer eher abstrakten Ebene, sie sind nicht so konkret wie der Tenor der Entscheidung oder ein Antrag im Verfahren. Das ist der erste Un­ terschied im psychischen System zwischen Querulanten und wackeren Prozess­ 161

Gaderer (Fn. IV. 23), 85–89. Kaupen (Fn. X. 158), 171.

162

5. Querulanz

389

verlierern (oder -gewinnern, schließlich gewinnen auch Querulanten dann und wann eine Sache). „Wer seine Erwartungen zu konkret integriert und trotzdem normiert, wird sehr enttäuschungsreich leben und sehr schwer lernen können“ – das ist Niklas Luhmanns Beobachtung zum klinischen Übergang zwischen not­ wendigen Erwartungen an Verfahren und pathologischen Verkrustungen, wie sie zu Rechtsbeugung und Querulanz führen.163 Ein Thema hält einen Abstraktions­ abstand zu einem Objekt. Peirce hat das Thema als ein Zeichen verstanden, des­ sen Bedeutung darin liegt, „dass es tatsächlich als Zeichen interpretiert wird“.164 Das ist eine merkwürdige und auf den ersten Blick missverständliche Definition, weil Zeichen sowieso als Zeichen interpretiert werden müssen. Peirce thematisiert das auch. Aufschlussreich wird die Definition nur, wenn man die Objektrelation in mehr oder weniger großem Abstand zu Sachen sehen kann. Bekanntlich ist der deutsche Aktienindex ein Index, der die Bewegungen eines bestimmten Aktien­ korbs relativ zu den täglichen Preisen bei Käufen und Verkäufen anzeigt. Als sol­ cher ist er kein Thema, sondern Objekt eines an Indices orientierten Anlageden­ kens. Der Index kann aber durchaus zum Thema werden und ist es in der täglichen Entwicklung der Abendnachrichten geworden. Die Objekteigenschaft kommt dem Index insofern auch dann zu, wenn es gar nicht mehr um die aktuelle Objektbezie­ hung geht, sondern um Zusammensetzung, Entwicklung und Anschlussverhalten in Bezug auf einen solchen Index. Insofern kann er zum Thema einer geldanlage­ politischen oder -rechtlichen Diskussion werden, ebenso wie ein Antrag im Anle­ gerrechtsstreit sich an der DAX-Entwicklung orientieren kann. Als anlegerschä­ digend werden regelmäßig solche Finanzprodukte definiert, die dauerhaft oder längerfristig die Objektentwicklung verfehlen. Das Thema „Anlegerinformation“ hat einen Bezug zu dem weiteren Thema der DAX-Entwicklung. Eine Bedeutung kommt dem auf Objekte bezogenen Zeichen dabei unabhängig davon zu, ob und wie das Objekt sich aktuell gerade zeigt. In Luhmanns eher metaphorischer Aus­ drucksweise bilden Themen „das Gedächtnis des Systems“.165 Was Thema wird, bleibt innerhalb weiterer Zeichenbeziehungen als Bedeutung erhalten, die anderen Objekt­relationen können vergessen werden. Es reicht also nicht, irgendeinen Antrag mit irgendeinem Ziel zu stellen. Dahin geht die Norm nicht. Im Gegenteil unterstellen Verfahrensnormen, dass ein Ziel erkennbar sein muss, aber darüber hinaus nur Gründe ein Rolle spielen, wobei im weiteren Fortgang des Verfahrens entschieden wird, ob die behaupteten Gründe das Recht oder das Gesetz auf ihrer Seite haben oder nicht. Wer Erfolg hat, für den ist es ohne Bedeutung, ob sein Begehren ein rechtliches oder gar politisches und gesellschaftliches Thema hat oder nicht. Wer kündigt und wessen Kündigungs­ grund vor Gericht anerkannt wird, muss sich nicht weiter fragen lassen, ob es denn einen Grund für den Grund gegeben habe oder man die Beziehung nicht doch hätte

163

Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. I. 52), 85. Charles S. Peirce, Thema, in: (Fn. I. 6, Bd. 1), 374. 165 Luhmann, Organisation und Entscheidung (Fn. VI. 47), 60. 164

390

X. Methode

fortsetzen können. Wer allerdings verliert, etwa mehrfach verliert, der wird früher oder später gefragt, weshalb die unablässige Verfolgung des Antrags in weiteren Prozessen Bedeutung hat – und dabei ist nicht die rechtliche Bedeutung gemeint. In der Kommunikation über Recht gibt es Thematisierungsschwellen, die die meisten Rechtsbegehren nicht erreichen,166 und wenn das so ist, dann ist man gut beraten, seinen Antrag fallen zu lassen, will man nicht früher oder später mit dem Querulanten-Odium in Kontakt kommen. Dabei gibt es unerwartete Entwicklun­ gen. In einem Schadensersatzprozess wegen vertanen Urlaubs kann der Verlierer gesellschaftliche Resonanz erzeugen, wenn es ihm gelingt zu thematisieren, dass Klägerin und Gericht Behinderte diskriminiert haben.167 Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, dass sich hier ein Konzern beklagt, der 750 DM nicht bezahlen will; es geht um das Thema der angemessenen Behandlung Behinderter.168 Das Thema war nicht dadurch aufzuhalten, dass man darauf verwies, „in Wirklichkeit“, also an Ort und Stelle und im Urlaubsort, habe die Sache sich ganz anders abgespielt und nur die Darstellung im Verfahren mache plötzlich den „Anblick“ Behinderter zum Urlaubsmangel. Wer die Thematisierungsschwelle erfolgreich überschreitet, gewinnt – wenn nicht die Instanz, dann gesellschaftliche Reputation. Er ist nicht etwa Querulant, sondern der Robin Hood der Armen und Entrechteten. Insofern markiert Querulanz die äußere Thematisierungsschwelle für Justizbe­ gehren. Obwohl das Verfahren normativ gerade davon entlasten soll und es eigent­ lich keine Rolle spielt, wie man außerhalb des Rechts ein Rechtsbegehren ein­ schätzt, hat das methodisch gleichwohl Bedeutung. So, wie mit dem Kriterium der Rechtsbeugung von außen die im System getroffene angebliche Rechtsent­ scheidung als Unrecht gebrandmarkt wird, so etikettiert Querulanz ein (in der Re­ gel sowieso erfolgloses) Rechtsbegehren als jene von Kleist formulierte „Plackerei und Stänkerei“, mit der man sich im Dispositiv auch nicht weiter zu beschäfti­ gen braucht. Wie Kleists Kohlhaas-Darstellung zeigt (Kap. IV. 1.), können dabei Rechtsbeugung und Querulanz zusammenfallen: Dem Querulanten wird rechts­ beugerisch der Erfolg versagt. Nur im absoluten Ausnahmefall löst das einen Auf­ stand aus, meist geht die Normalität des Rechtsbetriebs darüber hinweg. Das Dispositiv ist stärker als Disponenten und Disponierte. Gerade darin liegt sein Werkzeugcharakter als Vorrichtung. Was vor der Richtungsentscheidung liegt, hat Zeit, drängt sich nicht auf, bleibt aber zur Verfügung. Es prägt die Methode. Wer sich in der Justiz geärgert fühlt, erstattet Anzeige gegen denjenigen, der är­ gert. Das Dispositiv sieht diesen Verfahrensweg vor. Wer sich von der Justiz geär­ gert fühlt, kann auch Anzeige erstatten, aber solche Anzeigen kann man auch erst einmal liegen lassen, Ermittlungen nicht aufnehmen und abwarten. Auch das ist im Dispositiv vorgesehen. 166 Niklas Luhmann, Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: ders, Aus­ differenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1999, 53–72 (55). 167 Seibert, Zeichen, Prozesse (Fn. V. 20), 31. 168 So bei Ernst Klee, Behinderte im Urlaub? Das Frankfurter Urteil, Frankfurt a. M. 1980.

5. Querulanz

391

Die Methode, mit der zwischen Norm und Fall vermittelt wird, bezieht ihre Zu­ taten also nicht nur aus Ideen und Begriffen oder aus Verfahren und Argumen­ tationen, sie hat auch zwei normative Komplemente. Das sind Rechtsbeugung als Markierung dessen, was juristischen Funktionsträgern methodisch verboten sein soll, und Querulanz als Zeichen dafür, dass methodische Argumentation nicht weiter notwendig sein soll, wenn das Dispositiv missbraucht wird. Rechtsbeugung wie Querulanz erweisen ihre Plausibilität weniger an der Norm oder den Normen­ komplexen, mit denen man sie identifiziert, als an Fällen. Es sind Einzelfälle, die zeigen, dass etwas in der methodischen Anwendung nicht stimmt. Das Einzige, um das im Recht nicht herumkommt – „es sei denn um den Preis der Rechtsver­ weigerung“ – sei der konkrete Fall.169 So lautet Leges Formel für die Realität des Rechts. Der Fall steht für die juristische Form des Objekts, das zum interpretier­ ten Gegenstand eines Zeichens wird.

169 Joachim Lege, Was Juristen wirklich tun. Jurisprudential Realism, in: Brugger u. a. (Hrsg.) (Fn. X. 37), 207–232 (209).

XI. Der Fall Der Titel täuscht, entspricht aber einer geläufigen Redeweise. Einer sagt: „Ich habe da folgenden Fall …“ Isoliert gibt es „den Fall“ so wenig, wie sich sinnvoll von „der Norm“ sprechen lässt. Fälle bieten das Komplement zu dem, was Normen glauben machen. Das Eine ergänzt das Andere, wenn auch oft in entgegengesetz­ ter Richtung. Erscheint die Norm einfach und durchsichtig, so problematisieren wenige Fälle diese scheinbare Klarheit. Aber auch das Umgekehrte gilt, parado­ xerweise: Kennt man sich in der Interpretation von Normen und Normketten nicht mehr aus und findet alles verwirrend, so gewinnt man Klarheit mit einigen, weni­ gen Fällen, die entparadoxieren.1 In der Redeweise, der Fall gebe ein Problem auf, steckt schon die Beobachtung, er enthalte mehr, als eine gerade angebotene Lö­ sung entfalten könnte. Jeden Fall kann man auch anders entscheiden, nur der pas­ sende Ausdruck und die geeignete Darstellungsweise dafür machen Mühe. Bisher ging es um Inhalte der Norm wie auch um eine Diskursart, in der norma­ tive Konzeptionen dominieren, unter dem Titel „Fall“ geht es um den Stoff für diese Konzepte. Der Stoff stammt aus erzählter Sprache, und wenn man wissen will, was den Juristen speziell und dem Recht allgemein als Problem aufgegeben ist, dann muss man darauf hören, was erzählt wird.2 Der Stoff des Rechts sind Geschich­ ten. In einer für die heutige Jurisprudenz noch immer lehrreichen Form erzählt im 18. Jahrhundert François Gayot de Pitaval von spektakulären französischen Fällen. Pitaval ist ein Jurist, dessen Erzählweise über Kriminalfälle zu einer literarischen Gattung geworden ist, eben zu dem „Pitaval“, und damit sind Sammlungen interes­ santer Rechtsfälle gemeint. An ihnen lässt sich studieren, warum Fälle interessant sind und was Juristen ihnen als Besonderheit abgewinnen können. Gleichzeitig be­ rühren diese Fälle Gefühle derjenigen, die sie hören oder lesen – ikonisch und als Erstes (1.). Fälle werden dann – zum Zweiten – zu Indices des Rechtsprogramms und lösen Reaktionen aus. Die Form dafür ist der sogenannte „Schulfall“ (2.). Man kann an schulmäßigen Fällen zwar nicht sehen, welche Probleme die Welt bereit­ hält, denn die Rechtsschule hat die umgekehrte Aufgabe. Sie lehrt, wie etwas, das auftauchen könnte, programmgemäß mit einer festgelegten institutionellen Reak­ tion verknüpft wird. Aber selbst wenn sie praxis- oder justiznah wirken, machen Schulfälle aus der Rechtsprechung etwas anderes und spiegeln Normtext vor, wo 1 Thomas-Michael Seibert, Entparadoxieren und Reparadoxieren durch Fälle, in: Jörg R. Bergmann/Ulrich Dausendschön-Gay/Frank Oberzaucher (Hrsg.), „Der Fall“: Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns, Bielefeld 2014, 393–420. 2 Susanne Lüdemann, As the Case may be. Über Fallgeschichten in Literatur und Psycho­ analyse, in: Inka Müller-Bach/Michael Ott (Hrsg.), Was der Fall ist. Casus und Lapsus, Pader­ born 2014, 115–127.

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

393

er fehlt. In der Rechtsprechung sind Fälle das Medium der Vermittlung, der Zuord­ nung von Fall und Norm. „Kasuistik“ (3.) heißt die systematische Sammlung von Zuordnungsfällen für eine Norm, deren Konkretisierung in alle Richtungen mög­ lich ist, also eigentlich gar nichts regelt. Weder Kasus noch Kasuistik sind geeig­ net, die ganz großen Erschütterungen des Lebens und Sterbens zu erfassen, jene Er­ eignisse, für die Normen noch geschrieben werden und für die Fälle erst noch eine Darstellungsart erhalten müssen. Erst wenn das geschieht, wird es möglich, das Ereignis als Fall zu behandeln und eine Rechtsprechungsgeschichte für das zuvor Unsagbare zu verfolgen. Ein Beispiel dafür gibt „Auschwitz“ (4.), und Auschwitz ist auch der Prüfstein dafür, zu welchem Ende man einen Fall erzählen will. 1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte Fälle werden in Geschichten erzählt, oder umgekehrt: Aus Geschichten lassen sich Fälle herauslesen. Der wegweisende Praktiker der juristischen Fallgeschichte ist bis zum heutigen Tage Rechtsanwalt Wilhelm Schapp. Man setzt Schapp nicht herab, wenn man seine Philosophie der Fallgeschichte, die er selbst phänomeno­ logisch verstand, als Extrakt anwaltlicher Praxis ansieht. Advokaten müssen über einen Vorrat an welterschließenden Geschichten verfügen, die mit der Geschichte (im Singular) in einer losen Beziehung stehen. Advokaten werden gerufen, tradi­ tionell von einem Mann, der die Geschichte erzählt, so dass man ohne Weiteres da­ von sprechen kann: „Die Geschichte steht für den Mann!“3 Schapp liest dem Rich­ ter eine solche Erfahrung aus dem Gemüt ab und übersieht dabei, dass Richtern gerade die Begegnung mit dem Mann fehlt, den Schapp in seiner Erläuterung in der „Gesellschaft am Abend“ auftreten lässt, so dass es neben der Geschichte auch eine Begegnung gibt. In solchen ikonischen Eindrücken kann man den eigentlichen Sinn einer mündlichen Anhörung oder Verhandlung sehen. Schapp sagt das nicht ausdrücklich, aber er hat recht, wenn er annimmt, die Begegnung vermittele Erst­ heitserlebnisse, erst sie lasse das indexikalische Bestreben entstehen, „den Mann aus der Anzeige mit dem Mann, den er kennenlernt, in Deckung zu bringen.“ Das „Verstrickt-Sein“ in Geschichten, jene vielzitierte Formel W ­ ilhelm Schapps, ent­ steht aus einem vermuteten Primat der Geschichten vor und gegenüber dem leib­ haftigen Erscheinungsbild einer Person. Die Verwunderung darüber, dass der „Mensch aus Fleisch und Blut“4 hinter den erzählten und gehörten Geschichten zurücktritt, entsteht aus der symbolischen Vermittlung und Rückwirkung auf das unmittelbare Erleben. Die Schwäche des reflexiv erfahrenen Rechtszeichens (wie es in Kap. III. vorgestellt worden ist) und dessen Ungenügen angesichts vielfältiger Wünsche und Sehnsüchte sind ein Produkt der Geschichten, der Fälle, die man er­ zählt, und der Erzählungen, in denen Personen im Schappschen Sinne „verstrickt“ 3 Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1985, 103. 4 Schapp (Fn. XI. 3), 105.

394

XI. Der Fall

sind. Wenn man etwas von der eigenen Geschichten-Verstrickung weiß, sieht man auch schnell, dass nicht Maximen, Normen und normative Erwartungen für die Zeichenkonstitution im Recht verantwortlich sind, sondern Geschichten, Erzäh­ lungen und Aktenlektüren das juristische Erleben bestimmen. Jede Fallgeschichte präsentiert eine indexikalische Regelorientierung. Der In­ dex besteht aus den Stellen einer Proposition, die Regelorientierung vermittelt das mit dem Fall verbundene Legizeichen. Grundlegend ist zunächst die Handlungs­ folge (a auf b auf c usf.), dann sind die zwei Stellen einer Prädikation notwendig (A ist in Geldnot) und schließlich die drei Stellen der Objekt- oder Zweckorien­ tierung (A will Geld wegnehmen). Ohne lineare Folge, Prädikation und Motiva­ tion kommen keine Geschichten zustande, und auch moderne Romane – wenn sie überhaupt Geschichten erzählen – verzichten darauf nicht. In einer allgemeinen Erzähltheorie werden diese Merkmale als kulturelle Aktivitäten verstanden. Ko­ schorke nennt zuerst die Schemabildung als elementare Operation des Erzäh­ lens und versteht darunter grundlegende, zumeist einfache Muster, gebräuchliche „Narrative“.5 In dieser Terminologie kann man auch Makrostrukturen erzählend darstellen, so dass Rainer Forst den Begriff bis hin zum „Rechtfertigungsnarra­ tiv“ erweitert.6 Kennt man die Erzählgewohnheit, kann man mit einem Satz oder sogar einem Stichwort eine Geschichte skizzieren. Sequenzbildung oder Rahmung ist das zweite Merkmal, für das Koschorke im Anschluss an Typisierungen von William Labov eine fünfaktige Form vorstellt. Sie beginnt mit einem abstract als Ausgangslage, die orientation verlangt (nach den Fragen der rhetorischen Status­ lehre: wer, was, wann, warum?), dann einen dramatischen Höhepunkt erfährt, der bewertet und eingeordnet wird, so dass es ein Ergebnis gibt.7 So oder ähnlich lau­ ten auch andere Schemabildungen für das, was als „Geschichte“ gelten soll. Man kann auch ohne große Mühe das Fünf-Akte-Schema des klassischen Dramas wie­ dererkennen. Erkennen lassen sich die Schritte von der Handlungsfolge über die Prädikation zur Motivierung, die bei Koschorke zu Sequenzbildung und Motiva­ tion verarbeitet werden.8 Gleichzeitig kann man aus Koschorkes kultursemioti­ scher Grundlegung des Erzählens entnehmen, dass Rechtsphänomene hier gewis­ sermaßen beiläufig als Teil der Motivbildung in Erzählungen auftauchen. Unter Bezug auf Lotmans Semiospäre9 erläutert Koschorke, dass Erzählungen „dezen­ trierte Sozialordnungen“ beschreibbar machen und sich Geschichten auf dezen­ trierende, aus dem Rahmen fallende Ereignisse richten, damit sie Aufmerksamkeit finden.10 Ein Erzähler berichtet etwas Besonderes, das nicht alle sowieso erwarten 5

Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähl­ theorie, Frankfurt a. M. 2012, 66 f. 6 Rainer Forst, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015, 85–101 (87). 7 William Labov/David Fanshel, Therapeutic Discourse. Psychotherapy as Conversation, Orlando u. a. 1977, 105–110. 8 Labov/Fanshel (Fn. XI. 7), 61–84. 9 Jurij M. Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), 287–305. 10 Koschorke (Fn. XI. 5), 121.

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

395

(und dann mit dem Kommentar „so what“ einfach verwerfen). Im dramatischen Fall gibt es auch einen Täter als Subjekt der Erzählung, und dieser Täter agiert nacheinander unter Bezug auf Objekte; seine Handlungen sollen eine motivierte Kette ergeben. Der so formierte Fall beschäftigt die Phantasie, er ist Literatur mit mehr oder weniger hohem Anspruch. Man kann dann hinter der Geschichte das Rechtsproblem sehen (wie es Juristen mit Vorliebe tun), und man kann aus wie­ derkehrenden Fällen des Rechtsalltags Literatur machen (wofür Goethes „Faust“ das berühmteste Beispiel sein dürfte). Das Erzählen ist jedenfalls eine semiotische Grundlage jeder juristischen Fallkonstruktion und vermittelt in der Schilderung von Sachverhalten gleichzeitig deren Bewertung.11 Nicht nur unter Juristen ist die Fallgeschichte in erster Linie eine Kriminal­ geschichte. Wenn die Geschichte – wie Schapp plakativ formuliert – für den Mann steht, dann interessieren sich Leser dafür, wenn der Mann einen Mord begeht, und die Frau, für die eine Geschichte steht, interessiert, wenn sie schön ist, Männer an­ zieht und dabei entweder Opfer oder Täterin eines Mordes wird. Sex and crime ist ein Rezept, das bereits Pitaval im 17. Jahrhundert nutzte. Es war nicht etwa die originäre Neugier auf das Strafrecht, mit der die Kriminalgeschichten Leser ge­ winnen. Der heute allseits verbreitete Kriminalroman ist ein spätes Produkt der Medienentwicklung und entsteht in der Breite erst nach Edgar Allen Poes ersten fantastischen Geschichten als Detektiverzählung. Anfangs, im 18. Jahrhundert, ist die Kriminalgeschichte Lesestoff für das Publikum und gleichzeitig Rechtsstoff für Juristen. Hauptpersonen sind nicht selten schöne Frauen wie Renée C ­ orbeau, die Marquise von Gange, Frau Tiquet oder die Marquise de Brinvillier, die einen Opfer, die anderen Täterinnen, einmal wie die Marquise von Gange Frauen, die vielfältige Anschläge auf ihr Leben aushalten und standhaft bleiben um ihres un­ tadeligen Rufs willen, zum anderen unerkannt ehrlose Frauen, die ihr Geschlechts­ leben ausleben wollen, jedenfalls nach der Überlieferung von Pitaval. Der Fall wird zwar auch im Prozessverlauf geschildert, es werden sogar Schriftsätze re­ feriert und Urteile in ihrer Tenorierung zitiert, im Mittelpunkt stehen aber die menschlichen Verwicklungen und tragischen Verstrickungen, also jene Geschich­ ten, die nach Schapps Formel den Mann bzw. die Frau ausmachen. Vorgestellt wer­ den hier zwei Geschichten, von denen die eine zu einer Serie von Giftmorden aus der Zeit Ludwig XIV. gehört, während die andere zwar als Kriminalfall anfängt, aber das Kunststück vollbringt, die römisch-rechtliche causa data non secuta mit einer Spannung zu verbinden, die heute kein Zivilrechtsfall mehr hervorruft. Zuerst zu den Giftmorden: Zu den berühmten Giftmischerinnen der Kriminal­ literatur muss man die Marquise de Brinvillier rechnen, deren Schicksal in eine ganze Serie von Giftmorden in der Regierungszeit des großen Ludwig XIV. ein­ gebettet ist. Zu den juristisch interessanten Besonderheiten des Falls gehört, dass die Marquise die Gifte weder zubereitet noch verabreicht hat. Spuren oder ­Indizien 11 Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2. Aufl., Baden-Baden 2002, 73.

396

XI. Der Fall

konnten längere Zeit nicht gedeutet werden, bis allen auffiel, was im Nachhinein von Anfang an erkennbar war. Die Marquise, deren „Schönheit die Herzen aller fesselte“, hatte einen Liebhaber, ein „gewisser Herr Godin, der sich von SainteCroix nannte“.12 Sainte-Croix, mit königlicher lettre de cachet in der Bastille fest­ gesetzt, lernt dort das Handwerk der Giftmischerei und wendet es im Interesse der Marquise an. Aber schon diese sprachliche Wendung entscheidet den Fall und macht ihn zu dem Mordfall, als der er erschienen ist. Auch wenn in der von außen hereinbrechenden Zweitheit der Ereignisse offenbar wurde, dass die Brü­ der der Marquise vergiftet worden sind und an ihrer einzigen Schwester ein Ver­ such dazu unternommen worden ist, auch wenn schließlich bemerkt wurde, dass der Sainte-Croix sich beim Handwerk der Giftmischerei aufgrund eigener Unvor­ sichtigkeit selbst vergiftet hatte, leugnete die Marquise jede Beteiligung und je­ des Interesse daran. Dass es sich moralisch um „Leugnung“ handelt, wurde erst durch eine eigene so überschriebene „Beichte“ bewiesen, die neben den gesam­ melten Todessubstanzen in einer Kassette im Nachlass des Sainte-Croix enthalten war. Die Beichte warf ein Rechtsproblem auf, das der „geschickte“ Verteidiger der Marquise als Zweifel für die Angeklagte mobilisierte.13 Die Obrigkeit hatte zwar keine Bedenken, die Kassette zu öffnen und die Beichte zu den Beweismitteln zu machen, aber der Verteidiger entwickelte eine frühe Theorie der Beweisverwer­ tungsverbote, ausgehend von den kirchenrechtlichen Verschwiegenheitspflichten des Beichtvaters. Pitaval, der dieser Argumentation Scharfsinn bescheinigt,14 be­ lehrt den Leser dann, der Tatbestand der Verbrechen sei gleichwohl „vollkom­ men geklärt“ gewesen, der Tod erwiesen durch Arztberichte, die Täterschaft von Sainte-Croix und einem Gehilfen „aus der Vereinigung sämtlicher Zeugenaussa­ gen“ (über deren Vereinigungsprozess er sich allerdings – vielleicht zugunsten der Lesbarkeit – nicht weiter auslässt) und die Beteiligung der Marquise erwiesen we­ gen der Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen in Bezug auf den Inhalt der Kassette (der allerdings schon im Umkreis des Beweisverwertungsverbots liegt). Die „Ver­ zagtheit einer schwarzen Seele“ sieht Pitaval aus der Einlassung der Beschuldig­ ten hervorgehen und schlägt dabei den zeitgenössischen Ton an, der die gesamte Geschichtensammlung begleitet. Die Unterscheidung nach Gut und Böse erscheint unzweifelhaft, und die Marquise wird auf die Seite der Bösen geschlagen. Das wollte man lesen. Es hat zur Folge, dass – wie man in vielen anderen Fällen im Ergebnis ebenfalls sehen kann – Beweisverwertungsverbote mit Pathos anerkannt werden, im Ergebnis aber folgenlos bleiben. Die Besonderheiten in der Spannungsführung der Geschichten treten im Fall der Marquise de Brinvillier nicht so deutlich zutage wie in anderen Erzählungen, 12 Zitiert nach der Ausgabe: François Gayot de Pitaval, Unerhörte Kriminalfälle, hrsg. v. R. Marx, Leipzig 1980, 33 (auch enthalten in: Oliver Tekolf, Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, verfasst, bearbeitet und heraus­ gegeben von Friedrich Schiller, Frankfurt a. M. 2005, 153). 13 Pitaval (Fn. XI. 12), 63. 14 Pitaval (Fn. XI. 12), 83.

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

397

von denen hier nur die über den Sieur d’Anglade vorgestellt werden soll. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um eine Mordgeschichte, sondern um den Fall eines – wir würden heute sagen – gewöhnlichen, also auf den ersten Blick nicht einmal qualifizierten, weil mit Nachschlüssel begangenen – Wohnungsdiebstahls, dessen Höhepunkt am Ende in einem privaten Bereicherungsausgleich liegt. Al­ lerdings ist das Diebesgut maximal: „dreizehn Säcke zu 1000 Livres in Silbergeld, ein Sack mit 11500 Livres in spanischem Gelde und ein Sack mit 100 ausgesuch­ ten schönen Rand-Louisdors, in den Jahren 1686 und 1687 geprägt“,15 in einem Reisekoffer verschlossen, zusammen mit einem Perlenhalsband. Diese Menge Geld samt Kette verschwinden, während der Hausherr, der Graf Montgomery, mit seinen Bediensteten einen Besuch macht und sich die Mitbewohner des Hauses, das Ehepaar d’Anglade, versehen mit einem Schlüssel zur Wohnung der Reisen­ den, im Hause befindet. Als der Graf vorzeitig zurückkehrt, begrüßt er den Herrn d’Anglade, erstaunt und irritiert über die vorzeitige Rückkehr. Als der Verlust ent­ deckt und Anzeige erstattet worden ist, findet man einen kleinen Teil der Beute auf dem Dachboden der d’Anglades und ist der Meinung, diese lebten in großem Wohlstand mit vielfältigen Ausgaben, denen nur bescheidene Einkünfte gegen­ überstünden. Dann verwickeln sich die beiden auch noch in Widersprüche wegen ihres Betragens während der Abwesenheit des Grafen Montgomery – kurz, man findet sie im Ergebnis dringend verdächtig, den Diebstahl begangen zu haben, obwohl Frau d’Anglade ihrerseits den Verdacht auf die Bediensteten des Grafen lenkt und man bei einem von ihnen, einem Hauskaplan, dem Almosenempfänger Gagnard, tatsächlich einige Beute findet. Die Sache erzeugt Spannung, jenen suspense, den Patricia Highsmith als Merkmal des modernen Kriminalromans vor­ stellt.16 In ihrer Version wird freilich auf gerichtliche Ermittlungen grundsätzlich verzichtet. Modern sind Gericht und Polizei unwissend. Im 17. Jahrhundert ist die Lage nicht viel besser. Denn das Ende der Geschichte ist gar keines. Auch wenn Herr d’Anglade die Folter übersteht, ohne zu gestehen, wird er doch durch Beschluss des „Parlement“ von Paris zu einer Galeerenstrafe von neun Jahren und zur Schadloshaltung im Umfang von 3.000 Livres sowie zum Schadensersatz über 25.673 Livres gegenüber dem Grafen Montgomery ver­ urteilt, weil man der Überzeugung war, d’Anglade habe den Diebstahl begangen und leugne nur hartnäckig. Der Verurteilte übersteht die Folgen der Verurteilung nicht und stirbt im Jahre 1689. Erst Frau und Tochter gelingt es bis zum Jahre 1693, das Urteil aufgrund seltsamer Umstände rückgängig zu machen. Offenbar hatten sich die Diebe von Paris gegen Gagnard und seinen Komplizen verschworen, es kursierten anonyme Briefe, die das Gericht und die Hinterbliebene erreichten, wo­ nach ein Priester namens Gagnard aus dem Dienste des Grafen Montgomery ge­ meinsam mit anderen der wirkliche Täter gewesen sei. Tatsächlich beendete der Strang das Schicksal dieser beiden Verbrecher, wie Pitaval berichtet. Ihren juris­ 15

Pitaval (Fn. XI. 12), 278. Die Geschichte ist in Schillers Pitaval-Ausgabe nicht enthalten. Patricia Highsmith, Suspense oder: Wie man einen Thriller schreibt, Zürich 1990, 60–65.

16

398

XI. Der Fall

tischen Höhepunkt erreicht die Geschichte erst mit diesem Ereignis, das Frau und Tochter d’Anglade veranlasst, vom Grafen Montgomery die Wiederherstellung al­ len Verlusts und den Ersatz aller Kosten zu verlangen, die ihnen durch seine unge­ rechte Anklage zugefügt worden seien.17 Pitaval lässt in der Folge die Schriftsätze sprechen und fasst Klageschrift wie Verteidigungsschrift so zusammen, dass man aus ihnen bis zum heutigen Tage eine Lehrstunde zur strafrechtlichen Beweis­ würdigung und im Übrigen auch zum privatrechtlichen Schadensausgleich ziehen kann. Es sind zehn Indizien, die in der auf Schadensausgleich gerichteten Klage­ schrift gegen den Grafen Montgomery nacheinander vorgestellt werden, angefan­ gen mit einer Ablehnung der Eheleute d’Anglade, den Grafen auf seiner Reise zu begleiten (woraus man meinte, schließen zu können, Herr d’Anglade habe in der Abwesenheit den Diebstahl begehen wollen) bis zu dem Wissen, dass so große Geld­beträge in der verlassenen Wohnung vorhanden waren, einem bis heute aner­ kannten kriminalistischen Indiz.18 Da es sich insgesamt um einen klassischen se­ miotischen Indizienschluss gehandelt hat, bestärkt die Zusammenfassung aller In­ dizien durch den Geschädigten die Überzeugung, der damit ausgedeutete Täter sei es auch wirklich. Insofern sei der Graf Montgomery für das Urteil des „Parlement“ gegen Herrn d’Anglade auch verantwortlich, denn in diesem Punkt lag (und liegt bis heute) der stärkste Gegeneinwand: Nicht der Bestohlene, sondern ein unabhän­ giges Gericht hat die Entscheidung gefällt, nicht der Anzeigeerstatter, sondern ein prüfender Richter hat seine Überzeugung aufgrund des Indizienschlusses begrün­ det. Wie (und warum) soll in einem solchen Fall ein Schadensausgleich stattfin­ den? Pitaval teilt nur lapidar das Urteil vom 17. Juni 1693 mit und bezeichnet es als „ganz der Gerechtigkeit“ entsprechend.19 Wir würden heute sagen: Es findet zwar kein Schadensersatz, aber ein Bereicherungsausgleich (nach Kondiktionsrecht, deutsch: § 812 Abs. 1 Satz 2 in der Variante des Wegfalls eines rechtlichen Grun­ des) statt. Der bereicherte Graf muss zurückerstatten, was er nach Wegfall des ihn begünstigenden Urteils erlangt hat. Diese alten, von Pitaval selbst ausgesuchten und dargestellten Fälle betonen et­ was Besonderes, das sich in der Pitaval-Literatur des 19.  Jahrhunderts verliert. Gayot de Pitaval arrangiert nicht nur den Erzählstoff, er veranschaulicht auch das gerichtliche Verfahren. Den Verfahren folgt die Darstellung, und was im Ver­ fahren als Entscheidung herausprozessiert wird, darf man bei Pitaval als gerech­ tes Recht verstehen. Diese Vermittlungsleistung ist bei dem berühmten deutschen ­Pitaval-­Rezeptor, Friedrich Schiller, nicht mehr zu spüren. Sie weicht einem an­ deren Erstheitserlebnis, nämlich dem Versuch, besondere oder auch absonder­ liche Täter und Täterinnen zu präsentieren. Schiller fordert Literatur, die lehrt, den Schlechten und dem Schädlichen, das Leser fasziniert, etwas „zum Vortheil der guten Sache“ abzugewinnen.20 Er stellt einigen berühmten Pitaval-Geschich­ 17

Pitaval (Fn. XI. 12), 314. Pitaval (Fn. XI. 12), 322 f. 19 Pitaval (Fn. XI. 12), 338. 20 Tekolf (Fn. XI. 12), 76. 18

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

399

ten wie jenen über die Marquise von Ganges und über die Marquise de Brinvillier eine eigene voran, den „Verbrecher aus Infamie“, der vor Augen führt, wie Um­ welteinflüsse und schädliche Justizreaktionen aus der Not geborene Taten zu vor­ sätzlichen Verbrechen machen. Den juristischen Teil wollte Schiller ausdrücklich kürzen und stattdessen sittliche Bildung ausbreiten. Achim Geisenhanslüke sieht die „Kälte“ der Geschichten als neues Merkmal, das „dem prosaischen Gegenstand des Verbrechens“ angemessen sei.21 Der „Pitaval“ entwickelte sich im 19. Jahrhun­ dert zum Gattungsbegriff, er gehörte der Literatur wie der Jurisprudenz an und be­ gründete eine bis hin zu Friedrich Kaul fortgeführte Tradition.22 Der Erste, der nach Schiller als Jurist die Fallgeschichte in Erzählungen und­ Zitaten aus Akten präsentierte, war Paul Johann Anselm Feuerbach, dieser durch­ aus noch im Geiste juristischer Fortbildung. Feuerbach sammelte als Staatsrat im bayrischen Dienste Fälle aus der Gnadenpraxis, wie er sie der Staatsregierung re­ ferierte, verbunden mit einem Votum zum Gnadenerweis. Schon diese praktische Tätigkeit verlangte es, nicht nur die Tat, sondern auch den Täter und die Umstände der Tat vorzustellen. Solche Inhalte werden zum Gegenstand der Sammlung „merkwürdiger Strafrechtsfälle“, die Feuerbach 1808 und 1811 beginnt und erst sehr viel später gesammelt veröffentlicht, weil man unter der napoleonischen Vor­ herrschaft besser nicht auf das Strafrecht im Ganzen, sondern auf Einzelheiten in Fällen achtet. Im Geiste von Schiller dokumentiert Feuerbach gleichzeitig auch Probleme der Strafrechtsdisziplin, die Jörg Schönert nicht als Fragen der gericht­ lichen Alltagspraxis ansieht, von der ein früherer Professor und späterer Ministe­ rialbeamter ohnehin nicht viel wissen konnte.23 Jeder Fall steht für ein Stück mora­ lischer Bildung, und die Justiz bringt diese moralische Bildung am besten dadurch zum Ausdruck, dass sie ordentlich und unter Berücksichtigung aller Indizien die angeklagten Taten beschreibt. Feuerbach beschreibt also ganz realistisch, wie bei­ spielsweise der Pfarrer Riembauer jener Frau, die gekommen war, Unterhalt für ihr uneheliches Kind vom Pfarrer als Erzeuger zu verlangen, die Kehle durch­ schneidet.24 Er sammelt die Indizien, die dafür sprechen, dass Mutter und Tochter in dem Haus, in dem der Mörder im Talar sein blutiges Handwerk ausübte, nicht zufällig kurz darauf und dicht nacheinander an einer Vergiftung starben. Schließ­ lich empört sich Feuerbach darüber, dass dem scheinheiligen Priester, den er den­ 21 Achim Geisenhanslüke, Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit, Paderborn 2014, 126. 22 Friedrich Karl Kaul, Ein Pitaval. 10 Kriminalfälle und Prozessberichte von 1894–1925, Berlin 1966; ders., Von der Stadtvogtei bis Moabit. Ein Berliner Pitaval, 3. Aufl., Berlin 1985. 23 Jörg Schönert, Zur Ausdifferenzierung des Genres ‚Kriminalgeschichten‘ in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–1880, Tübingen 1983, 96–125 (111). 24 Franz Salesius Riembauer oder Tartüffe als Mörder, in: Anselm Ritter von Feuerbach, Merkwürdige Verbrechen in aktenmäßiger Darstellung. Mit einer Einleitung von Karl Joseph Anton Mittermaier (1849), Aalen 1984, 292–325.

400

XI. Der Fall

„Tartüffe“ nennt, nur mit Festungshaft und nicht – wie es auch der in Altbayern schon geltende Mordtatbestand vorsah – mit dem Tode bestraft worden ist. In den Mordgeschichten, die man bei Feuerbach meist liest, sind Gut und Böse deutlich sichtbar, und der angeklagte Bösewicht wird für das Unrecht seiner Tat auch an­ gemessen verurteilt. Im Erzählstil stellt Feuerbach sicher, dass der Angeklagte als der Schurke erfahren wird, als den die Tat ihn ausweist. Das bleibt so, und es bleibt dabei, dass fast alle Fälle Mordsachen sind. Im 19.  Jahrhundert kamen Anwälte und sammelten andere Fälle in einem neuen­ Pitaval, dem freilich der juristische Problemstoff alsbald ganz fehlt. Willibald Alexis (der eigentlich Wilhelm Häring heißt und dessen Familie mit dem Namen Hareng zu den aus Frankreich vertriebenen Andersgläubigen zählte) wird in der Nachfolge von Pitaval als (Mit-)Verfasser des neuen Pitaval Schriftsteller und Ju­ rist. Der Brockhaus Verlag suchte einen Herausgeber für Fallgeschichten. Es war 1840 längst klar, dass dafür Leseinteresse besteht. Die neuen Fallgeschichten sind in der Wertung deutlich, so deutlich wie bei Feuerbach. Man durchschaut sie schneller als die des alten Pitaval.25 Alexis erzählt im neuen Pitaval26 von neuen Giftmorden (motiviert aber beispielsweise die Ermordung des Vaters), er schildert das Attentat auf den russischen Legationsrat August von Kotzebue, das die Dema­ gogenverfolgung ausgelöst hat, und zitiert den Täter, Karl Ludwig Sand, als einen, der zwar „ein Zeichen zum Aufstand“ hat geben wollen, aber einen solchen Auf­ stand nicht nur nicht organisiert, sondern das Attentat vor seinen vermeintlichen Freunden sogar geheim gehalten hat.27 Der neue Pitaval erzählt die Tat, ihre Vor­ bereitung und Ausführung aus der Perspektive des Täters, wenn auch nur schein­ bar. Bei Alexis trifft man nicht etwa auf eine Innenperspektive, erzählt wird zwar vom Standort des Täters, aber aus der Perspektive des Lesers, eines sittlich geläu­ terten zumal, der das Schändliche deutlich so bezeichnet, aber nichtsdestotrotz auf den Bericht grausamer Merkwürdigkeiten wartet. An der Tradition des Pitaval kann man ablesen, wie sich Unterhaltungswert und Lehraufgaben für Juristen langsam trennen. Fallerzählungen sollen einen künst­ lerischen Wert haben, jedenfalls unterhalten, müssen aber nicht wie bei Pitaval der juristischen Schulung dienen. Das macht sie nicht kraftlos und lässt auch ein gewisses Maß an Zeitkritik zu. Aber kritische Juristen wie Jodocus Temme müs­ sen sich in der Fähigkeit zur Unterhaltung üben, wenn sie Geld verdienen wollen. Temme war als preußischer Richter Abgeordneter der Nationalversammlung von 25

Joachim Linder, Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jörg Schönert (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm u. Joachim Linder, Erzählte Krimi­ nalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publi­ zistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, 313–348 (314). 26 Julius Eduard Hitzig/Wilhelm (Willibald Alexis) Häring [und Anton Vollert] (Hrsg.), Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, 60 Bde., Leipzig 1842–1890. 27 Zitiert nach: Große Kriminalfälle. Aus dem Neuen Pitaval des Willibald Alexis, bearbei­ tet, kommentiert und eingeleitet v. Alfred Christoph, München 1965, 19–55 (37).

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

401

1848 und gehörte ihr bis zum bitteren Schluss an. Im Strafprozess wegen Hoch­ verrats wurde Temme trotz des offensichtlichen Drängens der Obrigkeit auf Ver­ urteilung freigesprochen, aber er verlor alle Gerichtsämter, ohne dass die preu­ ßische Justizverwaltung dies weiter hätte begründen müssen. In seinen letzten dreißig Lebensjahren verfasste und veröffentlichte Temme Kriminalgeschichten28 und packte seinen rechtspolitischen Spott in Justizpossen wie jene über einen in Berlin weilenden Justizrat, der für unbedingte gesetzliche Strenge eintritt, sich aber einer eigenen Anzeige wegen unerlaubten Rauchens auf der Straße doch ent­ ziehen möchte und deshalb erst dem wachhabenden Nachtwächter einen falschen Namen und dann dem ihn begleitenden Gendarmen zwei Fünftalerscheine anbie­ tet, auf dass seine Justizkarriere ende.29 Die Geschichten sollen vergnüglich sein. Temme veröffentlicht in der populären „Gartenlaube“ und kümmert sich nicht mehr um Authentizität, sondern um den Unterhaltungswert. Die rechtsbegriffliche Arbeit an Fällen verlangt angesichts der sich ausbreiten­ den Kodifikationen und mancher Abstraktheiten konkretes Material, bei dem wiederum Wirklichkeit ebenso wenig eine Rolle spielt wie in der belletristischen Kriminalliteratur. Insbesondere für die juristische Ausbildung, aber auch für die interne Problemdiskussion braucht man andere Fallgeschichten, und diese fül­ len juristisch-professionelle Fallsammlungen. Bereits aus dem Jahre 1799 zitiert­ Rückert anonyme juristische Anleitungsliteratur mit dem Satz: „Criminalfälle können dem Richter zur Erläuterung der Strafgesetze, zur Vermehrung der Klug­ heit im Verfahren vortreffliche Dienste leisten.“30 Die Fallgeschichte für Juristen wird verknappt und verfachlicht. Sie soll nur noch die Anwendung des materiel­ len Rechts ermöglichen und schränkt der Tendenz nach alle Darstellungsfreihei­ ten ein.31 Eine derartige Beschränkung ist zwar auch eher der Norm geschuldet, als dass sie tatsächlich geübt würde. Aber man darf sicher annehmen, dass es einen Unterschied macht, ob man einem Juristen einen Fall wegen des in ihm ent­ haltenen Begriffsproblems erzählt oder ob man das allgemeine Publikum mit der Geschichte unterhalten will. Joachim Linder, der sich wie wenige andere inten­ siv mit dieser Erzählentwicklung befasste, stellte fest, dass auch die Zeitgenos­ sen Anfang des 19. Jahrhunderts diesen Unterschied bemerkten und beachteten. Linder/­Schönert zitieren Karl Rosenkranz aus 1853 mit dem Votum, das Alltäg­ liche und Geringfügige, das in die Kategorie des Gewöhnlichen falle, vermöge äs­ thetisch nicht zu interessieren.32 Künstlerischen Wert und Unterhaltungsinteresse 28 Jodocus Donatus Hubertus Temme, Berliner Polizei- und Criminalgeschichten in humo­ ristischer Färbung, Berlin 1858. 29 Jodocus Donatus Hubertus Temme, Auch eine Karriere, in: ders., Ein Tragisches Ende. Kriminalnovellen. Mit einem Nachwort v. R. Hillich, Berlin 1985, 5–32. 30 Joachim Rückert, Zur Rolle der Fallgeschichte in Juristenausbildung und juristischer Praxis zwischen 1790 und 1880, in: Schönert (Fn. XI. 25), 285–311 (295). 31 Wolfgang Naucke, Die Stilisierung von Sachverhaltsschilderungen durch materielles Straf­ recht und Strafprozessrecht, in: Schönert (Hrsg.) (Fn. XI. 25), 59–72. 32 Joachim Linder/Jörg Schönert, Literarische Verständigung über Kriminalität, in: Schönert (Hrsg.) (Fn. XI. 25), 221.

402

XI. Der Fall

sucht man seitdem in großer Leidenschaft und existenziellem Risiko. Jedenfalls sind juristisches und literarisches Schreiben zwei Gattungen geworden, von denen die erste behauptet, Ästhetik liege nicht in ihrem Interesse, während umgekehrt die literarische Ästhetik damit kokettiert, einerseits sei zwar alles erfunden, ande­ rerseits gebe es aber doch eine Menge von Referenzpunkten in der Wirklichkeit. Darin liegt der größte Unterschied zwischen literarischer und juristischer Fall­ geschichte. Im Justizdispositiv soll Wahrheit erzeugt werden (Kap.  VI. 2.), und Literatur stellt man sich als nicht wahrheitsfähig vor. Während Literatur- und Medienwissenschaftler wie Jochen Hörisch zur Wahrheitsfrage „ein provokant entspanntes Verhältnis“ unterhalten,33 reklamieren sie Juristen und Rechtstheore­ tiker umso dringender für das Justizdispositiv. Weil es rechtlich um Wahrheitsan­ sprüche geht, soll die Art der sprachlichen Darstellung nicht kümmern. Der Wille zur Wahrheit dispensiert von der Ästhetik der Darstellung. Das war eine frühe rechtssoziologische These von Niklas Luhmann.34 Zutreffend daran ist, dass sich juristische Falldarstellungen anders als jede Novelle Eingriffe in ihren Text gefal­ len lassen müssen. Während man die Textsorte der Literatur verlässt, wenn man fragt, ob ein Tormann beim Elfmeter wirklich Angst hat, gehört es zur juristischen Kunst, den Wahrheitsgehalt eines Textes graduell in Zweifel zu ziehen. Das Vor­ bild dafür liefern die rhetorischen Statusfragen, die Wolfgang Gast dem Rechtsfall zuordnet.35 Man kann bereits in Quintilians Rhetorik nachlesen, dass die Fallge­ schichte, aus der Rechtsansprüche folgen sollen, sich als erste Frage gefallen las­ sen muss, ob etwas sei (an sit), ob es also nur vermutet oder wirklich so sei. Aus diesem Grunde spielt sich der Rechtsfall zunächst einmal im Konjunktiv ab. Die Formulierung gegenseitig umkämpfter Aspekte verlangt eine Kompetenz in indi­ rekter Rede – eine von Juristen immer weniger beherrschte grammatische Tech­ nik. Was etwas ist (quid sit), kann man erst fragen, wenn durch Vorgetragenes und Bewiesenes eine gemeinsame Welt entstanden ist. Auch wenn man fremde Sätze konjunktivisch wiedergibt, bleibt regelmäßig ein Bestand gemeinsam geteilter Sätze stehen. Auf diese Weise entsteht fast unmerklich jene von Sprecher und Ge­ gensprecher geteilte Welt, die man später „objektiv“ nennen kann und der Sache ihre eigentliche Sachlichkeit erst verleiht. Die Welt muss in der Gegenrede noch erkennbar sein, es muss noch zu merken sein, dass verschiedene Sprecher Sätze und damit Wissen, das in diesen Sätzen ausgedrückt wird, teilen. Der so entstan­ dene, nicht umstrittene Ausschnitt darf als schlichte Erzählung wiedergegeben werden, nach deren rechtlicher Qualifikation man dann fragt. Schließlich muss die juristische Erzählung die Frage beantworten, wie beschaffen oder mit welchen Folgen diese rechtliche Qualifikation verbunden sei (quale sit). Falsch wäre es freilich, wenn man annähme, der literarische Fall stelle solche Fragen gar nicht, und – wenn man sie doch stelle – dann sei man eben in der Sphäre 33

Hörisch (Fn. IV. 129), 15.  Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. I. 52), 225. 35 Gast (Fn. VI. 12), 208 f., Rdz. 556–566. 34

1. Die (Kriminal-)Fallgeschichte

403

des positiven Rechts. Der Fall ist ein ausgedachtes und erzähltes Ereignis, und auf das Faktum der Erzählung oder der Darstellung kommt es an, nicht auf das reale Ereignis. Dafür gibt es mindestens einen berühmten postmodernen Protagonis­ ten. Alexander Kluge war in seinem Leben (auch) Rechtsanwalt und ist neben vie­ len anderen Tätigkeiten einer, der Fallgeschichten schreibt, Geschichten, bei denen man das Rechtserleben schon sehr genau kennen muss, um den fiktiven Charak­ ter zu entdecken. Eine kleine Geschichte, die einer Sammlung von 500 weiteren im Jahre 2003 den Titel gab, präsentiert eine Rechtsfrage aus einem Hexenprozess, den Kluge vor der Reformation ansiedelt. Es gehe – so wird das Problem vorgestellt – um eine Lücke in der Regelbildung,36 ein für Juristen schulmäßiges Denkprodukt, das Kluge allerdings in die (unhistorische) Umgebung einer mündlichen Verhand­ lung im Inquisitionsverfahren und mit befremdlichen Dogmen versetzt. Bekannt­ lich sollte die Folter nach mittelalterlicher Rechtsauffassung der Delinquentin das Bekenntnis der Wahrheit ermöglichen und sie auf diese Weise erlösen.37 Lässt man diese dogmatische Ausgangslage des 15. Jahrhunderts unangetastet, muss man ju­ ristisch bewerten, was es heißt, wenn die Gefolterte die Tortur übersteht, und – wie in Fallgeschichten üblich – kann man die Lage dadurch verkomplizieren, dass doch Wirkungen der – wie Kluge schreibt – „Quälerei“ zu beobachten wären. Kluges Fall formuliert ein Rechtsproblem, von dessen Behandlung man in der wirklichen In­ quisition nichts weiß, das aber zweifellos juristischen Scharfsinn fordert. Denn die „junge angeklagte Halbhexe“ habe „sich etwa drei Stunden ausgeruht, eine Mahl­ zeit zu sich genommen und war dann in Tränen ausgebrochen. Das deutete der An­ kläger Dr. Eckholt als eine Art Rückfall. Der Tränenfluß und der Schreikrampf seien direkte Fortsetzung des Prozesses der Tortur. Wer wolle bezweifeln, dass das zusammenhänge? Also habe sie die Tortur nicht bestanden.“ Kluges Darstellung liest sich genauso wie eine juristische Übung, in der Argumente gefunden werden sollen. Der Verteidiger der „Halbhexe“ (deren Name erst aus dem Wörterbuch der Goethezeit und der Walpurgisnacht stammt38 und im Übrigen an die Halbjuden der Nürnberger Rassegesetze erinnert) argumentiert semiotisch und verlangt für ein Geständnis einen verbalen Inhalt, den man aufschreiben könne, was – wie haftprü­ fungserfahrene Verteidiger wissen – im Anhörungsprotokoll aber als „Geschrei mit Tränenfluss“ festgehalten würde. Dann erörtert der Richter in der Manier des so­ zialen Strafprozesses postmodernen Zuschnitts die Frage mit den Beteiligten und definiert den Gehalt der Regel für die Folter so, dass der Teufel, wenn die Gefol­ terte eine Hexe sei, zeigen müsse, dass er sie schütze. Kluge setzt hinzu: „Wer seine Untertanen überhaupt nicht zu schützen vermag, kann nicht Herrscher sein.“ Von dieser Regel aus lässt Kluge das Gericht befinden, dass „Weinen und hysterischer 36 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2003, mit der gleichnamigen (kurzen) Geschichte unter diesem Titel: 259 f. 37 Rainer Maria Kiesow, Das Experiment mit der Wahrheit. Folter im Vorzimmer des Rechts, Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechts­geschichte 3/2003, 98–110 (100). 38 Goethe-Wörterbuch, hrsg. v. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Lemma „Halbhexe“ unter: http://seibert.biz/gwb.

404

XI. Der Fall

Zusammenbruch drei Stunden nach intensiv erarbeiteter Tortur, ein ‚unentscheid­ bares Zeichen‘ sei. Man könne es so oder so deuten. Dieser Umstand sei kein Hin­ dernis, die Delinquentin aus Mangel an Beweisen freizusprechen.“ An der Stelle, an der Kluge diesen Fall zur Geburtsstunde des Topos „Im Zwei­ fel für den Angeklagten“ erklären könnte (was er in der Erzählung unterlässt), bricht die Geschichte ab. Als Jurist kann man sich vieles denken, etwa: Fiktionen bauen auf Tatsachen auf, und das eigentlich Fiktive einer Entscheidung liegt – wie Peirce hervorhebt  – darin, sich etwas als möglich oder als wahr vorzustellen.39 Kluges Geschichte präsentiert in der Form professionell schulmäßiger juristischer Argumentation, was man in der Rechtsgeschichte nicht wirklich hat antreffen können, sich aber als Jurist vorstellen können sollte. Man hätte es also antref­ fen können, wenn man den Fall als Prüfungsform für juristisches Wissen ernst nimmt. In der Rechtsdisziplin selbst steckt ein gehöriges Maß an Fiktionalität, die sich um wirkliche Abläufe nicht kümmert. Sie führt Zweitheit im Wege eines „reentry“ der Realität in ihre Falldarstellung ein.40 Dafür eignet sich der Modus der Fall­erzäh­lung. Um den mehr oder weniger großen künstlerischen Charakter ju­ ristischer Erzeugnisse zu entdecken, gehört die Geduld, die Alexander Kluge, der erzogene Jurist, mit seinen Lesern zum Zwecke der Erziehung im Denken ein­ übt. Denn der (oben kursiv gesetzte) Hauptsatz ist in altmodischer Art spekula­ tiv. Er enthält eine Definition des Herrschers (der, der seine Untertanen schützt) und legt damit mehr Inhalt vor, als moderne Definitionen enthalten, die sich meist einfach auf die Angabe ergänzungsfähiger und als nicht ausschließlich verstan­ dener Merkmale beschränken. Insofern beflügelt der literarische Jurist Kluge die reale Phantasie seiner Leser. Wer die in den 500 Geschichten enthaltenen Übun­ gen erträgt, kann dann überwechseln in eine Domäne der Juristenausbildung, nämlich in: 2. Juristische Schulfälle Fälle müssen nicht tatsächlich stattgefunden haben. Sie wirken als Zweites und entwickeln sich nach einem Ersten, das der Fallerzählung den Antrieb vermittelt. Damit sind sie weniger und etwas anderes als das begrifflich symbolische Dritte, das man mit ihrer Hilfe erschließen kann. Fälle sind Zeichen für mögliche Ereig­ nisse, die – und sei es durch bloße Erzählung – von außen aufgedrängt und heran­ getragen werden. Dabei muss man nicht fortlaufend fragen, ob die Sache wirklich so war. Nur ins Justizdispositiv gehört der Wille zur Wahrheit, im allgemeinen Recht bleibt die Wahrheit kontingent. Es kann in Wirklichkeit auch ganz anders gewesen sein. Wirklich ist jeweils der gerade präsentierte Fall, nur er (und nicht das wahre Leben) drängt zur symbolischen Vermittlung, denn hier beschränkt sich 39 40

Peirce (Fn. X. 107), 94. Augsberg, Lesbarkeit (Fn. VI), 49.

2. Juristische Schulfälle

405

die Äußerlichkeit und der hereingetragene Zwang auf den erzählten Fall selbst. Der Schulfall ist ein besonderes Objekt, dem man in einer juristischen Prüfungssitua­ tion nicht ausweichen kann.41 Schulfälle sind das Andere des ikonischen, spon­ tanen Rechts und bringen das Denken in Gang. Insofern sind sie wirklich. Wenn Juristen sie erzählen, sind diese Fälle nur wirklich möglich, sie sind ein Anstoß, mit Begriffen umzugehen. Aus Juristenperspektive sind sie zufällig. Fälle entbeh­ ren der Systematik, die man in der Norm sucht und mit eigener Konstruktion des Normtextes auch finden kann. Aber Fälle sind ein Probierstein dafür, ob eine nor­ mative Konstruktion tragfähig ist und Begriffe und Schemata für Lösungsange­ bote enthält. Denn dem Fall fehlt auch immer etwas – jedenfalls aus juristischer Sicht. Fälle sind ein Indiz für Krankheiten, etwas stimmt nicht. „Der erste Fall war ein Sündenfall, die heutigen Fälle haben etwas Pathologisches an sich“.42 Pathologie setzt eine Disziplin voraus, die Leiden und Gesundheit unterschei­ den kann. Es muss also eine begriffliche Entfaltung für das geben, was man als Fall präsentiert bekommt, und umgekehrt muss man üben, wie man entfaltet, was präsentiert wird. Für die moderne Rechtslehre sind Fälle insofern nicht nur der Probierstein für die Tauglichkeit begrifflicher Konzepte, sondern umgekehrt je­ ner Teil der Ausbildung, in dem sich die juristische Profession selbst zeigen soll. Das deutsche juristische Staatsexamen ist seit über 100 Jahren ein Examen an und mit Fällen. Klausuren werden über Fälle geschrieben, ganz selten über Themen. Soweit die Klausuren nicht selbst aus Schulfällen bestehen, werden solche Fälle benutzt, um auf sie vorzubereiten. Zunächst herrscht dabei die Vorstellung, man könne für eine Norm so etwas wie den „Normalfall“ ihrer Anwendung schildern. Dabei muss man Abstriche von wirklichen Fällen machen oder – wie Fritjof Haft das genannt hat – „einen Typus, d. h. eine aufsummierte Erfahrung relativ norma­ ler Fälle“ suchen.43 Normalfälle suchen schon sprachlich die Nähe zu Normfällen, und Haft will es auch so verstanden wissen, als unterlege der Normalfall einen Tat­ bestand mit normaler Anschauung, lege also den Schluss nahe, dass – wenn eine Waffe gefährlich sei und ein Messer auch – dann ein Messer als ein gefährliches Werkzeug i. S. d. § 224 StGB zu gelten habe.44 Nur ist dieses Beispiel unterkom­ plex. Meist muss positiv gelernt werden, was Fälle mitteilen. Die Ausbildungsfälle der Juristen sagen wenig über die Welt und das, was in ihr als gefährlich gilt, sie sagen nur, was Juristen dafür halten. Der Schulfall ist das Instrument, das Juris­ ten, die sich im Besitz von Wissen glauben, gegenüber anderen verwenden, die erst noch Juristen werden bzw. das dazu notwendige Wissen in der Rechtsschule erst noch erwerben wollen. Er wird zu diesem Zweck zum „Turngerät“,45 das „Fälle und Lösungen“ als Textsorte der juristischen Ausbildungsliteratur hervorbringt,

41

Müller, Syntagma (Fn. III. 33), 21 (Rdz. 2). Luhmann, Kontingenz und Recht (Fn. III. 69), 202. 43 Haft, Rhetorik (Fn. VI. 13), 70. 44 Haft, Rhetorik (Fn. VI. 13), 88. 45 Winfried Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München 1981, 8. 42

406

XI. Der Fall

wobei man – siehe oben – vorsichtig sein muss mit dem Einwand, so etwas ­ereigne sich gar nicht und komme nur in der Lehrbuchliteratur vor. Es gibt alles, und ich beginne mit zwei Beispielen für anormale Absurdität, mit der Begriffs­normen ver­ deutlicht werden, dann gehe ich über zu zwei modernen, sachlich gehaltenen und am Gerichtsvorbild orientierten Lehrbuchfällen. Die in einer akademischen Aus­ bildung zu diskutierenden Sachen dieser sachlichen Fälle gehen freilich an den Problemen des Falls vorbei – wie gezeigt werden soll. Am Ende steht eine offenbar nicht aufhebbare pathologische Entfernung zwischen Fall und Schulfall. Am Anfang steht ein Phänomen, über das sich einst schon Rudolf von Jhering amüsiert hat, als er die dogmatischen Besonderheiten eines Dachs erläuterte.46 Für Fragen nach dem polizeirechtlichen Störerbegriff kann man etwa den folgenden Fall (aus dem Repertoire des Repetitoriums von Alpmann und Schmidt) erzählen: (1) Es stürmt und die Ziegel fliegen von den Dächern, während unten die Passanten vor­ übergehen. A öffnet das Fenster und ruft: „Ich derelinquire.“

Den Sinn des Falles (der nicht in der Demonstration einer Geisteskrankheit be­ steht) versteht man nur, wenn man weiß, dass der private Eigentümer, von dessen Sache Gefahren ausgehen, für diese immer auch öffentlich-rechtlich haftet, so­ lange er nur Eigentümer ist (sogenannte „Zustandshaftung“). Nun ist es aber pri­ vatrechtlich durch den einseitigen Akt der Dereliktion möglich, sich nach Belie­ ben und jederzeit des Eigentums zu entäußern und eine Sache, die man besaß, für herrenlos zu erklären, eben zu derelinquiren. Was heißt das nun für die polizei­ rechtliche Haftung? Entfällt sie, weil das Eigentum entfallen ist, bevor ein Schaden (an den Passanten – noch fliegen die Ziegel) eingetreten ist? Das kann wohl nicht gut so sein (würde Haft mit dem „Normalfall“ sagen) und ist auch nicht so. An die Stelle der Zustandshaftung aus dem Eigentum tritt systematisch die Haftung aus gefährdender Handlung, weil eben die Dachziegel fliegen, so dass Derelik­ tion zwar zivilrechtlich möglich bleibt, aber weder von der polizeirechtlichen noch von der deliktischen Verantwortlichkeit befreit. Vorsichtshalber hat der moderne Verwaltungsgesetzgeber in den meisten deutschen Bundesländern dafür eine neue Norm vorgesehen mit dem Inhalt: Geht die Gefahr von einer herrenlosen Sache aus, so können die Maßnahmen gegen diejenige Person gerichtet werden, die das Eigentum an der Sache aufgegeben hat (so § 7 Abs. 3 HessSOG). Der Fall – ver­ rückt, wie er ist – hat so sehr Schule gemacht, dass er Gesetz geworden ist. Die Erzählungen für juristisch interessante Fälle indizieren also eine andere Zweitheit als ein Ereignis, das von außen einträte und das Recht zu einer Reaktion zwänge. Die erwartete Reaktion besteht hier in nichts anderem als in der Hervor­ lockung von Rechtsbegriffen. Ob sich etwas wirklich so ereignet, ob jemand die juristischen Fragen wirklich so stellt und ein Interesse an korrekter Antwort hat, ist symbolisch ohne Belang. Für Studierende gehören Schulfälle zur Schule, zu den 46 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum (1884), Nachdruck Darmstadt 1975, 12.

2. Juristische Schulfälle

407

Objekten der Begriffsanwendung. In der Schule kann man den Rechtsfall stich­ wortartig beschreiben, auf die Handelnden kommt es nicht mehr an, man kann sie – wie es Lehrbuchautoren gewöhnlich tun – zu bloßen Chiffren abkürzen und das Problem in Fragen sehen, die makaber und lächerlich wären, nähme man den Fall als Lebenswirklichkeit. (2) A erschießt seine Frau. Wem gehört die Kugel, wenn Gütertrennung besteht?

Auch eine solche Frage (man hat sie hinreichend ironisiert von Rudolf Wiethölter gehört) kann juristisch sinnvoll diskutiert werden, und man kann dabei die Kennt­ nisse aus (1) verwenden. Der Abschuss eines Projektils dürfte als Akt der Dere­ liktion gelten, so dass Eigentum aufgegeben worden ist. Da die Frau tot ist, gilt gesetzliche oder gewillkürte Erbfolge hinsichtlich der Leiche, wobei der Mörder als Erbe ausscheidet. Dann kann man immer noch fragen, ob die Kugel wesent­ licher Bestandteil der Leiche geworden ist oder – nach der regelmäßig vorgenom­ menen Leichenöffnung zu Beweiszwecken – den Strafverfolgungsorganen gehört oder vielleicht sogar dem Präparator, der seine ganze Kunstfertigkeit auf die Wie­ dergewinnung solcher Objekte richtet – eine kaum noch zu trennende juristische Gemengelage. Um einen Normalfall handelt es sich schon wegen der Fragestel­ lung nicht, auch wenn der Ehegattenmord gar nicht so selten vorkommt, wie man es gern hätte. Der Normalfall soll dem normalen Ablauf von Handlungen einiger­ maßen nahekommen, auch wenn man ein Problem implantiert. Die Richtung, in der eine Auflösung erfolgen kann und soll, wird teilweise schon mit der Fragestel­ lung vorgegeben. Man lasse auf sich wirken: (3) „Student Seltsam ‚bemalt‘ die Straßenfront des Gebäudes der rechtswissenschaftlichen Fakultät mit politischen Parolen, deren Entfernung stundenlange mühevolle Arbeit er­ fordert. Strafbarkeit des Seltsam (S)?“

Die Fallerzählung aus einem Lehrbuch des Strafrechts47 ist von Gerhard Struck berichtet und kritisiert worden.48 Ihre „Lösung“ liegt offensichtlich darin, dass eine Strafbarkeit bejaht werden soll, weil die Arbeit, die „Bemalung“ zu besei­ tigen, „stundenlang“ dauerte und „mühevoll“ war. Damit ist schon alles gesagt. Aber so schlicht an den Indices der Erzählung darf eine juristisch-schulmäßige Behandlung natürlich nicht daherkommen. Erwartet wird, dass ein studentischer Bearbeiter sogenannte „Theorien“ zu der Frage entfaltet, was im strafrechtlichen Sinne als Beschädigung einer Sache gelten soll, um dann folgerichtig auf die „Zu­ standsveränderungstheorie“ abzustellen. Diese Lehre muss man vorher kennen, wie man auch wissen muss, dass eine Beschädigung nach dem herkömmlichen juristisch verstandenen Wortsinn in der Veränderung der Substanz liegt (die bei einer Bemalung fehlt). Insofern ist dieser kleine Fall anders als (2) übersichtlich und dient der Hervorbringung des vorher schon fallbezogen Gewussten. Aber er 47

Volker Krey, Strafrecht Besonderer Teil, Bd. 2, 11. Aufl., Stuttgart, 114. Gerhard Struck, Fachsprachenerwerb, sprachliche Dressur und versteckte Wertungen in der deutschen Juristenausbildung, in: Haß-Zumkehr (Hrsg.) (Fn. VII. 40), 330–342 (335). 48

408

XI. Der Fall

gehört der Sorte von Schulfällen an, die Herbert Jäger im Jahre 1973 als „Lehr­ buchkriminalität“ glossierte.49 Der Ausdruck kennzeichnet seitdem die pathologi­ sche Tendenz in der Schulfall-Erzählung. Wenn man mit Jäger strafrechtliche Fallsammlungen liest, dann fällt einem auf, wie personale Chiffren, die A, B oder C heißen und X als Opfer heimsuchen, un­ ter Ausnutzung ganz besonderer Kausalverläufe heimtückische Erfolge erzielen. Jäger sah die A, B und C in einer geheimnisvollen, unerklärten Weise gegen X verschworen in einem Schema, wonach X beispielsweise zwei Tassen trinkt, die von A und B vergiftet worden sind, ohne dass diese voneinander wussten. Wie (1) und (3) dienen diese Fallgestaltungen zu nichts anderem als dem Nachvollzug uni­ versitärer Lehrmeinungen und künstlicher, praktisch folgenloser Differenzierun­ gen. „Lehrbuchkriminalität“ ist also etwas anderes als Kriminalität, der Schulfall macht den Fall über eine bestimmte Schultradition zu etwas anderem, vorzugs­ weise zu einem Objekt, bei dem die meist „Theorie“ genannte Lehrmeinung eines oder einer Gruppe von Strafrechtslehrern der einer anderen Gruppe gegenüber­ zustellen ist und Studenten am Ende diesen überflüssigen Streit „entscheiden“ dür­ fen. Lehrbuchkriminalität ist dabei im Typus nicht auf das Strafrecht beschränkt, hier nur besonders auffällig und dem Stand der Disziplin nicht mehr entsprechend. Das Privatrecht nimmt sich keineswegs realitätsgerechter aus als strafrechtliche Lehrbuchfälle, wenn unerkannt Geisteskranke Grundstücke verkaufen oder Min­ derjährige sich unentdeckt auf Flugreisen begeben, von deren Zielen sie zurück­ geschickt werden müssen. Der Unterschied besteht nur darin, dass Zivilrechtsleh­ rer darauf zu verweisen pflegen, solche Fälle gebe es „wirklich“50 oder – wenn es sie gerade nicht gibt – es sei hier mit den ethischen und praktischen Problemen der Rechtsverwirklichung anders bestellt. Wirklichkeiten und Begrifflichkeiten – Zweit- und Drittheiten des Falls – wer­ den im Strafrecht insofern anders gesehen, als eine wirklichkeitsbezogene Krimi­ nologie Aussagen darüber macht, welche Faktoren das Bestrafen bestimmen, und die Begriffsschulung sich auch daran ausrichten solle, nicht allein oder vor allem am Eigenleben der Rechtsbegriffe. Im Strafrecht gibt es also eine ausgesprochene Gegenbewegung, die begriffliche Verselbstständigungen verfolgt und denunziert, die im klassischen Privatrecht noch eine gewisse Unschuld bewahrt haben. Jäger selbst hat zur Formulierung anderer Schulfälle motivieren wollen, weil seine kri­ minologische Erfahrung gegenüber den Tätern der Lehrbuchkriminalität, also den Kollegen Hochschullehrern, nicht auf Strafen, sondern auf das bessere Beispiel setzte. Wolfgang Naucke hat 20 Jahre später die Rückwirkungen des Lehrbuch­ denkens beschrieben und dessen Spur in der Strafrechtspraxis verfolgt. Dann zeigt sich, dass Lehrbuchstrafrecht dazu führt, dass strafrechtliche Folgen und Ergeb­ nisse der Bekämpfung von Seuchen oder der Regelung des Gas- und ­Wasserwesens 49 Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, 300–306. 50 Es gab den Flugreise-Fall: BGHZ 55, 128, Urt. v. 7.1.1971 – VII ZR 9/10.

2. Juristische Schulfälle

409

näher stünden „als dem, was gemeinhin als Ethik und Moral bezeichnet wird.“51 Der Befund stammt von Fritz Bauer, dem Auschwitz-Aufklärer und -Ankläger, und Naucke führt ihn auf die fehlende theoretische Einfassung praktischer Fra­ gen aus dem realen Strafverfahren zurück. Beispielsweise fällt beim Lehrbuchfall auf, dass er regelmäßig gar keinen Bezug zum Verfahrens­ablauf hat, obwohl doch praktisches Strafrecht immer mindestens mit einem vorbereitenden Teil  eines Strafverfahrens verbunden ist. Darüber hinaus werden Abläufe mit einer Genau­ igkeit dargestellt, die verfahrensmäßig fast nie zu erreichen ist. Neuere Fallsamm­ lungen versuchen, die gröbsten Fehler solcher Lehrbuchkriminalität zu vermei­ den. Man möchte auf Merkwürdigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten verzichten und mehr oder weniger praxisnah formulieren. So findet man zum Wirtschafts­ strafrecht in einer Klausurensammlung von Hellmann/­Beckemper einen Fall, der den Titel „Chinesische Geschäfte“ trägt und von einer Tietze Maschinenbau AG (T-AG) handelt. Der Fall ist umfangreich – schon das unterscheidet ihn von der knappen Absurdität in (1) und (2) – und soll hier nur mit dem ersten Ausschnitt berichtet werden:52 (4) „Vorstandsvorsitzender ist Wilhelm Tietze (T). Weitere Vorstandsmitglieder sind Friedhelm Busse (B), der den kaufmännischen Bereich betreut, und Bernhard ­Conrad (C), der für den technischen Bereich zuständig ist. Am 3. September 2012 wurde ­Gunther Müller (M) als Vertriebsleiter für den chinesischen Markt eingestellt. In China ist es üblich, Geschäftsabschlüsse mit großzügigen Zahlungen zu ‚fördern‘. Das wussten auch T, B und C. Weder im Vorstand noch in einem Gespräch mit M wurde dieser Umstand jedoch problematisiert. M ging deshalb davon aus, bei der Entschei­ dung über solche Zahlungen freie Hand zu haben. Um den Geldfluss zu verschlei­ ern, bildete M eine ‚schwarze Kasse‘: Er schloss am 20. September 2012 mit dem selb­ständigen Unternehmensberater Marten ­Olsen (O) einen Vertrag über Berater­ tätigkeiten, die O allerdings nicht erbringen sollte. O, der wusste, dass der Vorstand gutgläubig war, erstellte absprachegemäß eine Rechnung über 250.000 € mit Umsatz­ steuerausweis. M zeichnete die Rechnung ab und leitete sie an die Buchhaltung weiter, die den Betrag an O auszahlte. O führte die Umsatzsteuer ab und überwies die übrig gebliebene Summe abzüglich einer Provision in Höhe von 10.000 € auf ein Konto, für das nur M Vollmacht hatte. Der Vorstand der T-AG hatte anfänglich von dieser Trans­a ktion keine Kenntnis. Im Zuge einer im November 2012 durchgeführten Re­ vision erfuhr er aber von der schwarzen Kasse. B und C unternahmen jedoch nichts, weil sie durchschauten, wofür M dieses Geld einsetzen würde, und sie der Meinung waren, dass es kaum möglich sei, in China Geschäfte zu machen, ohne Zahlungen zu leisten.“

Ob nun Auszubildende oder Ausgebildete in der Rechtswissenschaft – alle, die sich Zeitungen lesend oder Nachrichten sehend, durch die Welt der letzten zehn 51 Wolfgang Naucke, Über Lehrbuchkriminalität und verwandte Erscheinungen, in: Lorenz Böllinger/Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Vom Guten das noch stets das Böse schafft. Kriminal­ wissenschaftliche Essays zu Ehren von Herbert Jäger, Frankfurt a. M. 1993, 280–290 (288). 52 Uwe Hellmann/Katharina Beckemper, Fälle zum Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., Stutt­ gart 2013, 1.

410

XI. Der Fall

Jahre bewegt haben, erinnern sich an Fälle. Es gab Strafverfahren wegen Untreue gegen Parteimanager, die in eigenem Glauben an einen politischen Sendungsauf­ trag Geld verschoben haben,53 es gab das Mannesmann-Strafverfahren gegen Auf­ sichtsratsmitglieder, die es für allgemein üblich hielten, dass ausscheidende Ma­ nager Millionenzahlungen ohne Gegenleistung erhalten, und es gab vor allem den 2006 aufgedeckten Siemens-Skandal, der zur bislang größten Schmiergeldaf­ färe der deutschen Wirtschaftsgeschichte geworden ist. Dadurch könnte dieser im Jahre 2012 – also nach Miterleben der justiziellen Aufarbeitung dieser Affäre –­ publizierte Schulfall eine andere Färbung erhalten. Vielleicht darf man sogar er­ warten, dass der Fall auch noch in der reduktiven Version aus (4) Gefühle an­ spricht und den Zeichenprozess dort beginnen lässt, wo er anfangen sollte – mit Erstheit. Das ist nicht wirklich vorhersehbar, weil die Verfasser sich sprachlich ganz von Gefühlsimpulsen fernhalten wollen. Immerhin setzen sie pragmatische Akzente. Die Geschäfte finden in China statt (was dem Schulfall den Titel gibt), der Vorstand weiß erst einmal nichts, erfährt aber später davon – das ist ein Be­ weisergebnis aus dem wirklichen Siemens-Strafverfahren. Wirtschaftspraktisch oder populär-kriminalsoziologisch erfahren wir, dass in China Geschäfte eben so laufen. Wird von diesen Impulsen etwas in der Lösung aufgenommen? Was thema­ tisiert sie überhaupt? Weil die Lösung schulmäßig sein soll, stellen die Verfasser an den Anfang, was schon immer bei der Prüfung von Straftatbeständen am An­ fang stand, mit der Fallgestaltung und ihren pragmatischen Impulsen aber nichts zu tun hat. Es heißt hinsichtlich des Tatbestands der Untreue:54 (5) „M könnte durch den Abschluss des ‚Beratervertrags‘ mit O und die Veranlassung der Zahlung an ihn die Missbrauchsalternative des § 266 StGB verwirklicht haben. … Die h. M. nimmt einen Missbrauch der Verpflichtungs- bzw. Verfügungsbefugnis jedoch nur an, wenn das vom Täter getätigte Rechtsgeschäft im Außenverhältnis wirksam ist. M hatte zwar grundsätzlich die Rechtsmacht, die T-AG zu verpflichten, sodass er einen regulären Beratervertrag mit Rechtswirkung für die Gesellschaft hätte abschlie­ ßen können. Die mit O getroffene Vereinbarung war aber gem. § 117 BGB unwirk­ sam, weil es sich um ein Scheingeschäft handelte. Die h. M. würde daher einen Miss­ brauch der Verfügungsbefugnis ablehnen. Die Gegenmeinung verzichtet jedoch auf das Erfordernis eines im Außenverhältnis wirksamen Rechtsgeschäfts und befürwor­ tet stattdessen eine ‚strafrechtsautonome‘ Bestimmung des Missbrauchs, … Es bedarf deshalb der Streitentscheidung.“

Das ist ein klassischer Schulbuchdreischritt, bei dem man von Dialektik nicht sprechen kann: Hier ist das Eine, dort das Andere, es muss entschieden werden, und es folgt dann im Beispiel die Entscheidung für das eine Erste, die dazu führt, dass man auch die Treuebruchsalternative des § 266 StGB erörtern kann und muss. Im Ganzen handelt es sich um eine ausschließlich begriffliche Frage, anhand derer ein Bearbeiter demonstrieren soll, dass er ein Problem sieht, das auch noch straf­ 53 BGHSt 51, 100, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05 (Untreue zum Nachteil politischer Par­ tei – Fall Kanther/Weyrauch). 54 Hellmann/Beckemper (Fn. XI. 52), 3–4.

2. Juristische Schulfälle

411

rechtsübergreifend, nämlich im Recht der Willenserklärungen angesiedelt ist. Das ist nicht ganz einfach. Andererseits ist die ganze Frage einschließlich ihrer Lö­ sung, die im Lehrbuch 5 Randziffern über 1,5 Buchseiten besetzt, völlig folgenlos und interessiert außerhalb der Klausurengesellschaft niemanden. Sie hätte in drei Sätzen abgehandelt werden können. Hingegen könnte man erwarten, dass die im Sachverhalt angedeuteten chinesischen Gebräuche und die gefühlte Zwangslage der Firma in irgendeiner Weise zum Gegenstand juristischer Erörterung werden. Diese beschränkt sich im Rahmen einer Prüfung der Untreue durch Unterlassung allerdings auf die folgenden Lehrbuchsätze: (6) „Im Zeitpunkt der Tathandlung hatten die Vorstandsmitglieder … noch keine Kenntnis von den Machenschaften des M, sodass er ohne deren Einverständnis handelte. Aus der späteren Billigung des Verhaltens des M kann im Übrigen nicht auf ein mutmaßliches Einverstandensein des Vorstands bei Vornahme der Tathandlung geschlossen werden. Gegen die Annahme einer Pflichtverletzung lässt sich zudem nicht überzeugend ins Feld führen, M habe auf lange Sicht zugunsten der T-AG gehandelt, weil er durch die Verwendung der Gelder Aufträge für die Gesellschaft beschaffte.“

Das heißt also, dass M die ganze Härte des Gesetzes trifft – könnte man den­ ken. Die chinesischen Verhältnisse werden ebenso wie das stillschweigende Wohl­ wollen der Vorgesetzten mit zwei Sätzen abgehandelt. Ein mögliches Einver­ ständnis hätte im Zeitpunkt der Tat konkret erteilt werden müssen. Daran fehlt es. Günstig war die Handlungsweise, wie noch ausgeführt wird, für die Firma auch nicht, weil sie ja langfristig zu nachteiligen Folgen führt. Das ist eine Argumen­ tation mit der Zeit, die an zwei entscheidenden Stellen zum Nachteil des Täters gereicht. Insofern wird auf den drei Seiten der Klausurlösung, die den Tatbestand der Untreue behandeln, kein ernsthaftes juristisches Problem sichtbar. M ist of­ fensichtlich – wie moderne Strafrechtslehrer eben meinen – strafbar. Aber wird er auch bestraft? Diese Frage stellen juristische Schulfälle überhaupt nicht bzw. es wird so getan, als ob selbstverständlich strafbares Handeln auch bestraft wird oder wenigstens bestraft werden müsste. Manche, aber nur noch verhältnismäßig wenige Hoch­ schullehrer verweisen auf den akademischen Charakter der universitären ersten Ausbildungsphase. Allerdings würde gerade die akademische Ausbildung es ver­ langen, dass ihre Absolventen über eine Sprache verfügten, mit der die Probleme der Bestrafung angemessen ausgedrückt werden könnten. Sie stehen nicht nur im Vordergrund strafrechtlicher Begriffsarbeit, sondern beherrschen sie ganz, weil es gerade Strafrecht nur im und mit Verfahren gibt. Wenn man also praxisbezo­ gen und fallorientiert auf eine Strafrechtsprüfung vorbereiten will – und das will man wohl mit der ganz herrschenden Schulfallpräsentation –, dann müsste man sich im Rahmen einer akademischen Ausbildung eigentlich für eine Zeichenpraxis interessieren, die zur Sprache bringen kann, was im praktischen Verfahren selbst verschwiegen bleibt. An dieser Stelle muss man auf den Siemens-Schmiergeld­ skandal sehen und bemerken, dass dieser Fall praktisch – wie es in der Zeitungs­ berichterstattung hieß – „weitgehend im Nichts zu versanden“ drohte. B war bei

412

XI. Der Fall

Siemens der frühere Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger, und über Neubür­ ger schreibt man im wirklichen Leben des Falls:55 (7) „Gut vier Jahre haben Münchner Staatsanwälte ermittelt und müssen das Verfahren nun einstellen. Neubürger will ein Angebot der Ermittler annehmen, das Verfahren ge­ gen eine Geldauflage einzustellen, erklärte sein Anwalt. Damit wäre der Fall erledigt, ohne dass es zu einer Verurteilung oder Schuldfeststellung gekommen wäre. Erst im Mai war der Prozess gegen Ex-Vorstand Thomas Ganswindt ebenfalls gegen Zahlung einer Geldauflage von 175 000 Euro beendet worden. Bei Neubürger sind 400 000 Euro im Gespräch. Ursprünglich waren sich die Ermittler sicher, Neubürger nachweisen zu können, von Machenschaften gewusst und sie nicht bekämpft zu haben. Nach Stand der Dinge muss damit kein hochrangiger Siemensverantwortlicher wegen der Affäre ins Gefängnis oder eine Bewährungsstrafe hinnehmen.“

Manche Beobachter pflegen Einstellungen gegen Geldauflage schnell als „Kuh­ handel“ zu werten, der nur den Reichen vorbehalten bleibe und auch nur sie vor den Folgen des Strafverfahrens schütze. Abgesehen davon, dass diese Einschätzung in der Breite nicht zutrifft, kann man speziell am Siemens-Fall darüber nachdenken, welche Wirkungen das Justizdispositiv insgesamt hat. Ungeachtet des Ergebnisses aus dem Jahre 2011 beging Neubürger im Februar 2015 Selbstmord. Das zeitung­ lesende Publikum konnte sich Gedanken darüber machen, ob dieser Suizid mit der Justizerfahrung (die doch vom Ergebnis her ganz freundlich hätte erscheinen kön­ nen) in Verbindung zu bringen ist, und das ist auch eine relevante Frage. Man sollte das wirkliche Schicksal nicht mit der These abwehren, solche Folgen seien für ein universitäres Strafrecht nicht interessant. Das stimmt weder gefühlsmäßig noch be­ grifflich. Vielmehr fällt auf, wie schmal die strafrechtliche Begrifflichkeit tatsäch­ lich ist, mit der man hier nur jenseits der eigentlichen Probleme operieren kann. Es fehlt nämlich an Gesichtspunkten, mit denen Schuld differenziert behandelt wer­ den könnte. Die dazu in der juristischen Lehrbuchsprache entwickelten Formeln sind so unterkomplex wie die tatsächliche Behandlung, über die es in der Zeitungs­ berichterstattung über das Verfahren des Gerichts nach Anklageerhebung heißt:56 (8) „Doch die Schuld des ehemaligen Vorstandes ist nach Ansicht der Richter gering: Der Schmiergeldprozess gegen den ehemaligen Siemens-Vorstand soll ohne Urteil abge­ schlossen werden – gegen Zahlung einer Geldauflage von 175.000 €. Der Ex-Manager war wegen Steuerhinterziehung und vorsätzlicher Verletzung der Aufsichtspflicht an­ geklagt. Der 50-Jährige hatte die Vorwürfe zum Prozessbeginn zurückgewiesen. Wenn Ganswindt die Geldauflage bezahlt, wird das Verfahren nach Angaben des Gerichts endgültig eingestellt. Einen Teil der Vorwürfe hatten die Richter aber vor Prozesser­ öffnung abgetrennt. Dabei geht es um die Anschuldigung, der Manager habe in sieben Korruptionsfällen Beihilfe durch Unterlassung begangen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe zumindest von Bestechungsfällen in seinem Zuständigkeitsbereich wissen müssen. Der Justizsprecher sagte, die Kammer werde vermutlich erst nach der Bezahlung der Geldauflage entscheiden, wie sie mit dem abgetrennten Teil des Ver­ fahrens umgehen wolle.“ 55 56

http://seibert.biz/siemens. Süddeutsche Zeitung v. 19.5.2011 (http://seibert.biz/ganswindt).

2. Juristische Schulfälle

413

12 Seiten oder 47 Randziffern verwenden Hellmann/Beckemper auf die Erörte­ rung des Falls. Im praktischen Fall reduziert sich alles auf die ersten 1,5 Seiten mit den bereits erwähnten 5 Randziffern und den Begriff der Schuld, über des­ sen Umfang der Schulfall nicht ausbildet. Die Strafverfolgung beschränkt sich auf den Untreuetatbestand und lässt die Bestechungsfrage ebenso wie die Steuerhin­ terziehung unbehandelt. Das ist kein Vorbild für die schulgerechte Behandlung des Problems. Aber es macht deutlich, dass man im Strafrecht etwas über die Ge­ wichtung von Tatbeständen im Fall wissen muss, ehe man Ausführungen über den Tat­bestand macht. Strafrechtsklausuren könnten wesentlich kürzer ausfallen, als sie es tun, und sie sollten sich auf Probleme beziehen, die es sind. Die Pathologie des Schulfalls beschränkt sich nicht auf das Strafrecht. Man kann rechtsgebietsübergreifend beobachten, dass Schulfälle an Gerichtsverfahren an­ schließen wollen und weitgehend versuchen, den Eindruck zu vermeiden, man bilde für Lehrbuchjurisprudenz aus. Es soll deshalb noch ein unspektakuläres, nicht in Zeitungen berichtetes Beispiel aus dem Mietrecht folgen. Das ist ein Schulfall des Schuldrechts unter der Überschrift „Nichts los im Einkaufscenter“57: (9) „Die Constructa GmbH (C) errichtete in der Stadt Augsburg ein Einkaufscenter und ver­ mietete die Läden an Geschäftsleute. Unter anderem mietete auch Hermine Hörwick (H) einen Laden für 1500 € pro Monat und betrieb darin eine Modeboutique. Nach einem Jahr mussten jedoch viele Geschäfte schließen. Deswegen kamen immer weniger Kun­ den in das Einkaufscenter, sodass die Hörwick nur noch unbedeutende Umsätze machte. Sie kündigte daraufhin am 20.3. den auf zehn Jahre befristeten Mietvertrag fristlos und räumte den Laden zum 31.3. Die Constructa GmbH hält die Kündigung für unwirksam und verlangt von der Hörwick die Miete für April. Zu Recht?“

Der Fall hat ein Gerichtsvorbild, nämlich eine Entscheidung des BGH, der ein Urteil des OLG Naumburg vorausging.58 Ort der Handlung war nicht Augsburg, sondern Halle. Aber für den Schulfall soll das keine Rolle spielen, wie überhaupt der mietrechtliche Hintergrund nicht weiter vertieft wird. Autor Jörg Fritzsche stellt seiner Musterlösung „Vorüberlegungen“ zum Ort und zur Reihenfolge der An­ spruchsgrundlagen voran, führt dabei länger das Verhältnis zwischen §§ 543 und 313 BGB aus und bemerkt, dass es eigentlich um den Grundsatz „pacta sunt ser­ vanda“ gehe, auch wenn dieser im BGH-Urteil nicht ausdrücklich erwähnt wird. Die Falllösung ist auf die Frage konzentriert, ob das Einkaufscenter, das überwie­ gend leer stehe, einen Mangel aufweise. Dazu kann man schulmäßig ausführen: (10) „Der vertragsmäßige Gebrauch wird insbesondere dann nicht gewährt bzw. wieder entzogen, wenn die Mietsache einen Mangel aufweist. Daher ist zu fragen, ob hier die vermieteten Räume mangelhaft sind. Unter einem Mangel ist die für den Mieter nachteilige Abweichung des tatsächlichen Zustands der Mietsache von dem vertrag­ lich geschuldeten Zustand zu verstehen, wobei sowohl tatsächliche als auch rechtliche 57 Jörg Fritzsche, Fälle zum Schuldrecht I. Vertragliche Schuldverhältnisse, 6. Aufl., Mün­ chen 2014, 360 Rdz. 5 f. 58 BGH NJW 2000, 1714, 1715, Urt. v. 16.02.2000 – XII ZR 279/97.

414

XI. Der Fall Verhältnisse in Betracht kommen. Auch bestimmte äußere Einflüsse oder Umstände können einen Mangel begründen. Allerdings ist dazu eine unmittelbare Einwirkung auf die Gebrauchstauglichkeit erforderlich. Umstände, die die Eignung der Mietsache zum vertragsmäßigen Gebrauch nur mittelbar berühren, reichen nicht aus. Der Um­ stand, dass viele andere Läden im Einkaufscenter schließen mussten, hat zwar Ein­ fluss auf den Kundenstrom und die zu erwartenden Umsätze. Es handelt sich dabei jedoch um einen Umstand, der allenfalls mittelbar die Gebrauchstauglichkeit des an H vermieteten Ladens beeinträchtigt.“

Vorgeführt wird ein Schema, das sich in der strafrechtlichen Klausurbearbei­ tung von (6) auf den Umstand bezieht, dass der Vorstand die Schwarzgeldzahlung zwar ursprünglich nicht gekannt, aber später gebilligt habe. So, wie dort ein mög­ liches Gegenargument in apodiktischer Sprechweise aus dem Feld geräumt wird (gegen die Annahme einer Pflichtverletzung lasse sich nichts „überzeugend ins Feld führen“), so wird in (10) der Umstand, dass viele andere Läden im Einkaufs­ center schließen mussten, als nur mittelbar erledigt. Das entspricht durchaus der herrschenden Praxis, weshalb wirtschaftlich mächtige Filialunternehmen beim Abschluss von Verträgen in Einkaufscentern die Klausel diktieren, die Mieterin habe ein Kündigungsrecht, wenn einer oder – je nachdem – eine bestimmte An­ zahl der im Einkaufszentrum angesiedelten Betreiber ihren Betrieb einstellten. In der Lösung des Lehrbuchfalls taucht diese Möglichkeit zwar auf, wird aber im Stil eines zivilistischen Urteils sofort auch zurückgewiesen. Dazu heißt es:59 (11) „Allerdings gewährt § 313 Abs. 1 einen Anspruch auf Vertragsanpassung nicht schlecht­ hin, sondern nur ‚soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzel­ falls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.‘ Es ist deshalb zu fragen, wie die vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung im Mietvertrag zwischen C und H geregelt ist. Hierfür gilt, dass bei einem Mietvertrag, soweit nichts anderes vereinbart ist, der Mieter grundsätzlich das Verwendungsrisiko trägt, bei einer Geschäftsraum­ miete also das Risiko der Gewinnerzielung mit der Mietsache. Daran ändert es nichts, dass auch der Vermieter von einem wirtschaftlichen Erfolg der Vermietung ausgeht.“

Das letzte Argument stammt fast wörtlich aus dem Urteil,60 dessen Begründung in die schulmäßige Darstellung übernommen wird. Der Sache nach fällt der kano­ nisch hervorgehobene Unterschied zwischen Urteils- und Gutachtenstil in sich zu­ sammen. Wo die Sache schwierig wird, verfällt der Autor ins Apodiktische. So ist es eben. Anders als in Strafsachen kann man sich im Rahmen der Zivilklage da­ mit trösten, dass es in einem solchen Fall dem anwaltlichen Vertreter der Miete­ rin obliegt, diese Art der Regelung des Verwendungsrisikos zum Teil einer AGB-­ Regelung zu erklären, die den Verwender der AGB einseitig bevorteile und nicht zu erwarten gewesen sei – eine schwierige Angelegenheit, die auf tatsächliche In­ formationen angewiesen ist, von denen der Schulfall aber nichts wissen will. Denn in der Rechtsschule soll nur für Rechtsfragen ausgebildet werden. Deren Verbin­ 59

Fritzsche (Fn. XI. 57), 364 Rdz. 13 f. BGH NJW 2000, 1717.

60

2. Juristische Schulfälle

415

dung mit Tatsachenvortrag möchte man aussparen, obwohl gerade darin die aka­ demische Frage jedes Nicht-Schulfalls besteht. Tatsachenvortrag wäre vermutlich auch notwendig, wollte man das Vorhandensein bestimmter oder milieuprägender Läden in Einkaufscentern zum Gegenstand der Geschäftsgrundlage machen, de­ ren Veränderung eine Vertragsanpassung notwendig mache. Darüber verliert die Falllösung nicht einmal ein Wort. Der Schulfall neuer Prägung ist von den justi­ ziell verhandelten Sachen so weit entfernt wie eh und je. Das führt zurück zu der Frage nach den Folgen dieser Art ausbildungsprakti­ scher Sprachlichkeit. Gerhard Struck hat dazu schon resümiert, dass Schulfälle mit praktischen wie theoretischen Rechtsfragen nur so viel zu tun haben, wie die Verfasser der Fallerzählung in Lehrbüchern finden.61 Wie weit auch immer ihr Ereignisvorbild an wirkliche Fälle angelehnt ist, machen Rechtslehrer aus Fällen Turngeräte, und das ist noch die bessere Variante der Verwandlung vom Gerichts­ fall in den Schulfall. Die schlechtere Verwandlungsfolge besteht darin, dass Pro­ blemfreiheit dorthin gesetzt wird, wo das Problem beginnt, also beispielsweise in (6) bei den gegen die Annahme einer Pflichtverletzung „ins Feld zu führenden“ Umständen, von denen die schulmäßige Lösung sagt, es gebe keine, und in (10) bei der Frage des Mangels oder der Geschäftsgrundlage eines Mietvertrags im Einkaufscenter. Solche tatsächlichen Problemschwerpunkte handelt man sich ein, wenn man aus der Lehrbuchkriminalität herauskommen und den Ausbildungsfall so wirklich wie möglich machen will. Fallkonstrukte in der Manier von (1) und (2) haben damit kein Problem und begnügen sich mit dem Charakter eines Turngeräts. Aber in der neuen Juristenausbildung soll „fürs Leben“ ausgebildet werden, wenn man nur wüsste, was „Leben“ heißt. Wenn auch das Recht selbst lebt und wenn man sogar dem Recht einen Prozess machen kann, dann bürgen Schulfälle für das Gegenteil. Fragen, die zum Treuebruchtatbestand des § 266 StGB oder zur Ver­ tragsanpassung nach § 313 BGB zu stellen sind, werden in Leichenstarre dargebo­ ten und mit den abstrakten Formeln abgehandelt, die man aus dem toten Recht der Altfälle abziehen kann. Das kann für eine bestimmte Art von Praxis nützlich sein. Warum die Universität in einer (immer noch) akademisch genannten Ausbildung nur diese Art abgelebter Fragen und Antworten favorisiert und über alles Weitere am Fall schweigt, fällt bereits in den Prozess, den man dem Pro­fessionsverständnis der Rechtsvertreter machen muss.62 Wiethölters provokante Frage nach dem Pro­ zess, den man dem Recht machen muss, ist normativ gemeint. Wer das Recht auf­ merksam beobachtet, muss bemerken, dass seine Normtexte die Probleme, die es selbst erzeugt, nicht ausreichend bearbeiten und auch keine Hinweise für ihre Lö­ sung geben – obwohl viele Juristen genau das behaupten. In einem weiten Feld normativer Überlegungen befindet man sich deshalb nur und allein in einer Welt von Fällen.

61

Struck (Fn. XI. 48), 331. Rudolf Wiethölter, Ist unserem Recht der Prozess zu machen? (1989), in: Zumbansen/ Amstutz (Hrsg.) (Fn. II. 81), 55–66 (64). 62

416

XI. Der Fall

3. Kasuistik Fälle, die man kennen und beachten muss, sind die Rache des Rechtszeichens am Ungenügen der Norm. Personal ausgedrückt: Zeichenbenutzer rächen sich an ande­ ren Zeichenbenutzern, und meist sind es Advokaten, manchmal auch interessierte Laien, die sich an einer herrschenden Meinung, am Gesetzgeber oder an beiden rächen. Man verweigert entweder dem Normtext insgesamt die Gefolgschaft – das gibt es (und es ist keine Sache für Verfassungsfeinde) –, oder man versucht Varian­ ten seiner Auslegung zu dirigieren. Fälle mobilisieren die Gerechtigkeitsfrage. Die Frage nach der Gerechtigkeit einer möglichen Entscheidung bleibt am Fall näm­ lich in der Schwebe, Fälle lassen mehrere Antworten zu, sie verlangen nach der Berücksichtigung von Umständen und haben insofern praktisch eine größere Be­ deutung als Gesetze. Ein solcher Befund ist nur neu und überraschend, wenn man an den Vorrang der Norm als eines vorweg geschriebenen Gesetzes glaubt, das den Inhalt der Fälle schon festlegt. Aber auch diejenigen, die das glauben, wissen, dass sie eine Anzahl von – in der Regel – Obergerichtsentscheidungen (in Deutsch­ land: BGH-Urteile und BVerfG-Entscheidungen) kennen müssen, wenn sie rheto­ risch Eindruck erzeugen, möglicherweise Erfolg haben wollen und um praktischen Rat gefragt werden. Bekanntlich gibt es in allen Rechtsbereichen eine Anzahl zentraler Vorschrif­ ten, deren Gesetzestext das Wesentliche gar nicht beschreibt, man also beim schlichten Lesen des Gesetzes sowieso nicht wissen kann, was gemeint ist, und im Gegenteil noch nicht einmal die wesentlichen Probleme sieht. Wer heute die beiden Absätze der Norm des deutschen § 823 BGB liest, weiß nichts über die einschnei­ denden Wirkungen deliktischer Haftung gegenüber unbekannten Dritten. Wer heute § 15 der deutschen Bundesnotarordung liest, weiß nicht, in welcher Form und in welchen Fällen er sich gegen das amtliche Handeln eines Notars wehren kann (abgesehen davon, dass sogar Juristen diese Vorschrift, die praktisch bedeutsamer ist, als sie scheint, gar nicht finden). Der „Fallbereich der Norm“ wird wichtiger als die Norm.63 Semiotisch kann man das als Methodenwechsel zur Abduktion ver­ stehen.64 In der Folge wird zunächst der gegenwärtige Stellenwert der Kasuistik diskutiert, danach stelle ich zwei Beispiele für kasuistische Rechtsprechung vor. Kasuistik besetzt in der Methodenlehre einen Rand der Auslegung, das, was üb­ rigbleibt, wenn man Begriffsinhalte und gesetzliche Regelbeispiele abgearbeitet hat. Anschaulich beschreiben Müller/Christensen Größe und Problemgehalt des Restes. Ein Normtext der Form „Jeder Gauner ist zu bestrafen“ würde alles dem Rest, dem Fallvergleich in einer Kasuistik überlassen. Der Normtext muss also – wie Müller/Christensen fordern  – in einer „Ausdrucksweise von hinreichend scharfer Intensionstiefe“ abgefasst sein,65 oder ihm kann – worauf Zippelius ver­ 63

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Abschnitt 323.1–2, Rdz. 397–399. Lüderssen, Genesis und Geltung (Fn. X. 94), 291. 65 Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Ziff. 183. 64

3. Kasuistik 

417

weist  – eine exemplifizierende Kasuistik beigegeben werden,66 gesetzliche Re­ gelbeispiele wie in § 243 StGB. Solche Beispiele enthalten aber schon mehr mut­ maßlichen Regel- als Fallbezug. Kasuistik enthält Fälle und Entscheidungen und verlagert die Auslegung damit vom eigenen Nachdenken ins Justizdispositiv. Was richtig war, erfährt man dann erst nach abgeschlossenem Verfahren, und das kann man beunruhigend finden. Im Rahmen von Fallgestaltungen muss man sich im­ mer neu mit dem Verhältnis von Norm oder Regelbildung zu den Umständen des Falls und seinen möglichen Ergebnissen befassen. Wer normativ argumentiert, geht dagegen von Grundsätzen aus, die bekannt und formuliert sein müssen – sonst kann man nicht davon ausgehen. Schon bei der Konzeption von Rechtsnormen hat sich aber gezeigt, dass praktisch wirksame Normen gerade nicht vollständig for­ muliert werden können. Das ist ein Teil des Ungenügens der Norm. Nicht formu­ lierte Norminhalte oder das Nachdenken darüber, was mit einer Norm auch noch gemeint sein könnte – das schafft Raum für die Bedeutsamkeit von Fällen gegen­ über den eigentlich für bedeutungsvoll gehaltenen Regeln. Fälle halten auch das Formulierungsproblem offen. Wer also regelorientiert juristisch argumentieren will, muss versuchen, aus einem Fall die Umstände herauszuarbeiten, die zur For­ mulierung einer Regel in Zukunft noch geeignet sind, um anschließend den Fall vergessen zu können. Nach dem grundsätzlichen Anspruch, der mit Rechtszeichen erhoben wird (Kap. III. 2.), können das nur solche Umstände sein, die im Rahmen der kategorischen Prüfung von Rechtsverhältnissen Bestand haben, die also ge­ genüber jedermann gerechtfertigt werden können. Ebenso gilt das für die Rechts­ folgen, die aus bestimmten Umständen hergeleitet werden sollen. Wenn die gesetzliche Norm also nur lautet: Ist wegen einer Verletzung des Kör­ pers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadens­ ersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (§ 253 Abs. 2 BGB) – so kann man diesem Text nur dann einen vernünftigen Sinn geben, wenn man die Verletzungsumstände und -folgen im Einzelnen benennt und ihnen Schadenser­ satzfolgen zuordnet. Genau das geschieht durch die im Handel befindlichen, jähr­ lich neu aufgelegten Schmerzensgeld-Tabellen, die für die aktuelle, praktizierte Rechtslage die jeweils geltende Kasuistik enthalten.67 Zu diesem Zweck ist es not­ wendig, einem (im Laufe der Zeit anzupassenden) Katalog von Umständen Geld­ beträge zuzuordnen und zur Begründung dafür die Gerichtsentscheidung anzuge­ ben, in der die entsprechende Rechtsfolge erkannt worden ist. Jede Seite aus diesen Tabellen gibt ein Beispiel für das Ungenügen der Norm und für die gegenwärtige Bedeutung der Kasuistik. Aber damit wird auch deutlich, dass die Möglichkeit einer Kasuistik gleichzeitig ihre Fehler und Grenzen oder – schärfer formuliert – ihre Unmöglichkeit offenlegt. Denn natürlich legt ein so kasuistisch fundierter Be­ tragswert eine Gerichtsentscheidung nicht fest, zumal es sich nicht selten um mehr 66

Zippelius, Methodenlehre (Fn. X. 32), 76 (§ 12 I c). Susanne Hacks/Wolfgang Wellner/Frank Häcker, Schmerzensgeld-Beträge 2016, 34. Aufl., Bonn 2016; Andreas Slyzik, Beck’sche Schmerzensgeld-Tabelle, 12. Aufl., München 2015.

67

418

XI. Der Fall

oder weniger alte erstinstanzliche Amts- oder Landgerichtsentscheidungen han­ delt, gegen die man einwenden kann, sie hielten einer aktuellen obergerichtlichen Prüfung sowieso nicht stand. Vor allem: Man kann gegen jeden in eine Kasuistik eingeordneten Fall die Einzigartigkeit des gerade vorliegenden Schadensereignis­ ses einwenden. Je schlimmer die Verletzungen werden, umso weniger lassen sie sich in ein Schema von Geldbeträgen pressen, wobei auch umgekehrt gilt: Je baga­ tellhafter eine Beeinträchtigung ausfällt, umso eher drängen sich bisher nicht be­ rücksichtigte weitere Umstände auf, die den Schaden schwerer oder als fast ganz vernachlässigenswert erscheinen lassen. Allgemein gilt: In der Kasuistik werden Regel/Ausnahme-Verhältnisse gesam­ melt, die in Form abstrakt-genereller Sätze nicht mehr oder noch nicht formuliert werden können. Wenn man einzelne Rechtsgebiete auf die in ihnen formulierten, womöglich auch noch fallentscheidenden Regeln hin untersucht, wird man fest­ stellen, dass viel weniger formuliert worden ist, als man denkt und als wünschens­ wert für eine generelle Orientierung wäre. Kündigungsgründe im Arbeits- oder im Mietrecht, Mordmerkmale im Strafrecht und Versagungsgründe bei Baugeneh­ migungen eint die methodische Besonderheit, dass man schon entschiedene und diskutierte Fälle berücksichtigen muss, um etwas Vernünftiges sagen zu können. Normativ ist das unbefriedigend. Man wünscht sich Regelformulierungen, findet sie aber oft genug gar nicht oder jedenfalls nicht unter dem relevanten Gesichts­ punkt. Das moderne Recht war anders gedacht. Kant und ihm nachfolgende Ethi­ ker reservierten die Kasuistik eigentlich für die Tugendlehre, also für Fragen der allgemeinen Moral, nicht für solche des Rechts. Die Rechtslehre – meinte Kant – wisse nichts von einer Kasuistik, weil sie es mit „lauter engen Pflichten“ zu tun habe und aus diesem Grund streng und präzis sei, während die Ethik „wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet“, die Frage stellen müsse, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei.68 Das ist das eigentliche Feld der Kasuistik, wie Kant sie über den Selbstmord, über „Versoffen­ heit und Gefräßigkeit“ oder über den Geiz ausbreitet. Dem kargen Geiz, der alle Mittel ohne Absicht auf Genuss anschafft, folgt die kasuistische Frage, ob dadurch wirklich eine Pflicht gegen sich selbst verletzt werde oder „Knauserei“ nur unklug sei.69 Keine Frage der „Knickerei“ gestattet demgegenüber der Leihvertrag – meint Kant. Einen geliehenen Mantel, der mir gestohlen werde, müsse ich ersetzen, denn in diesem Fall gehöre es zum Vorgang des Leihens, dass der Leihgeber lediglich in den Gebrauch der Sache einwillige; notwendig sei es ansonsten, dass ich mir im Voraus erbäte, dass der Verleiher auch die Gefahr des Verlusts übernehme, „weil ich arm und den Verlust zu ersetzen unvermögend wäre.“70 Aber schon dieses Beispiel ist nach gegenwärtigem Normverständnis nicht wirk­ lich unzweifelhaft. Das deutsche bürgerliche Recht stellt in einem solchen Fall von 68

Kant, Metaphysik der Sitten A 56 (Fn. I. 83, Bd. IV, 309f). Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendl A 91 (Fn. I. 83, Bd. IV, 568). 70 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtsl A 144 (Fn. I. 83, Bd. IV, 415). 69

3. Kasuistik 

419

jeher auf ein Verschulden des Entleihers ab. Darüber hinaus verleiht die nachkanti­ sche Rechtsentwicklung den Einzelheiten des Falls eine Bedeutung, die dazu führt, dass das Gesetz in seiner gegenwärtigen Fassung die zu konkretisierende Norm noch nicht einmal begrifflich vorweggenommen, sondern gerade erst noch zu ent­ wickeln hat. Als Wissender verhalte ich mich – darf man Hegels Ausführungen zum Gewissen entnehmen – „zur Wirklichkeit des Falls, worin zu handeln ist.“71 Das Moment der Allgemeinheit muss sich aber erst noch auf die vorliegende Wirk­ lichkeit beziehen, die es auf uneingeschränkte Weise zu erfassen gilt, die Formel dafür ist nicht von vornherein vorhanden, so dass „also die Umstände des Falles genau zu wissen und in Erwägung zu ziehen“ sind. Gleichzeitig führt Hegel im Zusammenhang der Rechtspflege (in § 211 der Philosophie des Rechts) aus, was an sich Recht sei, sei bekannt, und zwar als Gesetz, das die Setzung des Allge­ meinen sei, die man denken könne. Diese Vorstellung hat sich bis heute erhalten. Das Gesetz möchte man als spekulatives, symbolisches Rechtszeichen verstehen, das gedacht werden könne. Man müsste dann im Hinblick auf den Fall nur fragen, wie viele Umstände zu seiner Beschreibung notwendig sind. Insofern findet Klaus­ Lüderssen in fiktionaler Literatur „gesteigerte Realität“ und nicht bloß unwirkliche Umstände.72 Für die klassische Auffassung ist wenig an Umständen wichtig – „er­ heblich“, sagt man dann. Bei Hegel kann man nachlesen, dass die Erkenntnis des Falles „in seiner unmittelbaren Einzelheit“ für sich genommen kein Rechtsprechen darstelle, denn sie stehe jedem gebildeten Menschen zu, erst die Subsumtion des so qualifizierten Falles „unter das Gesetz“ mache den Richterspruch aus.73 In der klas­ sischen Sicht (die bis heute gilt) ist Kasuistik insofern etwas methodisch Nachran­ giges und Verdächtiges. Die Jurisprudenz schuldet Regelbildung, und wenn diese aus dem Fach nicht zu beziehen ist, muss der Richterspruch eben Relationen zwi­ schen Fall­umständen und Folgen herstellen und in Form einer Regel formulieren, die den Umstand juristisch erheblich macht. Leider tun Urteile das nicht und müssen es auch nicht tun. Jede in einem Urteil formulierte Regel gerät in den Bannkreis der obiter dicta, jener Sätze also, die man nicht formulieren muss, um einen Fall zu entscheiden, und auch nicht formulieren sollte, wenn man sich nicht für die Entscheidung zukünftiger Fälle bereits jetzt und damit vorzeitig ohne Kenntnis des zukünftigen Falls festlegen will, und das wol­ len Gerichte normalerweise nicht. Insofern bleibt die Formulierung von Regeln aus Einzelfallentscheidungen regelmäßig anderen überlassen, und das sind in den Pro­ fessionszuständigkeiten die Kommentatoren, Rechtslehrer oder auch die journalis­ tische Öffentlichkeit. In deren Händen wird der Fall zur Regel. Nur als Regel enthält er die Merkmale der Drittheit, während die Kasuistik wegen der Tatsachenbindung aller Fälle ihre Kraft aus Zweitheiten zieht: So haben Gerichte eben entschieden, 71 Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes Abschnitt C VI C c, in: ders., Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, 471. 72 Lüderssen (Fn. XI. 11), 19–31. 73 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: (Fn. XI. 70, Bd. 7), 378–381, insbes. §§ 227, 228.

420

XI. Der Fall

warum soll es – in einem gesetzlichen Bereich der Billigkeit – nicht dabei bleiben? Das ist die Einflüsterung kasuistischer Art. Wenn man konsequent dabei bleibt und den früher entschiedenen Fall als Vorbild für den vorliegenden nimmt, darf man als Jurist das Feld der ungeliebten Kasuistik gleichzeitig auch wieder verlassen. Denn es ist natürlich nicht damit getan, dass man einen Beispielsfall einfach herausgreift. Die darin viel erfahrenere angelsächsische Jurisprudenz verlangt die Abarbeitung an den Umständen eines früher entschiedenen Falles, die zum entgegengesetzten Ergebnis führen können. Entscheidend für die Arbeit mit Präjudizien ist „distin­ guishing and explaining precedents“, und das geschieht aufgrund von Regeln.74 Nur bleibt deren Textform schwankend, es handelt sich – auch wenn die Kasuistik gut ist – allenfalls um bewegliche Systeme im Viehwegschen Sinn.75 Es ist eine noch nicht ausreichend beschriebene Besonderheit in der gegenwärti­ gen Rechtsentwicklung, dass immer mehr Fälle ein Eigenleben in dem Sinne ent­ wickeln, dass man mit ihnen zwar arbeiten muss, aber doch keine Regelformulie­ rung wagen kann und dementsprechend fern von festgelegten Operationsweisen für einen gesetzlichen Code bleibt. Nach der Beobachtung von Schlieffens handelt es sich dabei um eine neue Praxis des Enthymems, also einer Zuordnungs- oder Sub­ sumtionsart, bei der ein an sich wesentlicher Teil fehlt und ergänzt werden muss. Das ist im Falle einer Kasuistik der verallgemeinerungsfähige Grundsatz, der nur angedeutet wird.76 Allerdings entstehen dabei auch nur fallweise oder ausnahms­ weise brauchbare Regeln. Denn nur wenn aus einer repräsentativen Anzahl von Fall­ gestaltungen solche Präjudizien entnommen werden könnten, dürfte die sich daraus ergebende Regel als Ausdruck einer geltenden Norm angesehen werden. So verhält es sich aber in der Zweitheit juristischer Entscheidungspraktiken selten. Insofern er­ scheint es sinnvoll, entschiedene Schmerzensgeldfälle zu kennen und sich darauf zu berufen, aber da Kenntnis und Verwendung ungewiss sind, kann die jeweilige Ka­ suistik auch nur so lange und so weit gelten, als man die Adressaten der Fallargu­ mente kennt und einschätzen kann. Wenn ein Advokat Gegner und Gericht kennt, weiß er, welche Fälle für die Begründung einer Kündigung in Wohnungsmietsa­ chen Hinweise für den Ausgang der eigenen Sache geben und welche nicht. Wer die Strafanträge der Staatsanwaltschaft und die Straftaxen des zuständigen Verkehrs­ richters kennt, kann einschätzen, welche bereits entschiedenen Fälle das Vorbild für die eigene Verteidigung in einer Trunkenheitsfahrt ohne Personenschaden abgeben. Alle diese wichtigen praktischen Fähigkeiten beruhen auf Spielarten einer Ka­ suistik, deren Schwierigkeit darin besteht, dass jeder sich die möglicherweise zu­ grunde liegende Regel selbst formulieren oder jedenfalls so handeln muss, als würde er deren Inhalt kennen. Was dann am Ende als Zweitheit und damit als ju­ ristische Tatsache für diese Spielart der Abduktion bleibt, sind nur noch einige we­ 74

MacCormick (Fn. IX. 36), 219. Viehweg, Topik (Fn. I. 25), 99. 76 Katharina Gräfin von Schlieffen, Rhetorik und rechtsmethodologische Aufklärung, in: Werner Krawietz/Martin Morlok, Vom Scheitern und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis? Rechtstheorie 32 (2001), 175–196. 75

3. Kasuistik 

421

nige, berühmt gewordene Fälle, deren Kenntnis zur Ausbildung gehört und deren Verwendung man in der Praxis lernen muss. Mangels Geltungskriterien für eine Kasuistik kann die akademische Jurisprudenz dazu wenig beitragen. Das soll an einem auch in der Rechtstheorie viel diskutierten Fallkomplex ver­ deutlicht werden. Dessen Ausgangspunkt ist einfach und lautet in einem Satz: Eine Bürgschaft ist eine Bürgschaft und verpflichtet den Bürgen, die Bürgschafts­ summe zu zahlen, jedenfalls dann, wenn der eigentliche Schuldner nicht selbst gezahlt hat. Das wissen wir und lesen es im Gesetz (§ 765 BGB). Dieses normale Rechtszeichen ist durch den Formularzwang der Geschäftsbanken so ausnahmslos verbreitet worden, dass Ausnahmen höchstrichterlich dekretiert werden mussten. Das geschieht, indem der Fall anders erzählt wird, als nur mit dem Satz: A erhielt von einer Bank ein Darlehen zum Betrieb seines Geschäfts und gab eine Bürg­ schaft als Sicherheit. Klaus Günther wählt beispielsweise die folgende Fassung:77 (12) „Immer wieder waren Ehepartner, meist Frauen, aber auch volljährig gewordene Söhne oder Töchter, dazu gedrängt oder überredet worden, für den Betrieb des Ehemannes oder Vaters eine Bürgschaftserklärung gegenüber der Bank abzugeben, weil diese nur gegen eine entsprechende Sicherheit bereit war, dem Geschäftsinhaber den zumeist dringend benötigten Kredit zu gewähren. Oft ging das Geschäft dann doch pleite, be­ vor das Darlehen zurückerstattet wurde, und manchmal hatte sich der Ehemann auch noch von seiner Frau getrennt, um mit einer Geliebten zusammenzuleben. Da beim Ehemann bzw. Vater nichts mehr zu holen war, hielt sich die Bank an den Bürgen. In vielen Fällen bedeutete dies, dass die verlassene Ehefrau für den Rest ihres Lebens die Kreditschulden ihres Mannes an die Bank abzuzahlen hatte oder die Lebensperspek­ tiven der gerade 19jährigen Tochter durch einen hohen Schuldenberg verdunkelt wur­ den, den ihr der Vater hinterlassen hatte.“

Gegen ihr eigenes wohlverstandenes Interesse überredete Ehefrauen und Söhne, die Vätern einen Gefallen tun wollen, dominieren hier die Kreditvergabe. Her­ kömmlich hat man über diese Umstände hinweggesehen, sie lagen am Rande und galten als unerheblich. Der Vorteil für die Kreditnehmer lag darin, dass sie we­ nigstens auf diese Weise über eine „Sicherheit“ verfügten, die Kreditinstitute ak­ zeptierten. Betont man stattdessen die früheren Randumstände fällt auch das Ur­ teil anders aus als üblicherweise im Bürgschaftsrecht, nämlich so wie in einer epochalen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,78 in der es angesichts der bankenüblichen Formularbedingungen kritisch heißt: „Haben die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart, so wird sich regelmäßig eine weiter­ gehende Inhaltskontrolle erübrigen. Ist aber der Inhalt eines Vertrags für eine Seite ungewöhnlich belastend, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung be­ gnügen: Vertrag ist Vertrag.“79 Weil also nach der verfassungsrechtlich geläuterten 77

Klaus Günther, Variationsspielraum des Erzählbaren. Juristische Normen und individu­ elle Fallgeschichten: Verbindungslinien zwischen Recht und Literatur, Frankfurter Rundschau, 20. November 2001, 20. 78 BVerfGE v. 19.10.1993 – 1 BvR 567, 1044/89 – Bd. 89, 214–236 (Bürgschaftsverträge). 79 BVerfGE (Fn. XI. 78), 234.

422

XI. Der Fall

Doktrin des Zivilrechts Vertrag nicht immer gleich Vertrag, aber auch nicht ohne Weiteres kein Vertrag sei, steht in der Folge jedes Gericht unter der zweifelhaf­ ten Verpflichtung, Umstände aus dem Fall zu referieren, die den wirklichen Ver­ trag ausmachen oder auf sittenwidrigen Zwang hindeuten könnten. Das ist die Be­ dingung für eine Kasuistik, die sich seit der ersten entsprechenden Entscheidung des BVerfG im Jahre 1993 tastend entwickelt hat. Die ersten Hinweise zu relevan­ ten Umständen kann man der Leitentscheidung des BVerfG entnehmen, die zum Sachverhalt lautet:80 (13) „Die Beschwerdeführerin … übernahm … ein außerordentlich hohes Risiko, ohne an dem gesicherten Kredit ein eigenes wirtschaftliches Interesse zu haben. Unter Ver­ zicht auf nahezu alle abdingbaren Schutzvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs verbürgte sie sich selbstschuldnerisch für das Unternehmerrisiko ihres Vaters in einem Umfang, der ihre wirtschaftlichen Verhältnisse weit überstieg. Es war von vornher­ ein abzusehen und für das Kreditinstitut auch leicht feststellbar, dass die Beschwerde­ führerin im Haftungsfall voraussichtlich bis an ihr Lebensende nicht in der Lage sein würde, sich aus eigener Kraft von der übernommenen Schuldenlast zu befreien.“

Man unterschiedet drei Merkmalskomplexe, zunächst den Umfang des Risikos („außerordentlich hoch“ und insofern offensichtlich unverhältnismäßig), dann die familiäre Bindung (Vater, dem man zu Gefallen handelt) und sodann die auf Dauer mangelnde Tilgungsmöglichkeit („bis an ihr Lebensende“). Nun weiß man, dass jeder Fall anders ist, und insofern sind die Fachgerichte in ihren Folgeentschei­ dungen mit der verfassungsgerichtlichen Vorgabe ziemlich ungeregelt verfahren. Wie ist zu entscheiden oder welches Zeichen setzt ein Fall, der so erzählt wird?81 (14) „Der Lebensgefährte der Beklagten, der Zeuge K, betrieb als Einzelhandelskaufmann einen Getränkegroßhandel, der unter dem Namen der Beklagten firmierte. Diese war dort als Angestellte mit einem monatlichen Nettolohn von 2533 DM beschäftigt; sie bestellte die Waren und betreute die Kunden. K stand in Geschäftsbeziehung zur kl. Bank. Er vereinbarte mit der Kl. die Gewährung verschiedener Darlehen im Gesamt­ betrag von 410.000 DM. Als Sicherheiten waren Sicherungsübereignungen, eine Fest­ geldanlage sowie die Bürgschaft einer bayerischen Genossenschaft vorgesehen, die als stiller Gesellschafter am Getränkehandel beteiligt war. Bei der Auszahlung des Darlehens teilte die Genossenschaft mit, dass sie die Bürgschaft nicht übernehmen werde. Die Kl. forderte eine neue Sicherheit, und der Zeuge K bat auf Anregung der Kl. die Bekl., welche eine im Jahre 1981 geborene Tochter hat, für ihn zu bürgen. Die Bekl. übernahm in einer am 29.12.1992 unterzeichneten Formularurkunde die selbst­ schuldnerische Bürgschaft bis zum Betrag von 100.000 DM für alle Forderungen der Kl. aus der Geschäftsverbindung mit K.“

Muss die Beklagte haften, wenn sie aus der Bürgschaft in Anspruch genom­ men wird?, lautet auch hier die Frage. Wenn es auf die drei Merkmale aus (13) ankommt, so müsste man sie auf (14) so übertragen: Das Risiko ist hoch (ob nun „außerordentlich hoch“, ist schwierig zu sagen), dann gibt es – wenn auch keine fa­ 80

BVerfGE (Fn. XI. 78), 230 f. BGH Urt. v. 23.1.1997 – IX ZR 55/96 – NJW 1997, 1005 (FamRZ 1997, 481).

81

3. Kasuistik 

423

miliäre – so doch eine Bindung aufgrund gemeinsamer Lebensführung (einen „Ge­ fährten“, dem sie zu Gefallen handelt), die Tilgung wird vielleicht nicht bis ans Le­ bensende reichen, aber wie lange sie bei einem Nettolohn von 2.533 DM in Höhe von 100.000 DM wirklich dauert, weiß man nicht. Die ratio decidendi ergibt sich also nicht einfach aus den Merkmalen, schon gar nicht, wenn ihnen der Zusam­ menhang fehlt. Wie zu entscheiden ist, weiß man vielleicht besser, wenn der Fall mit dem folgenden Satz dargestellt wird: Als der Zeuge K eine Bankbürgschaft seines Lieferanten nicht beibringen konnte, übernahm die Beklagte, die als seine Lebensgefährtin Angestellte des Ladens ist und dort einen Nettolohn von 2533 DM bezieht, in einer üblichen Formularurkunde die selbstschuldnerische Bürgschaft bis zum Betrag von 100.000 DM für alle Forderungen der Klägerin aus der Ge­ schäftsverbindung mit K. In einem so ergänzten Fall handelt es sich zwar immer noch um eine Bürgschaft innerhalb einer Nähebeziehung, aber es gibt dann auch eine wirtschaftliche Beziehung der Bürgin zur Kreditsicherung, weil sie nämlich ebenfalls ein Interesse am Fortbestand des Geschäfts haben dürfte. Dennoch ist die Annahme einer ratio decidendi alles andere als sicher. Die unterschiedlichen Fall­varianten und Lösungsansätze finden ihren Ausdruck darin, dass das Land­ gericht in der erstinstanzlichen Entscheidung den gleichen Umständen keine ent­ scheidende Bedeutung beimaß und den Bürgschaftsanspruch zuerkannt hat, wäh­ rend das Obergericht in der Berufung von einer Sittenwidrigkeit ausgegangen ist. Der Bundes­gerichtshof führt dann – im Jahre 1997 nach der bereits 1993 ergange­ nen grundsätzlichen BVerfG-Entscheidung – dazu aus:82 (15) „Die Übernahme einer Haftung in Höhe von 100.000 DM bedeutet für einen Bürgen, der etwa 2500 DM monatlich verdient und in näherer Zukunft weder mit einem weit hö­ heren Verdienst noch mit dem Erwerb eines nennenswerten Vermögens rechnen kann, eine erhebliche wirtschaftliche Überforderung. In diesen Fällen ist die eingegangene Verpflichtung unwirksam, sofern der Gläubiger durch ihm zurechenbare Umstände in rechtlich anstößiger Weise die Entscheidungsfreiheit des Bürgen beeinträchtigt hat; …“

Damit – könnte man denken – ist die Frage nach der Wirksamkeit des Vertrags im Sinne der Berufungsentscheidung schon beantwortet, und zwar als sittenwid­ rige Lebensgefährtenbürgschaft. Aber der Bundesgerichtshof gibt dem Fall eine salvatorische Regel/Ausnahme-Beziehung: Unwirksam sei eine Verpflichtung nur, sofern durch zurechenbare Umstände in rechtlich anstößiger Weise die Entschei­ dungsfreiheit des Bürgen beeinträchtigt werde. Die Regel setzt voraus, was sie be­ antworten müsste, nämlich die rechtlich anstößige Weise. Insgesamt enthält sie drei semantisch aufgeladene Statusbeziehungen, nämlich: (a) zurechenbare Umstände, (b) eine rechtlich anstößige Weise und (c) beeinträchtigte Entscheidungsfreiheit. Für alle diese Merkmale müssten Regeln existieren, die angeben, wann der Fall vor­ liegt. Solche Regeln gibt es aber nicht. So hält es der Bundesgerichtshof, der sich als Revisionsinstanz mit der Formulierung des Falls eigentlich gar nicht zu befassen hat, für opportun, aus dem Komplex (14) die folgenden Umstände hervorzuheben: 82

BGH NJW 1997, 1005.

424

XI. Der Fall

(16) „Die Beklagte war … nicht geschäftsunerfahren. Sie war schon im Rahmen des un­ ter ihrem Namen laufenden Betriebs Ansprechpartnerin für die Kl. in Bankgeschäften gewesen und hatte auf diese Weise durch Warenbestellung und Kundenbetreuung Ge­ legenheit erhalten, in mehreren Bereichen kaufmännische Erfahrungen zu sammeln. Sie erhielt demzufolge für das den neuen Betrieb betreffende Geschäftskonto eben­ falls Vollmacht.“

Nimmt man diese Sätze für das, wofür sie stehen, dann vervollständigen oder ergänzen sie lediglich den schon bekannten Fall (14). Aber es kommt noch etwas hinzu, das fast beiläufig erwähnt wird. „Erfahrenheit“ manifestiert sich in Ge­ schäftstätigkeiten und in rechtlichen Kompetenzen wie der Vertretungsbefugnis. Wer erfahren ist – so leitet man über zur nicht ausgesprochenen Regel –, kann sich nicht auf die Ausnutzung der schwachen Stellung einer Unerfahrenen berufen. Da­ bei bleibt offen, wann man denn nun eigentlich erfahren ist. Ausfüllen lässt sich das nur durch Fallumstände. Der Bundesgerichtshof zitiert (unter Ziff. III. 3. der Gründe) weitere: (17) „Die Beklagte verdiente damals 2533 DM netto. Da sie einem Kind Unterhalt schul­ det, bleiben von diesem Einkommen monatlich 421,50 DM pfändungsfrei. Bereits auf dieser Grundlage sammelt sich, hochgerechnet auf fünf Jahre, ein Betrag an, der et­ was mehr als ein Viertel der Hauptschuld ausmacht. Davon abgesehen, konnte die Kl. davon ausgehen, das Einkommen der Bekl. werde, entsprechend der allgemein zu erwartenden Entwicklung der Arbeitnehmerverdienste, im Laufe der Zeit kontinuier­ lich steigen.“

Gebrauch gemacht wird dabei von einer Spielart der Abduktion. Wenn der Zweck der Bürgschaftsregel darin besteht, nur leistungsfähige Bürgen rechtlich zu verpflichten, dann muss in der Regel die Leistungsfähigkeit des Bürgen beschrie­ ben werden. Hier wird eine Bürgin, die in fünf Jahren ein Viertel der Hauptschuld abtragen kann, als in absehbarer Zeit leistungsfähig angesehen. In zwanzig Jah­ ren – so ähnlich lautet die Rechnung – werden auch Hypothekenkredite meist erst zurückgezahlt. Der abduktive Schluss greift insofern auf Erfahrungswissen zu­ rück, ohne dass die gewusste Erfahrung vollständig ausgedrückt wird. Enthyme­ matisch wird eine Regel angedeutet, die man im Wenn/dann-Schema so formulie­ ren könnte: Wenn man innerhalb von zwanzig Jahren mit Mitteln aus dem eigenen Einkommen eine Darlehensschuld abtragen kann, dann ist das übernommene Ri­ siko wirtschaftlich vertretbar. Deshalb führt der Bundesgerichtshof zu Fall (14) weiter (unter Ziff. III. 3 a der Gründe) aus: (18) „Das Verlangen der Kl. nach einer weiteren Bürgschaft diente … nur der zulässigen Durchsetzung ihrer vertraglichen Rechte. Zwar hatte sie keinen Anspruch darauf, dass sich gerade die Bekl. ihr gegenüber verpflichtete. Die Kl. durfte jedoch berücksichti­ gen, dass die Bekl. als Angestellte im bisherigen Unternehmen des Hauptschuldners ein regelmäßiges Einkommen erzielte, durch ihre Tätigkeit zumindest einen gewissen Einblick in den Geschäftsbetrieb gewonnen hatte und auch davon wusste, dass ihr Le­ benspartner Investitionen für die Neugründung mit Geldern des auf ihren Namen lau­ fenden Betriebs vorfinanziert hatte. Schon deshalb musste die Bekl. selbst aufgrund von Umständen, die nicht die Bank zu verantworten hat, wesentlich daran interessiert sein,

3. Kasuistik 

425

die Rückforderung des Kredits zu verhindern. In Anbetracht dieser Tatsachen stand die Anregung der Kl., die Bekl. um eine Bürgschaft zu bitten, in angemessenem Ver­ hältnis zu dem verfolgten Zweck …“

Begründungspassagen wie (17) und (18) lösen sich nicht vom Fall. Was dem­ nächst gilt, lassen die Texte offen. (18) setzt sich infolgedessen auch nicht mit dem Versuch einer ebenfalls fallverhafteten Regelkonkretisierung wie in (15) auseinan­ der, in der es noch hieß, die Übernahme einer Haftung in Höhe von 100.000 DM bedeute für einen Bürgen, der etwa 2500 DM monatlich verdiene und in näherer Zukunft weder mit einem weit höheren Verdienst noch mit dem Erwerb eines nen­ nenswerten Vermögens rechnen könne, eine erhebliche wirtschaftliche Überfor­ derung. Es bleibt bei den altbekannten Formeln, aber deren Konkretisierung ist immer wieder eine Überraschung, weshalb die Kasuistik anwächst. Sie wächst beispielsweise schon deshalb an, weil es zum Zeitpunkt der verfassungsgericht­ lichen Entscheidung im Jahre 1993 andere, damals schon rechtskräftig abge­ schlossene Fälle gab, in denen sich das Problem der Familienbürgschaft eben­ falls gestellt hätte, hätte man gewusst, dass es eines ist. Im Jahre 1997 gelangt ein solcher Sachverhalt dann vor das Bundesverfassungsgericht, das dazu feststellt:83 (19) „Die Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens übernahm 1988 gegenüber der im Ausgangsrechtsstreit beklagten Bank zur Absicherung mehrerer Darlehen ih­ res – später von ihr geschiedenen – Ehemanns eine selbstschuldnerische Bürgschaft in Höhe von 200.000 DM. Sie widmete sich damals ausschließlich der Haushalts­ führung und der Erziehung der Kinder. Nennenswertes Vermögen hatte sie nicht. 1991 kündigte die Bank die Geschäftsverbindung zum Hauptschuldner, stellte ihre Gesamt­forderung fällig und nahm nach Verwertung anderer Sicherheiten die Be­ schwerdeführerin aus der Bürgschaft in Höhe einer Restforderung von gut 70.000 DM in Anspruch. Da die Beschwerdeführerin, die seit Ende 1990 von Sozialhilfe lebte, die Forderung nicht erfüllen konnte, erhob die Bank Klage, der 1992, nachdem zuvor ein Prozesskostenhilfegesuch der Beschwerdeführerin mit ausführlicher Begründung zu­ rückgewiesen worden war, durch rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil statt­ gegeben wurde.“

Mit den kasuistisch inzwischen eingeführten Statusbeziehungen wie: zurechen­ bare Umstände/rechtlich anstößige Weise/beeinträchtigte Entscheidungsfreiheit wird das Fallproblem nicht erfasst. Es nützt nichts mehr zu behaupten, die Bürgin habe kein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Kreditaufnahme gehabt, könne die Schuld auch in lebenszeitig absehbaren Zeiträumen nicht tilgen, so dass ihre Inanspruchnahme rechtlich anstößig sei. Das zusätzliche Fallproblem geht da­ hin, ob Fallentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht gesetzesähnliche Wirkungen haben, also nicht nur für Einzelfälle gelten. Da nun die Bürgschafts­ entscheidung eigentlich eine Einzelfallentscheidung ist, drängt sich dieser Ge­ danke nicht unbedingt auf. Die gesetzliche Regelung des § 79 BVerfGG enthält diese Möglichkeit ihrem Wortlaut nach nicht. Sie beschränkt sich im zweiten Ab­ satz darauf, nur die Vollstreckung aus solchen Entscheidungen für unzulässig zu 83

BVerfGE 115, 51, Beschl. v. 5.12.2005 – 1 BvR 1905/02, Rdz. 6.

426

XI. Der Fall

erklären, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen. Es ge­ nügt aber nicht, methodische Elemente wie „Wortlaut“ für sich zu untersuchen, ohne die zugrunde liegende Kasuistik zu berücksichtigen, oder anders: Eine Ent­ scheidung wie die folgende muss man kennen, wenn man praktisch erfolgreich handeln will. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich in den Gründen zu (19)­ ausgeführt:84 (20) „Wie im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. vorstehend unter B II 1 b aa) macht es auch im Anwendungsbereich des § 79 Abs.  2 BVerfGG sachlich keinen wesent­ lichen Unterschied, ob eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung im Sinne dieser Re­ gelung auf der verfassungswidrigen Auslegung einer Rechtsnorm oder auf einer ver­ fassungswidrigen Vorschrift beruht. Im ersten Fall hat das Bundesverfassungsgericht, wenn von mehreren nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen möglichen Deu­ tungen des Norminhalts wenigstens eine mit dem Grundgesetz übereinstimmt, die Norm als solche nicht beanstandet, sie vielmehr verfassungskonform ausgelegt und nur die als verfassungswidrig erkannte Interpretationsvariante verworfen (vgl. zur verfassungskonformen Auslegung allgemein etwa BVerfGE 40, 88 ; 64, 229 ; 83, 201 ; speziell zum Zweck der Aufrechterhaltung eines aus mehre­ ren Teilen bestehenden, aufeinander abgestimmten Regelungssystems auch BVerfGE 86, 288 ). Für die Zukunft bleibt diese Variante wie die nichtige und die mit dem Grundgesetz nicht vereinbare Bestimmung in den Fällen der Nichtig- und der Unvereinbarerklärung von der weiteren Rechtsanwendung ausgeschlossen.“

Das ist ein kühner rechtsschöpferischer Schluss, der im Rahmen eines Schul­ falls in einer Schülerarbeit beanstandet worden wäre (wie im abweichenden Votum der Richterin Haas ausgeführt). Das Verfassungsgericht gibt dem Fall und seiner Entscheidung Normqualität und erklärt Begründungssätze zu quasigesetzlichen Regeln. Aber der Unterschied zwischen einer Norm und einer Fallentscheidung wird nicht gleichzeitig mit aufgehoben. Dann müsste man sich entschließen, die in den Entscheidungen zitierten Statusbeziehungen in Form einer Regel zu formu­ lieren und damit ausdrücklich zu machen. Das unterbleibt, aber eine regelgemäße Breitenwirkung wird dennoch reklamiert. Damit wächst die Kasuistik. Das Anwachsen normähnlicher Sätze erfolgt über Kasuistik, denn sie entsteht, wenn die Norm ungenügend ist. Das war der Ausgangspunkt. Ob man das verhin­ dern kann, indem man beispielsweise mit der Maxime operiert: Ruinöse Fami­ lienbürgschaften sind verboten,85 ist kaum zu glauben. Denn wenn man es wie Gunther Teubner tut, dann muss man wiederum angeben, was „ruinös“ sein soll. Man kann an (18) sehen, dass damit die Kasuistik bestenfalls auf weniger Merk­ male beschränkt, aber nicht beseitigt wird. Nach wie vor geht es um die Schwie­ rigkeit, den konkreten Normsatz zu formulieren. Merkwürdigerweise wird diese Schwierigkeit auch nicht kleiner, wenn man abstrakte Normsätze eindeutig und alle Phänomene umgreifend abfasst. 84

BVerfGE (Fn. XI. 83), Rdz. 38. Gunther Teubner, Ein Fall von struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken (BVerfGE 89, 214ff), KritV 2000, 388–404 (397). 85

3. Kasuistik 

427

Ungenügend sind auch Normen, die alles ganz klar sagen und alle möglichen Fälle ihres Auftreten regeln wollen – eben deshalb. Die Klarheit des Normtextes wirkt am Fall als Beckmesserei, ist hinderlich und führt zu fallweiser Verwirrung. Das zeigt sich an einer anderen Kasuistik, deren Gegenstand Zeichen sind, und zwar solche, die man nicht zeigen darf und soll, nämlich Hakenkreuze. Das ist ein­ deutig gemeint, wenn auch verklausuliert formuliert im Normtext des § 86 a StGB, nämlich im Stil von Verweisungsnormen. Es heißt, dass Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien nicht gezeigt werden dürften, und erst aus § 84 Abs. 1 Ziff. 4 kann man entnehmen, dass damit Propaganda­mittel einer nationalsozialistischen Organisation gemeint sind, und man weiß dann, dass man ein Hakenkreuz unter diese Mittel subsumieren muss. Das wirkt ganz schulmäßig. Hitlergruß, Hakenkreuz, antisemitische Parolen – dies alles soll in Deutschland strafrechtliche Folgen haben, jedenfalls nach der eigentlich eindeu­ tigen Norm. Die Tatbestände reichen von der einfachen Beleidigung (§ 185 StGB) über das Verbot der Verwendung entsprechender Kennzeichen (§ 86 a StGB) bis zur Aufstachelung zum Rassenhass und zum Verbot der sogenannten „AuschwitzLüge“ (§ 130 StGB). Die Normen sind gut gemeint, aber wie bei allem gut Gemein­ ten kommt praktisch oft etwas heraus, das schlecht handhabbar ist, denn Semantik in der Beziehung zwischen Zeichen und Gegenstand meint immer mehreres und ist von Kontexten abhängig, die man normativ nicht trennscharf erfassen kann. Rich­ tungen der Deutung entstehen aus dem Grundsatz, dass NS-Propaganda verboten werden soll, und der Ausnahme, dass nicht jede Zeichenverwendung Propaganda sein muss. Hakenkreuzverwendungen erscheinen in Deutschland als Beeinträch­ tigung des demokratischen Friedens. Falls das demoskopisch nicht richtig sein sollte, gibt es noch die Drittperspektive: Der Tatbestand soll die inkriminierten Kennzeichen aus dem öffentlichen Erscheinungsbild der Bundesrepublik im Aus­ land verbannen.86 Es sieht nicht gut aus, wenn das englische oder israelische Fern­ sehen Bilder einer neuen Hakenkreuzpartei verbreiten. Strafrechtsdogmatisch handelt es sich also um ein abstraktes Gefährdungsdelikt.87 Gefährdungsdelikte haben kein Opfer, weil es regelmäßig keinen Verletzten gibt. Gefährdungen gehen nach dem Willen des ängstlichen, auf alle möglichen und unmöglichen Wirkungen abzielenden Gesetzgebers nicht von einer voraussetzungsreichen Handlung aus, liegen also fast immer irgendwie vor, und vor allem erkennt man solche Handlun­ gen nicht an einem bestimmten Erfolg, denn es sind ja Gefährdungen. Abstrakte Gefährdungen sind noch ungreifbarer; angeblich liegen sie in der Typizität einer bestimmten Handlungsweise. Wer Gesetze mit solchen Tatbestän­ den in die Welt setzt, provoziert die Kasuistik geradezu. Man kann sich Fälle aus­ denken, für die die Norm nicht passt, und sie ereignen sich auch wirklich. Das war eine neue Frage an die Kasuistik, die darauf eine Antwort mit dem folgenden Leit­ satz gegeben hat: Der Gebrauch des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Orga­ nisation in einer Darstellung, deren Inhalt in offenkundiger und eindeutiger Weise 86

BGHSt Urt. v. 18.10.1972 – 3 StR 1/71 – „Hitlergruß“, Bd. 25, 32. BGHSt Beschl. v. 13.7.2002 – 3 StR 495/01 – „Gau-Dreieck“, Bd. 47, 354, 359.

87

428

XI. Der Fall

die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt, läuft dem Schutzzweck der Vorschrift ersichtlich nicht zuwider und wird daher vom Tatbestand des § 86 a StGB nicht erfasst.88 Man muss also jen­ seits einer Zuordnung des Falls (Subsumtion) nach deren Gerechtigkeits- und Er­ folgswert fragen und erhält als Topos dafür den „Schutzzweck der Vorschrift“. Mit ihm beginnt eine Serie normativ zweideutiger Kasuistik. Das zeigt sich an einer Kette von Beispielsfällen, in denen teils für, teils gegen eine Bestrafung entschie­ den worden ist. Sogleich nach Positivierung der Norm im Jahre des Studentenaufstands 1969 zeigte ein APO-Demonstrant vier auf einem Fahrzeug sitzenden Polizeibeamten mit erhobenem Arm den sogenannten „Hitlergruß“ und rief dazu „Sieg Heil“. Dem BGH – 3. Strafsenat – erschien der Vorgang nicht strafwürdig mit der sibyllini­ schen Aussage, dass eine einmalige Verwendung der Art, dass die Kennzeichen nur kurz in das äußere Erscheinungsbild träten und eine Nachwirkung auf Dritte in einer dem Symbolgehalt dieser Kennzeichen entsprechenden Richtung (dies im Original kursiv)89 von vornherein ausgeschlossen sei und die Feststellung beson­ derer Umstände notwendig mache, die das Handeln des Angeklagten dennoch als einen Verstoß gegen § 86 a StGB erscheinen lassen könnten. „Besondere Umstände“ sind das Stichwort für den Ruf nach einer Kasuistik, und das heißt, dass es darauf ankommt, ob bestraft wird oder nicht. Aber worauf? Symbolisch wenig Interes­ sierte hatten Misserfolge zu verzeichnen. Für Bausätze von Kinderspielzeug, die mit Hakenkreuz, SS-Runen, SS-Parolen sowie mit einer SS-Standarte versehen wa­ ren, hat das Landgericht einen Gewerbetreibenden wegen Verbreitens von Kenn­ zeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 200 DM verurteilt und die Einziehung der beschlagnahmten Bausätze angeordnet. Abgelehnt wurde zunächst die Ver­urteilung wegen Verbrei­ tens von Hakenkreuzen auf den gleichen Flugzeugmodellen – zu Unrecht fand hier der 3. Strafsenat des BGH.90 Auch bei dieser Art der Verwendung auf Flugzeugen der Luftwaffe sei das Hakenkreuz ein Kennzeichen i. S. des § 86 a StGB. Voraus­ setzung dafür, dass die Verwendung des Kennzeichens den Tatbestand des § 86 a Abs. 1 StGB erfülle, sei nicht, dass es gegenwärtig vom Täter im Sinne eines Aus­ drucks nationalsozialistischer Gesinnung verwendet worden wäre. Ansonsten be­ stehe die Gefahr, dass NS-Embleme wie das Hakenkreuz sich wieder zunehmend einen Platz im öffentlichen Erscheinungsbild und damit schließlich auch im öffent­ lichen Bild des politischen Alltags erobern könnten. Es sollte ein Tabu bestimmter Symbole geben (soweit heute noch ernsthaft von „­ Tabus“ gesprochen werden kann). Demgegenüber gab es auch Geschäftemacher, die erstaunliche Gerichtserfolge verzeichnen konnten. Ein Militaria-Sammler wollte Sachen versteigern lassen, die 88

BGHSt Urt. v. 15.3.2007 – 3 StR 486/06 – „Antifa-Versand-Fall“, NStZ 2007, 466. BGH (Fn. XI. 86), 34. 90 BGHSt Urt. v. 25.4.1979 – 3 StR 89/79 – Hakenkreuzverbreitung auf Flugzeugnachbil­ dungen, Bd. 28, 394–398. 89

3. Kasuistik 

429

nicht in seine Sammlung passten wie einen SA-Dienstdolch mit Scheide und Ge­ hänge, ein Luftwaffen- und ein Heereskoppelschloss des sogenannten „Afrika­ korps“, die alle ein Hakenkreuz trugen. Das Auktionshaus nahm die Sachen zur Versteigerung an und wies sie in seinem Versteigerungskatalog aus, so dass alle Gegenstände veräußert werden konnten. Das Bayerische Oberste Landesgericht lehnte dennoch einen Kennzeichengebrauch ab, weil die Hakenkreuze nicht im Sinne des Tatbestands „verbreitet“ worden seien.91 Symbolkommunikanten haben insgesamt bessere Aussichten auf Strafverscho­ nung, wobei auffällt, wie abseitig die Strafverfolgung nicht selten platziert wird. So geriet ein Anhänger der Rael-Bewegung, einer sektenähnlichen Vereinigung, die die „Elohim“ verehrt, ins Strafverfahren, weil das Symbol der Rael-Bewegung aus einer Verknüpfung von Davidstern und Hakenkreuz besteht, wobei sich das Hakenkreuz inmitten der den Davidstern bildenden Dreiecke befindet. Wieder fand hier das Bayrische Oberste Landesgericht, man könne das Symbol hinneh­ men, weil das Hakenkreuz dabei nicht auf den ersten, sondern erst auf einen zwei­ ten Blick hin auffalle.92 Weniger freundlich wird die Kommunikation behandelt, wenn es um Spiele geht. So wurden in einer Mailbox Computerspiele angeboten, die Kampfsituationen darstellen, in denen der Spieler nur überleben kann, wenn er alles übrige Leben, das sich ihm in den Weg stellt, vernichtet. Bei einem Spiel, Wolfenstein 3 D, waren an den dargestellten Wänden der Räume Hakenkreuz­ abzeichen und Hitlerbilder erkennbar, welche sich in den Räumen befanden, die dem Feind zuzuordnen waren. Das OLG Frankfurt ging in einer angeblich gebote­ nen weiten Auslegung davon aus, dass „jeder Gebrauch, der das Kennzeichen op­ tisch oder akustisch wahrnehmbar macht“, auch strafbar sei.93 Seltsam und irgendwie untypisch sind die Orte, an denen das abstrakt gefähr­ liche Verhalten der Hakenkreuzverwendung auffällt: von der Apo-Demonstra­ tion über Flugzeugbausätze und Auktionshäuser zu Mailboxes. Offenbar spielt die Person des Angeklagten eine in den Entscheidungen nicht ausgedrückte und vermutlich auch gar nicht begründbare Rolle. Manche – Sammler, Demonstran­ ten – haben Glück, andere – Internetverschwörer, Kriegsgewinnler – verdienen an­ scheinend die Reaktion der Strafjustiz. Das sind mögliche Interpretanten für eine Kasuistik. Darin spiegelt sich die Orientierungslosigkeit der Strafverfolgungsbe­ hörden, und „orientierungslos“ muss man ein Normprogramm nennen, das unter allen Umständen die gleiche Richtung angibt, nämlich vermeintliche Strafansprü­ che durchzusetzen. Kein Staatsanwalt will sich heute noch als heimlicher Sympa­ thisant der Hakenkreuzverwendung bezeichnen lassen, und begriffliche Rechtfer­ tigungen für das Absehen von Strafverfolgung wird er nicht finden. Schließlich geben die abstrakten Gefährdungsdelikte begrifflich an keiner Stelle Anlass zu trennscharfen Unterscheidungen. Sie sind  – das politische Strafrecht steht hier 91

BayObLG NStZ 1983, 120. BayObLG Urt. v. 26.2.1988 – RReg. 2 St 244/87 – NJW 1988, 2901. 93 OLG Frankfurt Urt. v. 18.3.1998 – 1 Ss 407/97 – NStZ 1999, 356. 92

430

XI. Der Fall

gleichberechtigt neben Kriminaltatbeständen des Umwelt-, des Betäubungsmit­ tel- oder des Arznei­mittelrechts – so konstruiert, dass sie dem gewünschten Zu­ griff immer einen sprachlichen Hintergrund geben, nur eben keine Orientierung. Man muss jeweils nach vergleichbaren Fällen suchen. Kasuistik ist die Rache des Rechtszeichens am Ungenügen der Norm. 4. Auschwitz Es gibt keinen Übergang von der Präsentation des Schulfalls über normergän­ zende Kasuistik zu Auschwitz. Es gibt überhaupt keinen Übergang zu Auschwitz, weshalb die Abfolge hier nur bedeutet: Auschwitz war ein Fall, und Auschwitz ist ein Rechtszeichen. Dass eine Todesfabrik ein Rechtszeichen sein sollte, wirkt so paradox wie die Aufnahme des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in die von der UNESCO geführte Liste des Weltkulturerbes. Aber das ist geschehen. Die Reste von Mauern, Gebäuden, Baracken und Wegen sollen als Zweitheit des Zei­ chens erhalten werden. Dieses Zeichen steht für das größte, als Verwaltungsakt or­ ganisierte Verbrechen. Denn das macht die Einzigartigkeit von Auschwitz sofort deutlich, ohne dass über Zahlen, Vergleiche und die sonstige Geschichte diskutiert werden muss. Es handelt sich um ein Verwaltungsverbrechen, und weil jede Ver­ waltung nach Ablauf und Form einem Rechtsprogramm folgt, ist Auschwitz schon insofern ein fatales Rechtszeichen. Wenn man weiter daran festhält, dass der Zei­ chencharakter mindestens mit dem Bemühen um Gerechtigkeit zu tun hat, um Sym­ bolqualität zu gewinnen, dann interessiert an Auschwitz seine einzigartige Qualität als Fall. Auch diese Stelle ist paradoxal, denn man fragt ohne Weiteres, ob es sich wirklich um einen Fall handelt, dann begangen an Tausenden oder Hunderttausen­ den von Opfern, oder man besser von tausend bzw. hunderttausend Fällen spricht, jeweils begangen an mit Namen genannten Menschen. Auschwitz war und ist straf­ rechtlich ein Fallkomplex und stellt eine komplexe Frage an das Normensystem, die dahin geht, ob es ausreicht, an einer Verbrechensverabredung teilgenommen, aber ansonsten selbst keine grausamen Handlungen vorgenommen zu haben, oder ob gerade Grausamkeit, Heimtücke und niedrige Beweggründe im Einzelfall Grund­ lage für eine Bestrafung als Mörder bzw. eine andere Sanktionsfolge sein sollen. Auschwitz präsentiere ich hier (nur) mit zwei Beispielen aus dem Justizdispositiv, zwei Auschwitzprozessen, wobei der historisch erste unter dem Namen „EichmannProzess“ geführt wird. Auschwitz gehört zu den Fällen, die verabredet worden sind. Die Verabredung ist unter dem Namen „Wannsee-Konferenz“ bekannt geworden, und darüber ist im Jerusalemer Eichmann-Prozess öffentlich verhandelt worden. In die Diskussion eingeschrieben hat sich der Titel, den Hannah Arendt als Be­ obachterin und Berichterstatterin des „New Yorker“ ihrem Bericht über den Fall gegeben hat: die „Banalität des Bösen“.94 Zum Massenmord scheinen alle fähig 94 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen (1963), München 2011.

4. Auschwitz

431

zu sein, und es ist dafür nicht mehr an persönlichen Voraussetzungen notwendig, als sie ein gewissenhafter Eisenbahnplaner mit seinen bürokratischen Fähigkeiten mitbringt. Hier ist nicht der Ort, auf Hannah Arendts Titelthese allgemein einzu­ gehen, wenngleich angemerkt werden muss, dass sie sich durch das Verfahren der banalen gerichtlichen Tatsachenfeststellung dazu hat verleiten lassen, auf den Ge­ samtzusammenhang des Falls zu schließen. Über den Fall gibt eine Analyse der Befragung bessere Auskunft. Man kann das an einem kleinen Beispiel sehen, das im Verfahren große Bedeutung erlangt hat und in einer 30 Jahre später von den französischen Regisseuren Rony Brauman und Eyal Sivan angefertigten Doku­ mentation zu hören ist. Wie alle NS-Angeklagten so hat auch Eichmann Kenntnis und Willen für die Mitwirkung beim Mord geleugnet. In der Verhandlung in Je­ rusalem kam es zu dem folgenden, in deutscher Sprache geführten Wortwechsel über das von Eichmann selbst angefertigte Protokoll:95 „Und jetzt Wannsee, die Konferenz von Wannsee. Ein Abschnitt des Protokolls sagt: Zum Schluss wurden die verschiedenen Typen möglicher Lösungen erörtert. Erinnern Sie sich daran? Wollen Sie es sehen?“ Eichmann antwortet: „Ich erinnere mich, dass das so aufge­ schrieben worden ist.“

Für den Richter Raveh war die Sache damit nicht beendet. Er fragt weiter: „Gut, erinnern Sie sich vielleicht, was dazu gesagt worden ist?“ und erhält die schlichte Antwort: „Man hat die verschiedenen Arten des Tötens diskutiert“. „Die verschie­ denen Arten des Tötens?“, fragt der Richter ungläubig nach, und Eichmann bejaht das. Fast liegt darin schon ein Geständnis, aber Eichmann will nichts gestehen. Deshalb folgt eine Nachfrage: „Jetzt erklären Sie mir noch, warum nach der Konferenz genau drei Männer – Heydrich, Müller und Eichmann – dageblieben sind, um zu feiern, … Heydrich und Müller, das ver­ stehe ich, aber warum Eichmann?“, und der Angeklagte antwortet: „Ich musste die Zusam­ menfassung besorgen. Wir drei sind allein geblieben, nur wir drei. Heydrich hat erläutert, wie er das Protokoll formuliert sehen wollte. Nachdem eine Liste dieser Punkte gemacht worden ist, ist das Thema nicht mehr erörtert worden. Bei dieser Gelegenheit hat man mir angeboten, ein Glas Cognac zu trinken oder zwei oder drei. So hat sich das abgespielt.“

Der Angeklagte – obwohl umfänglich zur Aussage bereit – gesteht nichts. Aber indirekt, aus dem Ablauf des Treffens kann man auf Wissen und Wollen der Be­ teiligten schließen. Es gibt ein Ergebnis, und das ist regelmäßig mit einem be­ stimmten Fall verbunden. Wer nach einer Verhandlung auf ihr Ergebnis prostet, gehört zu den Machern der Sache. Wer das Angebot, Cognac zu trinken, erhält, ist eigentlich schon der Komplize der Mörder, selbst wenn er ablehnte. Diesen abduk­ tiven Schluss muss allerdings das Gericht ziehen. Eichmann tut dem Gericht nicht den Gefallen, das selbst auszusprechen. Für ihn hat der Cognac, den auch Hannah Arendt zu erwähnen nicht vergisst,96 eine andere Rolle. Er signalisiert die Alltäg­ 95 Ins Deutsche rückübersetzt nach dem Dokument in: Rony Brauman/Eyal Sivan, Eloge de la désobéissance. A propos d’„un spécialiste“: Adolf Eichmann, Paris 1999, 128. 96 Arendt (Fn. XI. 95), 204.

432

XI. Der Fall

lichkeit der Verabredung über das Töten und die Höflichkeit, mit der die Oberen im Verbrecherstaat dem Sekretär ihre Aufmerksamkeit schenken. Auch Todorov zitiert Eichmanns protokollierte Aussage, auf der Wannsee-Konferenz sei alles äußerst gut gelaufen, „jeder war sehr liebenswürdig, sehr höflich, sehr freundlich und sehr anständig …, die Ordonnanzen servierten einem einen Cognac und die Sache war geregelt.“97 Die Sache war die Verabredung zum gemeinsamen Morden und der Cognac das Zeichen der Einladung. Aber der Angeklagte verweigert trotz allem ein Bekenntnis zur Tat. Eichmann gibt zur Wannsee-Konferenz stattdessen einen Kommentar, den er als persönliches Vermächtnis und als Logik für seine Verteidigung verstanden wissen möchte. Er führt dazu aus:98 „Ich habe Befriedigung verspürt, als ich meine Situation im Hinblick auf die Konferenz von Wannsee analysiert habe. In jenem Augenblick habe ich ein bisschen die Befriedigung von Pontius Pilatus gespürt, weil ich mich von aller Schuld reingewaschen fühlte. Die her­ vorragenden Persönlichkeiten des Reichs hatten sich auf der Wannsee-Konferenz zu Wort gemeldet. Die ‚hohen Tiere‘ hatten ihre Befehle gegeben. Mir blieb zu gehorchen. Das ist es, was ich in all den folgenden Jahren im Kopf behielt.“

Der richterliche Berichterstatter nimmt das Bild nicht so hin wie angeboten und macht geltend: „Aber ich habe immer geglaubt, dass es sich – für Pontius ­Pilatus – beim Händewaschen um einen inneren Rückzug gehandelt hat.“ Eilfertig bemüht sich Eichmann – in Unverständnis der metaphorischen Kritik – dem zuzustimmen:99 „Genau das wollte ich sagen, Herr Richter. Ich habe mir gesagt, dass ich alles getan habe, was ich tun konnte. Ich war ein Werkzeug in den Händen höherer Mächte. Ich musste – ge­ statten Sie, es populär auszudrücken – meine Hände in Unschuld waschen, so weit es mein inneres Ich anging. So ist es, wie ich es verstand. Was mich angeht, so handelte es sich we­ niger um äußere Faktoren als um meine eigene innere Suche“.

Das ist ein schwer erträglicher Ausflug in die Innerlichkeit angesichts unsagbarer äußerer Folgen. Richter Raveh versucht, diesen Exkurs doch noch auszuhalten, aber es wird nicht erkennbar, ob sein Versuch eine Ironie enthält und er den Angeklag­ ten auf eine bestimmte juristische Variante festlegen will oder ob er seinerseits auf noch abstrakterer Ebene als Eichmann zu verstehen versucht. „Also“, resümiert der Richter, „dann war das, wenn Sie im Jahre 1942 ihre Hände in Unschuld gewaschen haben, eine Art von … von Mentalreservation?“ Der Angeklagte gerät in hilflose Nachfragen der Art: „Im Jahr 1942?“ „Ja, Wannsee, die Konferenz von Wannsee“ „Ah, die Konferenz von Wannsee!“ „Das war eine Art von Mentalreservation?“ Eichmann verfängt sich in Wiederholungen und verharrt schließlich in Schweigen. Scheinbar versteht er die Frage nicht, aber die Beobachter verstehen: Er versteht nicht, warum der Fragende etwas verstanden hat, das nicht gesagt werden sollte. Wie alle anderen SS-Täter beruft sich Eichmann darauf, er habe das Erklärte ins­ geheim nicht gewollt und nur nach außen hin, weil es so verlangt war, so gehandelt, 97

Tzvetan Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, 212. Todorov (Fn. XI. 98), 130. 99 Todorov (Fn. XI. 98), 131. 98

4. Auschwitz

433

wie man es sehen kann. Herbert Jäger, einer der ersten Strafrechtslehrer, die sich mit dem Unerhörten befasst haben, nennt diesen Rechtfertigungsmodus „kollektive Kausalität.“ Das sei „das Gefühl nicht individuell für die Verbrechen ursächlich zu sein, nichts selbst auszulösen, aber auch nichts verhindern zu können, sondern funktionell auswechselbar zu sein“.100 Todorov hat dazu die These formuliert, Ar­ beitsteilung suspendiere das Gefühl für Verbrechen.101 Eben dieses Gefühl wird im Eichmann-Prozess wieder hervorgelockt. Die Tat ist gar nicht weiter beweisbedürf­ tig, Eichmanns Mitwirkung als Verfasser des Mordplans bekannt. Aber zu entschei­ den ist noch darüber, ob der Angeklagte gewissermaßen reines Schreibwerkzeug gewesen sein könnte oder dem Geschehen zugestimmt hat wie alle anderen. Diese Zustimmung muss man jenseits seiner Einlassung hervorlocken. Darin besteht das Ziel der Befragung, denn es ist offensichtlich, dass der Richter der Rede des Ange­ klagten folgt, ihr der Sache nach aber nicht zustimmt, sondern umgekehrt versucht, einen Kontext auf das berichtete Handeln zu eröffnen, der die Bedeutung der Per­ son und ihrer Verantwortung hervorhebt. Der Deutsch sprechende israelische Rich­ ter kennt die deutsche Rechtsliteratur. Aus ihr stammt die Rede von der „Mental­ reservation.“ Karl Larenz hielt sie für praktisch bedeutungslos: „Jeder vernünftige Mensch weiß, daß er das, was er verbindlich erklärt hat, gelten lassen muß; Fälle, in denen sich jemand darauf beruft, er habe das Erklärte insgeheim nicht gewollt, sind daher sehr selten.“102 Hinter dem geheimen Vorbehalt lugt die infame Perspek­ tive hervor. Eichmann spricht sie nicht aus. Es ist erkennbar, dass es für das Un­ recht, das den Opfern angetan worden ist, keinen Ausdruck gibt. Sowohl der Einzelfall Eichmann wie der Auschwitz-Komplex, dessen Teil er ist, sind für die Kategorie des Falls deswegen bedeutsam, weil sie an die Grenze dessen gelangen, was einen Fall ausmacht. Sequenzierung, Subjekt-Prädikat-Zu­ schreibung und Motivierung sind als wesentliche Elemente des Falls vorgestellt worden (Kap.  XI. 1.). Der Massenmord scheint keine folgerichtige Sequenz zu haben, und Handlungen im Subjekt-Prädikat-Schema verschwinden hinter der Monstrosität des Gesamtkomplexes, geschweige denn dass von Motiven oder Mo­ tivierung geredet werden könnte. Aus diesem Grund war der Fund des Wann­ see-Protokolls ein entscheidendes Indiz für die Strafverfolgung. Es machte den Tatplan klar, von dessen Existenz man nun ausgehen musste. Ob freilich die Um­ setzung dieses Plans den Fall – einen einzigen Fall gar – ergibt, will man kaum glauben. Normativ gesehen, ergeben 1,3 Millionen Ermordete in Auschwitz genau so viele Taten, weil das Rechtsgut des Lebens höchstpersönlich ist und keine Zu­ sammenfassungen erlaubt. Der Mord an zwei Menschen ist ein zweifacher Mord – wozu es keines großen Scharfsinns braucht. Wenn das so ist, kann „Auschwitz“ kein Fall sein. Mit Aleida Assmann kann man dann sagen, dass Auschwitz der 100 Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt a. M. 1982, 313. 101 Todorov (Fn. XI. 98), 191 f. 102 Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 3. Aufl., München 1967, 309.

434

XI. Der Fall

Name für ein Geheimnis ist,103 für etwas, das nicht zur Sprache gebracht werden sollte und es auch gar nicht kann, weil die Sprache, in der man etwas ausdrücken und es anhören kann, nicht ausreicht, um 1,3 Millionen Tote zur Sprache zu brin­ gen. Es bleiben nur Listen mit Namen und Todesdaten, Indices. Der Name „Auschwitz“ zwingt jeden Leser, auf die (vorbegrifflichen) Qualizei­ chen zu sehen, weil der Gegenstand – „das Ereignis“, für das der Name steht – un­ endlich scheint und nur durch andere Namen („Holocaust“, „Shoah“) ersetzt wird, die ebenfalls das Ereignis überdecken. Auschwitz ist geradezu das Musterbeispiel für den Widerstreit geworden, also für das Ungenügen der Sprache, einen Gegen­ stand zu bezeichnen. Da wäre zum Beispiel: dass Auschwitz gar nicht beweisbar sei, es infolgedessen auch nicht existiert habe und ein Geheimnis derjenigen bleibe, die davon redeten. Das ist die Provokation der Auschwitz-Lüge, für die das deut­ sche Strafgesetzbuch heute einen eigenen Tatbestand bereithält (§ 130 Abs. 3 StGB). Als Beispiel dafür hat Jean-François Lyotard das Wahrheitsverständnis des fran­ zösischen Propagandisten Faurisson zitiert: „Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. Ich habe Fachleute und Historiker unermüdlich mit meinen Fragen ver­ folgt. Ich habe – allerdings vergeblich – einen einzigen Deportierten gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gese­ hen zu haben.“104 So gehen die Konstrukteure der Auschwitz-Lüge mit dem Justiz­ dispositiv um. Sie machen sich selbst zum Gericht. Aus den Schwierigkeiten der Darstellbarkeit schließen sie darauf, dass das Ereignis unbewiesen bleiben müsse, und weil es unbewiesen sei, sich auch gar nicht ereignet habe. Das ist Unsinn, der aber Parallelen in anderen Bereichen hat. Lyotard nimmt die Herausforderung an und steigert sie zur Paradoxie: „Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskam­ mer gesehen zu haben“ sei die Bedingung für die Autori­tät, deren Existenz zu be­ haupten und Ungläubige zu belehren. Zudem müsse man beweisen, dass die Gas­ kammer in dem Augenblick todbringend gewesen sei, als man sie gesehen habe. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht dann darin, dass man tot ist – und als Toter kann man nicht bezeugen, dass man in einer Gaskam­ mer umgekommen ist. Für politische Zwecke und für die radikale Sprachphiloso­ phie bleiben dann nur Streit und Widerstreit, unterschiedliche „Sprachregimes“, mit denen man schildern kann, was sich in der Welt ereignet – oder es nicht schil­ dern will. Das ist der Einsatz der Postmoderne am Beispiel eines Falls. Gegen alle Widerstände muss man doch über Auschwitz sprechen. Lebensge­ schichtlich haben vor allem auch die Überlebenden darüber sprechen müssen, selbst wenn sie es – wie Primo Levi – nicht überstanden haben. Für sie ist Auschwitz ein Fall gewesen, der Fall des eigenen Lebens. Langsam erschließt sich diese Per­ spektive. Spät – nämlich erst in den letzten zehn Jahren –, dann aber mit verstärk­ ter Aufmerksamkeit sind Videomitschnitte, Protokollausschnitte und Prozess­ 103 Aleida Assmann, Auschwitz – das Geheimnis der Geheimnisse, in: dies./Jörn Assmann (Hrsg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, 17–22. 104 Lyotard, Widerstreit (Fn. IV. 36), Nr. 2 (17).

4. Auschwitz

435

beobachtungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit (nicht nur in Auschwitz) dokumentiert worden. So kann man seit Veröffentlichung des dreieinhalbstündi­ gen Interviewfilms von Claude Lantzmann in dem Bericht des unmittelbaren Zeit­ zeugen Benjamin Murmelstein hören, wie wenig fundiert Hannah Arendts These von der Banalität im Tun des Angeklagten Eichmanns war.105 Das Gericht in Jeru­ salem wollte Murmelstein nicht hören; er war der Kollaboration verdächtig. Diese nachträgliche Dokumentation der Zeichenoberfläche ist diktiert von dem Bewusst­ sein, dass „dahinter“ Unsagbares vor sich geht und vor sich gegangen ist. Die Per­ spektive auf den individuellen Fall im Geflecht des Zusammenhangs demonstriert der Frankfurter Auschwitz-Prozess der Jahre 1963–65. Dass es dieses Verfahren überhaupt gegeben hat, ist das bleibende Verdienst von Fritz Bauer, dem damals in Frankfurt amtierenden Generalstaatsanwalt, der nicht zufälligerweise auch den Fall Eichmann durch die Weitergabe eines Hinweises in Gang gebracht hat.106 Bauer hat den eigenen deutschen Behörden nicht getraut und die Sache Eichmann gewis­ sermaßen abgegeben nach Israel in die dortige Zuständigkeit, der deutschen Ge­ sellschaft aber deshalb nicht etwa die Auseinandersetzung mit dem Völkermord erspart. Im Gegenteil war der Eichmann-Prozess die in seiner Sicht notwendige Vorbereitung für das, was dann in Deutschland folgen konnte. Das Landgericht Frankfurt hat im Jahre 1965 ein Urteil gegen 20 Angeklagte verkündet, die wegen Mordes im Konzentrationslager Auschwitz angeklagt waren. Das schriftliche Urteil dazu ist veröffentlicht,107 und es lohnt sich, das AuschwitzUrteil allein deshalb zu lesen, um zu erfahren, wie man mit schulmäßigen Mit­ teln einem unfassbaren Komplex einige Einzelheiten entreißt. Allerdings ist Le­ sen im Fall des Auschwitz-Prozesses selbst schon eine Aufgabe, die an die Grenze der Leistungsfähigkeit geht. Das kann man zunächst einmal einfach zahlenmäßig verstehen. 80.000 digitale Seiten aus dem gesamten Hauptverfahren108 kann nie­ mand nacheinander lesen, und es ist noch nicht einmal einfach, nur jene 600 Sei­ ten zu lesen, die das Urteil in der Publikationsfassung hat. Schon das scheint eine Angelegenheit für Spezialisten zu sein, vielleicht für Historiker der Zeitgeschichte oder Analytiker des Strafverfahrens. Wer das Auschwitz-Urteil liest, mischt sich je­ denfalls in die Debatten von Historikern und Spezialisten. Das Urteil enthält poli­ tisch wie juristisch bleibenden Stoff, der uns vielleicht umso eher berührt, je größer die zeitgenössische Distanz dazu ist. So könnte man erklären, dass jedenfalls zu­ nächst – nämlich nach Urteilsverkündung im Jahre 1965 – der Urteilstext die per­ sönlich und fachlich Beteiligten, aber sonst kaum jemanden interessiert hat. Man begnügte sich mit dem Urteilsausspruch und war befremdet wegen der als niedrig 105 Claude Lanzmann, Le Dernier des Injustes, Interviewfilm 2013; Ronny Loewy/Katharina Rauschenberger (Hrsg.), „Der Letzte der Ungerechten. Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Filmen 1942–1975, Frankfurt a. M. 2011. 106 Wojak (Fn. II. 34), 300. 107 Friedrich-Martin Balzer/Werner Renz (Hrsg.), Das Urteil im Frankfurter AuschwitzProzess (1963–65), Bonn 2004, digital unter: http://seibert.biz/auschwitz. 108 Fritz Bauer Institut Frankfurt a. M./Staatl. Museum Auschwitz-Birkenau (Hrsg.), Der Auschwitz-Prozess, 2. Aufl., Berlin 2005.

436

XI. Der Fall

empfundenen Strafen oder je nach zeitgenössischer Verstrickung empört darüber, dass überhaupt Strafen verhängt worden sind. Von den 20 Angeklagten, von denen das Urteil handelt, wurden drei freigesprochen, fünf mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren bestraft. Nicht wenige Beobachter wundern sich noch heute über die Milde der Strafrechtsprechung und über ihre feinsinnigen Differenzierungen. Zeitgenos­ sen forderten hingegen den berühmten „Schlussstrich“ unter eine justizielle Auf­ arbeitung, die 1965 gerade erst in Gang gekommen war. Diese Debatten über das Verfahrensergebnis sind nicht mehr aktuell. Das Urteil lesen wir heute neu, und wir sollten es von Ferne lesen, aus der historischen Ferne, in der wir uns selbst befin­ den, und mit den weiteren Erfahrungen aus politischen Großprozessen einer „Justiz im Übergang“ (transitional justice), mit der seit der titelgebenden Veröffentlichung der amerikanischen Rechtstheoretikerin Ruti Teitel Verfahren bezeichnet worden sind,109 mit denen ein neuer Staat oder eine neue Gesellschaft über die Verbrechen der vorangegangenen zu Gericht sitzt. Teitel nennt das Tribunal von Nürnberg als Ausgangspunkt für eine neue Justiz, die den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schafft und der üblichen Milde im liberalen Rechtsstaat Grenzen setzt.110 Das Auschwitz-Urteil war – so gesehen – kein Schlussstrich, es war der Beginn für ein Umdenken in der Indexikalität des Rechtszeichens. Das Auschwitz-Urteil ist wie wenige andere Urteile ein Index historischer Wahr­ heit. Dort kann man in Kürze nachlesen, wie das Konzentrationslager aufgebaut war, wie es organisiert worden ist, welche unbeschreiblichen Lebensverhältnisse dort herrschten (und wie man das trotzdem beschreiben kann) und was alles in einem Lager möglich war und ist. Ein Lager ist etwas anderes als ein Gefängnis, und die Wirklichkeit der Lager ist nicht überholt. Die Moderne kennt mehr als eines, und unter dem Namen Auschwitz wird der Typus vorgestellt. 50 Buchseiten enthält das Urteil dazu.111 Dann widmet es 400 Buchseiten den 17 verurteilten An­ geklagten und deren Taten, und es folgen noch einmal 110 Seiten, auf denen be­ gründet wird, weshalb welche Taten nicht verurteilt worden sind. So gewinnt man einen groben Überblick über Fälle, die zur Verurteilung geführt haben. Es sind massenhaft wiederholte Taten, deren genauere Individualisierung nach Zeit, Ort und Opfern meist unmöglich ist. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess halfen noch eine Vielzahl teils unerwartet genauer Zeugenaussagen wie etwa die des polni­ schen Chirurgen Dr. Paczula, der zur Überführung des Angeklagten Klehr maß­ geblich beigetragen hat.112 Auschwitz ist aber in der Gesamtschau ein Fall, der wie kein anderer repräsentiert, was in einem Forschungsprojekt von Herbert Jäger als „Makrokriminalität“ bezeichnet worden ist.113 Im Bereich der Makrokriminalität 109

Ruti G. Teitel, Transitional Justice, Oxford u. a. 2000, 11–26. Teitel (Fn. XI. 109), 60 f. 111 Balzer/Renz (Fn. XI. 107). 112 Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1989, 736–738. 113 Herbert Jäger, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, Frank­ furt a. M. 1989. 110

4. Auschwitz

437

kennt man zwar den Typ der Tat, weiß aber deshalb noch nichts über die einzel­ nen Täter, ihre Opfer und die konkrete Ausführung. Der Fall wirkt dabei als zu­ sammenfassende Kategorie. Er kanalisiert die Wahrnehmung, um sie verfahrens­ mäßig erledigen zu können, und zwar mit den Vorrichtungen des Justizdispositivs. Zum Beispiel hieß die Strafsache beim Landgericht „gegen Mulka u. a.“, und doch wollte der Hauptangeklagte Mulka vom Ereignis nichts erfahren haben. Robert Mulka war stellvertretender Lagerkommandant und Stellvertreter von Rudolf Höß (dessen Aufzeichnungen seit 1946 vorliegen). Aber der Stellvertreter ließ sich im Strafprozess dahin ein, dass er keine „Entscheidungsfreiheit“ und keine „Tatherr­ schaft“ gehabt habe. Das Urteil verschiebt die Perspektive und stellt aufgrund der eigenen Aussage des Angeklagten in Verbindung mit einigen Dokumenten die Tat­ herrschaft doch fest. Es rechnet zu, was der Angeklagte abgestritten hat. Zugrunde lag dem die folgende Befragung des Angeklagten in der Hauptverhandlung:114 Senatspräsident Hofmeyer: So, ja, ja. Sehen Sie. Was haben Sie denn unter „Materialien für die Judenumsiedlung“ verstanden? Was haben Sie denn darunter verstanden, was das sein könnte? Herr Mulka? Angeklagter Mulka: Mir war bekannt, was es bedeutete. „Judenumsiedlung“ Hofmeyer: Eben. Mulka: Dazu habe ich mich hier auch schon entsprechend eingelassen. Hofmeyer: Und was bedeutete „Material für die Judenumsiedlung“? Mulka: Das dafür benötigte Material, insoweit höchstwahrscheinlich … Hofmeyer: Wir wollen doch das Material… Mulka: Zyklon B Hofmeyer: Zyklon B, nicht? Und sehen Sie, hier ist noch ein dritter, der allerdings so schlecht fotokopiert worden ist. Mulka: Alles meine Unterschrift.

Das führt zu der folgenden Urteilsfeststellung:115 Der Angeklagte Mulka hat auch in mindestens einem Fall bei der Beschaffung von Zyklon B mitgewirkt. Aus dem oben zitierten Funkspruch vom 2.10.1942 ergibt sich zwar nicht, wer die Genehmigung für die Fahrt zur Abholung des Zyklon B beim WVHA beantragt hat. Aus dem Funkspruch ergibt sich nur, dass ein solcher Antrag gestellt worden ist, da der Funkspruch auf einen solchen Antrag Bezug nimmt. Das Gericht hat aber keinen Zweifel, dass Mulka als Adjutant den Antrag gestellt hat. Denn nach der bereits mehrfach erwähnten Lagerordnung hatte der Adjutant den gesamten Schriftverkehr mit außenstehenden Dienst­ stellen zu bearbeiten. Ferner war er – wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt – für die Fahrbereitschaft und den Einsatz der LKWs verantwortlich. Aus dieser Funktion ergibt sich dann weiter zwangsläufig, dass er für Fahrten, die über eine bestimmte Entfernung hinaus­ gingen, und für die er nicht befugt war, Fahrbefehle auszustellen, die Genehmigung der über­ geordneten Dienststelle einzuholen hatte. Es ergibt sich weiter daraus, dass er nach Erteilung der Genehmigung den Einsatz des LKWs für die Fahrt zu befehlen hatte. Das Schwurgericht ist daher überzeugt, dass er, nachdem er die Richtigkeit der Abschrift des Funkspruchs be­ 114 Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main. Katalog zur Ausstellung v. 27.3.–23.5.2004 in Frankfurt a. M., Frankfurt 2004, 291. 115 Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 109.

438

XI. Der Fall

scheinigt hatte, die beglaubigte Abschrift der Genehmigung an die Fahrbereitschaft zur Ab­ holung des Zyklon B weitergegeben hat. Dass das Zyklon B auch tatsächlich von Dresden abgeholt worden ist, hat Mulka nicht in Abrede gestellt. Er hat auch – wie schon ausgeführt – eingeräumt, dass er gewusst hat, dass mit dem Ausdruck „Materialien“ Zyklon B gemeint war und dass es für die Tötung von RSHA-Juden Verwendung finden sollte.

Vorgeführt wird das Schema einer gerichtlichen Tatsachenfeststellung, mit der dem Angeklagten die Kenntnis über Tatumstände zugerechnet wird, die er abstrei­ tet. Die Tatsache steht am Anfang, wenn es heißt, der Angeklagte habe bei der Beschaffung von Zyklon B mitgewirkt. Es folgen die Gründe dafür, beginnend mit der Existenz und dem Inhalt einer Urkunde, aus der auf die Existenz einer an­ deren Urkunde, nämlich eines Auftrags, geschlossen wird, den man zwar nicht gefunden hat, dessen Notwendigkeit aber aus der Lagerordnung hergeleitet wer­ den kann. Der Adjutant des Kommandanten – und das ist der Angeklagte – erteilt einen Fahrbefehl. Das darf man schließen, ohne dass jemand protestiert. Dabei darf dem Gericht der kleine Wortwechsel zwischen Vorsitzendem und Angeklag­ tem aus der Verhandlung genügen: „Wir wollen doch das Material  …“ und der Angeklagte ergänzt schnell: „Zyklon B“, was der Vorsitzende bestätigt: „Zyklon B, nicht?“ Der Angeklagte erkennt zwar seine Verantwortung nicht an, will dann aber die Dinge doch nicht so stehen lassen, dass er „Material“ nicht habe überset­ zen können. Das ist das Schema einer Zurechnung durch Feststellung (Kap. IX.3). Der Auschwitz-Fall bleibt auf diese Weise im gewöhnlichen Justizdispositiv. Aus der Distanz von fünfzig Jahren muss man bemerken, dass ein Gericht des Jahres 1965 sich für verpflichtet ansah, jeweils konkrete verbrecherische Handlungen je­ des einzelnen Angeklagten festzustellen. So fühlt sich das Gericht auch verpflich­ tet, dem stellvertretenden Lagerkommandanten die Einlassung zu widerlegen, er habe mit den Morden nichts zu tun, weil es die Ärzte gewesen seien, die Häftlinge in die Gaskammern geschickt hätten. Auch andere SS-Führer hätten das getan. Er aber habe als kleiner SS-Unterführer hierzu keine Befugnis gehabt. Das Urteil verschiebt die Perspektive und stellt aufgrund von Zeugenaussagen eine zynische Einzeltat fest. Man liest:116 Der Angeklagte Mulka hat als Adjutant des Lagerkommandanten Höß an mindestens drei verschiedenen Tagen nach Ankündigung je eines RSHA-Transportes persönlich die ver­ schiedenen Abteilungen des Lagers von der Ankunft der Transporte telefonisch benach­ richtigt und die Einsatzbefehle für den Rampendienst gegeben. Er war auch selbst in einer unbestimmten Anzahl von Fällen bei der Abwicklung von RSHA-Transporten auf der Rampe. In mindestens einem Fall war er bei einer solchen Aktion der ranghöchste Offizier auf der Rampe. In diesem Fall hat er die Oberaufsicht geführt. Dabei ereignete sich folgen­ des: 2 SS-Unterführer brachten einen Häftling des Häftlingskommandos zu dem Angeklag­ ten Mulka. Sie meldeten ihm, der Häftling – die SS-Männer sagten „das Schwein“ – habe mit den Zugängen gesprochen. Mulka gab daraufhin den Befehl, wobei er auf seine Uhr schaute: „Macht ihn fertig, es ist spät!“ Die beiden SS-Unterführer schlugen daraufhin auf den Häftling mit Knüppeln ein, bis er tot war. Die Leiche wurde dann weggebracht. 116

Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 96.

4. Auschwitz

439

Es bleibt nach dem Bericht dieses Vorfalls dahingestellt (ein wiederkehren­ des Praxiswort, das etwas, das nicht beweiserheblich sei, als auch nicht klärungs­ bedürftig darstellt), ob der Angeklagte bei der Anwesenheit auf der Rampe als ranghöchster SS-Führer oder bei anderen Gelegenheiten auch selbst arbeitsfähige Juden ausgesondert habe, denn der Vorwurf geht in eine etwas andere Richtung: Mulka habe durch seine Anwesenheit die anderen SS-Führer, Unterführer und SS-Männer darin bestärkt, den Rampendienst gemäß den ihnen gegebenen Befeh­ len strikt durchzuführen. Verurteilt wird er also für eine insofern psychische Bei­ hilfe. Die Strafe dafür lag mit 14 Jahren (wie damals noch üblich) Zuchthaus an der oberen Grenze des Strafrahmens der Beihilfe, weil er – wie es in der Urteils­ begründung heißt – „die gesamte Mordmaschinerie in Gang gesetzt, also einen entscheidenden Beitrag für die Vernichtung der mit den Transporten angekomme­ nen Menschen geleistet“ habe.117 Lebenslänglich bestraft wurden die Angeklagten Boger, Hofmann, Kaduk,­ Baretzki, Bednarek und Klehr, wobei allen diesen Angeklagten eigenhändig mit Mordmotiv begangene Taten nachgewiesen worden sind. Das lag auch daran, dass diese Angeklagten keine Leitungsfunktion in der Lagerhierarchie eingenommen haben, sondern wie etwa der Angeklagte Klehr, der „Sanitäter“ hätte sein sollen, eigenhändig die Phenolspritze aufgezogen und „die Tötung der schwachen und kranken jüdischen Häftlinge innerlich bejaht“ habe.118 Das Schwurgericht hat wei­ ter festgestellt, es habe Klehr „unnatürliche Freude bereitet, die Opfer durch Phe­ nolinjektionen zu töten“. Man hat das daraus geschlossen, dass Klehr Weihnachten 1942119 – als der diensthabende SS-Arzt seinem Dienst fernblieb – an dessen Stelle als Selekteur und Exekutor in einer Person auftrat, sich aus dem ihm zugeteilten Krankenlager 30 Häftlinge und aus weiteren Blöcken weitere 170 Häftlinge per­ sönlich aussuchte und dann durch Phenolinjektion gezielt tötete.120 Ein Muster von Brutalitäten ist im Urteil nachzulesen. Berüchtigt geworden ist die „Schaukel“ des Angeklagten Boger, in der Häftlinge, die man zu irgendeiner Aussage hat zwingen wollen, gefesselt und zu Tode geprügelt worden sind.121 Der Angeklagte ­Hofmann hatte Lust, das Herumliegen einer Flasche zu ahnden, da er „stets Wert auf pein­ liche Ordnung und Sauberkeit im Lagerabschnitt legte“. Er hob die ­Flasche auf und schlug sie einem Häftling, der vorüberging, über den Kopf, so dass dieser kurz da­ nach starb.122 Der Angeklagte Kaduk ließ jüdische Häftlinge antreten und entklei­ det durch das Badehaus laufen. Er sonderte die nach seiner Meinung Schwachen und Arbeitsunfähigen aus und ließ sie mit Zyklon B töten.123 Als dem Angeklag­ ten Baretzki im Quarantänelager ein „Muselmann“ begegnete, der nur aus Haut 117

Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 127. Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 423. 119 Zeugenaussage von Hermann Reineck, in: Fritz Bauer Institut (Fn. XI. 114). 510–512. 120 Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 395. 121 Balzer/Renz (Fn. XI. 107) 150. 122 Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 257. 123 Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 273. 118

440

XI. Der Fall

und Knochen bestand, schlug er wahllos mit voller Wucht auf ihn ein, so dass er starb.124 Der Angeklagte Bednarek wurde selbst als Häftling ins KZ Auschwitz eingeliefert, wurde dort aber zum Blockältesten gemacht. Häftlinge, die dem An­ geklagten aus irgendwelchen Gründen unsympathisch oder missliebig waren, schlug er mit einem Stock oder Hocker so lange, bis sie tot waren.125 Die Sammlung von Taten, denen im Urteil des Motiv der Mordlust zugeschrie­ ben wird, lässt sich verlängern. Es sind solche Taten, bei denen das Schwurgericht im Auschwitz-Urteil von 1965 eine eigene Täterschaft der Angeklagten annimmt, während auf der anderen Seite der Lagerarzt Dr. Capesius, Arzt in Siebenbürgen und Vertreter der IG Farben, der die ankommenden Häftlinge selektierte, also da­ nach trennte, ob sie sofort oder erst nach Arbeitsausbeutung getötet werden soll­ ten, wegen Beihilfe (zu im Übrigen neun Jahren Zuchthaus) verurteilt wird, weil das Gericht „nicht mit Sicherheit“ hat feststellen können, „dass der Angeklagte Dr. Capesius die Vernichtungsaktionen zu seiner eigenen Sache gemacht und in­ nerlich bejaht, somit mit Täterwillen gehandelt hat.“126 Das – wohlgemerkt – sind Rechtsausführungen aus dem Jahre 1965. Sie ent­ sprachen nicht nur der Auffassung des Gerichtsvorsitzenden Hans Hofmeyer, den Bauer-Biografin Irmtraud Wojak mit einem Wortbeitrag vom Juristentag 1967 zi­ tiert, wonach eine Feststellung von Einzeltaten erforderlich sei. Ein „summari­ sches Verfahren“, in dem nicht mehr geprüft werde, „inwieweit das Tätigwerden des Einzelnen überhaupt kausal für den Enderfolg des Todes der Opfer gewesen ist“, werde rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht gerecht.127 So hat man über Jahr­ zehnte gedacht, und allein der Umstand, dass es diese Interpretation gegeben hat, macht sie zu einem Zeichen des Rechts. An Argumentstelle ist damit freilich kein Ende erreicht. Aus der Distanz von 50 Jahren seit der Urteilsverkündung muss man einen semiotischen Wechsel in der Perspektive vermerken. Das AuschwitzUrteil entwickelt den Fall, indem es ihn in viele kleine Verbrechen zerlegt. Schon Fritz Bauer, der Chefankläger, hatte – als er den Komplex anhängig machte – et­ was anderes im Sinn. Nach seiner Auffassung machte sich jeder strafbar, der „an der Mordmaschine hantierte“.128 Damit würde das Konzept der Mittäter- und Ge­ hilfenschaft so ausgelegt wie bei kriminellen Vereinigungen üblich. Es ist üblich, den Geldverwalter der Mafia mindestens als Gehilfen zu verurteilen, weil auch der Umgang mit Geld eine verbrecherische Angelegenheit ist, wenn es sich um die Tat­ beute handelt. Gerade nach der Nachkriegsauffassung war der Völkermord ein von Hitler, Himmler, Heydrich und anderen geleitetes und befohlenes Gesamtverbre­ chen, an dem mitzuwirken nach allgemeinen Verbrechensgrundsätzen jeden SSMann hätte strafwürdig erscheinen lassen müssen. In der Perspektive der allge­ 124

Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 290. Balzer/Renz (Fn. XI. 107), 468. 126 Balzer/Renz (Fn. XI. 107) 371. 127 Wojak (Fn. II. 34), 613 (Fn. 5). 128 Wojak (Fn. II. 34) 346. 125

4. Auschwitz

441

meinen Rechtslehre fällt auf, dass dem nicht so war. Nicht bereits die Anwesenheit in Auschwitz oder die Erfüllung dort zugewiesener Aufgaben hat in der zeitgenös­ sischen Urteilspraxis die Strafbarkeit begründet, sondern nur eine aus sich selbst heraus erkennbare verbrecherische Handlung, wie sie das Auschwitz-Urteil mit den oben berichteten Einzelheiten beschreibt. Erst in den letzten deutschen Straf­ verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen hat sich das Verständ­ nis geändert.129 Der Wachmann Demjanjuk wurde allein wegen seiner Anwesenheit im Vernichtungslager Sobibor durch das Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.130 Das Landgericht Lüneburg hat mit Urteil v. 15.7.2015 sogar den „Effektenverwalter“ Gröning wegen Verwertung der Tatbeute als Gehil­ fen des Völkermords verurteilt – allerdings 70 Jahre nach Verschwinden des NSRegimes. Man hat sich inzwischen angewöhnt, einfach davon auszugehen, dass sich seit dem Jahre 2011 – also der Verkündung des Demjanjuk-Urteils – die Rechts­ lage geändert habe. Das lässt auf eine bemerkenswerte Umstellung im Zeichenbe­ griff schließen. Die Gerichte haben – nach fünfzig Jahren – einen Index gesetzt, den bereits Fritz Bauer als Rechtszeichen gefühlt und eingefordert hat, damals vergeblich unter Hinweis auf die Rechtslage. Im 20. Jahrhundert waren die Indi­ ces des Verbrechens zunächst hinter dem Blick auf die scheinbar normalen Ange­ klagten verborgen. Der Auschwitz-Fall verändert damit seine Gestalt. Dabei sind es nicht Nor­ men der Strafbarkeit, die das verlangen. Es ist die Verfassung derjenigen, die Fälle in einem Verhältnis zu Normen wahrnehmen. Die Kontinuität eines Staats­ körpers, den die alte Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich herstellte, wird jedenfalls nicht mehr so aufgefasst, dass es sich auch im letzten Abschnitt der Reichs­geschichte noch um eine an Rechtszeichen orientierte Staatsregierung han­ delte. Sieht man den selbst ernannten Führer und seine Komplizen insgesamt als eine kriminelle Vereinigung, die sich Staatsmacht angeeignet hat, dann erhält der Auschwitz-Fall verfassungsgemäß einen anderen Charakter. Verfassungen sind der letzte und umfassende Großkomplex für eine allgemeine Rechtslehre.

129

Cornelius Nestler, Sind die heute noch möglichen Strafverfahren wegen NS-Verbrechen legitim?, in: Cornelius Prittwitz u. a., Rationalität und Empathie. Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen zum 80. Geburtstag, Baden-Baden 2014, 182–196. 130 LG München II, Urt. v. 12.05.2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08.

XII. Verfassungen Neben und nach den üblichen Formationen des Rechtszeichens in Normen und Fällen, vermittelt durch diese oder jene methodische Überlegung, gibt es seit zwei­ hundert Jahren eine selbstständige Operationsebene, die erst in den letzten fünf­ zig Jahren und damit in der juristischen Postmoderne eine wesentliche Rolle spielt. Modern war die Verfassung eine besondere Menge von Normsätzen über den Nor­ men des sachlichen Rechts, sie überwölbend und hier und da korrigierend, was aber kaum geschah. Nach der Moderne sind Verfassungen das auch, aber mehr. Zunächst einmal sind es mehrere, die teilweise auch konkurrieren. Sie entstehen durch Zeichen und benötigen Zeichen, um Ideen und Entdeckungsverfahren an­ zuregen. Ich nenne diese Zeichen „Verfassungszeichen“ (1.). Verfassungszeichen sind zwar meist Legizeichen, weisen aber eine charakteristische ikonische oder indexikalische Objektrelation auf. Symbolisch werden sie erst in der juristischen Diskussion verwendet, sie existieren als Verfassungszeichen vor und außerhalb der Profession. Verfassungen sind keine Erfindung und kein Sondergebiet der da­ mit befassten Verfassungsjuristen, sie sind ein politischer Gegenstand und gehen aus politischen Kämpfen hervor. Verfassungszeichen stehen für Grundrechte und benötigen eine Normendifferenz, um Verfassungsrecht gegen sachliches Recht in Stellung bringen zu können. Wie das geschieht, wird unter (2.) an vier Grup­ pen von Grundrechtsfällen veranschaulicht. Nach Grundrechten mobilisiert ein­ human rights regime das herkömmliche sachliche Recht. Insbesondere über Men­ schenrechte werden Verfassungen – und zwar auch solche, die nicht von Staaten beschlossen, ihnen aber aufgedrängt werden – zu einem Verfahrensdispositiv, mit und ohne Gerichte (3.). Insbesondere die Menschenrechtsverfassung gibt den Stoff für Aufstände her, Aufstände mit Zeichen gegen Zeichen. Manche davon sind lä­ cherlich und ohne Aussicht auf irgendeinen Erfolg, andere sind entsetzlich und verändern die Verfassungen aller Zeichenregimes (4.). Ein Ende des Rechts ist da­ mit nicht erreicht. Es gibt keines. 1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen Es gibt im Recht eine besondere Art symbolischer Zeichen, die historisch durch Kampf und Auseinandersetzung hervortreten. Es sind Zeichen der Macht, die Re­ sonanz beim Publikum haben oder gewinnen sollen. Sie werden hier als „Ver­ fassungszeichen“ vorgestellt. Verfassungszeichen sind meist keine Texte. Verfas­ sungszeichen sind Personen oder Allegorien, Fahnen oder Farben und erst danach Texte, die geschätzt werden sollen, aber noch nichts darüber besagen, was sie kon­ kret bedeuten. Zunächst einmal wird der Staat selbst zu einem Zeichen, man will

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

443

ihn nicht einfach als Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts wahrnehmen, sondern als apostolische Majestät (früher) oder (gestern und heute) als sowjetische, als demokratische oder islamische Republik. Der verfasste Staat gleicht einer Per­ son, und für diese Person wird eine Geburtsurkunde ausgestellt. Sie ist eigentlich die Verfassung, und es fällt Juristen kaum noch auf, wie zeichenhaft das gemeint ist, denn als Verfassung werden solche Urkunden von besonderen verfassungs­ gebenden Versammlungen oder jedenfalls einem Verfassungsgeber verabschie­ det. Eine neue Person wird dabei geschaffen. Darüber hinaus sind es aber vor al­ lem Fahnen, Embleme und Orden, die jede Staatlichkeit auszeichnen, und für die Wertorientierung einen besonderen pragmatischen Ausdruck einführen. Schließ­ lich sind es Verfahren, mit denen festgelegt wird, wer wie lange Macht ausübt. Das ist vermutlich der pragmatisch entscheidende Aspekt für die Qualifikation eines demokratischen Staates, und damit soll begonnen werden. Den Machtwechsel als Verfassungsmerkmal hat zuerst Aristoteles in seiner Politik eingeführt, in der er monarchische und oligarchische von demokratischen Verfassungen unterscheidet. Aristoteles sympathisiert mit einer Regierung durch Wohlhabende und Edle, weil die Herrschaft des Volkes – zumal wenn es arm und ungebildet sei – gefährlich würde. Nur eine mittlere Vermögensverteilung gewähr­ leiste eine halbwegs ordentliche Regierung.1 Als erstes Verfassungszeichen be­ zeichnet Aristoteles dann das Verfahren der Mehrheitsentscheidung, als zwei­ tes – wie Hobbes später auch sagen wird –, dass man leben könne, wie man wolle, Freiheit also.2 Diese sei aber nur möglich, wenn man nicht fortlaufend von den Gleichen regiert werde, sondern abwechselnd von allen, mal regiere man selbst, mal werde man regiert. Freiheit und Machtwechsel oder umgekehrt, Freiheit durch und nach fortlaufendem Machtwechsel  – das sichert die demokratische Verfas­ sung, schränkt die Machtausübung ein und gewährt diesem Verfassungstyp – den Aristoteles im Übrigen durchaus skeptisch sieht – unbegrenzte Dauer. Dauer durch Begrenzung – das ist ein erster grundlegender Index für Verfassungszeichen. Olig­ archische und tyrannische Verfassungen hält Aristoteles für kurzlebig. Sie dauer­ ten solange, wie das Leben des Tyrannen dauere, der die Herrschaft – bei einer gewissen Rechtsbindung – allenfalls noch an erwählte Streitgenossen oder Fami­ lienangehörige übertragen könne. Königsherrschaften dauerten desto länger, je weniger der König zu befehlen habe.3 Er verstetige seine Herrschaft, wenn er mehrere andere oder besser noch: Klassen von anderen groß mache und auf diese Weise den Weg zu einer Adelsoligarchie ebne. Der König gilt dann nicht mehr als Tyrann, sondern als Hausvater und Verwalter von Hab und Gut für die Untertanen. Dennoch versteht Aristoteles auch Königsherrschaften als endlich und begrenzt, weil sie meist in Streitigkeiten der königlichen Familie mündeten. Als fortdauernd erweise sich nur eine demokratische Verfassung, für die Aristoteles als Zeichen die Mehrheitswahl und den Wechsel der Machthaber nennt. 1

Aristoteles, Politik, Buch VI 6 1320 b. Aristoteles (Fn. XII. 1), VI 2 1317 b. 3 Aristoteles (Fn. XII. 1), V 12 1315 a. 2

444

XII. Verfassungen

Das ist eine ausgeklügelte Zweitheit in den Verfassungszeichen, denn – semio­ tisch gesehen  – kommt das Wahlergebnis ebenso von außen ohne Begründung und mit einem Sinn, den sich der Unterlegene erst noch suchen muss, wie auch der Machtwechsel nichts anderes und nicht mehr als ein Index ist. Für sich genommen verspricht er nichts. Recht kommt in dieser Konzeption nur als Wahlrecht vor, und doch ist das ein kostbares, unverzichtbares Recht. Jeder kann mit gleichem Stimm­ gewicht wählen, was für Aristoteles und seine Zeit selbstverständlich heißt, dass jeder männliche Freie dieses Recht ausübt. Dabei erwägt Aristoteles selbst auch das Los als urdemokratische Einrichtung.4 Entschieden werden Sachen nur von der Volksversammlung, nicht von Behörden. Richter kann jeder werden, der dazu gewählt wird, und diese Richter entscheiden dann alles Übrige wie Rechenschafts­ berichte, Verfassungsfragen oder private Streitigkeiten. Sieht man sich um, wann es denn eine solche Staatsverfassung gegeben haben könnte, stößt man unvermeid­ lich auf das athenische Griechenland. Uwe Wesel sieht es in enger Beziehung zur politischen Konzeption des Aristoteles und spricht von einer „erstaunliche(n) Ver­ fassung“, „die dem Willen der – männlichen – Mehrheit viel größeres Gewicht gab als unser Grundgesetz.“5 Wesel lobt das basisdemokratische Verfahren der All­ zuständigkeit, auch wenn jemand wie der rhetorisch überlegene Sokrates zu Un­ recht zum Tode verurteilt wird. Athen als Index demokratischer Verfassung – das ist auch heute noch ein wiederkehrender Topos, meist verbunden mit der Bemer­ kung, wegen der gewachsenen Anzahl teilnehmender Menschen könne eben nicht mehr die Volksversammlung entscheiden. In der historischen Entwicklung hat Aristoteles nicht Recht behalten. Die de­ mokratische Verfassung hat sich nicht als die dauerhaftere gegenüber Tyrannis, Königtum und Aristokratie erwiesen. Im Gegenteil blickt man  – von heute aus und fern vom Gottesgnadentum gesehen – auf zweitausend Jahre nicht legitimier­ ter Herrschaft einzelner zurück, wobei dem Königtum zugute zu halten ist, dass gerade die Willkürlichkeit der Herrschaft zum Symbol für ein langes Leben ge­ worden ist. Ich nenne dies das Kaiser-Franz-Josephs-Syndrom. Gerade weil der Verbleib der Herrschaft in einer Familie als öffentlicher Privatsache auf Will­ kür beruhte, wirkte deren Verstetigung wie ein übergreifendes, mediatorisches Rechtsverhältnis. Der Kaiser als Mediator bezog sein Mandat aus der Funktion, die eine Vermittlung im Streit erfordert. Das entsprach zwar nicht seinem Selbst­ verständnis als Apostolische Majestät, ergab sich aber aus dem konstitutionellen Wandel des Staatsverständnisses im 19. Jahrhundert. In den 68 Jahren der FranzJosephs-Zeit (1848–1916) war der Staat von der nationalen Krankheit infiziert, die man im vermeintlich national reinen deutschen Reich ebenso wenig wie in Frank­ reich oder Großbritannien hat sehen können. Als seit 1861 amtierende Volksver­ sammlung hat der österreichische Reichsrat Entscheidungen nicht treffen können und ist für Nichtbeschäftigte am Rande des sozialen Lebens wie Hitler das Ge­ 4

Aristoteles (Fn. XII. 1), VI 3 1318 a. Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), 124 (Rdz. 108).

5

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

445

genbild für Politik geworden. Der Staat war Person, nämlich die Person des Kai­ sers Franz Joseph. Das definitive Ende des Königtums hat erst dieser selbst durch den unverzeihlichen Fehler herbeigeführt, Krieg erklärt und damit die Mediato­ renrolle verlassen zu haben. Aus heutiger Sicht sieht jedenfalls nicht nur die FranzJosephs-Zeit, sondern auch das vorhergehende alte Reich historisch anders und in der Einschätzung besser aus als in den ersten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen die einen Selbstwiderspruch, Unterdrückung und Unhaltbarkeit als Merk­ male des Königtums hervorgehoben und die anderen eine noch verderblichere Überführung in eine Diktatur gepriesen haben. Historisch-theoretisch hat sich ge­ zeigt, dass Macht und Herrschaft auch dann eine lebensfähige Ordnung herstel­ len, wenn die normative Legitimation fehlt. Es war gut so, wie es war, auch wenn es nicht gut war – diese paradoxe Fundierung kann man modern nicht vorurteils­ loser als mit Thomas Hobbes entdecken. Für die Theoriegeschichte hat Werner­ Gephart diese Linie von Hobbes über Max Weber zu Talcott Parsons nachgezeich­ net.6 Die Theoriegeschichte des Verfassungszeichens beginnt modern mit Hobbes. Vor allem beginnt mit Hobbes die Personwerdung des Staates. Menschliche Fi­ guren bilden die Umrisse des Staatskörpers und formieren einen „Kompositkör­ per“.7 Der Leviathan ist ein Kupferstich und repräsentiert als Bild ikonische neben indexikalischen und symbolischen Bezügen. Als Ikon ist der Leviathan natürlich keine wirkliche Person, sondern eine vorgestellte, mögliche  – F ­ riedrich ­Müller besteht auf „Apparat, nicht Person.“8 Materiell gesehen trifft beides nicht zu. Das Zeichen steht für etwas, und auch Apparate funktionieren nicht von allein, son­ dern brauchen vorläufig von Menschen konstruierte Programme. Aber Müller meint auch etwas anderes: „einen Selbstlauf, wie durch kinetische Energie.“9 Im Ikon wird der staatliche Selbstlauf anschaulich. Horst Bredekamp hat den Levia­ than mit der notwendigen kunsttheoretischen Interpretation als „Urbild des mo­ dernen Staats“ vorgestellt.10 Man sieht einen – je nach Betrachtungsweise – furcht­ erregenden und angsteinflößenden oder täppisch bis gemütlichen Körper, genauer: Oberkörper, der sich mit Schwert und Zepter hinter dem Horizont einer Stadt und Landschaft erhebt, die im Vordergrund auf der linken Seite in fünf kleinen Bil­ dern die Insignien der Macht (aufsteigend: Schlachtfeld und Armee, Fahnen, Ka­ none, Krone und Burg) und auf der rechten ebenfalls in fünf Bildern die Zeichen des kirchlichen Glaubens präsentiert (absteigend: Dom, Bischofstiara, die Bann­ strahlen der Exkommunikation, der Dreizack des logischen Syllogismus bis zum bischöflichen Konzil). Offenbar sind Armee und Kirche die beiden Säulen staat­ licher Macht. Hobbes will Regierungsphilosoph sein und dient seine Konzep­ 6 Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1993, 21. 7 Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651–2001, 3. Aufl., Berlin 2006, 76. 8 Müller, Syntagma (Fn. III. 33), 155. 9 Müller, Syntagma (Fn. III. 33), 225. 10 Bredekamp (Fn. XII. 7), 11–31.

446

XII. Verfassungen

tion des Leviathans – zuerst im Jahre 1651 in London erschienen – den Macht­ habern an, hat aber damit keinen dauernden politischen Erfolg. Hobbes konstruiert und rekonstruiert Staat und Kirche, die sich zeitgenössisch nach wie vor als gott­ gegeben und insofern auch unerforschlich verstanden sehen wollten. Alsbald stand das Buch zusammen mit Spinozas politisch-theologischem Traktat auf dem Index verbotener Literatur. Es weckt bis zum heutigen Tage Widerwillen, ist aber doch von bleibendem theoretischen Interesse. Hobbes setzt fort, was 140 Jahre zuvor Niccolo Machiavelli (1513 mit „Il Principe“) begonnen hat. Das Recht ist keine göttliche Emanation mehr, es soll nützlich sein und dient der staatlichen Macht, aber – gerade weil es dient – gibt es einige Merkmale, auf die ein Machthaber, der seine Macht bewahren will, nicht verzichten darf. Das sind die natürlichen Rechte oder – wenn man so will – „Grundrechte“. Grundrechte gehen dem Staat oder der Staatsperson voraus, weshalb sie inner­ halb staatlicher Organisation beachtet werden sollten. Ansonsten könnte es dem Staat schlecht bekommen (Kap. XII. 2.). Wenn man jenseits von Hobbes auf an­ dere Verfassungskonzeptionen sieht, dann fällt freilich auf, wie sehr der angeb­ liche Vorrang des Staates den Inhalt möglicher Grundrechte bestimmt. Rousseau, der die volonté générale als gesetzgebende Kraft hervorhebt, kümmert sich nicht wesentlich um die Rechte derjenigen, die sich im Ergebnis der allgemeinen Gesetz­ gebung nicht wiederfinden. Individuelle Rechte treten gegenüber den wirklich im Allgemeininteresse gedachten Gesetzen immer zurück.11 Für diejenigen, die we­ niger Zutrauen in die Vernunft staatlicher Organe haben, heißt das: Es ist zu ge­ horchen (auch wenn wir es – nach Möglichkeit – nicht tun). Insofern unterscheidet sich Rousseau nicht sonderlich von Hobbes, von dem die Formel über „Recht und Ordnung“ stammt. Kein Recht ohne Ordnung! Hobbes wusste, wovon er im Eng­ lischen Bürgerkrieg sprach. Am Anfang jeden Rechts steht der Aufruf zur Ord­ nung oder in der Begrifflichkeit des Leviathans: Recht verlangt den Abschied vom „Naturzustand“.12 Es gibt jedem Einzelnen eine Verfassung und deren Macht be­ drängt und zwingt auch jeden Einzelnen, bedeutet aber im Sinne der Hobbes’schen Konzeption Sicherheit für die eigene Existenz. Das ist entscheidend. Der staat­ lichen Schutzpflicht entspricht deshalb bürgerlicher Rechtsgehorsam.13 Nun ist die Gewalt des Leviathans keineswegs unbeschränkt, unbeschränkt ist nur die Gesetzlichkeit des Staates. Es gilt, was der Machthaber anordnet, aber er sollte nicht anordnen, was als natürlich bezeichneten Regeln widerspricht  – im eigenen Interesse.14 Diese Regeln entsprechen nicht ohne Weiteres den Inhalten, die in einem viel verwendeten Attribut als „naturrechtlich“ zusammengefasst wer­ den, und es sind auch nicht einfach die wirklichen positiven Inhalte des Gesetzes, 11 Friedrich Müller, Entfremdung. Folgeprobleme der anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, 2. Aufl., Berlin 1985, 27. 12 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XIII, 102. 13 Erhard Denninger, Der gebändigte Leviathan, Baden-Baden 1990, 437. 14 Burkhard Tuschling, Die Idee des Rechts: Hobbes und Kant, in: Dieter Hüning/ders. (Hrsg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin 1998, 85–117.

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

447

sein Wortlaut, der bindet. Es sei – findet Hobbes im 26. Kapitel des „Leviathan“ – nicht „jene juris prudentia oder Weisheit untergeordneter Richter, die das Ge­ setz ausmacht, sondern die Vernunft unseres künstlichen Menschen, des Gemein­ wesens, und sein Befehl.“15 Dieses Gemeinwesen soll mit einem „Naturgesetz (lex naturalis)“ regiert werden, dessen Bestandteile Hobbes im Einzelnen angibt. Münkler zeigt, dass Hobbes diesen Gedanken vor der Niederschrift des „Levia­ than“ in noch größerem Maß betont hat.16 Zum Naturgesetz des Leviathans gehört immerhin die Goldene Regel, wonach jedermann bereit sein solle, dem „Recht auf alle Dinge zu entsagen und mit so viel Freiheit gegen andere zufrieden zu sein, wie er anderen gegen sich selbst zugestehen würde.“17 Das ist nur insofern von Kant entfernt, als nicht jeder Einzelne prüfen darf, was der Goldenen Regel entspricht. Aber aus ihr leitet Hobbes Vertragspflichten ab (pacta sunt servanda), Dankbar­ keit, Geselligkeit, Vergebung, Respektgebote gegen andere und schließlich eine ganze Anzahl von Verfahrenspflichten.18 Man solle sich dem Urteil eines Schieds­ richters unterwerfen, dabei nicht Richter in eigener Sache sein wollen, dann müsse der Schiedsrichter auch unparteilich sein und dürfe nicht den Anschein der Befan­ genheit erwecken. Dafür sei er frei in seiner Beweiswürdigung, weil ansonsten die wesentliche Frage, welchem Menschen man Glauben schenken könne, „der Ge­ walt überlassen“ bleibe.19 Das sind Verfahrensgebote von erstaunlicher Genauig­ keit, die bis zum gegenwärtigen deutschen Grundgesetz verfolgt werden können. So wie Hobbes dem Richter Beurteilungsfreiheit zuerkennt, so besteht er gleich­ zeitig auf der uneingeschränkten Macht des Souveräns als Leviathan. Im 29. Ka­ pitel wird es als wesentliche Schwäche eines Gemeinwesens bezeichnet, „daß sich ein Mann, um ein Königreich zu erlangen, zuweilen mit weniger Macht be­ gnügt, als für den Frieden und die Verteidigung des Gemeinwesens unbedingt er­ forderlich ist.“20 Es folgen eine Anzahl von Verboten, die Hobbes den antiaufklä­ rerischen Stempel aufgedrückt haben. Denn zu den Krankheiten zählt Hobbes das „Gift aufrührerischer Lehren“, die jedermann zum Richter über eigene Taten machten oder es zur Sünde erklärten, „gegen sein Gewissen“ zu handeln.21 Ge­ waltenteilung, unantastbares Eigentum gegenüber dem Souverän und Gesetzes­ bindung für Inhaber der souveränen Macht – das sind alles Krankheiten, die den Staat schwächen. Ihm zu dienen, ist das Recht da. Diese Perspektive ist modern, wenn auch nicht beliebt. Gegen die staatliche Macht gewendet werden die bei Hobbes nur anklingen­ den Freiheitsgarantien erst am Vorabend der Revolution. Rückblickend gesehen ist Jean-Jacques Rousseau zum Stichwortgeber für die Französische Revolution 15

Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XXVI, 228. Herfried Münkler, Thomas Hobbes. Eine Einführung, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, 124. 17 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XIV, 108. 18 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XV, 126–131. 19 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XV, 132. 20 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XXIX, 272. 21 Hobbes, Leviathan (Fn. IX. 20), Kap. XXIX, 274. 16

448

XII. Verfassungen

geworden so wie Karl Marx der für den russischen Umsturz ausgebeutete Autor. Rousseau hat das aufklärerische und umstürzlerische Programm für die Rechte des Menschen in den Eingangssätzen des Contrat Social unübertroffen formu­ liert: „L’homme est né libre, et partout il est dans les fers. Tel se croît le maître des autres qui ne laisse pas d’être plus esclave qu’eux. Comment ce changement s’est-il fait?“22 Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Der eine dünkt sich Herr der anderen und ist doch mehr Sklave als jene. Wie ist dieser Wandel zu­ standegekommen?23 Die Frage nach dem „Wie“ verweist auf den semiotischen Verdacht. Hinter dem Elend steckt etwas anderes, es bedeutet etwas, das nur durch einen Interpretations­ prozess entwickelt werden kann. Die Interpretanten dieses Prozesses fördern die Freiheit als Verfassungszeichen zutage, wenn auch nur als gedachtes und gefühltes ikonisches Zeichen: Der Mensch ist frei, er kann und soll sich selbst bestimmen; staatliche Macht kann diese Selbstbestimmung nur sichern, ansonsten stört sie. Das Zeichen moderiert eine fortschrittliche Darstellung des Geschichtsverlaufs und gehört – seitdem Rousseau es formuliert hat – zum Vorrat aller freiheitlichen Verfassungen (und auch die anderen nichtfreiheitlichen wagen es nicht, das Zei­ chen von Freiheit und Gleichheit einfach abzuschaffen). Dabei ist Rousseaus Frei­ heitsprojekt trotz aller Erziehungsschriften dieses Vordenkers (der freilich seine eigenen Kinder ins Waisenhaus hat übermitteln lassen) nicht individualistisch. Die Freiheit des Einzelnen soll durch den Willen aller verwirklicht werden, durch jene berüchtigt gewordene volonté de tous, die 30 Jahre nach dem Erscheinen des „Contrat Social“ die terreur legitimiert hat. Fest steht, dass die Befreiung von den Ketten nicht allein von demjenigen bewerkstelligt werden kann, der sie trägt. Dazu braucht man viele, und die gewinnt man nur durch Verfassungszeichen. Der Inter­ pretant ist dabei negativ und beseitigt Bestehendes. Jede Revolution sei ein Zei­ chen für das Versagen des alten Rechtssystems, liest man in Bermans vergleichen­ der Studie der westlichen Rechtstradition.24 Der andere Interpretant setzt Namen wie etwa die von Freiheit und Gleichheit, und dahinter verbergen sich die revo­ lutionären Akteure. Die ab jetzt geltende Verfassung, mit der die konkreten Ket­ ten abgeworfen werden, wird proklamiert von jenen, die Macht wollen, wenn sie „Recht“ sagen. Aber man will nicht mehr einfach nur Macht. Das konnten sich nur Könige leisten, solange sie andere glauben machten, es sei Gott, der sie er­ wählt und bestellt habe. Neuzeitlich und demokratisch entsteht ein neuer Kanon mit eigener poetischer Ausdrucksweise. Er beginnt mit der amerikanischen Un­ abhängigkeitserklärung von 1776, die in ihrer Präambel Gleichheit, Freiheit und darüber hinaus auch noch das Streben nach (individuellem) Glück als selbstver­ ständlich voraussetzt: 22 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique (Amsterdam 1762), zit. n. d. Ausgabe Paris 1966, 41. 23 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. v. H. Brockard, Stuttgart 1977, 5. 24 Berman (Fn. V. 27), 45.

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

449

„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness.“

Er reicht in die Erklärung der französischen Nationalversammlung im Jahre 1789, deren Verfassung mit einem Art. 1 beginnt, der Rousseau gewissermaßen zitiert: „Les hommes naîssent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.“

bis hin zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN im Jahre 1948, die wie die amerikanische Verfassung mit der Präambel anfängt: „Whereas recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world, …“

Es gibt also einen Index der modernen geschriebenen Verfassung, der auf die Sememe „frei“ und „gleich“ oder besser: equal und liberty oder inalienable rights of all members of the human family hört. Damit ist keineswegs geklärt, was die Autoren solcher Erklärungen damit pragmatisch verbinden. Freiheit und Gleich­ heit gehören als Index zusammen und stehen in und vor jeder Verfassung. Wer et­ was „Verfassung“ nennt, muss Freiheit und Gleichheit erwähnen. Die Virginia­ Declaration of Human Rights ist nur die erste solcher Erklärungen, die ein solches Verfassungszeichen begründet. Das geschieht in einer Weise, die das in Kraft zu Setzende als schon bestehend vorstellt. Das neuzeitliche, juristische Modell ent­ spricht nicht dem Konzept performativer Handlungen nach dem Modell: Ich ver­ spreche dir, morgen zu kommen. Die Verfassungserklärung verändert die Gegen­ wart, indem sie Faktoren beseitigt, die bis dahin selbstverständlich galten, so wie die amerikanischen Siedler der englischen Krone steuerpflichtig waren und ihre Machthaber von dort eingesetzt sahen. „Politik des Eigennamens“ nennt Derrida diesen Akt,25 in dem das Rechtszeichen inhaltliche Bedeutung erhält und eine vom Verfahren legitimierte Prozesshaftigkeit gewinnt. Es hat eine Bedeutung, die erst noch in Zukunft herzustellen ist. Weit geht die Verwirklichung erst einmal nicht. Im Jahre 1789 erscheint das all­ gemeine Verfassungsrecht des Menschen noch ziemlich leer, und in dem Moment, in dem der Kriegsherr Napoleon die Leere mit Staaten füllt, verliert es alle herr­ schaftsgefährdenden Wirklichkeitsmomente. Es wirkt aber doch weiter, obwohl die mit einer ganz anderen Semantik ausgestatteten Alliierten von 1815 alles an­ dere als Freiheit und Gleichheit im Sinne hatten. Die Wiener Bundesakte enthält nur noch einen Satz, der aber trotz allem zum Treibsatz für eine andere Ordnung werden sollte: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständige Verfassung stattfinden.“ 25 Jacques Derrida, Otobiographies. L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris 1984, 19 f.

450

XII. Verfassungen

Dieser Art. 13 der Bundesakte wird in Art. 55–59 der Schlussakte so konkre­ tisiert, wie es der herrschende Zeitgeist des beginnenden 19.  Jahrhunderts für angemessen befindet. Gleichheit wie Freiheit verschwinden aus dem Zeichen­ repertoire, und es wird in Art. 55 ins Belieben der Fürsten gestellt, „diese innere Landes-Angelegenheit mit Berücksichtigung sowohl der früherhin gesetzlich be­ standnen ständischen Rechte, als der gegenwärtig obwaltenden Verhältnisse zu ordnen.“ Da ist kein Rousseau-Text mehr enthalten, aber die bereits verbreitete Semantik beginnt dennoch zu wirken. Die Geschichte der Verfassungsentwick­ lung von 1815 bis 1918 wird vom Kampf um das allgemeine Wahlrecht und um fundamentale Freiheitsrechte beherrscht.26 Das nächste in Erinnerung gebliebene Datum ist die Verfassung, die eine gewählte deutsche Nationalversammlung 1849 in Frankfurt a. M. beschlossen hat. Im 6. Abschnitt und damit am Ende der Ver­ fassung sind die Grundrechte des deutschen Volkes enthalten, die in § 137 Abs. 2 mit dem Satz beginnen: „Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“

§§ 137–189 sind einzelnen Grundrechten gewidmet, wobei die Freiheit der Per­ son einschließlich des Schutzes vor Verhaftung ohne richterliche Anordnung in moderner Weise geregelt werden; hinzu kommen die Unverletzlichkeit der Woh­ nung, Briefgeheimnis, Pressefreiheit, Glaubens- und Religionsfreiheit, Berufs­ freiheit, Eigentumsgewährleistung unter Aufhebung grundherrlicher Befugnisse sowie das staatliche Gerichtsprivileg. Diese Verfassung ist jedenfalls für die wei­ tere Zeichenentwicklung in Deutschland ein Vorbild geworden, auch wenn sie nie­ mals in Kraft trat. Ihre Interpretanten begründeten ein Zeichen, das bis 1918 fort­ wirkte, nämlich den durch Wahlen gebundenen, für Aufsteiger offenen, rechtlich umgrenzten bürgerlichen Klassenstaat.27 Nach dem Urteil der Historiker war sie schon zum Zeitpunkt ihres Beschlusses im März 1849 nur noch ein Zeichen, und historisch heißt das: ohne Handlungskonsequenz. Zwingend war das nicht, wenn man mit Rousseau und vor allem mit Hegel geglaubt hat, dass dialektische Re­ flexion den geschichtlichen Prozess in Gang bringt und entwickelt. Aber es wäre auf revolutionäre Gewalt angekommen, darauf, dass nicht Abgeordnete, sondern Heerführer die bestehenden deutschen Staaten aufgelöst und in einen rechtlich beschlossenen neuen Verfassungszustand gezwungen hätten.28 Es fehlten dem­ Leviathan beide Säulen. Vielleicht war die Kirche gar keine mehr nach dem Zeit­ alter der Aufklärung, aber die Armee war es umso mehr. Stattdessen setzte die Verfassung von 1849 auf freiwillige Fügung, wenn sie in § 2 unglücklich damit begann, die bestehenden Staaten in deutsche und „nicht­ deutsche“ Bestandteile derart aufzulösen, dass ein deutsches Land, das mit einem nichtdeutschen Lande dasselbe Staatsoberhaupt habe, für den deutschen Lan­ 26

Wesel, Geschichte des Rechts (Fn. IV. 110), Rdnr. 271, 422. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. II 1815–1845/49, München 1987, 719. 28 Wolfgang J. Mommsen, 1848. Die ungewollte Revolution, Frankfurt a. M. 1998, 281. 27

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

451

desteil eine getrennte eigene Verfassung hätte haben sollen. Daran dachte nie­ mand, weder der österreichische Kaiser noch der preußische, englische, dänische oder niederländische König, noch dachten daran die „nichtdeutschen“ Bewoh­ ner dieser Länder. Stattdessen entdeckten die Tschechen im Jahre 1848, dass es des österreichischen Kaisertums unbedingt bedürfe und dieses nicht in einem ir­ gendwie gearteten Deutschland aufgehen dürfe. Das Verfassungszeichen gerät in Deutschland mit dem nationalen Anspruch in Konflikt, was zeitgenössisch schon erstaunlich war, wenn man bedenkt, dass erst die deutsche Nationalbewegung die Verfassungsfrage mit ihren Freiheits- und Gleichheitsansprüchen auf den Weg ge­ bracht hat. Es waren die antinapoleonischen Freiheitskrieger, die frühe Studen­ tenbewegung mit ihren schwarz-rot-goldenen Burschenschaften, es war das soge­ nannte „Junge Deutschland“, das Freiheit und Gleichheit forderte und damit in den Bannkreis der Metternichschen Demagogenverfolgung geriet. Mit dem Jahre 1848 wurde das Junge Deutschland alt, das nationale Großmachtstreben richtete sich auf etwas anderes als demokratische Zeichen und wurde von Machthabern vertre­ ten, denen die lebenden Demokraten nicht mehr über den Weg trauten. Mit dem Abgeordneten Robert Blum wurde am 10. November 1848 ein Mensch widerrecht­ lich hingerichtet und gleichzeitig ein Zeichen ausgelöscht. Vorangegangen war der bewaffnete Versuch, die kaiserliche Armee, die mit dem Hof Wien im Oktober 1848 verlassen hatte, von der Hauptstadt fernzuhalten. Dieser Versuch, unterstützt von Blum, scheiterte. Gescheitert war auch eine gleichzeitige Audienz des libera­ len Juristen und ehrenwerten Vertreters der philosophischen Anerkennungslehre, Karl Theodor Welcker, bei Hof im mährischen Olmütz. Gegen den ohnmächti­ gen Protest der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wurde Blum nach schändlich mangelhaftem Verfahren erschossen29 und damit die bis dahin gültige Verbindung von schwarz-rot-goldener, gesamtdeutscher und demokrati­ scher Nation und Verfassung aufgelöst. So war es auch gewollt,30 und was blieb, war der zeichenhafte Spruch „Erschossen wie Robert Blum“.31 Die Farben der (National-)Flagge werden in der Folge zu einem Index für alle künftigen Verfassungszeichen – nicht nur für die deutschen, aber in Deutschland wird 100 Jahre lang bis zum Massenverbrechen nach 1933 deutlich, was zuvor in Frankreich zwischen der Trikolore und der Bourbonenlilie am Rande auch ausge­ tragen worden ist. Mit Farben und eigentlich inhaltslosen Zeichen werden Interpre­ tationen gemacht. Interpretanten drängen sich auf, gerade dann, wenn einer sagt, das Farbenspiel sei doch „ganz einerlei“, die Fahne könne grün und gelb sein oder von Mecklenburg-Strelitz stammen.32 Berichtet und nach wie vor viel zitiert wird 29

Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960, 717–720. 30 Kurt Kersten, Die deutsche Revolution 1848–1849, Frankfurt a. M. 1955, 247. 31 Thorsten Maentel, Robert Blum: Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein!, in: Sabine Freitag (Hrsg.), Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deut­ schen Revolution 1848/49, München 1999, 134–145 (145). 32 Bernhard Wördehoff, Flaggenwechsel. Ein Land und viele Fahnen, Berlin 1990, 51 f.

452

XII. Verfassungen

dieses Diktum von Bismarck, dem die Farben keineswegs einerlei waren und der dabei durchaus Interpretationseifer gezeigt hat. Denn Schwarz-Rot-Gold waren ihm, dem erklärten zeitgenössischen Gegner der Revolution des Jahres 1848, gänz­ lich zuwider und schieden als solche aus, übernommen wurde gleichwohl die An­ ordnung von drei Farben in einer Trikolore, in der Schwarz und Weiß die preußi­ schen Farben, Rot und Weiß Farben der Hansestädte waren. Daraus ergab sich die Flagge für die Handels- und Kriegsmarine des norddeutschen Bundes von 1866, in dessen Bundesverfassung (Art. 55) sie als Schwarz-Weiß-Rot bestimmt worden ist. Diese schwarz-weiß-rote Trikolore erscheint dann als Zeichen für den Sieg auf Adolph von Menzels Bildern aus dem Jahre 1871; sie wird 1892 durch kaiserliche Regierungsverordnung zur Bundesflagge erklärt. Was Index war, wird nach und nach durch fortlaufende zweifelhafte Interpretationsanstrengungen zum umkämpf­ ten Symbol. Mit Schwarz-Weiß-Rot verbinden sich als Symbol nicht mehr die Interpretanten von Freiheit und Gleichheit. Schwarz-Weiß-Rot ist Index für den Sieg, es steht für den Leviathan des Kaisers und der Armee, der die Kirche, ins­ besondere die katholische und ihre parlamentarischen Verbündeten nicht mehr braucht. Das führt zu einer fatalen Alternative. Schwarz-Rot-Gold wird – ohne dass seine Befürworter es so gewollt hätten – zum Index der Niederlage. Die Reichsver­ fassung von 1919 erklärt diese Farben nach dem Untergang des Kaiserreichs zu den Reichsfarben. Eigentlich suchten die republikfreundlichen Abgeordneten der So­ zialdemokratie und des linken Liberalismus Anschluss an die Tradition von 1848, aber das Symbol entfacht andere Interpretanten. Ein erbitterter Flaggenstreit ent­ steht, „Schwarz-Rot-Mostrich“ oder „Schwarz-Rot-Hühnereigelb“ wird zum Ge­ spött einer lautstarken Minderheit, der das Reichsgericht trotz einer Verordnung zum Schutz der Republik aus dem Jahre 1922 und ungeachtet einer Strafbestim­ mung in deren § 5 nicht entgegentrat.33 Zum Symbol der republikfeindlich, frei­ heitsverächtlich und natürlich gleichheitsverachtend eingestellten „Deutsch-Natio­ nalen“, insbesondere der Deutschnationalen Volkspartei, wird Schwarz-Weiß-Rot. Eine „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ besorgt den nazistischen Schlägern und Verbrechern in den Wahlen des Jahres 1933 die Mehrheit für die „Machtergrei­ fung“ und stellt sich für Inszenierungen wie die angebliche Versöhnung zwischen konservativem Preußentum und Nationalsozialismus beim „Tag von Potsdam“, dem 21. März 1933, zur Verfügung. Damit verschwanden dann Schwarz-Rot-Gold ebenso wie Schwarz-Weiß-Rot (das seit der Flaggenverordnung des Reichskanz­ lers Luther aus dem Jahre 1926 schon neben die eigentliche Reichsflagge getre­ ten war).34 Nach 1933 ersetzte das Hakenkreuz die strukturierte Verfassung, denn nach den historischen Befunden waren nicht nur Wahlen oder die Möglichkeiten des Regierungswechsels abgeschafft, sondern auch die seit 1815 langsam, aber nach 1870 dann doch anerkanntermaßen vorhandenen Verfahrensformen eines Verfas­ sungsstaats ausgesetzt. 33

RG JW 1929, 1148 (Urt. v. 15.1.1929 – 1 D 1237/28). Peter Reichel, Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945, München 2005, 27.  34

1. Verfassungszeichen: Bilder, Texte, Fahnen

453

Die Farbenentwicklung korrespondiert nicht nur in Deutschland mit einer Ver­ änderung in der Semantik leitender Begriffe und mit anderer Pragmatik im poli­ tischen Handeln. Mit der Wiederkehr von Schwarz-Rot-Gold im Jahre 1949 kehrt eine inhaltlich bedeutsame Verfassung wieder, und zwar mit einer signifikanten Umstellung. Während in den Reichsverfassungen von 1849 und 1919 zunächst die Staatsorganisation und dann die Grundrechte geregelt waren, stellt das Grund­ gesetz die Textmengen um. Nun sind es Art. 1–19, die den Grundrechtsteil enthal­ ten, der am Anfang steht, und es folgen alle weiteren Bestimmungen und Vereinzel­ ungen der Staatsorganisation. Man wird die verfassungspraktische Topik nun nicht einfach so verstehen können, dass das, was am Anfang steht, immer auch das Wich­ tigste sei. Entscheidend wurde für die (west-)deutsche Entwicklung das veränderte Justizdispositiv, also die Verfahrensform der Verfassung. Für den Grundrechtsteil gibt es seit dem Jahre 1951 ein eigenes besonderes Gericht mit einer Verfahrensord­ nung, die den Antrag von jedermann möglich macht. Ein solches Jedermann-Recht gehörte zum Gründungskonsens für die Bundesrepublik. In der darauffolgenden Verfassungsentwicklung geschieht allerdings etwas, für das nur die Rechtspre­ chung des Supreme Court ein Vorbild geben kann. Ein Gericht wird als politisch freies Verfassungsorgan an die Spitze der Justiz gestellt.35 Damit wird das Rechts­ programm von einer Gesetzesbindung auf die Einschätzung der Angemessenheit von Ansprüchen umgestellt, eine freie Abwägung, auch wenn insofern niemand von Freiheiten reden möchte und allenfalls „Vagheit“ zugestanden werden kann.36 Die Ergebnisse in den letzten fünfzig Jahren lassen an die Renaissance einer Semantik von Freiheit und Gleichheit glauben. Man muss nun nicht mehr von Anfang an fragen, wozu jemand verpflichtet ist, der sich in einer bestimmten Lebenslage befindet; stattdessen gestatten es Freiheitsrechte, ein Verbot als Aus­ nahme von einer grundsätzlich gewährten und grundrechtlich garantierten Hand­ lungsfreiheit zu verstehen. Jede Einschränkung soll sich rechtlich begründen las­ sen. Gleichheitsansprüche entstehen in der politischen und sozialen Neuordnung des Geschlechterverhältnisses nach dem Weltkrieg. Im Jahre 1957 wird mit der „Gleichberechtigung“ die rechtliche Gleichstellung der Frau im Zivilrecht eta­ bliert. Es ist nicht mehr der Ehemann, der letztlich für die Familie zu entscheiden hat, das Vermögen der Frau bleibt von dem des Mannes getrennt, und es herrscht Zugewinngemeinschaft, väterliche Vorrechte bei der Kindererziehung verschwin­ den. Alles dies war erst der Beginn einer Entwicklung, die seitdem zu beobachten ist. Freiheit und Gleichheit beseitigen zwar das Pflichtenverständnis nicht, drän­ gen es aber juristisch zunächst einmal in den Hintergrund. Alles, was der Person etwas zu tun gebietet und Handlungen von Personen einschränkt, wird zugleich als Ausprägung eines Rechtszeichens aufgefasst, für das andere Zeichen eintreten 35 Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, 43–107. 36 Positiv notiert von: Friedemann Vogel/Ralph Christensen, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, in: Friedrich Müller/Philippe Mastronardi (Hrsg.), „Abwägung“. Herausforderung für eine Theorie der Praxis, Berlin 2014, 87–129 (104).

454

XII. Verfassungen

können.37 Denn rechtlich heißt, eine Handlung als frei und gewollt interpretieren zu können, wenn nicht besondere Umstände auf Zwang, Geisteskrankheit oder Täuschung hinweisen. Damit wird dem Rechtszeichen eigentlich erst eine praktische Bedeutung ver­ schafft. Der Gedanke eines freiheitlichen, Gleichheit gewährenden und beanspru­ chenden Rechtszeichens breitet sich erst langsam aus und ist theoretisch wie prak­ tisch nicht ohne Weiteres einsichtig. Da das Rechtszeichen methodisch (Kap. I. 1.) überall, nur jeweils in anderer Ausprägung – ikonisch, indexikalisch oder sym­ bolisch (Kap. II. 1.–3.) – auftritt, bedarf es zwar keiner Verfassung, um davon zu sprechen. Einer Verfassung bedarf es aber, um staatlich zu realisieren, was Frei­ heit und Gleichheit meinen und dem Zeichen ein Dispositiv seiner Verwirklichung zur Verfügung zu stellen. Dazu genügt eigenes Nachdenken (nach und mit Kant) nicht mehr. 2. Grundrechte Zwar ist alles Recht Zeichen, aber es ist Zeichen nicht auf die gleiche Weise. Die meisten Rechtszeichen sind Legizeichen, weil sie es mit habitualisierter Dritt­ heit zu tun haben, und viele davon, aber keineswegs alle, vielleicht noch nicht ein­ mal die meisten sind symbolisch-argumentativer Art.  Sie repräsentieren also in der Objekt- und in der Interpretantenbeziehung nicht Drittheit, sondern Erst- oder Zweitheit. Legizeichen müssen nicht begründet werden, sie können – wie man so sagt – aus dem Bauch heraus interpretiert werden, man kann sie auch messen. Un­ ter Juristen haben beide Praktiken keinen guten Ruf. Gefühlsbetonte Interpreta­ tion gilt als das Gegenteil des Rechts, und wenn es etwas zu messen gibt, dann darf man überlegen, wie man die Ergebnisse uminterpretiert. Immerhin lehrt die Peircesche Zeichenklassifikation, dass es rhematische und dicentische Legi­ zeichen gibt (Kap. II. 1.). Praktisch heißt das, dass als zwingend oder unwiderleg­ lich sich aufdrängendes, als nötigend empfundenes Recht keine fachlich aufschie­ bende, reflexive Formierung verträgt. Es gibt Gefühle gegen Gesetze ebenso, wie es von außen imponierende Zwänge gibt oder schließlich gefühlsauslösende, von außen gebietende Einflussnahme. Es gibt also unter den Rechtszeichen Sonderfor­ men der Legizeichen, die auf den Umgang mit anderen Rechtszeichen einwirken. Wenn man auf die Klassifikation sieht, wie Peirce sie entwickelt hat, kann man von dicentisch-indexikalischen, von rhematisch-ikonischen wie auch von rhema­ tisch-indexikalischen Legizeichen reden, also von Zeichen der 5.–7. Klasse. Juris­ tisch besser bekannt sind sie als Grund- und Menschenrechte. Mit Grundrechten ist zu beginnen, weil sie schon in den ersten Verfassungen als solche enthalten sind. In semiotischer Betrachtung sind Grundrechte imperfekt. Sie sind weder in ihrer Klassifikation vollständig, noch in der Definition erschöp­ 37

Simon (Einl. Fn. 3), 293 f.

2. Grundrechte

455

fend bezeichnet, soweit konkrete Bezeichnung überhaupt von Normen erwartet werden kann. Der Katalog der Grundrechte ist grundsätzlich erweiterungsfähig, und es muss auch im Moment der Anwendung nicht behauptet werden, man würde den vollständigen Anwendungsbereich kennen.38 Rhematisch in der Interpretan­ tenbeziehung ist ein Zeichen, wenn die Zeichenverwendung auf einem individu­ ellen Impuls beruht, der in Satzform oder als Argument noch nicht entwickelt ist bzw. erst noch entwickelt werden muss. Wenn seit einer Entscheidung des Bundes­ verfassungsgerichts aus dem Jahre 198339 von einem Grundrecht auf informatio­ nelle Selbstbestimmung die Rede ist, dann beruht dieser Index zunächst einmal auf einem Gefühl, das verlangt, konkrete Datenverwendungen an Wissen und Zu­ stimmung desjenigen zu binden, auf den sich eine Information bezieht. Wie und in welchem Umfang das geschehen soll, darüber herrschen die unterschiedlichsten Vorstellungen. Vor 50 oder 70 Jahren bei Beratung des Grundgesetzes konnte ein solches Grundrecht nicht thematisiert werden, weil es die Speichermedien, um die es heute geht, nicht gab, und außerdem tauchte auch das Gefühl des Missbrauchs erst durch die massenhafte Datenverwendung im Netzbetrieb auf. Vor 150 oder 200 Jahren waren es andere Gefühle, die grundrechtsbildend wirkten. Im 19.  Jahrhundert wurde vor allem um das Budgetrecht einer parlamenta­ rischen Vertretung gekämpft. Das vornehmste Grundrecht, das ein Parlament ausübte, bestand darin, königlichen Haushaltsplänen zuzustimmen oder sie ab­ zulehnen,40 weil es die im Parlament vertretenen Bürger waren, die durch Steuer­ aufkommen den Haushalt zu finanzieren hatten. Das Gefühl schien hier ebenso klar wie der normative Index, und dennoch haben sich Bismarck und der preußi­ sche König in den Jahren zwischen 1862 und 1866 über einen solchen Index be­ wusst hinweggesetzt.41 Die preußische Heeresreform (die eine Heereserweiterung darstellte) wurde ohne Zustimmung des Landtags finanziert, und nicht nur das: Viele sahen es als Verdienst des damaligen preußischen Ministerpräsidenten und späteren ersten Reichskanzlers Bismarck an, die Volksvertretung gewissermaßen vor sich hergetrieben zu haben. Bismarck nötigte – nachdem die preußische Ar­ mee 1866 gegen Österreich erfolgreich war – dem Landtag eine nachträgliche Zu­ stimmung ab und spaltete damit den zeitgenössischen Liberalismus in eine regie­ rungsakklamative nationalliberale und eine auf Dauer oppositionelle „freisinnige“ Variante.42 Das rhematisch-indexikalische Legizeichen des Budgetrechts wurde argumentativ für die Zwecke der Regierung verfügbar und ist es bis heute. Es existiert fort als argumentativ-symbolisches Zeichen. Das Parlament soll zustim­ men und erledigt das in der Regel aufgrund des Fraktionszwangs, den die Frak­ tionsvorsitzenden einer Regierungspartei durchzusetzen haben, damit ein Kanzler 38

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 68–70. Volkszählungsurteil in Leitsatz 2 und in der Begründung: BVerfGE 65, 1 (43). 40 Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck und das Reich, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1970, 99 f. 41 Huber (Fn. XII. 40), 306 f. 42 Huber (Fn. XII. 40)., 352 f. 39

456

XII. Verfassungen

seine Mehrheit behält. Das hat man sich bei den Grundsätzen für eine Volkswahl einmal anders gedacht. Grundrechte bleiben imperfekte Normen. Ihre Besonderheit im allgemeinen Normensystem ist semiotisch zu bemerken. Grundrechte sind keine Angelegenheit von Verfassungsjuristen und erschöpfen sich in ihrer Bedeutung nicht in dem, was die Grundrechtskommentare aufzählen. Ihre Zeichenhaftigkeit reicht in die Erstheit und Zweitheit des Handlungsbezugs hin­ ein. Von Grundrechten als Verfassungszeichen war schon die Rede (Kap. XII. 1.). Danach bezeichnen Grundrechte bis in den absolut herrschaftsorientierten Levia­ than hinein jenen Bereich der Zeichenproduktion, den der Leviathan den „Bür­ gern“ zu lassen hat. Grundrechte sind Abwehrrechte und Gestaltungsrechte aller derjenigen, die im Hobbes’schen Bildzeichen den Leviathan bilden. In der Folge sollen – nicht unbedingt in der Systematik der Grundrechtslehre – einige Grund­ rechte in ihrem semiotischen Gehalt dargestellt werden, die der Zeichenproduk­ tion am nächsten sind, nämlich zunächst das politische Wahlrecht [a)], und danach drei grundrechtliche Garantien, die den kommunikativen Bestand der Legizeichen bilden; das sind zunächst Verfahrensgrundrechte im Justizdispositiv [b)], dann die Meinungsfreiheit [c)] und schließlich das Recht auf Gleichbehandlung [d)]. a) Politisches Wahlrecht Das politische Wahlrecht taucht unter den indexikalisch vertexteten Grund­ rechten gar nicht auf und wirkt – wie Luhmann kommentiert – „als ein irgend­ wie untypisches, verirrtes Grundrecht …, das durch seinen Daueraufenthalt in der politischen Sphäre seine Bürgerschaft im Rechtsstaat fast verliert.“43 Man könnte insofern den Eindruck haben, dass Grundrechte auch in Diktaturen, Monarchien und Oligarchien gelten und die Bestimmung des Machthabers nicht auf Rechte der Beherrschten zurückgeht, es also keine Wahl gibt. Hobbes scheint in seiner Schrift über den Leviathan einem solchen Verständnis zu folgen und lässt Wah­ len aus seiner Darstellung ganz heraus. Allerdings gehörten sie auch noch nicht zum politisch-theologischen Verständnis des 17. Jahrhunderts. Immerhin lässt das Zeichen des Leviathans ikonisch die Deutung zu, dass die Glieder des Staatskör­ pers, der aus Menschenleibern besteht, diesen Körper auch konstituieren und da­ mit wählen können. Das jedenfalls lehrt die politische Entwicklung nach Hobbes. Das Wahlrecht ist ein Index für die Qualität einer Verfassung. Ein Staat, der es nötig hat, einer Einheitspartei oder auch gleich einem Diktator die Herrschaft zu überlassen, sagt damit mehr über seine Verfassung und ihre Wirkung als alle Ar­ gumentzeichen zusammen. Politisch gehört die Ausbildung eines freien, gleichen und geheimen Wahlrechts zu den wesentlichen Schritten bei der Ausbildung eines neuzeitlichen Staatskörpers. Weil es so selbstverständlich ist, wird das Wahlrecht in den Verfassungskatalogen meist nur an späterer Stelle erwähnt. 43 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, 137.

2. Grundrechte

457

Als Recht kommt es jedoch von außen und ist insofern dicentisch. In der Klas­ sifikation von Peirce wirkt das Wahlrecht als Satz, nämlich so wie der Teilsatz des Art. 20 Abs. 2 GG: Die Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmun­ gen ausgeübt. Was das heißt, kann man aus den weiteren Sätzen des Wahlgeset­ zes herauslesen, und es wird dann schnell technisch wie in § 4 Bundeswahlgesetz: Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreis­ abgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Darüber lässt sich nichts argumentieren. Eine Stimme ist eine Stimme, und sie ist unterschieden nach Erst- und Zweitstimme. Man hat sie, auch wenn man sie nicht ausübt, man hat aber auch nicht mehr als jeweils eine Erst- und Zweitstimme. Diese Stimme existiert in der Bundesrepublik Deutschland neben den ca. 62 Millionen weiteren Stimmen, und man kann darüber nachdenken, was sie wert ist. Symbolisch ist eine solche Stimme unschätzbar viel wert. Merkwürdigerweise fällt das in herrschafts­ kritischen Untersuchungen nicht auf. Wahlen werden dort gar nicht thematisiert. Man könnte das damit erklären, dass Symbolik unter materialistischer Perspek­ tive nur noch dazu dient, „Klassenherrschaft“ zu verschleiern,44 auch wenn die praktisch gewordene, im Kontext von Verfassungen noch argumentierende Kritik einen derart kruden Verschleierungsbegriff nicht mehr pflegt. Man muss zurück­ gehen in Zeiträume, in denen es die „zweite Welt“ vorgeblich sozialistischer Staa­ ten noch gab, um funktionale Überlegungen derart anzutreffen, das „partizipato­ rische Element in Volksdemokratien“ zeige sich als Teilhabe an einer Diskussion über Gesetzesvorhaben45 (wobei den Autoren der Einblick in die realen Abläufe fehlte). Auch in den grundsätzlichen Überlegungen zu Legitimationsproblemen, die ­Habermas in Krisentendenzen des Spätkapitalismus fand, fehlen alle Aspekte politischer Wahl. Während Luhmann dem Wahlverfahren neben dem Gerichts­ verfahren grundsätzliche legitimierende Bedeutung beimisst,46 sieht Habermas nur den „Passivbürger mit Recht auf Akklamationsverweigerung“ noch überle­ ben.47 Angesichts der fundamentalen Bedeutung des Zeichens der Wahl muss das erstaunlich bleiben, zumal die früheren „Volksdemokratien“ Wert darauf legten, solche Wahlen als Akklamation zu vorherbestimmten Einheitslisten zu inszenie­ ren und – wie in der Geschichte des Untergangs der DDR zu beobachten ist – am Straftatbestand der Wahlfälschung ihr Scheitern einleiteten.48 Richard Münch hat die „Institutionalisierung des Wahlrechts mit der freien Stimmenwerbung“49 unter Marktgesichtspunkten interpretiert und der Stimme den Charakter einer Bankeinlage zuerkannt, die man vom Konto auch wieder ab­ 44

Stefan Krauth, Kritik des Rechts, Stuttgart 2013, 106 f. Axel Görlitz, Politische Funktionen des Rechts, Wiesbaden 1976, 118. 46 Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Fn. VI. 42), 155–173. 47 Habermas, Legitimationsprobleme (Fn. IX. 28), 55. 48 Urt. LG Dresden v. 9.8.1995 – 4 Kls 51 Js 4048/91 – auszugsweise in: Klaus Marxen/ Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 1: Wahlfälschung, Berlin u. a. 2000, 324–336. 49 Richard Münch, Die Struktur der Moderne – Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1984, 486. 45

458

XII. Verfassungen

ziehen kann. Denn das Grundrecht der freien Stimmvergabe unterscheidet sich in zwei wesentlichen Merkmalen von jeder anderen Rechtsausübung. Es ist zeit­ lich gebunden und wird begründungslos vergeben. Die Stimme erstreckt sich im­ mer nur auf eine vorweg bestimmte Wahlperiode, und mit ihrer Vergabe wird unterstellt, dass diejenigen, denen damit politische Macht übertragen wird, sich nach Ablauf dieser Pe­riode erneut zur Wahl stellen und ggf. die Macht auch wie­ der a­ bgeben. Damit ist ein Austausch der Eliten periodenweise möglich und auch notwendig. Im Augenblick des Machtwechsels zeigt sich die funktionierende De­ mokratie, wenn die einen es vermögen, den anderen Macht zu übergeben. Das ist in Monarchien und Diktaturen teilweise gar nicht möglich oder wird systematisch verhindert. Die Erbfolge sollte den Wechsel tendenziell ausschließen bzw. machte ihn zu einer Angelegenheit persönlicher Willensstärke. Starke Söhne änderten die Politik ihrer Väter. Diktaturen scheitern bereits an diesem Zeichenprozess. Sie ver­ greisen oder verschwinden bzw. verschwinden nach längerer Vergreisung. So en­ dete die Oktoberrevolution. Wenn man sich nach der grundsätzlichen Revolution, die mit der Einführung des Wahlrechts verbunden ist, für dessen rechtliche Ausgestaltung noch näher in­ teressiert, sieht man an der historischen Entwicklung im 19.  Jahrhundert, dass Wahlen als gleiche, geheime und unmittelbare Zeichensetzungen erkämpft wer­ den mussten. Insbesondere die Gleichheit des Wahlrechts war unter Klassen- wie Geschlechtsmerkmalen über einhundert Jahre Kampfgegenstand. In Preußen galt von 1849 bis zum Kriegsende 1918 das Dreiklassenwahlrecht. Argumentativ war das kaum zu verteidigen, politisch hat es dank Bismarck dennoch überlebt. Rhe­ matisch hat das Dreiklassenwahlrecht den Klassenstaat bis zu seinem Untergang im Jahre 1918 begleitet. b) Verfahrensgrundrechte So, wie das politische Wahlrecht darauf abzielt, im Staat beteiligt zu werden, so zielt eine andere Klasse von Grundrechten darauf ab, Herrschaftsunterwor­ fene (also: Sub-jekte) im Justizverfahren zu beteiligen.50 Historisch lange vor dem Wahlrecht kam es darauf an, nicht jederzeit, nicht ohne Grund und nicht ohne jede Überprüfung verhaftet zu werden, wobei im Übrigen die Gefahr bestand, nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben zu verlieren. Der Kampf um die Habeas Corpus-Grundrechte ist durchaus keine Angelegenheit der Rechtsgeschichte. Was ohne diese Grundrechte geschieht, nennt man heute forced disappearance oder zu Deutsch: Verschwindenlassen. Im Protest gegen das Verschwindenlassen hat Andreas Fischer-Lescano den Index für eine „Globalverfassung“ gesehen, die un­ terstellt wird, gerade weil und wenn gegen alle Verfassungsgrundsätze verstoßen 50 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. II: Europarecht, 3. Aufl., Berlin 2012, Abschnitt 512.1.

2. Grundrechte

459

wird.51 In großem Stil ist das innerhalb der NS-Diktatur und in den stalinistischen „Säuberungen“ praktiziert worden, wobei Stalin für größere Opfer seiner Partei­ versklavung Schauprozesse veranstalten ließ, die der Hinrichtung den Schein der Legalität verschaffen sollten.52 Himmlers SS verzichtete darauf ganz. Der SSStaat errichtete neben Gefängnissen und Zuchthäusern die berüchtigten Lager, in die nach scheinbarer Zweckmäßigkeit eingeliefert und aus denen – wenn über­ haupt – willkürlich unter Schweigegeboten entlassen wurde. Demgegenüber sind die Justizgrundrechte alt. Der grundrechtsbildende Habeas Corpus Amendment Act stammt bereits aus dem Jahre 1679 und wurde dem damaligen englischen­ König vom Adel abgenötigt, um der Praxis willkürlicher Festnahmen ein Ende zu setzen. Ziel einer Festnahme war in der Regel die Zahlung einer Geldsumme an den König, der auf diese Weise Kriege, Herrschaft und königliches Leben finan­ zierte. Mit der Habeas Corpus-Formel begannen die alten Haftbefehle, in denen ausgesprochen wurde, zu welchem Anklage- oder Zeugniszweck der König den Körper des Verhafteten festzusetzen begehrte. Zum gegenwärtigen Grundrechtsstandard gehört – wie Robert Alexy es darstellt – ein Recht auf Organisation und Verfahren.53 Im Falle der Verhaftung bestehen in Deutschland heute die Justizgrundrechte des Art.  104 GG. Sie beschreiben die Grenzen, die gewährleisten sollen, dass nicht jederzeit, nicht ohne Grund und nicht ohne jede Überprüfung verhaftet werde. Demnach muss eine gesetzliche Grund­ lage benannt werden (im Text des Haftbefehls), Zulässigkeit und Fortdauer sollen überprüft werden, und zwar nur durch ein Gericht. Diese Überprüfung darf auch nicht irgendwann, sondern muss innerhalb von höchstens 48 Stunden (spätestens am Tage nach der Festnahme) stattfinden, und schließlich besteht ein Recht, Ange­ hörige und Vertraute (insbesondere einen Verteidiger) zu benachrichtigen. Das al­ les sind Strafverfahrensrechte, aber sie sind – wenn möglich – nicht der Argumen­ tation oder symbolischer Objektrelation zu unterziehen. Schriftlicher Haftbefehl, Haftprüfung, richterliche Entscheidung innerhalb von 48 Stunden und Benach­ richtigung – das sind Grundrechte, die als Index gelten sollen und die man auf­ grund des eigenen Gefühls in Anspruch nehmen kann, ohne schon ein rechtliches Argument bieten zu müssen. Der Index ist jedenfalls hinsichtlich der 48-StundenRegelung auch wirklich dicentisch: Der Interpretantenbezug hängt von der Uhr ab. Man kann ihn suspendieren, aber dann beseitigt man auch das Zeichen und setzt ein anderes. Das ist nicht gewollt. Aus diesem Grunde muss zur Tageszeit ein Haftrichter erreichbar sein, so dass nie später als nach 48 Stunden und oft schnel­ ler als in 12 Stunden entschieden wird. Nicht möglich ist die freie Interpretation dicentischer Zeichen. Das ist eine bemerkenswerte Zutat im semiotischen Haus­ halt des Rechts. Recht wird nach der Uhr messbar. Man braucht nicht lange nach­ zudenken, um herauszufinden, dass das nicht alle begrüßen. Dicentische Zeichen 51

Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschen­ rechte, Weilerswist 2005, 106–117. 52 Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Frankfurt a. M. 1981, 166–171. 53 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), Frankfurt a. M. 1994, 428–446.

460

XII. Verfassungen

begrenzen das mögliche Recht, weil es die Interpretanten begrenzt und an einen bestimmten Objektbezug bindet. Das geschieht bei den anderen drei Faktoren im Justizgrundrecht des Art.  104 GG in abgeschwächter Art und Weise. Gesetzes­ grundlage, gerichtliche Überprüfung wie Benachrichtigung haben – wie man zu sagen pflegt – einen Realitätsbezug. Sie sind äußerlich erkennbar und nicht ein­ fach herbeizuinterpretieren. Man muss hinzufügen, dass diese basalen Justizgrundrechte inzwischen – etwa durch die Rechtsprechung zu Art. 6 der EMRK – symbolisch zu einem „Recht auf faires Verfahren“ überhöht werden.54 Diese Überschrift gibt schon die amtliche Fassung des Art. 6. Die Konventionsformulierung ist in allen drei Abschnitten der Norm ausgeweitet, in Absatz 1 sind Presse und Öffentlichkeit ausdrücklich er­ wähnt, Absatz 2 normiert, was zuvor Gegenstand der Strafprozesslehre war, dass nämlich ein Angeklagter bis zum Urteil als unschuldig zu gelten habe, und Ab­ satz 3 normiert besondere Verteidigungsrechte wie das auf ausreichende Vorberei­ tungszeit (lit. b). Damit wird das indexikalische Grundrecht der üblichen juristi­ schen Argumentation überantwortet. Das ist nicht immer ein Fortschritt. Man hat aus der Geschichte der Verhaftungen erfahren, dass der Gesetzesgrundlage auch genügt sein kann, wenn es nur einen Haftbefehl gibt und auf diesem Papier Zif­ fern stehen, die als Verweis auf rechtfertigende Gesetze verstanden werden kön­ nen. Auf die Richtigkeit im Ergebnis kommt es nicht an. Das ist wenig, aber nicht nichts. Die forced disappearance kennt weder Haftbefehl noch Textverweise. Es gibt insofern gar keine Objekte, die als Interpretanten zu neuen Verfahrens­ gegenständen werden könnten. Man muss jemanden kennen, der seinerseits per­ sönlichen Einfluss ausüben und den Verschwundenen wieder auftauchen lassen kann. Klaus Mann zeigt im „Mephisto“-Roman (Kap. IV. 5.), wie man sich das vorstellen kann. Der Haftbefehl darf insofern als Index gelten, dass es sich noch um ein Rechtsverfahren handelt. Die Benachrichtigung von der Verhaftung ist ein wichtiger Index, der das Verschwindenlassen grundlegend von der Verhaftung un­ terscheidet. Zwar verändern Benachrichtigungen nicht aus sich heraus die reale Lage, sie indizieren aber, dass es Kontrolle geben kann. Das ist wichtig und in der Tat ein fundamentales Justizgrundrecht. Noch wichtiger ist die gerichtliche Über­ prüfung selbst. Auch sie ändert nicht aus sich heraus die reale Lage, sie indiziert nur, dass es Dritte geben muss, die sich mit der Verhaftung befassen. Das kann eine reine Förmlichkeit sein und in einem Beschluss sein Genüge finden, der mit dürren Worten die Haftfortdauer anordnet. Wichtig ist selbst diese Formsache. Sie indiziert den Einstieg in ein Verfahren der Haftprüfung. Ein solcher Prüfungs­ antrag kann – wenn auch meist nur in bestimmten Fristen – erneut gestellt wer­ den, aber es bleibt bei dem Legizeichen der Drittbefassung. Insofern haben Justiz­ grundrechte einen offenen Wirkungsbezug, man kann aus ihnen kein bestimmtes Ergebnis herleiten, aber man kann zur Beachtung eines Verfahrensgangs zwingen. 54 EuGH Urt. v. 11.1.2000 Van der Wal und Niederlande./.Kommission C-174/98 P und C 189/98 P, NVwZ 2000, 905.

2. Grundrechte

461

Ein Staat, der ohne Haftbefehl und Benachrichtigung den Verhafteten auf unbe­ stimmte Zeit einkerkert, verzichtet auf Rechtszeichen – und setzt damit ein Null­ zeichen. Das hat auch für solche Staaten einen Preis. c) Meinungsfreiheit Der Umgang mit und die Gewährung von Justizgrundrechten ist zeichenprak­ tisch eng verbunden mit dem Umgang und der Gewährung von Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit ist nicht irgendein Grundrecht, das – weil es im Grundge­ setz unter Art. 5 rubriziert ist – an fünfter Rangstelle einzustufen wäre. Sie ist das Grundrecht, um dessentwillen der ganze Grundrechtskatalog historisch erkämpft worden ist. Lange bevor die französische Nationalversammlung unter anderen Grundrechten die Meinungsfreiheit zum positiven Gegenstand der Gesetzgebung hat werden lassen,55 ging es grundlagentheoretisch um diese wichtige Chance der Selbstdarstellung. Denn Darstellung muss sein, auch und gerade für das Unwahre. Ein darstellender Zeichenprozess kommt nur in Gang, wenn etwas als Objekt er­ wählt und mit einer interpretierenden Regel verbunden werden kann. Wer die Ob­ jekte beschränkt, will damit einen Prozess der Zeichenkonstitution verhindern, kontrollieren oder mit direktiven Interpretanten versehen. Auf die Dauer schei­ tern diese Versuche sowieso. Kurzfristig oder aktuell sind sie nur im Hinblick auf die Indexierung erfolgreich, die im System der Zensur auch so heißt. Auf den In­ dex gesetzt werden Werke und damit Themen, über die Macht­haber keine Kom­ munikation wünschen. Schon das ist ein Zeichen, das man „Nullzeichen“ nennen kann.56 Es verhindert aber den ikonischen Zeichengebrauch keineswegs. Zum Ge­ genstand der jeweils folgenden Zeichenproduktion wird das Symbol aus der voran­ gegangenen, indem es über anschließende Gefühle zum Objekt gemacht wird. Das kann man verbieten, aber nicht verhindern. Jedes Verbot ist eine hilflose Kommu­ nikation, die auf die Dauer scheitert, wenn die objektivierten Gefühle fortexistie­ ren. Zwar wird nicht jeder Interpretant naturnotwendig zum Objekt einer Folge­ kommunikation. Die Fortsetzung kann unterbleiben, man kann sie anregen oder provozieren, aber nicht erzwingen. Insofern können scheinbare Wahrheiten jahr­ hundertelang fortbestehen, aber dann sind sie irgendwann und scheinbar plötzlich verschwunden. Der Index erlaubter Themenwahl verhindert den Anschluss nicht. Der Freigabe der Kommunikationsthemen und damit der Zeichenproduktion entspricht die freie Wahl der Adressaten. Niklas Luhmann hat den Zusammen­ hang gesehen und hervorgehoben, dass Meinungsfreiheit und Versammlungs- bzw. Vereinigungsfreiheit komplementäre Grundrechte sind.57 Die möglichen Adressa­ ten bestimmen nämlich ihrerseits, was gesagt und verstanden werden kann. Für 55

Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek 1991, 178–182. 56 Thomas A. Sebeok, Theorie und Geschichte der Semiotik, Reinbek 1979, 92. 57 Luhmann, Grundrechte (Fn. XII. 43), 99.

462

XII. Verfassungen

bestimmte Beiträge muss man sich passende Adressaten suchen oder ein Medium wählen, in dem sie sich selbst rekrutieren. Das ermöglicht aber erst die moderne Massenkommunikation. In ihr bilden sich für Themen Gruppen der Beiträger, so dass Parteien, Gewerkschaften oder Spontandemonstrationen unter einem neuen Druck stehen, sich Teilnehmer für ihre Art der Themenfindung zu suchen. Anders, als das Dogma von der repressiven Toleranz es gesehen hat, ist die Folge freigege­ bener Themen und Zusammenhänge keineswegs deren Belanglosigkeit. Es darf al­ lerdings nicht umgekehrt erwartet werden, dass jedes mit Allgemeinheitsanspruch auftretende Legizeichen Geltung für andere beanspruchen darf. Der Sinn von Mei­ nungs- und Demonstrationsfreiheiten besteht nicht darin, den vertretenen Meinun­ gen Geltung zu verschaffen, weil sie besser als andere seien, sondern verlangt um­ gekehrt dem Staat und seinen Machthabern ab, solche Themen und Gruppierungen aufzunehmen und seinerseits fortzusetzen, wobei auch insofern die Fortsetzung nicht vorhersehbar und steuerbar ist. Man darf sich darüber wundern, weshalb trotz allem die Zensur fortdauernd at­ traktiv erscheint. Häufig zitiert wird das Wort des Geheimen Rats Goethe, wonach eine vernünftige Form der Zensur für ein Gemeinwesen unerlässlich sein dürfte. Listig ist sein Votum im Fall jenes Jenenser Professors, der es im Jahre 1816 in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift wagte, den Herzog polemisch zu kriti­ sieren. Pressefreiheit war bereits verfassungsgemäß gewährt, und Goethe schätzte das Meinungsklima dahingehend richtig ein, dass man durch ein einfaches Bei­ seiteräumen des Grundsatzes nicht nur keinen Beifall erlangt, sondern sich allzeit lächerlich macht, weil man auf die Aufhebung der Pressefreiheit verwiesen wird. Das geschah später dennoch, als jener Professor Oken 1819 in der dann durch­ Metternich verantworteten sogenannten „Demagogenverfolgung“ entlassen wor­ den ist. Goethe sah einen anderen, feinen Weg, der den Grundsatz unberührt zu lassen scheint. Man solle – empfahl Goethe – den Fall als eine „Polizeisache“ be­ handeln, „die nur an Ort und Stelle entschieden werden kann“. Dann bleibt der Ver­ fasser des Artikels unbehelligt, „aber man halte sich an den Buchdrucker und ver­ biete diesem, bey persönlicher Selbstgeltung, den Druck des Blattes.“58 Gebrauch gemacht wird von einer Technik der normativen Verschiebung, die seitdem zum Instrumentarium im Argumentationshaushalt des Rechts geworden ist.59 Man be­ lässt es bei hehren Worten, macht aber etwas anderes unter einem anderen Ge­ sichtspunkt. Die Topik macht es möglich (Kap. X. 2.). Meinungsfreiheit wird durch eine andere Interpretantenkette annulliert.60 Sie kommt nicht mehr vor, wenn Si­ cherheit und Ordnung des Zusammenlebens bedroht sein sollten oder – nach dem 58 Johann Wolfgang von Goethe, Amtliche Schriften. Teil  II: Aufgabengebiete seit der Rückkehr aus Italien, hrsg. v. I. u. G. Schmid, Frankfurt a. M. 1999, 55 f. 59 Wolfgang Naucke, Vom Vordringen des Polizeigedankens im Recht, d. i.: vom Ende der Metaphysik im Recht, in: ders., Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, Baden-Baden 2000, 379–392 (380). 60 W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999, 187.

2. Grundrechte

463

gegenwärtigen Recht des § 824 BGB – das wirtschaftliche Fortkommen eines Be­ troffenen beeinträchtigt scheint. Das Merkmal der Sicherheit und Ordnung erfasst den Aspekt unflätiger und damit polizeiwidriger Mitteilung, womit polizeiliche Ordnungsmaßnahmen gerechtfertigt werden können. Aber es gibt gegen indexierte Verschiebungen inzwischen wenigstens symbolische Gegenmittel. Es soll nicht al­ les, was argumentativ möglich ist, wirklich exekutiert werden. Dem Index einer Polizeisache oder einer Kreditschädigung kann man die Grund­ rechtswirkung in anderen Rechtsverhältnissen entgegensetzen. Soweit der Staat selbst in anderen Formen – etwa polizeilichen – handelt, soll eine sogenannte „ver­ fassungskonforme Auslegung“ stattfinden. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit hat dabei eine „Ausstrahlungswirkung“ auf andere Bereiche staatlichen Handelns. Die Lichtmetapher enthält eine Übersetzung des grundrechtlichen Legizeichens in die Indexikalität der polizeirechtlichen Generalklausel (Kap. IX. 4.). Ebenso meta­ phorisch sind Grundrechtswirkungen in Privatrechtsverhältnisse eingeführt worden. Als Leitentscheidung gilt hier der Fall Lüth. Lüth, seinerzeit Leiter der staatlichen Pressestelle in Hamburg, warnte vor Veit Harlan als ehemaligem führenden NaziRegisseur, der den Ruf des deutschen Films mit der Produktion „Jud Süß“ ruiniert habe. Man solle Harlans Nachkriegsproduktionen weder besuchen noch überhaupt zeigen. Harlans seinerzeitige Produktions- und Verleihfirmen wollten vor Gericht durchsetzen, dass Lüth verboten werde, sich so zu äußern und sie auf diese Weise wirtschaftlich zu schädigen. Während Harlans Produktionsfirma im Instanzenzug vor Landgericht und Oberlandesgericht obsiegte, hatte die Verfassungsbeschwerde am Ende Erfolg. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts61 entnimmt man die neu gebildete Zeichenregel: Wenn sich im Zusammenleben in einer großen Ge­ meinschaft Interessen- und Rechtskollisionen zwischen den Einzelnen ergeben, hat im sozialen Bereich ständig ein Ausgleich und eine Abwägung der einander entge­ genstehenden Rechte nach dem Grade ihrer Schutzwürdigkeit stattzufinden. Es gibt also nicht nur Rechtsdurchsetzung, sondern auch, was sich seitdem als Abwägung in durchaus fragwürdiger Weise etabliert hat. Niemand weiß nämlich, wie abgewogen werden soll, wenn man es nicht schon vorher sieht. Im Falle Lüth sah man es. Lüth – heißt es in einer Bundestagsdebatte mit Beifall links und bei den Regierungsparteien – sei ein ehrlicher Mensch, der „aus lauteren Motiven an das sittliche Gefühl appelliert.“62 Dieses Gefühl hat sich aber erst sieben Jahre, nachdem die erste Entscheidung in dieser Sache ergangen war, und ganz am Ende beim Bundesverfassungsgericht durchgesetzt. Es bedeutete einen rhematisch-iko­ nischen Erfolg, der in der Entscheidungsbegründung in eine argumentative Regel gekleidet wird, die lautet: Wer in dieser Weise vor die Öffentlichkeit tritt und da­ bei an den früheren Ruf eines Mitwirkenden anknüpft, muss sich gefallen lassen, dass auch die Kritik hieran vor der Öffentlichkeit erfolgt.63 61

BVerfGE 7, 198–230 (Lüth). BVerfGE 7, 229. 63 BVerfGE 7, 228. 62

464

XII. Verfassungen

d) Gleichbehandlung Das letzte hier semiotisch verstandene Grundrecht bezeichnet Luhmann als Komplement zum Grundsatz der Stimmengleichgewichtung im Rahmen der politi­ schen Wahl.64 Es ist das Gleichheitsgebot, das im deutschen Grundgesetz in Art. 3 normiert worden ist, sich aber darauf nicht beschränkt. Ungleichheit kann nach der Französischen Revolution nicht mehr ernsthaft proklamiert werden, und wenn sie praktiziert wird – was häufig genug geschieht –, wird die faktische Ungleichbe­ handlung als ideologisches oder religiöses Gebot maskiert. Außerhalb der Ideolo­ gen und Priester des gestrigen Glaubens möchte niemand mehr offen für die Be­ vorzugung oder Benachteiligung eines Bestimmten eintreten. So gesehen ist Gleichheit zum argumentativen Legizeichen im Rechtsdiskurs geworden. Kelsen hat die Gleichheit im Zusammenhang seiner Rechtslehre als allgemeine Gerech­ tigkeitsnorm vorgestellt.65 Sie steht für eine Regel, die man nicht beiseiteschieben, wohl aber interpretieren kann. In der interpretatorischen Praxis wird Gleichheit dann etwas ganz anderes als die landläufig darunter verstandene Gleichbehandlung, in der gleich behandelt wird, wenn zwei jeweils die Hälfte des Ganzen bekommen. Denn Gleichheit hat noch einen anderen als den argumentativen Legiaspekt. Sie hat einen sehr speziellen, durchaus nicht juristischen, dicentisch-indexikalischen Charakter. Wie die Egalité aus der Französischen Revolution demonstriert, ist Gleichheit ein Schlachtruf, und die Revolution hat auch demonstriert, wer weshalb mit diesem Ruf geschlachtet wird: Priester, Adlige, Vermögende, denen Sachen weggenommen werden, damit sie an alle (gleich) verteilt würden. Tatsächlich historisch ist aus diesem Anspruch nicht allzu viel geworden. Die großen Vermögen in Frankreich wie in Deutschland sind im Wesentlichen erhalten geblieben, wenn auch speziell anders verteilt worden. Der politische Landbesitz des Klerus, die Bischofsherrschaften und deren staatliche Macht sind durch die Mediatisierung verschwunden. Gleichheit heißt danach, dass alle dem König unterstehen und sich nicht ihre eigenen Gesetze machen dürfen. Gleichheit heißt auch, dass alle einen gleich großen Anteil erhalten müssten. Das gilt selbst dann, wenn die Verteilung in Wirklichkeit ganz anders erfolgt. Sie hat dann ein Legitimationsdefizit. Die proletarischen Revolutionen – die russische von 1917 bis 1922 an erster Stelle – haben das Versprechen, dass alle an Landbesitz zu betei­ ligen seien, in die Welt gesetzt, und dort ist das Versprechen geblieben, auch wenn es die roten Revolutionen nicht haben einlösen können.66 Der Index für Gleichheit heißt: Ich bekomme so viel wie du. Auf die Verteilung der Pronomina kommt es dabei an. Der Satz „Du bekommst so viel wie ich“ würde zwar dasselbe bedeuten, hieße aber, dass du wirklich auch beteiligt wirst. Das ist schon ein Effekt, der an die Schwelle des Rechtsstaats führt. Der revolutionäre Schlachtruf ist nur der An­ spruch, auch so viel wie andere bekommen zu wollen. Das ist der Index. 64

Luhmann, Grundrechte (Fn. XII. 43), 173. Kelsen, Rechtslehre (Fn. IX. 6), 390–397. 66 Leisner (Fn. X. 82), 64. 65

2. Grundrechte

465

Semiotisch bemerkenswert ist der Wechsel vom Index zum juristischen Sym­ bol. Denn davon war schon die Rede. Man kann den Mehrparteienstaat nicht mit der verlautbarten Regel führen, dass die Mitglieder der gewählten Parteien Geld und Posten bekommen und die anderen zusehen. Das geschieht zwar häufig ge­ nug, aber darstellbar und symbolisch vermittelbar ist es jedenfalls nicht unter dem Titel, dass die Wahl selbst den Grund dafür abgebe. Nicht viel, aber ein klein we­ nig mehr an Begründung ist für denselben Effekt trotz Gleichheitsanspruchs er­ forderlich. Man kann darauf abstellen, dass der zu besetzende Posten ein beson­ deres politisches Vertrauensverhältnis voraussetze und deshalb nur von eigenen Parteigängern ausgefüllt werden könne. Man kann neue Stellen schaffen und sie gewissermaßen zufällig mit den Kandidaten der eigenen Partei besetzen, die ne­ ben oder in Konkurrenz zur alten Bürokratie tätig werden. Schließlich kann man den eigenen Parteigänger als den Besseren darstellen, muss dann aber schon auf einer Ebene von Sachlichkeit argumentieren können. Gleichheit als Argument verlangt Interpretation, und Interpretation führt zu wei­ teren Zeichenobjekten, die Gegenstand fortgesetzter Zeichenprozesse werden kön­ nen. Es gibt dafür verfassungsjuristisch eine anerkannte Formel, die dahin geht, dass man nur Gleiches gleich behandeln könne, Ungleiches aber nicht gleich be­ handeln dürfe.67 Der Grundsatz kann schon bei Aristoteles nachgelesen werden.68 Gleichheit bleibt zwar die Grundlage der Gerechtigkeit; sie ist in der Darstellung unverzichtbar, aber das Ergebnis hängt von der Deutung der als „gleich“ zu behan­ delnden Fälle ab. Denn wie jedermann weiß, kann nur Gleiches gleich behandelt werden, während Ungleiches gerade unter Gleichheitsgesichtspunkten andere, nicht dieselben und damit im Wortsinne auch ungleiche Ergebnisse verlangt. Worauf es bei der Unterscheidung ankommt, ist Ansichtssache, und die Ansichten wechseln. Manchmal wechseln sie schnell. Zu erinnern ist daran, dass bei Eheschließungen der Name des Mannes zum alleinigen Familiennamen auch der Frau bestimmt war, bis das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1953 entschied, dass damit der Gleich­ heitssatz des Art. 3 Abs. 2 GG verletzt sei.69 Das Gleichberechtigungsgesetz im Jahre 1957 gestattete dann der Ehefrau, ihren Mädchennamen dem Familienna­ men, der der des Mannes blieb, hinzuzufügen. Dass es verboten war, den Geburts­ namen der Frau zum Ehenamen zu bestimmen, hat das Bundesverfassungsgericht dann 1978 für verfassungswidrig erklärt.70 Es gebe keine biologischen oder funk­ tionalen Unterschiede, die das rechtfertigten, insbesondere vertrete nicht etwa der Ehemann die Familie nach außen oder habe innerhalb andere Pflichten als die Frau. Frühere Jahrhunderte haben das ganz anders gesehen. Gleichheit bleibt die Grundlage der Gerechtigkeit und muss dargestellt werden, das Ergebnis hängt aber ganz von der Deutung der als „gleich“ zu behandelnden 67

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 491. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 6, 1131 a. 69 BVerfGE 3, 225 (Gleichberechtigung). 70 BVerfGE 48, 327 (338) (Familiennamen). 68

466

XII. Verfassungen

Fälle ab. Es kommt deshalb auf die Auswahl der Hinsicht an, unter der verglichen wird. Man muss dann fragen, welche Sachverhalte verglichen werden, woher ein Maßstab für den Vergleich genommen werden soll und ob es – bei einer Ungleich­ behandlung – dafür einen sachlichen Grund gibt.71 Die Gleichheitsfrage gerät – so formuliert – zu einem Gesamtkriterium des Rechtssystems. Sie ist die Gerech­ tigkeit selbst, wenn man den alle Beteiligten befriedigenden Gesichtspunkt, den gültigen Kriterienkatalog für einen Fall fände. So hat es die klassische Rechts­ philosophie gesehen und sich vergeblich um die Angabe des geltenden Gleich­ heitsgesichtspunkts bemüht. Dem Teilnehmer am Dialog bleibt das ungleiche Gleiche wie das nicht identische Selbige meist verborgen. Der Gleichheitssatz wird unsichtbar. Was am Ende sichtbar bleibt und den Index markiert, hat Niklas Luhmann mit nüchternem rechtssoziologischen Blick auf die Angabe von Gründen reduziert.72 Diese Gründe müssen nicht richtig sein, weil das innerrechtlich sowieso nicht zu bestimmen ist, aber sie müssen verallgemeinerungsfähig und spezifisch sein. Was das ist, erläutert Luhmann mit dem Gegenteil: Sie dürfen nicht partikular und diffus bleiben. Das war der Randbericht des Kaisers Franz Joseph bei der Bearbeitung von Aktenstücken: Günstig erledigen. In Bezug auf den Fall wussten die kaiserlichen Beamten dann, was sie zu tun hatten. Wie Joseph Roth (im „Radetzky­marsch“) erzählt, war nicht Gleichheit, sondern gerechte Ungleichheit – aber insofern dann doch wieder Gleichheit als unbewusste Treffsicherheit in den Kriterien – der Maß­ stab kaiserlichen Handelns.73 Die Gleichheit der Grundrechte ist weniger, aber zu­ gleich auch mehr. Sie verbürgt durchaus nicht Gerechtigkeit im Einzelfall, also das, was der Kaiser zustande bringen mag, aber sie reicht auch viel weiter, als die Rand­ berichte des Kaisers es vermochten. Der Kaiser schweigt meistens, er lässt nur ganz wenig „günstig“ erledigen, aber der Gleichheitsanspruch wird immer laut. Man kann ihn nicht zum Schweigen bringen. Darin liegt die Impertinenz dicentischer Zeichen. Entweder der Anspruchsteller erhält dann einen (seinen) Teil – in einem solchen Fall muss nicht begründet werden –, oder der Anspruch wird in bestimm­ ter Weise mit dem Anspruch auf personenunabhängige Geltung zurückgewiesen. Das gewährt dem Rechtsstaat ein notwendiges Begründungselement. In Grundrechtsangelegenheiten stellen sich allerdings immer Fragen, die in der Literatur als „Kollisionsrecht“ zusammengefasst werden. Kollisionen entste­ hen zwischen verschiedenen, jeweils als ausschließlich und vollständig gedachten Rechtsstoffen, deren Indexierung dazu führt, dass beide denselben Fall zu regeln scheinen, aber nur eine Zeichenmenge – oder ein neu zu bildendes Konzentrat – den Fall regeln kann. Herkömmlich sind das verschiedene nationale Rechtsordnun­ gen, wobei es zu den Aufgaben des internationalen Privatrechts gehört, den Vor­ rang der einen vor der anderen zu begründen. Die Kollisionsfrage wird aber weit 71

Müller/Christensen (Fn. IV. 76), Rdz. 491. Luhmann, Grundrechte als Institution (Fn. XII. 43), 176. 73 Seibert, Zeichen, Prozesse (Fn. V. 20), 184. 72

3. Menschenrechte

467

darüber hinaus diskutiert. Aus Rudolf Wiethölters Privatrechtstheorie weiß man, dass jede „Rechtsanwendung Vorzugsentscheidungen über kollidierende ‚Interes­ sen‘ kraft einer Kollisionsnorm (genauer: Kollisionsregel) ] [trifft], die fortentwi­ ­ iethölter – ckelt, interpretiert und angewendet wird.“74 Solche Arbeit – resümiert W treffe das Richtige, indem sie es verwirkliche. Es ist also nicht schon vorher da. An die Stelle gewohnter Auslegung (Kap. X. 1.) tritt dann Abwägung, die heute oft genannt wird, ohne dass man eine nähere Vorstellung davon hat, wie abgewogen werden solle. Jedes Kollisionsrecht – hat Wiethölter dazu vorhergesagt – sei in der Gefahr, statt einer „Güter-Abwägung“ eine „Guts-Abwägung“ zu betreiben, also ein Interesse vor das andere zu befördern und es damit „zum Schiedsrichter über sich selbst und die Konkurrenten“ zu machen.75 Das ist die einfachste Form einer Güterabwägung, in der auch der Kollisionsfall verschwindet. 3. Menschenrechte Juristisch gesehen, sind Grund- und Menschenrechte nicht einfach voneinan­ der zu unterscheiden. Die Rechte auf körperliche Unversehrtheit, auf Meinungs­ freiheit oder die Justizgrundrechte [Kap. XII. 2. b)] sind sämtlich auch Menschen­ rechte. „Menschenrechte“ sind aber – noch mehr als Grundrechte – Rhema und Index. Mit der Berufung auf Menschenrechte wird nicht subsumiert oder begriff­ lich klassifiziert. Da ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, Hilfe und sofortiger Än­ derung, jener „Schrei der Opfer nach Rache“, wie ihn Judith Shklar gehört hat.76 Menschenrechtsverletzungen dulden keinen Aufschub in ihrer Behandlung, auch wenn gerade sie oft lange, geduldige Arbeit in Organisationen erfordern und zur Behebung oder Wiedergutmachung ein gelegentlich unendliches Quantum an Zeit verlangen. Die Berufung auf Menschenrechte steht heute repräsentativ für das Rechtszeichen schlechthin. Auch diejenigen, die nichts von der Justiz erwarten und das Recht für einen lebensfeindlichen, formalen Apparat halten, beklagen Men­ schenrechtsverletzungen, und man sieht: Das Rechtszeichen in seiner ersten Fas­ sung, als Erstheit des Zeichens, macht sich im Protest bemerkbar und indiziert das Fehlen von Recht. Alle nicht regierungsgesteuerten Verbände und auch alle Ver­ hafteten und Geknechteten stimmen ein in den Ruf nach Menschenrechten und stellen sich dabei ein regelgeleitetes, gerechtes Zeichensystem vor, dessen Anwen­ dung den Protestfall lösen soll. Insofern verweisen Menschenrechte durchaus auch auf ein System von Rechten, ein System, das noch nicht da ist oder jedenfalls nicht wirksam ist und erst zur Wirksamkeit gebracht werden muss. Giorgio A ­ gamben hat­ darauf verwiesen, dass die übliche Bindung des Rechts an den Staat und seine Form 74

Rudolf Wiethölter, Sozialwissenschaftliche Modelle im Wirtschaftsrecht (1985), in: (Fn. II. 81), 249–263 (258). 75 Rudolf Wiethölter, Begriffs- und Interessenjurisprudenz – falsche Fronten im IPR und Wirtschaftsverfassungsrecht. Bemerkungen zur selbstgerechten Kollisionsnorm (1977), in: (Fn. II. 81), 373–421. 76 Shklar (Fn. I. 40), 150–166.

468

XII. Verfassungen

nicht weiter aufrechterhalten werden kann, wenn man Menschenrechte anerkennt. Menschenrechte seien nicht an die Dreieinigkeit von Staat-­Nation-­Territorium ge­ bunden, die heute das Auftreten von Rechtszeichen zu kontrollieren beanspruche. Das ist ein allgemeines Thema der Begründung, Entwicklung und Durchsetzung von Menschenrechten. Sie repräsentieren – so fasst es ­Agamben – „die Einschrei­ bung des bloßen natürlichen Lebens in die rechtlich-politische Ordnung des Natio­ nalstaats.“77 Damit sind zwei Störungen des üblichen Zeichengebrauchs verbunden. Menschenrechte machen mobil gegen die Staatsform und gegen die überkommene Rechtsdifferenzierung. Es geht also nicht nur um Rechtsgüter des Strafrechts und den Schutz vor Ver­ letzung durch schuldhafte Handlungen. Es genügt auch nicht, den Gehalt der Men­ schenrechte auf Leib und Leben, Eigentum und Besitz oder den Schutz vor Gewalt und Täuschung zu beschränken. Man kann den tastenden und gleichzeitig hoch­ gradig anspruchsvollen Diskurs über Menschenrechte nur unter der Doppelanfor­ derung verstehen, etwas verallgemeinerungsfähig Verwertbares einerseits zu lie­ fern, sich andererseits aber auf den Eigensinn vorhandener Systeme einzustellen. Menschenrechte verdanken ihre Geltung nicht dem Beschluss von Königen oder Parlamenten, sind aber auch nicht einfach „da“ als unveräußerliche, allseits be­ kannte Güter. Juristisch pflegt man zwar zu behaupten, dass internationale Kon­ ventionen selbstverständlich der Ratifikation durch (national-)staatliche gesetz­ gebende Körperschaften bedürften, das hindert aber Akteure nicht daran, sich auf ein „human rights regime“ zu berufen,78 wenn Verletzungen beklagt und Miss­ stände angeprangert werden. Bemerkenswert ist daran, dass mit dem Rechtstypus der Menschenrechte auch eine besondere und neue Art seiner Geltung zu beob­ achten ist. Geltung ergibt sich aus der Existenz eines als geltend erklärten Inter­ pretanten, und einen solchen Interpretanten bemerkt man daran, dass es mehrfa­ che spontane Erscheinungsweisen und einfache Benennungen gibt. Erstheit und Zweitheit des Zeichens lassen darauf schließen, dass etwas Wichtiges formuliert wird, etwas, das zu wichtig ist, als dass es auf Verfahren in gesetzgebenden Kör­ perschaften warten könnte. Ein Rückblick auf die Entstehung der Menschenrechte macht ihren hybriden Charakter klar. Es handelt sich dabei um hochgeschätzte, hochangesiedelte und selten ausdrücklich befehdete Normen, um Normen allerdings, die legal nichts gelten. Sie sind nicht von einem Parlament beschlossen, werden – historisch gese­ hen – nicht in Gesetzblättern verkündet und binden auch die entscheidenden Ge­ richte nicht, jedenfalls nicht in der Eigenschaft von Menschenrechten. Sie müssen jeweils in eine nationale Rechtsordnung transformiert, also durch gesetzgeberi­ schen Beschluss zu nationalem Recht erklärt werden.79 Dennoch ist ihre Wert­ schätzung als Rechtszeichen dadurch nicht beeinträchtigt. Die Hochschätzung 77

Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik (1996), Berlin 2001, 27.  Saskia Sassen, A Sociology of Globalization, New York 2007, 184 f. 79 Röhl, Allgemeine Rechtslehre (Fn. VII. 22), 559. 78

3. Menschenrechte

469

speist sich gerade aus der Abwesenheit staatlicher Rechtssetzungsinstanzen. Heute wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf den Beschluss der Gene­ ralversammlung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 datiert und dieser Tag als Internationaler Tag der Menschenrechte hervorgehoben. Insofern kann man die Menschenrechtserklärung als Antwort auf eine Barbarei verstehen, die durch eine dreißigjährige (Welt-)Kriegszeit sichtbar gemacht worden ist. Dabei haben vor­ angegangene Verfassungserklärungen rhematische Bestandteile schon viel früher mit sich geführt. Die Erklärung der französischen Nationalversammlung aus dem Jahre 1789 hieß „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“, nannte also die Menschenrechte an erster Stelle. Die eigentliche Loslösung der Menschenrechte von den Verfassungs- und Grundrechten beschreibt Andreas Fischer-Lescano als akademische Tat. Ein Pro­ fessor für Völkerrecht, Albert de Lapradelle, habe im Jahre 1921 auf einer Sitzung eines Instituts für internationales Recht in Rom den Entwurf einer allgemeinen Er­ klärung der Menschenrechte vorgestellt, die Diskussion des Instituts habe diesen Entwurf „nachhaltig modifiziert“, und er sei dort im Jahre 1929 als ­„Declaration of the International Rights of Man“ angenommen worden und dann später von Hersch Lauterpacht so aufbereitet worden, dass die Vereinten Nationen eine ent­ sprechende Resolution haben fassen können.80 Die Gemeinschaft der Völkerrecht­ ler sei der Politik weit voraus gewesen. In der Luhmannschen Gesellschaftstheo­ rie erhalten die Menschenrechte deshalb den Status einer „Inklusionssemantik“.81 Sie dienen in Luhmanns Perspektive der akademischen Selbstbeschreibung eines Teilsystems und führen ein neues, differenzneutrales, eben „menschliches“ Prin­ zip ein. Allerdings ist diese Form der Semantik den Beschreibungsexperten in­ zwischen aus der Hand genommen und zum Gegenstand eines – wie Luhmann es nennt – „Menschenrechtsfundamentalismus“ geworden.82 Der Beschreibungs­ katalog hat mit dem UN-Beschluss Eingang in Politik und Diplomatie gefunden und ist zum Gegenstand weiterer internationaler Vertragswerke wie der Euro­ päischen Menschenrechtskonvention geworden. Mit dieser Entstehungsgeschichte setzen die Menschenrechte nicht nur einen neuen Inhaltskatalog in Kraft. Fast noch wichtiger als die inhaltlichen Neuigkeiten wird die Art und Weise, in der diese Rechte in Geltung gesetzt worden sind. An­ ders als Normen üblicherweise erlassen oder beschlossen werden, waren es nämlich nicht die Staaten, die es für ratsam befunden hätten, Inklusionsnormen zu verkün­ den. Diese Normen sind den Staaten aufgedrängt worden, so wie die Verfassungen insgesamt ihnen durch Zeichenprozesse der Nationen verordnet worden sind. Die Menschenrechte in ihrer Idee wie in ihren wesentlichen Inhalten waren geboren, bevor internationale wie nationale Körperschaften sie beschlossen haben. In einer postmodernen Redeweise kann man das Substrat für solche ­aufgedrängten Norm­ 80

Fischer-Lescano (Fn. XII. 51), 47. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt 1997, 2: 628. 82 Luhmann (Fn. XII. 81), 1022. 81

470

XII. Verfassungen

bereicherungen ein „Regime“ nennen. Für Lyotard besteht das Für und Wider im Meinungsgegeneinander des différend aus régimes de phrases.83 Das sind Satzord­ nungen, die jemand für die Begründung und argumentative Durchsetzung seiner eigenen Meinung bildet, und im Sinne von Lyotard beginnt der Regime-Charak­ ter schon dann, wenn ein Satz einem anderen begründend folgt, an ihn anschließt. Nach, mit und meist ohne Kenntnis und Rückgriff auf Lyotard wird weniger deut­ lich und analytisch weniger greifbar davon gesprochen, dass es beispielsweise Rechtsregimes gebe. Von den Menschenrechten als „human rights regime“ war schon die Rede. Gemeint ist damit ein Würde-Index, der Menschenrechte in Kraft setzt und normativ so mit einzelnen Fällen verknüpft, dass die Interpretanten selbst wieder einer Ordnung von Menschenrechten zugerechnet werden können.84 Ein Regime ist eine Zeichenordnung, die Wirksamkeit – Zweitheit – für ihre Hervor­ bringungen beansprucht und tatsächlich erringt. In diesem Sinne bilden nicht nur Menschenrechte ein Regime aus. Jede einigermaßen verdichtete Zeichenproduk­ tion prägt in ihrem Geltungsbereich ein Regime. Der Ausdruck hat keinen guten Klang, wenn vom NS- oder SED-Regime, vom Regime des Kalifats oder des inter­ nationalen Drogenhandels die Rede ist. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass Drogenhändler, Menschenschlächter und ideologisch Fehlgeleitete eine Zeichen­ ordnung entwickeln, die sie selbst gebrauchen, die sie anderen aufzwingen und in der sie selbst auskömmlich zu leben scheinen. Das ist die hässliche Seite eines Re­ gimes. Auf der anderen, einer Verfassung zugewandten, menschenrechtlichen Seite stellen Autoren wie Fischer-Lescano und Gunther Teubner darauf ab, dass Recht eben kein beliebiges Produkt staatlicher Ordnungen sei, sondern aus den gelebten Handlungen und Willensbildungen von Gemeinschaften stammt.85 Die Menschen­ rechte werden dabei zum Modell für selbst erzeugtes und im Prozess der Erzeugung selbst schon verantwortlich geprägtes Recht. Dieser postmoderne Vorgang ähnelt der Beschreibung vormoderner „Verfassungsgeschichte ohne Verfassung“, wie sie Barbara Stollberg-Rilinger für das Alte Reich gegeben hat.86 Sie hebt die im Ritual zelebrierte symbolische Botschaft als verfassungsgebend hervor, eine Botschaft, für die es keinen bindenden Text gegeben hat. Weil es vormodern eine solche in­ haltliche Bindung in der Herstellung nicht gegeben hat, gab es dementsprechend auch keine Darstellung, deren Aufgabe es gewesen wäre, den Inhalt zu legitimie­ ren. Ähnlich direkt werden Menschenrechtsforderungen heute in faktisches Recht überführt – ohne Beschluss.87 Denn das Regime-Recht bezieht die wesentlichen 83

Lyotard, Le différend (Fn. V. 67), Nrn. 78, 79, 178, 179. Jeremy Waldron, Dignity, Rank, and Rights, Oxford 2015 (Tanner Lectures on human values), 15–27. 85 Fischer-Lescano/Teubner (Fn.  X. 70), 58 f.; Teubner, Verfassungsfragmente (Fn.  VIII. 78), 36. 86 Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 127 (2010), 1–32 (10). 87 Frank I. Michelman, Brauchen Menschenrechte eine demokratische Legitimation?, in: Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschen­ rechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt a. M. 1999, 52–65. 84

3. Menschenrechte

471

menschenrechtlichen Inhaltsanforderungen in den Prozess seiner Verhandlungen ein und braucht nicht wie das staatliche Recht eine nachträglich aufgesetzte Su­ per-Rechtskontrolle. In der Perspektive von Teubner ist Regime-Recht deshalb eine originäre Verfassungsangelegenheit, die im Ansatz auch keine Gerichte und kein Justizdispositiv braucht. Im Gegenteil erweist sich der Gerichtsweg als wenig re­ sonanzfähig für die wesentlichen Regime-Angelegenheiten.88 Teubners Regime der Menschenrechte oder anders: ein menschenrechtlich re­ flexiv geordnetes Rechtsregime ist nicht auf Gerichte angewiesen. Möller rekla­ miert für Verfassungsregimes neben der rechtlichen eine soziale und politische Di­ mension, die jeweils doppelt reflexiv aufeinander bezogen sein sollen.89 Dennoch sind gerade Gerichtshöfe das Forum für die inhaltliche Entwicklung der Men­ schenrechte geworden. Im modernen Justizdispositiv gibt es inzwischen einen­ Beschwerdeweg im Falle von Menschenrechtsverletzungen. Der Europäische Ge­ richtshof für Menschenrechte ist im Jahre 1959 eingerichtet worden mit der Aufgabe, Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention in den Staa­ ten, die dieser Konvention beigetreten sind, zu prüfen und festzustellen. Wirkliche Bedeutung hat er allerdings erst nach einer Organisationsreform im Jahre 1998 er­ langt. Wenn man nur einige, gegen Deutschland ergangene, viel zitierte und inso­ fern offenbar bedeutsame Entscheidungen ansieht, ergibt sich ein disparates Bild dessen, was alles eine Menschenrechtsverletzung gewesen ist: – Als menschenrechtswidrig gilt es, heimliche Aufnahmen aus dem Privatleben zu veröffentlichen (Caroline von Hannover./.Deutschland, Urteil vom 24. Juni 2004, Nr. 59320/00). – In der Anzeige wegen mangelnder Versorgung der Bewohner eines Pflegeheims kann ein berechtigter Akt der Meinungsfreiheit gesehen werden, so dass das Pflegeheim als Arbeitgeber nicht die Anzeige erstattende Angestellte kündigen darf (Heinisch./.Deutschland, Urteil vom 21. Juli 2011, Nr. 28274/08). – Das Recht auf persönliche Freiheit wird durch die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung verletzt, weil die früher vorgesehene ZehnjahresHöchstdauer aus § 67 d Abs. 3 StGB hätte wegfallen sollen (M./.Deutschland, Urteil vom 17. Dezember 2009, Nr. 19359/04). – Art. 13 EMRK wird verletzt, weil im deutschen Verfahrensrecht kein Rechts­ behelf gegen überlange Verfahrensdauer vorgesehen ist (Sürmeli./.Deutschland, Urteil vom 8. Juni 2006, Nr. 75529/01). Keine Verletzung von Menschenrechten – weder aus Art. 8–10 (gerichtet auf den Schutz des Privatlebens, der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit) noch auch in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ist dagegen in einem 88

Teubner (Fn. VIII. 78), 219–224. Kolja Möller, Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Trans­ nationalen, Bielefeld 2015, 72 f. 89

472

XII. Verfassungen

Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum zu sehen (S. A. S../.Frank­ reich, Urt. v. 1.7.2014). Alle diese Entscheidungen berühren politische, in der Öf­ fentlichkeit mehr oder weniger breit diskutierte Fragen und müssen nicht mit allge­ mein menschenrechtlichem Bezug behandelt werden. Die mit Geldstrafe bewehrte Norm für das Tragen einer Burka, die in Frankreich beschlossen worden ist, kann man strafrechtlich unter dem Gesichtspunkt problematisieren, welches Rechtsgut damit geschützt werde. Die Frage der Verletzung des Persönlichkeitsrechts gehört in den Zusammenhang des privaten Delikts- und des öffentlichen Presserechts, die zulässigen Gründe für eine Kündigung im Arbeitsverhältnis sind eine Angelegen­ heit des Arbeitsrechts, gesetzgeberische Maßnahmen im Maßregelrecht betreffen ebenso wie Verbotsnormen für eine Gesichtsverschleierung Grenzen der Gesetz­ gebung, und Gerichtspraktiken in der Verfahrensgestaltung behandelte man her­ kömmlich als nicht gebunden. Arbeitsrecht, Prozessrecht, Deliktsrecht oder Maß­ regelrecht verfügen über ein eigenes, auch differenziertes Normensystem. Teilweise ist dieses Normensystem verfahrensmäßig bereits überformt durch eine Grund­ rechtskontrolle eines nationalen Verfassungsgerichts. Das war im Verfahren der Caroline von Monaco der Fall. Bevor in dieser Sache der EGMR im Jahre 2004 entschied, hatte bereits das Bundesverfassungsgericht der Klägerin in weiten Tei­ len, aber nicht in vollem Umfang Recht gegeben, allerdings die Rechtsdurchset­ zung an verschiedene näher bezeichnete Abwägungen gebunden, die die Fach­ gerichte noch hätten vornehmen sollen. Der EGMR hält solche Differenzierungen nicht für geboten und hat die Veröffentlichung von Bildern aus der sogenannten „Privatsphäre“ aus sich heraus für menschenrechtswidrig erklärt. Das hat freilich die nationale Rechtsprechung nicht erledigt, in der nach dem Beschluss des Bun­ desverfassungsgerichts vom 26.2.200890 wiederum bereichsspezifische Abwägun­ gen das Ergebnis tragen. Nun erfasst die „Caroline-Rechtsprechung“ sicher nur den besonderen Kom­ plex einer reichen, kein Prozessmittel scheuenden Klägerin und ist selbst nur noch für Spezialisten zu überschauen. Als Resultat für eine allgemeine Rechtslehre ist allerdings zu beobachten, dass mit dem rhematischen Zeichen „Menschenrechte“ und den unter diesem Titel zur Verfügung gestellten Rechtseinrichtungen das Recht systemintern ein weiteres Mal unübersichtlicher und undurchschaubarer ge­ macht wird, als es wegen der Übersetzung von Rechtssymbolen in Verwaltungs­ entscheidungen ohnehin unvermeidlich ist. Es gibt nämlich strukturell keinen Bereich, den man sich nicht als Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde vor­ stellen kann und der nicht auch wirklich schon einmal zum Gegenstand gemacht worden ist, wenn auch oft nicht erfolgreich. Für den Erfolg solcher Beschwerden bei einem Gericht kommt es auf die Entscheidungsfreude und Abwägungssicher­ heit seiner Mitglieder an. Denn es ist erst die Entscheidung selbst, die dem Zeichen seinen Inhalt gibt. Gesetzestexte reichen dafür nicht aus. So kann die Entschei­ dung des EGMR (die als Rechtfertigung des Burkaverbots gelesen wird) dahin kri­ 90

Caroline von Monaco III: BVerfGE 120, 180.

3. Menschenrechte

473

tisiert werden, dass gar nicht erkennbar sei, ob etwa – wie die Republik Frankreich geltend gemacht hat – die Kontaktaufnahme im öffentlichen Raum notwendig sei und durch eine Gesichtsverschleierung wirklich behindert werde. Offensichtlich ist, dass die Entscheidung des EGMR der aktuellen Mehrheitsmeinung entspricht. Für sich genommen ist sie ein propositionaler Index, nicht mehr. Er ärgert alle die­ jenigen, die Geld mit der Vervielfältigung von Legizeichen verdienen und deshalb nach Argumenten suchen. Ob solche Argumente zum Erfolg führen, weiß man zeitgenössisch so wenig, wie der belgische Kassationsgerichtshof 1889 gewusst hat (Kap. X. 2.), dass seine Entscheidung über die Nichtzulassung von Frauen zur An­ waltschaft später einmal als offensichtlich menschenrechtswidrig bezeichnet wer­ den würde, weil es die Gleichheit verletzt. Gleichheit interessiert immer nur unter einem ausgewählten Gesichtspunkt, und oft fällt erst einmal nicht auf, wie prekär die Auswahl ist.91 Es fällt erst bei wie­ derholter, zeitlich und institutionell gestaffelter Auswahl auf. Dazu laden die Texte zur Geltungsbegründung der Menschenrechte ein. Sie ähneln den Grundrechts­ katalogen bis zum Verwechseln. Die Europäische Menschenrechtskonvention, auf deren Grundlage der EGMR entscheidet, enthält in ihren Art.  1–14 Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit, auf ein faires Verfahren, auf Achtung des Privatund Familienlebens wie auf die Freiheit der Meinungsäußerung, und sie verbietet Diskriminierung, Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit. Die 30 Artikel der Allge­ meinen Erklärung der Menschenrechte, die die Generalversammlung der Ver­ einten Nationen 1948 verabschiedet hat, enthalten ebenfalls Rechte, die auch als Grundrechte verstanden werden können. In ihr enthalten sind darüber hinaus For­ mulierungen wie jene in Art. 26 Ziff. 2, der lautet: Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständ­ nis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. Das sind zweifellos Rechtsnormen (Kap. IX. 1.), weil sie schon in ihrem Wort­ laut das Müssen mit sich führen. Sie gehen aber propositional, also in der Satzform über den lange gewohnten Inhalt von Normen als argumentativen Legizeichen deutlich hinaus. Was soll wohl erstrebt sein, wenn man erfährt, dass alle Bildung zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen beitragen soll? Welche Bildungsinhalte werden damit ausgeschlossen? Wenn man das noch leidlich konkret angeben kann, darf man schließlich fragen: Wer kontrolliert die Durchsetzung solcher Normsätze? Was geschieht bei ihrer Verletzung? Wenn aber nichts geschieht: Gelten Normen, deren Verletzung ungestraft geschehen kann? Die Fragen kann und muss man stellen, nur Antworten darf man sich darauf nicht erhoffen. Es kann sein, dass auch als Programmsätze formulierte Normen zur Aufhebung von Urteilen oder zur Anordnung konkreter Maßnahmen benutzt 91

Perelman (Fn. X. 86), 85.

474

XII. Verfassungen

werden. Es ist möglich, aber ob es wirklich geschieht, kann man nicht wissen, je­ denfalls nicht ohne faktische Kenntnisse über Verfahren, Gericht und Richter, Vollzugsorgane und Durchsetzung. Normierte Menschenrechte erhöhen also die Unsicherheit in der Prognose von Rechtsergebnissen. Damit ist der Diskurs über Menschenrechte freilich nicht erledigt, im Gegenteil. Systemkritiker wie Profiteure der herrschenden Macht, Rechtsfreunde wie Rechts­ feinde, Nichtregierungsorganisationen wie Regierungen, Juristen wie Philosophen, Europäer, Nichteuropäer, Rechtstheoretiker und Praktiker – sie alle reden von Men­ schenrechten. „Human rights became the fate of postmodernity, the ideology after the end, the defeat of ideologies“, lautet der (rechtstheoretische) Kommentar von Costas Douzinas.92 Das ist der Ausgangspunkt für die Behandlung in dieser allge­ meinen Rechtslehre: Die Berufung auf Menschenrechte steht repräsentativ für das Rechtszeichen insgesamt. Unvermeidlich ist in einem solchen Fall die Vieldeutig­ keit dessen, was darunter verstanden wird. Man könnte geradezu umgekehrt sa­ gen: Weil die argumentative Bedeutung offen ist, die propositionale Verwendung nicht festgelegt und der rhematische Zeichenvorrat unendlich scheint, sind „Men­ schenrechte“ als Zeichen so überwältigend. Sie haben Legistatus, appellieren also an regelhafte Ausarbeitung auch und gerade in Fällen, in denen es entsprechende Regeln noch gar nicht gibt. Die Berufung auf Menschenrechte soll zu einer pas­ senden Regelbildung führen. Sie ist mehr ein Aufschrei als ein Zitat, mehr der In­ begriff eigenen Erlebens als der Verweis auf allgemein übliches Handeln. Denn jeder Schrei, mit dem Menschenrechtsverletzungen öffentlich gemacht werden, ruft auch ein juristisch-methodisches Problem hervor, das auffällt, wenn man sich mit den Einzelheiten vieler Fälle beschäftigt. Menschenrechte werden in degenerierten Zeichen eingeklagt. Juristisch ausgedrückt: Ihre Formulierung und ihre Dogmatik sind reduktiv. Um das Problem menschenrechtlicher Verstöße zu erfassen, muss man nicht selten den Wert- wie Tatsachengehalt auf zwei Seiten er­ fassen, die gegeneinander streiten oder sich auch nur gegenüberstehen. Die Macht schweigt. Eben deshalb ist ein Schrei gegen sie notwendig. Damit hinterlassen Menschenrechtsfälle oft einen exotischen, disparaten Eindruck neben dem Ein­ drücklichen, über das man nicht viel Worte machen muss. Jährlich berichtet Am­ nesty International über solche Fälle, ohne sie juristisch zu kommentieren. Aber welche normativen Zweifel hat man, wenn man von folgenden Ereignissen hört: – Als der Straßenkehrer Muharrem Dalsüren in Ankara seine Arbeitsgeräte zusam­ menräumt, gerät er ins Visier eines gepanzerten Fahrzeugs und wird von einem Tränengasgeschoss getroffen. Ein Polizist zielte in einer Entfernung von 20 Me­ tern auf ihn und traf ihn – obwohl er sich abwendete – am Auge. Er verlor sein Augenlicht. Auf eine Anzeige gegen die Polizei hatte die Staatsanwaltschaft in Ankara noch nach einem Monat keinerlei Reaktion erkennen lassen.93 92 Costas Douzinas, A Short History of the British Legal Conference, or the Responsibility of the Critic, Law Critique (2014) 25, 187–198 (192). 93 http://seibert.biz/amnesty.

3. Menschenrechte

475

– Delaram Ali, die im Iran für Frauenrechte eintritt, ist im Juni 2006 nach einer Demonstration festgenommen worden. Im Juli 2007 verurteilt sie ein Revolu­ tionsgericht in Teheran zu 35 Monaten Haft und zehn Peitschenhieben. In der Berufung wird die Strafe auf 30 Monate Gefängnis reduziert.94 – Im Jahre 2007 wird Zahra Bani Yaghoub, die gerade ihr Medizinstudium abge­ schlossen hat, festgenommen, weil „sie mit ihrem Verlobten durch einen Park spazierte. Einen Tag später war sie tot. Die Behörden gaben an, sie habe sich­ erhängt.“95 – Mitglieder der „Umweltwacht Nordkaukasus“ werden vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi festgenommen und inhaftiert. Die Tatvorwürfe ge­ gen die einzelnen bezeichnet man als haltlos. Dennoch wird einer zu einer drei­ jährigen Freiheitsstrafe verurteilt und in ein Straflager verbracht.96 – Der irakische Staatsbürger Abd al Hadi al-Iraqi wurde im Oktober 2006 in der Türkei festgenommen und an US-Behörden ausgeliefert. Seitdem befindet er sich in geheimer Gefangenschaft, seit April 2007 in Guantanamo. Sein Verfahren nach dem Military Commissions Act ist Ende 2014 noch nicht abgeschlossen.97 Wie Fälle es mit sich bringen, kann man das Funktionieren (oder Nicht-Funk­ tionieren) des Justizdispositivs  – wenn man will  – immer auch rechtfertigen. Wann eine Behörde reagiert, bleibt ihr überlassen; der Fürst muss nicht auf An­ forderung reagieren. Wie jemand bestraft wird, entscheiden Gerichte in verschie­ denen Ländern verschieden; einheitliche Maßstäbe dafür gibt es nicht. Warum jemand Selbstmord begeht, unterliegt keiner externen Beurteilung, und ob Anzei­ gen berechtigt sind oder nicht, kann man ohne Kenntnis des Sachverhalts sowieso nicht sagen. Ist also alles in Ordnung? Man muss ein ikonisch erfahrenes Ge­ spür für Normverletzungen haben, ehe man weiß: Auf eine Anzeige muss eine sie entgegennehmende Stelle sofort reagieren. Haft ohne Anklage darf nicht sieben Jahre dauern. Umweltschützer, die gegen eine staatliche Veranstaltung tätig wer­ den, dürfen Grundrechtsschutz in Anspruch nehmen und nicht zu einer dreijäh­ rigen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Wer in Haft genommen wird, demgegen­ über besteht eine so gesteigerte Fürsorgepflicht der Haftanstalt, dass Selbstmorde aus­zuschließen sind. Zweieinhalb Jahre Haft wegen oder nach der Teilnahme an einer Demonstration sind ein Justizskandal. Alles das sind Sätze, die nicht in Lehr­ büchern stehen und Erstheit wie Zweitheit der Reaktion verlangen. Man muss et­ was wagen und kann sich nicht darauf zurückziehen, die Fragen für berechtigt zu halten und die Umstände des Falls prüfen zu wollen, und man muss zu Zahlen, Strafmaßen, Ergebnissen wie Programmen Stellung nehmen. Menschenrechts­ 94 Amnesty International, Report 2008. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, Frank­ furt a. M. 2008, 187. 95 Amnesty International (Fn. XII. 94), 189. 96 Amnesty International, Report 2014/15. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, Frank­ furt a. M. 2015, 388 f. 97 Amnesty International (Fn. XII. 96), 510.

476

XII. Verfassungen

fragen führen in unsicheres Gelände, in dem man leicht stürzen kann. Der Schrei danach darf nicht einfach zu diskursivem Gemurmel führen. Im Unterschied zu Grundrechtsfragen ist das unvermeidlich. Grundrechtsfragen kann man immer stellen, und man kann darauf die eine oder andere Antwort ge­ ben. Auch wenn es Meinungsfreiheit gibt, ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass Äußerungen verboten oder bestraft werden. Auch in Respektierung von Justizgrund­ rechten kann trotzdem inhaftiert werden, und für Gleichheitsüberlegungen muss so­ wieso über die Vergleichsgruppe und ihre wesentlichen oder unwesentlichen Merk­ male diskutiert werden. Insofern führen Grundrechte in Diskussion und Diskurs, Menschenrechtsfragen tun das zwar auch, zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie eine unbedingte, sofortige Antwort verlangen. „Antwort“ heißt nicht gleichzeitig auch: Abhilfe. Wer im Jahre 2008 von der Menschenschlächterei in Mogadishu er­ fährt, kann nicht nacheinander die Al-Shabaab-Banden, äthiopische Miliz und so­ malische Truppen daran hindern oder bestrafen. Die Antwort von Organisationen wie Amnesty International besteht darin, die Mordtaten, Vergewaltigungen und Ver­ schleppungen zu dokumentieren, und das damit gesetzte Rechtszeichen ist klar: Es handelt sich um Mordtaten, Vergewaltigungen und Verschleppungen.98 Das muss man zuerst einmal verbreiten, und man kann dann (vielleicht) auf Eingreifen und Anwesenheit anderer Kräfte hoffen oder daran mitwirken. Oft trügen die Erwar­ tungen. Für das Jahr 2014 wird berichtet, die humanitäre Krise verschlimmere sich weiter, Somalia habe weder eine funktionsfähige Zentralregierung noch eine funk­ tionierende Justiz.99 Die Antwort erschöpft sich also vorläufig in der Anklage eines solchen Zustands, einem Index, den man – wie die jährlichen Beschreibungen von Amnesty International zeigen – argumentativ nicht weiter begründen muss und der auch nicht begründet wird. Wer die Menschenrechtsverletzung nicht sieht, dem ist nicht zu helfen. Sie zu bewerten ist nicht besonders schwer und bedarf keiner ge­ schärften Argumentationskunst. Insofern entspricht das Anprangern schwerer Men­ schenrechtsverletzungen einem minimalistischen Verständnis der Menschenrechte. Angeprangert wird, was jedem Vernünftigen als Untat einsichtig ist. Aber das ist nur die eine Seite des Verständnisses. Menschenrechtsverletzungen werden keineswegs vor allem und allein auf Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Verschleppung (Verschwindenlassen) bezogen. Wenn man sich umsieht, werden unter dem Titel der „Menschenrechte“ zahlreiche neue Rechte und Schutzgüter eingeordnet. Der Ruf nach Menschenrechten dehnt deren Gegenstandsbereich weit über das Strafrecht aus. Teile des Sozialrechts, des Arbeitsrechts, sogar des Urhe­ ber- und Leistungsschutzrechts sollen als Menschenrecht verstanden werden. Es soll ein Menschenrecht auf Erziehung und Schulbildung geben, eines auf Spiel und Freizeit und ein anderes auf soziale Fürsorge und geordnete Weltverhältnisse. Es sind vor allem Nichtregierungsorganisationen, die ein ausgedehntes Verständnis für den Umfang von Menschenrechten pflegen und zu ihnen beispielsweise auch 98

http://seibert.biz/somalia. Amnesty International (Fn. XII. 96), 377.

99

3. Menschenrechte

477

ein Recht auf eine freie und faire Welt zählen. Gemeint soll damit sein: „Everyone is entitled to a social and international order in which the rights and freedoms set forth in this Declaration can be fully realized.“100 Der Inhalt möglicher Menschen­ rechte ist offen, soll aber doch unmittelbar durchgesetzt und vor Veränderungen und Einbußen bewahrt werden. Damit kehrt die Frage der alten Jurisprudenz wieder: Wie weit reicht ein Recht? Noch Kelsen hat diese Frage in altem Sinne dadurch vermieden, dass er – abge­ sehen davon dass „Menschenrechte“ in der „Reinen Rechtslehre“ sowieso kein Stichwort abgeben – bereits die Grundrechte auf den Status von der Verfassung nur „verbotener“ (aber doch möglicher) Inhalte reduziert, die deshalb in einem besonderen, dafür vorgesehenen Verfahren als verfassungswidrig wieder aufge­ hoben werden müssen.101 Genau das ist der Zweck einer Verfassungsbeschwerde, die jedoch nach der nicht selbstverständlichen Konstruktion des Grundgeset­ zes zum Jedermann-Recht ausgeweitet worden ist. Jedermann kann Verfassungs­ beschwerde erheben, wenn er behauptet, unmittelbar in eigenen Rechten betroffen worden zu sein (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Das Recht, eine Individualbeschwerde zu erheben, ist auch in Art. 34 EMRK enthalten. Dies nun lässt diejenigen Schwie­ rigkeiten entstehen, die ein Justizdispositiv eben entstehen lässt, wenn man es einrichtet. Es entsteht Formenzwang (Kap.  VI. 3.), hervorgerufen wird die Not der Entscheidung (Kap. VI. 6.) und nicht zuletzt: Die Not wird durch Querulanz nicht selten bis zur Unerträglichkeit gesteigert (Kap. X. 5.). Verfassungsgerichts­ beschwerden und Menschenrechtsklagen sind eine Domäne der Querulanten.102 Auch darin steckt ein Schrei, aber er ist anderer Art und kann durch Gerichtsdis­ positive nur noch weiter gesteigert werden. Allein von der Verfahrensorganisation her zwingt das Massenaufkommen bei Individualbeschwerden jeden Gerichtshof zu einer vorgelagerten, nicht selbst ausführlich begründeten Ermessensentschei­ dung, ob man sich einer Sache überhaupt annehmen will. Schon die EMRK ent­ hält Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Individualbeschwerde, die bis in die Be­ gründetheit hineinreichen. Unzulässig sind nämlich offensichtlich unbegründete oder missbräuchliche Beschwerden, auch solche, bei denen dem Beschwerdefüh­ rer kein erheblicher Nachteil entstanden ist oder der Streit eigentlich schon gelöst ist (Art. 35 Ziff. 3 EMRK). Das sind ungewöhnliche Einschränkungen, wenn man überhaupt Jedermannsrechte begründet, und die Einschränkungen werden ihrer­ seits auch gleich wieder eingeschränkt; sie sollen nämlich dann nicht gelten, wenn die Achtung der Menschenrechte eine Entscheidung doch erfordere. Die Verfahrensordnung des EGMR statuiert dann weiteren Formenzwang. Man hat ein Formular zu benutzen und sich – natürlich – präzise und verständlich aus­ zudrücken, und zwar sowohl was die Sachverhaltsdarstellung angeht wie auch hin­ 100

http://seibert.biz/humanright. Kelsen (Fn. IX. 6), 145. 102 Ludger Wellkamp, Querulanz vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Jürgen Brand/Ger­ hard Strempel (Hrsg.), Soziologie des Rechts. Festschrift für Erhard Blankenburg zum 60. Ge­ burtstag, Baden-Baden 1998, 569. 101

478

XII. Verfassungen

sichtlich der möglichen Verletzungen der Konvention und der Zulässigkeitsvoraus­ setzungen. Das ist anspruchsvoll, viel anspruchsvoller, als es Prozessordnungen in gewöhnlichen („ordentlichen“) Verfahren vorsehen, in denen es eine Vielzahl von Hinweis- und Aufklärungspflichten gibt, um ein Rechtsbegehren auf seinen Rechtsgehalt hin zu konzentrieren. Das Verfahren macht aber jene Schwierigkei­ ten deutlich, die Peirce nur im Hinblick auf den Ruf des Straßenhändlers als Bei­ spiel für ein dicentisch-indexikalisches Legizeichen vorhergesehen hat. Es verlangt für jeden Anwendungsfall, dass dieser tatsächlich durch sein Objekt so beeinflusst wird, dass der Fall „bestimmte Information über das Objekt“ liefert.103 Das Ge­ setz, das anzuwenden wäre, ist also nicht definiert. Der Schrei, den eine Menschen­ rechtsverletzung – wenn sie „wirklich“ ist – auslöst, muss dann die konkrete Infor­ mation zur Schaffung dieses Gesetzes liefern, es muss aus dem Fall entstehen. Das ist – wenn man die Semiotik der Methode (Kap. X. 2.) kennt – nicht überraschend und auch nicht ungewöhnlich, verlagert aber die Schwierigkeiten des Zeichenver­ stehens in die praktische Urteilskraft. Menschenrechte sind eine Zeichensorte, die andere Aufgaben hat als diejenige, Regelmäßigkeit und Verfahrenssicherheit zu gewährleisten. Mit der Setzung eines konkreten Zeichens „Menschenrechte“ wird umgekehrt gerade normative Distanz zur geübten Praxis signalisiert. Geschützt wird die Erwartung, dass es ein gleiches, freies, nicht von willkürlichen Übergrif­ fen beherrschtes Leben gebe, gerade dann, wenn man die Erfahrung macht, dass einige Wenige mit willkürlichen Übergriffen das Leben der Übrigen beherrschen. Das war bereits Luhmanns Beobachtung: Unter dem Zeichen der Menschenrechte hält man Erwartungen gegen eine ganz andere Wirklichkeit durch, im Gegenteil entsteht die Idee „lanciert in einer Gesellschaft mit Sklaverei, mit massenhaften Enteignungen politischer Gegner, mit drastischen Einschränkungen der Religions­ freiheit, kurz: in der amerikanischen Gesellschaft von 1776 …“104 Menschenrechte als Rechtszeichen führen insofern zu einem anderen Umgang mit Normen als er in einem Methodenkapitel (Kap.  X.) abgelegt werden kann. Auch das hat Niklas Luhmann schon lange beobachtet. Wenn es sich um Men­ schenrechtsfälle handelt, die den Namen verdienen, wenn es um „das Foltern und Beseitigen von Menschen oder das Tolerieren solcher Praktiken, die immer gerin­ ger werdende Garantie öffentlicher Sicherheit mit hoher Toleranz von physischer Gewalt“ geht, darf man es im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft „geschmack­ los“ nennen, „angesichts solcher Atrozitäten in Texten nachzuschlagen oder die lo­ kal geltende Rechtsordnung zu befragen, ob dergleichen erlaubt ist oder nicht.“105 Insofern liefert der Fall selbst die für seine Bewertung bestimmte Information über das Objekt. Das eben ist Peirces methodische Kennzeichnung. Es ist allerdings nicht gleichzeitig auch der letzte Zeichengebrauch. Auch Menschenrechte geraten 103

Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Fn. I. 42), 130. Luhmann, Recht der Gesellschaft (Fn. VI. 92), 135. 105 Niklas Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfal­ tung, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, 229–236 (234). 104

4. Der Aufstand der Zeichen

479

ins Justizdispositiv und erhalten dort den üblichen methodisch-symbolischen Zu­ schnitt. Sichtbar wird auf diese Weise eine dreifache Faltung des Rechtszeichens. Gegenstand juristischer Beurteilung in Menschenrechts­beschwerden sind nicht selten Gerichtsentscheidungen oder staatliche Gesetze, die nach den Zulassungs­ voraussetzungen für eine solche Beschwerde auch nach innerstaatlicher und oft grundrechtlicher Prüfung als unbedenklich angesehen worden sind. Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde ist dann die Rechtmäßigkeitsprüfung bereits für rechtmäßig befundener Entscheidungen anhand rechtmäßig zustande gekomme­ ner Gesetze. Darin enthalten ist alles andere als ein Schrei. Das ist eine Form, in der nur Aussagen berücksichtigt werden. Der Schrei nach Menschenrechten manifestiert sich in anderen als gerichtlichen Foren und ist nicht selten gegen staatlich verantwortete angeblich letztinstanzliche Justizentscheidungen gerichtet. So ging es dem inzwischen zum historischem Vor­ bild gewordenen Nelson Mandela im damaligen südafrikanischen Staat,106 so pro­ testierten die Frauen der russischen Popgruppe „Pussy Riot“ gegen eine maßlose Verurteilung, und so geht es in diesen Tagen dem Araber Raif Badawi in Saudi Arabien, der das unglaubliche Strafmaß von 1000 Peitschenhieben zum Buchtitel hat werden lassen.107 „Schrei“ heißt heutzutage: Der oder die Entrechteten wenden sich über elektronische Massenmedien an die Weltöffentlichkeit, sie lösen Kam­ pagnen gegen den Staat aus, dessen Justiz die entsprechende Verurteilung zu ver­ antworten hat, und werden zu einem Ikon emanzipatorischer Politik. Das traf in den Achtzigerjahren auf Nelson Mandela zu und führte letztlich zu einem grund­ sätzlichen Staatswechsel in Südafrika. Putins Russland hat durch ein Amnestiege­ setz auf die weltweit beanstandeten Justizakte und Lagerstrafen gegen Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina reagieren müssen, und wie lange die abso­ lut regierende Familie Saud den Protest überhören kann, bleibt derzeit noch abzu­ warten. Der Schrei nach Menschenrechten hat keinen Platz im Justizdispositiv, er muss sich seine eigene Form suchen, und ist selbst schon ein Aufstand gegen Zei­ chen der staatlichen Justiz. 4. Der Aufstand der Zeichen Verfassungen enden mit Aufständen und entstehen daraus, denn Verfassungen stellen eine Diskursordnung bereit, die offen erkennbar ist und gegen die man sich entsprechend offen wenden kann. Zugrunde liegt ein allgemeines semiotisches Er­ eignis. Zeichen haben eine Ordnung, das heißt, sie treten in einer gewohnheitsbasier­ ten Zusammenstellung auf, haben erwartete Folgen und sind in ihrem Auftauchen 106

Joel Joffe, Der Staat gegen Mandela. Ein Protokoll über den Rivonia-Prozeß, Berlin 2006, 61–77. 107 Raif Badawi (Autor), Constantin Schreiber (Hrsg.), 1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke, Berlin 2015.

480

XII. Verfassungen

vorhersehbar. So eruptiv ein Ikon hervortreten kann, so erwartbar ist es in Wirk­ lichkeit. Die Überraschung ergibt sich aus der Perspektive im Zeichenprozess. Historische Ordnungen waren erwartbar bis zu dem Zeitpunkt, an dem man je­ weils eine Revolution erwartete, und danach werden auch Revolutionen zu einem erwart­baren Ereignis. Aufstände sind die Bewegung gegen Erwartungen und Ord­ nungen. Sie locken andere Interpretanten hervor, solche, die die Aufständischen oft selbst nicht kennen. Vereint im Aufstand gegen Zeichen und ihre Bedeutung finden sich disparate Ereignisse, die von der Rückgabe der römischen Kaiserkrone über die Schüsse auf den Erzherzog-Thronfolger im Jahre 1914 bis zum Massen­ mord am 11. September 2001 reichen. Für Zeichenordnungen sind in der Geschichte des Abendlandes einmal Jahr­ hunderte reserviert gewesen. Von der griechischen war hier bisher gar nicht, von der römischen Ordnung wenig die Rede. Beide zusammen haben ein Jahrtau­ send gedauert, und als Ordnungsprinzip wirken sie bis heute nach. Man kann wei­ tere paradigmatische Orte nennen, so wie Christoph Menke nach Athen und Rom­ London die Ehre des modernen Rechts zukommen lässt.108 Gleichwohl ist Rom als Ordnungsfaktor bis zum heutigen Tage „unentrinnbar“, und wer nach der Ordnung des Rechtszeichens sucht, kommt an der römischen Praxis nicht vorbei.109 In die­ sem Sinne ist „Rom“ nun nicht so zu verstehen, als dass es eine fortlaufende Se­ mantik gegeben hätte, Inhalte also, die über ein Jahrtausend Bestand gehabt hät­ ten. Die römische Ordnung enthält auch eine Geschichte der Aufstände. Was Rom als Zeichen bezeichnet hätte, wurde durch Aufstände zerstört, bestritten oder auch ins Gegenteil gewendet. Der Aufstand war und ist ein Zeichen, das sich gegen den Ordnungsanspruch richtet. Man muss dahinter nicht notwendig einen anderen großen Anspruch sehen. Der Aufstand richtet sich einfach gegen eine herrschende Ordnung, weil sie herrscht. In oder gegen Rom erhoben diejenigen, die dort gerade nicht herrschten, mit den Mitteln neuer Zeichen den Anspruch, selbst herrschen zu wollen. Für Catalina hat Cicero das Zeichen des Aufstands gesetzt, aber die Cati­ linarische Verschwörung ist nur ein Zeichen in einer Kette ähnlicher Ereignisse. Fögens römische Rechtsgeschichten sind Geschichten von Aufständen gegen Zei­ chenordnungen. „Produktive Missverständnisse“ nennt Fögen Uminterpretationen in der Rolle bedeutsamer Frauen110 und erzählt von Schließungen, Öffnungen und schließlich Entfaltungen des Rechts durch nicht geplante Szenen. Die Rechtsgeschichte wirkt nicht so einheitlich, wie es der Begriff „Rom“ ver­ muten ließe. Roms Ende wurde vollzogen, indem sein Zeichen verschwand. Der letzte, aber nicht einmal mehr im Apennin wirklich herrschende weströmische Kaiser Romulus gab die kaiserlichen Insignien zurück an den oströmischen Kol­ legen Zeno, der damit wieder zum einzigen Kaiser wurde und die Macht an den in Ravenna herrschenden Germanen Odoaker als Statthalter hätte übertragen sol­ 108

Menke (Fn. III. 3), 19–42. Cornelia Vismann, Unentrinnbares Rom?, in: (Fn. II. 40), 21–33. 110 Fögen, Römische Rechtsgeschichten (Fn. VI. 11), (36). 109

4. Der Aufstand der Zeichen

481

len.111 Er tat es aber nicht, denn mit Rom war es zu Ende. Odoaker war auch nicht irgendjemand, sondern ein Gewalthaber. Der Aufstand durch Zeichen beruht meist auf gewaltsamen Ereignissen. Aber Zeichen sind Zeichen und stehen für mehr als nur Gewalt. In der Anlage reicht es schon, dass überhaupt ein Modus der Zeichenverkettung besteht, so etwas wie „Rom“. „Rom“ war vor allem anderen ein funktionierender Staat. Der Staat existiert durch fortgesetzte Zeichenoperationen unter diesem Re­ präsentamen. Im Alten Reich wurde im Jahre 1764 zum letzten Mal mit großem Pomp ein römischer Kaiser in der Krönungsstadt Frankfurt a. M. gekrönt. Die His­ torikerin Stollberg-Rilinger hat das Ereignis gewürdigt und die notwendigen Re­ präsentamen des Alten Reichs zu einem „Geschehen von reiner Zeichenhaftigkeit“ zusammengefasst.112 Solche Operationen garantieren die innerstaatliche Zeichen­ ordnung, rufen aber auch immer Gegenbewegungen hervor. Im Falle des gekrön­ ten Kaisers Joseph II. ließ dieser selbst schon wissen, er verabscheue „toutes les difficultés et gênes attachés  a des céremonies pareilles“.113 Die römisch-deut­ sche Art der Zeichenverfassung war schon Vergangenheit, als sie noch praktiziert wurde. Dabei dürfen Gegenbewegungen angesichts jeder Art von Zeichen­praxis erwartet werden. Die Neigung dazu steigt in der Moderne stetig. Gegen jeden Interpretanten gibt es ein Zeichenmittel, das zum Objekt gemacht werden kann, und wenn sich eine Stimmung für solche Interpretationsbewegungen ausbreitet, werden auch Aufstände erwartbare Ereignisse – wie in Rom, nebenbei bemerkt. Die modernen Verfassungen stellen solche Interpretanten zur Verfügung. In der kontinentaleuropäischen wie (US-)amerikanischen Rechtstradition sind Operatoren entstanden, die sich für Partialaufstände gegen herrschende Mächte eignen oder zumindest geeignet sind, Insignien für geführte Aufstände zu werden. Das ist als These schon ausgebreitet worden (Kap. XII. 2.–3.): Mit der Formulie­ rung von Grund- und Menschenrechten sind Zeichen entstanden, die sich der ju­ ristisch-fachlichen Beherrschung entziehen. Formal kann man das daraus ersehen, dass die Zeichen in Verfassungen Mischungen von Erstheit und Zweitheit enthal­ ten und damit der fachlichen Dogmatisierung operativ etwas anderes entgegen­ setzen. Sie verselbstständigen sich buchstäblich, ohne dass man auf den normati­ ven Wert der Aussage noch achten kann. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit galten vor Erlass der französischen Verfassung als Fahnenworte der Revolution, und zumindest Freiheit und Gleichheit sind es bis zum heutigen Tage unabhängig von verfassungsrechtlichen Feinheiten. Zu den Zeichen der Verfassung sind aber auch Fahnen, Wappen, Hymnen und andere Zeichen zu zählen. Dagegen stehen Texte erst im zweiten Rang einer Verfassungsentwicklung, für die Enthusiasmus­ 111 Michael Grant, Der Untergang des Römischen Reichs (1976). Mit einem Vorwort von Golo Mann, Bergisch-Gladbach 1988, 51. 112 Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Sym­ bolsprache des Alten Reiches, München 2008, 234. 113 Aus der Korrespondenz mit Maria Theresia zitiert nach Stollberg-Rilinger (Fn. XII. 112), 244.

482

XII. Verfassungen

gefordert ist.114 Darüber hinaus ist der Text nicht etwa aufgehoben im Gefüge einer etablierten Dogmatik, er bietet sich allen als Interpretant auch dann an, wenn man ein Gefüge für dogmatisiert und konsolidiert hält. Das Selbstbestimmungsrecht eines Teilvolkes macht sich als Menschenrecht in Norditalien, Schottland oder­ Katalonien bemerkbar, nationale Freiheitsansprüche richten sich gegen eine von allen Nationen angenommene europäische Verfassung. Man sagt „Gleichheit“ und meint Besserbehandlung. Nicht immer lassen sich überhaupt Texte für die Zeichen gewollter staatlicher Ordnung ausfindig machen. Solche Zeichen wenden sich ge­ gen vermeintlich fixierte Bedeutungen. Jean Baudrillard, der semiotische Revolu­ tionär, nannte eben das den „Aufstand durch Zeichen“. Der Aufstand richtet sich gegen die herrschende Ordnung der „Simulakren“,115 im Sinne von Peirce gesagt: jener Ikons, die durch Imitation, Produktion und er­ neut zeichenhafter Objektivierung jeden Zeichenprozess tragen. Man verweigert sich der Imitation einer schon vorhandenen Zeichenordnung. In der Sache der rus­ sischen Punkrock-Aktivistinnen Tolokonnikowa und Aljochina („Pussy Riot“) wurde ein solcher ikonischer Aufstand geprobt. Der Aufstand war wirklich eine Verletzung der Ordnung und würde auch in anderen als der russischen Reaktionen polizeilicher oder strafrechtlicher Art hervorrufen. Wenn er weltweit doch nicht verurteilt worden ist, sondern Sympathien selbst bei denen hervorgerufen hat, die am Aufstand selbst nicht teilgenommen hätten, dann liegt das an der maßlosen Re­ aktion im Justizdispositiv. Der Aufstand gegen Zeichen gewinnt – wenn er Erfolg hat – ein Zeichenobjekt, das er zuvor so nicht hat planen können. Die Moskauer Aktion an sich hätte man als geschmacklos einstufen können, und Geschmack sollte auch herausgefordert werden. Das war Teil des Konzepts. Zum Aufstand ge­ hört ein Objekt, das empörend wirkt. Es wurde durch die gerichtliche Reaktion geschaffen. Empört hat am Ende die Verurteilung zu zwei Jahren Straflager. Un­ verhältnismäßige Reaktionen sind in autoritären und totalitären Regimes leicht hervorzulocken, und das indexierende Gericht macht dabei keine Ausnahme. Das Verhältnis ändert sich erst, wenn man der Bewegung der Interpretanten folgt, wie das Milo Rau in einem selbst wieder künstlerischen Nachspiel inszeniert hat.116 In der Entstehungsgeschichte grundrechtsgeleiteter Aufstände war Phantasie gefragt, und die Herrschaftsordnung einer Hochschule konnte man mit Rektorats­ besetzungen herausfordern (wie eine Geschichte über „die Tage der Politischen Universität“ zeigt117), das Sitzen und Stehen im Justizdispositiv konnte man schon mit der Kommentierung „wenn’s der Wahrheitsfindung dient“118 verändern. Man 114

Seibert, Gerichtsrede (Fn. I. 123), 65–68. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1976, dt. mit einem Essay von Gerd Bergfleth), München 1982, 79–130. 116 Milo Rau, Die Moskauer Prozesse. Sacharow-Zentrum Moskau 1.–5. März 2013, Berlin 2014, 34–159. 117 Alexander Kluge, Tage der Politischen Universität, in: (Fn. II. 55), 260–268; wiederver­ öffentl. in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt a. M. 2000, 204–211. 118 Der Spiegel 40/1968 (http://seibert.biz/spiegel40). 115

4. Der Aufstand der Zeichen

483

konnte in Seminare eindringen, sie besetzen, sich dort ausziehen oder – als Frau – schon ausgezogen hineinkommen. Das „Busen-Attentat“ auf Adorno erhielt – von vornherein medial geplant und sogleich im „Spiegel“ veröffentlicht – bundesweite Aufmerksamkeit und setzte ausgerechnet einen Stichwortgeber für Zeichenverän­ derungen dem Gespött aus.119 Zwei Oben-Ohne-Frauen genügten, um die Wahr­ scheinlichkeit misslingender Zeichenproduktion zu demonstrieren. Wenigstens einer der entblößten Frauen war die Aktion später peinlich. Nicht lange gab es et­ was zu lachen beim Aufstand durch Zeichen. Der Aufstand schloss die damals noch diskutierte, aber praktisch nicht beschränkbare sogenannte „Gewalt gegen Sachen“ ein. Man entblößt, blockiert, verbrennt und zerstört, aber schnell zeigt sich, dass damit auch Personen getroffen werden und es sich dabei nicht um eine unerwünschte Nebenfolge handelt. Auch wenn die Verbindung nicht begrifflich herzuleiten ist, kann man die „bleierne Zeit“ – wie Margarethe von Trotta die Dis­ kursverzerrungen der Fünfziger- bis Siebzigerjahre getauft hat – als Resultat eines Aufstands der Zeichen sehen. Die Morde der RAF waren garniert mit Indices, die die Täter als sozialistisch verstanden. Vom Busen-Attentat führt keine Zeichenver­ bindung zum Mord, so dass die Qualität des Aufstands auch nicht von vornherein beurteilt werden kann. Aber grundsätzlich herrscht Skepsis. Aufstände genießen keine allgemeine Sympathie. Es gibt Fälle, in denen sich der Aufstand der Zeichen nicht mehr vom Krieg unterscheidet. Dieses Stadium ist zumindest seit dem Jahr 2001 erreicht, wo­ bei durchaus fraglich ist, was man hier als „Krieg“ verstehen soll. Wurden von den Mördern der RAF noch bestimmte, gewissermaßen ausgesuchte Exponenten einer herrschenden Ordnung selektiert, so macht sich der islamistische Terror auch diese Mühe nicht mehr. Er erreicht jeden und wählt sich sein Objekt überall. Den­ noch oder gerade deshalb ist er auf Zeichen, auf Ikons und Indices, angewiesen, die so sprechend wirken sollen, dass sie einer sprachlichen Kommentierung, die meist auch gar nicht gegeben wird, nicht weiter bedürfen. Das hat etwas damit zu tun, dass der semiotische Aufstand zum Mittel eines Partisanenkrieges geworden ist. Der Krieg gegen diese Art des Terrors hat jedenfalls keinen Gegner, der sich zeigt, und Kriegsforscher wie Herfried Münkler nennen ihn „asymmetrisch“.120 Das war zuvor nur der Partisanenkrieg. Vor einem halben Jahrhundert hat schon Carl Schmitt zu verstehen gegeben, dass die Partisanenfigur theoretisch im noch ohn­ mächtigen Preußen entwickelt worden ist. Preußen wollte kein zweites Mal so kom­ plett kapitulieren, wie das im Jahre 1806 gegen den mächtigen ­Napoleon geschehen ist.121 Danach hatte sich schon in Spanien gezeigt, dass Einzelne gegen eine mäch­ tige Armee zwar keine Chance haben, aber im Hinterhalt erfolgreich sein können, wenn und solange ihnen allgemeiner s­ tillschweigender ­Rückhalt ­sicher ist. Gewalt 119 Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Fla­ schenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Bd. 3, Hamburg 1998, 119. 120 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, 48–57. 121 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, 45–52.

484

XII. Verfassungen

bietet sich seitdem als Zeichen für alle diejenigen an, die – obwohl ohnmächtig – die Mächtigen durch willkürliche Zeichen herausfordern wollen. Die größte Herausforderung liegt heute im ziellosen Schrecken und damit in Taten, die man bis zum 18.  Jahrhundert nur schlicht als Landfriedensbruch oder Mord bezeichnet hat. Es waren Kohlhaase, die antraten, Bomben zu wer­ fen, Verkörperungen eines realen Typus in Ausführung des literarischen Vorbilds (Kap. IV. 1.). Fast vergessen sind die Attentate in Südtirol Anfang der Sechziger­ jahre, bei denen italienische Staatsangehörige oder historisch: vergessene und von den NS-Verbrechern an die italienischen Komplizen verkaufte „Volksdeutsche“ meinten, gegen den Staat Italien zu Felde ziehen zu müssen. Carl Schmitt selbst nimmt die Algerienfranzosen und ihre Symbolfigur, den General Salan, als Bei­ spiel, um ein Partisanentum zu veranschaulichen, mit dem Salan, der de Gaulle noch 1958 lebhaft unterstützte, seit 1961 gegen Frankreich und de Gaulle Algerien als Teil Frankreichs hatte erhalten wollen. Salan wurde wegen Hochverrats ver­ urteilt und entging dem Todesurteil nur knapp.122 Auch wenn ein französischer Ge­ neral nicht als todeswürdiger Verräter erscheinen sollte, war doch klar, dass Salan und die Terrororganisation OAS Morde verübt hatten. Heute wird beim Aufstand der Zeichen nicht mehr wesentlich an die Mittel des Justizdispositivs gedacht. Während die Südtiroler und die Algerienfranzosen noch Rechtfertigungspapiere verfassten und im Stammheim-Prozess gegen die Ange­ klagten der RAF ideologische Debatten geführt wurden, ist der Partisanenauf­ stand inzwischen sprachlos, keineswegs aber zeichenlos. Verselbstständigt haben sich die Zeichen aus New York unter dem Datum des 11. September, auch wenn es dafür keine Sprache gibt und vielen die Bezeichnung als Massenmord nicht aus­ reichend zu sein scheint. Fast jede nicht juristisch-fachliche Kommentierung ver­ wendet inzwischen die Bilder der zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers, um damit Schrecken zu signalisieren. Norbert Reez hat die Filmdrama­ turgie untersucht, die das Ereignis heute zu etwas anderem als dem Tod macht.123 Es enthält eine Aufforderung, beispielsweise die Aufforderung zum Krieg ge­ gen den Terror, den George Bush sofort anschließend erklärte, oder die Aufforde­ rung an die Polizei – da man ein solches Ereignis nicht hat vorhersehen können –, nunmehr „vor die Lage“ zu kommen.124 Der Aufstand der Zeichen ist offenbar in der Lage, das alt eingeführte semiotische Verdachtsschema so zu verändern, dass man den Eindruck haben kann, es bedürfte keiner besonderen Situation mehr, um Verdacht zu schöpfen. Osama bin Laden, den man für den Anstifter, manchmal auch Planer der Morde ansieht, hat sich über den sichtbaren Zusammensturz wirk­ lich gefreut, wie man aus einem von US-Behörden in Afghanistan sichergestellten­ Video entnehmen kann. Wie die Gleise zum Eingangstor des Lagers Auschwitz 122

Die fünfte Stimme, in: Der Spiegel 23/1962 (http://seibert.biz/fuenftestimme). Norbert Reez, Beobachtungen zum anzeichenlosen Verdacht. Eine rechtstheoretische Perspektive, Berlin 2016, 29–33. 124 Reez (Fn. XII. 123), 41. 123

4. Der Aufstand der Zeichen

485

haben sich die Bilder der einstürzenden Türme als Symbol angeboten. Dabei ist kaum noch auszumachen, welche Bedeutung damit eigentlich verbunden wird und wofür man sie braucht. Bin Ladens Jubel steht auch für diese Bedeutungsexklu­ sion. Wie bei allen größeren Mordserien gibt es Freunde und Sympathisanten, de­ nen als Macht und sogar Verheißung vermittelt werden kann, was normativ nur Schande und Verbrechen ist. Dahinter steckt ein Affekt, und er dürfte über die reine Mordlust hinausgehen. Unter dem Gesichtspunkt der als Recht verstandenen Verfassungsnorm kann man den Aufständischen ohne Weiteres jedes Recht bestreiten, irgendeinen Gott, eine Nation oder die Arbeiterklasse und andere zeichengenerierte Entitäten zur Recht­ fertigung ihrer Anschläge zu benutzen. Aber sie tun es. Wenn hier vom Aufstand der Zeichen die Rede ist, dann ist damit der Verdacht verbunden, dass es weni­ ger die Zeichenbenutzer als die Zeichen selbst sind, die den Aufstand proben. Sie laden zur Revolution ein. Einst war es die Aufgabe staatlicher Zeichen, Loyalität zu bündeln und zu veranschaulichen, was jeder Lehnsmann seinem Fürsten per­ sönlich schuldete. In Zeiten des Aufstands verkehren sich die Gewichte. Was von seiner Bedeutung isoliert und zum Objekt eines nächsten anderen Zeichenprozes­ ses gemacht werden kann, ist immer auch eine Gefahr. Man darf an den Anfang dieser Rechtslehre (Kap. I. 1.) zurückgehen. Ein Rechtszeichen hätte der mögliche Mord an Hans-Joachim Rehse sein sollen, jenem im Justizdispositiv nicht verur­ teilten Beisitzer an Freislers Volksgerichtshof.125 Zweifellos wäre der Mörder  – hätte es ihn gegeben – angeklagt und verurteilt worden, außerdem hätte das im Klima des Jahres 1968 vermutlich eine Kampagne gegen linken Terror in Gang gebracht. Nun dürfte sicher kein Zweifel daran bestehen, dass Selbstjustiz Unrecht ist – jedenfalls solange man im Kontext des Justizdispositivs denkt und handelt. Es ist auch keine besondere Tat, sich einfach außerhalb eingerichteter Rechtsdurch­ setzung zu stellen und für sich selbst Recht zu bestimmen. Diese Fähigkeit gehört zu den Voraussetzungen der Zeichenentwicklung überhaupt. Trotzdem hat Delius recht, wenn er – mit Bedacht über 30 Jahre später – kühn behauptet, man würde ein Zeichen setzen, wenn man den staatlich privilegierten Mörder umbrächte. Der Gedanke führt in einen abgründigen symbolischen Tausch. Getauscht wird Tod gegen Tod, das aber symbolisch. Den Tausch hatte einst Mar­ cel Mauss als kulturprägende Operation hervorgehoben, und zwar auch dabei nicht als realen Tauschhandel, sondern als Geschenk, mit dem Sozialbeziehungen be­ gründet, vertieft und fortgesetzt werden.126 Mit Gaben werden andere Zwecke ver­ folgt, als das Objekt vermuten ließe, und manchmal ist weder klar, wer gibt, noch welches Objekt es sei, das gegeben würde, noch was man dafür eintauschte. Ab­ gründig wird das Verhältnis von Geben und Nehmen, wenn der Tod gegeben wird. „Se donner la mort“ – so beobachtet Jacques Derrida – wird übersetzt in „sich das 125

Delius, Mein Jahr als Mörder (Fn. Einl. 1), 9. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesell­ schaften (1925), Frankfurt a. M. 1990. 126

486

XII. Verfassungen

Leben nehmen.“127 Donner la mort, das ist: den Tod geben, und wer das tut, mor­ det – das ist die moderne westeuropäisch-amerikanische Sicht. Es ist die Sicht der­ jenigen, die Leben weder weggegeben noch gar genommen sehen wollen. Derrida als Sohn der drei abrahamitischen Religionen denkt anders: Donner la mort – das ist ein Zeichen, das auszuführen ein anderes Zeichen wäre.128 Darin liegt die Zu­ mutung im Delius-Text. Eigentlich passiert nichts. Delius gibt auch nichts, wenn er sich selbst, 30 Jahre später und ohne eine Tat ausgeführt zu haben, zum Mord ent­ schlossen erklärt – zumal Literatur ohnehin nicht etwas Bestimmtes geben kann. Es wird aber doch etwas getauscht. Als Leser eines solchen Textes wissen wir ziem­ lich genau, weshalb der Unterzeichner von 231 Todesurteilen als Gegengabe den eigenen Tod verdient hat, selbst wenn ihn die geltende Rechtsordnung als Rechts­ folge nicht mehr vorsieht. Der von Delius inspirativ beschlossene Tod tritt als Legi­ zeichen auf, er ist in der Gewohnheit verankert, weil Tod in den alten Rechten mit Tod vergolten wird. Im symbolischen Tausch kommt es auf die Zeitverschiebung an, so wie Delius die Vergeltung als aufgeschoben schildert, wenn auch aus schein­ bar praktischen Gründen. Es müssen erst die Umstände eines Anschlags auf Rehse erkundet werden, und das gibt dem Erzähler Delius gleichzeitig die Gelegenheit, bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte ebenso wie Justizereignisse des NS-Reichs darzustellen. Das Zeichen donner la mort macht sich in der Zwischenzeit selbstständig, es „flottiert“, wie Baudrillard über den symbolischen Tausch behauptet.129 Flottie­ rende Zeichen sind nun nicht so revolutionär, wie Baudrillard vermutet, und das Flottieren selbst ist auch nicht irgendeiner politischen Ökonomie geschuldet, die reale Gaben nicht (mehr) zulässt. Flottieren ist eine Folge degenerierter Zeichen­ produktion. Deshalb wird der Entschluss selbst zum Zeichen. Der Tod an sich oder auch nur der Entschluss dazu stehen als Qualizeichen für den Aufstand. In die alte Ordnung der Zeichen wird nämlich etwas eingeführt, das dort nicht hingehört – eigentlich. Allerdings besteht die Pointe von Derridas Essay über die Todesgabe in einer langen Deutung des abrahamitischen Opfers. Der Vater ist bereit, seinen Sohn Isaak dem göttlichen Befehl gemäß als Opfer darzubringen, und nimmt schon das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Erst da ruft der Engel des Herrn vom Him­ mel, Abraham solle einhalten, denn Gott wisse jetzt, dass er ihm seinen einzigen Sohn nicht vorenthalten wolle.130 Man gibt also dem Tod Zeit. Das gehört jeden­ falls zum neuen Begriff des Rechtszeichens. Was im Justizdispositiv durch Ver­ fahrensorganisation aufgeschoben und sachlich als Ergebnis eines Gesetzessatzes darzustellen wäre (aber von den Mördern Freisler und Rehse beim Ausspruch der 127

Jacques Derrida, Zeit geben I, (dt.:) München 1993, 76. Jacques Derrida, Donner la mort, in: Jean-Michel Rabaté/Michael Wetzel (Hrsg.), L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don, Paris 1992, dt. in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, 331–443. 129 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2002, 140. 130 Genesis 22, 1–19; Derrida (Fn. XII. 128), 396. 128

4. Der Aufstand der Zeichen

487

Todesstrafen zu einer zwangsläufigen Folge gemacht worden ist), muss nachträg­ lich gegen den gesetzmäßigen Mord in Stellung und vor allem in Bewegung ge­ bracht werden. Heute eignen sich Gesetzessätze dafür schlecht. Delius versucht es beiläufig: „Eine feste männliche Stimme aus der Luft, aus dem unendlichen Äther, stiftete mich an, kein Teufel, kein Gott, sondern ein Nachrichtensprecher, der seine Meldungen ablas und, wie auf einer zweiten Tonspur, mir die Aufforderung ins Ohr blies, den Mörder R. zu ermorden.“ „Eine freie Stimme der freien Welt“ nennt­ Delius diesen Sprecher, denn so nannte sich der damalige Sender RIAS in WestBerlin selbst. Das bewahrt den Mordauftrag erst einmal vor allen Vergleichen mit anderen zeitgenössischen wie zukünftigen Mordaufträgen. Aber solche Vergleiche drängen sich mit der Zeit doch auf, denn auf der zweiten Tonspur, die Delius insze­ niert, wird eben das Äußerste getauscht, das ein Mensch geben kann. Der symboli­ sche Tausch wird zu einem realen Tausch in dem Augenblick, in dem Mordaufträge durch einen selbst oder von anderen ernannten Beauftragten auch ausgeführt wer­ den. Der Tod ist das gewichtigste Zeichenobjekt, mit dem man den Aufstand gegen die gewohnheits- und gesetzmäßige Zeicheninterpretation proben kann, und nicht nur Delius hält ihn für am besten geeignet, auf Rechtsverletzungen zu reagieren. Der Aufstand der Zeichen ist in der Lage, die gesamte reale oder – je nachdem, wie man es sieht – symbolische Welt aus den Angeln zu heben. „The time is out of joint“ – dieser Satz aus dem Hamlet, den Deleuze zum Zeichen der Zeit erklärt,131 ist zur Überschrift für eine Postmoderne geworden, die sich von Grund- und Men­ schenrechten nicht verabschiedet hat, sie im Gegenteil mit Inbrunst interpretiert, in der aber tödliche Gewalt als Zeichen für den Aufstand geprobt wird. Der Aufstand wird als Zeichenereignis seit mindestens einem Jahrhundert geprobt. Am semio­ tischen Anfang stehen die Schüsse jenes Gavrilo Princip am 28. Juni 1914, deren Ziel der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau in Sarajevo waren. Der Tod eines ebenso ungeliebten wie unbeliebten Thron­ folgers hätte – bei vernünftiger Zeichenentwicklung – einfach zur Ernennung eines weiteren führen können und sollen,132 aber in degenerierten Prozessen ist alles mög­ lich. Es war damals vielleicht möglich, den von Princip und Komplizen geführ­ ten Befreiungskampf durch einen besonderen slawischen Ausgleich zu kompensie­ ren, was pikanterweise gerade der erschossene Thronfolger vorhatte. Aber darauf kam es den Attentätern nicht an. Abgesehen davon, dass sie sich über das Beste­ hen einer heute wieder abgeschafften „serbokroatischen“ Nation täuschten, war es ihnen auch unmöglich, den Mord als Mord zu erkennen. Der Todesschütze Prin­ cip bereute die Tat auch im nachfolgenden Strafverfahren (natürlich) nicht, sondern ließ sich in seiner Vernehmung dahin ein, er habe bloß einen Tyrannen ermordet, sei selbst ein Revolutionär und wünsche Österreich-Ungarn den Untergang.133 Zu 131 Gilles Deleuze, Vier Dichtersprüche, die die Kantische Philosophie zusammenfassen könnten (1986), in: ders., Kants kritische Philosophie, Berlin 1990, 7–9. 132 Hilde Spiel, Glanz und Untergang. Wien 1866–1938. 2. Aufl., Wien 1987, 187. 133 Das ist das (aktenbasierte) Wissen eines Romanciers: Ludwig Winder, Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman (1937), Berlin 1989, 586.

488

XII. Verfassungen

diesem Untergang kam es dann bekanntlich auch. Vorläufig gibt es kein im welt­ weiten Vergleich ebenso wirkungsmächtiges Kommandounternehmen, wenngleich sich Bilder und Zeichen wiederholen. Immer dabei ist der Tod, verstanden als Gabe wie als Gegengabe gegen allerlei Ungenanntes und auch nicht Nennbares, weil die sogenannten „Massen“, die vernünftigerweise revolutionäre Gründe hätten, sich regelmäßig in ihr Schicksal fügen und den Aufstand der Zeichen anderen überlas­ sen, die ihr eigenes Spiel damit treiben. Unmöglich wäre ein solcher Aufstand nur, wenn ihm die technischen Voraussetzungen der Zeichenverbreitung entzogen wür­ den. Aber das gelang schon 1914 nicht, und war auch damals schon von den Hin­ terbliebenen der Opfer gar nicht gewollt. Im Vordergrund standen nicht Trauer und Festhalten am bewährten Zeichenrepertoire. Stattdessen hat man das Ereignis als Index für einen Krieg genommen. Die Kriegserklärung kann man einhundert Jahre später als Symbol des Untergangs jener Welt ansehen, die Stefan Zweig, der Zeit­ genosse, als „die Welt von Gestern“ betitelt hat.134 Man hätte – sagen die Historiker heute – in Wien und Berlin keinen Krieg erklärt, hätte man übersehen, welche Fol­ gen das wirklich gehabt hat. Die Schüsse von Sarajevo haben Schusswechsel über weitere achtzig Jahre zur Folge gehabt. Als Zeichen waren sie wirksamer als jener „dritte Weg“ des Marschalls Tito, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine gedeihliche, einigermaßen menschenrechtsadäquate Rechts­ lage etabliert zu haben schien. Der Wechsel vom Justizdispositiv in den Krieg markiert den qualitativen Un­ terschied, den ein Aufstand seitdem auslöst. Das Justizdispositiv kennt Beschrän­ kungen, vor allem herrscht Ungewissheit hinsichtlich des konkreten Ausgangs in einem einzelnen Verfahren. Das will man vermeiden, der Aufstand, der den Tod eintauscht, soll eindeutig geahndet werden. Dazu eignet sich das Justizdis­ positiv nicht. Krieg (gegen den Terror) scheint ein Ereignis ohne lästige Ver­ fahrensbeschränkungen zu sein. Das Kriegsrecht des 19. Jahrhunderts gilt nicht mehr, „Krieg“ ist stattdessen ein Name für unbedingte Vergeltung. Das ist in al­ ler Regel sogar von den Tätern gewollt. Im Hinblick auf das Rechtszeichen kann man beobachten, dass ein Aufstand der Zeichen – obwohl selbst rechtszeichen­ haft – das Rechtsregime überschreitet und nicht oder nur noch in untergeordneter Weise als Verbrechen, stattdessen als Krieg interpretiert wird.135 Gegen den Ter­ rorismus hilft im gegenwärtigen Verständnis nur der Krieg gegen den Terror. Der Aufstand, der meist (nur) in einer Serie von Straftaten besteht, wird damit zu einem selbsttätigen Ereignis. Als Erster benennt es Baudrillard als Zeichenereig­ nis, verweist aber in seiner Beschreibung zunächst einmal auf U-Bahn-Graffiti in New York, die durch die Einführung eigener Zeichen die Ordnung stören.136 So­ gleich nach dem 11. September 2001 hat er freilich die These dahin ergänzt, Krieg 134 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1942), Frankfurt a. M. 1970, 250. 135 Cornelius Prittwitz, Krieg als Strafe – Strafrecht als Krieg?, in: ders. u. a. (Hrsg.) (Fn. IX. 61), 499–514 (513). 136 Baudrillard (Fn. XII. 128), 120–130.

4. Der Aufstand der Zeichen

489

gegen den Terror sei lediglich eine „Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mit anderen Mitteln.“137 Es mag dahinstehen, welche Interpretanten im politischen System zur Verfü­ gung stehen, um den Kriegsindex zu ersetzen, der seit 1914 regiert und die sym­ bolische Abschaffung des Angriffskriegs nicht nur überdauert hat, sondern in Wirklichkeit erst daraus entstanden ist. Seitdem der Angriffskrieg als Verbrechen geahndet wird, bewegt sich jeder Verteidigungskrieg außerhalb früherer Rechts­ grenzen. An das Justizdispositiv denkt man nur dann, wenn dem Terror der Bo­ den bereits entzogen ist, wie es sich bei der Einsetzung des Internationalen Straf­ gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) gezeigt hat. Der Aufstand des Osama bin Laden ist ohne Justizdispositiv durch ein Kommandounternehmen mit dem Tod geahndet worden, und man weiß noch nicht, ob diese immerhin durch einen Friedensnobelpreisträger verantwortete Tat eine Alternative zum Rechts­ zeichen, einen Modus davon oder einfach nur das Gegenteil darstellt. Man sollte vorsichtig bleiben wie Lyotard am Ende des différend: Gewalt und Terror allein sind noch kein Zeichen.138 Erst die Reaktion darauf, macht das Ereignis zum Auf­ stand. Das Rechtszeichen als Phänomen hängt davon ab, dass es einen symboli­ schen Tausch gibt. Was lehrt das Rechtszeichen am Ende? Oder was erwartet alle Beobachter an­ stelle eines Endes? Zunächst dieses: Die Lehre vom Recht ist selbst ein Zeichen und kennt ihren Gegenstand nicht. Nur Einzelne, die darüber sprechen, haben „Recht“, aber sie haben es nur als das eigene mögliche, nicht als wirkliches Recht. Das wirkliche Recht stammt aus vergangenen Verfahren und wird zum Objekt einer Kette weiterer Zeichenprozesse. Überhaupt wird jedes hervorgebrachte Zei­ chen selbst wieder Gegenstand einer eigenen Anschauung und einer fremden Re­ aktion, das Interpretierte wird in die Kette der interpretierenden Ereignisse wieder eingefügt und ist dann auch selbst interpretationsbedürftig. Für jedes teilneh­ mende Bewusstsein ist dieser lange Prozess nicht unendlich, sondern im Gegen­ teil kurz und überschaubar. Das liegt an den Zeichenkategorien der Anschauung. Recht kann nur in degenerierter Form angeschaut werden. Das kann man bedau­ ern, wird aber auf Anschauung doch nicht verzichten. Man kann sie nur verlän­ gern. Es bedarf unendlicher Interpretanten, um die Gefühle der Rache und Ver­ geltung durch symbolische Arbeit zu verlängern und zu weiteren Zeichen werden zu lassen, aber wegen dieser theoretischen Unendlichkeit erscheinen gleichzeitig auch alle degenerierten Formen so verständlich und unwiderstehlich. Zur Vermittlung zwischen den Kategorien gibt es einige Wegzeichen und Vor­ richtungen. Die erste ist die Selbstbefragung monologischer Art im kantischen Modus oder dialogisch-analytisch mithilfe Dritter und der Entwicklung eigener neuer Zeichenproduktionen. Die zweite, zwar schwache, aber dafür ohne ­Weiteres 137

Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, Wien 2003, 35. Lyotard, Le différend (Fn. V. 67), Note 264 (Der Widerstreit, 299).

138

490

XII. Verfassungen

zugängliche ist die literarische Verarbeitung. Wenn Selbstbefragung und Litera­ tur nicht ausreichen, entsteht nach einer langen gesellschaftlichen Entwicklung ein widerstandsfähiges, alles absorbierendes Verfahren, das hier als Justizdisposi­ tiv grundsätzlich und in seiner theatralen Verhandlungsform speziell beschrieben worden ist. Dieses Verfahren erlaubt, was in der Moderne normativ niemandem mehr wirklich erlaubt ist, auch wenn es sich viele herausnehmen: im Einzelfall zu entscheiden und einem den Vorzug vor anderem zu geben. Die Entscheidung durch Dritte ist eine wesentliche Zutat zum Rechtszeichen, aber die Verfahren operieren mit knappen Mitteln, knapperen, als die symbolische Darstellung es wahrhaben will. Die Verfassung jeder Rechtsfrage in eine Differenz von Norm und Fall, ver­ mittelt durch mehr oder weniger verständliche Methoden, ist eine solche wesent­ liche Ressource. Ihrer Nutzung gilt die Arbeit am Rechtszeichen.

Semiotisches Glossar Argument: was zur Interpretation reizt, genauer: ein (Zeichen-)Mittel, das selbstständig anzeigt, welches Objekt es zu repräsentieren beabsichtigt [Kap. VII. 4.]. Argumente sind Legizei­ chen, also im Prozess so weit wie nur möglich entwickelte Zeichen (die aber doch nur in de­ generierter Form wirksam werden können). Degenerationsform: Wirkung statt Interpretation, allgemein: die jeweils zur Wirkung abge­ schwächte Form der höheren Kategorie; in der Drittheit koexistieren Erstheit und Zweitheit, in der Zweitheit gibt es auch Erstheit, was heißt: Über ein Gesetz kann man so reden, als sei es ein Index (und viele – insbesondere außerhalb der Profession – tun das), und einen Index kann man so behandeln, als sei er die Sache selbst [wie der Grundbucheintrag; Kap. II. 4.]. Dicent: das Sagen als Machen („Performanz“) und damit der äußere Wirkungsaspekt eines Zei­ chens, der Gerichtsspruch, die Existenz einer Entscheidung oder die Frist, in der sie zu er­ gehen hat [Kap. VII. 2.]. Dispositiv: ein Apparat oder eine Vorrichtung (frz.: dispositif), gespannt zwischen gesellschaft­ licher Not und dem Begehren nach Entscheidung über zentrale Lebensinhalte, leider auch verbunden mit der institutionellen Erfahrung, dass dieses Begehren nicht erfüllt werden kann [Kap. VI.]. Drittheit (Thirdness): die Bewegung, die zwischen Zeichenmittel und Objekt eine von Gedan­ ken getragene Verbindung herstellt, und damit der Interpretant; Interpretanten können un­ mittelbar im Zeichen selbst enthalten sein, sich als Effekt (eines Befehls) ergeben oder final das Ergebnis einer Verhaltensgewohnheit (habit) sein [Kap. I. 1. und 3.]. Erstheit (Firstness): Bedeutung ohne Beziehung auf etwas anderes, durch Anschauung zu er­ schließen. Erstheit ist die Möglichkeitsform des Zeichens, die auf eine Aktualisierung wartet. Sie umfasst alle Arten von Gefühl, auch Rechtsgefühle [Kap. I. 3.]. Ikon: ein Zeichen, das nur vorhanden ist, wenn das Zeichenmittel gegenwärtig ist und wirkt; im Zeichen selbst wird dargestellt, was es bedeutet, weil ein Ikon der Bedeutung ähnlich ist [Kap. II. 1.]. Index: die objektgebundene Wirkung und Gegenwart eines Zeichens; kriminalistisches Muster­ beispiel ist das Indiz, das anhand objektiv und gegenständlich vorhandenen Materials auf eine Bedeutung hinweist, die auch dann nicht entfällt, wenn sich niemand dafür interes­ siert [Kap. II. 2.]. Interpretant: die „Bedeutung“ in den Theorien, die Zeichen übergehen, und in der Semiotik et­ was, das sich auf ein Objekt beziehen und es zum Zeichen für etwas anderes machen kann; in dem Augenblick, in dem dieses Etwas benannt wird, verliert es die Interpretantenfunktion und wird selbst zum Objekt [Kap. I. 1.]. Legizeichen: Gesetze oder gewohnheits- und gesetzesbasierte Zeichen; Legizeichen müssen nicht notwendig symbolisch (als Gesetzesnorm) sein, sie können auch indexikalisch oder ikonisch verwendet werden [Kap. II. 4.].

492

Semiotisches Glossar

Objekt: der Gegenstand einer interpretierenden Bewegung in der äußeren Welt, z. B. das Ge­ setzbuch als Foliant, ein Rechtsverfahren in seinen Stationen oder eine Verhandlung, die Personen und einen Tisch als Objekt benötigt [Kap. I. 1.]. Objekte existieren außerhalb der Semiose, werden aber nur über Zeichen gegenwärtig. Pragmatik: das Verhältnis zwischen Sendern und Empfängern von Zeichen oder (im Peirceschen Sinne) die Gewohnheit, die ein Zeichen ausbildet, und damit die Gesamtheit seiner Wirkun­ gen, die mit der Bewegung der Interpretanten verbunden ist [Kap. I. 2.]. Qualizeichen: Qualität, Intensität und Möglichkeit – die Erstheit der Erstheit, das für sich ste­ hende, mögliche, aber uninterpretierte Zeichen [Kap. II. 1.]. Repräsentamen: eine Zeichenkategorie auf der Ebene des Mittels oder Trägers möglicher Zei­ chen und damit zur Erfassung der dinglichen Eigenschaft des Zeichens als Quali-, Sin- oder Legizeichen [Kap. II. 1.]. Rhema: der Interpretant in kategorialer Erstheit, ein Rechtswort, ein Term, der eine Zeichen­ kette eröffnen kann, juristisch: Grund- und Menschenrechte, die vor und außerhalb ihrer ju­ ristischen Erfassung, Aufklärung und Verwendung existieren. Satz: eine dicentische Zeichenform, die so wirkt wie der Teilsatz des Art. 20 Abs. 2 GG: Die Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Ein solcher Satz muss in Gewohnheiten und Gebräuchen erst noch ausgebildet und verwendet werden [Kap.XII. 2. a)]. Semantik: die Beziehungen zwischen Zeichen und Sinn oder Objekten als Referenten und da­ mit alle Formen der Auslegung und des Verstehens [Kap. I. 2.]. Sinzeichen: ein Zeichen mit ausgebildeter, definierter Objektrelation, also ein Rechtsbefehl, der nicht interpretiert, sondern dem gefolgt wird [Kap. II. 1.]. Symbol: ein Zeichenmittel, dessen Bezeichnungsfunktion in einer interpretierenden Regel be­ steht, nach Peirce etwa die Antwort auf die Frage: Was ist ein Ballon? Ein Ballon ist wie eine große Seifenblase [Kap. II. 4.]. Syntaktik: eine besondere Disziplin im Umgang mit Zeichen, wobei deren Beziehungen unter Absehung von Objekten und Interpretanten untersucht werden, vorzugsweise als Logik [Kap. I. 2.]. Term: eine mögliche (und noch nicht aktualisierte) Ausdrucksform des Rechtszeichens, der Zeichenvorrat [Kap. II. 1.]. Zeichen: alles, was etwas anderes (das dadurch zu einem Interpretanten wird) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird. Das Zeichen ist damit das Medium schlecht­ hin, das im Zusammenhang der medialen Vermittlung zurücktritt [Kap. V.]. Zeichenmittel: etwas, das zum Mittel des Zeichenprozesses wird, der Träger des Zeichens, die Urkunde, die Akte, die Rede o. Ä. Zweitheit (Secondness): eine Tatsache über etwas Komplexes, die Formation der Welt, die den Zugriff der Zeichen irritiert und sich der Interpretation nicht fügt [Kap. II. 4.].

Personenverzeichnis Adorno, Theodor W.  141, 367, 483 Agamben, Giorgio  154–156, 256, 467 f. Alexy, Robert  305 f., 368, 459 Amnesty International  474–476 Apel, Friedmar  120 Apel, Karl-Otto  49 f., 64, 88, 97, 99, 305, 367 Arendt, Hannah  136, 430 f., 435 Aristoteles  15, 35, 50, 52, 348, 357, 374, 443 f., 465 Äsop 47 Assmann, Aleida  433 f. Augsberg, Ino  228, 404 Austin, John  14, 20, 299 Austin, John Langshaw  160, 168, 179, 305, 327 Baader, Andreas  217 Bachtin, Michail  22 Badawi, Raif  44, 479 Baecker, Dirk  16 Baer, Susanne  43 Baganz, Arne-Wiegand  47 Balke, Friedrich  377 Ballweg, Ottmar  255 Balmer, Hans-Peter  107 Bar, Christian von  323 f. Barbie, Klaus  34, 128, 206 Barnert, Elena  44 Barthes, Roland  218 Baudrillard, Jean  482, 486, 488 f. Bauer, Fritz  67, 409, 435, 440 f. Beavin, Janet H.  189 Beckemper, Katharina  409 f., 413 Becker, Howard S.  327 Benecke, Mark  75 Benjamin, Walter  55, 126, 175, 339 Bense, Max  17 Bentham, Jeremy  14, 301 Bergmann, Thomas  285 Berman, Harold J.  171, 448 Bernal, Carlos  89

Bihler, Michael  30, 34 f. Binder, Hartmut  153 Blamberger, Günter  117 Blankenburg, Erhard  282, 320 Bloch, Ernst  53, 117 f., 175 Bogart, Humphrey  15 Bohley, Bärbel  194 Braun, Johann  180 Bredekamp, Horst  445 Brent, Joseph  60 Bretone, Mario  208 f. Broch, Hermann  112, 131–136, 137 Brüggemeier, Gert  317 f., 324 Brunschwig, Colette  62 Bubner, Rüdiger  92, 95, 356 f., 359, 363 Bung, Jochen  346 Busse, Dietrich  25, 347, 352 Calasso, Roberto  126 Canaris, Claus-Wilhelm  310, 349 Canetti, Elias  126, 129, 147 Caroline von Monaco/von Hannover  68, 471 f. Chodorkowski, Michail  216 Christensen, Ralph  77, 141, 221, 236, 249 f., 266 f., 269, 297, 310, 341 f., 347–349, 352–354, 360–362, 416, 453, 455, 458, 465 f. Christodoulidis, Emilios  220 Cicourel, Aaron V.  278, 280, 325 Clam, Jean  31 Coing, Helmut  344 f., 350 f. Conley, John M.  279 Damasio, Antonio R.  104 Danziger, Christine  49, 294 Deledalle, Gérard  27 Deleuze, Gilles  87, 102 f., 108–110, 126, 128, 172 f., 256, 487 Delius, Friedrich Christian  11 f., 485–487 Denninger, Erhard  446

494

Personenverzeichnis

Derrida, Jacques  41, 43, 53 f., 94, 96, 134, 153–156, 169 f., 174, 179–181, 230, 236, 238, 345, 449, 485 f. Dewey, John  25 Dießelhorst, Malte  116, 118 Doehlemann, Martin  218 Douzinas, Costas  474 Dowden, Stephen D.  136 Dubouchet, Paul  310 Duncker, Arne  116, 118 Durzak, Manfred  133 Eco, Umberto  80 f., 143, 227, 284, 374 Edelman, Murray  82 f. Ehrlich, Eugen  82 f. Eichmann, Adolf  34, 71, 136, 206, 216, 325, 431–433, 435 Eizenstat, Stuart E.  36 Ellscheid, Günter  199 Ernst, Wolfgang  172 Esser, Josef  284 Fabricius, Dirk  274 f., 281 Fabricius, Sabine  360 Fanshel, David  394 Farge, Arlette  173, 177 Fenichel, Otto  386 Ferk, Janko  147 Fiedler, Jan  320 Fischer-Lescano, Andreas  55, 348 f., 360, 458 f., 469 f. Fischer-Lichte, Erika  266, 271 Fish, Stanley  81, 207 f., 215, 226, 230 f., 348 Fisher, Roger  189 Fögen, Marie Theres  146, 197, 209, 255, 260, 480 Forst, Rainer  394 Forsthoff, Ernst  166, 234 Foucault, Michel  80, 172–175, 177, 191, 194, 200 f., 215, 221 Fraenkel, Beatrice  176 f. Frank, Jerome  279 Franz Joseph I., von Habsburg  71, 143, 147, 162, 444 f., 466 Freisler, Roland  11, 72, 291, 380, 384–386 Freud, Sigmund  30 f., 87, 94, 96–99, ­101–104, 108, 112, 126–128, 170, 195 f., 261, 277, 385 f.

Frevert, Ute  316 Friedman, Gary J.  223 Frisch, Max  283 Fritsche, Jörg  413 f. Fuchs, Peter  262 Funcke-Auffermann, Niklas  83 Funke, Andreas  300 f. Gaderer, Rupert  121, 385–388 Garfinkel, Harold  275–277 Garner, Bryan A.  352 Gast, Wolfgang  199, 202, 297, 346, 351, 361, 402 Gauchet, Marcel  461 Geiger, Theodor  85 Geisenhanslüke, Achim  399 Gephart, Werner  445 Geulen, Eva  260 Goethe, Johann Wolfgang von  348, 395, 462 Goffman, Erving  265, 267, 270 Gontscharow, Iwan  121–125 Goody, Jack  172 Göring, Hermann  137 f. Görlitz, Axel  457 Graeber, David  101 Gräf, Dieter  378 Grant, Michael  481 Gritschneder, Otto  378 Groys, Boris  172 Gruber, Malte  49 Gründgens, Gustav  137–141 Guattari, Félix  108, 126, 128 Gumbel, Emil Julius  377 Günther, Klaus  93–95, 261, 305, 307, 329, 421 Habermas, Jürgen  64 f., 90, 92, 94, 100, 102, 160, 168, 188, 225, 261, 305–307, 367, 457 Häcker, Frank  417 Hacks, Susanne  417 Haft, Fritjof  186, 199, 223, 350 f., 405 f. Haltern, Ulrich  352 Hanak, Gerhard  32, 34 Handke, Peter  219 Hannover, Heinrich  377 Hannover-Drück, Elisabeth  377

Personenverzeichnis Hart, Herbert L. A.  5, 14, 19 f., 87, 89 f., 231, 303, 327 f., 330, 335 Hassemer, Winfried  83, 325, 405 Hebel, Johann Peter  184 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  29, 419, 450 Heinz, Rudolf  97, 99 Heiseler, Till Nikolaus von  266, 271 Hellmann, Uwe  409 f., 413 Hensel, Isabell  106 Hepp, Michael  330 Heydrich, Reinhard  431, 440 Highsmith, Patricia  134, 397 Himmler, Heinrich  440 Hitler, Adolf  135, 141, 378, 440, 444 Hobbes, Thomas  44, 78, 103, 121, 304, 443, 445–447, 456 Höffe, Otfried  91 Hoffmann, Ludger  250, 278 Hofmann, Hasso  35 Holländer, Pavel  301 Holtwick-Mainzer, Andrea  44, 229 Honneth, Axel  91 Hörisch, Jochen  157, 402 Horkheimer, Max  367 Hruschka, Joachim  243 Huber, Ernst-Rudolf  451, 455 Israëls, Han  128 Jackson, Bernard  14, 301 Jackson, Don D.  189 Jäger, Herbert  408, 433, 436 Jakobson, Roman O.  22 James, William  25, 50, 60, 62 Jhering, Rudolf von  30, 32, 34, 120, 221, 406 Joffe, Joel  479 Jolles, André  243 Jung, Carl Gustav  195 Kafka, Franz  43, 108, 112, 146–157 Kalinowski, Georges  348 Kant, Immanuel  38, 41, 50 f., 55 f., 59, 87 f., 90–103, 108, 133, 154 f., 183, 261, 307, 328, 355, 367, 418, 446 f., 454, 478 Kanzog, Klaus  139

495

Kargl, Walter  380 Kaul, Friedrich Karl  399 Kaulbach, Friedrich  91 Kaupen, Wolfgang  287, 378, 386, 388 Kelsen, Hans  146, 301–303, 311, 464, 477 Kennedy, Duncan  243, 361, 372–375 Kersten, Kurt  451 Kersting, Wolfgang  91 Kevelson, Roberta  6, 42, 61, 71 Kiefer, Anselm  170 f. Kiesow, Rainer Maria  403 Kirchheimer, Otto  459 Kissel, Theodor  209 Kittler, Friedrich A.  130, 159, 179, 377 Klee, Ernst  390 Kleist, Heinrich von  113–121, 200 f., 390 Kluge, Alexander  73 f., 403 f., 482 Kniesel, Michael  339 Köbler, Gerhard  203 Koch, Arnd  380 Koch, Hans-Joachim  199, 352 Kocher, Gernot  58 f., 68 Kohler, Josef  146 Kohlmann, Günter  220 Kolumbus, Christoph  77 Kopperschmidt, Josef  55, 298 Koschorke, Albrecht  394 Krämer, Sybille  158 Krauth, Stefan  457 Krey, Volker  407 Kronenberger, Matthias  46, 48, 234–237 Kudlich, Hans  249 f., 347 Kuhlen, Lothar  288 Kundera, Milan  136 Kunze, Reiner  164 Kwaschik, Annett  220 La Fontaine, Jean de  47 Labov, William  394 Lacan, Jacques  101, 126 Lady Welby  19 f., 58, 63, 304 Lahusen, Benjamin  350 Lampe, Hans-Joachim  25 Langbein, Hermann  436 Lanzmann, Claude  435 Larenz, Karl  299, 304, 310, 349, 433 Latour, Bruno  49, 57 f., 63, 65

496

Personenverzeichnis

Lautmann, Rüdiger  246, 279, 294 Lege, Joachim  58 f., 62, 64, 391 Legendre, Pierre  275 Leisner, Walter  362, 464 Leodolter, Ruth  277 Lerch, Kent D.  179, 266 f., 269 Levin, Martin A.  378 Lévinas, Emmanuel  261 f. Liessmann, Paul  105 Linder, Joachim  118, 400 f. Linke, Angelika  17 Lodge, David  285 Lorenz, Kuno  133 Lothane, Zvi  131 Lotman, Jurij M.  394 Lüdemann, Susanne  392 Lüderssen, Klaus  6, 321, 325, 363, 374, 395, 416, 419 Luhmann, Niklas  15, 31–33, 45 f., 48, 68, 78, 109, 158, 174, 210, 213 f., 229, 233, 239–241, 260 f., 269–274, 285, 300, 308 f., 311, 318, 326, 346, 369, 376 f., 389 f., 402, 405, 456 f., 461, 464, 466, 469, 478 Lüth, Erich  81 f., 463 Luth, Janine  354, 362 Luther, Martin  118 f. Lützeler, Paul Michael  132–136 Lyotard, Jean-François  126, 128, 153, 187 f., 355 f., 358, 434, 470, 489 MacCormick, Neil  310, 420 MacNaughton-Smith, Peter  377 Maentel, Thorsten  451 Mandela, Nelson  479 Mann, Klaus  113, 137–142, 460 Mann, Thomas  131, 135, 137, 141 Matoesian, Gregory M.  270, 279 Mauss, Marcel  485 McHugh, Peter  325 Melville, Herman  110, 256 Menke, Christoph  88, 480 Michelman, Frank I.  470 Mikinovic, Stephan  378 Möller, Kolja  471 Mommsen, Wolfgang J.  450 Montaigne, Michel de  41 Morris, Charles W.  22–25, 28, 52, 80, 363

Muckel, Petra  162 Mühlmann, Heiner  217 Mukařovský, Jan  22 Müller, Friedrich  77, 97, 141, 221, 236, 297, 310, 316–318, 341 f., 345, 349, 352–354, 360, 362, 405, 416, 445 f., 453, 455, 458, 465 f. Müller, Hermann  279 Müller, Peter  264 f. Müller-Mall, Sabine  267 Münch, Richard  457 Münkler, Herfried  447, 483 Murmelstein, Benjamin  435 Nass, Stefan  338 Naucke, Wolfgang  113, 117–120, 250, 319, 337, 382, 384, 401, 408 f. 462 Nestler, Cornelius  441 Neubacher, Frank  327 Neumann, Ulfrid  23 f., 345, 379 Newig, Jens  84 Niederland, William G.  128 Niehaus, Michael  164 Nietzsche, Friedrich  22, 87, 102, 104–108, 110 Noll, Peter  83 Nöth, Winfried  17, 22, 59, 70, 73, 77 Nußbaumer, Markus  17 O’Barr, William M.  249 Oehler, Klaus  66, 73, 76, 90, 367 Ogden, Charles Kay  17 Ogorek, Regina  234 Olbrechts-Tyteca, Lucie  298, 367 Ortner, Helmut  72, 291 Otto, Viktor  330 Overbeck, Franz  106 Pape, Helmut  61, 64 f. Pascal, Blaise  54 Patton, Bruce  189 Peirce, Charles Sanders  6, 13, 15–25, ­27–30, 34, 37–40, 42, 46, 49–52, 57–67, 69 f., 73–76, 79–81, 86, 88–90, 92, 99, 102, 104, 133, 142 f., 158 f., 183, 191, 227, 242, 245, 247, 249, 273, 293, 304, 307, 352, 367, 369 f., 373 f., 376, 389, 404, 454, 457, 478, 482, 492

Personenverzeichnis Pelc, Jerzy  67 Perelman, Chaïm  54–56, 297 f., 305, 307, 362–365, 367 f., 473 Peter, Jean-Pierre  173 Peters, Dorothee  378 Pieroth, Bodo  323, 339 Pitaval, François Gayot de  392, 395–398 Poe, Edgar Allan  395 Portmann, Paul R.  17 Posner, Richard  120 Posner, Roland  61 Prittwitz, Cornelius  488 Puschkin, Alexander  175 Pussy Riot  44, 479, 482 Quintilian, Marcus Fabricius  347 Radbruch, Gustav  31, 301, 303 Rau, Milo  482 Reemtsma, Jan Philipp  33 Reez, Norbert  484 Rehse, Hans-Joachim  11 f., 380–382, 485 f. Reichel, Peter  452 Reinmuth, O. W.  271 Reszler, André  71 Reuter, Ernst  68 Richards, Ivor Armstrong  17 Riembauer, Franz Salesiuis  399 Riezler, Erwin  31 Rodingen, Hubert  65, 378 Röhl, Klaus F.  14, 62, 81, 242, 343, 468 Roth, Joseph  113, 132, 142–146, 466 Rotman, Brian  28 f. Rotter, Frank  6, 36, 222, 262, 289 Rottleuthner, Hubert  287, 378 Rousseau, Jean-Jacques  446–450 Rückert, Joachim  114, 117, 340, 350, 360, 401 Rümelin, Gustav  30, 34 Rüßmann, Helmut  199, 352 Rüthers, Bernd  301, 340–342, 360 Rzepka, Dorothea  186 Saar, Martin  104 Saliger, Frank  296 Santner, Eric L.  130 Sassen, Saskia  468 Sauer, Christoph  280 f.

497

Saussure, Ferdinand de  18, 22, 46, 76 Scalia, Antonin  352 Schapp, Wilhelm  393, 395 Schauer, Christian  191 Scheffer, Thomas  279, 282 Scheuerle, Wilhelm  218 Schiller, Friedrich  15, 42, 50, 398 f. Schlieffen, Katharina Gräfin von  183, 211, 223, 347, 354, 358, 420 Schlink, Bernhard  339 Schlögel, Karl  291 Schmidt, Eike  40 Schmidt-Wiegand, Ruth  359 Schmitt, Carl  154, 227 f., 232, 363, 483 f. Schmitt, Stephan  262 Schönert, Jörg  399, 401 Schönherr, Maximilian  276 Schönrich, Gerhard  19, 22, 68 Schreber, Daniel Paul  112, 126–131 Schreckenberger, Waldemar  66 f. Schroth, Ulrich  345 Schulz, Lorenz  249, 289, 369 Schütz, Anton  109 Schütze, Fritz  277 f., 325 Sebeok, Thomas A.  461 Seelmann, Kurt  301 Seibert, Thomas-Michael  54, 167, 192, 229, 232, 237, 273, 282, 390, 392, 466, 482 Serres, Michel  46–48 Shklar, Judith N.  28, 467 Siegert, Bernhard  377 Simon, Josef  12, 37, 454 Sloterdijk, Peter  35–37, 101, 268 Sobota, Katharina, s. Schlieffen Sokolowski, Michael  77, 221, 236, 361 Spangenberg, Eberhard  141 Spencer-Brown, George  16, 210 Spendel, Günter  322, 381, 383 Spiel, Hilde  487 Spielrein, Sabina  195 f. Spinoza, Baruch de  87, 101–104, 108, 110, 446 Stalin, Josef  54, 291, 459 Stammler, Rudolf  303 f. Stangl, Wolfgang  378 Stehr, Johannes  32, 34 Stein, Gertrude  80

498

Personenverzeichnis

Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum  116–118 Steinert, Heinz  32, 34 Steinhauer, Fabian  68, 70 f., 164 Stelz, Herbert  225 Stingelin, Martin  109 f., 129 Stjernberg, Frederic  77 Stollberg-Rilinger, Barbara  470, 481 Stolleis, Michael  68 Strömholm, Stig  227 Struck, Gerhard  6, 45, 356–359, 361, 366, 407, 415 Teitel, Ruti G.  436 Tekolf, Oliver  396, 398 Temme, Jodocus Donatus Hubertus  400 f. Teubner, Gunther  156, 289, 360, 370, 426, 470 f. Teufel, Fritz  217 Thommen, Marc  202 Timsit, Gérard  311, 352 Todorov, Tzvetan  432 f. Toulmin, Stephen E.  62, 367 f. Tuschling, Burkhard  446 Ulbrich, Stefan  62 Ury, William L.  189 Varinard, André  280 Vec, Miloš  75 Vergès, Jacques  110, 305 Vespucci, Amerigo  77 Vesting, Thomas  208, 351 Viehweg, Theodor  23, 171, 357, 359 f., 363, 420 Vismann, Cornelia  6, 18, 43, 68 f., 87, 110, 149, 160 f., 163–166, 169 f., 184 f., 194, 196, 200 f., 217, 221, 255, 264, 266, 271, 292, 480

Vogel, Friedemann  453 Vogl, Joseph  151 Wagner-Engelhaf, Martina  260 Waldron, Jeremy  470 Wallraf, Günther  285 Walter, Fritz  70, 75 f. Wank, Rolf  350 Warhol, Andy  58 f., 66, 68, 70 Wassermann, Rudolf  216 f., 278, 387 Watzlawick, Paul  189 Weber, Max  203, 207, 445 Wehler, Hans-Ulrich  450 Weitin, Thomas  141, 157 Welcker, Karl Theodor  304 f., 451 Wellkamp, Ludger  477 Wellner, Wolfgang  417 Wenger, David R.  208 Wesel, Uwe  151, 171, 177, 209, 253, 281 f., 297, 444, 450, 453 Wiethölter, Rudolf  82, 182, 256, 348, 407, 415, 467 Wilson, W. Daniel  462 Winder, Ludwig  487 Wohlrapp, Harald  367, 370 Wojak, Irmtraud  67, 435, 440 Wolff, Stephan  204 f., 279 Wördehoff, Bernhard  451 Wörner, Markus H.  348 Wunderlich, Dieter  278 Yablon, Charles M.  218 Yablonka, Hanna  33 Zimmer, Dieter E.  110 Ziolkowski, Theodore  115, 120 f. Zippelius, Reinhold  351, 416 f. Zumbansen, Peer  370 Zweig, Stefan  132, 488

Sachverzeichnis Abduktion  249, 365–375, 416, 420, 424 Absicht  26, 87, 93, 97 f., 101, 264, 312, 324, 335 f. Abwägung  104, 136, 330, 341, 463, 467 Adressat  181 f., 188, 213, 222, 263, 286, 420, 461 f. Advokat (Advokatur), s. a. Anwalt  37, 78, 151 f., 156, 185, 187, 207, 254, 281 f., 297, 358, 393, 416, 420 Affekt  12, 35, 37, 87, 102–105, 108, 126, 130, 485 Akten  159–174, 184, 187 f., 283 f., 286, 399 Akten-Akte  159–163, 165, 167–169, 186, 190, 258 Aktendeckel  161 f. Akteneinsicht  163 f., 168, 187 Akzeptanz  12, 87–94, 365 Analyse  87 f., 93–101, 262, 385 Anerkennung  90, 99 f., 255, 304, 306 f., 309 Angeklagter  149 f., 192 f., 203 f., 206, 211, 216 f., 270–281, 287 f., 328 f., 460 Anhörung  52, 146, 148, 149, 164, 206, 220, 254, 393 Anklage  276, 281–284, 287, 289, 459, 475 f. Anschauung  90, 489, 491 Anstifter  321, 484 Antrag  109, 161 f., 167, 174, 185, 190, 192, 208, 240 f., 388–390, 437, 453 Anwalt, s. a. Advokat  34, 78, 265 f., 269, 282, 393 Anzeige  161, 163, 212, 315, 390, 393, 474 f. Apparat  108, 191, 201, 215, 311, 445, 467, 491 Apriori  38, 89, 94, 96–101, 155, 367 Archiv  72, 159, 169–175, 184, 188, 190 Argument  52, 54 f., 59 f., 86 f., 243, 248 f., 368–370, 455 f., 465, 491 Argumentation  55 f., 297 f., 340, 344, 346, 365–376, 391, 460 Askription  326 f.

Auditorium, universales  55 f., 298, 305, 380 Aufführung  196 f., 265–269, 271, 275 f., 278 f., 288–290 Aufschreibesystem 126–131 Aufschub  154, 163, 172, 467 Aufstand  120, 134, 182, 390, 400, 428, 442, 479–490 Ausbildung, juristische  61, 189, 207, 218, 310 f., 401, 404–406, 411, 415, 421 Auschwitz  34, 138, 206, 393, 409, 427, 430–441, 484 Auslegung  23, 181, 265 f., 329 f., 338, ­344–354, 363–369, 371, 373, 375 f., 379 f., 416 f., 429, 463, 492 Ausnahme  42, 184, 214, 234, 336, 418, 421, 423, 427, 453 Aussagesatz  66, 106, 243, 247 Bartleby-Effekt  256 f., 259 Bedeutung  15–18, 20–24, 26, 38, 49, 56, 66, 68, 77, 79–81, 97, 153–155, 288, 297, 309, 316, 319, 326, 328, 339, ­350–352, 370, 388–390, 474, 485, 491 Befehl  13–15, 20, 128–130, 299–304, 447, 486, 491 f. Befehlstheorie s. Imperativentheorie Begründung  228, 232, 235–238, 241–243, 245–253, 255, 330 f., 333, 335, 353, 355 f., 362, 367 f., 375–377 Behauptung  39 f., 78, 243–245, 253, 327 f., 331 f., 345, 365 Behörde  162 f., 197, 209, 227, 282, 388, 435, 475 Beleidigung  140, 267, 290, 295, 312 f., 315, 318, 328, 330, 427 Beobachtung  28, 64 f., 69, 307 Beratung  223, 234 f., 237 f., 316, 368, 384, 455 Betrug  112, 124 f., 251, 384 Beweis  78, 199, 202–206, 254, 434 Beweisantrag  201, 257

500

Sachverzeichnis

Beweisaufnahme  187, 201 f., 206, 223, 257, 274, 292, 327 Beweisergebnis  249, 326, 334, 410 Beweiserhebung  198, 202, 248 f. Beweismittel  164 f., 182, 187, 203, 205 f., 220, 223 f., 253 f., 333 f. Beweisverfahren  203, 206, 326, 330 Beweisverwertungsverbot 396 Beweiswürdigung  141, 203, 205, 235, 287, 334, 368, 398, 447 Bewusstsein  29, 37 f., 58, 70, 89 f., 94, 96 f., 108, 131, 148, 183 f., 195, 213, 243, 283, 287, 290, 377 f., 435, 489 Bezeichnung  16 f., 24, 32 f., 109, 159 f., 179, 371, 455, 484, 492 Beziehungsebene  189, 257 Bezugnahme  21 f., 149, 165 f., 168, 185 f., 234, 315, 328, 370, 376 Binarität  46, 77 Botschaft  26, 158, 163, 178 f., 304, 319, 376 f., 379, 470 Bühne  221, 264, 268, 270–272, 275 f., ­278–281, 289, 292 f., 298 Bundesgerichtshof, Entscheidungen –– Antifa-Versand 428 –– Einkaufscenter  413 f. –– Flugreise 408 –– Gau-Dreieck 427 –– Hakenkreuzverbreitung 428 –– Herrenreiter 317 –– Hitlergruß 427 –– Holzschutzmittel  225, 289 –– Kanther/Weyrauch 410 –– Lafontaine-Sixt 318 –– Lederspray 245 –– Mannesmann  288, 335 –– Mauerschützen 303 –– Mittelbare Täterschaft  380 –– Nationaler Verteidigungsrat der DDR  245 –– Paul Dahlke  317 –– Reinwarth  11, 381 f. –– Schacht-Leserbrief  252 f., 316 f. –– Schmid-Spiegel 317 –– Sportwettenbetrug  330 f. –– Verteidiger der Schneeballsystem-­ Betrüger 315 –– Vier-Augen-Gespräch  220, 254

Bundesregierung  295, 313, 318 Bundesverfassungsgericht 453 –– Entscheidungen des ~s: –– Arzthaftpflichtprozess 220 –– Briefüberwachung 313 –– Bürgschaftsverträge 421–423, 425 f. –– Caroline von Monaco  68, 471 f. –– Einheitswerte II  82 –– Familiennamen 465 –– Geldwäsche 315 –– Gleichberechtigung 465 –– Josefine Mutzenbacher  142 –– Lüth  82 f., 463 –– Mephisto 140 –– Mitbestimmung 82 –– NPD-Verbotsverfahren 224 –– NSU-Verfahren 70 –– Schwangerschaftsabbruch I  86 –– Soldaten  329 f. –– Soraya  318, 367 f., 371 –– Taubenfütterungsverbot 339 –– Verjährung von DDR-Alttaten  382 –– Volkszählung 455 –– Wahrheit interessiert nicht  201 –– Zuwanderungsgesetz 265 Bundesverwaltungsgericht 217 class action 36 Code  26, 176, 287 f., 304, 307, 324, 377 f., 420 Codex Justinianus 171 Codierung  30, 188, 214, 227, 267, 289, 299, 320, 377 f. consignatio 170 Darlegung  199, 203, 253, 326 Darstellung  61, 129, 140–142, 159, 172, 183, 196, 203, 211, 237 f., 250, 264–274, 282–289, 291–293, 315 f., 344, 348–351, 376 f., 390, 401–404, 490 Deal  256 f. Decorum  71, 164, 217 Deduktion  249, 374 Degeneration  42, 60–62, 65, 79, 86, 337, 340, 491 Degradierung  276, 278 f. Dekalog 299

Sachverzeichnis Dekonstruktion  41, 54, 145, 345 Deutschland  69 f., 74, 85, 130, 132, 137, 142, 278, 332, 335, 340, 367, 382, 427, 435, 450 f., 453, 457, 459, 464, 471 Dialektik  156, 410 Dialog  125, 186, 261, 283, 466 Dicent, dicentisch  52, 59 f., 73, 77, 80, 142, 238–242, 246–248, 369 f., 454, 457, 459, 464, 466, 478, 491 f. Dicizeichen  77, 113, 248 Diebstahl  82 f., 107, 286, 310, 312, 318 f., 362, 384, 397 f. différance 236 Differenz  16–18, 48, 111, 154, 165 f., 174, 190, 244, 260 f., 270, 289, 300, 346, 353, 363, 369, 442, 469, 490 Dimension  22 f., 214, 264–273, 274, 276, 284, 292, 363 f., 471 Ding  45 f., 48–50, 58, 64–66, 69–70, 73, 77, 79, 86, 92, 96, 102, 104, 142, 227, 243, 264, 266, 271 Diskurs  26, 43, 52, 60, 75, 89–91, 94, 99 f., 159 f., 163, 169, 173 f., 177, 188, 192, 201, 210, 242, 247, 280, 296, 299, 305 f., 326, 353, 355 f., 359, 362, 367, 371 f., 392, 468, 474, 476, 483 Diskursanalyse 275 Diskursbindung 99–101 Diskursethik  90, 94, 99 f., 305 Diskursordnung  164, 205, 479 Dispositionsmaxime 210 Dispositiv  194, 207 f., 210 f., 219, 221 f., 264, 271, 311, 315, 353, 388, 390 f., 454, 491 Dogmatik  141, 198, 204, 206, 224, 239, 320–322, 381, 474, 482 Dokument  21, 41, 71, 124, 127, 134, 161 f., 169 f., 173 f., 180, 182, 226, 321, 325, 434, 437 Drama  42, 193, 221, 271, 285, 288 f., 394 Dreieck, semiotisches  17–19, 27, 376 Dritte  13, 18, 21, 27–30, 35 f. 38, ­44–52, 58–60, 63, 65 f., 78 f., 85, 96, 119, 158 f., 183, 201, 211, 229 f., 238 f., 251, ­259–262, 285, 299, 308, 312 f., 316, 321, 323, 336, 243, 369, 373, 404, 416, 428, 460, 489 f.

501

Drittheit  13, 17, 20, 39, 42, 49, 53, 56, ­59–63, 65, 79, 81, 102, 112, 114, 118 f., 159, 183, 198, 232, 264, 273, 293, 300, 308, 339 f., 346, 351, 365, 408, 419, 454, 491 Duell  285, 316 Dunkelziffer  82 f., 86 Durchsetzung  41, 111, 117, 188, 193, 242, 259, 282 f., 289, 291 f., 301, 344, 424, 463, 468, 470, 472–474, 485 Einlassung  109, 203, 249, 266, 328, 331, 333 f., 396, 433, 438 Einsatz  104, 107, 187 f., 361, 434 Einschätzungsprärogative 343 Einsichtnahme  163, 168 Einzelfall  31, 81 f., 215, 245, 252, 258, 296, 304, 315, 338, 342, 348, 352, 379, 383, 391, 414, 419, 425, 430, 433, 466, 490 Element  17, 23, 40, 65, 80, 267, 285, 310, 312, 336, 349, 374 Empfänger  23, 26, 163, 175 f., 305, 492 enjeu s. Einsatz Enthusiasmus 481 Enthymem  347, 420, 424 Entscheidbarkeit  243 f., 246 f. Entscheidung  13, 54–56, 63, 107, 111, 122, 162 f., 166–170, 191 f., 205–207, 213, 227–263, 272 f., 353–356, 365 f., 376, 382–385, 490 f. Entscheidungsnot  192, 226–231 Entscheidungsreife 257 Entscheidungszwang  255, 259 f. Enttäuschung  30–32, 34 f., 109, 222, 308, 389 Erbrecht  285, 302 Ereignis  33, 102, 109, 181, 212, 345, 347, 393, 406, 434, 479, 489 Erfahrung  38, 188, 205, 374, 424 Erheblich(-keit)  80, 201, 204, 217, 224 f., 243, 257, 272, 385, 419, 423, 425, 439, 477 Erinnyen 271 Erkenntnis  64, 91, 132, 210 f., 367, 419 Erlaubnis  232, 302, 317 Erledigung  97, 162, 183, 186, 232, 235, 258, 261, 267, 284

502

Sachverzeichnis

Ermächtigung  302, 339 Ermessen  310, 319 f., 343, 477 Ermittlungsverfahren  212, 239 Erstheit  12 f., 17, 29–31, 53, 56, 59 f., 62 f., 66 f., 73, 84, 87, 91, 97, 100, 103 f., 112, 114 f., 119, 130, 142 f., 183, 188, 200, 233, 236, 249, 273, 281, 293, 395 f., 299, 343, 346, 351, 358, 365, 379, 385, 393, 398, 410, 456, 467 f., 475, 481, 491 f. Erwartung  31–33, 272, 308 f., 389, 478 Erzählung  269, 277, 394–396, 402–404 EuGH, Europäischer Gerichtshof  253 f. Europäischer Gerichtshof für Menschen­ rechte (EGMR)  68, 206, 220, 254, 362, 387, 471–473, 477 Experiment  91, 284 Fairness  175, 186, 383 Faktizität  322, 382 Fallerzählung  124, 322, 400, 404, 407, 415 Fallnorm 342 Fallvergleich  234, 416 Fehde 116–118 Fehler  188 f., 229, 311, 379 Festnahme  148, 305, 459 Feststellung  40, 184, 199, 202–204, 312, 326–328, 335, 352, 440 Figur  44, 65, 134–136, 140, 146, 155, 206, 283, 323, 374, 445 Fiktion  178, 307, 331, 369, 404 firstness, s.a. Erstheit  18, 23, 29 f., 32–35, 37, 50, 188 f., 491 Flagge  451 f. Flottieren (d. Zeichen)  179, 486 Folgenabschätzung 318 Folter  43, 130, 192, 291, 397, 403, 473, 478 Fonds 332–334 forensisch  43, 52, 69, 81, 203–206, 209, 212, 239 f., 267, 270, 275, 279, 283, 286, 298, 354 Form  209–217, 226, 249 Formalisierung  24, 207, 348 Forum  44, 51 f., 183, 197, 209 f., 250, 264, 267, 271, 274, 277, 279, 289, 306, 365, 471 Freiheit  51, 157, 283, 365, 443, 484–454, 473, 481 f. Fremdreferenz  183 f., 211

Gebot  14, 84, 90–92, 116, 128, 179, 205, 207, 211 f., 278, 293, 301–303, 342, 364, 447, 459, 464 Gegenwart (Zeitform)  311, 315, 449 Gegnerschaft  270, 428 Geheimhaltung  160, 164 Geheimnis  160, 232, 233–238, 241 f., 434, 450 Gehilfe  138, 321, 323, 396, 440 f. Geld  35, 77, 95, 98, 100 f., 103, 121, 123 f., 189 f., 193, 212, 239, 242, 312, 314–317, 320, 323, 332–334, 364, 394, 397, 400, 409 f., 417, 440, 465 Geldstrafe  310, 312 f., 318 f., 323, 336, 371, 428, 472 Geldwäsche  243, 313 f., 318 f. Geltung  99 f., 154–156, 168 f., 176, ­300–303, 307, 336, 342, 365, 369, 466, 468–470 Generalklausel  252, 299, 336–343, 345, 348, 463 Gerechtigkeit  13, 34, 53–56, 58, 67, 71, 106, 111 f., 121, 123, 136, 194, 235, 342, 382, 398, 416, 428, 430, 464–466 Gericht  73, 107, 146–152, 161–63, 197, 201, 203 f., 216 f., 239 f., 267–269, 271, 292–298, 434 Gerichtsbeobachtung 325 Gerichtssaal  26, 49, 215–217, 221, 275, 278 f., 282, 285, 290, 293, 296 Geschichten  32, 126 f., 132, 202, 222, 257 f., 280, 285 f., 289, 392–396, ­399–401, 403 f., 480 Geschmack  101–111, 482 Gesellschaft  31, 33, 44, 54, 74, 121 f., 143, 169, 177, 183, 275 f., 278, 308, 326 f., 363, 377, 435 f., 469, 478, 485 Gesetz  52, 69, 86–91, 94 f., 144 f., 153–156, 169, 175, 221, 227–230, 300 f., 348 f., 357 f., 419, 491 Gesetzgeber  14, 82, 84, 91, 98 f., 196, 214, 228, 246, 270, 300, 302, 304, 313, ­341–344, 349 f., 364–366, 368, 382, 406, 416, 427 Geständnis  250, 312, 328, 403, 431 Gewalt  41, 43, 54, 150 f., 354 f., 361, 450, 483, 487, 489 Gewissen  14, 93, 96 f., 117, 134 f., 145, 278 f., 325, 341, 380, 419, 447

Sachverzeichnis Glauben  42, 73, 109, 226, 340–342, 370, 410, 445, 447, 450, 464 Glaubhaftmachung 326 Glaubwürdigkeitsbeurteilung 306 Gleichbehandlung  83, 357, 361, 364, 456, 464–467 Gleichheit  220, 345, 364, 448–454, 458, 464–466, 473, 476, 481 f. Gott  102, 104–106, 128, 198, 200, 299 f., 448, 486 Göttin 271 Graph, existenzieller  16, 19, 28, 61 f. Gründe  63, 113, 115, 192, 211, 233 f., 242 f., 247, 357 f., 369, 466 Grundgesetz  67, 70, 81, 85, 113, 252, 300, 316, 318, 353, 426, 444, 447, 453, 455, 461, 464, 477 Grundnorm  302, 338 Grundrecht  454–467, 469, 472 f., 475–477 Guillotine 283 Güteverhandlung  116, 257 Habitus  215, 300 Haftbefehl  146, 148, 162 f., 175, 193, 258, 298, 459–461 Haftung  225, 253, 323 f., 387, 406, 416, 422 f., 425 Handlungsprozess 300 happiness conditions 168 Harvard-Konzept 189 Hauptverhandlung  69, 188, 211, 239, 270, 275, 293, 437 Held  137–139, 231, 271 Hermeneutik  344 f., 348, 350, 366 Herrschaft  14, 97, 105, 117 f., 120, 278, 287, 300, 381, 443–445, 456–459, 482 Herstellung  273, 376 f., 470 Hinrichtung  119, 147, 150, 459 Holocaust  33, 380, 434 Homosexualität  137, 140, 386 Humanisierung 278 iconic turn 59 Idee  38, 50, 55, 382, 469, 478 Identität  21, 148, 179, 184 f., 276, 355 Ikon  16, 57–66, 67, 69–73, 75, 79 f., 86, 92, 102, 137, 216, 227, 273, 305, 309, 352, 383, 445, 479 f., 482 f., 491

503

Ikonizität  59, 66–73, 75, 323 Immanenz  87, 101–111 Imperativ  11, 50, 92, 95, 108, 241, 268, 284, 300–304, 307, 309 Imperativentheorie  299 f., 303, 307 Index  16, 33, 42, 57–66, 73–76, 79 f., 86, 102, 142, 214, 218, 232, 243–245, 247, 299, 301, 304 f., 335, 340, 389, 392, 394, 407, 434, 436, 441, 443 f., 446, 449, 451 f., 455 f., 458–461, 463–467, 470, 473, 476, 483, 488, 491 Indiz  74 f., 199, 312, 395, 398 f., 405, 433, 491 Induktion  249, 374 Instanzenzug  194, 212, 297, 354, 463 Inszenierung  71, 195, 264–266, 280, ­283–292, 452 Interesse  106, 171 f., 178, 242, 258 f., 293, 318, 362, 364, 421, 423, 467 Interpret  25, 49 f., 52, 73, 75, 112, 128, 135, 158, 248, 298, 369 Interpretant  16–23, 25, 42, 44–52, 53, ­58–65, 67, 69, 71, 73–76, 79 f., 84, 86, 94, 97, 113, 122, 152, 156, 158, 160, 181, 183, 190 f., 210, 227, 234, 240, 245–249, 260, 262, 267, 273, 298, 304, 330, 369 f., 376 f., 383 f., 386, 429, 448, 450–452, 454 f., 459–462, 468, 470, 481 f., 489, 491 f. Interpretation  20, 44, 58, 60 f., 76, 183, 190 f., 247 f., 336, 340, 347, 370, 376, 382, 392, 440, 445, 454, 459, 465, 487, 491 f. Jurisprudenz  40, 52 f., 77, 120, 174, 205, 209, 246, 265, 309, 350, 357, 360, 376, 392, 399, 413, 419–421, 477 Justizdispositiv  191 f., 194, 197, 203, 212, 217 f., 229, 231, 388, 412, 438, 453, 479, 488–490 Kaiser Franz Joseph  71, 143, 147, 162, 327, 444 f., 466 Kassationshof (Belgien)  363, 473 Kasuistik  253, 319, 383, 393, 416–430 Kategorischer Imperativ  20, 51, 56, 87, ­90–92, 96 f., 104, 108, 133, 154, 307 Klageschrift  161, 185, 211, 398

504

Sachverzeichnis

Klasse (soziale Schichtung)  282, 378, 443, 450, 457 f. Klassenjustiz  276 f., 287, 378 Kommunikation  30 f., 37, 55, 79, 109, 130, 158 f., 168, 183, 186, 189, 234, 264, 277, 304, 306, 330, 368, 390, 429, 461 f. Kompromiss 116 Konditionalprogramm 214 Konflikt  35, 96, 132, 219, 223, 225, 239, 269 f., 451 König  71, 173, 177, 281, 300, 343 f., 443, 448, 451, 455, 459, 464, 468 Konkretisierung  24, 51, 87 f., 90, 92, 110, 173, 307, 310, 312 f., 335–337, 342, 347, 349, 351, 354, 359, 362, 378, 382, 393, 425 Konsens  60, 89, 269, 305, 307, 357, 363 Konsenstheorie  305 f. Kontingenz  215, 307 Körper  103, 149, 151, 200, 215–219, 445, 456, 459 Kosten  34, 83, 90, 167, 223, 240–242, 251, 320, 323, 332, 342, 387, 398, 425 Kraft  53–55, 100, 230 Krieg  74, 118, 134, 192, 219, 221, 269, 483, 488 f. Kriminalstatistik 75 Kulturwissenschaft  161, 326 Kunstfreiheit  141 f. Lachen  99, 268, 374, 483 Laiendarsteller  272 f., 294 Laienrichter  238, 283, 293, 368 Langeweile  218 f., 293 f. Legitimation  177, 210, 233, 260, 290, 303, 445, 457, 464 Legizeichen  34, 59 f., 65, 79, 81, 91, 102, 112, 126, 139, 238, 245–254, 369, 394, 442, 454–456, 460, 462–464, 473, 478, 486, 491 f. Lettres de cachet  173, 177, 396 Leviathan  445–447, 450, 452, 456 likeness  66, 80 linguistic turn  158, 305 Linguistik  211, 361 Literatur  111–113, 125, 134, 139, 150, 157, 252, 284, 328, 395, 398 f., 401 f., 419, 446, 486, 490

litis contestatio  203, 209 Logik  23 f., 62, 64, 76, 109, 127, 139, 183, 210 f., 250, 283, 345 f., 355, 374, 432, 492 Lüge  40, 92, 97 f., 156, 199, 205, 427, 434 Macht  14, 72, 103, 118 f., 162, 176, 283, 296, 443–448, 458, 474 Machthaber  138, 160, 274, 277, 295 f., 301, 381 f., 384, 443, 446, 449, 451, 456, 461 f. Makrostruktur  327, 394 Mandantschaft 265 Mandatsgeheimnis 234 Maßnahme  38 f., 82, 149, 197, 244 f., 309, 311, 318, 338, 341, 406, 463, 472 f. Mauerschützen 303 Maxime  20 f., 49–51, 80, 87, 91 f., 94–96, 98 f., 101, 104, 107, 165, 200, 210, 214 f., 242 f., 270, 305 f., 347, 383, 394, 418, 426 Mediation  98, 198, 223, 257, 259, 262, 311 Medien  18, 58, 158–190, 264, 285, 288, 293–298, 386, 388, 395, 455, 479 Medienwechsel 168 Meinung  13, 40, 60, 77 f., 183, 189, 202, 211, 237 f., 245 f. –– herrschende ~  297 f., 416 Meinungsfreiheit  330, 456, 461–463, 467, 471, 476 Menschenrechte  56, 68, 103, 291 f., 382, 442, 449, 454, 467–479, 481, 497, 492 Metapher  13, 46, 107, 130, 231, 349, 374, 463 Metaphysik  94, 133, 328 Methodenlehre  12, 199, 235, 241, 310, 334, 341, 344, 350, 352, 354, 366, 370, 379 f., 384, 416 Mietvertrag  20, 122 f., 179, 321, 413–415 Mittäterschaft  321, 324 Mitteilung  26, 48, 127, 176, 181, 304, 385, 463 Modell  22 f., 25 f., 46, 76, 88, 108, 113, 153, 188, 208, 219, 222, 227, 235–238, 323 f., 365–368, 372, 379, 428, 449, 470 Moderne  63, 88, 112, 121, 206, 209, 261, 274, 299, 436, 442, 481, 490 Mord  11, 113, 380–384, 395–397, 400, 407, 431–433, 447, 483–487 mos italicus  171, 359

Sachverzeichnis Motiv  17, 37, 97 f., 100, 105, 110, 120, 149, 151, 199, 213, 250, 272, 316, 377, 433, 439 f., 463 Motivation  307, 335, 394 Mündlichkeit  164 f., 186, 209, 266 Musik  36, 67, 106, 267 Name  24, 27, 33, 109, 170, 176 f., 180, 358, 434, 465 Naturgesetz  95, 99, 447 Naturrecht  89 f., 103, 117 f., 304, 307, 382, 446 Nichtentscheidung  122, 255–258 Nichtrecht  311, 346 Norm  14 f., 51, 85 f., 100, 109, 214, ­299–320, 336, 344 f., 352–355, 366, 371, 392, 416 f., 426 f., 456, 468 f. Normalfall  250, 265, 287, 348, 405–407 Normbefehl  300 f., 308 f. Normbegründung  299 f., 305–308 Normbehauptung 245 Normenbefolgung 299 Normprogramm  320, 353, 429 Normtatsache  40, 245 Normtext  235, 300, 334, 342, 345, 348 f., 353 f., 392, 405, 415 f., 427 Normverständnis  40, 228, 307, 316, 352, 418 Notar  124, 177, 416 Notwendigkeit  95, 183, 193, 220, 226, 254 f., 274, 283, 290, 438 Nullzeichen 461 Oberflächenstruktur 324 Obersatz  310, 347 obiter dictum  81, 250, 381, 19 Objekt  15–21, 25, 49, 57–61, 65–69, ­73–76, 79, 86, 102, 105 f., 129 f., 142, 232, 245, 249, 330, 376, 389, 394 f., 461, 478, 487, 491 f. Objekt-Zeichen 88 Objektivität  65, 75, 190, 243, 350 Objektrelationen  22, 57–87, 157, 330, 386, 389, 442, 459, 492 Öffentlichkeit  49, 70, 147, 166, 213, 237 f., 243, 251 f., 277, 282, 291–298, 318, 386, 419, 460, 463, 472, 479 Operation  16, 28, 34, 48 f., 159 f., 212, 324, 361, 481

505

Operator  16, 153, 162, 179, 481 Opfer  32 f., 38, 44, 85, 117, 195, 203, 271, 279, 285, 287 f., 322, 329, 366, 395, 408, 427, 430, 433, 436 f., 439 f., 459 f., 467, 486, 488 Opportunismus 138 Organisation  161, 168, 182 f., 192, 194, 214, 255, 427 f. Pacta sunt servanda (Vertrag ist Ver­ trag)  251, 359, 361, 413, 421 f., 447 Paradoxie  156, 189, 194, 230, 316, 346, 434 Paraphe 177 Parrhesia  200 f. Pathos  83, 396 Performanz  267, 271, 289, 491 performative utterances 160 Persönlichkeitsrecht  68, 81, 252, 285, ­315–318, 348, 362, 368, 472 Phaneron 65 Phänomen  28, 39, 57, 63–66, 73, 87, 104, 130, 182, 373, 394, 406, 426, 489 phemisches Blatt  19, 23, 61 Pitaval  392, 398–400 Plausibilität  100, 128, 208, 284, 352, 357, 365, 374, 391 Politik  82 f., 85, 119, 160, 181, 187, 292, 361, 443, 445, 449, 458, 469, 479, 489 Polizeirecht  38, 337–339, 361, 406, 462 f. Positivismus 300 Postmoderne, postmodern  69 f., 146, 166, 216, 261, 323, 349, 365, 434, 442, 487 Pragmatik  13, 20, 22, 23–28, 44, 49, 52, 178, 237, 240, 278, 353, 363, 367, 373, 453, 492 pragmatisches Modell  235–237 Pragmatismus  20, 25, 50, 59 f., 62, 304 Pragmatizismus 50 Prämisse  24, 199, 374 Präsenz  45, 102, 172, 179, 184 f., 191, 215 f., 234, 271, 345 Prätor  197, 209, 282 Premiere 287–289 Presse  69 f., 386, 450, 460, 462, 472 Privatrecht  146, 208, 323, 360, 406, 408, 463 Produzentenpflicht 324 Prognose  281, 348, 474

506

Sachverzeichnis

Programm  191, 212–215, 353, 377, 392, 445 Proposition  40, 50, 59, 73, 76, 172, 394 Protest  14, 55, 68, 104, 128, 138, 149, 154, 346, 371, 451, 458, 467, 479 Protokoll  71, 136, 161, 164–166, 250, 260, 403, 431–434 Prozessordnung  147, 162 f., 168, 184, 187, 204, 211, 215, 220, 224, 227, 232, 257, 274, 281, 478 Psychoanalyse  94 f., 97, 112, 126, 147, 195, 262, 277, 375 Publikum  46, 76, 188, 243, 265, 270–272, 277, 282, 292–298, 365, 377 Qualität  27 f., 30, 50, 64 f., 87, 100, 188, 483, 492 Qualizeichen  59 f., 65, 434, 486, 492 Querulant  115, 117, 121, 167, 213, 262, 384, 386–390, 477 Querulanz  262, 384–391, 447 Rache  35 f., 120, 138, 195, 271, 277, 416, 430, 467, 489 Rahmung  169, 264, 275, 283, 394 Rätsel  15, 110 Räumung 308 re-entry  16, 68, 376 Recht (Was ist ~?)  11 f., 28 f., 53, 89 f. Rechtsanwalt  34, 68, 167, 186, 189, 234, 265, 269, 288, 316, 333, 393, 403 Rechtsbeugung  11, 344, 362, 375–384, 385–387, 389–391 Rechtschaffenheit  44, 57, 120 Rechtscode 324 Rechtsdiskurs  32, 100, 169, 232, 234, 245, 276, 359, 464 Rechtsdurchsetzung  111, 188, 463, 472, 485 Rechtsfolge  85, 211, 245, 310–320, ­336–339, 345, 365, 382 f., 417, 486 Rechtsform  72 f., 76, 112, 145, 154, 214, 233, 285, 385 Rechtsfrieden 219 Rechtsgefühl  11, 16, 28–37, 38, 90, 100, 111, 114, 119, 385, 491 Rechtsgespräch 217 Rechtskraft  13, 53–56, 241, 362

Rechtskritik  41, 119 Rechtslehre, Allgemeine  5, 11, 14, 28, 44, 158, 299, 302 f., 343, 472 Rechtsmittel  54, 63, 163, 167, 209, 212 f., 221, 240 f., 297, 312, 378, 388 Rechtssatz  51, 92, 209, 301 f., 304, 309, 311, 359, 364 Rechtssemiotik, rechtssemiotisch  57, 108, 177, 353 Rechtssoziologie  32, 81, 259, 384 Rechtsstaat  40, 139, 147 f., 194, 233, 250, 280 f., 297, 436, 440, 456, 464, 466 Rechtsstreit  30, 96, 140–142, 188, 197, 201, 208–211, 213, 221–224, 250, 254, 257, 262, 388 f., 425 Rechtstext  26, 72, 211, 269 Rechtstheorie  21, 44, 59, 89, 108, 126, 153, 242, 258, 267, 284, 306, 348, 379, 421, 453 Rechtswissenschaft  63, 174 f., 266, 302 f., 348, 409 Rechtszeichen  11–15, 56, 91 f., 101, 119, 128, 131, 157, 191, 236, 419, 454, 467 f., 474, 488–490 reconciliation 259 Rede  52, 56, 71 f., 179, 201 f., 298, 492 Reduktion  19, 22, 46, 49, 128, 223, 229, 274, 284, 286 Referenz  80, 211, 247, 272, 402 Regel  22, 27–30, 52, 54, 80, 89, 145, 230, 337, 373 f., 399, 419 f., 424, 464, 492 –– Goldene ~  91, 447 Regierung  283, 359, 443, 452, 455, 463 Repräsentamen  16–19, 49, 51, 60, 66, 77, 80, 249, 376, 379, 481, 492 Res iudicata  54, 56, 356, 362 Reue  207, 382, 487 Revision  196, 198 f., 212, 217, 250, 254, 317, 326, 328, 335, 362, 377, 409, 423 Rhema  52, 59 f., 67, 76 f., 112, 125 f., 247, 369, 455, 458, 467, 469, 472, 474, 492 Rhetorik  23, 26, 42, 52, 70 f., 167, 188, 219, 260, 344 f., 347, 350, 353, 364 f., 369, 376, 402 Richter  44 f., 56, 69, 149, 214, 228, 230, 240, 274 f., 280–284, 293, 297, 359, 379–384, 393, 444, 447 Richterrecht  318, 365

Sachverzeichnis Richterrolle  274 f. Richtigkeit  99 f., 110, 119, 168, 187, 198, 202, 205, 211, 228, 230, 241, 250, 269, 273, 304–306, 437, 460 Ritual  82, 209, 218, 274, 276 f., 470 Rolle 272–283 Rollenspiel  273 f., 276, 278, 282 Rom  480 f. Routine  28, 75, 185, 219, 224, 240, 275, 283, 295, 321, 351, 353 Russell-Tribunal  291 f. Sachlichkeit  110 f., 113, 131–136, 151, 206, 222, 243, 266, 402, 465 Sachverhalt  46, 76 f., 175, 198, 203 f., 209, 220, 248, 310 f., 347 f., 359, 466 Sachverhaltserzählung  312, 325, 357, 362 Sachverständiger  78, 202, 204–206, 225, 283 f., 292 Sassuresches Modell  46, 76 Satz 12, 38, 50, 59 f., 66 f., 92, 105, 113, 305, 311, 330, 346, 376, 492 Säumnis 184 Schacht 236–238 Schadensrecht 319 Schauprozess  72, 284, 290–292, 459 Schauspieler  139, 270 f., 317 Schlüsselroman 139–141 Scholastik 171 Schrift  52, 127–129, 131, 159, 166, 174 Schriftsatz  42, 131, 174, 185, 190, 206, 210, 222, 236, 247, 257, 260, 267, 269, 316, 395, 398 Schweigen  15, 72, 173, 308, 355, 466 secondness, s.a. Zweitheit  18, 23, 33, 35, 37, 39, 50, 492 Semantik  13, 22, 23–28, 33, 77, 163, 178, 182, 213, 238, 289, 427, 449 f., 453, 469, 480, 492 semantischer Kampf  354 semantisches Modell  235 Semiotik  5, 15–18, 22–24, 38, 52, 57 f., 62, 64, 79 f., 91, 168, 176, 206, 227, 299, 353, 478, 491 Sender  23, 26, 175 f., 178, 181, 305, 492 Serialität  102, 287 Serie  109, 158, 165, 174, 194, 203, 317, 328

507

Sexualität  83, 137, 140, 151, 201, 286, 386, 417 Sicherheit  31, 47, 130, 164, 337–339, 366, 421 f., 425, 446, 462 f., 473, 478 Signifikant  24, 76 f., 79, 179, 182, 218 Signifikantenkette 234 Sinzeichen  59 f., 101, 492 Situationsanalyse  87, 91, 93 f., 98 –– (Michael-)Kohlhaas-Situation 113–115, 117–120 Situationsdefinitionen 325 Sozialforschung  325, 374 Sozialverhältnis 288 Soziologie  325, 327 Sprachanalyse 244 Sprechakt  20, 160 f., 164, 168, 179, 244, 269, 327 f. Spruch  41 f., 51, 197, 212, 232, 238, ­241–243, 362 Staat  91, 118, 120 f., 442 f., 446 f., 458, 462 f., 481 Staatsanwalt(schaft)  36, 67, 70, 163, 189, 204, 213, 239, 276, 282 f., 429 Stasi-Syndrom 160 Station  109, 127, 150, 162, 168, 182, 184, 197, 208, 210–213, 215, 260 f., 286, 304, 328, 492 Status  245, 326, 394, 402, 423, 425 f., 477 Stellungnahme  35, 96, 168 f., 185, 267, 295, 316 Strafe  85, 287, 336, 339, 382, 439 Strafrahmen  84 f., 310, 318, 381, 439 Strafrecht  83, 85 f., 289, 311, 319, 337, 361, 379 f., 408 f., 411–413 Strafrechtsdogmatik  321, 381, 427 Strafsache  37, 166, 185 f., 202, 239, 250, 256 f., 270, 275, 281–284, 286, 289 f., 321, 383, 437 Straftat  124, 136, 202, 234, 243, 286, 306, 312, 321–325, 336, 372, 379, 384, 410, 457, 488 Strafurteil  312, 336 Strafzumessungsregel 318 stratégie de rupture  110, 220, 226 Subjekt  50, 63, 86, 102, 105, 164, 244, 395 Subsumtion  311, 334, 347 f., 354, 368, 419 f., 428 Supplement  168, 345

508

Sachverzeichnis

Supreme Court  226, 372–375, 453 f. Symbol  34, 58, 60, 63, 65, 79–86, 207, 216, 337, 351, 452, 465, 492 Syntaktik  23, 27, 142, 492 Synthese 171 System  16, 51, 88, 129, 183, 200, 302, ­350–353, 375, 467 Szene  69, 71, 114, 149–151, 217, 271 f., 274, 288 Tatplan  71 f., 321 f., 324, 433 Tatsache  37 f., 59 f., 78, 105, 244 f., 332, 334, 367, 420, 492 Tatvorwurf  258, 335, 475 Täuschung  93, 136, 152, 154, 177, 205, 224, 248, 268 f., 273, 325, 454, 468 tenacity 88 Tendenz  207, 273, 290, 361, 365 f., 401, 408, 457 Tenor  63, 166, 232, 234, 241, 385, 388 Term  59, 162, 197, 247, 249 Termin  162, 210 f. Terror  120, 202, 362, 483–485, 488 f. Testament  41, 63, 166, 192, 232, 234, 238 f., 241 f., 250, 255, 319, 385, 388, 395 Text  69, 113, 132, 143, 152, 167, 171, ­176–182, 226, 266 f., 353 f. Textzeichen  88, 135, 186 Theater  267–279, 287 f., 293 Theaterwissenschaft 266 Thema  98, 185, 388–390 Thing  264, 271 thymós 35 Titel  75, 95, 195, 232, 239, 242 Todesstrafe  85, 276, 291, 379, 381, 487 Todestrieb 170 Topik  169, 344, 355–365, 366, 382, 453, 462 Topos  31, 45, 54, 83, 93, 220, 251 f., 260, 318, 346, 356–363, 365, 371 f., 380, 383, 404, 428, 444 totalitär  78, 148, 155, 160, 163, 291, 360, 365, 482 Transformation  23, 36, 190, 204, 240, 345 Transkript 266 Transparenz  219, 234 Tugend  97, 200, 218, 418

Übergang  355, 358 Übertragung  110, 159, 163, 167, 385 Überzeugung  49, 89, 201, 235–238, 368 f., 377, 383, 398 Unanschaulichkeit 314 Unbewusstes  95, 151 Unentscheidbar  54, 230, 243, 259, 404 Ungerecht  43, 53, 120, 123 Unmittelbarkeit  66, 102, 164, 187 Unrecht  13, 28 f., 31, 48, 72, 120, 136, 139, 194, 229, 311, 346, 380–382, 433 Unschuld  386, 408, 432, 460 Unternehmensstrafbarkeit 322 Unterschrift  72, 75, 122–124, 175–182 Untersuchungsrichter  146, 148–150, 230 Urkunde  179, 205, 226, 438, 492 Urteil  93, 196 f., 203 f., 212 f., 227 f., 237, 256, 320, 326, 377, 435 Urteilsformel  166, 238–242 Urteilskraft  92, 108, 153, 328, 478 Urteilsschelte 295 Urteilsspruch  206, 238, 241, 288 Vatikan 160 verallgemeinerungsfähig  106, 117, 245, 249, 420, 466, 468 Verbot  380–385, 448 Verdacht  380–385, 448 Verdrängung  94, 96 f., 375 Verfahren  18, 32, 34, 40, 51–56, 95 f., 162 f., 168 Verfahrensgegenstand  36, 162, 187, 460 Verfahrensordnung  43, 147, 189, 203, 270, 274, 283, 287, 294, 312, 368, 453, 477 Verfassung  327 f., 437, 442–444, 448–454, 470, 481 Verfügungsantrag 163 Vergleich  198, 212, 219, 222, 229, 256 f., 259, 261, 269, 274, 372 Verhaftung  39, 147 f., 151, 154, 191, 341, 450, 459 f. Verhältnismäßigkeit  356, 358, 361, 380, 383 Verhandlung  70, 72, 147, 165, 183–190, 215–217, 222, 237, 260, 264 f., 272, 289, 311 Verkündung  53, 59, 69, 141, 163, 166 f., 227, 234, 257, 299, 340, 349, 435, 440 f.

Sachverzeichnis Vernehmung  42, 149, 164, 205, 220, 254, 274, 305, 487 Verrichtungsgehilfe 323 Versäumnisurteil  184 f., 425 Verschiebung  23, 42, 46, 97, 109, 190 f., 194, 266, 280, 462 f. Verständigung  51, 66, 182, 272 f., 367 Verständlichkeit  280, 298, 378 Verteidiger  151, 168, 216, 258, 272, 274, 279–284, 287, 314, 324, 396, 403, 459 Vertrag  72, 122 f., 178, 182, 226, 251, 290, 310, 421 f. Verwaltung  82, 339, 384, 430 Verwaltungsakt  166–168, 311, 347, 369, 430 Verwaltungsverfahren 166 Völkermord  33, 128, 435, 440 f. Vollstreckbarkeit  241 f. Vollstreckung  39, 41, 63, 149, 184, 191, 212, 232, 241 f., 291, 425 Vorladung 152 vorlegen  162 f., 170, 318 Vorverständnis  108, 284 Waffengleichheit  220, 254 Wahl  456–458, 465 Wahrhaftigkeit  94, 99 f., 168, 306 Wahrheit  76–78, 143, 168, 191, 198–203, 225, 236, 306, 326–329, 404 Wannsee-Konferenz  136, 325, 430, 432 Weglegen 167 Weinen  216, 268, 403 Welt  28 f., 32 f., 38, 50, 57, 73, 78, 142, 163–166, 283–287, 308–310, 402, 492 Werturteil  105, 207 Wettkampf  264, 267, 271, 353 Widerstand (widerständig)  28, 38 f., 57, 73, 96, 301, 385, 434 Widerstreit(end)  156, 187, 235, 253, 372, 434 Wiederholbarkeit (Iteration)  21, 28, 180

509

Wirklichkeit  39, 52, 57, 79, 203 f., 269, 385, 402, 478 Wirklichkeitskonstitution 277 Wissen  332 f., 404 Wissenschaftlichkeit  89, 302, 304 Zeichen  11–28, 46–49, 57–62, 65–69, ­76–78, 112–114, 245–247, 375–379, 387–389, 450–456, 478–489, 491 f. Zeichengegenstand 190 Zeichenklasse  22, 59, 61 f., 79, 228, 242, 336 Zeichenklassifikation  66, 159, 454 Zeichenkonzept  5, 21, 49, 327, 346 Zeichenmittel  18, 22, 58 f., 65 f., 79, 88, 376 Zeichenstruktur 159 Zeichentheorie  13–22, 23, 77, 376 Zeichenverwendung  42, 214, 315, 327, 427, 455 Zeichenvorstellung  49, 304 Zeit  28, 309–311, 315, 326, 449 Zensur  113, 140, 142, 461 f. Zeuge  203, 224 Zeugenbeweis  203, 224–226 Zivilprozess  36 f., 68, 166, 184, 197, 203, 205, 210, 212, 220, 242, 257 Zorn 28–37 Zueignungsabsicht 312 Zug  168, 210, 212 f., 215, 244 Zukunft  26, 309–311, 315, 326, 449 Zurechnung  299, 321–336, 438 Zuschauer  70, 192, 199, 264 f., 267 f., 271 f., 285, 292–294, 297 Zuschreibung  33, 222, 299, 305, 321–336, 433 Zustandsstörer 341 Zustellung  167, 210 Zustimmung  75, 89, 230, 261, 269–271, 296, 305, 324, 357, 380, 387, 433, 455 Zwang  41–43, 51, 191–193, 307 f. Zweikampf  191 f., 198–201, 295