Die Kurze Form der Predigt: Interdisziplinäre Erwägungen zu einer Herausforderung für die Homiletik [1 ed.] 9783666624346, 9783525624340

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Die Kurze Form der Predigt: Interdisziplinäre Erwägungen zu einer Herausforderung für die Homiletik [1 ed.]
 9783666624346, 9783525624340

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 86

Angela Rinn

Die Kurze Form der Predigt Interdisziplinäre Erwägungen zu einer Herausforderung für die Homiletik

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Hanns-Ulrich Becker

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-525-62434-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung und Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kurze Form der Predigt – eine Herausforderung für die Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Essenz der Arbeit – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . 1.1. Predigt ist auch Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Aufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Person der Predigenden in homiletischen Konzeptionen . . 2.1. Eine zukunftsgerichtete Konzeption in Kriegs- und Nachkriegszeit in Ostdeutschland: Otto Haendler . . . . 2.2. Neubesinnung in Westdeutschland, Aufnahme der Ideen Haendlers nach der Wiedervereinigung und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . 2.2.1. Manfred Josuttis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Fritz Riemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Axel Denecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Albrecht Grözinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5. Wilfried Engemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6. Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann . . . . . . . . 2.2.7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezüge zu Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Menschen belohnen sich selbst – Dopamin . . . . . . . .

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Inhalt

Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Der Mensch – ein soziales Wesen . . . . . . . . . . . . . . Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Kommunikation durch Symbole . . . . . . . . . . . . . . . Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Emotion und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homiletische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gleichnisse als biblische Kurze Form der Predigt . . . . . . . . . 4.1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der Perle (Mt 13, 44–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4, 26–29) 4.4. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37) 4.5. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11–32) . . . . . 4.6. Homiletische Konsequenzen für die Kurze Form der Gleichnispredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Perspektiven der homiletischen Diskussion . . . . . . . . . . . . 5.1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Perspektive der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Perspektive der Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Perspektive der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Perspektive der Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6. Perspektive der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7. Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung . . . . . . . 5.8. Perspektive der Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9. Perspektive der Rundfunkhomiletik . . . . . . . . . . . . . 5.10. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Homiletik der Kurzen Form . . . . . . . . . . . . 2. Szenen aus dem Alltag . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwei praktische Umsetzungen . . . . . . . . . . 3.1. Eine Adventspredigt . . . . . . . . . . . . . 3.2. Eine Kasualpredigt . . . . . . . . . . . . . . 4. Homiletisches Konzept: Die predigende Existenz

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Inhalt

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IV. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Diese Arbeit ist im Februar 2015 von der Theologischen Fakultät der RuprechtKarls-Universität zu Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen worden. Ich danke der Fakultät für die Offenheit, mit der sie eine ungewöhnliche interdisziplinäre Auseinandersetzung zugelassen hat. Mein besonderer Dank gilt den vier Gutachtern meiner Arbeit: Prof. Dr. Helmut Schwier hat diese Arbeit und mich von ihren Anfängen an immer herzlich, zugewandt und zugleich konstruktiv-kritisch begleitet, mich angeregt und herausgefordert. Seine umfassende interdisziplinäre Ausrichtung ist mir bleibendes Vorbild. Nicht zuletzt sein Humor hat mir geholfen! Nur dank seiner kundigen Betreuung konnte das Projekt einer berufsbegleitenden Habilitation gelingen! Prof. Dr. Fritz Lienhard danke ich für sorgfältige Kritik, weiterführende Impulse und wichtige Rückmeldungen. Er hat sich der Mühe unterzogen, das Zweitgutachten abzufassen. Prof. Dr. Andreas Draguhn hat mir ein Verständnis für die Sprachspiele naturwissenschaftlicher Traditionen eröffnet. Über Jahre hinweg hat er mich treu mit Hinweisen auf relevante Veröffentlichungen versorgt und sich freundlich und geduldig mit meinen Gedanken auseinandergesetzt. Prof. Dr. Tobias Bulang hat mir wichtige Hinweise im Blick auf die literaturwissenschaftliche Debatte zu kurzen Formen gegeben. Im Rückblick sehe ich, dass mir viele Menschen selbstlos und liebenswürdig geholfen haben. Sie waren für mich Gottesgeschenke! Ich bin ihnen allen dankbar für ihre Geduld und Unterstützung! Namentlich nennen möchte ich Prof. Dr. Christian Schärf, der mich auf die Geschichte des Essay und die essayistische Haltung aufmerksam gemacht und viele Fragen beantwortet hat; Prof. Dr. HansMartin Gutmann, der mir in vielen Gesprächen geholfen hat, meine Gedanken zu sortieren; und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, der mich in meinen literaturwissenschaftlichen Versuchen beraten hat. Für ihre Hilfe danke ich Prof. Dr. Manfred Oeming, Prof. Dr. Ernstpeter Maurer und Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Horn. Stephan Müller-Kracht (†) hat mich aufmunternd begleitet. Ohne die Unterstützung von Dipl.-Bibl. Gudrun Thiel-Schmidt und Isabella Hanstein von der Bibliothek des Theologischen Seminars in Herborn, die für mich unermüdlich

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Vorwort

Literatur recherchiert und zugänglich gemacht haben, hätte die Arbeit niemals so zügig abgeschlossen werden können. Meiner Ev. Kirchengemeinde Mainz-Gonsenheim danke ich für eine Atmosphäre, in der eine Pfarrerin pastorale Arbeit und wissenschaftliches Nachdenken konstruktiv verbinden kann. Allen Menschen, mit denen ich in der Rundfunkarbeit des SWR arbeite und den Hörerinnen und Hörern danke ich für ihre anregenden Rückmeldungen. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die Union Evangelischer Kirchen in der EKD und die EKD haben durch großzügige Zuschüsse zu den Publikationskosten das Erscheinen dieser Arbeit unterstützt. Herrn Professor Dr. Eberhard Hauschildt danke ich herzlich für die Aufnahme meiner Habilitationsschrift in die Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie. Ich widme diese Arbeit meinem Mann Hanns-Ulrich Becker. Er weiß, wie oft ich aufgeben wollte. Liebevoll hat er mich dann ermutigt, das zu tun, was für mich richtig ist. Es hat sich gelohnt!

I.

Einleitung und Problemanzeige

1.

Die Kurze Form der Predigt – eine Herausforderung für die Homiletik

Nach 25 Jahren als Gemeindepfarrerin und fast 20 Jahren als Autorin in der Rundfunkarbeit („Wort zum Tag“ SWR2, Rundfunkgottesdienste, Fernsehgottesdienst) hatte ich zwar Hunderte kurzer Predigten geschrieben und gesprochen, aber – trotz jährlicher Fortbildungen für die Rundfunkautorinnen und -autoren – keine Vorstellung einer Theorie der Kurzen Form. Es gab auf den Fortbildungen viele praktische Hinweise für das Verfassen eines kurzen Textes, es gab theologische Impulse1, aber kein homiletisches Konzept. Ich bin Pfarrerin einer Kirchengemeinde mit fast 5500 Mitgliedern. Im Jahr haben wir zwischen 40 und 80 Beerdigungen. Die Situation bei Bestattungen auf den Friedhöfen der Stadt Mainz hat sich verschärft. Die Stadt hat die Regelzeit für die Nutzung der Trauerhalle auf 20 Minuten verkürzt. Jede Überschreitung der Zeit verursacht hohe Mehrkosten für die Angehörigen, denen auch bei einer fünfminütigen Überziehung wieder 20 Minuten Belegungszeit berechnet werden. Die Angestellten der Stadt werden angewiesen, die Einhaltung des Zeitfensters zu überwachen. Eine Trauerfeier, die um 10.00 Uhr beginnt, muss spätestens um 10.20 Uhr beim Auszug des Sargs aus der Trauerhalle angelangt sein. Das fordert von den Pfarrerinnen und Pfarrern die Auswahl von kurzen Musikstücken oder Liedern und eine Predigt, die nicht länger als fünf Minuten dauern darf. Zugleich soll die Trauerfeier würdig bleiben. Wie ist es möglich, in fünf Minuten über das Leben eines Menschen zu sprechen und zugleich die Botschaft des Evangeliums zum Leuchten zu bringen? Dies ist eine Herausforderung der Kurzen Form. Doch in keinem homiletischen Lehrbuch sind Hinweise zu finden, wie diese Kurze Form konzeptionell gemeistert werden könnte. 1 Z.B. durch Gerhard Marcel Martin auf einer Rundfunktagung: Gerhard Marcel Martin, „… und wo bleibt das Theologische?“ In: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 51–60.

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Einleitung und Problemanzeige

Unser Stadtteil ist sehr beliebt bei jungen Familien, und so feiern wir im Jahr etwa 40 bis 50 Taufen. Bei Taufen und in Familiengottesdiensten sind lange Predigten menschenunfreundlich. Auch hier ist die Kurze Form der Predigt gefragt. Was spricht Kinder an und zugleich deren Eltern und Großeltern? Wie finde ich eine Sprache der Kurzen Form, die generationenübergreifend ankommt? Die Kirchen haben in Mainz-Gonsenheim noch einen selbstverständlichen Platz im Gemeinwesen. Wir werden zu Jubiläumsfeiern eingeladen, zu Konzerten der Freiwilligen Feuerwehr, zu Akademischen Feiern der Vereine, sind in die Schulen integriert und werden dort zu Begrüßungen und Verabschiedungen geladen. Immer wieder erwarten die Menschen im Kontext dieser Veranstaltungen ein Grußwort. Dieses Grußwort muss kurz sein (schließlich sprechen auch noch die Ortsvorsteherin, die Schuldirektorin, der Vereinsvorstand und die Vorstände befreundeter Vereine), zugleich so prägnant, dass sich die Hörerinnen und Hörer am besten schon auf das nächste Grußwort ihrer Pfarrerin freuen. Wiederholungen sind selbstverständlich nicht möglich, die Schnittmenge der Anwesenden bei diesen Veranstaltungen ist hoch. Für meine Kolumne in „Christ und Welt in DIE ZEIT“ stehen mir 3200 Zeichen zur Verfügung – das ist ebenso die Kurze Form wie meine Kolumnen auf der Rückseite der Evangelischen Sonntagszeitung, die wöchentlich im Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau erscheint. Dort stehen mir 3500 bis 4000 Zeichen zur Verfügung, das entspricht ein bis zwei Din-A4-Seiten. Die Herausgeber schätzen diese Kolumne hoch ein, denn erfahrungsgemäß ist die Rückseite einer Zeitung die Seite, die am stärksten wahrgenommen wird (auf der Rückseite platzieren viele Lokalzeitungen ihre Panorama-Nachrichten). Zugleich ist mit dieser Kolumne das Angebot verbunden, sich mit Rückmeldungen an mich zu wenden. Wie kann ich die Kolumne so entwerfen, dass Menschen sie gerne lesen und motiviert sind, ihre eigenen Gedanken zu formulieren und diese mir mitzuteilen? Die Kommunikation mit Leserinnen und Lesern der Sonntagszeitung erfolgt meistens schriftlich per Brief, der Altersdurchschnitt der Lesenden ist höher. Die Kommunikation mit Hörenden meiner Rundfunkbeiträge geschieht meistens per Mail. Während dies zu Beginn meiner Tätigkeit als Autorin beim SWR die Ausnahme war, ist die Resonanz per Mail heute die Regel. Die Fülle der Informationen im Internet ist überwältigend. Immer mehr Menschen wollen nicht mehr eine längere Information oder eine ausführliche Darlegung nachvollziehen – oder sie sind nicht mehr in der Lage dazu, weil sie es nicht eingeübt haben. Die Kurze Form ist im Internet die Regel. Das prägt die Menschen, die dieses Medium nutzen. In der Tat ist das Internet das Forum der kurzen und kürzesten Texte, und es ist abzuwarten, wie dies auch die Hörgewohnheiten und die Hörmöglichkeiten überhaupt verändern wird.

Die Kurze Form der Predigt – eine Herausforderung für die Homiletik

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Warum bekomme ich auf manche Sendungen, Beerdigungsansprachen, Familiengottesdienste oder Kolumnen begeisterte Rückmeldungen, warum bleiben andere ohne Resonanz? Was macht einen guten Beitrag aus? Ich habe mich auf eine Spurensuche begeben, die über praktische Tipps (kurze Sätze, keine Substantivierungen, erzähle Geschichten, rhetorischer Aufbau) hinaus einen Weg zu einem homiletischen Konzept der Kurzen Form eröffnen sollte. Der Bedarf der Praxis macht es drängend: Die Kurze Form der Predigt erfordert eine gründliche Untersuchung, die sowohl prinzipielle, materiale als auch formale Fragen der Homiletik klärt. Warum der Begriff Kurze Form und nicht Kleine Form oder Andacht? Eine festgelegte Begrifflichkeit gibt es nicht, vorgeschlagen werden „Kleine Form“ und „Kurzandacht“.2 Der Begriff Andacht ist nicht umfassend genug. Trotz der Problematik des Begriffs „Form“ im Blick auf das interdisziplinäre Gespräch mit der Literaturwissenschaft,3 habe ich mich für den Begriff „Kurze Form“ entschieden, weil er die von Friedemann Merkel vorgeschlagene Bezeichnung „Form“ aufnimmt und am besten beschreibt, was gemeint ist: Eine der Langform gegenüber eigenständige Predigt, die spezifische Anforderungen hat und eine eigene homiletische Reflexion erfordert. Für „kurz“ habe ich mich entschieden, weil „klein“ eine Abwertung implizieren könnte. Kurze Formen sind dagegen nicht weniger wert als lange Formen, sie können sogar die elaborierte, reife Form sein. Was ist eine Kurze Form? Hier gibt es unterschiedliche Definitionen. Eine Kurzgeschichte kann 20 Druckseiten umfassen, Verkündigungssendungen im Radiosender SWR3 60 Sekunden (dieses Format nennt sich „Worte“) bzw. maximal 120 Sekunden (dieses Format nennt sich „Gedanken“). Ich habe mich entschieden, mich mit kurzen Formen zu beschäftigen, die gesprochen nicht länger als fünf Minuten dauern. Dies entspricht etwa dem Zeitfenster, in dem das Kurzzeitgedächtnis neue Informationen speichern kann. Kurze Formen sind also Formen, die geschrieben höchstens zwei Din-A4-Seiten umfassen.

2 Friedemann Merkel spricht von „Kleiner Form“: Friedemann Merkel, Andacht – eine vernachlässigte „Kleine Form“. In: PTh 74(1985), 272–282; Friedemann Merkel, Die Andacht und verwandte „kleine Formen“ des Gottesdienstes. In: Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Michael Meyer-Blanck, Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 923–928; Manfred Josuttis von „Kurzandachten“: Manfred Josuttis, Unterhaltsam von Gott reden? Gesetz und Evangelium in der Rundfunkverkündigung. In: Manfred Josuttis, Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit, Güterlsloh 1995, 86. 3 Die Literaturwissenschaft sieht die „problematische Vieldeutigkeit“ des Begriffs Form (so Christiane Schildknecht, Art. Form. In: Klaus Weimar, Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin. New York 2007, 612.

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Einleitung und Problemanzeige

Da in der homiletischen Diskussion keine Konzeption zur Kurzen Form der Predigt zu finden ist, beginne ich eine interdisziplinäre Auseinandersetzung in vier Richtungen: Hin zu Literaturwissenschaft und Neurowissenschaften, zur biblischen Kurzen Form des Gleichnisses und zu homiletischen Perspektiven. Interdisziplinäres Denken entspricht zudem homiletischer Arbeit.4 Was bedeutet eigentlich „kurz“ im Kontext von Literatur? Neuland muss im Blick auf die Literaturwissenschaft insofern betreten werden, als bislang noch nicht der Zusammenhang von kurzen literarischen Textsorten und der Kurzen Form der Predigt erörtert wurde. Da ich die Diskussion über die Kurze Form der Predigt so offen wie möglich über Disziplingrenzen hinaus führen möchte, habe ich mich im Blick auf das interdisziplinäre Gespräch für den Begriff „Textsorte“ entschieden. Textsorte ist der neutralste Begriff, der keine ausführliche historische oder systematische Explikation bedarf, die im Fall von literarischer Form5 oder literarischer Gattung6 notwendig erscheint. Textsorte ist ein „transhistorischer Ordnungsbegriff“7. Ich behandele das Thema nicht historisch, sondern fokussiere auf die spezifischen gegenwärtigen Anforderungen für die Kurze Form der Predigt. Eine kurze Textsorte, die klassisch mit der Predigt verbunden ist, ist der Traktat. In der Literaturwissenschaft sind in den letzten 15 Jahren wegweisende Untersuchungen zum Essay vorgelegt worden, die für die vorliegende Arbeit fruchtbar ausgewertet werden können. Ein homiletischer Bezug zeigt sich zwischen der „essayistischen Existenz“ und der Person der Predigerin bzw. des Predigers. In diesem Zusammenhang eröffnet sich eine Verbindung zur

4 „Wenn man, was unstrittig sein dürfte, Praktische Theologie allgemein als eine auf die Praxis kirchlicher Handlungsfelder und religiöser Lebenswelten ausgerichtete theologische Theorie versteht, ist schon dadurch eine Pluralität gegeben. Diese wird nochmals vermehrt, wenn man die Perspektiven von Wahrnehmung, Reflexion und Orientierung jeweils dazu nimmt, wenn man außerdem den Entwurf eines Gesamtverständnisses, das es nicht unbedingt immer gegeben hat, mit den Entwürfen der Einzeldisziplinen Homiletik, Liturgik, Poimenik, Religionspädagogik, Kirchentheorie und Diakoniewissenschaft ergänzt und – last but not least – die das Fach seit Ende des 19. Jhs prägende Zusammenarbeit mit anderen nicht-theologischen Wissenschaften bzw. das Interesse für deren Ergebnisse und Methoden beachtet.“ Helmut Schwier, Gott wagen. Praktisch-theologische Perspektiven zum Gespräch der theologischen Disziplinen. In: Paul Metzger (Hg.), Die Konfession Jesu, BenshH 112, Göttingen 2012, 83. 5 Dem „problematische Vieldeutigkeit“ attestiert wird. So Christiane Schildknecht, Art. Form. In: Klaus Weimar, Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin. New York 2007, 612. 6 „Gegenüber dem traditionsreichen, aber eben dadurch immer unschärfer gewordenen Begriff der … Gattung fungiert der neugebildete Terminus Textsorte als Abgrenzungsbegriff. Er markiert nicht die Historizität gewachsener Formkonventionen“ Harald Fricke, Elisabeth Stuck, Art. Textsorte. In: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2007, 612. 7 Harald Fricke, Elisabeth Stuck, a. a. O., 612.

Die Kurze Form der Predigt – eine Herausforderung für die Homiletik

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Auseinandersetzung mit der Person der Predigenden in der homiletischen Debatte. Neuland ist auch die Auseinandersetzung im Bereich der Neurowissenschaften. Zwar gibt es eine Fülle von Überlegungen zum Thema „Gott und Gehirn“, zwar hat Wilfried Härle erste Schritte unternommen, um neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die Theologie fruchtbar zu machen,8 doch sind mir weiter keine Rezeptionen der Neurowissenschaften für den Bereich der Homiletik bekannt. Neben psychologischen Forschungstraditionen, die Erkenntnisse über menschliches Lernen, Emotionen, soziales Verhalten und Sinneswahrnehmungen hervorgebracht haben, gewinnt die Perspektive der jungen, interdisziplinären Neurowissenschaft jedenfalls für viele Fragestellungen zu emotionalen und kognitiven Funktionen an Bedeutung. Biologische und nicht-biologische Ansätze bieten aus ihrer jeweiligen Perspektive und Tradition wertvolle Informationen. In Teilaspekten überlappen die Perspektiven von Psychologie, Pädagogik und Neurowissenschaften. Wenn ich von der „neurowissenschaftlichen Perspektive“ spreche, umfasst das deshalb auch Ergebnisse, die teilweise mit Mitteln der klassischen Psychologie oder Pädagogik erarbeitet worden sind. Dies betrifft etwa die Dauer der Aufmerksamkeitsspanne und die Rolle von Emotionen beim Lernen. Neurowissenschaften helfen uns zu begreifen, wie Wahrnehmung funktioniert, was Menschen bewegt und was sie antreibt. Das sind wichtige Anregungen die dazu beitragen, dass Predigende sich selbst und andere besser verstehen können. Was sagen Neurowissenschaften über das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis? Welche Informationen stellen sie uns zur Verfügung, die uns erklären, warum Menschen sich begeistern können, was sie abstößt oder anzieht – so sehr, dass sie süchtig danach werden können? Wie hören Menschen und welche Areale im Gehirn werden dabei aktiviert? Wenn die Person der Predigenden und der Hörenden ernst genommen wird, dann sollen sie in ihrer Gesamtheit, also mit Leib und Seele wahrgenommen werden. Wenn der Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, dann darf sich die Homiletik nicht auf den Geist beschränken.9 In der Bearbeitung dieser Fragen bestätigt sich die Vermutung, dass Neurowissenschaften und Literaturwissenschaften Perspektiven aufweisen. In der Gleichnisforschung kann auf ausführliche Überlegungen zugegriffen werden. 8 Wilfried Härle, Hirnforschung und Predigtarbeit. Beobachtungen, Überlegungen und praktische Konsequenzen. In: PrTh 47/2 (2012), 108–117. 9 Vgl. dazu Michael Welker, Was ist ein „geistiger Leib“? In: Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs, Grit Schwarzkopf (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg 2013, 65–83. Für Welker ist die Anthropologie des Paulus Ausweg aus Denk„Sackgassen“ (a. a. O., 71). „Durch den Leib wird der Geist greifbar.“ (a. a. O., 72).

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Einleitung und Problemanzeige

Hier stellt sich die Frage, wie Jesus bzw. die Evangelisten ihre Kurze Form aufgebaut haben. Sind Gleichnisse Predigten? Was trägt die Analyse von Gleichnissen für die Kurze Form der Predigt aus? Können neurowissenschaftliche Ergebnisse Lese- bzw. Hörhilfen für Gleichnisse sein? Die Überlegungen zu Gleichnissen führen unter Berücksichtigung der neurowissenschaftlichen Ergebnisse zu homiletischen Konsequenzen. Die Sichtung der homiletischen Debatte der letzten 60 Jahre erschließt weiterführende Anregungen. Hier sind zu nennen Überlegungen zu Bildern, Metaphern und Symbolen, Hinweise zu Kommunikation und Rhetorik, Kunst und Kunsthandwerk des Predigens sowie zur Performanz. Wesentlich ist der Hinweis auf Roland Barthes in mehreren homiletischen Konzeptionen. Es wird zu fragen sein, welche Schlüsse sich aus seinen Überlegungen zu Fragment und Überraschung im Blick auf die kurze Form der Predigt ziehen lassen. Letztlich kann eine Konzeption der Kurzen Form formuliert werden. Allerdings: Die hier vorgelegte Konzeption ist keine Anleitung, die pragmatisch einfach wie ein Kochrezept rezipiert werden könnte. Denn diese Konzeption kann nicht unabhängig vom Habitus der Predigerin und des Predigers umgesetzt werden. Diese Haltung ist die Konzeption. Diese Haltung, ich definiere sie als „predigende Existenz“, ist Schlüssel und unabdingbare Voraussetzung, um die Kurze Form der Predigt zu gestalten. Alle weiteren Gestaltungshinweise, etwa zu treffenden Metaphern, überraschenden Sprachspielen, berührenden Gedanken und prophetisch-gesellschaftspolitischen Äußerungen sind relevant, aber nachgeordnet. Zentral sind die Predigenden. Sie sind ihr eigenes, wichtigstes Instrument, sie sind es, die mit Leib und Seele durchlässig für Welt und Gott werden.

2.

Die Essenz der Arbeit – ein Überblick

Die Kurze Form der Predigt erfordert eine gesonderte homiletische Auseinandersetzung, weil die Kurze Form keine gekürzte Langform der Predigt ist. Die Kurze Form ist weder eine Zusammenfassung der Langen Form noch ein Ausschnitt einer langen Predigt. Was in der Langform anregend sein kann – etwa eine durchgehend narrative Predigt – funktioniert in der Kurzen Form nicht. Narration, um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann nur ein Teil der Predigt sein und muss als solche erkennbar sein. In der Langform haben die Hörenden Zeit, sich auf die Narration einzustellen. In der Kurzform verwirrt es die Hörenden, wenn sie nicht beurteilen können, ob es sich um eine tatsächlich erlebte Geschichte handelt. Die Homiletik hat diese und andere besondere Herausforderungen der Kurzen Form jedoch kaum bearbeitet. Die Sichtung der homiletischen Debatte be-

Die Essenz der Arbeit – ein Überblick

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stätigt, dass es nur wenige Bemerkungen zur Kurzen Form, etwa zur Andacht, gibt. Arbeiten zur Rundfunkhomiletik bieten hilfreiche technische Hinweise zur Gestaltung, jedoch keine Homiletik. Allerdings bietet die homiletische Debatte Anregungen, die nach der Sichtung der verschiedenen homiletischen Perspektiven10 benannt werden: So ermutigt die Perspektive der Vermittlung die Predigenden, trotz der Kürze der Form interdisziplinäre Weite zu kultivieren, die Perspektive der Ästhetik leitet im Blick auf die Kurze Form dazu an, dass dem Bedürfnis nach ästhetischer Unterbrechung Rechnung getragen wird. Die Kurze Form kann schon von der Form her keine Vollständigkeit anstreben, die Perspektive der Semiotik zeigt mit ihren Überlegungen zur Leerstelle, dass dies kein Defizit ist, sondern eine Bereicherung. Menschliche Existenz ist fragmentarisch. Die Kurze Form bildet dies ab. Die Perspektive der Performanz eröffnet den Blick auf das Fragmentarische in jedem Menschenleben, das sich nach der heilvollen Botschaft des Evangeliums sehnt und danach, dass sich diese Botschaft im Leben ereignet. Es gilt, diese Beiträge in einem Konzept zusammenzuführen. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, den Entwurf einer Homiletik der Kurzen Form zu entwickeln. Wenn die homiletische Debatte zwar Anregungen bietet, aber keine Wege geebnet hat, ist zu fragen, wo Anregungen zu finden sein könnten. Ansatzpunkte für den Forschungsgang bietet das Predigtgeschehen selbst. Eine Predigt ist ein komplexes Geschehen: Menschen hören einem Menschen zu, der zu ihnen spricht. Der Raum, in dem dies geschieht, die Persönlichkeit der Predigerin, die Persönlichkeit der Hörenden beeinflussen das Geschehen. Die Predigt ist entweder schon vorher schriftlich gefasst worden, kann jedoch immer im Nachhinein schriftlich dokumentiert werden. Die Predigt wird sich in der Regel auf einen Bibeltext beziehen. Aus diesem komplexen Gefüge habe ich die Faktoren Text, Mensch und Bibel ausgewählt. Text: Ich analysiere schriftlich fixierte Predigten in dem Wissen, dass das Predigtgeschehen immer mehr ist als der verschriftlichte Predigttext. Eine Predigt ist jedoch auch Text und damit Literatur, weil sie entweder schon bevor sie gehalten wird, auf jeden Fall aber im Anschluss daran, verschriftlicht werden kann. Mich interessiert daher, ob die Literaturwissenschaft Anregungen für die Kurze Form der Predigt bietet. Ich habe drei kurze literarische Textsorten, Traktat, Essay und Aufzeichnung, ausgewählt und überprüft, inwiefern Predigten entsprechend gestaltet werden können. Während der Traktat eine geschlossene, klar aufgebaute Textsorte ist, ist der Essay geformte Spontaneität und offen. Diese beiden Textsorten sind also sehr unterschiedlich. Die Aufzeichnung habe ich gewählt, weil sie in ihrer Kürze interessant für besonders kurze Predigten ist. Ich benenne 10 Vgl. das Kapitel „Perspektiven der homiletischen Diskussion“.

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Einleitung und Problemanzeige

die Chancen und die Gefahren, die sich für eine Predigt in der jeweiligen Gestalt ergeben. Mensch: Neben biologischen und psychologischen Forschungstraditionen, die Erkenntnisse über menschliches Lernen, Emotionen, soziales Verhalten und Sinneswahrnehmungen hervorgebracht haben, gibt es die Neurowissenschaft als neue wissenschaftliche Forschungstradition. Winfried Härle hat die Pionierleistung erbracht, neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die Praktische Theologie aufzuzeigen. In seinem Aufsatz begründet er z. B., warum der Schlaf der Predigenden vor dem Sonntag für den Erfolg der Predigt wichtig ist. Ich habe versucht, auf diesem von Winfried Härle neu eröffneten Weg ein wenig weiter zu gehen und Perspektiven zu entdecken, die sich durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die Homiletik der Kurzen Form ergeben. So wie sich bei Härle die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zum Schlaf als relevant erweisen, konnte ich neurowissenschaftliche Untersuchungen etwa über menschliches Lernen, zum Kurz- und Langzeitgedächtnis, zu Emotionen, sozialem Verhalten und Sinneswahrnehmungen entdecken, die zu meinen Fragen ergänzende Informationen bieten und dazu beitragen, Predigten hörergerecht zu gestalten oder neue Perspektiven in biblischen Texten zu entdecken. Die praktisch-theologische Debatte hat eine ausführliche Debatte zur Person der Predigenden geführt. Diese Debatte stelle ich vor. Sie diskutiert die Gefahren und Chancen des „Ich“ in der Predigt. Die Überlegungen der praktisch-theologischen Debatte zu Kommunikation, Inszenierung und zu performativen Sprechakten, also die Verbindungen, die während einer Predigt im Feld zwischen den Dimensionen des „Ich auf der Kanzel“ und der Aufnahme bei den Hörenden statthaben, haben eine spezifische Relevanz für die Kurze Form. Die Lernerträge der praktisch-theologischen Debatte werden dargestellt und unter Berücksichtigung der durch die neurowissenschaftlichen Informationen gegebenen Impulse in unserer eigenen Perspektive gewürdigt. Bibel: In der Bibel finden sich kurze Textformen, die selbstverständlicher Bestandteil menschlicher Kultur sind: Die Gleichnisse Jesu. Ich habe die letzte ausführliche homiletische Auseinandersetzung mit den Gleichnissen herangezogen und vier paradigmatische Gleichnisse ausgewählt, um sie für die Kurze Form der Predigt auszuwerten. In der Tat können die Gleichnisse viele Anregungen für die Gestaltung der Kurzen Form der Predigt bieten. Beispielhaft möchte ich den Überraschungsmoment im Gleichnis nennen, der die Hörenden aufmerken lässt.

Die Essenz der Arbeit – ein Überblick

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In drei Bereichen habe ich nach Anregungen für die Kurze Form der Predigt gesucht. Dabei haben sich vielfältige Beziehungen auch zwischen den Bereichen gezeigt. So können neurowissenschaftliche Erkenntnisse neue Perspektiven auf die Gleichnisse geben, etwa die interessanten Ausführungen dazu, dass die Fähigkeit zum Mitgefühl blockiert wird, wenn Menschen als soziale Wesen andere Menschen als Feinde einschätzen. Das erklärt, wie überraschend es für die ersten Hörenden des Gleichnisses war, dass ein Samaritaner dem verletzten Juden hilft. Auf der Basis der Untersuchungen kann ich einen Entwurf einer Homiletik der Kurzen Form entwickeln. Mein besonderes Augenmerk liegt auf der essayistischen Kurzen Form der Predigt, die mit der predigenden Existenz verbunden ist. Sie agiert auf Augenhöhe mit den Hörenden. Eine fiktive Beschreibung einer Arbeitswoche einer Pfarrerin zeigt jedoch, dass diese Homiletik der Kurzen Form nicht auf die essayistische Predigt festlegt und es parallel möglich – und manchmal auch notwendig – ist, Kurzpredigten anders, etwa als Traktat zu formen. Zwei eigene Predigten, die Kurze Form einer Adventspredigt und eine Kasualpredigt, sind als Beispiele angeführt, zu welchem Ergebnis meine Überlegungen praktisch führen können.

II.

Zugänge

1.

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

Die interdisziplinäre Auseinandersetzung zur Kurzen Form der Predigt beginnt nun mit der Literaturwissenschaft. Ich werde mich mit kurzen literarischen Textsorten beschäftigen und überlegen, welche Anregungen sich daraus für die Gestaltung der Kurzen Form der Predigt ergeben. Im Anschluss zeichne ich die homiletische Debatte zur Person der Predigenden nach. Ich betrachte die Subjektivität der Predigenden im Blick auf ihre Bedeutung für eine Homiletik der Kurzen Form. In einem dritten Schritt möchte ich mit den Sprachspielen naturwissenschaftlicher Traditionen ins Gespräch kommen. Ich frage danach, ob ihre Erkenntnisse mit theologischen Beschreibungen in Beziehung gesetzt werden können und Einsichten bieten, die die Homiletik der Kurzen Form inspirieren. Anschließend beschäftige ich mich mit Gleichnissen als biblischer Kurzer Form. Ein Überblick über die homiletischen Perspektiven soll abschließend – trotzdem sie keine eigene Theologie der Kurzen Form bieten – wichtige Hinweise zur Gestaltung der Kurzen Form der Predigt aufweisen.

1.1.

Predigt ist auch Literatur

„Die Predigt ist Zeugnis der schriftliterarischen Entwicklung der Volkssprache“1, die Predigtgeschichte wird als „die Geschichte einer literarischen Gattung“2 beschrieben. So erstaunt es, dass die Homiletik an literarischen Textsorten und deren Bedeutung für die Gestaltung der Predigt wenig interessiert ist. Einige 1 Burkhard Hasebrink, Hans Joachim Schiewer, Art. Predigt. In: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin. New York 2003, 154. 2 Albrecht Beutel, Art. Predigt. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1994, 46.

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Vertreter der neueren Homiletik definieren die Predigt selbst als Kunst3 oder entwickeln ihre Homiletik im Anschluss an die Literatursemiotik4. Homiletik kann ein beeindruckendes Zeichensystem entwickeln, Literatur wird in Predigten zitiert oder gerät zum Gegenstand der Predigt, wird also benutzt, aber nicht als Textsorte reflektiert. Martin Nicol lässt sich von der Süddeutschen Zeitung begeistern5, von Film und Dramaturgie inspirieren,6 andere Entwürfe bieten pragmatische Hinweise zur Gestaltung, jedoch keine tiefer gehende theoretische Auseinandersetzung mit literarischen Textsorten. Eine Erklärung für das fehlende Interesse an der literaturwissenschaftlichen Analyse auf homiletischer Seite mag sein, dass Predigt als gesprochenes, Literatur dagegen als geschriebenes Wort definiert wird. Der Germanist Volker Mertens bestätigt in einer Untersuchung über mittelhochdeutsche geistliche Prosa jedoch, dass Predigten nicht unbedingt primär mündliche Rede sind. Er unterstreicht die prinzipielle Offenheit der Textgestalt Predigt und arbeitet als Unterscheidungskriterium eine intentionale virtuelle Mündlichkeit hervor, wobei er selbst einschränkt, dass diese Mündlichkeit „am ehesten“7 ein Kriterium sein könnte, da Mündlichkeit sowohl postskriptiv als auch anteskriptiv sein kann. Zudem ist eine „occasionelle Mündlichkeit“ vielen Texttypen zu Eigen.8 Bereits gepredigte Texte werden verschriftlicht oder die Mündlichkeit folgt erst der Schriftlichkeit.9 Da somit jede Predigt, auch eine frei gehaltene, vorher oder im Nachhinein verschriftlicht werden kann, damit selbst zu Literatur wird und auf ihre Sprache und Struktur hin untersucht werden kann, lohnt ein genauerer Blick auf die Beziehung von Predigt und (in unserem Fall) kurzen Textsorten. Seinerseits konstatiert Albrecht Beutel eine „geschichtlich, konfessionell und positionell bedingte Disparatheit der historisch zu erhebenden Predigtbegriffe“10 3 So Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005, 5.; Gerhard Marcel Martin, Predigt als „offenes Kunstwerk“? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, EvTh44 (1984), 46–58. 4 So Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik, Tübingen und Basel 1993. 5 Er bezeichnet sich sogar als „Süchtig nach Süddeutscher Zeitung“: Martin Nicol, a. a. O., 11. 6 Martin Nicol, a. a. O. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Ausruf des Johannes Chrysostomos, gefeierter Prediger des 5. Jahrhunderts, der der rhetorischen Wirkung seiner Predigten entgegentritt: „Was klatscht ihr Beifall? Die Kirche ist doch kein Theater“. Zitiert in: Heinz-Günther Schöttler, Albert Biesinger, Art. Predigt. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 55. 7 Volker Mertens, Predigt oder Traktat? Thesen zur Textdynamik mittelhochdeutscher geistlicher Prosa. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jahrgang XXIV – Heft 2 (1992), 43. 8 Volker Mertens, a. a. O., 43. 9 Vgl. Volker Mertens, a. a. O., 41. 10 Albrecht Beutel, Art. Predigt. A. Definition. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1994, 45.

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

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und beschreibt die Predigtgeschichte als „Geschichte einer literarischen Gattung“11, obwohl das Selbstverständnis der Predigt mehr und anders ist als Literatur, nämlich „ein zentraler Vollzug kirchlichen Lebens, ein basaler Akt religiöser Kommunikation, ein rezeptionsästhetisches Phänomen.“12 Ich konzentriere mich auf drei literarische Textsorten, die kurz sein können: Traktat, Essay und Aufzeichnung. Es mag überraschen, dass die Kurzgeschichte nicht aufgeführt wird. Doch die Kurzgeschichte ist nie so kurz wie die Kurze Form der Predigt, vielmehr umfasst die Kurzgeschichte in der Regel mehrere Druckseiten. Essays dagegen können sehr ausführlich sein, es gibt jedoch auch kurze Essays im Umfang der Kurzen Form der Predigt.13 Gedichte als kurze Textsorte werden zwar in vielen Predigten zitiert (wobei die Frage gestellt werden muss, ob im Akt des Sprechens ein bislang unbekanntes Gedicht tatsächlich verstanden werden kann), sind jedoch als abgeschlossene poetische Einheiten nicht geeignet, zum Modell für die Textsorte Predigt zu werden. Ihre Sprache ist zu poetisch verdichtet, als dass sie von den meisten Hörenden aufgenommen und verstanden werden könnte. Sie können jedoch, so wie andere literarische kurze Textsorten, für die Übung des Schreibens höchst anregend sein. Hierfür lohnt der Blick auf Raymond Queneaus „Stilübungen“, eine außerordentlich amüsante und spielerisch-lehrreiche Variationenschule.14 Raymond Queneau bietet in „Stilübungen“ 88 (!) Variationen einer kurzen Geschichte, die nur wenige Sätze umfasst. Damit zeigt Queneau, welche enormen Gestaltungsmöglichkeiten die Kurze Form bietet. Zugleich beweist Queneau, dass Vielfalt in der Begrenzung möglich ist. Möglich wird die Variationenfülle durch präzise Beobachtung, ausgezeichnete Kenntnis sprachlicher Möglichkeiten und Humor, der auch ungewöhnliche Perspektiven wagt. Interessant sind auch die Ausführungen von André Jolles zu Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen und Witz15 – „ein beden11 Albrecht Beutel, a. a. O., 46. 12 Albrecht Beutel, a. a. O., 46. 13 Z. B. Nietzsches Essay Nr. 22 aus „Morgenröthe“. In: Friedrich Nietzsche, Nietzsche’s Werke, Erste Abtheilung, Band IV, Leipzig 1920, 29–30.) 14 Raymond Queneau, Stilübungen, Frankfurt/M. 1990, 2007. „Raymond Queneau hat zeigen wollen, daß die Ansteckung der geschriebenen Rede durch die gesprochene in allen Teilen möglich sei, und bei ihm ergreift die Sozialisierung der literarischen Sprache sämtliche Schichten der Schreibweise zugleich: die Schreibung der Wörter, den Wortschatz und – was noch wichtiger ist, wenngleich viel weniger spektatulär – die Vortragsweise.“ Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main 2006, 66. 15 André Jolles, Einfache Formen, Tübingen 41968. Jolles definiert literarische Formen: „Gleiches gesellt sich zum Gleichem, aber es bildet hier keinen Haufen von Einzelheiten, sondern eine Mannigfaltigkeit, deren Teile ineinander eindringen, sich vereinigen, verinnigen, und so eine Gestalt, eine Form ergeben – eine Form, die als solche gegenständlich erfaßt werden kann, die, wie wir sagen, eigene Gültigkeit, eigene Bündigkeit besitzt. Wo nun die Sprache bei

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kenswertes und im mehrfachen Wortsinn fragwürdiges Werk“16. Im Gegensatz zu Traktat, Essay und Aufzeichnung sind nach Jolles diese Texttypen Basisformen, die sich nicht der künstlerischen Gestaltung eines Autors zu verdanken,17 was sie von der Predigt unterscheidet. Allerdings können Einfache Formen in Predigten vorkommen (in der Tat gilt das für den Witz sogar regelmäßig im Fall von freikirchlichen Predigten, vgl. dazu auch die Ausführungen zu Witz und Humor in Abschnitt II. 3.2.). Jolles erläutert, etwa am Beispiel der Einfachen Form Legende, wie sich Lebensvorgänge in „sprachlichen Gebärden“ verdichten.18 Sprache benennt, Sprache wirkt zugleich selbst erzeugend, schaffend und deutend.19 Die Legende kann Heiliges und Unheiliges personifizieren und so anschaulich werden lassen. Jolles entdeckt Einfache Formen in alltäglichen Kontexten: Die Sportberichterstattung erschafft Legenden über sportliche Helden.20 Er weist auf Mythen in der Bibel hin und darauf, dass die Mythe einem Symbol Macht verleihen kann, so z. B. sei in Genesis 28 der Stein, den Jakob aufrichtet, „ein Gegenstand, in dem die Macht der Mythe gebannt ist, von dem diese Macht selbständig getragen wird und aus dem sie jäh als tatsächliches Geschehen hervorbricht.“21 Rätsel haben das Ziel, die Würde des Befragten herauszufinden, die Lösung des Rätsels eröffnet den Zugang zu einem besonderen Raum.22 Der Witz lebt von Lücken, von Übertreibungen, kann Dinge auf den Kopf stellen und so neue, überraschende Sichtweisen eröffnen.23

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der Bildung einer solchen Form beteiligt ist, wo sie anordnend, umordnend in eine solche Form eingreift, sie von sich aus noch einmal gestaltet – da können wir von litterarischen (sic) Formen sprechen.“ André Jolles, a. a. O., 22. Einfache Formen entstehen, wo „unter Herrschaft einer Geistesbeschäftigung die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sich verdichtet und gestaltet, wo dieses von der Sprache in seinen letzten, nicht teilbaren Einheiten ergriffen, in sprachlichen Gebilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und bedeutet“. André Jolles, a.a.O, 45. So urteilt Ralf Klausnitzer, Formphilologe und Gegnerforscher. Ralf Klausnitzer, André Jolles, 1874–1946. In: Thomas Borgstedt und Yvonne Wübben (Hg.), Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Einfache Prosaformen der Moderne, 272. André Jolles war seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP und seit 1937 Mitglied im Sicherheitsdienst der SS. Auf dem Hintergrund seines nationalsozialistischen Engagements muten Jolles Bilder von der erzeugenden, schaffenden und deutenden Arbeit von Bauer, Handwerker und Priester zumindest schwierig an, auch wenn der Gedanke an sich interessant ist, dass die Sprache diese Arbeiten wiederholt. Vgl. André Jolles, a. a. O., 11–22. Vgl. Manfred Eikelmann, Art. „Einfache Formen“. In: Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 2007, 422. Vgl. André Jolles, a. a. O., 47. Vgl. André Jolles, a. a. O., 11–22. Vgl. André Jolles, a. a. O., 60–61. Vgl. André Jolles, a. a. O., 125. Vgl. André Jolles, a. a. O., 13. Vgl. André Jolles, a. a. O., 250–251.

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

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Diese Beobachtungen können Predigende dazu anregen, bei der Gestaltung der Kurzen Form der Predigt auf den Zusammenhang von Lebensgeschichte und Sprache, die Zielrichtung von Rätselfragen, auf Lücken und Perspektivwechsel zu achten. Insbesondere bei der Kurzen Form der Predigt kommt es darauf an, in wenigen Sätzen eine besondere, überraschende Perspektive zu bieten, die geeignet ist, die Aufmerksamkeit der Hörenden zu fesseln oder eine Spannung aufzubauen, die die Hörenden in ein Spiel von Frage und Antwort hineinzieht. In der Kurzen Form ist es möglich, einen besonderen Raum (im Blick auf die Kurze Form der Predigt: spirituelle Dimensionen) zu eröffnen. Der Witz ermutigt die Kurze Form, Mut zur Lücke zu haben.

1.2.

Traktat

Eine eng zur Predigt gehörende Textsorte ist der Traktat. Ein Traktat kann ausführlich, aber auch kurz sein und ist im Aufbau daher für eine Predigt in der Kurzen Form anregend. Traktat ist „ein Oberbegriff für einen bestimmten Typus von … Gebrauchstexten zur Wissensvermittlung und von … Erbauungsliteratur“24. Das Wort tractatus meint „Abhandlung“ und ist weit gefasst. Ein Traktat ist klar gegliedert, etwa in exordium, partitio, argumentatio, exemplum und conclusio. Den engen Zusammenhang zwischen Traktat und Predigt belegen Versuche aus der Germanistik, den Unterschied beider Formen zu definieren.25 „Die Abgrenzung zwischen … Predigt und Traktat ist bereits für Spätantike und frühes Mittelalter schwierig.“26 Im Folgenden soll unter dem seit langem in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich gebrauchten Begriff Traktat eine auf die Sache bezogene diskursive Auseinandersetzung verstanden werden. Der Autor bzw. die Autorin eines Traktates definiert seine bzw. ihre Ziele vor der Verschriftlichung und ordnet sie nach rhetorischen Gesichtspunkten. Ein Traktat sollte klar aufgebaut und verständlich sein. Der Traktat soll einen nachvollziehbaren Gedankengang bieten und Argumente gegeneinander abwägen. Dabei kann der Traktat durchaus polemisch sein. Traktate sind in sich geschlossen. Der Autor bzw. die Autorin des Traktats tritt als Subjekt hinter den Text zurück. Die didaktische Zielsetzung hat der so verstandene Traktat mit den Gleichnissen gemeinsam. Allerdings zielt das Gleichnis zwar auf das spontane Einverständnis der Hörenden ab, will also einleuchtend sein, entspricht in seiner – 24 Uta Störmer-Caysa, Art. Traktat. In: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, JanDirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2007, 674. 25 Vgl. Volker Mertens, a. a. O., 41–43. 26 Uta Störmer-Caysa, a. a. O., 675.

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oft auf den zweiten Blick – rätselhaften Logik und seinem ungewohnten Blickwinkel aber nicht der rhetorisch durchgeformten Art des Traktats. So wägt z. B. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht die Argumente des Für und Wider der Ersten Hilfe ab. Außerdem ist das Gleichnis im Gegensatz zum Traktat nicht geschlossen. Eine als Traktat geformte Predigt, die auf einen Diskurs angelegt ist, die sachkritisch verfährt, die Hörenden nicht manipulieren will und ihnen zubilligt, auch zu anderen Schlüssen kommen zu können als die Predigerin bzw. der Prediger, ist sinnvoll für alle Predigten, bei denen es darum geht, die Hörenden zu informieren und Argumente abzuwägen. Für alle Predigten, die sich mit dogmatischen und ethischen Themen beschäftigen, bietet es sich an, dass sie als Traktat gestaltet werden. Hier geht es ja um geordnete Wissensvermittlung. Ebenso sehe ich diese Textsorte als hilfreich für Predigten von Personen in kirchenleitenden Funktionen, die die Aufgabe haben, die Position der Kirche darzustellen.27 Manuel Stetter merkt richtig an: „Als Theorie öffentlicher religiöser Rede hat die Homiletik die Pluralisierung des religiösen Feldes und das darin angelegte Fraglichwerden moralisch-spiritueller Überzeugungen in ihre Reflexion zu integrieren. Prozesse des Fraglichwerdens verlangen aber – potenziell – nach einer auch argumentbezogenen Selbstverständigung. Wo Selbstverständlichkeiten irritiert werden, entsteht potenziell ein subjektiver Argumentationsbedarf.“28 Dennoch ist zu bedenken zu geben, dass der Traktat immer auf der Autorität der Sprechenden bzw. Schreibenden gründet und insofern nicht auf einer Ebene mit den Hörenden agiert. Predigten in Traktatform haben immer ein Gefälle von den Sprechenden zu den Hörenden. Umso wichtiger ist, dass der Traktat nicht polemisch29 argumentiert, sondern auf einen Diskurs angelegt ist. 27 Kirchenleitende Predigten können jedoch auch als Essay gestaltet werden: Wolfgang Hubers Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst in der Gethsemanekirche in Berlin vom 04. 10. 2009, http://www.ekd.de/glauben/feste/erntedank/predigten/091004_huber_berlin.html. Zugriff 11.12.13, ist als Essay aufgebaut und fasziniert durch lebendige Erzählung und gerade dadurch, dass er keine fertigen Antworten bietet, sondern sich in Erzählung und Erinnerungen an die Seite der Hörenden stellt: „Roter Backstein, die Tür steht offen. Hier muss es gewesen sein. Der Kirchturm ragt trotzig empor. Das Grün der Bäume ist kräftig und wild, hier in der Stargarder Straße, nahe der Schönhauser Allee. Heimatgefühle mitten im Prenzlauer Berg – so sehr, dass es schon weh tut. Du kommst um die Ecke und stehst plötzlich vor ihr – Gethsemane. Alles ist so vertraut und doch ganz anders…“ Zugleich fällt bei Huber die präzise, schöne Sprache auf, die bis in die Details (die Schönhauser Allee war der Sitz der Stasi-Zentrale) ausgefeilt ist und Assoziationen weckt. 28 Manuel Stetter, Predigt und Argumentation. Zur Rolle diskursiver Sprachformen in der gegenwärtigen Homiletik. In: Ulrich Nembach (Hg.), Internetpredigten. Zur Sprache der Predigt in der globalisierten Welt, Frankfurt 2013, 159–179. 29 Vgl. dazu z. B. Sherif Abdel Azim Muhammed, Was brauchen die heutigen Muslime und was kann der Islam anbieten? Übersetzt von H. Citlak. http://www.ahlu-sunnah.de/attachments/

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

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Manuel Stetter bricht in seinem Beitrag „Predigt und Argumentation. Zur Rolle diskursiver Sprachformen in der gegenwärtigen Homiletik“30 eine Lanze für argumentative Sprachformen und verteidigt sie gegen die Abwertung, z. B. durch Martin Nicol.31 Stetter vertritt die These, dass gerade in einer globalisierten Welt der Argumentationsbedarf der Predigt steigt. „Wo andere religiöse Überzeugungen und Praktiken in den Radius der sozialen Interaktionen des Subjekts einrücken und so an Plausibilität gewinnen, werden die vertrauten Sinngebungen und selbstverständlichen Formen der Wirklichkeitserfahrung in ihrem spezifischen Gehalt bewusst, in ihrer Optionalität erfahren und insofern fraglich.“32 Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, entsteht Argumentationsbedarf. Gegen Nicols Vorwürfe, die diskursive Predigt benutze die konkrete Lebenswirklichkeit der Hörenden lediglich als Applikationskontext, sie sei latent autoritär und dispositionell schematisch, weist Manuel Stetter darauf hin, dass argumentative Predigtformen durchaus nicht unpersönlich sind, sondern einen Adressatenbezug aufweisen. „Wird der Adressatenbezug der Argumentation ernst genommen, dann sind argumentative Predigtformen nicht notwendig durch einen dispositionellen Schematismus geprägt. Im Gegenteil, im Sinne Perelmans verpasste ein von den Adressatinnen unabhängig entworfener Predigtaufbau gerade den Begriff der Argumentation.“33 Wenn die Lebenswelt und die subjektiven Deutungen der Hörenden Ausgangspunkt für den Argumentationsentwurf sind, ist der Lebenskontext der Hörenden auch nicht lediglich Applikationsfläche. Gegen den Vorwurf des latenten Autoritarismus führt Stetter an, dass die Argumentation auf das Selbstverständnis der Adressatinnen und Adressaten bezogen ist und deren Deutungskompetenz ernst nimmt. Da vielfältige Sprachformen im Rahmen der argumentationsbezogenen Predigtformen integriert werden können, ist diese Predigtform auch nicht dispositionell schematisch. Ein Beispiel für eine sachkritische Kurze Form der Predigt, die sich am Traktat orientiert, bietet Gerd Schmoll:

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358_Was_hat_der_Islam_zu_bieten.pdf. Zugriff 06. 12. 2013 oder Pierre Vogel, Freitagspredigt am 11. 03. 2011 in Dormagen. http://www.youtube.com/watch?v=inQdTbFKxeI. Zugriff 07. 12. 2013. Manuel Stetter, a. a. O., 159–179. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Manuel Stetter, a. a. O., 168. Manuel Stetter, a. a. O., 174.

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Gerd Schmoll Wozu ist das Christentum gut? SWR 2 – Wort zum Tag 18. 10. 201034

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Wozu ist das Christentum gut? Worin besteht der besondere Beitrag des christlichen Glaubens zum Leben des einzelnen Menschen und der Gesellschaft? Vielfältig sind die Überzeugungen und Lebensentwürfe der Menschen heute. Unterschiedliche Traditionen aus verschiedenartigen Kulturen haben in unserer Gesellschaft Platz. Unbestreitbar ist allerdings, dass die jüdisch-christliche Tradition zusammen mit der Aufklärung das Leben und Zusammenleben der Menschen in unserer Geschichte geprägt hat und bis heute wirksam ist. Was ist der Mensch? Woher nimmt er sein Maß? Was gibt ihm die Kraft, das Leben zu bestehen und die Zukunft zu gestalten? Welche Regeln sollen das Zusammenleben bestimmen? Antworten auf diese Fragen fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in einem langen geschichtlichen Prozess und behalten ihre Bedeutung, selbst wenn ihr Ausgangspunkt aus dem öffentlichen Gedächtnis zu verschwinden droht. So ist das Christentum in den Fragen nach dem Verständnis des Menschen, seines Lebens und des Zusammenlebens nicht wegzudenken. Aber wozu ist es gut? Melanchthon, an dessen 450. Todestag wir in diesem Jahr denken, hat eine Antwort auf diese Frage in ein überraschendes Bild gebracht. Er stellt sich vor, durch die dunkle Nacht zu gehen. Dazu brauchte man damals eine Laterne. Die gleiche dem Gemeinwesen mit den in ihm herrschenden Überzeugungen und den Regeln für das Zusammenleben. Er meint nun: Die Laterne nütze nichts, wenn in ihr kein Licht brennt. Umgekehrt sei das Licht, um leuchten zu können, auf ein funktionierendes Gehäuse, eben das Gemeinwesen, angewiesen. Das Licht sei die Erkenntnis Gottes und die Lehre von den guten Dingen. Gotteserkenntnis und das Wissen um das Gute lassen es in der dunklen Nacht, im Leben des Menschen und des Zusammenleben hell werden. Ich verstehe das so: Man kann wissen, was gut ist, was Menschen und ihrem Zusammenleben gut tut. Man kann es auch lernen. Mit Vernunft und gutem Willen erkennt man das Gute im persönlichen Leben und im Zusammenleben. Aber warum Gotteserkenntnis? Vernunft und guter Wille reichen offenbar nicht aus, das Gute dann auch zu verwirklichen. Man weiß es von sich selbst, wenn man daran denkt, was man immer wieder falsch macht. Man weiß es, wenn man vor Augen hat, was in unserem Zusammenleben nicht in Ordnung ist. Der christliche Glaube weiß von dem Gott, dem der Mensch Verantwortung schuldet, der aber die, die sich verrennen und dem Guten den Rücken kehren, nicht aufgibt, der sie liebt. Wer so glaubt, gibt sich selbst auch nicht auf und wird immer neu um die Erkenntnis und die Verwirklichung des Guten zu ringen. Vor allem dazu ist das Christentum gut.

Schmolls Wort zum Tag ist klar als Traktat aufgebaut: Die Frage, die es zu beantworten gilt, wird am Anfang als exordium gestellt: „Wozu ist das Christentum gut? Worin besteht der besondere Beitrag des christlichen Glaubens zum Leben des einzelnen Menschen und der Gesellschaft?“ (1–2). Nach der partitio „Unbestreitbar ist allerdings, dass die jüdisch-christliche Tradition zusammen mit 34 kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2010-10-17. Zugriff 08. 01. 2014.

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

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der Aufklärung das Leben und Zusammenleben der Menschen in unserer Geschichte geprägt hat und bis heute wirksam ist.“ (4–7) folgt die Argumentation (9–31), die zum Teil als narratio (14–22) durchgeführt wird. Als conclusio dient der Schlusssatz: „Wer so glaubt, gibt sich selbst nicht auf und wird immer neu um die Erkenntnis und die Verwirklichung des Guten zu (sic) ringen. Vor allem dazu ist das Christentum gut.“ (31–32). Deutlich wird, dass die Autorität von Schmoll für diese Andacht wichtig ist, obwohl er als Person – ganz der Tradition des Traktats entsprechend – hinter dem Text zurücktritt. Dennoch lebt die Predigt davon, dass die Hörenden den Predigenden als glaubwürdig einschätzen. Der sachliche Ton der Predigt trägt zu der Glaubwürdigkeit bei. Schmoll setzt die Hörenden nicht durch emotional-moralische Apelle unter Druck. Hier spricht ein Mann, der als Theologe Bescheid weiß und seine Hörer über wichtige Fakten aufklärt: Das Christentum ist in den Fragen nach dem Verständnis des Menschen, seines Lebens und Zusammenlebens nicht wegzudenken (11–13); Schmoll verweist auf Melanchthon (14–22), der ein überraschendes Bild zum Gemeinwesen und der Erkenntnis Gottes und der Lehre von den guten Dingen bietet. Die zeitliche Einordnung hilft den Hörenden zur Orientierung (14). Im Gegensatz zum essayistischen Ansatz weiß Schmoll genau, worauf er hinauswill und was richtig ist: Mit Vernunft und gutem Willen erkennt man das Gute (24–25), dies reicht aber offenbar nicht aus, um das Gute auch tatsächlich zu tun (26). Es ist der Glaube an einen liebenden Gott (29–31), dem der Mensch Verantwortung schuldet (29), der Menschen dazu befähigt, unaufhörlich neu um das Gute zu ringen (31–32). Das Christentum ist notwendig, „gut“ (32) für ein unaufhörliches Ringen um die Erkenntnis und Verwirklichung des Guten. Allerdings argumentiert Schmoll nie demagogisch, so dass sein Traktat durchaus sachkritisch bleibt. Hörende können sich seinen Argumenten anschließen, sie können weitere Argumente für das Christentum finden. Schon die Formulierung „vor allem dazu ist das Christentum gut“ (32) lädt dazu ein. Schmoll zeigt, dass die Predigt in der Form des Traktats kurz sein kann, weil sie nicht alle Argumente anführen muss. Sie darf sich beschränken. Hörende können auch eine Gegenposition vertreten. So eröffnet die Predigt von Gerd Schmoll die Möglichkeit zur Diskussion. Schmolls Beitrag ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Form des Traktats überall dort sinnvoll eingesetzt werden kann, wo Informationen über das Christentum vermittelt werden sollen, die Predigt also eine didaktische Zielsetzung hat. Hörende, die wissen wollen, welchen Sinn das Christentum heute hat, gibt Schmoll Argumente an die Hand, zu denen sie sich positionieren können. Die Predigt von Gerd Schmoll ist auf einen Diskurs angelegt. Sie ist insofern überraschend, als sie ein ungewöhnliches Bild aufgreift, das vom Predigenden selbst als überraschend bezeichnet wird (15). Die Überraschung ist für die Gestaltung der Kurzen Form der Predigt wichtig. Die Überraschung erzeugt bei den

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Hörenden Spannung. Überraschung ist auch Unterbrechung des Gewohnten. Durch die Unterbrechung des Gewohnten werden die Hörenden zu eigenen Gedankenspielen angeregt. Die Kurze Form unterstreicht das einzelne Überraschungsmoment und verstärkt dadurch den Impuls. Die Sprache Schmolls ist präzise (trotz des Fehlers in Zeile 32, der jedoch bei der Aufnahme nicht gesprochen und daher auch nicht gesendet wurde). Die Hörenden können neugierig werden, weil die Ausgangsfrage interessant ist, die Beantwortung kann als Belohnung eingestuft werden. Schmoll kann die Begrenzung als Chance erkennen und verweist sogar darauf („Vor allem dazu“ 32), dass er nicht alle Argumente aufgeführt hat, es also noch weitere Argumente gibt, die er jetzt aber bewusst nicht nennt. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und das Ringen darum, das Gute zu tun, sind zeitlose Herausforderungen und daher immer wieder aktuell. Jürg Birnstiel stellt seiner am 23. 03. 2003 gehaltenen Predigt35 über den barmherzigen Samariter eine am Traktat orientierte Gliederung voran. Nachdem er die Frage des Schriftgelehrten aufgenommen hat, fährt er fort:

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„Warum fragen Menschen wohl so wenig nach dem ewigen Leben? Ist Ihnen (sic) das Reden vom ewigen Leben wie ein Märchen … Jesus sagt nicht immer allen alles. Jesus sieht darauf, ob jemand eine echte Frage stellt, die ihn beschäftigt, ob jemand wirklich die Wahrheit sucht, oder ob jemand einfach fragt, um in die Enge zu treiben. Mit dieser Offenheit und mit diesem Feingefühl sollen wir den Menschen begegnen. Wir müssen nicht immer gleich alles sagen, was wir wissen. Wir müssen auch nicht gleich unsere Erfahrungen des Glaubens preisgeben. Wir sollten lernen zu merken, was den anderen wirklich bewegt, was er wissen möchte, und wir sollten uns durch den heiligen Geist leiten lassen, indem was wir sagen. Vielleicht gehörst Du zu denen, die gerne wissen möchten, wie man ewiges Leben bekommt. Vielleicht suchst Du wirklich nach diesem Leben. Dann sagt Jesus zu dir: Ich versichere euch: Wer auf mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben. Auf ihn kommt keine Verurteilung mehr zu; er hat den Schritt vom Tod ins Leben getan. Joh. 5,24. Ja, Jesus möchte Dir ewiges Leben schenken. Dies tut er aber nicht, wenn wir uns ständig vor ihm rechtfertigen wollen, um ihm zu zeigen wie gut wir doch noch sind. Er rettet uns, wenn wir endlich uns selber erkennen, wie tief und abgründig unser Herz in Wirklichkeit ist. Wenn Du das erkennst und anerkennst, dann wird Jesus Dir begegnen und Dir ewiges Leben schenken. Komm doch zu Jesus und lass Dich retten! Mach halt in Deinem Leben und kehre um zum Schöpfer der Welt, der Dich retten kann und der allein Dir ewiges Leben schenkt. Gott liebt Dich, er streckt seine Arme vom Kreuz her Dir entgegen – komm doch!“

35 http://www.sermon-online.de/search.pl?d1=Birnstiel,+J%FCrg&lang=de&author=158&tm=2. griff 03.12.2013.://bitflow.dyndns.org/german/JuergBirnstiel/Lukas_10_25_37_20030323.doc.

Zu-

Bezüge zu Literatur und Literaturwissenschaft

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Die Ausgangsfrage von Birnstiel ist die des Schriftgelehrten, die er (1–2) ergänzt mit der Frage: „Warum fragen Menschen wohl so wenig nach dem ewigen Leben? Ist Ihnen (sic) das Reden vom ewigen Leben wie ein Märchen.“ Darauf findet Birnstiel am Schluss des Traktats zu einer ausführlichen conclusio (13–20), der sich eine Aufforderung zur Bekehrung anschließt. Birnstiel präsentiert sich als jemand, der genau über die Absichten Jesu informiert ist (3–5; 16; 19–20; 23) und stellt sich als Autorität damit direkt neben Jesus, seine Autorität ist göttlich gedeckt. Eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe ist das nicht, will diese Predigt auch nicht sein, obgleich der Prediger am Schluss (ab 11) in die Anrede „Du“ wechselt, um persönlich und ansprechend zu wirken. Dieser Wechsel in der Anrede kommt überraschend und signalisiert, dass jetzt eine wesentliche Anrede folgt. Der durch den Prediger geäußerte Appell Jesu an die Hörenden bekommt so eine besondere Dringlichkeit: „er streckt seine Arme vom Kreuz her Dir entgegen – komm doch!“ (23) Diese Predigt ist nicht auf Diskurs angelegt, sondern will bekehren. Wer gerettet werden will, hat keine Alternative. Durch seine Wortwahl „müssen“ (7, 8), „sollten“ (9, 10) und eine Wenn-Dann-Verbindung (13, 16, 18–19) verstärkt Birnstiel seine Argumentation. Die versprochene Belohnung ist das Leben, das Jesus schenken will. Für Menschen, die bereit sind, sich auf die Argumentation des Predigers einzulassen, mag das eine tatsächliche Belohnung darstellen. Offenbar wissen die Hörenden auch, was dieses Geschenk Jesu bedeuten soll, denn Birnstiel führt dies nicht konkret aus. Die Predigt hat damit auch den Effekt, diejenigen in seiner Gemeinde zu bestätigen, die bereits den Schritt zur Umkehr vollzogen haben und wissen, was das Geschenk des ewigen Lebens nach Auffassung ihrer christlichen Gemeinschaft bedeutet. Die Person des Predigenden tritt in dieser Predigt zurück und wird durch die Autorität von Jesus faktisch überdeckt. Überraschend ist der plötzliche Wechsel zum Du (ab 11), inhaltlich ist die Predigt jedoch nicht überraschend, sondern fordert zu dem auf, was zu erwarten war: Die Hörenden sollen umkehren, zu Jesus kommen und sich retten lassen. Diesen Schritt haben viele (vielleicht sogar die meisten) der Hörenden schon vollzogen, so dass für sie die Überraschung nur darin bestehen kann zu sehen, wer aus der Schar der Hörenden sich neu bekehren lässt. Die Sprache der Predigt ist einfach und verständlich. Die Predigt hat eine einzige Zielrichtung, die Bekehrung des Individuums, andere, etwa gesellschaftspolitische Fragen, kommen nicht in den Blick. Diese Predigt ist das Beispiel für eine Predigt, die ihre conclusio als einzig richtige, heilbringende Schlussfolgerung präsentiert und daher nicht auf einen Diskurs angelegt ist.

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Essay

Michel de Montaigne und, unabhängig von ihm, Lord Bacon erfinden eine neue literarische Textsorte: den Essay.36 Christian Schärf bezeichnet Montaigne als den Vorreiter einer literarischen Bewegung, die die Vorstellungen einer normativen Denkweise beseitigt37. Diese „Kehre“38 aus einer normativen Denkweise lässt Montaigne keinesfalls überholt erscheinen. Für Mirko-Alexander Kahre ist der Essay die „glaubwürdige Form der Moderne“39. Sarah Bakewell zeigt sehr eindrücklich, wie aktuell Montaigne noch für das 21. Jahrhundert ist.40 Die Neurowissenschaften erinnern uns an die alte Lehrerweisheit, dass nur das gelernt wird, was in Bezug zur Lebenswirklichkeit steht. Die literarische Textsorte, die explizit auf die innere Erfahrung des Autors rekurriert und sie dialogisch41 in Beziehung zur Außenwelt setzt, ist der Essay. Es ist daher fruchtbar, die Beziehungen zwischen Essay und Essayismus auf der einen und der Predigt auf der anderen Seite genauer zu untersuchen.42 Die Fokussierung auf die Kurze Form der Predigt verstärkt diese These, denn Essays können auch kurz sein43 im Sinne der kurzen Form der Predigt (also ein bis zwei Din-A4-Seiten) und damit tatsächlich „kurz“ im Unterschied zur Kurzgeschichte. Der klassische Essay umfasst zwar mehrere Seiten, doch gibt es auch kurze Essays, auch von Montaigne, z. B. sein Essay „Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert“44. Die Bezeichnung Essay ist so inflationär gebraucht worden, dass eine gewisse Beliebigkeit entstanden ist. Die Entscheidung dafür, den Essay trotzdem als beispielhafte literarische Textsorte im Blick auf die Kurze Form der Predigt zu untersuchen, liegt vor allem in der essayistischen Haltung, die erst das Schreiben 36 „Es ist kein Zufall, dass die Geburt des Essays bei Montaigne am Anfang dieser Neuzeit steht, in der sich der aus Pluralität und Kontingenz ableitbare Gedanke durchsetzt, dass alles auch anders sein könnte.“ Peter V. Zima, Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2012, 26. 37 Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, 9–10. 38 So Christian Schärf, a. a. O., 9–10. 39 So der Titel seiner Dissertation: „Ein in die Zeit gehängtes Netz“. Der Essay als glaubwürdige Form der Moderne. Dissertation, Konstanz 2002. 40 Sarah Bakewell, Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten, München 2012. 41 Peter V. Zima bezeichnet „Dialog“ als Merkmal des Essay. Peter V. Zima, a. a. O., 29. 42 Auf die Möglichkeit „Essay als Predigtform“ weist auch Karsten Dittmann in einem Internetbeitrag von homilia.de hin: Ist das Feuilleton die Predigt von heute, geposted 22. 5. 2011. homilia.de/2011/05/funf-schritte-zum-essay/ Zugriff 06. 12. 2013. 43 Peter V. Zima sieht sogar die Kürze als Minimaldefinition des Essay, die in den „vielen disparaten Begriffsbestimmungen als gemeinsamer Nenner zugrunde zu liegen scheint“. Peter V. Zima, a. a. O., 1. 44 Michel de Montaigne, Essais, Zweites Buch, Frankfurt am Main 1998, 426–427.

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des Essay ermöglicht. Es ist ein Habitus, der gerade keine Distanz ermöglicht – wie beim Traktat – sondern die Beobachtung als Haltung hat und daher die Subjektivität des Autors, seine Persönlichkeit, in den Blick nimmt. Paul Tarnow, ein Zeitgenosse Lord Bacons, wird im 17. Jahrhundert die persönliche Betroffenheit, die „Affektorientierung“45 als „Standardforderung“46 für Prediger sehen. Der „Prediger müsse zuvor in der Privatmeditation die Affekte in sich selbst hervorgerufen haben, die er der Gemeinde vermitteln wolle.“47 Insofern kann die Predigt einem Essay gleichen. Die essayistische Haltung ist die Haltung der Beobachtung und Wahrnehmung. Wahrnehmen gehört konstitutiv zum Essay und zum Essayismus. Für Montaigne war das Schreiben der Weg, sich selbst zu begegnen, seinen Schwächen, seinem Begehren, seiner Freude. Der Essay bedeutet die direkte Konfrontation des Subjekts mit dem Schreiben. Während der rhetorisch geschulte Schreiber eines Traktats vorher weiß, was er sagen will, sein Ziel kennt und dann schreibt, entsteht der Essay im Prozess des Schreibens – eine Form der Selbstund Welterkenntnis, zugleich eine Expedition ins Ungewisse. Homiletisch kann das so übersetzt werden: Das Subjekt und die Getroffenheit durch Gott und seine Botschaft und der Wille, diese Getroffenheit zu formulieren, treffen im Prozess des Predigtschreibens aufeinander. Im Gegensatz zum Traktat können beim Essay Kriterien zur Beurteilung nur rezeptiv, nicht jedoch präskriptiv entwickelt werden. Der Essay ist geformte Spontaneität. Betont sei, dass es sich auch beim Essay um einen geformten Text handelt. Ein Essay ist keine schriftliche Fixierung einer beliebigen Assoziationskette. Ein Beispiel für eine essayistisch aufgebaute Kurze Form der Predigt bietet Harry Waßmann. Harry Waßmann, Der Stille Ort. SWR 2 – Wort zum Tag 26. 01. 201348 Wo gehe ich ganz bestimmt allein hin? Wo bleiben Andere gewiss draußen? Das ist das Badezimmer und die Toilette. Da bin ich am Morgen für mich: ausführlich Zähne putzen, sich Waschen oder Duschen, Hände, Füße und Gesicht pflegen. Im Spiegel ein Blick ins

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Udo Sträter, Art. Predigt, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 69. Udo Sträter, a. a. O., 69. Udo Sträter, a. a. O., 69. kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2013-01-20. Zugriff 08. 01. 2014.

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Gesicht. Alles das tue ich für mich, an mir – ehe der Tag so richtig losgeht.

5 Mag sein, das scheint banal. Ich finde, das ist von großer Bedeutung.

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Und offenbar geht es nicht nur mir so. Peter Handkes jüngst erschienene autobiographische Erzählcollage „Versuch über den Stillen Ort“ weckt Erinnerungen in mir. Wenn Handke von seiner Jugend erzählt, wie der stille Ort ihm ein Ort der Zuflucht war, im Internat vor der Scham vor Mitschülern oder auf der Bahnhofstoilette aus Angst vor der Nacht. Dann spüre ich, was für eine große Bedeutung dieser stille Ort auch in meinem Leben hat. Am Ende bezeichnet Handke den stillen Ort emphatisch als einen Ort „zur Wiederkehr der Sprache und des Sprechens“ (107). Er schreibt: „Die Sprach- und Wörterquelle springt frisch auf… Tür zu, den Riegel senkrecht oder waagerecht gestellt, und schon hebt es zu Reden an im Verstockten…, im Psalmenton, mit Feuerzungen, in Ausrufen, mehreren hintereinander, in einer ganz anderen, einer unerhörten Erleichterung…“ (108) Das hört sich gerade so an wie bei Martin Luther. Der hat in seinen Tischreden mehrfach erklärt, seine erlösende Erkenntnis, dass der Mensch nicht durch gute Werke, sondern allein durch Gottes Gnade gerechtfertigt ist, die habe ihm der Heilige Geist „in cloaka“ offenbart. Egal ob Luthers Ortsangabe nun wörtlich oder im übertragenen Sinn zu verstehen ist. Der stille Ort, das Klo, das Bad und nicht zuletzt die Badewanne, sie sind offenbar für viele Menschen Orte wiederkehrender Inspiration, Orte der Klärungen und Entdeckungen. Oft fallen mir im Bad Briefanfänge ein. Oder denke ich denke (sic) noch einmal völlig neu und anders über Gespräche, die mir nachgehen. Der stille Ort ist nur scheinbar ein Ort der Selbstbezogenheit. Gerade da, wo ich allein und anscheinend für mich bin, da kann es passieren, dass ich Neues empfange, dass ich da auch offen werde für Gottes Geist. Nicht nur bei der Morgentoilette. Aber da offenbar auch.

Waßmann geht – klassisch essayistisch – von seiner eigenen Erfahrung aus. Ausgangspunkt ist keine These, sondern eine offene Frage, die Waßmann sich und den anderen stellt: „Wo gehe ich ganz bestimmt allein hin? Wo bleiben andere draußen?“ (1) Ein Traktat würde auf diese Frage z. B. mit partitio, argumentatio, exemplum und conclusio anschließen. Da Waßmann jedoch seine Predigt als Essay anlegt, folgen Beobachtungen. Seiner Erfahrung mit dem „stillen Ort“ (2–4) stellt er die Erfahrungen Peter Handkes (7–16) und Martin Luthers (17–20) zur Seite. Dabei ordnet er die Beispiele nicht einer biblischen oder theologischen Wahrheit oder einer These unter, sondern lässt sie gleichberechtigt und gleichgewichtet nebeneinander stehen. Allerdings stellt Waßmann eine Parität der Ebenen her, indem er sie miteinander korrespondieren lässt. Er findet eigene Erfahrungen bei Handke wieder (7–11) und sieht Beziehungen zwischen den Äußerungen Handkes und Martin Luther (17). Seine Anordnung ist dabei alles andere als willkürlich und keineswegs beliebig. Sein Text hat eine innere Architektur, die trägt, ohne dass er eine These formulieren würde, auf die alle Beispiele hin angeordnet werden. Er bündelt vielmehr seine

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Beobachtungen (21–23) und ergänzt diese Bündelung mit weiteren eigenen Erfahrungen (24–25). Schließlich öffnet sich der Text auch ganz buchstäblich: „Der stille Ort ist nur scheinbar ein Ort der Selbstbezogenheit.“ (26). An keiner Stelle ist Waßmann eine Autorität, die dem Hörer etwas erläutert oder seine Unwissenheit aufklärt. Er ist derjenige, der sein Gedankengebäude mit den Hörern teilt und sie damit ermutigt, ihre eigenen Bausteine hinzuzufügen. Die Biographie des Predigers verdichtet und vertieft die Predigt. Würde Waßmann einen Traktat zum Thema schreiben, könnte dies sogar lächerlich wirken. Nur weil er als Person erkennbar ist, wird das Thema interessant und auch überraschend. Niemand erwartet in einem Wort zum Tag auf SWR 2, Gedanken über das stille Örtchen zu hören, ja das eigene Bad als Ort wiederkehrender Inspirationen, Klärungen und Entdeckungen qualifiziert zu sehen, zuletzt sogar als Ort, an dem einen der Heilige Geist erreichen kann. Ein Clou dieser Predigt ist, dass nahezu alle Hörenden kurz vor dem Hören dieser Predigt diesen Ort aufgesucht haben. Sie können also ihre eigenen Erfahrungen in Bezug zu den Erfahrungen des Predigers setzen – und dazu lädt Waßmann auch ein. Er teilt das, was ihn auf dem stillen Örtchen bewegt, mit den Hörenden. Dabei ist seine Sprache niemals ordinär oder verschämt. Sachlich-nüchtern und präzise zählt er die Handlungen im Badezimmer auf (2–4). Weil Bemerkungen über ein stilles Örtchen im Rahmen einer Predigt ungewöhnlich sind, wird die Aufmerksamkeit der Hörenden geweckt, weil er überraschende Beziehungen zu Literatur (Handke) und Theologie (Luther) zieht, können die Hörenden die Predigt als Gewinn und als „Surplus an Erfahrung“ einordnen. Gesellschaftspolitische Akzente gewinnt die Predigt durch die Bemerkungen Handkes über die Situation im Internat und die Angst vor der Nacht und die Bahnhofstoilette (9–10). Nicht zwangsläufig muss eine essayistisch aufgebaute Predigt mit einer benannten persönlichen Erfahrung beginnen. Allerdings muss deutlich sein, dass die Autorin bzw. der Autor auf seiner und ihrer persönlichen Erfahrung aufbaut und diese Erfahrung mit anderen Erfahrungen vergleicht. Der Beitrag von Marita Rödszus-Hecker ist ein Beispiel für eine Kurze Form der Predigt, bei der ganz deutlich ist, dass die Predigerin aus eigener Erfahrung spricht, ohne dass diese Erfahrung explizit benannt wird.

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Marita Rödszus-Hecker Komm, hilf! SWR 2 – Wort zum Tag 10. 01. 201349

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Die Gesunden und die Kranken verstehen einander nicht. Sie leben in zwei Welten. Wenn die Besuchszeit um ist, dann können die einen gehen – die anderen müssen bleiben. In ihrer Hilflosigkeit, ihrer Verzweiflung und ihrer Angst. Thomas Bernhard, der österreichische Dichter, hat auch noch in dieser Angst Worte gefunden. Mit achtzehn Jahren hatten die Ärzte ihn aufgegeben. Er lag im Sterbezimmer, um ihn herum todkranke Erwachsene. Eigentlich hatte er Sänger werden wollen. Aber bei so etwas Banalem wie dem Kartoffeln abladen im Winter hatte er sich eine Rippenfellentzündung geholt und wurde schwer krank. „Ich weiß keine Straße mehr die hinaus führt. Ich weiß keine Straße mehr. Komm hilf. Ich weiß nicht mehr. Was mich befallen wird. In dieser Nacht. Ich weiß nicht mehr was Morgen ist. Und Abend.“ So beginnt ein Gedicht von Thomas Bernhard. Für den Kranken verschwimmt die Zeit. Aufwachen, Einschlafen, wieder Aufwachen. Immer ein Dämmer, ein Immer-todmüde-sein, und kein wirkliches Wachwerden mehr. Damals, in dieser Zeit im Krankenhaus, verlor er seinen geliebten Großvater. Und den Tod seiner Mutter erfuhr er aus der Tageszeitung. „Ich bin so allein O Herr. Und niemand trinkt mein Leiden. Keiner steht an meinem Bett. Und nimmt die Qual mir.“ In diesem Gedicht findet er Worte für das, was viele fühlen, die krank geworden sind: tiefe Hilflosigkeit und Verzweiflung, Einsamkeit, Angst und das Gefühl: Ausgeliefert zu sein. Bernhard wendet sich in diesem Gedicht an den, der da einzig am Krankenbett noch übrig ist. „O Herr. In meinem Wort ist Finsternis. O Herr erhöre mich.“ Der Herr: Ein Zeuge der Qual, die er nicht abnimmt. Ein Zeuge der Einsamkeit, die er nicht aufhebt. Und doch einer, zu dem man noch reden kann, ohne Worte, ohne Atem. „O hör mich an – Ich will nicht mehr allein die Übelkeit. Und diese Welt ertragen. Hilf mir. Ich bin schwach und arm. Mein Wort verbrennt in Traurigkeit. Für Dich.“ Thomas Bernhard nannte sich religiös, aber ohne jeden Glauben. Es ist dieses „Du“ in seinem Gedicht, das ihm geholfen hat, zu klagen, Worte zu finden und vielleicht auch dabei, sich selbst nicht aufzugeben.

Rödszus-Hecker arbeitet als Krankenhausseelsorgerin. Sie erwähnt dies nicht, es ist aber spürbar, dass sie weiß, wovon sie redet – nicht im Sinne einer autoritativen Instanz, sondern als Mensch, der Erfahrungen mit Krankheit und Gesundheit hat: „Die Gesunden und die Kranken verstehen einander nicht. Sie leben in zwei Welten.“ (1) Dies ist keine These, die Rödszus-Hecker entfaltet, das ist ihre Beobachtung als Krankenhausseelsorgerin. Dieser Beobachtung stellt sie die Gedanken Thomas Bernhards zur Seite. Informationen über das Leben von Thomas Bernhard verknüpft sie mit dessen eigenen Worten, einem Gebet in 49 kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2013-01-06. Zugriff 08. 01. 2014.

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poetischer Sprache. Der Beitrag zeigt auch, dass es unter bestimmten Umständen möglich ist, Gedichte in einer Kurzpredigt einzubauen, nämlich dann, wenn die Worte einfach und selbstverständlich zu verstehen sind. Dies ist bei den Worten des Gedichts von Thomas Bernhard (8–10; 14–16; 20; 22–24) der Fall. RödszusHecker verwendet das Gedicht zudem nicht deshalb, um eine überlegene literarische Bildung zu demonstrieren oder um Bernhard als Autorität und Gewährsmann für ihre Gedanken einzuführen oder als Zierrat ihrer Gedanken, sondern weil seine Erfahrungen Möglichkeiten des Umgangs mit Krankheit und mit Gott darstellen. Rödszus-Hecker vereinnahmt Thomas Bernhardt nicht, sie sagt offen, dass er sich als „religiös, aber ohne jeden Glauben“ (25) bezeichnet. Ihre Vermutung, dass sein Gebet Thomas Bernhard möglicherweise geholfen hat, sich selbst nicht aufzugeben, wird nicht als feststehende Gewissheit, sondern als Annahme formuliert (26–27). Die Erfahrungen der Predigerin fließen in die Predigt ein, ohne explizit benannt zu werden, sie werden deutlich in ihren ersten vier Sätzen (1–3). Diese Beobachtungen können nur aus eigener Erfahrung formuliert werden. Ihr Eingangssatz „Die Gesunden und die Kranken verstehen einander nicht“ (1) ist provozierend formuliert. Dieser Satz schmerzt, ist ein „punctum“. Ihren Erfahrungen stellt die Predigerin die Worte Thomas Bernhards zur Seite, eine überraschende Kombination. Ihre nüchterne Erzählweise kontrastiert mit den poetischen Worten Thomas Bernhards und bringt dessen Gebet dadurch noch mehr zur Geltung, unterstreicht die Gedanken. Das surplus an Erfahrung ist, dass die Predigt einen sehr intimen Einblick eröffnet in die Welt eines Menschen, der in seiner Krankheit zu verzweifeln droht. Überraschend ist auch der Schluss. Wie kann ein Mensch, der sich als „ohne jeden Glauben“ (25) bezeichnet, zu so innigen Gebetsworten finden? Durch diesen Hinweis regt die Predigerin die Hörenden zum eigenen Nachdenken an. Wie gehen sie mit Kranken um, wie mit eigener Krankheit, welche Worte finden Sie – und welche nicht? Anders als Harry Waßmann und Marita Rödszus-Hecker arbeitet Gotthard Fuchs. Gotthard Fuchs Humor und Glaube (II) SWR 2 – Wort zum Tag 13. 02. 201350 Zu den aufregenden Kindheitserinnerungen gehört für mich der Empfang des Aschenkreuzes. Irgendwie unheimlich und mit Gänsehaut hörte ich, wenn der Priester meine Stirn 50 kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2013-02-10. Zugriff 08. 01. 2014.

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mit Asche bekreuzte und dazu sprach: „Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück“. Aufregend und schockierend – und doch spürbar richtig. Jetzt im Alter kommt mir dies wie ein Leitmotiv vor. Zum christlichen Osterglauben jedenfalls gehört dieser konfrontierende Realismus. Da wird nichts beschönigt und verharmlost, da wird auch nichts dramatisiert oder pessimistisch eingefärbt. Nein, es wird schlicht beim Namen genannt, wie vergänglich wir sind. „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ (Ps. 90, 12) Der Psalmist Israels bittet förmlich darum, dass wir nicht kneifen und illusionär leben. Es braucht seiner Meinung nach dazu freilich eigens göttliche Belehrung. Zu groß scheint die Gefahr, dass wir uns belügen. Als ginge es immer so weiter! Das wirkliche Ja-Sagen zum irdischen Leben will gelernt sein. Humus und Humor – beide Worte haben denselben Wortstamm, und dazu kommt humilitas, meistens mit Demut übersetzt. Geerdet-sein und irdisch werden, das ist die Einladung dieses Aschermittwoch. Die Humorigkeit der Karnevalstage und der Humus des Irdischen – sie gehören untrennbar zusammen. Sie erden uns, sie machen mal übermütig und immer demütig. Sie sind das Material des Osterglaubens. „Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken am jüngsten Tage.“ Deshalb ist solch ein Aschermittwoch keineswegs trübsinnig. Denn das Aschenkreuz erinnert an die Auferweckung der Toten. Im Mut, sich mit dem vergänglichen Leben konfrontieren zu lassen, zeigt sich die österliche Zumutung. Wer glaubend und hoffend dem eigenen Tod ins Auge zu sehen vermag, lebt anders. Er weiß um die gestundete Zeit und das befristete Leben, und das mit Zuversicht. So kann der Aschermittwoch zur Einladung werden, diese 40 Tage bis zum Osterfest alternativ zu gestalten, z. B. als Zeit der Neuorientierung, im Umschichten der Energien, im Aufräumen innen und Außen (sic). „Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück. Der Lebendige aber wird dich auferwecken an deinem jüngsten Tage.“

Gotthard Fuchs’ Text wirkt auf den ersten Blick essayistisch. Die Predigt beginnt, wie bei einer essayistischen gestalteten Predigt, mit einer Erfahrung, die Fuchs mit den Hörenden teilt. Als Kind empfängt er das Aschekreuz (1–4). Im weiteren Verlauf der Predigt wird aber deutlich, dass alle Beispiele streng auf die These des Autors ausgerichtet sind, während ein Essay die Ebenen gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt. Das Leitmotiv „Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ durchzieht den Text (3; 17–18; 25–26), umrahmt den Grundgedanken der Vergänglichkeit des Menschen und die These, dass Menschen glaubend und hoffend dem eigenen Tod ins Auge sehen sollten (21–22). So hat die Predigt Züge des Traktats, indem sie informiert, etwa über den gemeinsamen Wortstamm von Humus und Humor (13) und argumentiert: „Wer glaubend und hoffend dem eigenen Tod ins Auge zu sehen vermag, lebt anders. Er weiß um die gestundete Zeit und das befristete Leben, und das mit Zuversicht. So kann der Aschermittwoch zur Einladung werden“ (21–24). Gotthard Fuchs’ Text ist ein Beispiel dafür, dass ein Text interessant zu hören und kunstvoll aufgebaut, jedoch dank der fehlenden essayistischen Grundhaltung und der offensichtlichen nicht-essayistischen textlichen Architektur

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kein Essay ist. Im Gegensatz zum Essay ist das Ergebnis nicht offen, Fuchs kennt genau das Ergebnis seiner Überlegungen. Die Architektur des Textes ist in der Grundthese klar erkennbar und alle Beispiele werden auf diese These hin ausgerichtet. Der Text regt zwar zum Dialog an, doch werden die Hörenden weniger zu freien Anschlussgedanken motiviert als zu Gedanken, die in der Fluchtlinie der These liegen. Die Person des Predigenden ist klar erkennbar durch die Erinnerung an ein prägendes Kindheitserlebnis (1–4), ein „punctum“, das ihn nachhaltig bewegt sowie sein Bekenntnis, dass er dieses Erlebnis nun als alter Mann deutet (4–5). Im zweiten Teil der Predigt tritt die Persönlichkeit des Predigenden dann hinter die Thesen zurück – so wie dies auch beim Traktat der Fall ist. Überraschend ist die Verbindung von Humor und Vergänglichkeit. Für eine Predigt, die essayistisch geformt ist, ist es in besonderem Maße wichtig, dass der Text eine innere Architektur hat, damit die Gedanken nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen. Was passiert, wenn diese innere Architektur fehlt, zeigt das folgende Beispiel: Klaus Nagorni Was am Ende bleibt. SWR 2 – Wort zum Tag 19. 07. 200751 „Nach neun Jahrzehnten sehen sie immer noch strahlend aus. Wie machen Sie das?“, fragt die Journalistin die hoch betagte Jubilarin. Und die Jubilarin antwortet: „Ich kaufe teure Kosmetika. Mein Mann meinte immer, Nivea tue es auch. Doch ich liebe teure Cremes. Das ist die Magie der aufgeklärten Frau.“ Bei der aufgeklärten Frau handelt es sich um die Psychoanalytikerin Margarete MITS- 5 CHERLICH. Zusammen mit ihrem Ehemann Alexander gehörte sie zu den führenden Intellektuellen der jungen Bundesrepublik. Gemeinsam verhalfen sie der von den Nazis verfemten Psychoanalyse zu neuem Einfluss. In dem Gespräch, das eine namhafte Zeitschrift aus Anlass ihres 90. Geburtstags veröffentlichte, gewinnt man zuletzt den Eindruck: hier wird die Ernte eines langen Lebens 10 eingebracht. Das Gespräch endet dann auch nicht in dem leichten Ton, in dem es begonnen hat. Die letzte Frage der jungen Journalistin lautet: „Haben Sie Angst vor dem Sterben?“ Margarete MITSCHERLICH antwortet: „Natürlich. Und es wäre sehr angenehm vom lieben Gott, an den ich nicht glaube, wenn er mich geistig klar sterben ließe. Ich habe die größte 15 Angst vor der Abhängigkeit, die ein umnachteter Kopf mit sich bringt.“ Und dann fährt sie fort: „Doch wem hilft solche Grübelei? ‚Seht die Vögel unter dem

51 http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2007-07-19. Zugriff 08. 01. 2014.

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Himmel an‘, heißt es in der Bergpredigt. ‚Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer Vater ernährt sie doch. Darum sorgt nicht für morgen. Es ist 20 genug, dass ein jeder Tag seine eigene Plage hat.‘ So versuche ich zu leben. Tag für Tag.“ Damit endet das Gespräch mit der Jubilarin. Und ich denke: ein gutes Stück dialektischer Theologie ist das. Ich meine das in dem Sinne, dass Margarete MITSCHERLICH dem landläufigen Bild eines lieben Gottes, der alles zum Happy End führt, widerspricht. Und dennoch erscheint im Widerspruch eine Wahrheit: dass der himmlische Vater, dem 25 die Vögel nicht zu gering sind, ihnen Speise zu geben, dem Menschen – gerade dem, der an einer Schwelle steht – eine fundamentale Zusage macht. Sie lautet: Sorge nicht! Denn ein anderer sorgt für dich. Darauf darfst du dich verlassen. Das ist genug!

Bei einer essayistischen geformten Predigt genügt es nicht, Assoziationen aneinander zu reihen. Die Forderung, Wahrnehmungen gleichberechtigt und gleichgewichtet zu stellen, bedeutet keine Beliebigkeit. Diese innere Architektur lässt das Wort zum Tag von Klaus Nagorni nicht erkennen. Der rote Faden dieser Predigt ist das Interview, doch diese Verbindung trägt nicht die Aneinanderreihung von Niveacreme und teureren Kosmetika (1–4), Wiederentdeckung der Psychoanalyse nach dem dritten Reich (5–8), Ernte des Lebens (9–11), Angst vor dem Sterben (13–16), Bergpredigt (17–20; 24–27) und dialektische Theologie (21–22). Ein nicht nur formaler, sondern inhaltlicher roter Faden ist eher geeignet, verschiedene Beobachtungen zusammenzufügen, doch selbst wenn dieser gefunden wäre, wären es im Fall der Predigt von Nagorni sehr viele Themen für eine Kurze Form der Predigt, das gefährdet die Statik des Textes. Der Prediger schildert zwar seine Eindrücke, ist mit seiner Biographie aber nicht erkennbar. Welche Haltung hat er zu Kosmetika? Warum berichtet er diesen Ausschnitt des Gesprächs und konzentriert sich nicht auf die Sequenz mit der Bergpredigt? Was war ihm an der Aussage zu Nivea-Creme wichtig? Das wird nicht deutlich. So wird auch nicht klar, was den Predigenden persönlich bewegt hat, was sein persönliches punctum ist. So kommt die Zusage zum Schluss (27) unvermittelt. Christian Schärf hat eine umfassende Untersuchung zur Geschichte des Essays vorgelegt.52 Sorgfältig zeigt er nicht nur die Entwicklung des Essays von Montaigne und Bacon auf, sondern analysiert auch die Haltung, den Essayismus, der diese Literaturform hervorbringt. Von Anfang an stand der Essay durchaus in Spannung zur Kirche, doch Schärf weist auch auf die engen Beziehungen zwischen biblischer Botschaft, theologischem Denken und Essay hin. So verteidigt Schleiermacher Schlegels Lucinde, einen Text, der „Roman und Essay zu einer untrennbaren Einheit“53 kombiniert und bei „aller Befreiung, die Schlegels Ideen 52 Christian Schärf, a. a. O. 53 Christian Schärf, a. a. O., 121.

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und Konzepte suggerieren, … doch auch ein utopisch-religiöses Potential“54 mitführt. Der amerikanische Essayist Ralph Waldo Emerson entstammt in siebter Generation einer Predigerdynastie, ist selbst eine Zeit lang Prediger und „verstand es, den elementaren Duktus des Predigers, den er gleichsam ererbt hatte, mit der visionären Gestimmtheit eines naturbezogenen Ursprungsdenkens zu korrelieren.“55 Inhaltlich weist Emerson in seiner Abwendung vom Historismus auf Nietzsche voraus, der sich an Emerson schult.56 In der Analyse des Werks von Benjamin wird die Nähe von Theologie und Essay deutlich,57 bei Gottfried Benn, dem Pfarrerssohn, liegt sie schon biographisch nahe. Musil bezeichnet den Essayismus zwar als Experimentierfeld des Menschen ohne normatives Weltbild58, doch das steht nicht unbedingt im Widerspruch zu einer Predigt, die sich im Gespräch mit der biblischen Botschaft entwickelt. Allerdings muss dieses Konzept stets konträr zu Predigten stehen, die Gesetz und nicht Evangelium verkündigen. Schärf verschweigt nicht, dass der Essay in Belanglosigkeit abgleiten kann, in eine „bildungsselige Unverbindlichkeit“59. Auch in der Form des Essay kann man sich nicht ausruhen. Der Essay ist schon immer eine Herausforderung gewesen – für Autoren wie für Leser. Im Blick auf die Predigt kann man übersetzen: Eine gute Predigt ist eine Herausforderung für die Predigerin genauso wie für den Predigthörer. Der Essay ist auch im 21. Jahrhundert aktuell, wenn es ihm gelingt, auch nach dem Zusammenbruch der ästhetischen Moderne als eine „flexible Ausdrucksform im Pluralismus der Sprachspiele“60 zu fungieren. „Sprachliche Vielfalt, Dialogizität und Experiment“61 sowie eine Haltung, die suggeriert, „dass, was ist, nicht alles ist und dass es auch ganz anders geht: dass jenseits des Wirklichen noch konkrete Möglichkeiten liegen, die es wahrzunehmen gilt – notfalls gegen die ‚Realisten‘, die nur das Wirkliche kennen und zudem ihre Darstellungen des Wirklichen mit diesem verwechseln“62, prädestinierten den Essay als wichtige literarische Textsorte für die Predigt. Kritisch ist dabei mit Schärf anzumerken, dass „der Aufbruch in die totale Informationsgesellschaft eine Großzahl der Interagierenden dazu (verleitet), sich bewußt und vorbehaltlos jenem endlosen weißen Rauschen auszusetzen, von 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Christian Schärf, a. a. O., 128. Christian Schärf, a. a. O., 146. Vgl. Christian Schärf, a. a. O., 163. Christian Schärf, a. a. O., 258–276. Vgl. Christian Schärf, a. a. O., 10. Christian Schärf, a. a. O., 268. Christian Schärf, a. a. O., 15. Peter V. Zima, a. a. O., ix. Peter V. Zima, a. a. O., ix–x.

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dem sich nur noch punktuell bestimmte ephemere Blickpunkte und Aussagen zusammenmontieren lassen. Zweifellos geht dabei jener Perspektivismus zugrunde, den Nietzsche als Medium moderner Relativität proklamiert hatte. Noch ist kaum ersichtlich, inwieweit das Surfen in den digitalen Netzen die Bedingungen und Möglichkeiten des Denkens verändert und ob möglicherweise das Provisorium multimedialer Zerstreuung an die Stelle mündiger Subjekte treten kann, ohne daß dies noch als Verlust empfunden wird… Ein Sarkasmus ohne Zentrum… überzieht die Zivilisationswüsten der Postmoderne, in denen armselige neuronale Systeme hektisch aneinander vorbeiagieren und unablässig damit beschäftigt sind, die Falten ihrer Nichtigkeit zu überspielen und den Fallen ihrer Sterblichkeit zu entgehen… Das ist der Essayismus der Gegenwart.“63 Hier werden schon 1999 weitsichtig die Bedeutung des Internets und seine Folgen erkannt – auch in ihren negativen Auswirkungen. Wenn Blogger sich als Essayisten verstehen, ist es die Chance der Theologie, gerade an der menschlichen Sterblichkeit als Prüfpunkt anzusetzen. Eine Predigt, die sich am Essay orientiert, könnte Transzendenz ohne falsche Demutshaltung und christlichen Glauben als wahre Kunst, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander zu setzen, verbinden. Das essayistische Schreiben öffnet sich „dem Perspektivismus eines selbstverantwortlichen Subjekts in einer ständig sich verändernden Umwelt. Das vollzieht sich auf einer Ebene, die… auf reflexiven, meditativen und argumentativen Wegen immer zuerst die Frage nach dem konkreten Leben, der Rolle des Ichs beim Denken und Handeln und insgesamt nach einer ethischen Haltung der Welt gegenüber stellt.“64 Deshalb kann die essayistische Predigt auch gut ethische Themen aufgreifen. Hier ein Beispiel für eine ethische Kurze Form der Predigt. Angela Rinn Deutsche Einheit Die Gedenkstätte Bernauer Straße in Berlin ist eine Stätte der Erinnerung und der Hoffnung. SWR 2 – Wort zum Feiertag, 03. 10. 201165 Gedenkstätte Bernauer Straße in Berlin. Hier verlief einst die Mauer. Perversion der Geschichte und der Teilung Berlins durch die Siegermächte: die Straße selbst lag im Westen, die Hausmauern schon im Osten. Regine Hildebrandt, die leider viel zu früh verstorbene Politikerin, wohnte in einem der Häuser und hat das in ihrer schnodderigen Berliner 5 Mundart so auf den Punkt gebracht: „Wenn ich aus dem Fenster sah, war der Kopf im 63 Christian Schärf, a. a. O., 17. 64 Schärf, a. a. O., 19. 65 kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2011-10-02. Zugriff 08. 01. 2014.

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Westen und der Arsch im Osten.“ Das ist Berliner Schnauze, der es noch gelingt, dem Schrecken eine humoristische Note abzugewinnen. Die Bernauer Straße hat viel erlebt. Der Direktor der Gedenkstätte, Dr. Axel Klausmeier, führt uns über das Gelände und erzählt uns die Geschichten dieser Straße – es gibt unzählige, bewegend, traurig. Klausmeier erinnert an die erste Mauertote, eine alte Frau, die am 13. August 1961 den Sprung aus dem Fenster in den Westen nicht überlebt hat. Sie blieb nicht die einzige Mauertote. Hunderte sind gestorben. Kinder aus dem Westen sind darunter, die beim Spielen in die Spree fielen und elend ertrunken sind, weil die Grenzwärter aus dem Osten Schießbefehl hatten und sich niemand traute, die Kleinen zu retten. Alle Namen und Lebensgeschichten sind in einem Totenbuch verzeichnet, das in dem Altar der Versöhnungskirche liegt und jeden Mittag, zur Andacht, herausgeholt, aufgeschlagen und vorgelesen wird. Die neue Versöhnungskirche wurde erbaut aus den Steinen der alten Kirche, die nach dem Mauerbau mitten im Todesstreifen stand, Symbol der irrwitzigen Teilung Berlins, sie wurde in den 80er Jahren gesprengt. Die Kirche stand im Schussfeld, hätte Flüchtlingen Sichtschutz bieten können. Das eiserne Turmkreuz, das nach der Sprengung verbogen auf dem nahegelegenen Friedhof lag, das hat jemand vor der Verschrottung gerettet. Heute hat es einen Ehrenplatz auf dem Gelände der Gedenkstätte. Die alte Versöhnungskirche war Symbol der Teilung, die neuerbaute Kirche ist Symbol der Erinnerung und – ihrem Namen gemäß – Zeichen der Versöhnung. Um die Kirche herum hat die Gemeinde ein Roggenfeld angelegt. Ich erinnere mich an das alte Prophetenwort, das zum Leitwort der Friedensbewegung wurde: Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln. Es ist ein besonderes Bild, wenn der Roggen um die Kirche wogt, ein grünes Feld, später erntet die Gemeinde und mahlt aus dem Korn Mehl, aus dem Brot gebacken wird. Brot, das die Gemeinde bei ihren Abendmahlsfeiern teilt. Eine biblische Verheißung wird greifbar, schmeckbar, leiblich erfahrbar. Schwerter zu Pflugscharen – wo jahrzehntelang Menschen aufeinander geschossen haben, wächst jetzt Getreide, wo der Todesstreifen war, gedeiht jetzt ein Lebensmittel. Die Bernauer Straße hat viele Geschichten erlebt, die Gedenkstätte bewahrt sie, damit sie nicht vergessen werden. Wenn Dr. Klausmeier erzählt, bekommt Geschichte ein menschliches Gesicht. Ich merke, dass das auch für mein Leben wichtig ist, dass meine Lebensgeschichte mit diesen Geschichten verbunden ist. Es ist unsere deutsche Geschichte. Nach dem Fall der Mauer und der Deutschen Einheit gab es große Auseinandersetzungen darum, ob die Mauer ganz geschleift oder zum Teil bewahrt werden sollte. Auch die betroffenen Kirchengemeinden waren sich nicht einig, die westdeutsche wollte ein Stück Erinnerung, die ostdeutsche am liebsten jede Spur dieser tödlichen Schranke ausgemerzt wissen. Beide Ansichten kann man nachvollziehen, doch ich bin dankbar dafür, dass gerade für junge Menschen wie meinen Sohn, der erst nach der Wiedervereinigung geboren wurde, Spuren und Geschichten festgehalten werden. Noch leben Menschen, die aus den Fenstern der Bernauer Straße sprangen, noch leben Angehörige der Mauertoten, noch leben auch Menschen, die damals Grenzwächter waren oder politische Verantwortung trugen. Alle können erzählen, ihre Stimmen kann man hören an den Audio-Säulen der Gedächtnisstätte. Und ich finde es gut, dass die Gedenkstätte nicht nur ein begehbares Museum ist, sondern auch – dank der Versöhnungskirche und ihrer Gemeinde – ein lebendiges Zentrum, in dem Menschen beten, sich erinnern, Friedenszeichen säen und ernten und sich versöhnen können.

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Dieses Wort zum Tag wurde am Tag der Deutschen Einheit gesendet. Die Predigt erzählt von der Versöhnungskirche in Berlin, und macht sie zum Symbol für den Schrecken des Mauerbaus und der Teilung Deutschlands sowie für die Kraft zur Versöhnung. Die Kirche stand während des Kalten Kriegs und der Teilung Deutschlands mitten im Todesstreifen. Nach der Wiedervereinigung baute die Versöhnungsgemeinde auf den Fundamenten und aus den Trümmern der alten Kirche eine Kapelle der Versöhnung. Vor der Kapelle, auf dem ehemaligen Todesstreifen, wurde Weizen gesät, der jedes Jahr geerntet, zu Mehl gemahlen und zu Abendmahlsbrot gebacken wird. Wo früher Tod gesät wurde, wird heute der Samen für das Brot des Versöhnungsmahls gesät und geerntet. Die Predigt erzählt davon, wie die Kraft dieser symbolischen Handlung Menschen ergreift, die das wogende Getreidefeld vor der Kirche betrachten (27–32) – die Ernte ist reif! Zugleich wird an jedem Wochentag in der Kirche die Lebensgeschichte eines Mauertoten verlesen – kein Toter soll vergessen werden (14–16). Ernte bedeutet in der biblischen Bildsprache, die die Predigt aufgreift (26–32) auch Gericht: Wir müssen alle einmal für unsere Taten einstehen vor dem himmlischen Richter. So klingen in den Erzählungen dieser Predigt ethische Themen an. In den 1980er Jahren war das Stichwort „Schwerter zu Pflugscharen“ das punctum der Friedensbewegung. Die Predigt erzählt davon, wie die Versöhnungsgemeinde in einem performativen Akt dies umsetzt (24–32). Die Predigt vertritt keine Thesen außer der, dass die Geschichten der Kirche, die zugleich die Geschichte Deutschlands symbolisiert, weiter erzählt werden sollte. Sie appelliert, diese Geschichten zu erzählen (41–43) und tut dies selbst. Im Blick auf die in III.1. genannten Ansprüche an die Predigt kann festgehalten werden, dass die Persönlichkeit der Predigerin in der ganzen Predigt erkennbar ist. Sie teilt mit den Hörenden ihre Erlebnisse an der Kirche, die Führung durch den Leiter der Gedenkstätte und ihre Gedanken über junge Menschen wie ihren Sohn. Die Predigt ist auf einen Diskurs angelegt, Hörende werden angeregt, selbst diese Gedenkstätte zu besuchen und/oder eigene Erfahrungen zu ergänzen. Überraschend und berührend ist gewiss das Roggenfeld im ehemaligen Todesstreifen, das Korn hervorbringt, das zu Abendmahlsbrot verarbeitet wird. Die Predigt lebt davon, dass sie so anschaulich erzählt, dass die Hörenden sich die Szenen vorstellen können. Sie ist informativ und vermittelt erzählend Wissen. Die Predigt setzt sich mit der gesellschaftspolitischen Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands auseinander.

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1.4.

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Aufzeichnung

Die Aufzeichnung ist eine selbstständige literarische Textsorte. Aufzeichnungen sind in der Regel kürzer als die übliche Kurze Form der Predigt (also gesprochene 2.30–5.00 Minuten). Im Bereich der Verkündigungssendungen im Rundfunk gibt es heute besonders kurze Formate. Bezeichnenderweise heißen diese Formate für SWR3 „Gedanken“ und „Worte“. Wie auch beim Essay kann sich der Autor oder die Autorin einer Aufzeichnung nicht hinter dem Text verstecken, sondern ist durch die eigene subjektive Wahrnehmung in den Text verstrickt – manchmal so sehr wie Pablo Picasso, der auf sein Notizbuch schrieb: „Je suis le cahier“66. Im Gegensatz zum Essay, der durchgeformte Spontaneität ist, hat die Aufzeichnung einen spontanen Wiedergabecharakter. Allerdings gibt es trotz der Spontaneität der Aufzeichnung Kriterien zu ihrer Beurteilung. Notizen sollen gut und präzise sein67, mit höchster Exaktheit der Sprache. Sie sollen „keine blinde, sondern eben eine dichte Aktion sein.“68 Auch die Kurze Form der Predigt muss sich diesen Kriterien zu ihrer Beurteilung unterwerfen und sich insgesamt theologisch verantworten. Das Kriterium der „Dichte“ ist für die Kurze Form der Predigt wichtig. Sie soll in der Kürze nicht banal, sondern theologisch dicht sein und einen engen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Hörenden haben. Hanns-Josef Ortheil, ein prominenter Vertreter der Aufzeichnung, hat eine Übersicht über diese Textsorte vorgelegt, die zugleich eine Anleitung zum Schreiben bietet.69 Ortheils Buch bietet einen wertvollen Überblick über die Entstehung des Notierens von seinen Frühformen auf Ostraka über mittelalterliche Zettelkästen bis hin zur Entwicklung des Notierens als selbstständiger Kunstform ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das 21. Jahrhundert hinein. Während Notizen zunächst nur Vorarbeiten zu größeren Arbeiten sind, wandelt sich diese Vorstellung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. „Gerade das Unfertige, Vorläufige und Unreine dieser Schreibformen wurde nun als etwas Positives erkannt und genutzt. Das ‚Schreiben im Textlabor‘ tendierte damit nicht mehr zum Werk, sondern erkannte die Werkstatt selbst als das eigentliche Werk. Dem Notieren und Skizzieren kam dadurch eine neue Bedeutung zu. Befreit von der früher zentralen Aufgabe, das Planungsstadium der Werke anzuschieben und zu strukturieren, wurden Notate und Skizzen jetzt selbst so strukturiert und komponiert, dass sie 66 Vgl. Arnold Glimcher und Marc Glimcher (Hg.), Je suis le cahier. Die Skizzenbücher Pablo Picassos, Hamburg 1986. „Je suis le cahier“ steht in Picassos Schrift auf dem Umschlag von Skizzenbuch Nr. 40. 67 Diese Forderung stellt Hanns-Josef Ortheil in: Hanns-Josef Ortheil, Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, Mannheim/Zürich 2012, 15. 68 Hanns-Josef Ortheil, a. a. O., 146. 69 Hanns-Josef Ortheil, a. a. O.

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einen eigenen Schreib- und Denkzusammenhang abbildeten. Aus den ältesten Hilfsmitteln des Schreibens, Forschens und Denkens wurden so eigenwillige und experimentell anspruchsvolle Kunstformen, die sich gegenüber den traditionellen ‚Werken‘ etablierten.“70 Kurze Texte, die bislang zur Komposition eines großen Werkes genutzt wurden, erlangen Selbstständigkeit. Dies kann zum Vorbild für die Kurze Form der Predigt werden. Die Kurze Form ist keine minderwertige Form der Langen Form, sondern eine eigenständige Form, die in sich abgeschlossen sein kann. Allerdings besteht die Möglichkeit – so wie eine Notiz mit anderen Notizen zusammengefügt werden kann – dass mehrere Kurzpredigten kombiniert werden können zu einer längeren Predigt, etwa indem mehrere Kurzpredigten zu einem Thema verbunden werden. Die Herausforderung dieser Kombination besteht darin, einen roten Faden zu finden, der eine Architektur der dann Langen Form der Predigt gestaltet. Die Auseinandersetzung mit prominenten Vertretern der Notiz bei Ortheil reflektiert Materialbeschaffung und Konzeptanlage. Ortheil unterscheidet drei Methoden des Notierens: Elementares Notieren, bildliches Notieren und Emotionen und Passionen beschreibendes Notieren. Diese drei Obergruppen unterteilt er: Elementares Notieren fächert er auf in Registrieren, Notieren als Webcam, als Fotografieren, Recherchieren und Monologisieren. Bildliches Notieren wird als Portraitieren, genaues Zeichnen, Skizzieren, Präzisieren und als Drehbuch vorgestellt. Emotionen und Passionen Notieren unterteilt sich als Notieren von Passionen, als Erinnern, Erfinden, Zuspitzen und Poetisches Notieren. Notationen beschreiben also innere und äußere Räume und lassen sich von Personen und Gesprächen inspirieren. Es kommt darauf an, exakt und konzentriert zu beobachten, genau zu beschreiben und interessante, überraschende Verknüpfungen zu erstellen. Im Blick auf die Kurze Form der Predigt bieten die Schreibübungen, die Ortheil im Anschluss an jeden Unterabschnitt im Anlehnung an die als Beispiel genannten Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, eine Schulung für Predigerinnen und Prediger. Darüber hinaus sind sie jedoch auch ein Exerzitium der besonderen Art: „das Notieren (ist) zunächst einmal ein Innehalten. Notierend steigt man aus dem laufenden Zeitstrom der Ereignisse und Lebensvollzüge aus und beginnt, sich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren. Konzentration ist ein Sichzusammenziehen, ein Auf-den-Punkt-Bringen und damit zunächst eine leichte Anspannung, die das Betreten einer Zeitinsel markiert. Auf dieser

70 Hanns-Josef Ortheil, a. a. O., 15.

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Zeitinsel bewegt man sich anders als sonst, man ist aufmerksam und hellwach, man wird zum Teil einer Versuchsanordnung oder eines Experiments.“71 In theologische Sprache übertragen klingt diese Beschreibung des Notierens wie eine Anleitung zur Meditation, zum Innehalten im Alltag, um Gottes Gegenwart wahrzunehmen und sich selbst als Subjekt dieser Wahrnehmung im Kontext von Welt und Gott. So können Notationen aus theologischer Perspektive umgesetzt werden und im Ergebnis konzentrierte, treffende und überraschende Kurzpredigten hervorbringen. „Gerade in der Spannung zwischen freiem, gelockertem Schreiben und Dienst am Projekt liegt eine Reibung, die das Notieren erst spürbar und damit zu einer kaum merklichen Anstrengung macht.“72 Aus homiletischer Perspektive ist der „Dienst am Projekt“ die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums, und deshalb wirkt eine gelungene Kurzpredigt auf den Hörer nicht angestrengt, sondern elegant, unangestrengt und wie mit leichter Hand verfasst. Ortheil selbst beschreibt eine psychologische, vielleicht sogar spirituelle Dimension, des Notierens, insofern er das Unbewusste ins Spiel bringt: „Das Notat hat hier die Funktion einer sich ins Unbewusste ausgreifenden Motiv- und Themenerkennung.“73 Ein prominenter Vertreter der Kunst des Notierens ist der Philosoph Roland Barthes. In seinem Werk „Fragmente einer Sprache der Liebe“74 finden sich biblische Bezüge, obwohl Barthes, ehemals Protestant, seinen Glauben verloren hatte. Roland Barthes hat in seinem letzten Werk, einer Arbeit über die Fotografie75, auf die Bedeutung des von ihm so genannten „punctum“ hingewiesen, das ein allgemeines „studium“ eines Objekts durchbricht. „Das… Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren… Dies… möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum… das ist jenes Zufällige…, das mich besticht, mich aber auch verwundet, trifft.“76 Unsere Sprache beschreibt dieses Ereignis: Etwas „sticht“ mir ins Auge, ein Gedanke ist „bestechend“, etwas „schärft“ meinen Blick. Das geschieht immer von außen, ist ein äußerer Reiz. Roland Barthes schildert genau diesen Prozess der Überraschung, der nicht selbst produziert wird, sondern von außen geschieht. Allerdings ist dieses 71 72 73 74 75 76

Hanns-Josef Ortheil, a. a. O., 145. Hanns-Josef Ortheil, a. a. O., 146. Hanns-Josef Ortheil, a. a. O., 147. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt 152012. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt 1989. Roland Barthes, a. a. O., 36.

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punctum nur scheinbar zufällig, vielmehr das Ergebnis des künstlerischen Blicks des Fotografen, der den überraschenden, bestechenden Moment erkannt und festgehalten hat und an den Empfänger weitergibt. Mag sein, dass auch eine oberflächlich vorbereitete und sprachlich nachlässige Predigt diesen Reiz des punctum auslösen kann, ich halte eine sorgfältige Vorbereitung und eine Schulung im Notieren im Sinne Ortheils für zielführender, um ein punctum auslösen zu können. Was Barthes punctum nennt, bezeichet Albrecht Grözinger als „Anmutung“77 und erzählt von Anmutungserfahrungen, etwa denen von Peter Handke, der über die Kalklinie in einem Kiesel oder die überraschende Biegung einer Bahnschiene staunt. In den Anmutungen treffen sich Objektivität und Subjektivität, Grauen und Schönheit des Lebens. Grözinger setzt eine anmutende Predigt einer argumentierenden Predigt entgegen. Anmutende Predigten können, was argumentierenden nicht gelingt: Bilder vor Augen stellen und einladen, sich auf diese Bilder einzulassen. Auch Gleichnisse haben ein punctum78, dass dies entdeckt wird, ist das didaktische Ziel der Gleichnisse: „Wer ist mein Nächster?“ – ausgerechnet ein Samaritaner!

1.5.

Zusammenfassung

Der Traktat kann eine mögliche literarische Textsorte für die Kurze Form der Predigt sein, besonders wenn sie sich mit ethischen Themen beschäftigt oder apologetisch wirken will. Die Herausforderung und Anregung des Traktats liegen in der gelungenen rhetorischen Komposition und darin, für Gegenargumente offen zu sein. Seine geschlossene Argumentation ist seine Stärke und Schwäche zugleich im Blick auf die Kurze Form, die in ihrer Begrenzung stets unabgeschlossen ist und niemals die Fülle der Argumentationen abbilden kann. Im Essay und in der Aufzeichnung wird der Grenzverlauf zwischen Literatur und Leben aufgelöst. Es ist zu fragen, ob das nicht eine neue Sicht auf die predigende Existenz ermöglicht: eine pastorale Identität, in der der Grenzverlauf zwischen Bibeltext, Botschaft, Leben und Predigt aufgelöst wird. Diese essayistische Existenz ist die größte Herausforderung, zugleich notwendige Basis für das Schreiben eines Essay. Das wird immer wieder existentiell umstürzend erfahren 77 Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, 231–244. 78 Manchmal auch mehrere. Vgl. meine Überlegungen zu den Anregungen der Neurowissenschaften und zu Gleichnissen als biblische Kurze Form der Predigt in Kapitel 3 und 4.

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werden. Picasso hat seine Kunst buchstäblich überwältigend erlebt: „La peinture est plus forte que moi elle me fait faire ce qu’elle veut“79. „Montaignes Essais sind Versuche, außerhalb… (von) Dogmen zu denken und sich auf Experimente einzulassen, die vor ihm noch niemand gewagt hat.“80 Essayistisches Predigen wird daher immer wieder auch unbequem sein, mit gesellschaftlichen Auswirkungen: „… ob es zu vorgerückter Stunde zur entscheidenden Wende im Weltlauf kommt, hängt auch davon ab, ob die noch verbleibenden Intellektuellen in der Lage sind, nicht nur ‚für sich‘ im Sinne von Barthes, sondern auch ‚für die anderen‘ zu denken und einen neuen Versuch zu wagen.“81 Der Essay ist in seiner Unabgeschlossenheit, die auf die persönliche Betroffenheit der Schreibenden verweist, die diese mit den Lesenden teilen, eine geeignete Vorlage für die Kurze Form der Predigt. Das Fragment wird hier gerade als Chance ergriffen und schreibend gestaltet. Der Essay hat nicht den Anspruch, abgeschlossen zu sein. Übertragen auf die Homiletik bedeutet das, dass von der Predigerin und dem Prediger eine predigende Existenz82 gefordert wird, die es ihm bzw. ihr nicht ermöglicht, sich von der Predigt und der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu distanzieren. Das eigene Subjekt ist per definitionem notwendig; eine die Umwelt und sich selbst wahrnehmende Existenz ermöglicht erst die Predigt.83 Eine predigende Existenz ist gewissermaßen ein Sprung ins Ungewisse, das Wagnis, sich dem punctum Gottes auszusetzen – „geborgen im Ungewissen“84: Il nous fait faire ce qu’il veut. Wichtig ist der Hinweis auf Roland Barthes und das punctum, das besticht. Folgende Anregungen für die Kurze Form der Predigt am Anfang des 21. Jahrhunderts bietet die Auseinandersetzung mit Essay und Aufzeichnung. 1. Biographie – Subjekt des Autors und der Autorin. Die Autoren beziehen ihre Biographie schreibend ein, beobachten ihre inneren Regungen, bringen sich 79 Arnold Glimcher und Marc Glimcher (Hg.), Je suis le cahier. Die Skizzenbücher Pablo Picassos, Hamburg 1986, 2. 80 Peter V. Zima, a. a. O., 268. 81 Peter V. Zima, a. a. O., 269. 82 Martin Nicol fordert eine „geistige Existenz“: „Die geistige Existenz des Pastor legens bewegt sich im Spannungsfeld von Intellektualität und Spiritualität“. In: Martin Nicol, Weg im Geheimnis, 283. 83 Fritz Lienhard weist nachdrücklich darauf hin, dass „im Pfarrberuf nicht von der Person abgesehen werden kann“ (Fritz Lienhard, Grundlegung der Praktischen Theologie, Leipzig 2012, 22.) und sieht die Herausforderung eines interdisziplinären Denkens, gerade weil die Kommunikation des Evangeliums außerhalb der Kirche kaum vorkommt. 84 Gunther Schmidt, Milton-Erickson-Institut Heidelberg. Navigieren im Nebel der Unklarheit und dabei geborgen im Ungewissen – Strategien des polynesischen Segelns u. von Effectuation: Kompetenz aktivierendes hypnosystemisches Coaching für Krisenmanagement. dbvc.de/fileadmin/user_upload/dokumente/ck_2012_praesentation_referenten/pr%E4sen tation%20dr.%20gunther%20schmidt.pdf. Zugriff 06. 12. 2013.

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mit ihrem konkreten Leben in den Text ein. Private Erfahrungen werden im Text aufgenommen, ohne unbedingt genau ersichtlich oder erkennbar zu sein, doch sie verdichten und vertiefen den Text.85 Es ist nicht möglich, einen Text zu schreiben, der von der eigenen Person abstrahiert, ohne die Haltung des Essayismus zu verlieren. Das Schildern schon einer persönlichen Erfahrung weckt das Interesse der Hörenden, die darauf hoffen können, Anregungen für ihr eigenes Leben zu gewinnen. Die Konzentration auf ein Erlebnis in der Kurzen Form wirkt dabei sogar verstärkend auf den Effekt. Zu viele geschilderte Erfahrungen können ablenken. Beobachtung. Die Autoren beobachten sehr genau und präzise und setzen das schreibend um. So kann auch in einem kurzen Text ein prägnanter Inhalt präsentiert werden. Zugleich werden ablenkende Ausschmückungen vermieden. Die präzise Beobachtung, die sich auch auf einen Ausschnitt des Beobachteten beschränken und diesen beschreiben kann, ist notwendige Voraussetzung für die Kurze Form der Predigt, da sie keinen Raum für ausführliche Darlegungen hat. Die Kurze Form ist die Herausforderung, auf treffende Bilder und sprachliche Wendungen zu achten. Begrenzung. Dem Essay und der Aufzeichnung gelingt es, sich zu begrenzen. Essay und Aufzeichnung müssen nicht alles sagen und erkennen die Chance des Fragments. Damit wird die Begrenzung nicht als Nachteil gesehen, sondern als sinnvoller Gestaltungsrahmen begriffen. Die Begrenzung lädt die Hörenden ein, eigene Assoziationen anzufügen und eigene Argumente zu finden – dies etwa bei der Kurzen Form, die als Traktat gestaltet ist. Der Essay verlangt keine umfassende Vollständigkeit– so besteht eine Nähe zur Kurzen Form der Predigt. Sprachliche Schönheit. Bacon „besaß das Geheimnis, Farbigkeit mit Durchsichtigkeit und Fülle mit Klarheit zu verbinden“.86 Das ist Anspruch und Herausforderung für jede Sprache, die Menschen erreichen will – auch für die Sprache der Kurzen Form der Predigt, für sie jedoch in besonderem Maße, weil sich in der Kürze auch die Wahrnehmung der Hörenden auf Details verstärkt. Sprachliche Mängel ebenso wie unstimmige Bilder werden in der Kurzen Form deutlicher wahrgenommen und erinnert als in der Langform. Ebenso wichtig ist die schlüssige Architektur des Textes in der Kurzen Form, die als Essay gestaltet ist. „Surplus an Erfahrung“87. Der Essay ist „das Versprechen auf ein Surplus an Erfahrung, die erotische Spannungslage zwischen Denken und Form in einer

85 Vgl. Christian Schärf, a. a. O., 266–267. 86 Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bern 21967, 397. 87 Christian Schärf, a. a. O., 23.

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existentiellen Entscheidungsszene.“88 Dieses Versprechen motiviert die Hörenden, sich auf die geschilderten Erfahrungen hörend einzulassen und fesselt die Aufmerksamkeit schnell. Dies ist für die Kurze Form wichtig, da ihr keine lange Einleitungsphase zur Verfügung steht. 6. Prozesshafter Diskurs. Der Essay ist offen angelegt und auf das Leben konzentriert – gegen einen vergeistigten Intellektualismus oder modernen Gnostizismus.89 Sowohl die Kurze Form, die als Traktat als auch die Kurze Form, die als Essay gestaltet ist, baut sich im Dialog auf. So werden die Hörenden in der Kurzen Form nicht ausgeschlossen, sondern in den Prozess mit einbezogen. Sie tragen ihre eigenen Erfahrungen und Argumente bei. 7. Aktualität. Walter Benjamin z. B. zeigt in den Essays der „Einbahnstraße“90 eine bestürzende prophetische Klarheit in der gesellschaftlichen Analyse. Die Kurze Form darf nicht auf gesellschaftliche Zeitgenossenschaft verzichten, weil menschliches Leben sich im Kontext ereignet – auch im Kontext politischer Diskurse und Bedingungen. Die Predigt hat auch eine prophetische Aufgabe. Durch ihre Prägnanz kann die Kurze Form diese ethische Herausforderung besonders gut erfüllen. Walter Benjamin war Essayist, doch die kurze literarische Textsorte der Wahl für Predigten, die sich mit ethischen Themen auseinandersetzen, ist der Traktat. 8. Punctum. Das was besticht, sowohl den Autor als auch den Leser bzw. sowohl die Predigerin als auch den Hörer. Predigende teilen mit den Hörenden das, was sie anrührt. Das können sowohl beglückende als auch schmerzvolle Erlebnisse sein. Die Kurze Form unterstreicht die Bedeutung des Moments. Der einzelne, besonders bestechende Moment wird herausgehoben. Da er nicht in eine Reihe mit anderen Erfahrungen oder Gedanken gestellt wird, betont die Kurze Form seine Einzigartigkeit wie eine Fassung den Edelstein.

88 Christian Schärf, a. a. O., 23. 89 „Das Prozeßhafte einer prinzipiellen Unabschließbarkeit des Diskurses prädestinieren den Essay dazu, als Essayismus die Grundhaltung eines radikal immanenten, antiplatonischen Denkens zu repräsentieren“. Christian Schärf, a. a. O., 35. 90 Walter Benjamin, Einbahnstraße, Frankfurt 1955.

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Die Person der Predigenden in homiletischen Konzeptionen

Nachdem ich im ersten Teil der Arbeit den Fokus auf den Text gelegt habe, soll nun der Mensch in das Zentrum der Überlegungen treten. Der Blick auf die Literaturwissenschaften, die die essayistische Existenz als Voraussetzung für den Essay betonen, hat die Person in den Fokus gerückt. Der schreibenden Person entspricht die predigende Person. Die Subjektivität der schreibenden Person verweist auf Überlegungen zur Person des Predigers und der Predigerin in homiletischen Konzeptionen. Deshalb soll nun die homiletische Diskussion zum Thema der Person der Predigenden gesondert gesichtet werden. Der Überblick über weitere Aspekte der Perspektiven der homiletischen Diskussion wird später in 5. erfolgen. Die praktisch-theologische Debatte hat eine ausführliche Debatte zur Person der Predigenden geführt, die es nun auszuführen gilt. Sie diskutiert die Gefahren und Chancen des „Ich“ in der Predigt. Die Diskussion über die Subjektivität der Predigenden ist spannungsvoll.91 Während in der Folge der Dialektischen Theologie – einmal abgesehen vom Entwurf Otto Haendlers – das Ich der Predigenden auf der Kanzel unter Generalverdacht stand, begannen Manfred Josuttis und Axel Denecke in den 1970er Jahren eine Neubesinnung zu diesem Thema. Die wegweisenden Überlegungen von Otto Haendler zur predigenden Person sind erst spät durch Axel Denecke und in jüngster Zeit durch Winfried Engemann wieder in das Bewusstsein gerückt worden. Die grundlegenden Überlegungen von Manfred Josuttis wurden von Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann im 21. Jahrhundert wieder aufgenommen und weiterentwickelt im Blick auf die Verbindungen, die während einer Predigt im Feld zwischen den Dimensionen des „Ich auf der Kanzel“ und der Aufnahme bei den Hörenden statthaben, mit Überlegungen zu Kommunikation, Inszenierung und performativen Sprechakten. Während Bieler und Gutmann das Subjekt der Predigenden auch im 21. Jahrhundert in den Fokus nehmen, wird im neuesten homiletischen Entwurf von Wilhelm Gräb die Behandlung des Themas explizit abgelehnt.92

91 Einen Überblick über die Diskussion bietet Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 122–136. 92 Gräb verzichtet auf Reflexionen zur Subjektivität der Predigenden, weil er eine Selbstreflexion als sowieso selbstverständliche Voraussetzung der Predigtvorbereitung begreift und überdies eine Verdunklung der Funktion der Subjektivität der Predigenden im Prozess der religiösen Rede befürchtet, wenn diese Subjektivität direkt betrachtet wird. Vgl. Wilhelm Gräb, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 82–83.

Die Person der Predigenden in homiletischen Konzeptionen

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Eine zukunftsgerichtete Konzeption in Kriegs- und Nachkriegszeit in Ostdeutschland: Otto Haendler93

Stark beeinflusst von der Psychoanalyse vor allem C.G. Jungs setzt Haendler in seiner prinzipiellen Homiletik bei der Person des Predigers an, den er als Subjekt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, und analysiert von diesem Subjekt aus materiale und formale Fragen der Homiletik. Die dritte Auflage erscheint 1960 in Berlin, ein Jahr vor dem Mauerbau. Die Teilung Deutschlands verhinderte wahrscheinlich eine frühere Rezeption der Gedanken Haendlers in Westdeutschland. Wenn Otto Haendler 1941 im Vorwort zu seiner Homiletik festhält, dass „die Tiefenpsychologie eine immer steigende Bedeutung gewonnen“ hat und deshalb eine „gründliche Besinnung auf ihre Bedeutung… deshalb für die Theologie wie für die Kirche unerläßlich“94 ist, dann ist das in dieser politischen Situation nicht nur ein wichtiger, neuer Impuls für eine neue homiletische Konzeption, es ist vor allem mutig! Denn die Bücher Sigmund Freuds waren verbrannt worden, die C.G. Jungs waren ab 1939 verboten. Es ist daher außergewöhnlich, dass Otto Haendler auf die Bedeutung der Tiefenpsychologie hinweist und ihre Anwendung auf alle Gebiete theologischer und kirchlicher Arbeit und eine kritische Diskussion von Christentum und Psychologie fordert.95 „Denn diese ist, wie jede echte Begegnung, für beide Beteiligte Geschenk und Forderung zugleich.“96 Die bedrängende politisch-gesellschaftliche Situation prägt das Buch, Haendler empfindet und benennt umstürzende Gegenwart, die Menschen zutiefst aufwühlt.97 In dieser Situation fragt er neu nach der Person und dem Wesen des Menschen, ja nach seiner „kosmischen“ Situation.98 Damit verknüpft ist auch ein neues Fragen nach der Person des Predigers (Haendler hat zeitbedingt nur Prediger im Blick). Prediger sollen das Leben von der „Wirklichkeit Gottes her durchleuchten“99, sich den drängenden Fragen einer erschütterten Menschheit stellen, in der Predigtarbeit die Krisen und Kämpfe der Menschen teilen und aus dieser Situation nach der Gegenwart Gottes fragen. Weder das Evangelium noch das Wesen der Zeit sollen verraten werden. Gegen eine prinzipiell-abstrakte Homiletik fordert Haendler einen Weg, der die Not der Prediger wendet. Es verwundert nicht, dass Haendler in der politi93 Otto Haendler, Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, Berlin ³1960. 1. Auflage Greifswald-Neuenkirchen 1941. 94 Otto Haendler, Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. In: Otto Haendler, a. a. O., VII. 95 Vgl. Otto Haendler, a. a. O., VII. 96 Otto Haendler, a. a. O., VII. 97 Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 1. 98 Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 2. 99 Otto Haendler, a. a. O., 7.

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schen Gegenwart von Nationalsozialismus und DDR die fehlenden geistlichen Bewegungsmöglichkeiten der Prediger beklagt.100 Er vermisst eine angemessene Schulung der Predigenden, eine Predigterarbeitung, die im Horizont geistlicher Wirklichkeiten geschieht. Nach diesem Befund setzt Haendler beim Subjekt des Predigers an, dem bisher im Homiletischen Dreieck die geringste Aufmerksamkeit zukam, und definiert ihn als Ausgangs- und Orientierungspunkt.101 Dabei denkt Haendler ganzheitlich und versteht das Subjekt in der Gesamtheit aller Bezüge, was einem Subjektivismus entgegensteht und zugleich einer einseitigen, den Menschen auf seine Ratio begrenzenden Sicht. Die „Grenzüberschreitung“102 zur Psychologie (Haendler schließt sich vor allem an C.G. Jung an) eröffnet eine tiefere Sicht auf den Menschen. Es sei ein Irrweg zu meinen, man könne das Subjekt aus der Predigt ausschalten, da jede Predigt bestimmt wird durch die Persönlichkeit jedes Menschen, seine persönliche Zugangsweise zu einem Text, die durch seine Erfahrungen, sein Alter und die damit verbundenen Entwicklungsstufen und zugleich vom Kontext der Kirche geprägt ist. Das Subjekt des Predigers analysiert Haendler in einer Tiefengliederung, die seine bewusste und unbewusste Psyche, seine Geschichte und Kraft umgreift. Er nennt es nicht Ich, er nennt es – im Anschluss an Jung – das Selbst. „Das Selbst ist der richtungsgebende Faktor, der die Person im Sinne des von vornherein gegebenen Urbildes leitet.“103 In diesem Selbst wirken die Archetypen, die niemals exklusiv, sondern in unterschiedlicher Stärke ausgebildet sind. Der Mensch hat die Aufgabe, den jeweils schwächer ausgeprägten Teil seiner Persönlichkeit herauszuarbeiten und damit zu stärken.104 Wichtig wird dies bei der Verwendung von Bildern und Gleichnissen in der Predigt, die stimmig sein müssen mit dem Typ des Predigers, weil nur so die Predigt bei den Hörenden wirksam und hilfreich werden kann. Diese Selbstfindung ist nach Haendler jedoch kein Kreisen ums eigene Ego, sondern ein Weg zu Kraft und Weisheit, die sich aus einer Verbindung der Tiefenpersönlichkeit mit dem Inhalt der Verkündigung speist. Der Weg zum Selbst durchläuft Krisen, prüft Abhängigkeiten und Übertragungen und durchmisst idealerweise einen Reifungsprozess. „Selbstfindung bedeutet also beides: Heranreifen zur in sich selbst ruhenden Persönlichkeit und Sichhingeben an den Dienst der Gemeinschaft.“105 Der enge persönliche Kontext (persönliches Schicksal, Amt, Bildung, Pfarrhaus, Charakter, Arbeitsweise und Erbmasse (sic!)) des Predigers finden Einfluss auf die Predigt. Auf dem Weg zur Predigt betont Haendler die Meditation, das 100 101 102 103 104 105

Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 14. Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 19. Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 27. Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 57. Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 62. Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 71.

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Gebet und die Bedeutung von Bildern, er unterstreicht (auch hier stark von C.G. Jung beeinflusst), „daß das Wesenhafte des Seins nur im Bilde faßbar ist. Es ist ein rationaler Irrtum zu meinen, daß der Begriff das Eigentliche fasse, das bildhafte Schauen das Uneigentliche. Mit dem logischen Erfassen erreichen wir vielmehr überhaupt nur einen begrenzten Teil der Welt, und gerade da, wo das Wesentliche anfängt, sind wir auf das bildhafte Schauen angewiesen.“106 Seine Kompetenz als praktischer Theologie beweist Haendler auch dadurch, dass er die Praxis im Blick hat, nämlich den weiteren Kontext der Kirchengemeinde mit ihren Erwartungen und Wünschen, ihrer Geborgenheit und Fremdheit. Die Überlegungen münden in ganz praktische Hinweise zur sprachlichen Gestaltung, zu Fehlern in der Predigt, zum Memorieren und der Gestaltung des Morgens vor dem Gottesdienst. Prediger sollen sich nach Haendlers Meinung an Literatur schulen. Er hat als übliche Predigtdauer 20 bis 25 Minuten vor Augen und warnt vor Predigten, die von Anfang an langweilen. Wenn eine Predigt erfrischend wirken soll, muss sie nach Haendlers Ansicht über das Alltägliche hinausweisen und Größe, Weite und Tiefe zeigen.107 Die Teilung Deutschlands und die Tatsache, dass Haendler im Osten lehrte, mag eine Erklärung dafür sein, dass seine Thesen erst spät rezipiert werden – möglicherweise ist er mit seiner Aufnahme der Psychoanalyse aber für eine unmittelbare Rezeption seiner Zeit zu sehr voraus.

2.2.

Neubesinnung in Westdeutschland, Aufnahme der Ideen Haendlers nach der Wiedervereinigung und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Die Dialektische Theologie hatte vehement gegen das „Ich auf der Kanzel“ Einspruch erhoben. Die Predigenden müssten respektieren, dass die Kluft zwischen Gott und Mensch so unendlich groß sei wie die zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Himmel und Erde.108 Die Predigenden dürfen daher nicht von sich selbst reden, wenn sie von Gott reden. In der Predigt soll es um Gott gehen, nicht um den Menschen. Fromme Menschlichkeit oder persönliche Erfahrungen sollen daher nicht Gegenstand der Predigt sein. Menschliche Religion darf niemals mit der Offenbarung Gottes verwechselt werden. Es geht um Gotteserkenntnis und Gottesverkündigung. Wer von Gott reden will, muss von sich selbst schweigen. Als Sünder kann der Mensch überhaupt nur dank Gottes Hilfe von Gott reden, niemals aufgrund seiner eigenen Kräfte. Der Zeuge sollte niemals auf 106 Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 159. 107 Vgl. Otto Haendler, a. a. O., 279. 108 Vgl. Eduard Thurneysen, Die Aufgabe der Predigt (1921). In: Gerd Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 108.

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sich, sondern auf die Offenbarung verweisen. Diese Argumente haben die Homiletik geprägt. Das „Ich auf der Kanzel“ war in der Predigt im Gefolge der Dialektischen Theologie zunächst völlig verpönt. Von Manfred Josuttis werden in den 1970er Jahren die Chancen und Notwendigkeiten des Ichs auf der Kanzel neu entdeckt – auch mit Hilfe psychotherapeutischer Argumentation. Er differenziert zwischen einem verifikatorischen „Ich auf der Kanzel“, das er mit den Argumenten der Dialektischen Theologie entschieden ablehnt, und einem konfessorischen, biografischen, repräsentativen, exemplarischen und fiktiven „Ich auf der Kanzel“, das je eine eigene Berechtigung hat. Aus tiefenpsychologischer Perspektive und angesichts einer in der Lebensund Geisteswelt (Astrologie, Denkformen, Funktionen, Neuroseformen) zu beobachtenden Vierer-Gesetzmäßigkeit erkennt Fritz Riemann vier Grundformen der Persönlichkeit, die sich auch in den Persönlichkeiten von Predigenden wiederfinden. Er benennt die typischen Themen dieser Typen, die Störungen, die zu diesen Typen führen, die Chancen reifer Typen und die spezifischen Gefahren ekklesiologischer Schädigungen. Die vier „Grundformen der Angst“ von Fritz Riemann sind für Axel Denecke hermeneutischer Schlüssel zu der Persönlichkeit der Predigenden, der Hörenden und der biblischen Texte, die zu einem persönlichen Predigen ermutigen wollen. Mit Hilfe humanwissenschaftlicher Modelle, neben Sigmund Freud und C.G. Jung vor allem Fritz Riemann und die Transaktionsanalyse Eric Bernes, analysiert Wilfried Engemann Typen des Subjekts der Predigt. Die Erschließung von Grundtypen von Predigenden wird durch eine Vierer-Typologie geleistet, die Probleme und Chancen der Typen darstellt. Authentizität, Originalität und Kongruenz werden als Grundvoraussetzungen herausgearbeitet. Im 21. Jahrhundert ist die klassische Debatte um das Ich in der Predigt eher ein historischer Rückblick und keine leidenschaftliche Auseinandersetzung mehr. Es ist selbstverständlich geworden, humanwissenschaftliche Erkenntnisse abgewogen zu integrieren. Neu ist der Genderaspekt, der z. B. von Albrecht Grözinger betont wird.109 In den gesellschaftlichen Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts wird die Persönlichkeit der Predigenden neu definiert als wahrnehmende, leiborientierte Haltung, die Predigende durchlässig macht für Gottes Wirklichkeit.

109 Vgl. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 131–132.

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2.2.1. Manfred Josuttis Nach dem schwerwiegenden Einwand der Dialektischen Theologie gegen das Ich des Predigers auf der Kanzel stellt Manfred Josuttis in seinem 1974 zuerst erschienenen Beitrag das Ich des Predigers erneut zur Diskussion.110 Er konstatiert: „Im Gegensatz zu den Schriftstellern haben die Prediger heute Schwierigkeiten, Ich zu sagen.“111 Josuttis würdigt zunächst die theologischen Einwände der Dialektischen Theologie gegen menschliche Selbstdarstellung frommer Erfahrungen, wohingegen die Predigt über Gott allein sprechen sollte. Göttliches und Menschliches sollen nicht vermischt werden. Nicht auf der Person des Predigers soll der Fokus liegen, sondern auf der Botschaft des Textes. Ein verifikatorisches „Ich auf der Kanzel“, das versucht, die Rede von Gott durch den Predigenden zu beglaubigen, ist abzulehnen.112 Die Abgeschlossenheit der Offenbarung macht das Ich überflüssig. Das verifikatorische Ich lenkt die Hörenden in die verkehrte Richtung, auf den Verkündiger und nicht auf das, was zu verkündigen ist. Menschliche Erfahrungen sollen in der Predigt nicht thematisiert werden, weil so der Mensch an die Stelle Gottes gestellt wird. Das Heil ist nicht vom Menschen abhängig. Allerdings problematisiert Josuttis auch den Einspruch der Dialektischen Theologie. Das „Ich auf der Kanzel“ kann zwar gewiss ein Ausdruck menschlichen Hochmuts sein, der Verzicht darauf genauso aber auch Folge menschlicher Trägheit, die vor der Verpflichtung zurückscheut, verantwortlich Zeugnis abzulegen. Josuttis benennt auch außertheologische Argumente gegen das Ich auf der Kanzel. Unter Bezug auf Max Horkheimer identifiziert er ein Interesse der Gesellschaft, den Einzelnen mit eiserner Disziplin dem Gesetz der Pflicht zu unterwerfen. Es besteht eine bürgerliche Kritik am bürgerlichen Egoismus, weil diejenigen, die Ich sagen, als Spielverderber die Spielregeln der Gesellschaft und das Gleichgewicht der Gruppe gefährden und ihr Strukturveränderungen zumuten.113 Josuttis analysiert: „Das Ich in der Gruppe ist auch immer eine Kampfansage im Streit um die Macht. Wer es gebraucht, bricht aus der Gefolgschaft der Wir-Sager aus, bedroht nicht nur die Gruppe als solche, sondern vor allem diejenigen, die ihre leitende Gruppenposition deswegen innehaben, weil ihr Ich sich den anderen gegenüber durchgesetzt hat.“114 Ein kleiner Teil, der

110 Manfred Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion: Grundprobleme der praktischen Theologie, München ³1983. 111 Manfred Josuttis, a. a. O., 71. 112 Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 74. 113 Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 76. 114 Manfred Josuttis, a. a. O., 77.

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Macht hat, zwingt den größeren Teil der Menschheit dazu, auf Glück zu verzichten, um Markt und Moral zu erhalten.115 Als drittes Argument gegen das „Ich“ führt Josuttis die Ausbildungssituation der Theologiestudenten an, in der die Studenten auf der Suche nach emotionaler Stabilisierung sind und verhängnisvollerweise auf eine Ausbildung treffen, die emotionale Bedürfnisse nicht berücksichtigt und angestrebte oder mitgebrachte Sinnzusammenhänge destruiert. Studenten sind verunsichert durch innere Zweifel und durch die Anfragen durch Kommilitonen, die die Entscheidung zum Theologiestudium hinterfragen. Durch Religionskritik wird den Studenten vermittelt, dass das Ich ein Störfaktor ist, das für Predigt und Wissenschaft hinderlich ist.116 Auf diesem Hintergrund führt Josuttis Gründe für das Ich auf der Kanzel an. Das konfessorische, biographische, repräsentative, exemplarische und das fiktive Ich auf der Kanzel ermöglichen den mündigen Hörer, der bei einem Pfarrer, der bewusst Ich sagt, überlegen muss, was sein eigenes Ich sagen will. Daher kann das Ich auf der Kanzel theologisch und homiletisch legitim sein. Das konfessorische Ich zeigt am Beispiel des eigenen Lebens die grundsätzliche Differenz zwischen der Wahrheit der Sache Gottes und der Wirklichkeit der menschlichen Existenz. Das biographische Ich weist zurückhaltend und nüchtern auf die Tiefendimensionen des Lebens, präsentiert menschliche Erfahrungen und interpretiert den Text auf diesem Horizont. Es zeigt, dass die Bibel und ihre Tradition mit menschlichen Erfahrungen zu tun haben. Das repräsentative Ich ist ein Wir in konzentrierter Form und steht für die Anfragen, Zweifel und Erfahrungen der Hörer, für das Wir der Gemeinde, so dass sich die Hörer mit diesem Ich identifizieren können. Das exemplarische Ich zeigt das Ich als ersten Hörer des biblischen Textes und schlägt dem Hörer damit Interpretationsmöglichkeiten vor. Der Text wird nicht mit der Biographie des Predigers begründet, sondern es wird gezeigt, was der Text für die Biographie des Predigers bedeutet. Das fiktive Ich hat seinen Ort etwa in narrativen Predigten, um in der Rolle einer erfundenen Person das Evangelium zu erläutern. Alle diese Formen sind möglich, manchmal sogar notwendig. Manfred Josuttis verteidigt mit den genannten Formen des „Ich“ in der Predigt die Subjektivität des Menschen, die auch in der Predigt ihr Recht hat.117 Er schließt: „Auch hinsichtlich der Verwendung des Ich kann der Prediger von den Schriftstellern lernen.“118 Hingegen kann der Hörer gegen einen Pfarrer, der nur „Wir“ sagt, lediglich aufbegehren. Josuttis sieht die untrennbare Verbindung zwischen Verkündigung 115 116 117 118

Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 78. Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 79–80. Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 91–94. Manfred Josuttis, a. a. O., 94.

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und Bekenntnis119 und verweist darauf, dass man nur in der Gemeinschaft mit anderen, also im sozialen Kontakt, lernt, „Ich“ zu sagen.120 Gruppenarbeit könne daher helfen, das Ich des Theologen zu stärken, wenn sie sich zum Ziel setzt, theologische Aussagen mit personalen Emotionen zu vermitteln, sie auch Kritik auszusetzen und sie nicht zur Verteidigung der eigenen Existenz zu missbrauchen. Josuttis fordert, dass die gesellschaftliche Stellung des Theologen mit seiner persönlichen Einstellung vermittelt werden muss. Schließlich soll die IchBildung in der Gruppe der Kritikfähigkeit des Theologen eine stabile Basis geben.121 Diese Thesen sind gedanklich und sprachlich ganz offensichtlich von der gesellschaftspolitischen Situation Anfang der 1970er Jahre geprägt.122

2.2.2. Fritz Riemann Fritz Riemann123 reflektiert auf Anregung von Richard Riess124 über die „Persönlichkeit des Predigers aus tiefenpsychologischer Sicht“125. Er konstatiert eine regelmäßig wiederkehrende Vierersystematik im Denken und Leben der Menschen, sowohl in den Elementen der Astrologie als auch in den Stufen der frühkindlichen Entwicklung und den entsprechend sich ausformenden Neurosen. Diese Beobachtungen führen ihn zu einer Einteilung in vier Persönlichkeitstypen, die jeweils ein bestimmtes Lebensthema bestimmt: 1. Der schizoide Mensch und die Erkenntnis, 2. Der depressive Mensch und die Liebe, 3. Der zwanghafte Mensch und das Gesetz und 4. Der hysterische Mensch und die Freiheit. Der schizoide Typ wird nach Riemanns Ansicht durch Störungen (Reizmangel oder Reizüberflutung) innerhalb der ersten drei Lebensmonate geprägt. Predigende mit dieser Persönlichkeitsstruktur sind unbequem für leitende Gremien. Wahrheitserkenntnis und Echtheit geht hier über Einfühlung, dabei verfügen diese Typen über das Potential, zu unabhängigen Freidenkern zu werden, da sie 119 120 121 122

Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 87. Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 88. Vgl. Manfred Josuttis, a. a. O., 90. Die Kritik des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs war nach 1968 ein Zug der akademischen Diskussion. Zur Gruppenarbeit vgl. Horst Eberhard Richter, Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen, Hamburg 1972. 123 Fritz Riemann, Die Persönlichkeit des Predigers aus tiefenpsychologischer Sicht. In: Wilfried Engemann, Frank M. Lütze (Hg.), Grundfragen der Predigt, Leipzig 2006, 61–77. Zuerst erschienen 1974. 124 Vgl. die Hintergrundinformation zur Entstehung des Aufsatzes durch Frank M. Lütze, Typologie des Predigers: Fritz Riemann, a. a. O., 48. 125 Fritz Riemann, a. a. O., 61.

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innerlich ungebunden und unabhängig sind. Humanität und Ehrfurcht vor der Schöpfung kennzeichnen ihre innere Haltung. Reife Vertreter dieses Typs können daher auch für kirchenleitende Institutionen unbequem werden und kindliche Gläubige verwirren. „Ecclesiologische Schädigungen“126 können Predigende dieses Typs verursachen, wenn sie Gläubige überfordern. Der depressive Typ wird nach Riemanns Ansicht durch Störungen (Verwöhnung oder Versagung) innerhalb der letzten Monate des ersten Lebensjahres geprägt, Trennungs- und Verlustängste sind die Folge. Predigende dieses Typs sind geborene Seelsorger, sie leben Glaube in Hilfe. Allerdings kann diese Haltung dazu führen, dass sie sich selbst vergessen. Depressive Predigende sind kindlich gläubig oder falsch-demütig. Ekklesiologische Schädigungen können dadurch entstehen, dass der depressive Typ Kritik an Kirche und Gott als bedrohlich empfindet und die Gläubigen entsprechend in „masochistische oder unmündige“127 Haltungen zwingt. Weil sie selbst zu viel Nähe brauchen, wahren die depressiven Typen nicht notwendige Distanz. Der zwanghafte Typ wird nach Riemanns Ansicht durch Störungen (Überforderung z. B. in der Sauberkeitserziehung oder fehlendes Setzen gesunder Grenzen und Ordnungen) zwischen dem zweiten bis fünften Lebensjahr geprägt, die in den Grundkonflikt „darf ich oder darf ich nicht“128 münden. Predigende dieses Typs sind Vorbilder, die jedoch leicht andere überfordern. Sie sind Dogmatiker, die Traditionen und Formalitäten überbewerten und Neuerungen und Wandlungen angstvoll gegenüberstehen. Die gesunde Form finden zu dienender Verantwortung, dieser Typ kann jedoch nach Riemanns Ansicht größte ekklesiologische Neurosen auslösen, da er die Gläubigen unmündig hält und mit Strafe und Belohnung arbeitet. Zwangsneurotiker dieses Typs bestimmten die Inquisition, verdrängte Sexualität führt zu gefährlichen Verhaltensweisen, Predigende dieses Typs sind intolerant anderen Denk- und Glaubensformen gegenüber, mit sadomasochistischen Zügen. Reife Vertreter dieses Typs können jedoch zu menschlich hochstehenden Vorbildern werden. Der hysterische Typ wird nach Riemanns Ansicht durch Störungen in der phallischen Phase zwischen dem fünften bis sechsten Lebensjahr durch schillernde, unverlässliche oder unreife Erziehende, die dem Kind keine Sicherheit geben, geprägt, was zu einer Stagnation in magischer Wunsch- und Phantasiewelt führt. Predigende dieses Typs sind unsicher, entwickeln keine kontinuierliche Persönlichkeit. Ihre Berufsentscheidung zum Pfarramt geschieht häufig aus Geltungssucht. Sie werden zu Stars in ihrem familiären oder beruflichen Umfeld,

126 Fritz Riemann, a. a. O., 65. 127 Fritz Riemann, a. a. O., 69. 128 Fritz Riemann, a. a. O., 70.

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zu „Schwärmern, Führern und Verführern“129, denen die Maske kirchlicher Ämter wichtig ist; im reifen Zustand zu Leitbildern, die „Hoffnung, Verheißung, Daseinsfreude und Lebensfreude“130 in der Freiheit des Christenmenschen verkünden. Riemann unterstreicht, wie wichtig es ist, dass Predigende bei ihren Hörenden alle vier Elemente verstehen und ansprechen können und die eigene Persönlichkeit mit ihren Chancen und Gefahren erkennen. Mithilfe der Psychotherapie in Einzel- und Gruppentherapie können Predigende eigene neurotische Verhaltensweisen ablegen.

2.2.3. Axel Denecke Friedemann Schulz von Thun stellt erstaunt fest, dass Axel Denecke schon 1979131 kommunikationspsychologische Aspekte in seine Homiletik eingearbeitet hat,132 und für sein Konzept „persönlich predigen“ vier Seiten der Kommunikation (Sachinhalt, Appell, Beziehungshinweis und Selbstkundgabe) voraussetzt. Kommunikation soll stimmig sein, authentisch und in Übereinstimmung mit der Wahrheit der Situation. Nicht ein abstrakt objektiv „Bestes“, sondern das, was je und je persönlich bedeutsam ist, lässt die Kommunikation lebendig werden. Allerdings ist Authentizität keine Seelenschau. Die Kenntnis der eigenen Beweggründe geht der Rede voraus, der zu verkündigende bzw. zu vermittelnde Inhalt wird in Bezug zum eigenen Leben gesetzt. Die spezifische Unterschiedlichkeit von Menschen wird mit der Persönlichkeitslehre von Fritz Riemann als erkenntnisleitendem Modell erläutert, wobei Schulz von Thun besonders betont, dass es um die Chancen und Qualitäten der jeweiligen Stile, erst in zweiter Linie um deren Beschränkungen geht, und dass es in einem Entwicklungsprozess darum geht, dies herauszufinden, ja dazuzuerobern133. Den Zugang zu seinem Modell hat Denecke seinerseits in einem „homiletischen Bekehrungserlebnis“134 gewonnen. Er hatte bei einem Gottesdienst in einer Justizvollzugsanstalt das Predigtmanuskript vergessen, die Situation war schwierig und er entschloss sich, ganz persönlich von sich und seinem Glauben zu erzählen – und das recht kurz, etwa 10 Minuten. Von dieser Ansprache war ein anwesender Kirchenvorsteher sehr angetan, auch weil er zum ersten Mal etwas Persönliches von seinem Pfarrer gehört hatte. „Ich konnte mich in diesem Au129 Vgl. Fritz Riemann, a. a. O., 75. 130 Fritz Riemann, a. a. O., 75. 131 Axel Denecke, Persönlich Predigen. Mit einem kommunikationspsychologischen Geleitwort von Friedemann Schulz von Thun, Münster/Hamburg/London ²2001. 132 Axel Denecke, a. a. O., V. 133 Vgl. Axel Denecke, a. a. O., VII. 134 Axel Denecke, a. a. O., 17–19.

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genblick tatsächlich nicht mehr verstecken hinter Sachautoritäten, hinter theologischen, soziologischen oder auch psychologischen Richtigkeiten, nicht einmal hinter einem Redemanuskript. Ich mußte mit meiner Person in die Bresche springen… Ich habe in dieser Situation persönlich predigen gelernt“135. Denecke konstatiert, dass aufgrund des bestimmenden „homiletischen Hauptstroms“136 der Dialektischen Theologie die Persönlichkeit des Predigers im Hauptstrom „fast vollständig versickert war.“137 Als herausragende Ausnahme bezieht sich Denecke auf Otto Haendler und auf Manfred Josuttis. Bei Haendler entdeckt er bereits eine vierfache Typisierung der Menschen in introvertierte und extrovertierte, rationale und intuitive Typen, die der Prediger im Blick auf seine eigene Person reflektiert haben sollte. Bei Josuttis vermisst Denecke praktische Hilfestellungen, um zu einem verantworteten Ich auf der Kanzel zu kommen. Denecke konstatiert für den Stand der 1970er Jahre ein verstärktes Interesse, interdisziplinär die Predigtkultur voranzutreiben, etwa unter kommunikationswissenschaftlichen, lernpsychologischen, sprachwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Gesichtspunkten. Jedoch vermisst er nach wie vor eine genaue Auseinandersetzung mit der Person des Predigers. Mit Abgrenzungen und Kriterien entwickelt er Leitlinien zu einer persönlichen Predigt, deren Umsetzung er erreichen will durch eine Weiterentwicklung der Einteilung in Predigttypen, wobei Denecke nicht negativ wertend138, sondern positiv aufbauend wirken will. Auf der Grundlage des Modells von Fritz Riemann entwickelt Denecke vier verschiedene Typen von Predigern: Den „verantwortungsvollen Prediger der Ordnung“, den „wandlungsfähigen Prediger der Freiheit“, den tiefsinnigen Prediger der Erkenntnis“ und den „einfühlsamen Prediger der Liebe“. Diese Typen agieren im Kommunikationsmodell zwischen Dauer, Wandel, Distanz und Nähe in einer spezifischen Gewichtung, ihre Predigten sind durch die Schwerpunktsetzung geprägt. Denecke analysiert Beispielpredigten und entwickelt Lernschritte. Er stellt fest, dass Predigttypen sich je nach Typ verstecken und dass dies Kommunikationsstörungen hervorruft. Deshalb ermutigt er zu einer bewussten und offenen Kommunikation, die um die eigene Typisierung weiß. Die Reaktion von Hörern differenziert er mit Hilfe des Modells von Rie-

135 Axel Denecke, a. a. O., 19. 136 Vgl. Axel Denecke, a. a. O., 21–25. 137 Axel Denecke, a. a. O., 22. Allerdings nimmt Denecke in seinem Nachwort von 2001 einiges von seiner Kritik zurück: „Ich bin damals wirklich über das Ziel hinausgeschossen.“ A. a. O., 177. 138 So bewertet – bei aller Würdigung – Denecke den Ansatz von Piper, Axel Denecke, a. a. O., 38.

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mann aus und versucht sie so verständlich zu machen. Auch in den biblischen Texten entdeckt Denecke ein „Kommunikationsprofil des biblischen Autors“139.

2.2.4. Albrecht Grözinger Im Rahmen seiner Darstellung der Diskussion über das „Ich auf der Kanzel“ weist Grözinger140 auf die Transaktionsanalyse als wichtige, wenn auch in ihrem Erkenntnisgewinn nicht überzustrapazierende141, humanwissenschaftliche Perspektive hin. Gleiches gilt für die Analyse der Predigertypen nach Fritz Riemann, zumal die Zuordnungen zu Predigttypen durch Engemann sehr abstrakt seien. Jedoch können beide therapeutischen Ansätze Hilfe zur Selbstbeobachtung und Selbstanalyse sein. Zum „Ich auf der Kanzel“ gehört auch die Genderdebatte, die die Leiblichkeit der Predigenden ernst nimmt. Grözinger formuliert Forderungen: Es gelte, die Geschichte der Geschlechterkonstruktion in Gottesdienst und Predigt aufzuarbeiten und über gendersensible Sprache nachzudenken. Pfarrerinnen und Pfarrer müssten selbst genderbewusst sein und sich entsprechend immer wieder positionieren.142 Grözinger unterscheidet zwei Ebenen bei der Frage nach der Person der Predigerin und des Predigers. Zunächst die Ebene des faktischen Sachverhalts, dann die Ebene des Konzeptionellen. Jede Predigerin kommt in der Predigt vor – ob sie das will oder nicht –, und jeder Prediger entscheidet im Rahmen seiner homiletischen Konzeption, ob er in der Predigt vorkommen möchte. Gegen das Konzept „Persönlich Predigen“ ist der Vorwand der Versubjektivierung vorgebracht worden, Grözinger verteidigt dagegen einen bewusst gestalteten persönlichen Anteil in der Predigt als Hilfe gegen einen falschen Subjektivismus.143 Insgesamt hält Grözinger fest, dass Homiletik die Bedeutung der Person des Predigers bzw. der Predigerin würdigen muss und dieses Thema trotzdem viel zu wenig beachtet wird. Die Situation zunehmender Distanzierung in der Gesellschaft, multireligiöse Tendenzen und Traditionsverlust verlangen geradezu, dass Predigende ihre Persönlichkeit erkennen lassen.144 Keinesfalls soll es darum gehen, die Predigenden als „Vorbilder im Glauben“ zu überfordern. Allerdings: „Von Gott kann nicht in der Weise eines ‚Über-etwas-Reden‘ gesprochen werden, sondern nur in der Weise eines verwickelnden Redens, das die eigene Existenz und die eigenen Erfahrungen nicht ausblendet.“145 139 140 141 142 143 144 145

Axel Denecke, a. a. O., 152. Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008. Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 128. Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 131–132. Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 133. Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 135. Albrecht Grözinger, a. a. O., 135.

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Abschließend zitiert Grözinger aus einer seiner Ansicht in ihrer Balance zwischen Identität und Differenz, zwischen Distanz und Nähe nach vorbildlichen Predigt von Klaus Berger. Diese Predigt ähnelt jedoch eher einem Gebet als einer Rede, die auch die Hörenden einbezieht. Zudem weist sie umgangssprachliche Elemente auf. Berger sagt: „es macht mich wahnsinnig, dich ertragen zu müssen, deine Gegenwart nervt mich“146. In dem von Grözinger zitierten Abschnitt werden die Hörenden nicht wahrgenommen. Sie sind gezwungen, einer Rede des Predigenden an Gott zuzuhören, die teilweise so intim wirkt, dass man sich wie der Lauscher am Schlüsselloch vorkommt: „Lass mich in Ruhe mit dir. Verschone mich mit deinem Angesicht. Schau weg.“147 Unvermittelt werden die Hörenden dann vereinnahmt: „Herr, befreie uns von dir, von der ewigen Verantwortlichkeit vor dir“148, um gleich im nächsten Satz keine Rolle mehr zu spielen: „um solche Freiheit von dir und deinen Ansprüchen und Forderungen wage ich zu bitten.“149 Ich meine, dass die sinnvolle Neubesinnung auf das Ich der Predigenden nicht in umgekehrter Pendelbewegung die Hörenden aus dem Blick verlieren sollte.

2.2.5. Wilfried Engemann Engemann150 greift die Überlegungen von Otto Haendler wieder auf, unterstreicht deren konzeptionelle und methodische Relevanz151 und verteidigt Haendler gegen den Vorwurf des Subjektivismus. Engemann stellt klar, dass gerade ein Reflektieren über das Subjekt des Predigers das Interesse von Evangelium und Hörern vertritt. Dabei sieht Engemann bei Haendler das Subjekt des Predigers nicht als abstraktes Ideal definiert. Vielmehr gelte es, dieses Subjekt auszubilden und zu schulen – und dies in bewusster Zeitgenossenschaft. Engemann würdigt die Pionierarbeit Haendlers in einer Zeit, die dank des Generalverdachts gegenüber der Person des Predigers der „Vernachlässigung kreativer und der Verdrängung destruktiver psychischer Kräfte lange Zeit Vorschub geleistet“152 hat. Dabei ist die Frage nach dem Subjekt der Predigt eine „Schlüsselkompetenz“153. Zur Entwicklung dieser Schlüsselkompetenz können sich homiletische Konzepte an den Humanwissenschaften orientieren. Die Persönlichkeit der Predigenden wird mit Hilfe verschiedener Modelle analysiert. Engemann beschreibt 146 147 148 149 150 151 152 153

Albrecht Grözinger, a. a. O., 135. Albrecht Grözinger, a. a. O., 135. Albrecht Grözinger, a. a. O., 136. Albrecht Grözinger, a. a. O., 136. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen ²2011. Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 38. Wilfried Engemann, a. a. O., 42. Wilfried Engemann, a. a. O., 43.

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die Modelle von Sigmund Freud, C.G. Jung und Eric Berne und die Konvergenzen dieser drei Modelle. Im Kontext der Freudschen Psychoanalyse definieren die Predigenden die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Person als homiletische Aufgabe.154 C.G. Jung hat noch stärker als Freud die homiletische Debatte beeinflusst. In einem Prozess der Selbstverwirklichung kommen die Predigenden zu personaler Präsenz und Kompetenz. Haendler hatte den Begriff der Assimilation eingeführt, wobei durch seine Definition deutlich wird, wie eng Haendler Predigt und Persönlichkeit der Predigenden verbunden sehen will und die Chance dieser engen Verbindung begreift: „‚Assimiliert‘ ist eine Predigt insofern, als das, was sie zur Sprache bringt, mit dem Selbst verbunden und darin originales Zeugnis ist. Ein originales Zeugnis ist – anders als das originelle – immer schöpferisch, mag auch seine Ausdrucksweise eher schlicht und unoriginell sein.“155 Die Assimilation soll durch Meditation unterstützt werden. „Angeleitet von der Sachkunde eines Therapeuten oder durch entsprechende Literatur, können die so ermöglichten Wahrnehmungen anhand von Träumen, Mythen und Märchen, aber auch durch Gleichnisse und christliche Symbole weiter vertieft und kommuniziert werden.“156 Schließlich wird die Transaktionsanalyse Eric Bernes im Blick auf ihre Bedeutung für das Subjekt der Predigt betrachtet. Die Ichzustände (Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kind-Ich) bezieht Engemann auf die verschiedenen Predigttypen, die je nach Typ bestimmte Gottesbilder, Themen und Sprachbilder bevorzugen. Ziel ist es, der Dysfunktion, die sich durch die Dominanz eines bestimmten Ichzustands zeigt, ein Integrationsmodell gegenüberzustellen. Zunächst erfolgt jedoch die Analyse des Fehlverhaltens. Diese Analyse ist zugleich Teil der Predigtvorbereitung, um Fehler, die durch einen bestimmten Persönlichkeitstyp provoziert werden, zu vermeiden.157 Gefahren gibt es viele: Etwa können einzelne Ichzustände abgekapselt werden und so die Glaubwürdigkeit der Predigt beeinträchtigen, „Dekontaminationen“158 der Persönlichkeitsbereiche führen zu Selbst- und Kommunikationsstörungen, unterdrückte oder verleugnete Triebe der Persönlichkeitsstruktur beeinflussen den Kommunikationsprozess, es kann zu Aggressivität oder Angst vor Konfliktsituationen kommen. Der Analyse folgt die therapeutische Intervention, in der die Predigenden sich mit ihren persönlichen Blockaden auseinandersetzen und erkennen, dass die Blockaden zu hoffnungslosen Predigtstrategien führen, um diese durch die

154 155 156 157 158

Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 43. Wilfried Engemann, a. a. O., 49. Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 50. Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 55. Wilfried Engemann, a. a. O., 60.

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therapeutische Intervention und Auseinandersetzung positiv zu verändern,159 da die Predigtgestaltung durch nicht bearbeitete Blockaden beeinträchtigt werden kann.160 Immerhin besteht Hoffnung: „Ein Prediger kann sich dieser Konditionen bewusst werden und sie gegebenenfalls verändern, denn sie sind nicht irreversibel.“161 Engemann konstatiert die Vierer-Typologie als übereinstimmendes Merkmal bei der Erschließung von Grundhaltungen, etwa zwischen Transaktionsanalyse und dem Modell von Riemann. Diese Grundhaltungen bezieht Engemann auf Typen des Predigens. Predigende mit schizoiden Impulsen und der Position „ich bin nicht okay – Du bist nicht okay“ tendieren zu distanzierenden Predigten, können aber besser als andere unbequeme Wahrheiten thematisieren; Predigende mit depressiven Impulsen und der Position „Ich bin nicht ok – Du bist okay“ tendieren zu umarmenden Predigten und scheuen Konflikte, ihre Chance ist die seelsorgerliche Predigt. Predigende mit zwanghaften Impulsen tendieren zu entsprechenden Predigten, ihre Position „Ich bin okay – Du bist nicht ok“ führt dazu, dass sie auf Regeln und Traditionen beharren und aggressiv-belehrend predigen. Hier fällt Engemann keine Chance ein: „In ihrer Gegenwart kann sich nur wohlfühlen, wer sich eher für „nicht okay“ hält, gern an der Autonomie und Autorität anderer partizipiert und sich dadurch als aufgewertet erfährt, wer also aus einer depressiven Grundhaltung heraus auf die Zuwendung einer starken Persönlichkeit erpicht ist.“162 Dies grenzt die geeignete Adressatengruppe natürlich ein. Predigende mit (nach der Begrifflichkeit der Transaktionsanalyse) „hysterischen“ Impulsen und der Position „Ich bin okay – Du bist okay“ haben Schwierigkeiten mit Grenzziehungen und tendieren zu einem schrankenlosen Predigen. Sie können naiv wirken und eine Tendenz zum trügerisch-narzisstischen Selbstbild haben. Ihre Chance ist, „dass sie leichter als andere verdeutlichen können, dass das Leben mehr ist als der uns auferlegte Versuch, den Verführungen der Sünde oder der Bedrohung durch einen beobachtenden Gott auszuweichen.“163 Den verschiedenen Impulsen ordnet Engemann aus tiefenpsychologischer Sicht die entsprechenden frühkindlichen Störungen zu. Der schizoiden Persönlichkeit wird die sensorische Phase des Säuglings, der depressiven die orale Phase im Verlauf des ersten Lebensjahres, der zwanghaften die anale Phase zwischen zweitem und fünftem Lebensjahr und der hysterischen bzw. dem schrankenlosen Impuls die phallische Phase zwischen fünftem und sechstem Lebensjahr zugewiesen. Während Engemann das Modell von Fritz Riemann integriert, grenzt er sich von Axel Denecke ab. Zwar würdigt er die Forderungen Deneckes als differen159 160 161 162 163

Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 55. Vgl. Wilfried Engemann, a. a. O., 57. Wilfried Engemann, a. a. O., 57. Wilfried Engemann, a. a. O., 68. Wilfried Engemann, a. a. O., 71.

Die Person der Predigenden in homiletischen Konzeptionen

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ziert, allerdings verwundert es nicht, dass Engemann für „eine deutlichere Abgrenzung der Kategorie der persönlichen Predigt von einem (scheinbar) freundlich-toleranten, theologisch umsichtigen Kommunikationsstil“164 plädiert, die von ihm vorgestellten Predigtanalysen können wenig Positives an den ausgewählten Predigten erkennen. Engemann vermisst eine deutliche Unterscheidungsmöglichkeit von anderen Predigtkategorien wie etwa der rhetorischen oder der politischen Predigt. Um einer Begriffsdebatte zu entgehen, skizziert Engemann drei Grundvoraussetzungen (Kongruenz, Originalität und Authentizität) zur Subjektivität und Personalität der Predigenden: Predigende sollen in der Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu anderen zu identitätsbildender Selbstwahrnehmung finden. Als weitere Grundvoraussetzung benennt er „Individualität als Basis von Originalität“165, eine zugleich anspruchsvolle wie bescheidene Forderung, die darauf abzielt, dass der Predigende sich einerseits in seiner spezifischen Persönlichkeit zeigt, ohne auf der anderen Seite zu meinen, er müsse besonderen Anforderungen an Sprache oder Rhetorik genügen. Schließlich sollen Predigende authentisch sein im Sinne eines erfahrenen und reflektierten Glaubens, der im Gegenzug ein reflektiertes Selbstbild ermöglicht, das ihn zur Annahme der eigenen Person geführt hat. Die persönliche Predigt ist letztlich Basis eines „homiletischen Idiolekts“166, also einer Sprache, die der Persönlichkeit der Predigerin bzw. des Predigers entspricht und aufs Engste mit ihr verknüpft ist, sie erkennbar und unterscheidbar macht. Als Anfrage an Engemann ist zu formulieren, inwiefern seine problemorientierte Analyse des Subjekts der Predigt letztlich einer freien und fröhlichen Verkündigung im Wege steht. Seine „Momentaufnahmen vor Ort“167 destruieren die vorgestellten Predigten, ohne auch nur etwas an ihnen wertzuschätzen. Gewiss soll an den Ausschnitten zugespitzt eine Problematik präsentiert werden, dennoch ist zu fragen, ob sich hier nicht eine Haltung spiegelt, die das Subjekt der Predigt als grundsätzlich defizitär definiert. Aus pädagogischer Perspektive ist zu bemerken, dass, eher als ein problemorientierter Ansatz, der die Subjekte in Schemata von Grundimpulsen und Typologien sortiert, eine ressourcenorientierte Kritik das Subjekt der Predigt stärkt und es erleichtert, zu einer Predigtsprache zu finden, die Predigenden und Hörenden Kommunikation miteinander und mit Gott eröffnet und ermöglicht. Die Einteilung in Typen bedenkt zudem

164 165 166 167

Wilfried Engemann, a. a. O., 83. Wilfried Engemann, a. a. O., 85. Wilfried Engemann, a. a. O., 201. Wilfried Engemann, a. a. O., 14–29.

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nicht, dass es Mischformen gibt, auch andere Einteilungsmöglichkeiten,168 und berücksichtigt nicht die Leiblichkeit des Menschen. Es ist auch zu fragen, wer über die Bewertung von Wahrnehmungen entscheidet – Therapeut, Theologieprofessor oder Predigende? Aus Genderperspektive ist anzumerken, dass es bei einem 2002 zuerst erschienenen Werk, das 2011 überarbeitet wurde, trotz des etwas umständlich anmutenden erklärenden Einschubs im Vorwort, ausgesprochen stört, dass in der Reflexion über das „Predigen in eigener Person“ durchgehend von Predigern die Rede ist – jedenfalls irritiert es mehr als ein „holpriges Lesen“169, das nach Engemanns Ansicht die Folge einer geschlechtergerechten Sprache sei. 2.2.6. Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann170 denken über die Verleiblichung des Wortes und über Chancen und Grenzen für das „Ich auf der Kanzel“ nach. Sie rufen die Bemerkungen Manfred Josuttis’ neu in Erinnerung. Mit Emmanuel Levinas betonen sie die Bedeutung des Anderen: „erst das Angesicht des/der Anderen lässt unverstellte Intimität und Personalität zu“171 und „kann zum menschlichen Ich werden.“172 Aus theologischer Perspektive unterstützt Ende der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts Henning Luther den Einspruch gegen ein normatives Identitätskonzept und weist auf die Chance gerade des Fragmentarischen und Gebrochenen jeder Lebensgeschichte für die Identität hin.173 Gutmann und Bieler sehen auf dieser Basis die Herausforderungen aktuellen theologischen Nachdenkens darin, „angesichts der überwältigenden Schönheit des von Gott geschenkten Lebens, aber vor allem auch im Angesicht globaler Zerstörungen von Lebensmöglichkeiten“174 die Liebeserklärung Gottes allem Lebendigen gegenüber zu verkündigen und in „machtvollen inneren Bildern“175 Möglichkeiten des Ich aufzuzeigen, sich durch das Andere Gottes stärken zu lassen im Widerstand gegen Bedrohungen von Schöpfung und Persönlichkeit. Die biblischen Bilder sollen in die Lebensvollzüge der Menschen eingewoben und

168 Etwa das Enneagramm, vgl. z. B. Richard Rohr, Andreas Ebert, Das Enneagramm. Die 9 Gesichter der Seele, München 1989. 169 Wilfried Engemann, a. a. O., XVII. 170 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008. 171 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 198. 172 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 198. 173 Vgl. dazu z. B. Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. In: WzM 43(1991), 262–273. 174 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 200. 175 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 201.

Die Person der Predigenden in homiletischen Konzeptionen

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so lebendig und aktuell bleiben. Die Gemeinde soll einen Raum schaffen, in dem solidarische Gemeinschaft erlebbar wird. Bieler und Gutmann entwickeln auf dieser Basis die Gedanken von Manfred Josuttis zum „Ich auf der Kanzel“ weiter und fragen danach, wie Predigende in allen Lebensbezügen durchlässig werden können für die Botschaft des Evangeliums.176 Bieler und Gutmann nennen es „Haltung“, im Blick auf die Predigt „responsorische Rezeptivität“177. Gegen eine einseitige Betonung der Ratio setzen sie auf eine leiborientierte Praxis zur Entwicklung der Haltung. Konkret für die Predigt bedeutet das für die Predigenden, dass zu wissenschaftlich-theologischen Kenntnissen und Bibelkunde körperliche Präsenz und Artikulationsfähigkeit kommen, damit die Predigenden Kontakt zu sich und ihrem Leib, zugleich zu Gott und anderen Menschen aufnehmen und dies gestalten können. Eine spirituelle Übungspraxis, etwa das Gebet in einem verbindlichen Rhythmus, ist für diese Haltung grundlegende Voraussetzung. Dieses Gebet sollte ebenfalls leiblich, also mit einer Körperbewegung verknüpft sein und öffnet den betenden Menschen für die ihn umgebende Schöpfung und für Gott. Bei Fulbert Steffensky finden sie eine Anleitung zur Ausgestaltung eigener Spiritualität.178 2.2.7. Fazit Die Subjektivität der Predigenden ist in der praktischen Theologie ausführlich und kontrovers in großer Spannung diskutiert worden – von einer völligen Ablehnung im Gefolge der Dialektischen Theologie bis zum Paradigmenwechsel seit dem Ende des 20. Jahrhunderts mit der faktischen Forderung, „Ich“ zu sagen. Der Blick auf die Geschichte der Debatte zeigt, dass verschiedene tiefenpsychologische und transaktionsanalytische Modelle aufgenommen worden sind. Otto Haendler etwa bezieht sich auf C.G. Jung, Albrecht Grözinger (in kritischer Würdigung) auf die Transaktionsanalyse und auf Fritz Riemann. Interdisziplinäres Denken zeigt sich als selbstverständlicher und notwendiger Weg der praktisch-theologischen Diskussion. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden von der praktisch-theologischen Debatte zum „Ich auf der Kanzel“ noch nicht wahrgenommen. Hier eröffnet sich die Möglichkeit, der nahezu abge176 Vgl. Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 201. 177 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 201. 178 Diese Anleitung (a. a. O. 203–204) wirkt trotz des Abschlusses „Sei nicht gewaltsam mit dir selbst! Zwinge dich nicht zu Gesammeltheit!“ tendenziell rigide. Sicherlich haben die Erfahrungen im Kloster Steffensky geprägt und ihm die Chancen fester Gebetszeiten gezeigt, dennoch wirken seine Ausführungen auf mich nicht einladend und selbst seine entlastenden Schlussbemerkungen gegen seine eigentliche Intention dank Ausrufungszeichen wieder sehr gezwungen. Mag sein, dass das Menschen weiter hilft, die einen festen Rahmen brauchen, andere könnten gerade so von der befreienden Wirklichkeit Gottes ausgeschlossen werden.

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schlossen erscheinenden Debatte zum „Ich auf der Kanzel“ neue Impulse zu geben. Wenn alle Lebensbezüge der Predigenden durchlässig werden sollen für die Botschaft des Evangeliums, dann liegt der Blick auf neurowissenschaftliche Beobachtungen nahe. Winfried Härle hat hier erste Hinweise gegeben. Die Aufnahme psychologischer Konzepte hat den Blick der Homiletik auf die Person der Predigenden geweitet. Problematisch erscheint mir jedoch eine defizitäre Sicht auf die Predigenden. Zum einen entspricht eine wertschätzende Haltung der annehmenden Botschaft des Evangeliums, zum anderen hat Henning Luther schlüssig darauf hingewiesen, dass Ganzheit ein Mythos ist und folgerichtig eine breite praktisch-theologische Debatte zum Thema Fragment angestoßen. So wichtig kritische Rückmeldungen und das Bewusstsein für krankmachende Strukturen ist: Die Beobachtungen der Neurowissenschaften zu Emotion und Lernen (3.7.) zeigen, dass negative emotionale Erfahrungen länger im Gedächtnis bewahrt werden als positive. Zu Recht betont Axel Denecke daher, dass er positiv aufbauend und nicht negativ abwertend wirken will. Besonders im Blick auf die Ausbildung von Predigenden scheint mir eine wertschätzende Haltung wichtig, die sowohl Hörenden als auch Predigenden zubilligt, „ok zu sein“. Dazu gehört auch, dass Frauen als gleichberechtigte Predigerinnen wahrgenommen und geachtet werden. Die Wertschätzung des Gegenübers ist für alle Formen der Kurzpredigt wichtig, besonders jedoch für die, die sich am Traktat orientiert. Der Traktat ist eine geschlossene Form und sollte seine Argumentationslinie sehr bewusst im Respekt gegenüber Gegenargumenten gestalten und den Hörenden eine gegenteilige Auffassung zubilligen. Für die Kurze Form der Predigt, die sich am Essay orientiert und damit die predigende Existenz voraussetzt, haben die Überlegungen zum Ich in der Predigt und der Person der Predigenden insofern eine zentrale Bedeutung, als es darum geht, eigene Betroffenheit, das, was persönlich trifft und besticht, zu formulieren. Dieses Ich kann nicht solipsistisch, sondern nur in Beziehungen entdeckt und entwickelt werden. Diese Aussage von Manfred Josuttis wird von den neurowissenschaftlichen Beobachtungen zum Menschen als sozialem Wesen (3.3.) unterstützt werden. Die Subjektivität der Predigenden ermöglicht erst die essayistische Predigt, ohne ihr präsentiertes Ich ist keine entsprechende Kurze Form der Predigt möglich. Die Debatte zur Person der Predigenden hat daher grundlegende Bedeutung für die Kurze Form der Predigt.

Bezüge zu Neurowissenschaften

3.

Bezüge zu Neurowissenschaften

3.1.

Einführung

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Die neuesten Überlegungen zur Person der Predigenden in der homiletischen Debatte des 21. Jahrhunderts weisen mit ihrer Betonung der Leiborientierung schon über die Orientierung an den Humanwissenschaften hinaus. Es gibt eine Vielfalt von biologischen und psychologischen Forschungstraditionen, die Erkenntnisse über menschliches Lernen, Emotionen, soziales Verhalten und Sinneswahrnehmungen erzielen und entsprechend ihrer wissenschaftlichen Tradition definieren. Diese Disziplinen weisen, wenn nach der Person der Predigenden und Hörenden gefragt wird, aus ihrer jeweiligen Perspektive und Tradition wertvolle Erkenntnisse aus, die sich teilweise überschneiden. Zu diesen Forschungstraditionen zählt auch die Neurowissenschaft. Was Andreas Draguhn für die naturwissenschaftliche Forschung fordert, gilt umgekehrt auch für die Theologie: „Um mit Vertretern anderer Traditionen („Sprachspiele“) auf einer metasprachlichen Ebene kommunizieren zu können, muss sie Übersetzungsarbeit leisten und sich den konkurrierenden oder komplementären Zugängen dann auf Augenhöhe aussetzen“179. Ich versuche in diesem Kapitel, mit den Sprachspielen naturwissenschaftlicher Traditionen ins Gespräch zu kommen, um zu sehen, ob ihre Erkenntnisse mit theologischen Beschreibungen verbunden werden können und neue Erkenntnisse bieten, die die Homiletik inspirieren. Jenseits der Debatte über „Gott im Gehirn“180, die nicht im Fokus meines Themas liegt, finde ich es fruchtbringend, in den interdisziplinären Dialog einzutreten, wenn ich über die Kurze Form der Predigt nachdenke, zumal die neurowissenschaftliche Forschung selbst interdisziplinär ausgerichtet ist181 und das Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“ eine 179 Andreas Draguhn, Angriff auf das Menschenbild? Erklärungsansprüche und Wirklichkeit der Hirnforschung. In: Markus Hilgert, Michael Wink (Hg.), Menschenbilder. Darstellung des Humanen in der Wissenschaft, Berlin, Heidelberg 2012, 263. 180 Jörg Mey bringt die diesbezüglichen Fragen auf den Punkt: „Können neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Existenz Gottes in Frage stellen? Widerlegt die Neurobiologie das Konzept des freien Willens? Untergräbt der neurowissenschaftliche Ansatz den Wahrheitsanspruch der Religion?“ Jörg Mey, Neurowissenschaftliche Untersuchungen religiöser Erfahrungen. In: Georg Souvinier, Ulrich Lüke, Jürgen Schnakenberg, Hubert Meisinger (Hg.), Gottesbilder an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Darmstadt 2009, 161. Zur Problematik auch: Ulrich Eibach, „Gott“ nur ein „Hirngespinst“? Zur Neurobiologie religiösen Erlebens, EZW-Texte 172, 2003, und Thomas Fuchs, a. a. O. 181 „Hirnforschung (‚neuroscience‘, Neurobiologie) ist heute ein hoch aktives, interdisziplinäres und sehr stark diversifiziertes Gebiet der biologischen und medizinischen Wissenschaft.“ Andreas Draguhn, Animal rationale? Das Gehirn als Geist-Organ. In: Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs, Grit Schwarzkopf (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg 2013, 89.

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interdisziplinäre Zusammenarbeit „unter essenzieller Beteiligung der Philosophie mit ihren Facetten der Anthropologie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie“182 fordert. Allerdings sind dabei die Grenzen neurowissenschaftlicher Analyse zu beachten. Neurowissenschaftliche Untersuchungen erfassen nicht die Gefühle von Menschen, sie erleben sie nicht, sondern sie betrachten sie von außen und stellen objektivierbare Strukturen, Funktionen und Kausalitäten fest.183 Zudem sind Menschen keine genormte Serienproduktion, sondern Individuen, die „nicht stereotypen Handlungsmechanismen folgen“184 und deren Handeln „von keiner rational agierenden Steuerzentrale bestimmt wird“185. Nach einer ersten Phase der Euphorie mit äußerst optimistischen Erwartungen, die 2004 von einer Gruppe von Neurowissenschaftlern in einem vielbeachteten Manifest186 veröffentlicht wurde, ist das zehn Jahre später in einem Memorandum zu diesem Manifest187 dargestellte Ergebnis enttäuschend. In dem viel beachteten Manifest äußerten sich prominente Fachvertreter zuversichtlich über die zu erwartenden Fortschritte der Hirnforschung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Grundlagenforschung. Wesentliche Beiträge zu einem neuen, wissenschaftlich fundierten Menschenbild wurden in Aussicht gestellt. Das Memorandum einer Gruppe von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zieht 2014 eine ernüchternde Bilanz. Die 2004 formulierten Ziele sind bei weitem nicht erreicht worden. Vor allem kritisiert das Memorandum die unzureichende Reflexion der Neurowissenschaften im Bereich ihrer Theorie und Methodologie und eine Überschreitung ihres Erklärungspotentials. Die Ergebnisse des Memorandums zeigen, wie anmaßend der Geltungsanspruch der Hirnforschung auf andere Wissenschaftsbereiche mit dem Argument ist, dass ihre Resultate kausale Erklärungen menschlichen Verhaltens böten.188 Andreas Draguhn warnt heute aus neurowissenschaftlicher Perspektive vor übersteigerten Erwartungen an die Neurowissenschaft. Wenn selbst die Ma182 Felix Tretter, Boris Kotchoubey et.al., Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“. In: Psychologie Heute, http://www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-refle xive-neurowissenschaft, 1. Zugriff 15. 07. 2014. 183 Vgl. Andreas Draguhn, Das Verhältnis von Emotion und Kognition aus Sicht der Hirnforschung. In: Siegried Höfling, Felix Tretter (Hg.), Homo Neurobiologicus. Ist der Mensch nur sein Gehirn? München 2013, 54. 184 Andreas Draguhn, a. a. O., 56. 185 Andreas Draguhn, a. a. O., 56. 186 Christian E. Elger et. al., Das Manifest. Was wissen und können Hirnforscher heute? In: Spektrum der Wissenschaft. http://www.spektrum.de/alias/psychologie-hirnforschung/ das-manifest/852357. Zugriff 15. 07. 2014. 187 Felix Tretter, Boris Kotchoubey et.al., a. a. O. 188 Zu diesem Anspruch Andreas Draguhn, Angriff auf das Menschenbild? 263.

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gensteuerung des Hummers mit insgesamt nur 30 Nervenzellen noch nicht vollständig erforscht ist, sind wir von der umfassenden Einsicht in die Komplexität des menschlichen Gehirns noch weit entfernt. „Wissenschaft ist stets unsystematisch und unvollständig; die Hirnforschung macht hier keine Ausnahme. Sie erlaubt spannende Einblicke in unsere Natur – überzogene Ansprüche auf die Beantwortung jahrtausendealter philosophischer Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Geist hat sie gar nicht nötig. Sie kann sie auch bei Weitem nicht einlösen!“189 Auch Alexander Borst und Benedikt Grothe mahnen zu Bescheidenheit. Die Autoren verweisen darauf, dass die Forschung über Aufbau und Funktion der Sinnesorgane zwar enorm fortgeschritten ist. Von einem genauen Verständnis menschlicher Wahrnehmung, der Funktion des Cortex und davon, wie die von den Rezeptoren erfassten Sinnesdaten im Gehirn zu einem Bild der Welt zusammengesetzt werden, kann jedoch noch längst nicht die Rede sein.190 Aus phänomenologischer Perspektive kritisiert und ironisiert Thomas Fuchs den Versuch von Neurowissenschaftlern, die Deutungshoheit über die Humanwissenschaften zu gewinnen und ironisiert ihre Hybris: „Der scheinbar so unergründliche Geist ist ihnen ins neuronale Netz gegangen, wo er kläglich zwischen den Synapsen hin und her zappelt“.191 Das Geheimnisvolle der Persönlichkeit, des Zusammenspiels in menschlichen Beziehungen, entzieht sich jedoch neurowissenschaftlicher Untersuchung. „Das eigentliche Leben ist Grund und Quelle, nicht Gegenstand unserer Erfahrung. Es ist das, was immer schon geschieht, während wir noch versuchen, es zu berechnen und zu planen.“192Zwar können kortikale Reaktionen untersucht werden, doch das „eigentliche, nämlich das tätige und lebendige Gehirn lässt sich gar nicht abbilden, geschweige denn in die Hand nehmen. Den Geist oder das Selbst in den Neuronen zu lokalisieren, wäre ebenso vergeblich, wie den Blick eines Menschen in seinem Augapfel zu suchen. Die Materialität des Auges ist im Blick aufgehoben; sie ist transparent geworden für den Anderen, der uns mit lebendigen Augen anblickt.“193 Einer rein objektivierenden, im engeren Sinne wissenschaftlichen Sicht auf das Gehirn setzt Thomas Fuchs seine phänomenologisch-philosophische Sicht entgegen. Der 189 Andreas Draguhn, Das Geheimnis der Mittleren Ebene. In: Spektrum der Wissenschaft. Gehirn und Geist Dossier, 1(2013), 28. 190 Vgl. Alexander Borst, Benedikt Grothe, Die Welt im Kopf. In: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss, Zukunft Gehirn, München 2011, 58. Vgl. auch Matthias Eckoldt, Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis, Heidelberg 2013. 191 Thomas Fuchs, Neuromythologien. Mutmaßungen über die Bewegkräfte der Hirnforschung. In: htttp://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/Neu romythologien_01.pdf, Zugriff 05. 12. 2013, 9. 192 Thomas Fuchs, a. a. O., 8. 193 Thomas Fuchs, a. a. O., 18.

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phänomenologische Ansatz von Thomas Fuchs verweist darauf, dass der Mensch mehr ist als ein Körper, der lediglich dem Gehirn als Transportmittel dient. Thomas Fuchs begreift das Gehirn als Beziehungsorgan und betont den Begriff des Leibes. Menschen verfügen sowohl über ein Fakten- als auch über ein Leibgedächtnis194. Der Körper ist Gegenstand objektivierender Untersuchung. Der Begriff Leib weist darauf hin, dass sich der Mensch einer rein objektivierenden Sicht entzieht. Streng genommen ist es nur möglich, davon zu sprechen, dass das Gehirn etwas tut oder lässt, wenn man sich gleichzeitig vergegenwärtigt, dass dieses Gehirn nichts tut oder lässt unabhängig von dem Menschen, dessen Organ es ist. Der Leib kann – wie das Gehirn – nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist in Beziehung, nämlich in Beziehung mit der Welt. Auf der anderen Seite ist die Bedeutung des Leibes auch noch nicht lange in der homiletischen Debatte beachtet worden. Die Vernachlässigung der körperlichen Dimension entspricht unserer Kultur, die den Menschen als Vernunftwesen definiert hat. Cogito ergo sum vergisst, dass der Geist eines Menschen in einem Körper wohnt, dass wir mit unseren Körpern leiblich Kontakt mit der Welt aufnehmen, sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, und dies alles auch unseren Geist und unsere Sprache prägt. Auch Neurowissenschaftler haben Schwierigkeiten mit der jahrhundertelangen einseitigen rationalen Definition des Menschen. Andreas Draguhn weist nach, dass die Beschreibung neuronaler Vorgänge oft mechanistisch ist, ohne dass in der Neurowissenschaft dieser Ansatz genügend diskutiert wird. Mechanische Kategorien sind nicht die einzig mögliche Herangehensweise, haben als Erklärungsmuster aber selbstverständlich Konsequenzen. Wenn Denkvorgänge mit Begriffen aus der Informatik beschrieben werden, liegt es nahe, das Gehirn mechanistisch als Computer zu verstehen. Dies wird dem Menschen nicht gerecht. Gefühle ereignen sich zwar nicht unabhängig vom Gehirn, sie betreffen jedoch den ganzen Körper und sind Vollzüge des gesamten Menschen.195 Der Mensch ist ein Geschöpf mit Leib und Geist in – trotz allem, was bis heute dazu erforscht worden ist – nach wie vor geheimnisvoller Verbundenheit. Andreas Draguhn vertritt für die Neurowissenschaften die These, dass „wir zu einer Algorithmisierung des Geistigen“196 neigen. Diese Haltung verschenke die Möglichkeit, sich mit der ebenfalls einseitig kognitiven Sicht des Menschen in Bereichen unserer Gesellschaft, etwa im Rechts- und Schulwesen, auseinanderzusetzen, in denen die Körperlichkeit des Menschen nicht in Rechnung gestellt 194 Vgl. Wolfgang Tschacher, Wie Embodiment zum Thema wurde. In: Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther, Wolfgang Tschacher, Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 22010. 195 Vgl. Andreas Draguhn, Das Geheimnis der Mittleren Ebene. 274. 196 Andreas Draguhn, a. a. O., 89.

Bezüge zu Neurowissenschaften

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wird. Doch eine rein kognitiv bestimmte Sicht auf den Menschen wird seiner Natur nicht gerecht.197 Was passiert im Gehirn eines pubertierenden Jugendlichen? Dies ist eine wesentliche Frage z. B. für die Religionspädagogik. Im Blick auf die Kurze Form betrifft es z. B. die Gestaltung von Andachten mit Jugendlichen. Es ist in der homiletischen Debatte unstrittig, dass es bei einer Predigt nicht darum geht, Informationen über Gott vom Sender Prediger zum Empfänger Hörer zu transportieren. Weil die Homiletik um die Bedeutung von Emotionen weiß, muss es sie interessieren, dass Emotionen sowohl auf physiologische Vorgänge zurückgeführt als auch primär durch neuronale Prozesse verursacht werden können und dass heute eine integrative und systemphysiologische Sicht auf das emotionsverarbeitende Netzwerk des Gehirns vorherrscht, die auch die hormonellen Einflüsse aus dem gesamten Körper berücksichtigt.198 „Ein spezialisiertes und abgegrenztes System der Emotionsverarbeitung gibt es also nicht.“199 Die Komplexität des Bereichs menschlicher Emotionen sollte Predigenden bewusst sein. Gewiss „erklären“ neurowissenschaftliche Erkenntnisse nicht, was Emotionen sind. Ihre Untersuchungen müssen sogar, wenn sie biologische Gesetzmäßigkeiten feststellen wollen, die Individualität jedes Menschen oder Tieres und die Art und Weise, wie dieses Lebewesen fühlt, ausblenden.200 Zudem sind die Grenzen des bildgebenden Verfahrens zu beachten: „Wenn beim Betrachten eines aufwühlenden Bildes meine Mandelkerne und Teile meines Stirnhirns besonders stark aktiviert werden, so erklärt dieser Befund natürlich noch lange nicht, wie die Emotion auf der Ebene von Neurotransmittern und elektrischen Aktivitätsmustern zustande kommt, von den wiederum darunter liegenden molekularen Vorgängen ganz zu schweigen.“201 Jedoch ist es informativ für Predigende, dass sich Emotionen gegenseitig ausschließen können und etwa die Empathiefähigkeit blockiert wird, wenn Menschen verletzt oder bestraft werden, die tatsächlich oder vorgeblich die Regeln der eigenen Gruppe verletzt haben. Es ist eine wesentliche Information, dass religiöse Erfahrungen auch körperliche Auswirkungen haben: „religious prayer as a form of frequently recurring behaviour is capable of stimulating the dopaminergic reward system in 197 Vgl. Andreas Draguhn, a. a. O., 89. 198 Andreas Draguhn, Das Verhältnis von Emotion und Kognition aus Sicht der Hirnforschung. In: Siegried Höfling, Felix Tretter (Hg.), Homo Neurobiologicus. Ist der Mensch nur sein Gehirn? München 2013, 51–57. Vgl. dazu auch Angela Rinn, Ethisch predigen. Anregungen aus Neurowissenschaft und Literaturtheorie. In: Schwier, Helmut (Hg.), Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung, Leipzig 2015, 143–158, ein Beitrag, der auf Ergebnisse dieser Arbeit Bezug nimmt. 199 Andreas Draguhn, a. a. O., 53. 200 Vgl. Andreas Draguhn, Animal rationale? 95. 201 Andreas Draguhn, Angriff auf das Menschenbild? 266.

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practicing individuals.“202 Neurowissenschaften helfen uns zu begreifen, wie Wahrnehmung funktioniert, was Menschen bewegt und was sie antreibt. Das ist wichtig, damit die Predigenden sich selbst und andere besser verstehen können. Gerade die Kurze Form muss in wenigen Sätzen das Interesse der Hörenden wecken und dies in einer Art und Weise, die Hörenden Lust macht, sich das zu merken, was die Predigenden ihnen zu sagen haben. Neurowissenschaften bieten hier neue Perspektiven, weil sie nachvollziehbar machen, was Menschen fasziniert und warum und wie das geschieht. „Es steht außer Frage, dass die Untersuchung der Voraussetzungen tierischen und menschlichen Verhaltens, Fühlens, Wahrnehmens und Denkens lohnt und dass sie zu grundlegenden Erkenntnissen über uns selbst beiträgt… Hirnforschung weist Bedingungen unseres Handelns, Erlebens und Denkens auf und klärt somit Grenzen und Möglichkeiten des Menschen“203 – das muss die Theologie interessieren! Im Gespräch mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen eröffnen sich neue Einsichten darüber, was Menschen an den Gleichnissen Jesu faszinieren konnte und was uns heute noch an diesen Gleichnissen begeistert. Das Verständnis des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter z. B. wird vertieft durch die Information der Neurowissenschaften, dass das Gehirn auf den Anblick eines fremdartigen Menschen reagiert, Rassismus also biologisch verwurzelt ist. Allerdings entwickelt sich diese Reaktion erst im Verlauf der Adoleszenz, ist also erlernt. Dies eröffnet neue Auslegungsmöglichkeiten des Gleichnisses. Eigene Krankheitserfahrungen vermitteln Menschen Verständnis für die Intensität, mit der sich die kranken Menschen, denen Jesus begegnete, nach Heilung sehnten. Mit den Menschen zur Zeit Jesu verbindet uns über jeden „garstigen historischen Graben“ hinweg das Erfahrungswissen darum, dass Menschen immer wieder in ihrem Leben unter Schmerzen leiden und Schmerz den ganzen Menschen ergreifen kann – nicht nur das erkrankte Körperteil (vgl. 1. Kor 12, 26). Wir teilen mit ihnen auch die Erfahrung von Mitgefühl und das Erstaunen darüber, wenn Mitgefühl fehlt. Heute wissen wir mehr davon, was unser Gehirn mit diesen Empfindungen zu tun hat.204 Die Erforschung des Gehirns ist sicher keine neue Metaphysik. „Auch wissenschaftstheoretisch wird bezweifelt, dass alles naturwissenschaftlich Erforschbare auf universelle letzte Prinzipien zurückzuführen sei und somit die Einheit der Naturwissenschaften ermögliche. Vielmehr bestehen parallele An-

202 Uffe Schjoedt, Hans Stødkilde-Jørgensen, Armin W. Geertz, Torben E. Lund, Andreas Roepstorff, Rewarding prayers. In: Neuroscience Letters 443 (2008), 165. 203 Andreas Draguhn, Angriff auf das Menschenbild? 276. 204 Vgl. z. B. Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, Neural correlates of admiration and compassion. In: PNAS 12 (2009), vol. 106, no. 19, 8021– 8026.

Bezüge zu Neurowissenschaften

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sätze auf vielen Ebenen, innerhalb derer durchaus kausale Erklärungen ohne Rückführung auf universelle Gesetze und atomare Bausteine möglich sind“205. Neurowissenschaften beschreiben mit ihren Analysen aus ihrer Tradition, warum und wie Menschen etwas begeistert oder ängstigt. Wie funktioniert das Gedächtnis und wieso ist der Mensch ein soziales Wesen und kein solipsistisches Individuum? – hier finden sich dank der Neurowissenschaften anregende Antworten. Wenn homiletische Reflexion nach den Bedingungen gelingender Kommunikation in der Kurzen Form der Predigt fragt, dann ist es ein sinnvoller Aspekt, die entsprechenden Ergebnisse der Neurowissenschaften einzubeziehen. Die Neurodidaktik kann einen neuen Blick darauf bieten, wie Menschen lernen. Gibt es Sprachformen, die Menschen besonders entgegenkommen? Sind Menschen überhaupt in der Lage, einer längeren Rede ununterbrochen zu folgen oder entspricht eine Predigtlänge wie die der Kurzen Form nicht nur eher unseren durch die Medien geprägten Hörgewohnheiten, sondern auch den Möglichkeiten unseres Gehirns? Gibt es Sprachformen, die das Gehirn „stören“ und dazu führen, dass Menschen „aussteigen“? Wenn Menschen einer Predigt zuhören und einen Gottesdienst feiern, dann betrifft das auch ihren Leib, dann vergegenwärtigt ein Wort an einen Duft, dann assoziiert ein Gedanke eine Berührung, dann kann es geschehen, dass sie sich durch einen schönen Satz wie gestreichelt fühlen und durch einen Segen buchstäblich aufgerichtet. Ich möchte mehr darüber erfahren, wie Menschen hören, sehen, fühlen, riechen und schmecken und finde es wichtig zu wissen, dass bei Sinneseindrücken, bei Erzählungen oder durch Witze breite Netzwerke im Gehirn aktiviert werden. In sechs beispielhaft angeführten Bereichen untersuche ich nun, inwiefern neurowissenschaftliche Beschreibungen wesentliche Ergänzungen bestehenden Wissens oder ganz neue Erkenntnisse bieten, die für homiletische Überlegungen fruchtbar ausgewertet werden können. Zunächst wird ein Blick nach innen auf die Selbstbelohnung des Menschen und dann nach außen auf seine Existenz als soziales Wesen geworfen. Anschließend beschäftige ich mich mit der Fähigkeit und Unfähigkeit des Menschen, Mitgefühl zu empfinden, mit der menschlichen Existenz im Kontext, der Kommunikation durch Symbole und schließlich der Bedeutung von Emotionen für das Lernen.

205 Andreas Draguhn, a. a. O., 265–266.

78 3.2.

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Menschen belohnen sich selbst – Dopamin

Für das Überleben der Art benötigt der Organismus Substanzen aus der Umgebung und er braucht Sexualpartner, um sich fortzupflanzen. Was uns antreibt, ist der Lohn der Mühe – Lebensglück! Unser Überleben als Individuum und Spezies ist davon abhängig, dass wir Menschen die Nährstoffe, die unser Körper zur Ernährung braucht, und potentielle Fortpflanzungspartner erkennen und erreichen, auch wenn diese nicht direkt neben uns stehen. Organismen lernen aus Fehlern und Erfolgen. Auf der Suche nach Nährstoffen und Fortpflanzungspartnern müssen Menschen immer einen Spagat zwischen Risiko und Sicherheit meistern. Sind die Personen oder Nährstoffe erreicht (oder auch nur schon zum Greifen nahe), erfolgt im Gehirn eine Dopaminausschüttung – und die verursacht Glücksgefühle. Gäbe es diese Glücksgefühle nicht, wäre auch kein Anreiz vorhanden, das Risiko einzugehen. Ein angestrebter Sexualpartner kann mich ablehnen, ein Büffel mich auf die Hörner nehmen, statt sich von mir erlegen zu lassen. Das sind schmerzhafte und kränkende Erfahrungen. Das Glücksgefühl, den begehrten Menschen verführt und das Tier besiegt zu haben, muss stärker sein als die mögliche Schmach von Niederlagen. Zugleich muss ein Individuum auch in der Lage sein, zukünftige Ereignisse vorauszusehen, um unangenehme Folgen zu vermeiden und Belohnungen zu erhalten. „The capacity to predict future events permits a creature to detect, model, and manipulate the causal structure of its interactions with its environment… Physiological work has recently complemented these studies by identifying dopaminergic neurons in the primate whose fluctuating output apparently signals changes or errors in the predictions of future salient and rewarding events.“206 Immer wieder haben Menschen versucht, das Risiko einzudämmen und nach Wegen gesucht, Prozesse zu beeinflussen, auch mithilfe irrationaler, abergläubischer Handlungen, wobei festgehalten werden muss: „Der Grad des Aberglaubens ist häufig umgekehrt proportional zu unserem Wissen.“207 Offenbar hat das System von Belohnung und Risiko für Menschen auch einen Konnex zum Übersinnlichen. Jenseits vom Aberglauben ist Beten (auch!) ein Versuch, das Risiko einzudämmen. Über die Befriedigung elementarer Bedürfnisse hinaus streben Menschen auch nach „höheren Belohnungen“, etwa nach Geld, Musik, Kunst, einem angenehmen Ambiente, nach guten und anregenden Gesprächen, Macht, Sieg, Schönheit – oder eben nach einer spannenden Predigt. Menschen können alles als Beloh206 Wolfram Schultz, Peter Dayan, P. Read Montague, A Neural Substrate of Prediction and Reward, SCIENCE 275, 1997, 1593. 207 Wolfram Schultz, a. a. O., 89–90.

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nung einstufen – sogar einen Gottesdienst.208 Das kann gelingen, wenn das Gehirn eine Predigt als „Belohnung“ einstuft, also der Genuss, der sich beim Hören einstellt, mit Sexualität, Alkohol oder Schokolade konkurrieren kann.209 Dies geschieht auch, wenn ein Gottesdienst Freude bereitet. Geschickte Prediger nutzen den Effekt von Witzen, die vielfältige Hirnregionen aktivieren: „Insgesamt scheint ein Bündel komplexer kognitiver Leistungen notwendig zu sein, um Witze zu verstehen.“210 Ein „Humornetzwerk“211 aktiviert viele Hirngebiete, vor allem, wenn es dem Witz gelungen ist, zumindest ein Lächeln auszulösen. Der so aktivierte Predigthörer freut sich und wird den Witze erzählenden Prediger sympathisch – und damit glaubwürdig! – finden. Zu einer „höheren Belohnung“ kann eine Predigt werden, wenn sie überraschende neue Lebensmöglichkeiten eröffnet oder einen neuen bzw. überraschenden Bezug zwischen biblischer Botschaft und aktueller Lebenssituation zeigt. Nur das, was im aktuellen Kontext relevant ist, wird sinnesphysiologisch überhaupt erfasst und dem Bewusstsein zugesandt, motivational bewertet und schließlich erinnert oder in das Handeln einbezogen.212 Die Jagd nach Neuem ist an sich interessant213 und eine Belohnung für die, die sich auf den riskanten Weg machen, einem neuen Gedankengang, neuen Dimensionen und Impulsen zu folgen. Zu den Grundbedürfnissen des Menschen bei seinem In-der-Welt-Sein zählen Sicherheit und Entdeckerfreude, Zugehörigkeit und Freiheit. Menschen sind Lebewesen, die auf der einen Seite einen starken Hang zum Ritual, zur Wiederholung und zur Routine haben, auf der anderen Seite neugierig sind und die Tendenz haben, sich schnell zu langweilen, wenn etwas gleichförmig geschieht. Dieser Dualismus ist nicht nur kulturell ge-

208 Theoretisch könnten Menschen sogar nach einem Gottesdienst süchtig werden. Die neurobiologische Nähe der Elemente Lust/Motivation und Sucht und ihre Abgrenzung ist Grundlage der modernen Suchtforschung. Vgl. Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, Neurobiologische Grundlagen der Verhaltenssüchte. In: Nervenarzt 5 (2013), 557–562. 209 Helmut Schwier benutzt den Begriff „Gratifikation“: „Eine gute Predigt bietet den Hörenden eine Gratifikation durch die Wahrnehmungsmöglichkeit lebenspraktischer, theologischer, geistiger und spiritueller Impulse. Darin wirkt sie anregend“. In: Helmut Schwier, Was ist eine gute Predigt? Bemerkungen zur Notwendigkeit homiletischer Aus- und Fortbildung als Bestandteil theologischer Bildung. In: Manfred Oeming, Walter Boes (Hg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS Jürgen Kegler, Beiträge zum Verstehen der Bibel Bd. 18, Berlin 2009, 135. 210 Barbara Wild, Humor und Gehirn, Neurobiologische Aspekte, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 1 (2010), 33. 211 Barbara Wild, a. a. O., 33. 212 Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn, Heidelberg. 213 Vgl. Wolfram Schultz, Wie sich Neuronen entscheiden. Über Belohnung. In: Tobias Bonhoeffer und Peter Gruss, Zukunft Gehirn, München 2011, 88.

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prägt, je nach Persönlichkeitstyp214 haben Routine und ritualisiertes Verhalten unterschiedlich relevante Funktionen. Auch die Lernbereitschaft von Menschen hängt unmittelbar mit dem Belohnungssystem zusammen. Dopamin führt zu einer erhöhten Leistung des Langzeitgedächtnisses, wird die entsprechende Erregungsübertragung blockiert, führt dies einer Verschlechterung der Gedächtnisbildung.215 Klaus Götz und Peter Häfner betonen aus der pädagogischen Perspektive, wie wichtig für das Lernen das Erfolgserlebnis ist, eine besondere Schwierigkeit bewältigt zu haben. Sowohl Unter- als auch Überforderung sind daher kontraproduktiv für den Lernprozess und Lernerfolg, da sie entweder kein Erfolgsgefühl aufkommen lassen oder den Erfolg verhindern.216 In Bezug auf die Neugier gilt: Wenn das Gehirn nicht den Eindruck hat, es würde für die Mühe des Lernens belohnt, tut es nichts. Wenn es dagegen einen emotionalen Bezug herstellen kann217 oder den Eindruck hat, es würde für die Mühe der Aufmerksamkeit belohnt218, dann geschieht eine Dopaminausschüttung. Das Gehirn verspricht sich eine Belohnung. Jede Belohnung führt zu einer automatischen Voraussage. Wenn die Belohnung dagegen ausbleibt oder aber gleich bleibt, es also keine Veränderungen gibt (positiv oder negativ), erlahmt das Interesse an der Materie. Dopaminneurone werden erregt, wenn die Belohnung „besser als erwartet“219 ist, was möglicherweise erklärt, warum Menschen immer stärkere Belohnungen anstreben und nicht einfach zufrieden sind mit dem, was sie haben.220 Da der Genuss von Alkohol und Drogen ebenfalls zu Dopaminausschüttung führt, können Menschen von diesen Substanzen abhängig werden, denn Drogen „erzeugen im Belohnungssystem immer das Signal ‚besser als erwartet‘. Damit entsteht ein sogenannter ‚prediction error‘, ein Vorhersagefehler, der Neurone Dopamine feuern lässt.“221 Das gilt allerdings auch für alle anderen Belohnungen, auch für „höhere 214 Hier gibt es verschiedenste Konzepte zur Typisierung, einen Überblick bieten Jens B. Asendorpf, Psychologie der Persönlichkeit, Berlin 42007 und Hermann-Josef Fisseni, Lehrbuch der psychologischen Diagnostik: mit Hinweisen zur Intervention, Göttingen 3 2004. Vgl. auch die Ausführungen zur Persönlichkeit der Predigenden in dieser Arbeit. 215 Vgl. Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 558. 216 Vgl. Klaus Götz, Peter Häfner, Grundlagen der Weiterbildung. Didaktische Organisation von Lehr- und Lernprozessen, Augsburg 82010, 111. 217 Hans. J. Markowitsch, Harald Welzer, Das autobiographische Gedächtnis, Stuttgart 2005. 218 Gerhard Roth, Wie funktioniert mein Gedächtnis und wie kann ich es verbessern? Rede anlässlich der zentralen Immatrikulationsfeier an der Freien Universität Berlin im WS 2002/ 2003, 16. Oktober 2002, 2; Wolfram Schultz, a. a. O., 83–105. 219 Susanne Leiberg, Tania Singer, belohnungslernen II. http://www.socialbehavior.uzh.ch/ teaching/NeurooekonomieHS09/VL_6_Belohnungslernen_II_update.pdf, 14. Zugriff 25. 12. 2013. Drogen lösen diesen Effekt des „prediction error“ immer aus. 220 Vgl. Wolfram Schultz, Peter Dayan, P. Read Montague, A Neural Substrate of Prediction and Reward, SCIENCE 275, 1593–1599; Wolfram Schultz, a. a. O., 98–99. 221 Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 558.

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Belohnungen“. Lernen und Sucht hängen deshalb unmittelbar zusammen. Inzwischen wird eine Suchterkrankung als „Lernmodell“222 verstanden, die in sehr alten Hirnsystemen verordnet ist.223 „Das Belohnungssystem ist nicht nur beim Menschen vorhanden. Selbst der sehr einfach gestrickte Fadenwurm Caenorhabditis elegans… hat ein rudimentäres Motivationssystem. Zerstören Wissenschaftler bei dem Wurm nur eine Handvoll Nervenzellen, die Dopamin ausschütten, macht das Tier für eine Bakterienmahlzeit keinen Umweg mehr.“224 Das Problem ist: Menschen brauchen immer stärkere Belohnungen, sie sind nie zufrieden, weil nur eine jeweils bessere Belohnung zu einem Dopaminanstieg führt. Die Belohnung auf Ebene der dopaminergen Zellen ist proportional zum Mismatch, d. h. die Zellen des Belohnungszentrums sind in der Erwartung einer Belohnung besonders aktiv, erlahmen dann aber, wenn diese Belohnung wie erwartet ausfällt. Ist sie größer als erwartet, sind sie wieder hoch aktiv. Die Lust beim Rauchen oder Trinken ist im Moment des Zugreifens auf die Zigarette oder das Glas Wein am größten, der Rest ist nur noch Vollzug. „Galt Dopamin früher noch als hedones Signal, nimmt man heute an, dass es eher als ein belohnungsankündigendes und aufmerksamkeitslenkendes Signal fungiert.“225 Die Hypothese lautet, dass „Organismen ihr Verhalten auf den maximal wahrscheinlichen Erhalt zukünftiger Belohnungen ausrichten“226 und „ein verminderter Anreizwert von nichtsubstanzbezogener Belohnung und Belohnungsreizen relativ zum Suchtmittel mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Substanzeinnahme einhergeht.“227 In unseren tiefsten Entscheidungsmechanismen sind wir nicht frei, aber wir erwarten von einem erwachsenen Menschen, dass er sich frei entscheiden kann – es sei denn, er ist durch eine Suchterkrankung in seiner Freiheit erheblich eingeschränkt. Suchtkranke leiden ja gerade darunter, dass sie zwar wissen, was gut für sie ist, dies aber nicht umsetzen können. Menschen haben die Möglichkeit, in einem Vorstellungsraum Alternativen kognitiv durchzuspielen und abwägend miteinander zu vergleichen. Dazu gehören auch die ausgeprägten Kontroll- und Hemmfunktionen, die beim Menschen immer mit dem besonders hoch entwickelten frontalen und präfrontalen Kortex in Zusammenhang gebracht werden. Dazu passt die Pathologie: Ein notorischer Straftäter mit defektem frontalen und präfrontalen Cortex verfügt über eine eingeschränkte Entscheidungsfreiheit. 222 Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, Neurobiologische Grundlagen der Verhaltenssüchte. In: Nervenarzt 5 (2013), 558. 223 Vgl. Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 557. 224 Kupferschmidt, Kai, Sucht – Motivation zu schlechten Zielen, in: http://dasgehirn.info/ denken/motivation/sucht-2013-motivation-zu-schlechten-zielen, 1. Zugriff 06. 12. 2013. 225 Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 558. 226 Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 558. 227 Falk Kiefer, Mira Fauth-Bühler, Andreas Heinz, Karl F. Mann, a. a. O., 561.

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Durch die Manipulation der Belohnungen werden Menschen nicht zu völligen Marionetten, verfügen also durchaus über einen eingeschränkten freien Willen: „Freier Wille könnte bei der Wahl zwischen verschiedenen Belohnungen mit ihren verschiedenen Risiken eine Rolle spielen. Wir wissen, dass wir Entscheidungen entsprechend dem subjektiven und nicht dem objektiven Wert der Belohnungen treffen. Mit der subjektiven Bewertung von Belohnung und ihrem Risiko besteht die Möglichkeit, dass sich der Wert ändert und von uns selbst beeinflusst werden kann. In welchem Maß dieser Bewertungsprozess frei und nicht vorbestimmt ist, bleibt herauszufinden, aber er wird womöglich durch Reflexion und Erfahrung mit der Umwelt beeinflusst und zeigt damit einen gewissen Grad von Freiheit.“228 Homiletische Anregungen Die Erforschung des Belohnungssystems von Neuronen eröffnet vielfältige homiletische Anregungen. Zunächst erschließen neurowissenschaftliche Erkenntnisse in Verbindung mit psychologischen und pädagogischen Perspektiven ein erweitertes Verständnis biblischer Texte. Die Beobachtung, dass Menschen immer stärkere Belohnungen brauchen und nie zufrieden sind, weil nur eine jeweils bessere Belohnung zu einem Dopaminanstieg führt, erläutert biblische Geschichten und erklärt zugleich, dass diesem „immer mehr wollen“ mit moralischen Appellen an die Vernunft nur schwer entgegengesteuert werden kann. Dass Menschen nicht zufrieden sind, sondern immer mehr wollen, wird etwa in Gen 11, 1–9 (Turmbau zu Babel), in Ex 16, 35 (Murren über Manna) und in der Geschichte von David und Bathseba (2 Sam 11) thematisiert. Jesus erzählt in den Gleichnissen vom verlorenen Groschen und vom verlorenen Schaf (Lk 15, 1–10) Geschichten von der Freude des Findens aus der Welt von Männern (das verlorene Schaf) und aus der Welt der Frauen (der verlorene Groschen).229 Die überschwängliche Freude, die er beschreibt und die für ihn Gleichnis ist für die Freude im Himmel über einen bekehrten Sünder, ist – aus neurowissenschaftlicher Perspektive – die erzählte Auswirkung einer Dopaminausschüttung. Mann und Frau werden für die Mühe des Suchens belohnt und feiern dies mit ihren Freundinnen und Freunden. Jesus predigt so bestechend, dass Menschen von seinen Predigten mehr haben wollen – eine Erfahrung, die bei einigen, die Jesus zuhören, zu einer radikalen Lebensänderung führt. Sie geben ihre gesicherte Existenz zugunsten eines Wanderdaseins auf, werden seine ersten Jünger und gewinnen Lebenssinn. 228 Wolfram Schultz, a. a. O., 93. 229 Vgl. dazu auch Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, München 22007, 198, 200–204.

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Witze aktivieren breit gestreute Netzwerke im Gehirn. Dies erläutert die beliebte Praxis, eine Predigt oder einen Vortrag mit einem Witz zu beginnen, was die Aufmerksamkeit von Menschen weckt und den Vortragenden sympathisch wirken lässt. Wie überraschend, spannend und witzig die Gleichnisse Jesu für seine Zeitgenossen waren, unterstreicht Peter Lampe am Beispiel des Gleichnisses vom Sauerteig Lk 13, 20–21. Möglicherweise überhört oder überliest man heute – falls man nicht gerade Bäcker von Beruf ist – die ungeheure Menge Mehl, unter die der Sauerteig gemengt wird: fünfzig Pfund! Den Zeitgenossen Jesu, die ihr Brot noch selbst backten, ist das jedoch gewiss schon beim ersten Hören aufgefallen. Dazu kommt noch mehr, was sie verblüfft: „Die gewaltige, Weltgeschichte bewegende Königsherrschaft Gottes und ein Sauerteig hatten für die galiläischen Zuhörer Jesu bisher nichts miteinander zu tun gehabt, im Gegenteil! Sauerteig wurde als unrein empfunden. Doch nun verkündete der Nazarener, dass die Königsherrschaft Gottes einem Sauerteig gleich sei. Wie verrückt! Wie überraschend! Wie witzig auch, wenn der Witz davon lebt, dass er zwei normalerweise nicht zusammengehörende Sachverhalte kombiniert. Hört man die palästinensischen Zuhörerinnen noch lachen?“230 Jesus gelingt es in einem Satz (!), seine Zuhörer zu faszinieren, indem er spannend, witzig und überraschend erzählt und so ihre Neugier weckt, mehr zu hören und zu erfahren und zu lernen. In den Gleichnissen vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle Mt 13, 44– 45 (Predigttext am 9. Sonntag nach Trinitatis in der Reihe V) geht es darum, dass Menschen alles daran setzen, eine von ihnen als Belohnung eingestuften Gegenstand zu erreichen. Der Mensch, der den Schatz im Acker findet, verbirgt ihn und verkauft alles, was er hat, um den Acker zu kaufen. In einem Satz schildert Jesus, wie jemand in einem Moment überschäumender Freude sein ganzes Vermögen geringer einschätzt als einen gefundenen Schatz und das Risiko eingeht, dieses Vermögen einzusetzen – ein anderer Mensch könnte in der Zwischenzeit den Schatz gefunden und an sich genommen haben. Das Risiko beim Kauf der Perle liegt auf anderer Ebene. Sicher war schon zu Jesu Zeiten bekannt, dass eine Verteilung der Vermögenswerte sinnvoll ist, um Risiken abzusichern. Der Kaufmann setzt jedoch alles auf eine kleine Perle, die leicht gestohlen werden oder verloren gehen kann. Jesus vergleicht Schatz und Perle mit dem Himmelreich. Beide Belohnungen lassen sich nur erreichen, wenn ein bestimmtes Risiko eingegangen wird. Die geschilderten neurowissenschaftlichen Ergebnisse erklären, dass auch eine Predigt als Belohnung eingestuft werden kann und eine Dopaminausschüttung provozieren kann. Das haben wir am Beispiel der Predigt Jesu angedeutet. Die Voraussetzungen für eine Dopaminausschüttung bei einer guten 230 Peter Lampe, Die Wirklichkeit als Bild, Neukirchen-Vluyn 2006, 155.

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Predigt sind gar nicht schlecht: Beim Hören werden große Hirngebiete angesprochen, es können „Bilder im Kopf“ entstehen. Wenn eine Predigt ein Überraschungsmoment enthält, über das Erwartete hinausgeht, dann geschieht ein „Prediction error“, der Neuronen Dopamin freisetzen lässt.231 Der Überraschungseffekt ist wichtig, da die Dopaminausschüttung nicht erfolgt, wenn die Belohnung vorausgesagt wird, also alles im Gewohnten verläuft.232 „So richtig und schön zum Beispiel eine als Zuspruch gemeinte Aussage wie ‚Gott liebt alle Menschen‘ auch sein mag: das haben die meisten schon tausendmal gehört“233. Eine solche Predigt lässt die dopaminhaltigen Neuronen nicht vermehrt Dopamin „feuern“234, hier wird nur die Langeweile befeuert. Wegen des fehlenden Überraschungseffekts ist es leider auch nicht möglich, eine an sich wunderbare, sorgfältig exegetisch aufgearbeitete und an der Lebenssituation der Menschen ausgerichtete Predigt jeden Sonntag zu halten. Deshalb wird es darauf ankommen, auf neue Überraschungsmomente im Predigttext zu achten und diese mit den Hörenden zu teilen. Im Blick auf die Kurze Form ist dies besonders wichtig, da sie in der Regel wegen ihrer Kürze auf einen Überraschungsmoment fokussiert. Predigende werden darauf achten, ihre Predigt so zu gestalten, dass Menschen sie als Belohnung empfinden. Dies gelingt, wenn die Predigt einen Hörgenuss bietet, also eine Art „höherer Belohnung“ darstellt und viele Ebenen im Menschen anspricht, indem sie spirituell, intellektuell, leibhaftig und ethisch anregend ist und dabei mitten im Leben steht.235 231 Ablaufsimultane Rückmeldungen von Predigthörenden zeigen deutlich, wann die Hörenden mit den Predigten „mitgehen“ und wann das Interesse erlahmt. Am Beispiel einer Predigt von Gerd Theißen zeigt Helmut Schwier (Helmut Schwier, Im Dialog mit der Bibel. Gerd Theißens Impulse für Theorie und Praxis der Predigt. In: Peter Lampe / Helmut Schwier (Hg.), Neutestamentliche Grenzgänge. Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens, NTOA 75, Göttingen 2010, 186–201.), dass Hörer mitgenommen und angesprochen werden, wenn der Prediger persönlich erkennbar wird, Stellung bezieht, „persönlich und in der Deutung der Osterbotschaft, im Vertrauen auf das Leben, trotz der Konfrontation mit der Wirklichkeit, trotz der Erfahrungen der Niederlagen und der Einsichten der realen Welt.“ (Helmut Schwier, a. a. O., 198). Das Interesse der Hörenden erlahmt, wenn die geschilderte Situation nicht ihre persönlichen Fragen trifft – im Fall der Theißen-Predigt etwa, wenn die geschilderte Figur einen Klub radikaler Aufklärer besucht (vgl. Helmut Schwier, a. a. O., 198.) Theißen selbst formuliert fünf Chancen einer Predigt: Die Chance zur Aktualisierung der biblischen Zeichenwelt, zur Entfaltung der Sinnpotentiale des „offenen Textes“, zur Dialogaufnahme mit Gott, zur Vermittlung von Lebensorientierung und Lebensgewinn und zur Kommunikation zwischen Predigenden und Gemeinde (vgl. Helmut Schwier, a. a. O., 186.) 232 „Die Dopaminantwort zeigt aber noch etwas anderes. Die Antwort auf die Belohnung verschwindet, sobald die Belohnung vorausgesagt ist. Erfolgt jedoch mehr als die vorausgesagte Belohnung, erhöhen die Dopaminneurone ihre Aktivität.“ Wolfram Schultz, Wie sich Neuronen entscheiden, 97. 233 Helmut Schwier, Was ist eine gute Predigt? 140. 234 So der „Laborjargon“ für neuronale Aktivität. Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn. 235 „Auch wenn nicht alle Predigthörenden die ästhetische Wende der Homiletik samt Inhalt

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3.3.

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Der Mensch – ein soziales Wesen

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse unterstreichen die theologische Aussage, dass der Mensch erst im Gegenüber zum Menschen wird. Sie zeigen, dass sich Menschen erst in und durch die Kommunikation mit anderen Menschen und ihrer sozialen Gruppe entwickeln und ihre Fähigkeiten ausbilden. Menschen sind „überaus soziale Wesen, die in ständiger Kommunikation mit anderen Menschen stehen und auch mit Unbekannten und in größeren Gruppen Kooperation aufbauen können.“236 Der Mensch ist aus biblisch-theologischer Perspektive ein Geschöpf Gottes und auf ein Du hin konzipiert: als Gegenüber Gottes. Diesen Schöpfungsgedanken entfaltet das Mensch-Sein Jesu Christi im Gegenüber zu Gott – Jesus befindet sich mit dem Vater in einer paradigmatischen Kommunikation.237 Diese Kommunikation ergreift die Jüngerinnen und Jünger. Schon für die ersten Christen gilt: „Evidenz durch soziales Bestätigen stellte sich automatisch ein, je mehr die Jesusanhängerschaft zur ‚Jesusbewegung‘ wuchs, je mehr auch in den Ortschaften Sesshafte die wandernden Jesusanhänger unterstützten. Dass nicht lange nach der Kreuzigung über fünfhundert Personen sich versammelten, denen eine Jesusvision widerfuhr (1 Kor 15,6), lässt wenigstens andeutungsweise das Ausmaß der Jesusbewegung ahnen.“238 Menschen sind zutiefst soziale Wesen. Zur Herausbildung einer Persönlichkeit ist das soziale Umfeld unerlässlich. Wolfgang Drechsel rezipiert dies im Blick auf die Pastoralpsychologie: „Auf diese Weise lässt sich eine pastoralpsychologische Theorie entfalten… im Sinne eines ‚living human document‘, das nicht ein für allemal festgeschrieben ist, sondern eher wie ein Palimpsest immer neue Texte entdecken lässt, wobei der Leser sich bewusst sein sollte, dass er nicht nur liest, sondern selbst an diesem ‚living human document‘ mitschreibt und zugleich selbst geschrieben wird.“239 Menschen können nicht isoliert leben. Jede individualistische Perspektive erfasst nicht, dass es eine Besonderheit des Men-

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kennen, werden die sprachlichen, rhetorischen und performativen Gestaltungskompetenzen von ihnen schlicht vorausgesetzt. Die Frage nach dem Inhalt liegt hier auf einer anderen Ebene: Sie ist die Erwartung von Gratifikation durch lebenspraktische, geistige, spirituelle und theologische Impulse“. Sieghard Gall, Helmut Schwier, Predigt hören im konfessionellen Vergleich, Berlin 2013, 239. Ute Frevert, Tania Singer, a. a. O., 134. „So findet die Heilige Schrift ihre Mitte in einer einzigen Lebensgeschichte: In der Geschichte Jesu Christi als der Lebensgeschichte Gottes, der ein Mensch geworden ist… Insofern bildet die Lebensgeschichte Jesu gleichsam das Zentrum der ganzen Bibel. Zugleich bietet dann aber die Heilige Schrift als ganze wiederum die Darstellung einer weiteren äußerst komplexen Lebensgeschichte, nämlich der kollektiven Lebensgeschichte der Menschheit vor Gott.“ Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten, Gütersloh 2002, 36. Peter Lampe, a. a. O., 128. Wolfgang Drechsel, a. a. O., 340.

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schen ist, dass sich sein Gedächtnis in einem sozialen Prozess entwickelt.240 Aus physiologisch-psychologischer und sozialpsychologischer Perspektive bemerken die Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch und Harald Welzer: „Wenn wir über die Phylo- und Ontogenese von Menschen sprechen, fallen Natur- und Kulturgeschichte zusammen.“241 Nach Markowitsch und Welzer werden durch diese Erkenntnis gleich zwei Denkhindernisse beseitigt: Ein Leib-Seele-Dualismus zum einen242 und eine Aufsplittung zwischen Natur und Kultur zum anderen.243 Menschen existieren nur als „Gegenüber“, sie verkümmern auch, wenn sie isoliert werden. Menschen sind auf andere Menschen angewiesen, um sich zu entwickeln, z. B. ihre sprachlichen Fähigkeiten. Das liegt daran, dass sich Fähigkeiten nur im Gebrauch ausbilden, insbesondere während kritischer Perioden.244 Das gilt u. a. für das Sprach- wie für das Sehvermögen.245 Es ist also nicht so, dass sich das Gehirn „entwickelt“, sondern dass es im Gegenteil Möglichkeiten verliert, wenn diese nicht genutzt werden. Jedes (gesunde) Baby der Welt ist demnach in der Lage, jede Sprache der Welt als Muttersprache zu erlernen, wenn es in dieser Sprache angesprochen wird. Unsere kognitiven und emotionalen Fähigkeiten bilden sich nur in der Kommunikation aus, was auch für primär nicht-soziale Aktivitäten wie Rechnen, Planen usw. gilt. Ein wesentlicher Teil unserer Charakteristika besteht gerade in der sozialen Interaktionsfähigkeit, unserem Denkund Einfühlungsvermögen, das in engem Zusammenhang zu unserer Sprachfähigkeit steht. „Language and narrative are also essential for autobiographical memory. For example, the development of autobiographical memory in children is concurrent with language and narrative development as well as the emergence of the self“246.

240 Vgl. Hans. J. Markowitsch, Harald Welzer, Das autobiographische Gedächtnis, Stuttgart 2005, 260. 241 Hans. J. Markowitsch, Harald Welzer, a. a. O., 22. 242 Vgl. Robert-Benjamin Illing, Seelenintuition, Freiheitsintuition und Gehirnforschung. In: Wolfgang Achtner, Hermann Düringer, Hubert Meisinger, Wolf-Rüdiger Schmidt (Hg.), Gott – Geist – Gehirn. Religiöse Erfahrungen im Lichte der neuesten Hirnforschung, Frankfurt 2005, 33. 243 vgl. Hans.J. Markowitsch, Harald Welzer, a. a. O., 22. 244 Vgl. dazu Torsten N. Hubel, David H Wiesel, Receptive fields of single neurons in the cat’s striate cortex. In: Journal of Physiology 148 (1959), 574–591. Die beiden Autoren bekamen für ihre Entdeckung später den Nobelpreis. 245 Kritisch würdigt Dominik Gyseler die Beziehung von Pädagogik und Neurowissenschaft: „Bevor die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Pädagogik nicht systematisch überzeugend ausgearbeitet worden sind, sind alle Versuche einer neurowissenschaftlichen Grundlegung der Pädagogik genau jener Kritik ausgesetzt, die im Moment berechtigterweise an der Neuropädagogik ausgeübt wird.“ Dominik Gyseler, Problemfall Neuropädagogik, Zeitschrift für Pädagogik 52(2006)4, 568. 246 James W. Loughead, Lester Luborsky, Carol P. Weingarten, Elizabeth D. Krause, Ramaris E. German, Daniel Kirk, Ruben C. Gur, Brain activation during autobiographical relationship

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Angela Friederici weist darauf hin, dass der Mensch die einzige Spezies ist, die Sprache erwerben und verwenden kann. Der Spracherwerb von Kindern folgt in allen Sprachen der Welt dem gleichen Schema, das gilt sogar für gehörlose Kinder. Entscheidend ist der Input. Ohne Input wird keine volle Sprachfähigkeit erreicht (vgl. die Leidensgeschichte des Kaspar Hauser). Schon Kleinkinder zeigen auf inkorrekte Sätze eine deutliche Gehirnreaktion. „Diese frühen Fähigkeiten des Erkennens von Regularitäten im Input sind die Grundvoraussetzungen für den menschlichen Spracherwerb, für den späteren Erwerb von Syntax.247 Unbehandelte Schwerhörigkeit bei Kindern hat verheerende soziale, psychische und kognitive Folgen.248 Bezeichnenderweise ist das Wort „doof“ eine niederdeutsche Entsprechung des hochdeutschen „taub“, die übertragene Bedeutung wurde im 20. Jahrhundert von Berlin aus üblich.249 Unsere Sprache hat offensichtlich den Zusammenhang der Sinne Sehen und Hören bewahrt: In der Tat sind die auf diese Funktionen spezialisierten Regionen im Gehirn miteinander verbunden. Menschen lernen, dass sie sind und wer sie sind, in der sozialen und kulturellen Gemeinschaft, zu der sie gehören. Dazu gehört auch der religiöse Kontext, in dem sie aufwachsen. Wolfgang Drechsel bezieht hier interessanterweise auch Gott selbst mit ein. Er beschreibt das Seelsorgegeschehen als Beziehungsgeschehen, im dem drei Lebensgeschichten auf dem Spiel stehen und im Spiel sind: Die Lebens- und Liebesgeschichte Gottes verknüpft sich mit derjenigen der am Gespräch beteiligten Personen.250 Demnach setzt sich auch Gott der kontextuellen Bedingung aus – das entspricht nicht zuletzt der Geschichte Jesu. Markowitsch und Welzer erläutern, dass Kinder von Beginn ihres Lebens an Teil eines Systems sind und in dem sozialen System, in dem sie aufwachsen,

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episode narratives: A core conflictual relationship theme approach. In: Psychotherapy Research, 20( 2010)3, 323. Angela D. Friederici, Den Bär schubst der Tiger. In: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss, Zukunft Gehirn, München 2011, 116–117. „Eine Hörstörung im Säuglings- und Kleinkindesalter gefährdet eine normale Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung, was den besonderen Stellenwert einer solchen Störung in dieser Altersgruppe ausmacht.“ Rudolf Probst, Gerhard Grevers, Heinrich Iro, Hals-Nasen-OhrenHeilkunde, Stuttgart/New York 2000, 201. „Da die Bedeutungen des ahd. mhd. toup sich mit der von tump (s. dumm) berühren, gilt zus-Hang der beiden Sippen als sicher. Die unter dumm angenommene Beziehung zu der in gr. typhlós ‚blind‘ bewahrten idg. Wz. * dhubh ‚stumpf, betäubt sein‘ führt weiter auf toben mit seiner Sippe. Nhd. Betäuben (mhd. tôuben, mhd. ahd. touben) ‚empfindungs-, kraftlos machen‘ stimmt zu der angenommenen Grundbed. Die nd. Form dôf hat neuerdings von Berlin aus (Ag. Lasch 1928 Berlinisch 122, 156.254) weit um sich gegriffen und die Bed. ‚dumm‘.“ Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 17 1957, 773. Vgl. Wolfgang Drechsel, a. a. O., 375.

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zunehmend Kompetenzen erwerben, die sie schließlich befähigen sollen, die Anforderungen der Gesellschaft an sie zu erfüllen.251 Wolfgang Drechsel vertritt die These, dass „das ‚autobiographische Gegenüber‘… nicht nur am Entstehungsprozess der lebensgeschichtlichen Darstellung beteiligt ist, sondern dass im Beziehungsgeschehen zwischen dem Erzähler und seinem Gegenüber… etwas ganz Eigenes entsteht, das nicht mit den einzelnen Personen verrechenbar ist.“252 Die Erziehung des sozialen Systems geschieht – auch – durch Geschichten, die in der sozialen Gruppe erzählt werden. Weil Menschen soziale Wesen sind und ihr Gedächtnis ein autobiographisches Gedächtnis ist, erzählen sie Geschichten und sind darauf angewiesen, dass ihnen Geschichten erzählt werden.253 Durch diese Geschichten werden auch soziale Fähigkeiten vermittelt, etwa die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Unsere Fähigkeit, uns in andere Menschen hinein zu versetzen, ist „One of the most fundamental tools we have for social cognition… known as theory-of-mind (ToM) or mentalizing“254 Auch wenn die Beziehung von ToM und dem Verständnis von erzählten Geschichten noch nicht vollständig untersucht ist („gaps still exist in the empirical literature regarding whether ToM and narrative comprehension are related, in precisely what way, and what the ramification of such a relation might be“255) lässt sich beweisen, dass ToM und das Verständnis von Erzählungen gemeinsame Netzwerke im Gehirn aktivieren.256 Menschen lernen soziales Verhalten, wenn und indem sie Geschichten hören und verstehen und erinnern. Eine brasilianische Studie257 hat untersucht, welche Gehirnregionen während glücklicher, neutraler oder belastender Erinnerungen reagieren. Interessanterweise zeigte sich in der funktionellen Bildgebung während glücklicher Erinnerungen eine erhöhte Aktivität in präfrontalen und subkortikalen Regionen. Glück aktiviert offenbar ein breites Netzwerk von Hirnregionen. Glückliche autobiographische Erinnerungen aktivieren deutlich mehr als negative oder neutrale Erinnerungen. „A greater intensity of such processing during the happiness condition would be consistent with the notion that the remembrance of happy situations is associated with

251 Vgl. Hans J. Markowitsch, Harald Welzer, a. a. O., 224. 252 Wolfgang Drechsel, a. a. O., 128–129. 253 Vgl. dazu auch Stephan Müller Kracht, der „Telling stories“ als wesentlichen Bestandteil medientauglichen Erzählens beschreibt: Stephan Müller Kracht, Qualität und Quote. In: Deutsches Pfarrerblatt 4(2013), 232–235. 254 Raymond A. Mar, The Neural Bases of Social Cognition and Story Comprehension. In: Annu.Rev. Psychol. 2011.62: 104. 255 Raymond A. Mar, a. a. O., 110. 256 Vgl. Raymond A. Mar, a. a. O., 124. 257 C.T. Cerqueira, J.R.F. Almeida, C. Gorenstein, V. Gentil, C.C. Leite, J.R. Sato, E. Amaro Jr, G. F. Busatto, Engagement of multifocal neural circuits during recall of autobiographical happy events. In: Brazilian Journal of Medical und Biological Research (2008) 41, 1076–1085.

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greater vividness relative to neutral or negative emotional situations“258. Themen der positiven Erinnerungen waren Feste, Erfolge, Geburten, geliebte Menschen, also Situationen des persönlichen Vergnügens oder der persönlichen Leistung. Negative Erinnerungen betrafen Staus, Bürokratieerfahrungen, Warten in langen Schlangen und Feindseligkeit. Durch die Beteiligung des Thalamus während glücklicher Erinnerung wurden auch sensorische Informationen mit einbezogen. Thomas Fuchs259 beschreibt aus phänomenologischer Sicht, dass Erinnerung sich auch im Körper ereignet. Es gibt ein Gedächtnis des Leibes, etwa motorische Kompetenzen wie Klavierspielen oder die Fähigkeit, sich in einem vertrauten Raum auch im Dunkeln sicher zu bewegen. „Leibliches Vertrautsein mit den Dingen bedeutet biographisches Vergessen, Absinken des bewusst Getanen und Erlebten in einen Untergrund, aus dem sich das Bewusstsein zurückgezogen hat, und der doch unser alltägliches In-der-Welt-Sein trägt.“260 Zugleich betrifft dieses Gedächtnis unsere menschlichen Beziehungen, so dass das Leibgedächtnis auch als „zwischenleibliches Gedächtnis“261 bezeichnet werden kann: Es zeigt sich beispielsweise im sogenannten „ersten Eindruck“, den wir von einem Menschen haben, und beeinflusst alle Interaktionen unter Menschen. Wenn Menschen ein Trauma erfahren, wird dies auch im Leibgedächtnis erinnert, so dass Körpersensationen das Trauma plötzlich wachrufen können. Das Leibgedächtnis bleibt, auch wenn eine Demenzerkrankung das deklarative Gedächtnis zerstört.

Homiletische Anregungen Es ist eine wichtige Information der Neurowissenschaften, dass Menschen nur im Kontext überlebensfähig sind und ein Individuum nur im Kontakt wesentliche Fähigkeiten wie Sprach- und Sehvermögen ausbilden kann. Soziales Leben ist offensichtlich keine Entscheidungs-, sondern vielmehr eine Überlebensfrage. Die theologische Aussage, dass es kein isoliertes Christsein gibt und Christen immer auf die Gemeinschaft der Christen angewiesen sind bzw. der Mensch erst im Gegenüber zu Gott und seinem Nächsten zu einem erfüllten Leben findet, wird durch diese neurowissenschaftliche Beobachtung in Verbindung mit den Ergebnissen der Sozialpsychologie und Physiologischen Psychologie gestützt: Isoliertes Leben ist nicht möglich. Die Frage ist, wie dieser soziale Kontext entwickelt werden kann. Hier gibt die Bibel vielfältige Hinweise. Einmal durch Gesetzestexte, zum anderen aber auch durch die Geschichten, die sie erzählt. 258 C.T. Cerqueira, J.R.F. Almeida, C. Gorenstein, V. Gentil, C.C. Leite, J.R. Sato, E. Amaro Jr, G. F. Busatto, a. a. O., 1082. 259 Thomas Fuchs, Das Gedächtnis des Leibes. In: Loccumer Pelikan 3(2012), 103–106. 260 Thomas Fuchs, a. a. O., 104. 261 Vgl. Thomas Fuchs, a. a. O., 105.

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Eine Predigt, die sich mit ethischen Themen beschäftigt, wird die Angewiesenheit des Menschen auf die soziale Gemeinschaft berücksichtigen und verdeutlichen, dass Regeln dazu dienen sollen, diese soziale Gemeinschaft zu gestalten – und nicht dazu, Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Hier bietet sich besonders die Predigt an, die als Traktat geformt ist, um das Für und Wider einer Regel abzuwägen und eventuell auch kritisch Stellung zu beziehen. Die Kurze Form der Predigt, die als Traktat gestaltet ist, spitzt durch ihre Kürze in der Regel auf einen Aspekt zu und wirkt dadurch besonders prägnant und kann gut erinnert werden. Menschen lernen soziales Verhalten und Einfühlungsvermögen – auch – durch Geschichten. Wenn Jesus Gleichnisse erzählt, lernen seine Zuhörerinnen und Zuhörer etwas über ihre Beziehungen zu sich selbst, zueinander und zu Gott. Da diese Geschichten immer überraschende Wendungen beinhalten, können sie neue Beziehungsmuster entdecken und entwickeln. Menschen schreiben am „living human document“ mit, einem Palimpsest vergleichbar. Das Palimpsest ist ein Dokument der Begrenzung. Kein Text steht ewig, jeder Text kann jederzeit überschrieben werden. Das ermutigt, die Begrenzung anzunehmen, die Schönheit und die Chance der Grenze zu sehen und einen Text in der Bewegung zu betrachten, in der er gelesen und überarbeitet wird – ein wesentlicher Hinweis im Blick auf die Kurze Form der Predigt. Palimpseste weisen darauf hin, dass viele Menschen am Textgefüge mitwirken und es gestalten. Gerd Theißen verweist auf den emotionalen Effekt metaphorischer Sprache.262 Die Predigt kann durch narrative und metaphorische Sprache diesen Effekt bewusst nutzen und berücksichtigen. Menschen sind Leib und Seele. Performative Sprechakte im Gottesdienst und Handlungen – etwa ein Segen – werden vom Leib erinnert und bleiben im Leibgedächtnis gegenwärtig. Die Kurze Form der Predigt wird gerade bei Kasualien, die sich an entscheidenden Punkten des Lebens ereignen, gefordert. Die kurze Form der Kasualpredigt begleitet und prägt damit glückliche persönliche Erinnerungen oder lässt – selbst bei einem traurigen Anlass wie einer Beerdigung – schöne Erinnerungen an einen geliebten Menschen aufleben. Wenn Jesus von glücklichen Ereignissen spricht (Festmahl, Hochzeit, eine wiedergefundene Münze, ein wiedergefundenes Schaf, ein Schatz im Acker, eine kostbare Perle, die erworben werden kann), dann aktivieren diese Erzählungen positive Erinnerungen bei Menschen und viele Gehirnregionen werden aktiviert. Jesus verknüpft diese positiven Erinnerungen mit dem Bild des Himmelreichs. Nicht nur schöne Erinnerungen, sondern auch das Erinnern an belastende Situationen kann heilvoll sein, um traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Julio 262 Vgl. Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen. Metapher, Symbol und Mythos als Poesie des Heiligen. In: Evangelische Theologie 66 (2006), 342.

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F.P. Peres et al. untersuchten eine Gruppe von Polizisten in Sao Paulo nach einem kriminellen Angriff, bei dem Polizisten verwundet und sogar getötet worden waren.263 Sie teilten die Gruppe in drei Gruppen auf. Eine Gruppe bekam Psychotherapie, eine weitere war auf der Warteliste für eine Therapie, eine dritte Gruppe zeigte keine Symptome eines psychologischen Traumas. Nach der Therapie zeigte die erste Gruppe während der Erinnerung an die traumatisierenden Ereignisse Gehirnaktivitäten wie die Gruppe, die von vorneherein symptomfrei war. Peres et al. schlussfolgern: „Psychotherapy may help to build narratives and resilient integrated translations of fragmented traumatic memories via mPFC, and thus weaken their sensory content while strengthening them cognitively“.264 Offenbar gibt es Unterschiede, wie Menschen identische traumatische Situationen verarbeiten. Manche Menschen verfügen über Selbstheilungskräfte – Resilienz – und können auf eigene Kompetenzen zum Überleben traumatischer Situationen zugreifen und gewinnen sogar Stärke im Durchstehen, während andere daran zerbrechen. Sicher ist eine Kasualpredigt keine Psychotherapie. Allerdings kann etwa die Predigt anlässlich einer Beerdigung Erinnerungen hervorrufen und Bilder und Erzählungen bieten, die trösten und Selbstheilungskräfte stärken.

3.4.

Mitgefühl

Gefühle ermöglichen und eröffnen Kommunikation unter Menschen. Gefühle bereiten Menschen darauf vor, mit ihrer Umgebung handelnd oder kommunizierend in Kontakt zu treten: „emotions are response tendencies that prepare the organism for the interaction with the environment“265. Ein wichtiges Gefühl, das Kontakt eröffnet und ermöglicht ist das Mitgefühl. Menschen sind in der Lage, sich in andere Menschen einzufühlen. Mitgefühl ist als soziales Gefühl wichtig in Beziehungen zwischen Menschen266 und motiviert zu ethischem Verhalten. 263 Julio F.P. Peres, Bernd Foerster, Leandro G. Santana, Mauricio Domingues Fereira, Antonia G. Nasello, Mariangela Savoia, Alexander Moreira-Almeida, Henrique Ledermann, Police officers under attack: Resilience implications of an fMRI study. In: Journal of Psychiatric Research 45 (2011), 727–734. 264 Julio F.P. Peres, Bernd Foerster, Leandro G. Santana, Mauricio Domingues Fereira, Antonia G. Nasello, Mariangela Savoia, Alexander Moreira-Almeida, Henrique Ledermann, a. a. O., 727. 265 Dieter Vaitl, Anne Schienle, Rudolf Stark, Neurobiology of fear and disgust. In: International Journal of Psychophysiology 57 (2005), 1. 266 „erst das Angesicht des/der Anderen lässt unverstellte Intimität und Personalität zu und provoziert zugleich Empathie und Solidarität; nur ein ‚Ich‘, das sich vom Angesicht des Anderen ansprechen lässt, kann zum menschlichen Ich werden.“ Andrea Bieler, HansMartin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, über Emmanuel Levinas.

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Mitgefühl ist damit eine Fähigkeit, die das soziale Miteinander gestaltet und sichert. Dieses soziale Miteinander ist überlebensnotwendig. Deshalb soll diese Fähigkeit nach den Überlegungen zum Menschen als sozialem Wesen betrachtet werden. Mitgefühl ist eine außerordentliche Fertigkeit des Menschen: „feelings of admiration and compassion, which are arguably some of the most refined in the human repertoire“267, zugleich ist es in alten kortikalen Strukturen angesiedelt: „feelings of admiration and compassion recruit the brain’s ancient bioregulatory structures“268. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen dem Mitgefühl für soziale und psychologische Schmerzen und dem Mitgefühl für physische Schmerzen.269 Diese enge Verbindung äußert sich auch sprachlich. Empathie empfinden Menschen körperlich und verbalisieren das auch: „It is also known that engagement of social emotions and the consequent feeling for another’s social/psychological situation are described by poets and lay people alike in visceral and bodily terms“270. Ute Frevert und Tania Singer haben über Empathie und ihre Blockaden geforscht. Sie haben erkannt, dass Spiegelneurone Empathie ermöglichen. „Dem Verständnis von Handlungsintentionen anderer Menschen etwa liegt ein ganzes Netzwerk von Gehirnregionen zugrunde. Interessanterweise ist es das gleiche neuronale Netzwerk, das unsere eigenen Handlungsprogramme steuert. Wir nutzen also kortikale Repräsentationen, die unsere eigenen Motorprogramme kodieren, um die Handlungen anderer in uns selbst zu simulieren und somit deren Handlungsintentionen zu verstehen: Wir spiegeln andere in uns. Die Entdeckung dieses sogenannten Spiegelneuronsystems hat eine Welle neuer Forschung inspiriert.“271 Empathiefähigkeit ist im Gehirn angelegt, sie kann jedoch unterschiedlich aktiviert und auch blockiert werden. Kontemplation und Meditation aktivieren die Empathiefähigkeit. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer sagt, dass noch bei Erwachsenen Mitgefühl durch regelmäßige Meditation 267 Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, Neural correlates of admiration and compassion. In: PNAS 12 (2009), vol. 106, no. 19, 8024. 268 Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, a. a. O., 8025. 269 „AV/CSP produced more activation in the anterior cingulate, anterior insula, and hypothalamus, all regions involved in homeostatic regulation. By contrast, AS/CPP produced more activation in the posterior insula and lateral parietal cortices, including the supramarginal gyrus and superior parietal lobule, all regions related to the musculoskeletal system“ Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, a. a. O., 8023. AV = admiration of virtue, AS= admiration of skill, CSP= compassion for social/psychological pain, CPP= compassion for physical pain. 270 Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, a. a. O., 8021. 271 Ute Frevert, Tania Singer, Empathie und ihre Blockaden. In: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hg.), Zukunft Gehirn, München 2011, 134–135.

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gestärkt werden kann.272 Frauen zeigen in Versuchsreihen mehr Empathie als Männer, Tania Singer vermutet, dass Frauen diese Fähigkeit stärker entwickelt haben, weil sie Kinder bekommen.273 Empathie und Schadenfreude schließen sich gegenseitig aus. Tania Singer betont: „Wenn Sie im Modus des caring sind, wollen Sie den anderen nicht plattmachen. Im Gegenteil. Mitgefühl möchte das Wohl des anderen vergrößern.“274 Wenn Mitgefühl das soziale Miteinander sichert, ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass diese Fähigkeit blockiert werden kann. Von außen betrachtet mag es merkwürdig wirken, dass zutiefst religiöse Menschen mit einem hohen moralischen Anspruch gewaltbereit sein können und scheinbar gefühllos den Tod Andersdenkender in Kauf nehmen oder sogar begrüßen. Doch es ist gerade diese biologische und soziale Angewiesenheit des Menschen auf die Gruppe, die zu Blockaden von Mitgefühl führen kann. Menschen sind nur in der Gruppe überlebensfähig, daher hat „die Natur es so eingerichtet… dass die Bestrafung von Defektoren Genugtuung und Belohnung verschafft. Das gleiche motivationale System, das uns süchtig nach Schokolade oder Wein macht, scheint auch der altruistischen Bestrafung zu unterliegen. Dieser proximale Mechanismus könnte, evolutionär gesehen, dafür sorgen, dass in größeren Gruppen Kooperation trotz Anwesenheit von Egoisten aufrechterhalten bleibt.“275 Die Empathiefähigkeit wird blockiert, wenn die Regeln der Gruppe verletzt werden. So empfinden Menschen keine Empathie, wenn Menschen verletzt oder bestraft werden, die sich – scheinbar – unfair oder regelverletzend verhalten haben. Daraus erklärt sich auch, wieso sensible Lebewesen wie Menschen in der Lage sind, öffentlichen Hinrichtungen oder Bestrafungen beizuwohnen.276 Helfen ist deshalb nicht „selbstverständlich“, im Gegenteil! Sobald eine Regel oder ein andersgerichtetes Interesse der Empathie und dem damit verbundenen Impuls zu helfen im Weg stehen, können Menschen durchaus der Regel oder dem eigenen Interesse dem Vorzug vor der Menschlichkeit geben. Offenbar erscheint die Belohnung, etwa für eine pünktliche Ankunft, dann erstrebenswerter, als einem Mitmenschen zu helfen. John M. Darley und Daniel Batson haben das in einem Versuch untersucht, der die geschilderten neurowissenschaftlichen Ergebnisse aus sozialpsychologischer Perspektive unterstützt. In ihrem Versuch nehmen Darley und Batson ausdrücklich Bezug auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.277 Im Versuch 272 273 274 275 276 277

Vgl. Tania Singer, „Wir müssen mehr fühlen“, Interview in DIE ZEIT 23, 29. 05. 2013, 30. Vgl. Tania Singer, a. a. O., 30. Tania Singer, a. a. O., 30. Ute Frevert, Tania Singer, a. a. O., 141. Vgl. Ute Frevert, Tania Singer, a. a. O., 138–142. John M. Darley, C. Daniel Batson, From Jerusalem to Jericho: A study of situational and

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mit Theologiestudenten wurden diese zunächst mit Hilfe eines Fragebogens im Blick auf ihre religiösen Normen eingeordnet, dann bekamen sie Aufgaben. Eine Gruppe sollte ein Referat über den barmherzigen Samariter vorbereiten, eine andere über berufliche Fragen nachdenken. Schließlich mussten die Studenten zur Erledigung der Aufgaben einen Hof überqueren und hatten dabei unterschiedliche Vorgaben: Große Eile sei geboten, viel Zeit stehe zur Verfügung bzw. man sei gut in der Zeit. Auf ihrem Weg kamen sie an einem notleidenden Menschen vorbei. Dabei stellte sich heraus, dass die Beschäftigung mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter keineswegs signifikant dazu beitrug, die Studenten hilfsbereiter werden zu lassen. Vielmehr war das entscheidende Kriterium der Zeitdruck. Die Autoren schließen: „Finally, as in other studies, personality variables were not useful in predicting whether a person helped or not. But in this study, unlike many previous ones, considerable variations were possible in the kinds of help given, and these variations did relate to personality measures – specifically to religiosity of the quest sort. The clear light of hindsight suggests that the dimension of kinds of helping would have been the appropriate place to look for personality differences all along; whether a person helps or not is an instant decision likely to be situationally controlled. How a person helps involves a more complex and considered number of decisions, including the time and scope to permit personality characteristics to shape them.“278

Homiletische Anregungen Die neurowissenschaftlichen Beobachtungen zur Blockade von Mitgefühl sind, konvergierend mit Forschungsergebnissen aus der sozialpsychologischen Perspektive zum Thema, eine wichtige neue Erkenntnis, die vor allem für die Predigt über ethische Themen relevant ist. Moralische Appelle, die lediglich auf der rationalen Ebene argumentieren, sind offenbar wenig geeignet, um Menschen zu Verhaltensänderungen zu motivieren. Im Gegenteil. Menschen werden immer die (frustrierende) Erfahrung machen, dass sie aus ihnen unerklärlichen Gründen gerade nicht wie der Barmherzige Samariter handeln, obwohl sie sich das eigentlich vorgenommen hatten. Hier kann die Predigt aufklärend sein und kreativ ihre Möglichkeiten nutzen: Sie kann in der Traktatform die Problematik erläutern und den Hörenden erklären, welche Auswirkungen neuronale Prozesse haben. Sie kann meditative Elemente aufnehmen und so die Fähigkeit stärken, Mitgefühl zu empfinden. Sie kann humorvoll schildern, wie Menschen sich von dispositional variables in helping behavior. In: Journal of Personality and Social Psychology 27(1973), No J, 100–108. 278 John M. Darley, C. Daniel Batson, a. a. O., 108.

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vorgeblich dringenden Aufgaben oder wichtigen Regeln vom tatsächlich Wichtigen ablenken lassen. So können Menschen angeregt werden, ihr eigenes Verhalten aus einer humorvollen Distanz zu betrachten. Schließlich können Predigende auch versuchen, unter Verzicht auf jeden Moralismus essayistisch zu schildern, was an diesem Dilemma für sie ganz persönlich erschreckend und verletzend ist. Die Kurze Form der Predigt ermutigt dazu, das Thema nicht umfassend darstellen zu wollen, und stattdessen pointiert aus verschiedenen Blickwinkeln zu behandeln. In der Kurzen Form können diese Perspektiven besonders konzentriert und prägnant wirken: Im Blick auf den interreligiösen Dialog regen die neurowissenschaftlichen Beobachtungen Predigende an, auf hilflose Empörung zu verzichten und stattdessen danach zu fragen wie es gelingen kann, dass Menschen über die Regeln ihrer Gruppe neu nachdenken. Auch hier bietet sich die Predigt in Traktatform an. Die Predigt wird auch die prophetische Aufgabe wahrnehmen können, aufmerksam zu sein und zu reagieren, wenn versucht wird, einzelne oder ganze gesellschaftliche Gruppen als Defektoren zu markieren, um sie beschädigen zu können, ohne dass die Gemeinschaft mitfühlend einschreitet. Im Kirchenjahr wird die Predigt zum Karfreitag neue Impulse gewinnen. Den Hörenden kann deutlich werden, dass Jesus aus der Perspektive seiner Zeitgenossen zentrale Regeln der Gruppe verletzt hat und deshalb ihrer Ansicht nach den Tod verdient hat. Auch für Filmpredigten ergeben sich Anregungen. Eine Predigt zu Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ könnte auf Mitleid und Regeln fokussieren. Wie inszeniert Gibson Mitleid und wie fehlende Empathie? Die Kurze Form der Predigt wird dabei auf einen Aspekt der der Passionsgeschichte bzw. auf eine Sequenz des Films fokussieren.

3.5.

Kontext

Menschliches Leben ereignet sich in einem Kontext – im Kontext der Umwelt, im Kontext der Beziehungen zu anderen Menschen, im Kontext eines Raums, im Kontext des eigenen Leibs. Konvergierende Ergebnisse der Psychologie, Pädagogik und Neurowissenschaften beschreiben dies aus ihrer jeweiligen Perspektive. „Wir nennen diese Beziehung ‚Embodiment‘. Intelligentes Denken findet immer in einem dichten Geflecht von Bezügen statt, ist eingebettet in einen Kontext.“279 Dieser Kontext überschreitet die Grenzen der Haut. Es gibt einen starken Bezug zwischen Raum- und episodischem bzw. Faktengedächtnis. Die 279 Wolfgang Tschacher, Wie Embodiment zum Thema wurde. In: Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther, Wolfgang Tschacher, Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 22010, 14.

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Gedächtnisforschung kennt aus pädagogischer und sozialpsychologischer Perspektive kontextabhängiges und kontextunabhängiges Lernen. Dabei wird Kontext als die Umgebungssituation verstanden, die den relevanten Reiz umgibt, z. B. der räumlichen Umgebung. Im Hippocampus ist das deklarative Gedächtnis, also das Raum- und Wissensgedächtnis angesiedelt, in der Amygdala das kontextunabhängige Gedächtnis. Der Leib des Menschen begrenzt den Menschen hin zu seinem Kontext, öffnet ihn jedoch zugleich zu seinen sozialen und räumlichen Kontexten hin, indem er sie sinnlich wahrnimmt oder imaginiert. Thomas Fuchs vertritt aus phänomenologischer (und damit explizit nicht objektivierender) Sicht die These: „Der menschliche Leib… stellt einerseits das natürliche oder ‚Ursubjekt‘ dar, andererseits ist er immer schon auf Intersubjektivität hin angelegt, so dass der Mensch ‚qua‘ Leib ein natürliches und zugleich ein soziales Subjekt ist.“280 Stefan Beck betont, dass Menschen dabei in der Lage sind, auch abwesende Dinge und Menschen sowie abstrakte Zusammenhänge in ihre Überlegungen einzukalkulieren. Ihr Körper dient dabei als Wissens- und Erfahrungsspeicher (embodiment).281 Beck fordert eine „soziogenetische“282 Dimension als Erweiterung des Konzepts des Embodiment, das soziale und kulturwissenschaftliche Perspektiven mit einbezieht. Der räumliche Kontext spielt nach neueren neurobiologischen Forschungen eine enorme Rolle für das, was langfristig assoziiert bzw. erinnert wird.283 Für das Gedächtnis und andere Leistungen wie Kreativität ist die besondere Rolle des Kontextes bekannt, der wesentlich zur Verarbeitung des Gehörten beiträgt.284 Zur leiblichen Erfahrung gehört der Raum, in dem sich der Mensch befindet.285 Menschen erinnern in ihrem Leib auch die Erfahrung, wie es ist, in einem Raum zu sein. Räume können aufregend sein, Geborgenheit vermitteln, aber auch distanzierend wirken oder gar Unwohlsein hervorrufen, z. B. wenn sie unaufgeräumt und lieblos oder milieuverengt („gemütlich“286) eingerichtet sind.

280 Thomas Fuchs, Verkörperung, Sozialität und Kultur. In: Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs, Grit Schwarzkopf (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg 2013, 13. 281 Vgl. Stefan Beck. Embodiment and Emplacement of Cognition – praxistheoretische Perspektiven. In: Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs, Grit Schwarzkopf (Hg.), a. a. O., 207–208. 282 Stefan Beck, a. a. O., 208. 283 Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn, Heidelberg. 284 Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn, Heidelberg. 285 Vgl. Thomas Fuchs, Das Gedächtnis des Leibes. In: Loccumer Pelikan 3 (2012), 104. 286 Vgl. Claudia Schulz, Zwischen den Stühlen aller Milieus: Diakonische Werke und Träger im Dickicht der Ansprüche und Erwartungen. In: Claudia Schulz, Eberhard Hauschild, Eike Köhler (Hg.), Milieus praktisch II: Konkretionen für helfendes Handeln in Kirche und Diakonie, Göttingen 2010, 283–299.

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Homiletische Anregungen Sowohl naturalistischer als auch mentalistischer Reduktionismus nehmen den Menschen in seiner besonderen geisterfüllten Leiblichkeit nicht ausreichend wahr. Menschliches Leben ist Leben in Kontexten. Auch das Gehirn kennzeichnet, dass seine Areale untereinander vernetzt sind und „das Gehirn mit dem Körper und der Umwelt vielfältig interagiert.“287 Predigt ereignet sich in einem Kontext. Raumeindrücke verbinden sich im Gehirn mit der Botschaft der Predigt und beeinflussen die Erinnerung. Der Kontext, in dem eine Predigt gehört wird, ist also entscheidend. Das gilt auch für den Kontext Kirchenraum: „Der evangelische Kirchenraum bleibt bei aller Varianz auf das Kreuz und die Bibel ausgerichtet und markiert schon vor dem liturgischen Gebrauch, aber nicht unabhängig von ihm, die Heiligkeit des Raums, seine Ausrichtung und Bezogenheit auf das Wort Gottes und das Heilsgeschehen. Die erstaunlichen Erfahrungen der zahlreichen offenen Kirchen bestätigen die Sehnsucht vieler Menschen nach besonderen Räumen und ihren spirituellen Botschaften.“288 Mag sein, dass es den Gottesdienstteilnehmern nicht bewusst ist, doch es wird die Erfahrung des Gottesdienstes beeinflussen, wenn im Chorraum die überzähligen Stühle vom Gemeindehaus gelagert werden und auf dem Altar Plastikblumen ihr Dasein fristen. „Kirchen als institutionalisierte Orte der räumlichen Gottesbeziehung … konstituieren in ihrer institutionalisierten Form das Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott wesentlich mit.“289 Sogar das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch wird als räumliches Ereignis definiert.290 Über die Bedeutung des Kirchenraums gibt es viele Veröffentlichungen.291 In der Tat sendet ein Raum Signale, die vom Körper wahrgenommen werden. Helmut Schwier weist zu Recht darauf hin, dass das Verhältnis von Liturgie und Predigt differenziert zu bestimmen ist. „Der Gottesdienst ist nicht bloß der liturgische Rahmen der Predigt, sondern die Feier der im Namen Gottes versammelten Gemeinde, in der gesungen, gebetet, Abendmahl gefeiert und eben 287 Andreas Draguhn, Das Verhältnis von Emotion und Kognition aus Sicht der Hirnforschung. In: Siegried Höfling, Felix Tretter (Hg.), Homo Neurobiologicus. Ist der Mensch nur sein Gehirn? München 2013, 56. 288 Helmut Schwier, Gott wagen. Praktisch-theologische Perspektiven zum Gespräch der theologischen Disziplinen. In: Paul Metzger (Hg.), Die Konfession Jesu, BenshH 112, Göttingen 2012, 84–85. 289 Tobias Woydack, Der räumliche Gott. Was sind Kirchengebäude theologisch, Kirche in der Stadt Band 13, Schenefeld 2005, 180. 290 So von Tobias Woydack, a. a. O., 226. 291 Vgl. z. B. Klaus Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum. In: Hans-Christoph SchmidtLauber, Michael Meyer-Blanck, Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 391–412; Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes, Darmstadt 2008. Vgl. auch Tobias Woydack, a. a. O.

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auch gepredigt wird.“292 Schwier fragt, „wie wirksam der Kontext von Liturgie, Lied, Raum und Kirchenjahr ist.“293 Und antwortet: „Ich vermute, dass er stark ist und dadurch auch eine fruchtbare Spannung erzeugt.“294 Die Kurze Form der Predigt wird gerade wegen ihrer Kürze auf den Kontext des Raums, in dem sie sich ereignet, Rücksicht nehmen müssen. Der Kontext einer Trauerfeier in einer Trauerhalle am Sarg, in deren Verlauf eine kurze Ansprache gehalten wird, ist gänzlich anders als der, in dem ein „Wort zum Tag“ im Radio auf SWR2 gehört wird. Im Rundfunkbereich haben die Predigenden den Kontext nicht in der Hand. Journalistische Lehrbücher295 weisen darauf hin, dass Radio „nebenbei“ gehört wird, das gilt auch für Radioandachten. Das Konzept des Embodiment hat jedoch gewiss die größten Auswirkungen auf das Verständnis der Predigt. „Wird Kommunikation als dynamische, wechselseitige Interaktions- und Lernsequenz analysiert, geht dies weit über das auch in der gegenwärtigen Psychologie immer noch wirksame informationstheoretische Paradigma des ‚Sendens und Empfangens von Informationen‘ hinaus.“296 Zur Leiblichkeit der Predigt gehören die Stimme des Predigers bzw. der Predigerin sowie ihr bzw. sein ganzer Leib und ihr bzw. sein Kontext von Gemeinde, Bibeltext, Welt, Lebens- und Gottesbeziehungen und die Hörenden – all das wirkt sich aus! Alles Organische, aber auch alle Kognition, findet in den biologisch vorgegebenen Dimensionen von Zeit und Raum statt. Es verwundert deshalb auch nicht, dass Menschen Raummetaphern benutzen, um neuronale Vorgänge zu beschreiben. Manchmal umschreiten diese Raummetaphern die ganze Welt, mit Straßen, Ozeanen und Inseln: „Wir herrschen in unserem Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen nicht primär über bloße Gegenstandskomplexe, sondern über ein ganzes in hohem Maße verstraßtes ‚Reich des Geistes‘, in dem sich unter anderem auch sogenannte Einzelgegenstände befinden. Eine ganze Welt, ja ein Ozean von geistigen Bildern und geistigen Abläufen findet in unserem Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen Raum“297. Welche Bilder benutze ich in der Predigt, um diesen Kontext anzusprechen? Sprachlich kann die Predigt Horizonte eröffnen und mit den Hörenden innere Räume erkunden – Räume der Erinnerung und Räume des Textes. Die Predigt 292 Helmut Schwier, Im Dialog mit der Bibel. Gerd Theißens Impulse für Theorie und Praxis der Predigt, in: Peter Lampe / Helmut Schwier (Hg.), Neutestamentliche Grenzgänge. Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens, NTOA 75, Göttingen 2010, 201. 293 Helmut Schwier, Gott wagen, 87. 294 Helmut Schwier, a. a. O., 87. 295 Z. B. Walther von La Roche, Axel Buchholz (Hg.), Radio-Journalismus. Ein Handbuch für die Ausbildung und Praxis im Hörfunk, Berlin 92009. 296 Stefan Beck, a. a. O., 211. 297 Michael Welker, a. a. O., 67.

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nimmt die Leiblichkeit des Menschen ernst, wenn sie Sprachbilder benutzt, die Menschen helfen, diese Räume zu betreten. Mnemotechniken arbeiten mit Raumeindrücken und nutzen die neuronalen Verknüpfungen aus – analog kann die Predigt den Hörenden durch entsprechende sprachliche Bilder helfen, die Predigt in Erinnerung zu behalten. Gerade für eine Kurze Form der Predigt, die Informationen bieten will und sich deshalb am Traktat orientiert, ist dies hilfreich. Die einzelnen Bausteine des Traktats können mit Raummetaphern verknüpft werden. Der Traktat kann seine Gedankenschritte als Weg in einem Haus gestalten.

3.6.

Kommunikation durch Symbole

Der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello, Direktor am MaxPlanck-Institut für evolutionäre Anthropologie, weist darauf hin, dass „die Entwicklung symbolischer Kommunikation einen evolutionären Fortschritt ums Ganze bedeutet. Die Schaffung einer Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Erfahrungen im Medium der sprachlichen Kommunikation… beschleunigt die langsame biologische Evolution mit den Mitteln des Sozialen.“298 Sprache und Sinneseindrücke sind eng verknüpft. Mit fünf Sinnen erfassen wir unsere Umwelt, diese Sinneseindrücke werden in höheren Hirnregionen gemeinsam mit anderen Erfahrungen zu einem Bild der Welt verbunden.299 Voraussetzung ist, dass eine Verbindung zwischen den Inhalten der Sinneswahrnehmungen und den Erfahrungen besteht. „Hören im engeren Sinne, nämlich das Hören von Luftschall, ist der evolutionshistorisch jüngste unserer Sinne.“300 Dieser Sinn hängt jedoch durch kortikale Verbindungen eng mit dem ältesten Sinn zusammen. Riechen ist „der evolutionsgeschichtlich wahrscheinlich älteste Sinn der Tiere; wie kein anderer Sinn ist er mit Kommunikation verbunden. Möglicherweise liegt das daran, dass schon die Kommunikation zwischen Zellen eine der entscheidenden Grundlagen für die Entstehung mehrzelliger Organismen vor vielen hundert Millionen Jahren war… Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass auch bei der Partnerwahl, bei der Erkennung von Verwandten und anderen „Sippenzugehörigen“ chemische Signale von herausragender Bedeutung sind. Dies schlägt sich in unserer Sprache in dem Ausdruck des „Sich-riechen-Könnens“ nieder.“301 Wir kennen auch den Ausdruck „die Chemie stimmt nicht“. In der Großhirnrinde aktivieren Gerüche 298 So Alexander Borst, Benedikt Grothe, Die Welt im Kopf. In: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hg.), Zukunft Gehirn, München 2011, 37. 299 Vgl. Alexander Borst, Benedikt Grothe, a. a. O., 37. 300 Alexander Borst, Benedikt Grothe, a. a. O., 41. 301 Alexander Borst, Benedikt Grothe, a. a. O., 44.

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zahlreiche Regionen, darunter assoziative Areale, in denen auch Informationen anderer Sinne sowie Erinnerungen verarbeitet werden. Diese Erkenntnis macht sich das Marketing zunutze: „Ob Düfte, Farben oder Geräusche – beim Einkaufen werden alle Sinne angesprochen. Wer von draußen in den Supermarkt kommt, den empfängt oft ein anregender Duft nach frischen Brötchen… Das sind erlaubte Marketingstrategien, die Emotionen wecken und das Unbewusste in uns ansprechen… Der Duft nach frischem Brot erinnert an die Kindheit… Ein Duft, der positive Erinnerungen im Gehirn aktiviert, schaltet … rationale Barrieren aus.“302 Alexander Borst und Benedikt Grothe erläutern: „Eine der wichtigen Erkenntnisse der letzten Jahre ist, dass unser Cortex hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist. Das erklärt nicht nur die Existenz so vieler optischer Illusionen, sondern auch, warum manche Leute Farben riechen oder Töne als Farben sehen. Diese Personen nennt man Synästhetiker… Es ist aber durchaus plausibel, führt man sich vor Augen, dass sogar die primären sensorischen Zentren des Cortex mehr Input aus anderen kortikalen Arealen als aus der sensorischen Peripherie erhalten…. Beispielsweise erhält der primäre auditorische cortex, über den alle bewusst wahrgenommene Hörinformation läuft, fast ein Viertel seiner Eingänge aus nichtauditorischen Zentren. Er bekommt Informationen aus Arealen, die primär mit dem Tastsinn oder dem Sehen befasst sind, multimodale Funktionen haben oder mit der Bewegungskontrolle in Zusammenhang gebracht werden…. Bereits bei wenige Wochen alten Säuglingen kann man beobachten, dass sie bevorzugt auf Bilder mit Gesichtern blicken, die zu simultan vorgespielten Phonemen passen. Warum sie „wissen“, dass das „oh“ nicht zu einem Gesicht mit breit gezogenen, sondern mit rund gespitzten Lippen passt, wissen wir noch nicht. Aber diese Verknüpfung von visueller und auditorischer Verarbeitung wird früh angelegt und bleibt zeitlebens erhalten…. Diese Phänomene zeigen uns, dass unser Gehirn aus einzelnen Versatzstücken eine interne Repräsentation der Welt konstruiert, die auf wahrscheinlichen Annahmen und keineswegs auf absoluter Wahrheit basiert.“303 Allerdings ist es für ein gutes Gedächtnis auch wichtig, Eindrücke zu sortieren bzw. sie sogar zu vergessen, wenn sie verwirren.304

302 dpa, Zum Geldausgeben verführt. Marketing – Ob Düfte, Farben oder Geräusche – beim Einkaufen werden alle Sinne angesprochen. In: Allgemeine Zeitung Mainz, 18. 04. 2013, 26. 303 Alexander Borst, Benedikt Grothe, a. a. O., 48–49. 304 Vgl. Martin Korte, Tobias Bonhoeffer, a. a. O., 61.

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Homiletische Anregungen Kulturelle Weitergabe durch sprachliche Kommunikation geschieht explizit in der Religion. Dies gilt auch für die sprachlich-symbolische Kommunikation durch sakramentale Handlungen: „… für Evidenz durch starkes positives emotionales Erleben war durch die rituellen Vollzüge gesorgt. Die sakramentalen Riten und Zusammenkünfte stellten emotional ansprechende Zelebrationen inniger Gemeinschaft dar: einerseits mit Christus, andererseits mit anderen Menschen, die einander zugetan waren. Die Taufe bedeutete in den frühchristlichen Kleingruppen der Hausgemeinden Initiation in eine Gemeinschaft von in der Regel familiär, wenn nicht liebevoll sich Zugewandten.“305 Der Hinweis darauf, dass Sinneszellen voneinander Informationen bekommen (Intermodale Verrechnung) kann fruchtbar für die Homiletik sein (vgl. auch die Ausführungen zum Kontext). Für die Homiletik stellt sich die Herausforderung: Wie kann ich Bilder im Kopf entstehen lassen, die die neuronalen Netzwerke aktivieren, so dass Hörende dann das hörend erleben, was ich erzähle? Wie gestalte ich Kasualgottesdienste und Kasualansprachen so, dass eine emotional ansprechende Atmosphäre entsteht? Im Blick auf die Kurze Form im Rundfunk ist mit Walther von La Roche zu fragen: „Wie setze ich mein Thema so radiophon um, dass er (gemeint ist der Hörende A.R.) mit den Ohren sieht?“306 Als Konsequenz für die Homiletik lässt sich festhalten, dass zu viele Bilder verwirren. Die Konzentration auf gut verknüpfte Bilder steigert dagegen die Erinnerung, das ist zugleich die besondere Chance der Kurzen Form, da sie sich konzentrieren muss. Wenn es gelingt, Inhalte mit Sinneseindrücken zu kombinieren, wird die Botschaft besser verstanden, noch besser, wenn sie in den Verlauf einer Geschichte, also eines sprachlichen Weges, eingebunden ist. Homiletisch wäre zu beachten, dass sprachliche Bilder „stimmen“ müssen. Wenn schon Säuglinge Fehler in der Kombination von Laut und Bild wahrnehmen, wird das bei Erwachsenen – eventuell unbewusst – nicht anders sein. Unstimmige Bilder stören. Umgekehrt werden stimmige Bilder, die verschiedene Sinneseindrücke ansprechen, größere Areale unseres Gehirns ansprechen und später umfassender erinnert werden. Die Predigt kann sinnliche Wahrnehmungen ansprechen, die dabei zugleich andere Sinneswahrnehmungen aktivieren, da die einzelnen Areale im Gehirn, die Sinneswahrnehmungen verarbeiten, nicht direkt, sondern vermittelt über andere Areale aktiviert werden. Gegenüber dem Kino hat die Predigt dabei den Vorteil, dass sie „in der Zeit“ erzählt. Während im Kino Bilder parallel kommen und damit auch ein viel größerer Informationsgehalt parallel auf das Gehirn einwirkt, 305 Peter Lampe, a. a. O., 128. 306 Walther von La Roche, Axel Buchholz , a. a. O., 12.

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kann ich auditorisch nur sequentiell in der Zeit wahrnehmen. Ich höre eins nach dem anderen und muss es mir zusammenbauen.307 Damit bin ich aktiver als bei einem Film – und das kann wiederum sehr spannend sein! Deshalb bevorzugen viele das Buch gegenüber der verfilmten Version. Wenn Glaubwürdigkeit sich in wenigen Sekunden nach Gesprächsbeginn entscheidet, ist es außerordentlich wichtig, wie das Gespräch mit der Gemeinde begonnen wird. Zumal wenn dieses Gespräch als „die grundlegende, wirklichkeitsschaffende wie wirklichkeitserschließende Dialogaufnahme Gottes“308 verstanden wird. Geschickte Prediger beginnen mit einem Witz und wissen genau, dass sie damit ihre Hörerinnen und Hörer für sich einnehmen. „In allen Untersuchungen wurde der Befund bestätigt, dass der Eindruck der Hörenden bereits in den ersten Minuten einer Predigt bestimmt wird. Daher ist der Gestaltung des Predigteinstiegs besondere Sorgfalt zu widmen, um viele zum Hinhören zu motivieren.“309 Der Kurzen Form steht insgesamt nur die Zeit zur Verfügung, die bei anderen Predigten für den Predigteinstieg reserviert werden kann: die „ersten Minuten“. Sie hat wenig Chancen, diesen ersten Eindruck noch zu verändern bzw. sieht sich in der Herausforderung, diesen ersten Eindruck ansprechend zu gestalten.

3.7.

Emotion und Lernen

Der Verhaltensphysiologe und ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung in Bremen, Gerhard Roth, zeigt, dass „niemand einem neuen Stoff für mehr als 5 Minuten konzentriert zuhören kann, und dass das Arbeitsgedächtnis dann Gelegenheit haben muss, ‚Atem‘ zu holen, d. h. das Gehörte oder Gelesene vorläufig zusammenzubinden und so ins Zwischengedächtnis abzulegen. Andernfalls ‚schiebt‘ die neue Information die alte aus dem Arbeitsgedächtnis heraus“310. Dieses „Zusammenbinden“ kann durch die Verbindung von Emotionen und Lernstoff geschehen. Ergebnisse aus psychologischer, pädagogischer und neurowissenschaftlicher Perspektive bestätigen übereinstimmend: Menschen lernen besonders gut, wenn sie emotional betroffen sind. Ursache ist „das limbische System… eine Ansammlung von Kernen (wie z. B. der Amygdala) … und phylogenetisch alten oder sehr ursprünglichen corticalen Strukturen (wie 307 308 309 310

Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn. Sieghard Gall, Helmut Schwier, Predigt hören im konfessionellen Vergleich, Berlin 2013, 243. Sieghard Gall, Helmut Schwier, a. a. O., 241. Gerhard Roth, Neuronen in der Schule. Wie das Gehirn lernt. SWR 2 Aula vom 19. 07. 2011. http://www.swr.de/-/id=8002092/property=download/nid=660374/1fc642e/swr2-wissen20110619.pdf, 8. Zugriff 06. 12. 2013.

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dem Hippocampus), die im Zusammenspiel die uns bewegenden Emotionen (Trauer, Furcht, Freude, etc.) mit (kognitiv-) inhaltlichen Konnotationen verbinden und so Ereignisse zur Einprägung bringen.“311 Negative Erfahrungen werden bedauerlicherweise länger erinnert als positive Erfahrungen. Das Gehirn speichert negative Erfahrungen signifikant länger als positive. Evolutionstechnisch hat das sicherlich einen Sinn. Auch wenn Post-hocBegründungen sich dem Verdacht der rein hypothetischen Erklärung oder Plausibilisierung des Vorgefundenen aussetzen: Der Mensch, der sich merken konnte, dass Schlangen beißen und Wespen stechen können, hatte sicher größere Überlebenschancen als derjenige, der nur arglos durch den Urwald stolperte oder lediglich die schöne Sommerwiese erinnerte, nicht aber das Wespennest. Gerhard Roth meint: Das emotionale Gedächtnis ist „das allerwichtigste Gedächtnis. Und das hat Untergedächtnisse… nämlich ein positives und ein negatives Gedächtnis, wobei das negative leider viel wichtiger ist. Das Negative im Leben ist wichtiger als das Positive. Einmal nicht aufgepasst, hat man Pech gehabt. Wie viele Lustzustände man im Leben hatte, ist leider nicht so relevant“312. Im Hippocampus werden Erlebnisse emotional verarbeitet. „Der Hippocampus ist am Übergang vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis beteiligt, ohne selbst der Ort des Langzeitgedächtnisses zu sein. Auch ist der Hippocampus nicht an allen Gedächtnisprozessen beteiligt, sondern vor allem beim deklarativen Gedächtnis (bei Menschen autobiographisches und Faktengedächtnis), während das prozedurale Gedächtnis (z. B. motorische Bewegungsabläufe) weitgehend unabhängig vom Hippocampus funktioniert.“313 Dies wird durch die sogenannte „Hebb’sche Regel“ unterstützt. Donald O. Hebb „schlug das Konzept der „Zellensembles“… vor, bei dem, nach seiner Vorstellung, Zellen, die häufig zusammen aktiv sind, eine besonders enge Verbindung eingehen sollten…. Diese sogenannte ‚Hebb’sche Regel‘, die bis heute ein wichtiges Konzept in der Gedächtnisforschung ist, beschreibt, dass im Gehirn Assoziationen gespeichert werden. So lassen sich die Assoziation des Bildes einer Rose mit ihrem Geruch oder die des Bildes eines Menschen mit den schönen – oder weniger schönen – Erlebnissen, die man mit ihm hatte, tatsächlich durch die Hebb’sche Regel erklären. Gleichzeitige Aktivität von Nervenzellen, die beispielsweise auf Geruch und Bild reagieren, führt dazu, dass die entsprechenden

311 Hans.J. Markowitsch und Harald Welzer, a. a. O., 68. 312 Gerhard Roth, Wie funktioniert mein Gedächtnis und wie kann ich es verbessern? Rede anlässlich der Immatrikulationsfeier an der Freien Universität Berlin im WS 2002/2003, 16. Oktober 2002, http://www.fu-berlin.de/sites/immafeier/roth/roth_0203.html. Zugriff 06. 12. 2013. 313 Martin Korte, Tobias Bonhoeffer, Wie wir uns erinnern. In: Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hg.), Zukunft Gehirn, München 2011, 63–64.

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Zellensembles fester zusammengebunden werden; am Ende so fest, dass der Geruch allein die gesamte Empfindung der Rose auslösen kann.“314 Wie stark andere Menschen auf uns einwirken können, hängt auch von der Glaubwürdigkeit ab, die wir ihnen emotional zubilligen, „subjects are particularly motivated to pick up information associated with the trusted person, whereas trust in passive paradigms down-regulate executive and social cognitive processing, because subjects suspend or „hand over“ their critical faculty to the trusted person.“315 Auch hier sind biologische Faktoren prägend. Gerhard Roth weist auf die Relevanz der Glaubwürdigkeit im Lernprozess hin. Die Amygdala und die limbische Großhirnrinde sind im Gehirn für die Abschätzung von Vertrauenswürdigkeit zuständig, ein Vorgang, der innerhalb weniger Sekunden zu Beginn einer Begegnung oder eines Gesprächs geschieht und darüber entscheidet, ob die Person zu einer Leitfigur und einem Vorbild werden und Menschen prägen kann.316 Wichtig für die Wirkung eines Menschen auf andere Menschen ist die Prosodie, die Stimmmelodie. „Mit dem Begriff der Prosodie wird die Modulation von Tonhöhe, Lautstärke, Sprechrhythmus und Stimmqualität im Verlauf sprachlicher Äußerungen bezeichnet… prosodische Merkmale (spiegeln) auch aktuelle Stimmung und Befindlichkeit… eines Menschen wider und tragen in Verbindung mit Gestik und Mimik zum nonverbalen Ausdruck von Emotionen bei.“317 – „Etwas zugespitzt formuliert umfasst Prosodie alle diejenigen Dimensionen der Lautstruktur verbaler Äußerungen, die nicht ‚in Worte gefasst‘ wurden, aber dennoch im Verlauf einer Konversation relevante Informationen vermitteln“318 – etwa darüber, ob eine Äußerung ironisch oder sarkastisch oder humorvoll gemeint ist. „Understanding prosodic attitudes is a key element of successful social cognition, and can shape the actions and discourse of both the sender and receiver.“319 Männern wird dank ihrer tiefen Stimme eine höhere Glaubwürdigkeit zugebilligt als Frauen, die eine hohe Stimme haben. Das ist ein interessantes 314 Martin Korte, Tobias Bonhoeffer, a. a. O., 66. 315 Uffe Schjoedt, Hans Stødkilde-Jørgensen, Armin W. Geertz, Torben E. Lund, Andreas Roepstorff, The power of charisma – perceived charisma inhibits the frontal executive network of believers in intercessory prayer. In: SCAN (2011) 6, 25. 316 Vgl. Gerhard Roth. Neuronen in der Schule. Wie das Gehirn lernt. SWR 2 Aula vom 19. 7. 2011. http://www.swr.de/-/id=8002092/property=download/nid=660374/1fc642e/swr2-wis sen-20110619.pdf, 5. Zugriff 06. 12. 2013. 317 H. Ackermann, I. Hertrich, W. Grodd, D. Wildgruber, „Das Hören von Gefühlen“: Funktionell-neuro-anatomische Grundlagen der Verarbeitung affektiver Prosodie, Akt Neurol 2004, 31: 449. 318 H. Ackermann, I. Hertrich, W. Grodd, D. Wildgruber, a. a. O., 450. 319 Rachel L.C. Mitchell, Elliott D. Ross, Attitudinal prosody: What we know and directions for future study. In: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 37 (2013), 476.

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Beispiel dafür, wie stark elementar Biologisches als wichtige Bedingung zu beachten ist, da ein physiologisches Merkmal starke Auswirkungen auf die Kommunikation hat, was möglicherweise sogar einen biologischen „Sinn“, d. h. eine phylogenetisch begründbare Funktion hat.320 Die Prosodie ist ein entscheidendes Kriterium für Glaubwürdigkeit: „In social cognition, understanding attitudinal prosody is important in its own right, since it can convey powerful constructs such as confidence, persuasion, sarcasm and superiority.“321 Die Führer radikaler Bewegungen sind zum größten Teil Männer. Das liegt – neben der Vorrangstellung der Männer in patriarchalisch geprägten Systemen und Gesellschaften – an der Prosodie322. „Klinische und funktionell-bildgebende Befunde deuten darauf hin, dass die rechte Hemisphäre bevorzugt die Tonhöhe… auditiver Signale extrahiert und darüber hinaus ein auf tonales Material ausgerichtetes Arbeitsgedächtnis umfasst“323. Beide Geschlechter reagieren auf Prosodie unterschiedlich: „Frauen sprechen auf die emotionalen Informationen der Satzmelodie früher an als Männer… Vermutlich verarbeiten Männer im Gegensatz zu Frauen Wortinhalt und Sprachmelodie zunächst getrennt voneinander und stellen erst danach den Bezug zwischen beiden her. Für Frauen scheint dagegen die Satzmelodie wichtiger als die Bedeutung der Wörter zu sein und diese im Zweifelsfall zu dominieren.“324 Wie wichtig die Prosodie ist zeigt das Leiden von Menschen, die nach einem rechtshemisphärischen Infarkt nur über eine monotone und unmodulierte Stimme verfügen: „Beeinträchtigungen der Sprachproduktion stellen… kein bloß ‚kosmetisches‘ Problem dar, sondern können die Kommunikation im Alltag erheblich kompromittieren und auch zur Berufsunfähigkeit führen.“325 In der Tat ist eine angenehme Stimmführung für Predigerinnen und Prediger ausgesprochen wichtig, und eine Beeinträchtigung würde die Berufsausübung erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen.

320 Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn, Heidelberg. 321 Rachel L.C. Mitchell, Elliott D. Ross, a. a. O., 471. 322 „Über diese auf die Gestaltung sprachlicher Konversation bezogenen Aspekte von Prosodie hinaus schlagen sich schließlich auch Sprecheigenschaften wie Alter, Geschlecht und aktuelle Befindlichkeit in sprachlichen Äußerungen nieder.“ H. Ackermann, I. Hertrich, W. Grodd, D. Wildgruber, a. a. O., 451. 323 H. Ackermann, I. Hertrich, W. Grodd, D. Wildgruber, a. a. O., 455. 324 Angela D. Friedrici, Der Lauscher im Kopf. In: Gehirn und Geist 2(2003), 45. 325 H. Ackermann, I. Hertrich, W. Grodd, D. Wildgruber, a. a. O., 452.

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Homiletische Anregungen Die kurze Form der Predigt kommt den Hörenden entgegen. Eine längere Predigt über 15 Minuten326 muss entsprechend aufgebaut sein und z. B. den Hörenden nach 5 Minuten einen zusammenfassenden Gedanken bieten. Bedeutend für das Gedächtnis ist auch die Wiederholung, insbesondere auch die innere, durch Erinnern geleistete Wiederholung, indem ein Bild durch eine synonyme Formulierung wieder aufgerufen wird.327 Für die Homiletik ergibt sich dank der neurowissenschaftlichen (und der konvergierenden psychologischen und pädagogischen) Ergebnisse die Herausforderung, Geschichten, die mit biographischen Motiven verknüpft werden, so emotional bewegend zu erzählen, dass sie besser im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden können.328 Selbst ethische Themen sind offensichtlich in der Lage, für eine Dopaminausschüttung zu sorgen, wenn sie in Bezug zur Lebenswirklichkeit von Menschen gesetzt werden. „Eine gute Predigt verbindet die Auslegung der Bibel mit einem erkennbaren Lebensbezug.“329 Es gibt kein Gedächtnis ohne emotionale Beteiligung. Auch Jesus von Nazareth hat um die Bedeutung des emotionalen Lernens gewusst: „Evidenz durch sinnliches Wahrnehmen und durch emotionales Erleben stellte sich dadurch ein, dass der Nazarener das praktizierte, was er predigte: Er selbst wandte sich Verlorenen, Verachteten, gesellschaftlichen Außenseitern, Unreinen und Kranken zu, aß mit ihnen, wirkte als Charismatiker (wie auch immer erklärbare, historisch freilich gut belegte) Heilungen an ihren Psychen und Körpern, setzte sich souverän über menschliche Standesgrenzen hinweg und verkündete gleichzeitig, dass in diesem Tun Gott selbst am Werke sei und keimhaft sein neues Reich aufzurichten begänne… Hier wurde sinnlich im Kleinen erfahrbar, mit Freuden erlebbar und mit Händen greifbar, was als Großes erwartet werden durfte.“330

326 Helmut Schwier hält den Zeitrahmen von 15 Minuten für maximal in einem normalen Gemeindegottesdienst. Vgl. Helmut Schwier, Was ist eine gute Predigt? 135. 327 Hinweis von Prof. Dr. Andreas Draguhn, Heidelberg. 328 Wolfgang Drechsel beobachtet, dass „in faktisch allen Protokollen, Fallberichten etc. die Seelsorgepartner sich über Lebens-Geschichten bzw. Lebens-Geschichtliches darstellen. Sei es in breiten Erzählungen oder in Randbemerkungen: sei es in eigenen Erinnerungen oder im Reden über andere, zu denen ja immer auch ein biographischer Bezug besteht; sei es im Reden über das,was ich gestern gemacht habe, oder über die Konflikte mit dem Ehepartner, oder über die Trauer, oder über ‚mein Leben‘ anlässlich eines runden Geburtstages; sei es beim Kasualgespräch, Neuzugezogenenbesuch, am ‚Stammtisch‘ oder auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt – durchgehend tauchen Lebensgeschichten auf, zumeist in kleinen Formen als mehr oder weniger ausführliche Erzählung.“ Wolfgang Drechsel, a. a. O., 49. 329 Helmut Schwier, Was ist eine gute Predigt? 135. 330 Peter Lampe, a. a. O., 152.

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Emotionale Nähe kann selbst durch religiöse Handlungen hervorgerufen werden, deren Inhalte von den Menschen nicht genau verstanden werden, weil sie die Sprache, in der die Handlung vollzogen wird, nicht oder nur unzureichend verstehen. Möglicherweise wirkt die Handlung deshalb sogar verstärkt faszinierend oder gar magisch.331 Die Kurze Form kann die emotionale Ebene z. B. dadurch herstellen, dass sie von eigenen Erfahrungen erzählt, von dem, was die Predigenden ganz persönlich betroffen hat. Die Kurze Form hat dabei die Chance, dies in konzentrierter Form zu tun und dabei zu vermeiden, dass die Predigt emotional „überladen“ wirkt. Für die Homiletik fruchtbar ist folgende Überlegung: Wenn ein Bild beschrieben wird, z. B. eine Rose, wird bei vielen Menschen der Sinneseindruck des Dufts einer Rose mit aufgerufen. Homiletisch interessant wird es, wenn diese bekannte Kombination um einen Aspekt erweitert wird, z. B. einen theologischen Gedanken oder eine biblische Geschichte, noch besser ist es, wenn diese Ergänzung überraschend und neu ist. Eine solche Mehrfachkombination macht sich das Lied „Maria durch ein Dornwald ging“ zunutze, ein beliebtes Weihnachtslied, dessen Popularität sich durchaus durch die geschickte theologische Erweiterung der bekannten Kombination Rose und Dornen ergibt. Im Blick auf die Kurze Form der Predigt ist anzumerken: Nicht alles muss ausgeführt werden, Andeutungen können reichen, wenn sie überraschend sind und gut verknüpft. Die Herausforderung an die sprachliche Schönheit nimmt mit der Kürze der Predigt nicht ab – im Gegenteil! Kurze Predigten (wie auch alle anderen literarischen Formen) erfordern eine besondere Präzision332. Schon Norbert Lohfink hat darauf hingewiesen, dass die Kurze Form des biblischen Credo „Ein wandernder Aramäer war mein Vater“ nicht die Vorform (wie Gerhard von Rad noch meinte), sondern die ausgereifte späte Form ist.333 Insgesamt gilt: Die Rede von Gott verträgt „keine handwerkliche Schludrigkeit“334. Zur kunstvollen Gestaltung einer Predigt kann auch die Technik des „Priming“ zählen. Semantisches Priming kann Wortfelder und Assoziationen bahnen und das Gehörte einprägsam werden lassen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Satz 331 Das Zauberwort „Hokuspokus“ ist vermutlich das missgehörte „hoc est corpus meum“ der lateinischen Messe, das vom Priester während der Wandlung gemurmelt wird. 332 Hans Christoph Buch bezeichnet Peters Handkes kurze Aufzeichnungen als „das Beste und Schönste, was derzeit in deutscher Sprache zu lesen ist“. (Klappentext zu Peter Handke, Das Gewicht der Welt, Frankfurt 1979). Im Gegensatz zu früheren Annahmen sind die kurzen Bekenntnisformeln des Alten Testaments nicht die ältesten, sondern die elaborierten jüngsten Fassungen. 333 Vgl. Norbert Lohfink, Zum „kleinen geschichtlichen Credo“ Dtn 26,5–9, ThPh 46 (1971), 19– 39. 334 Helmut Schwier, a. a. O., 141.

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„Nichts ist gut in…“ – ein Leitmotiv aus der Neujahrspredigt von Margot Käßmann 2010. Der Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ wurde zum Schlagwort und publizistisch umfassend aufgegriffen. Bedeutend für das Gedächtnis ist die Wiederholung durch identische, aber auch durch synonyme Bilder oder Begriffe, die das Gelernte wieder aufrufen. Wenn Menschen Negatives länger erinnern als Positives, sollte die Predigt dies sprachlich berücksichtigen und verneinende Sätze vermeiden. Sie prägen sich wahrscheinlich länger ein als beabsichtigt und können sich vor die frohmachende und tröstliche Botschaft schieben – es sei denn, man möchte, wie Margot Käßmann, dass gerade das Negative (nämlich der Kriegszustand in Afghanistan) erinnert wird. Attraktiv ist auch eine schöne und korrekte Sprachgestaltung.335 Wenn schon Kleinkinder eine Störung der Syntax wahrnehmen ist zu vermuten, dass solche Fehler auch bei Erwachsenen zu Irritationen beim Zuhören führen.

3.8.

Zusammenfassung

In sechs beispielhaft angeführten Bereichen wurde untersucht, inwiefern neurowissenschaftliche Beschreibungen in Verbindung mit konvergierenden psychologischen und pädagogischen Perspektiven wesentliche Ergänzungen oder ganz neue Erkenntnisse bieten, die für homiletische Überlegungen fruchtbar ausgewertet werden können. Überlegungen zur Selbstbelohnung des Menschen, zu seiner Existenz als soziales Wesen, zu Mitgefühl, zum Kontext, zur Kommunikation durch Symbole und schließlich zur Bedeutung von Emotionen für das Lernen haben gezeigt, dass diese Forschung Erkenntnisse hervorgebracht hat, die die Homiletik im Blick auf Aspekte des Erlebens, Handelns und der sozialen Angewiesenheit von Menschen inspirieren können. Das Belohnungssystem des Menschen macht einleuchtend, warum Menschen sich mit dem status quo nicht zufrieden geben. Das wirft ein neues Licht auf systematisch-theologische Themen und biblische Erzählungen und erklärt, warum moralische Appelle an die Vernunft scheitern. Wenn breite Netzwerke im Gehirn aktiviert sind, werden Menschen aufmerksam. Weil dies bei einem Witz geschieht, mögen Menschen witzige Geschichten und hören gerne Witzen zu. Das erklärt den Erfolg von Witzen in der Predigt bzw. von humorvollen Predigten. Prediger, die ihre Predigten mit einem

335 So auch Helmut Schwier, a. a. O., 135: „Eine gute Predigt ist lebendig und verständlich in der Sprache.“

Bezüge zu Neurowissenschaften

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Witz beginnen, wissen genau, dass sie damit ihre Hörerinnen und Hörer für sich einnehmen. Eine Predigt kann von Hörenden als Belohnung eingestuft werden und eine Dopaminausschüttung provozieren. Dies kann etwa geschehen, wenn die Predigt „Bilder im Kopf“ entstehen lässt, überraschend anders ist und Hinweise bietet, die Menschen für sich als Lebensgewinn einstufen, also einen Hörgenuss bietet und damit eine Art „höherer Belohnung“ darstellt. Menschen sind nur in einem sozialen Kontext überlebensfähig und können nur als soziale Wesen wesentliche sensorische und sprachliche Fähigkeiten ausbilden. Isoliertes Leben ist nicht möglich. Auch die Theologie beschreibt den Menschen als Gegenüber und gibt Hinweise, wie das soziale Leben gestaltet werden kann. In einer Predigt kann dies entfaltet werden. Die Predigt kann dabei berücksichtigen, was notwendig ist, um Menschen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Sie wird etwa zeigen können, dass Regeln das Leben interessanter gestalten – jedes Spiel ist schließlich auch nur dank der Regeln spannend. Die Predigt kann überraschend und spannend erzählen, wie Beziehungsmuster entdeckt und entwickelt werden. Kasualpredigten begleiten Knotenpunkte menschlichen Zusammenlebens und können durch das Aktivieren positiver Erinnerungen Menschen helfen, ihr Leben zu gestalten und selbst traurige Ereignisse zu überstehen; sie können helfen, traumatische Situationen zu verarbeiten und Selbstheilungskräfte zu stärken. Wichtige neue Erkenntnisse und Sichtweisen auf menschliches Verhalten bieten die geschilderten Beobachtungen zur Blockade von Mitgefühl. Vor allem für Predigten über ethische Themen ist dies relevant. Die Predigt kann erläutern, warum Menschen immer wieder erleben, dass sie selbst oder andere Menschen nicht mitfühlend empfinden und handeln, zugleich kann die Predigt Hinweise geben, wie die Fähigkeit zum Mitgefühl gestärkt werden kann oder performativ als meditative Predigt selbst so wirken. Gesellschaftliche Relevanz hat die Predigt, wenn sie wach ist gegenüber Tendenzen, gesellschaftliche Gruppen als Defektoren markieren zu wollen, um sie gefahrlos beschädigen zu können, weil die Gemeinschaft sie nicht als zugehörig begreift. Menschliches Leben ist Leben in Kontexten, alles Organische findet in den vorgegebenen Dimensionen von Zeit und Raum statt. Auch die Areale des Gehirns sind untereinander vernetzt. Deshalb wirken sich der Leib des Predigenden, die Stimme, sein Kontext von Gemeinde, Bibeltext, Welt, Lebens- und Gottesbeziehungen und die Hörenden auf das Predigtgeschehen aus. Raumeindrücke verbinden sich im Gehirn mit der Botschaft der Predigt. Eine Kasualansprache in der Trauerhalle oder ein Gottesdienst unter freiem Himmel etwa wird den Kontext besonders beachten müssen. Es verwundert deshalb auch nicht, dass Menschen Raummetaphern benutzen, um neuronale Vorgänge zu beschreiben, wobei sich die Kurze Form der Predigt

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auf ein Raum-Bild beschränken sollte, um nicht zu verwirren. Sprache kann den Hörenden innere Räume eröffnen und Menschen durch ihre Bilder helfen, diese Räume zu betreten. Für die Homiletik stellt sich die Herausforderung: Wie kann ich Bilder im Kopf entstehen lassen, die die neuronalen Netzwerke aktivieren, so dass Hörende hörend erleben, was ich erzähle und „mit den Ohren sehen“? Gegenüber dem Kino hat die Predigt dabei den Vorteil, dass sie „in der Zeit“ erzählt. Auditorisch kann nur sequentiell in der Zeit wahrgenommen werden, die Hörenden müssen das Gehörte selbständig zusammenbauen, womit die Hörenden aktiver sind als bei einem Film, der viele Informationen gleichzeitig bietet. Wenn es gelingt, Inhalte mit Sinneseindrücken zu kombinieren, wird die Botschaft besser verstanden, noch besser, wenn sie in den Verlauf einer Geschichte, also eines sprachlichen Weges, eingebunden ist. Auf die Stimmigkeit der Bilder und eine schöne Sprache ist dabei zu achten, weil unstimmige Bilder stören. Stimmige Bilder, die verschiedene Sinneseindrücke ansprechen, aktivieren größere Gehirnareale und werden später besser erinnert. Weil Glaubwürdigkeit sich in wenigen Sekunden nach Gesprächsbeginn entscheidet, ist es außerordentlich wichtig, wie das Gespräch mit der Gemeinde begonnen wird. Es gibt kein Gedächtnis ohne emotionale Beteiligung. Für die Homiletik ergibt sich dank der neurowissenschaftlichen Ergebnisse die Herausforderung, Geschichten, die mit biographischen Motiven verknüpft werden, so emotional bewegend zu erzählen, dass sie besser im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden können. Selbst ethische Themen sind dann offensichtlich in der Lage, für eine Dopaminausschüttung zu sorgen, wenn sie in Bezug zur Lebenswirklichkeit von Menschen gesetzt werden. Für die Homiletik fruchtbar ist folgende Überlegung: Wenn ein Bild beschrieben wird, z. B. eine Rose, wird bei vielen Menschen der Sinneseindruck des Dufts einer Rose mit aufgerufen. Homiletisch interessant wird es, wenn diese bekannte Kombination um einen weiteren Aspekt erweitert wird, z. B. einen theologischen Gedanken oder eine biblische Geschichte, noch besser ist es, wenn diese Ergänzung überraschend und neu ist. Zur kunstvollen Gestaltung einer Predigt kann auch die Technik des „Priming“ zählen. Semantisches Priming kann Wortfelder und Assoziationen bahnen und das Gehörte einprägsam werden lassen. Weil Menschen Negatives länger erinnern als Positives, sollte die Predigt dies sprachlich berücksichtigen und verneinende Sätze vermeiden. Sie prägen sich wahrscheinlich länger ein als beabsichtigt und können sich vor die frohmachende und tröstliche Botschaft schieben – es sei denn, man möchte, wie Margot Käßmann, dass gerade das Negative (nämlich der Kriegszustand in Afghanistan) erinnert wird.

Bezüge zu Neurowissenschaften

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Insgesamt zeigt sich, dass die Neurowissenschaften einzelne Randbedingungen und interessante körperlich-biologische Bezüge des Predigterlebens aufweisen können und insofern eine wichtige Ergänzung klassischer Ansätze etwa aus Pädagogik, Psychologie und Theologie sind. Zugleich ist festzuhalten, dass beim derzeitigen Forschungsstand der Neurowissenschaften noch offen ist, ob sie künftig so komplexe Systeme wie das Predigterleben erfassen können und aus ihrer Perspektive konkrete positive Handlungsanweisungen im Detail geben können. Die geschilderten Ergebnisse ermutigen, die Kurze Form nicht als Einschränkung, sondern als besondere Chance wahrzunehmen und geben Gestaltungsimpulse. Die kurze Form der Predigt kommt den Hörenden entgegen, weil Menschen einem neuen Stoff nur 5 Minuten konzentriert zuhören können und das Arbeitsgedächtnis dann Gelegenheit haben muss, das Gehörte oder Gelesene zusammenzubinden. Andernfalls geht das Gehörte verloren und wird nicht erinnert. Wenn es gelingt, einen Überraschungsmoment (und es genügt ein einzelner Moment!), der die Neugier der Hörenden weckt, in der Predigt mit emotionalen Faktoren zu verbinden, dann verstärkt sich die Erinnerung an das Gehörte. Bedeutend für das Gedächtnis ist die Wiederholung. Das muss auch in der Kurzen Form nicht eintönig wirken. Ein sprachliches Bild kann durch eine synonyme Formulierung wiederkehrend vorkommen. Im Wissen um das Leibgedächtnis des Menschen kann die Kurze Form bewusst Raummetaphern nutzen, um die Erinnerung auch in der Kürze der Zeit zu stärken und zu verankern. Menschliches Gedächtnis ist ein autobiographisches Gedächtnis, Menschen leben in und aus ihrem sozialen Kontext, der ihr Gedächtnis prägt. Die Kurze Form der Predigt hat – wie die Langform – auch eine prophetische Aufgabe und behandelt ethische Themen. Sie kann sich dabei die biblische Kurze Form der Gleichnisse Jesu zum Vorbild nehmen und narrativ kurze Geschichten erzählen, die sich mit ethischen Themen auseinandersetzen und in und durch ihre Kürze und Narration prägnant wirken. Sie wird dabei auf moralische Appelle verzichten, weil sie weiß, dass dies nicht zu Verhaltensänderungen führt. Vielmehr wird die Kurze Form den Mut haben, ein ethisches Thema nicht umfassend, sondern aus einer ausgewählten Perspektive prägnant zu behandeln. Emotionale Erinnerungen an positive und auch negative Erfahrungen können heilsame Wirkungen entfalten, die Kurze Form hat hier den Vorteil, dass sie diese Erinnerungen „dosiert“ mitteilt und zugleich vermeidet, in der Fülle bedrängend zu wirken. Sprachliche Bilder ermöglichen es den Hörenden auch in der Kurzen Form, mit den „Ohren zu sehen“. Die Verknüpfung verschiedener Sinneseindrücke (Hebb’sche Regel) erleichtert diesen Effekt und ist in der Kurzen Form gut darstellbar. Die Herausforderung an die sprachliche Schönheit nimmt mit der Kürze der Predigt nicht ab – im Gegenteil! Kurze Predigten (wie auch alle

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Zugänge

anderen literarischen Formen) erfordern eine besondere Präzision. Ihre Sprache muss prägnant wirken und im Wissen um die Wirkung der Prosodie besonders in der Kurzen Form akustisch angenehm für die Hörenden präsentiert werden. Durch die Kürze der Predigt bleibt kaum Zeit, eine akustisch unangenehme Präsentation durch andere Faktoren aufzuwiegen. Humor ist ein Mittel, das in kurzer Zeit breite Netzwerke im Gehirn aktiviert und die Aufmerksamkeit von Menschen weckt, so dass diese das Hören der Predigt als höhere Belohnung einstufen.

Gleichnisse als biblische Kurze Form der Predigt

4.

Gleichnisse als biblische Kurze Form der Predigt

4.1.

Einführung

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Ich habe den literaturwissenschaftlichen Zugang erkundet und kurze literarische Formen entdeckt, mich mit homiletischen Konzepten zur Persönlichkeit der Predigenden beschäftigt und mehr über die neurobiologischen Voraussetzungen menschlichen Verhaltens erfahren. Jetzt soll der biblische Horizont der Kurzen Form betrachtet werden. Selbstverständlich hätte die biblische Form auch als erste gesichtet werden können. Ich habe entschieden, sie jetzt im Anschluss an Literaturwissenschaft und Neurowissenschaft zu behandeln, da an dieser Stelle die Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Überlegungen in die Analyse einbezogen werden können, was sowohl neue Perspektiven auf die Gleichnisse eröffnen wie dazu beitragen wird, sie für unsere Fragestellung fruchtbar zu machen. Gleichnisse sind als biblische Form beispielhafte Kurze Formen der Predigt.336 Hans Weder337 hat auf ihre besondere Metaphorizität hingewiesen. Gleichnisse sind als Metaphern unaustauschbare Sprechakte. Sie sind eng mit der Person Jesu verbunden, Jesu Handeln und seine Predigt gehören zusammen, beide bringen die Basileia zu den Menschen, wenn sie erzählt werden, wird die Nähe der Basileia Ereignis. Weder betont die einladende Sprache der Gleichnisse, die Menschen so anreden will, dass sie sich zugleich als von Gott angesprochene und geliebte Menschen erkennen.338 Gleichnisse sind Wissensgewinn, lehren die Freude an der Gnade Gottes und ziehen die Hörenden in ein Sprachspiel339, in dem sie 336 Während ich die Gleichnisse Jesu als Beispiele für eine Kurze Form der Predigt verstehe, kann Leonhardt Fendt das nicht so sehen: „Man spricht von der „Predigt Jesu“ und meint damit ebenso die Form wie auch den Inhalt der Verkündigung Jesu. Streng genommen darf man aber die Verkündigung Jesu nicht „Predigt“ nennen; denn die Form „Predigt“ im technischen Sinn von heute hat Jesus nicht geübt. Diese Form „Predigt“ entstand erst, als die Botschaft Jesu mit der rhetorischen Kunst der antiken Kulturwelt vorgebracht zu werden begann. Nach Ausweis der Evangelien übte Jesus seine Botschaftstätigkeit im Wort hauptsächlich in der katechetisch-biblischen Form (obwohl ja auch von „Katechese“ erst gesprochen werden kann, seitdem die Unterweisung der Kirche sich mit der Pädagogik befreundete); oft aber erhob sich die Verkündigung Jesu zur prophetisch-biblischen Form. Doch muss bei Jesus in Betracht gezogen werden, daß er, wie Rudolf Otto es ausdrückt, eine „charismatische Gestalt“ war, also beide Formen, die biblisch-katechetische wie die biblischprophetische, als Machtträger Gottes ausübte“. (Leonhard Fendt. Homiletik, Berlin 21970, 129.) 337 Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen ²1980. 338 Vgl. Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen ²1980, 87–88. 339 So auch Klaas Huizing, der in den Gleichnissen „jesuanische Sprachspiele“ erkennt. Vgl. Klaas Huizing, Ästhetische Identität. Konstruktivistische und dekonstruktivistische An-

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selbstvergessen spielend die Basileia für ihr Leben inszenieren.340 Auch Peter Lampe betont, dass Jesus in den Gleichnissen den Hörenden seiner Zeit in einer für sie neuen und damit überraschenden und zu einer Entscheidung provozierenden Weise die Basileia Gottes erschloss und zugleich eine neue Wirklichkeit hervorbrachte.341 So haben Gleichnisse einen eschatologischen Charakter, sie zeigen die Nähe Gottes, verweisen zugleich auf das Kommen Gottes bzw. realisieren es. Durch die Gleichnisse verstehen Menschen etwas von Gott, und dieses Verständnis verändert ihr Verhalten, so dass sie zu einer neuen Einstellung finden – Gleichnisse haben also eine ethische Dimension. Obwohl die biblischen Gleichnisse aufs Engste mit der Person Jesu und seinem Handeln verbunden sind, sind sie keineswegs eine Erfindung Jesu. Die Rabbinische Erzähltradition schöpft aus denselben Quellen wie die Gleichnisse Jesu, nutzt dasselbe Bild- und Motivmaterial und hat identische erzählerische Grundstrukturen.342 Allerdings vermitteln Gleichnisse einen authentischen343 Eindruck davon, wie Jesus zu den Menschen gesprochen hat.344 Gleichnisse sind fiktional, allerdings weist die Fiktionalität der Gleichnisse eine große Realitätsnähe auf, da die geschilderten Personen und Situationen nicht märchenhaft, sondern nach Vorbildern aus der konkreten Umwelt gezeichnet sind. Für Zimmermann ist die Fiktionalität entscheidendes Kriterium für die Parabel, so dass er Mt 12, 40 als Parabel ausschließt, da hier auf Jona rekurriert und also ein geschichtlich vorgestelltes Ereignis erzählt werde. Auf der anderen Seite bescheinigt er der Hochzeit zu Kana Joh 2, 1–11 metaphorischen Charakter in der Perspektive eines narrativen Rollentauschs und zählt sie deshalb zu den Parabeln hinzu345. Gegen Zimmermann kann die metaphorische Qualität von Mt 12, 40 angeführt werden, die er ja selbst einräumt. Wenn Zimmermann Joh 2, 1–11 fiktional einordnet, da „deren metaphorischer Charakter in der Perspektive eines narrativen Rollentauschs kaum geleugnet werden kann“346, ist zu fragen, warum nicht das gesamte Johannesevangelium als fiktional definiert werden könnte, etwa wenn man wie Hartwig Thyen das Johannesevangelium als

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fragen an eine Ästhetische Theologie. In: Andreas Klein, Ulrich H.J. Körtner, Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt, Neukirchen 2011, 167. Vgl. Hans Weder, a. a. O., 89–91. Vgl. Peter Lampe, a. a. O., 151. Vgl. Gerd Theißen, Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 286. Vgl. Gerd Theißen, Annette Merz, a. a. O., 303. „die Jesus-Stufe (lässt) sich durchaus unterscheiden… von der literarischen Ebene des Evangeliums.“ Gerd Häfner, Erosion des Urgesteins? Zu Überlieferung und Auslegung der Gleichnisse Jesu. In: Ulrich Busse (Hg.), Erinnerung an Jesus, Bonner biblische Beiträge 166, Bonn 2011, 195. Ruben Zimmermann, Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 26. Ruben Zimmermann, a. a. O., 26.

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einen „kohärenten und hoch poetischen literarischen und auktorialen Text“347 interpretiert. Das Kriterium Fiktionalität scheint offenbar zu schillern. Gleichnisse sind für diese Arbeit auch deshalb so interessant, weil sie sehr kurz sind: Nur ein Satz etwa im Fall der Gleichnisse vom Schatz im Acker und der Perle! In der ausführlichen Form – etwa im Gleichnis vom verlorenen Sohn – sind sie immer noch kurz im Sinne einer Kurzpredigt: gesprochen unter fünf Minuten lang. Gleichnisse bzw. Parabeln348 werden nach Zimmermann durch sechs Merkmale349 gekennzeichnet. Sie sind: narrativ, fiktional, realistisch, metaphorisch, appellativ und ko- bzw. kontextbezogen.350 Die Kürze wird von Zimmermann merkwürdigerweise nur indirekt als weiteres Kriterium genannt: „Eine Parabel ist ein kurzer narrativer… Text“351, „Parabeln sind Erzählminiaturen“352. Als eigenständiges Merkmal führt er die Kürze jedoch nicht auf, obwohl andere die Kürze als markantes Kriterium anführen.353 Es ist unverständlich, warum die Kürze von Zimmermann nicht ausdrücklich als Merkmal der Parabel genannt wird, zumal es in der Tat keine langen Gleichnisse gibt. Selbst das „lange“ Gleichnis vom Verlorenen Sohn nimmt keine ganze Bibelseite ein. Im Folgenden sollen Gleichnisse aus dem Sondergut des Lukas-, Matthäusund Markusevangeliums im Blick auf Aspekte angesehen werden, die Hinweise für die Kurze Form der Predigt bieten können. Dabei werden die Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen und der neurowissenschaftlichen Beobachtungen in die Überlegungen mit einbezogen.

347 Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT, Tübingen 2005, 4. 348 Diese Bezeichnung bevorzugt Zimmermann: „Ausgehend von dem Gattungsbewusstsein und Terminusgebrauch der ntl. Autoren sowie der Fülle des Textmaterials scheint mir „Parabel“ die einzige angemessene Bezeichnung zu sein, die auch in diesem Kompendium maßgeblich wurde: Parabel – sonst nichts!“ Ruben Zimmermann, a. a. O., 23. Anders z. B. Gerd Theißen, Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996. Zur Forschungsgeschichte der Gattungsbestimmung vgl. Ruben Zimmermann, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“. In: Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, Tübingen 2008, 383– 419. 349 Deren Nähe zu neurowissenschaftlichen Beobachtungen ist evident: Vgl. im Kapitel Neurowissenschaften die Beobachtungen zu Kontext, Biographie und Mitgefühl. 350 Ruben Zimmermann, a. a. O., 25. 351 Ruben Zimmermann, a. a. O., 25. 352 Ruben Zimmermann, a. a. O., 26. 353 Ricoeur, Heininger, Söding, Dormeyer u. a., Aufzählung bei Ruben Zimmermann, a. a. O., 25.

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4.2.

Die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der Perle (Mt 13, 44–45)

In zwei Sätzen und zwei Bibelversen erzählt Jesus bzw. der Evangelist Matthäus zwei Gleichnisse – eine biblische Form der literarischen Form der Aufzeichnung. In zwei Sätzen eröffnen sich zwei Welten, zugleich werden unterschiedliche Menschen angesprochen, zumindest stammen die handelnden Hauptpersonen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Ein Perlenkaufmann ist vermögend, ein Mann, der einen Acker bestellt, der ihm nicht gehört, eher nicht.354 So unterschiedlich wie die angesprochenen Milieus sind die vorhandenen Parallelen: „Die Geschichte vom Schatz im Acker ist eine Variante eines in unzähligen Volkserzählungen und Märchen geläufigen Motivs, zur Parabel vom Perlenkaufmann scheint es kaum nahe Parallelen zu geben.“355 Beides spricht nicht gegen ihre Herkunft von Jesus: „Daß Jesus ein verbreitetes volkstümliches Sujet benutzte, ist ebensogut (sic) möglich wie dies, daß er eine neue Parabel schuf.“356 Luz unterscheidet zwischen Bild- und Sachhälfte und meint, die „beiden Gleichnisse wollen also das menschliche Handeln angesichts der Chance des Himmelreichs einschärfen.“357 „Die von Matthäus beabsichtigte Applikation der beiden Gleichnisse ist also klar“358 – tatsächlich? „Der springende Punkt der beiden Parabeln ist bei Matthäus so klar, daß Jesus sie seinen Jüngern nicht deuten muss“359 – wenn das stimmt, ist zu fragen, warum die Auslegungsgeschichte dann so vielfältig ist und warum die nach Luz’ Meinung zentrale Mahnung zum Verzicht auf den Besitz fast vollständig zugunsten anderer Auslegungen zurücktritt? 360 Luise Schottroff entscheidet: „Beide Gleichnisse wollen zum Verstehen mit dem Herzen, zum Leben nach Gottes Willen ermutigen. Alles zu verkaufen, was man hat, ist Teil der beiden Geschichten, aber auch die Brücke zur impliziten Gleichniserklärung.“361 Doch ist mit „Leben nach Gottes Willen“ und „Verstehen mit dem Herzen“ dem „radikalen Schritt“362, den Schottroff selbst sieht, tatsächlich entsprochen? Mir scheint, damit wäre das „über die Maßen Wertvolle“363 in allzu kleine Münze umgetauscht. 354 Luise Schottroff sieht das etwas anders. „Beide freuen sich über wertvollen Besitz, wie er für normale Menschen unerreichbar bleibt.“ Luise Schottroff, a. a. O., 272. Jedoch: Zumindest der Ackerbauer war vor dem Finden des Schatzes nicht unbedingt reich. 355 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/2, Zürich und Braunschweig 1990, 350. 356 Ulrich Luz, a. a. O., 350. 357 Ulrich Luz, a. a. O., 353. 358 Ulrich Luz, a. a. O., 354. 359 Ulrich Luz, a. a. O., 356. 360 Vgl. Ulrich Luz, a. a. O., 356. 361 Luise Schottroff, a. a. O., 272. 362 Luise Schottroff, a. a. O., 272. 363 Vgl. Luise Schottroff, a. a. O., 272.

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Diesem Über-die-Maßen-Wertvollen entspricht die Faszination, die Schatz und Perle auf den Bauern und den Kaufmann ausüben. Peter Müller zieht Mt 6,31–33 zum Vergleich heran und betont die Bedeutung der Gerechtigkeit. Er unterstreicht, dass im Gleichnis vom Schatz im Acker und der Perle dasselbe Verb für „suchen“ – ζητέω364 – verwendet wird wie in der Bergpredigt. Das Verb hat verschiedene Nuancen und kann sowohl das Suchen des Verlorenen als auch die heilige Forderung Gottes meinen.365. „Wenn für die Heiden die Sorge um Nahrung und Kleidung im Vordergrund steht, so soll der Christ am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten… Wie der Perlenhändler auf der Suche nach schönen Perlen (Mt 13, 45) einmal auf ein Kleinod stößt, für das er alle anderen hingibt, so soll der Mensch alles auf das eine große Ziel richten und – paulinisch gesprochen – danach trachten, daß er gerechtfertigt werde.“366 Im Gleichnis geht es um das Suchen nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes (Mt 6, 33).367 Mit vollem Einsatz und ganzem Herzen sollen Menschen nach dieser Gerechtigkeit, die Jesus in der Bergpredigt verkündet hat, suchen. Wenn Menschen nach Gerechtigkeit und dem Reich Gottes mit aller Intensität suchen, dann wird ihnen alles andere zufallen. Das Gleichnis vom Schatz im Acker und der Perle illustriert dieses Suchen in einem Gleichnis. Damit gewinnt das Gleichnis eine eigene Dynamik und innere Spannung: Die Leidenschaft, mit der Menschen nach etwas Kostbarem suchen, wird mit der Leidenschaft für die Gerechtigkeit in Verbindung gebracht. Die Suche nach Gottes Reich ist keine Existenz im Elfenbeinturm, keine weltvergessene Spiritualität, sondern konkretes Tun für andere im Sinne der Bergpredigt, und die Leidenschaft dafür wird ausgerechnet mit zwei Beispielen illustriert, bei denen Menschen zunächst einmal an sich denken. „Die höchst irdischen Motive der Akteure in diesen Erzählungen liegen zudem auf der Hand“368. So ganz legal ist das Handeln des Ackerbauern nicht unbedingt: „Denn der Fund eines Schatzes kann rechtliche Probleme aufwerfen.“369 Perlenhandel ist auch keine soziale Tätigkeit. Auf der anderen Seite üben Schätze und Perlen eine Faszination auf Menschen aus, die nicht unbedingt selbstverständlich vom Tun des Gerechten 364 Vgl. Edvin Larsson, Art. ζητέω. In: Horst Balz, Gerhard Schneider, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 21992, 253–256; und Heinrich Greeven, Art. ζητέω, ζήτησις, ἐκζητέω, ἐπιζητέω. In: Gerhard Friedrich (Hg.), begründet von Gerhard Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1959, 894–896. 365 Vgl. Heinrich Greeven, a. a. O., 894. 366 Heinrich Greeven, a. a. O., 895–896. 367 Vgl. Peter Müller, Die Freude des Findens (Vom Schatz im Acker und von der Perle). In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 423. 368 Luise Schottroff, Sozialgeschichtliche Gleichnisauslegung. In: Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu, Tübingen 2008, 147. 369 Peter Müller, a. a. O., 421. Zur Erklärung der Rechtslage und Parallelen auch Ulrich Luz, a. a. O.,350–354.

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ausgeht. Da das Gleichnis zudem völlig auf moralische Wertungen oder Hinweise verzichtet, die anderen Geschichten der Bildfeldtradition zu eigen sind,370 unterstreicht es noch einmal, dass es um die Leidenschaft geht: Mit Leidenschaft wird die Perle gesucht, mit leidenschaftlicher Konsequenz alles verkauft, um Schatz und Perle zu erwerben. Energie wird frei, wenn Menschen etwas anstreben, das sie begehren. Die beiden kleinen Gleichnisse behaupten sehr kunstvoll, dass Leidenschaft und Glücksrausch mit Gerechtigkeit zusammenhängen. So erweisen sich die beiden kurzen Gleichnisse als typisch für das Matthäusevangelium und es erstaunt nicht, dass sie Sondergut des Matthäus sind (mit Parallelen im Thomasevangelium, die allerdings jünger sind371). Ihre Kürze unterstreicht die Herausforderung an die Kurze Form der Predigt, in den ihr gegebenen Grenzen diese Verbindung so zu präsentieren, dass Menschen sie für sich entdecken können und Lust daran gewinnen, sich selbst auf die Suche zu begeben – in einer Art und Weise, die ihnen selbst und zugleich anderen gut tut. Denn sowohl Ackerbauer als auch Perlenkaufmann tun sich etwas Gutes. Die in 3.2. dargestellten neurowissenschaftlichen Beobachtungen leisten einen wichtigen ergänzenden Beitrag für das Verständnis des Gleichnisses. Sie machen aus biologischer Perspektive einleuchtend, warum Kaufmann und Bauer alles einsetzen, um in den Besitz von Perle und Schatz zu kommen. Perle und Schatz gehen über das hinaus, was Kaufmann und Bauer erwartet haben. Eine Belohnung wirkt nur dann, wenn sie über das Erwartete hinausgeht (prediction error). Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass die persönliche Einschätzung, ob etwas erstrebenswert ist oder nicht, sehr von äußeren, etwa sozialen Faktoren beeinflusst ist und die Außenbewertung sogar die Geschmacksnerven betrügen kann: „In a study of neural responses to sips of wine, medial OFC responses were higher when subjects were told that the wine was expensive ($ 90 per bottle) versus inexpensive ($ 5 per bottle). Activity in this region also correlated with self-report ratings of how much participants liked the wine, even though all wines were actually the same.“372 Auch eine Perle ist nicht per se wertvoll, sondern nur dadurch, dass Menschen sie als begehrenswert oder wertvoll einschätzen. Sicherlich ist es bezeichnend, dass in der Auslegungsgeschichte die jeweiligen Prediger das herausstreichen, was ihre Leidenschaft befeuert, was also das „über die Maßen Wertvolle“ für sie ist. So kann Calvin zu der erstaunlichen Auslegung 370 Vgl. dazu Peter Müller, a. a. O., 422. 371 Vgl. dazu Peter Müller, a. a. O., 425. Vgl. auch Luz: „Aus dem hier sekundären EvThom kann man m. E. kaum sichere Schlüsse ziehen.“ Ulrich Luz, a. a. O., 350. 372 Dan Ariely, Gregory S. Berns, Neuromarketing: the hope and hype of neuroimaging in business. In: Nature Reviews/Neuroscience 11 (2010), 287.

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kommen: „Die beiden Gleichnisse haben das Ziel, dass die Gläubigen das Himmelreich der ganzen Welt voranzustellen lernen und darum sich selbst und allen Lüsten des Fleisches entsagen, damit nichts sie daran hindere, eines solchen Gutes teilhaftig werden zu lassen. Die Ermahnung nun ist uns sehr nützlich, da uns die Lockungen der Welt so sehr fesseln, dass uns darüber das ewige Leben aus den Augen schwindet.“373 Auch Entsagung kann offenbar leidenschaftlich geschehen! Erstaunlich ist, dass das Handeln des Gerechten so leidenschaftlich erfolgen kann. Fanatiker haben das schon immer gewusst und leidenschaftlich für ihre Sache gekämpft. Die neurowissenschaftlichen Beobachtungen zum Suchtverhalten könnten verständlich machen, warum Fanatiker rationalen Argumentationen nicht zugänglich sind.

4.3.

Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4, 26–29)

Wie zeitgebunden Exegese und in der Folge Homiletik sein kann, wird selten so deutlich wie in der Forschungsgeschichte zum Gleichnis von der selbstwachsenden Saat. Theißen nennt drei Auslegungen in Gefolge von liberaler, dialektischer, hermeneutischer Theologie und mehrere zusätzliche Interpretationen, die den Zusammenhang zwischen Arbeit und Erfolg thematisieren.374 Dabei hat die liberale Auslegung den Fokus auf die Entwicklung des Reichs Gottes gelegt375, die dialektische ihren auf den Ausschluss menschlichen Handelns376; der hermeneutische Ansatz konzentriert sich auf die Deutung der Zeit377, und verschiedene weitere Auslegungen sehen die Erfolgszuversicht des Handelnden378 als springenden Punkt. Diese ganz unterschiedlichen Ansätze haben eine Parallele in den ebenfalls ganz unterschiedlichen Vorstellungen, wie die solistische Stellung des Gleichnisses zu erklären sei.379 373 Zitiert bei Peter Müller, a. a. O., 427. 374 Gerd Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4, 26–29? ZNW 85 (1994), 169. 375 Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 169–170. 376 Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 170–171. Eine solche Auslegung bietet Härle in seiner Deutung des Gleichnisses. „Unsere Sache ist es, das Feld zu bestellen, indem wir ordentlich gutes Saatgut aussäen, und dann, wenn die Ernte reif ist, mitzuhelfen, sie einzubringen. Das dazwischen liegt in Gottes Hand.“ In: Wilfried Härle, Hirnforschung und Predigtarbeit. Beobachtungen, Überlegungen und praktische Konsequenzen. In: PrTh 47/2 (2012), 117. 377 Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 171–172. 378 Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 172–173. 379 Vgl. zu den Interpretationsmöglichkeiten auch Lorenz Oberlinner, Die Verwirklichung des Reiches Gottes – Entwicklungslinien beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Mk 4, 26–29. In: Ulrich Busse, Michael Reichardt, Michael Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung, Bonner biblische

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Dieses Gleichnis ist Sondergut des Markusevangeliums, erstaunlicherweise haben Matthäus und Lukas es nicht übernommen, zumal es mit seinem Kontext eng zusammenhängt und wahrscheinlich schon in der Markus vorliegenden Quelle mit dem Gleichnis vom Sämann und dem Gleichnis vom Senfkorn verbunden war.380 Ostmeyer vermutet, dass das Gleichnis Sondergut des Markus ist, weil Lukas und Matthäus das Gleichnis für austauschbar mit dem Gleichnis vom Sauerteig gehalten haben und auf diesem Hintergrund dem Gleichnis vom Sauerteig den Vorzug vor dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat gegeben haben.381 Tatsächlich weisen die beiden Gleichnisse jedoch einen signifikanten Unterschied auf. Überzeugend ist die Beobachtung, dass im Gegensatz zu den Wachstumsgleichnissen, bei denen der winzige Anfang im Kontrast zu dem überwältigenden Ergebnis steht, während die Zeit dazwischen relativ unwichtig ist, beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat die Zeit zwischen Anfang und Ende sehr wichtig ist: „Unübersehbar ist, daß die Zeit zwischen Anfang und Ende sorgfältig gegliedert wird. Auf ihr liegt ein besonderer Akzent.“382 Das Gleichnis greift die landwirtschaftliche Bildwelt auf und könnte auf das erste Hören hin idyllisch wirken, weil auf den ersten Blick die harten Mühen der Landbevölkerung nicht erwähnt werden383, der Ruf zur Ernte als „Jubelruf“384 erklingt und Jesus die Königsherrschaft Gottes als „großes Familienfest“385 ausmalt. Doch ist das Gleichnis der Auftakt zu einem romantischen Erntefest? Gerade das friedliche Bild musste für die ersten Hörer deutliche politische Anklänge haben. Denn die Verheißung des Propheten Micha, dass einmal jeder friedlich unter seinem eigenen Weinstock und eigenen Feigenbaum wohnen würde (Mi 4, 4) ist ja zur Zeit Jesu keineswegs Gegenwart, sondern erhoffte Zukunft; und es gab durchaus Menschen, die ihre Schwerter nicht zu Pflugscharen und ihre Spieße nicht zu Sicheln wandelten (vgl. Mi 4, 3), sondern umgekehrt mit ihren zu Waffen umgeschmiedeten Sicheln diese Zukunft beschleunigt in die Gegenwart bringen wollten: „Josephus berichtet von der Widerstandsgruppe der ‚Sikarier‘, der Messerträger“386. Das Stichwort „Sicheln“

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Beiträge 166, Göttingen 2011, 197–199, der eine traditionsgeschichtliche Betrachtung bevorzugt. Vgl. dazu Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Zürich/Einsiedeln/Köln/ Neukirchen-Vluyn 1978, 182. Vgl. Karl-Heinrich Ostmeyer, Gleichnisse – Quelle des Verständnisses der Umwelt Jesu? Umwelt – Quelle des Verständnisses der Gleichnisse Jesu? In: Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik, 131. Gerd Theißen, a. a. O., 171. Vgl. Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, 149. Joachim Gnilka, a. a. O., 184. Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen. Metapher, Symbol und Mythos als Poesie des Heiligen. In: Evangelische Theologie 66 (2006), 348. Detlev Dormeyer, Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat). In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 322.

Gleichnisse als biblische Kurze Form der Predigt

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dürfte die ersten Hörer auf jeden Fall nicht nur an den Propheten Micha und an seine friedlichen Visionen, sondern auch an den Propheten Joel erinnert haben, dessen apokalyptische Vision des Heiligen Krieges die Sicheln erwähnt, die zu Lanzen geschmiedet werden. Zu der apokalyptischen Vision passt auch das Stichwort „Ernte“, ebenfalls eine endzeitliche Metapher. Das idyllische Bild schillert also gewaltig, „its point is not crystal clear“387, der Kontext unterstreicht die Brisanz noch. Denn im Anschluss erzählt Markus das Gleichnis vom Senfkorn, das größer wird als alle Gemüsepflanzen, und Vögeln Schatten bietet. Die Idee, dies als Ironie gegen ein herrschaftliches Bild zu begreifen, leuchtet mir ein.388 Wenn „das Bild vom Weltenbaum, in dessen Zweigen die Völker Schutz finden… verbreitetes imperiales Symbol“389 ist, wird die Pointe ersichtlich: Aus einer Zeder werden Paläste und Tempel, wohl kaum aber Bauernhütten gezimmert. Ein Senfstrauch dagegen findet vielfache Verwendung in der Ernährung der kleinen Leute. Die ironische Entgegensetzung kann ebenso politisch brisant sein wie Ernte und Sichel im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat, auch hier ist die scheinbare Idylle der Vögel unter den Zweigen trügerisch. Ironie war schon immer ein Mittel des politischen Widerstands. Theißen weist darauf hin, dass das Wachstum von Bäumen über viele Jahre geschieht, während Saat und Ernte von Getreide innerhalb eines Jahres geschehen. Der Vergleich einer Königsherrschaft mit einem Baum ist also viel naheliegender als der mit Saat und Ernte. „Wenn in der Jesusüberlieferung Saat und Ernte auf das Reich Gottes hin transparent werden, so ist das eine Innovation.“390 Diese Innovation dürfte den ersten Hörern oder Lesern nicht verborgen geblieben sein – sie werden überrascht aufgemerkt haben. Möglicherweise ist das automatische Wachsen der Saat, währenddessen der Mensch schläft und wacht, aber auch eine Warnung davor, die Königsherrschaft Gottes gewaltsam herbeizuzwingen,391 so dass der Jubelruf zur Ernte nur an die ergeht, die das Reich Gottes nicht gewaltsam herbeizwingen wollen, sondern die Botschaft friedlich aufnehmen.392 Hassprediger aller religiösen Richtungen rufen ihre Mitglieder auf, das Reich Gottes beschleunigt auf die Welt zu bringen. Predigten über diesen Text können sich dieser Haltung entgegenstellen. Eine andere Interpretation schlägt Gnilka vor, der das Intervall zwischen Aussaat und Ernte 387 Adela Yarbro Collins, The Discourse in Parables in Mark 4. In: Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu, Tübingen 2008, 536. 388 Anders Luise Schottroff: „Dass in der Markusfassung der Senfstrauch absichtlich nicht als Baum dargestellt ist, um sich über den großen Weltenbaum der biblischen Tradition lustig zu machen oder das bescheidene Bild der Senfstaude der Größe einer Zeder entgegenzusetzen, ist so nicht überzeugend.“ (Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, 151.) 389 Luise Schottroff, a. a. O., 151. 390 Gerd Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde, 175. 391 So Detlev Dormeyer, a. a. O., 184–185. 392 Vgl. Detlev Dormeyer, a. a. O., 322.

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deutet als „etwas Negatives. Angesprochen sei die Gemeinde, die zwischen den beiden Adventen preisgegeben sei“393. Eine nächste Auslegung vermutet eine Nähe zwischen der Jesusbewegung und den Pharisäern in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen menschlichem Willen und göttlichem Handeln.394 Diese Auslegung sieht die Pointe des Gleichnisses im Vertrauen des Sämanns in die Erde.395 Menschliche Aktivität ist danach nicht ausgeschlossen, sondern wird als spontanes Handeln erwartet.396 Eine weitere Deutungsmöglichkeit wäre, dass das Gleichnis dazu auffordert, aufmerksam auf den Zeitpunkt zu achten, an dem die Ernte reif und das Reich Gottes mit Sicheln einzubringen ist. Der Schlaf des Menschen erscheint mir in seiner Ruhe genauso trügerisch, zumindest schillernd, wie Ernte und Erntesichel und die Interpretationsmöglichkeiten des Gleichnisses. Das prädikative Adjektiv αὐτομάτη im Zentrum des Gleichnisses „fällt sofort in die Augen“397. Gerd Theißen verweist auf die Wortsemantik von αὐτόματος. Gerade nicht die kultivierte, sondern die wildwachsende Pflanze wächst „automatisch“. Die Verwendung des Begriffs im Kontext von Saat und Ernte ist also äußerst ungewöhnlich. Die ersten Zuhörer dürften das sofort bemerkt haben. Ungewöhnlich ist auch die symbolische Verbindung von Saat und Ernte mit einer Gemeinschaft. Die neu entstandene Jesusbewegung konnte sich in dieser Verbindung wiederfinden. Sie erwartete die Ernte des Gottesreiches, dessen Same gerade ausgesät worden war.398 Spannungen im Text haben Ausleger immer wieder dazu bewegt, den Text glätten zu wollen.399 Es ist jedoch zu bedenken, dass diese Spannung bewusst gesetzt sein könnte. Die Bilder, die Jesus hier im Markusevangelium wählt, sind für seine Zuhörer buchstäblich bestechend.

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Joachim Gnilka, a. a. O., 185. Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 181–182. Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 178. Vgl. Gerd Theißen, a. a. O., 180. Gerd Theißen, a. a. O., 168. Vgl. Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen, 350–351. „Entweder wird das Ende des Gleichnisses als ein sekundärer Zusatz gestrichen. So bei J. Wellhausen mit der viel zitierten Begründung: „Durch den Bauer guckt der Weltenrichter hervor, der hier nichts zu tun hat.“ Oder aber der Text gilt an dieser Stelle als überarbeitet. In Anlehnung an Joel 4, 13 sei erst sekundär das Weltgericht eingetragen worden. Neben diese literarkritische tritt eine traditionsgeschichtliche Lösung, die genau das Gegenteil behauptet: Jesus habe die ihm von der Zeit vorgegebene apokalyptische Vorstellung vom Ende bewußt durch den immanenten Entwicklungsgedanken korrigiert.“ Gerd Theißen, Der Bauer und die von selbst wachsende Frucht, 170.

Gleichnisse als biblische Kurze Form der Predigt

4.4.

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Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25–37)

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter fällt auf, dass Jesus bzw. Lukas so erzählt, dass die Menschen seiner Zeit fast gezwungen waren, ihm fasziniert zuzuhören. Dies wird interessanterweise nicht durch eine dramatische Attitüde der Erzählung erreicht – im Gegenteil! Die Geschichte ist wie ein Polizeireport oder ein Zeitungsbericht als nüchtern-distanzierte Darstellung eines Verbrechens und dessen Folgen gestaltet.400 Es ist eine „Geschichte aus dem Leben“401, in der viele gesellschaftliche Gruppen vorkommen: Ein Wirt, dessen Berufsstand als gewerblicher Wirt wenig geachtet war. Dieser bringt auch ein aufreizendes Moment in die Erzählung. Den ersten Hörenden dieser Geschichte war klar: „Die Wirtsherbergen galten ferner als Orte des Lasters, denn vom weiblichen Bedienungspersonal wurde allgemein erwartet, dass es auch die sexuellen Wünsche der Gäste erfüllte…. Entsprechend standen Wirte in schlechtem Ruf“402. Ferner kommen vor: Ein Mann aus Samarien, die aus der Unterschicht stammenden Räuber, ein Priester aus der Oberschicht, ein Levit, der etwas niedriger gestellt ist als ein Priester und ein sozial nicht näher klassifizierter Mann, dessen Schicksal jeden ereilen konnte, der den Weg von Jerusalem nach Jericho ging403. Ob die Strecke wirklich so gefährlich war, wie er durch die Erzählung erscheint, ist zweifelhaft.404 Das Gleichnis ist eine „idealtypische Konstruktion.“405 So bedenklich es ist, das Gleichnis als Spiegel der Realität zu werten (noch bedenkli-

400 Gegen Dutzmann, der die Handlung als Schilderung aus der Perspektive des Überfallenen begreift und dies auch als konstitutives Moment für die narrative Predigt über den Text begreift: „so ist unbedingt darauf zu achten, daß die in der Gleichniserzählung vorgegebene Perspektive eingehalten wird: Die Parabel Lk 10, 30–35 etwa ist aus dem Blickwinkel des Überfallenen… nachzuerzählen.“ Martin Dutzmann, Gleichniserzählungen Jesu als Texte evangelischer Predigt, Göttingen 1990, 215. 401 Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, THNT, Berlin 1988, 210. 402 Ruben Zimmermann, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium, 545. 403 Eine „27 km lange Straße von Jerusalem nach Jericho, die sich zwischen Felsen in die Tiefe hinabwindet, von Josephus (Bell.Jud.IV, 8,3) als „einsam und felsig“ beschrieben.“ Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. 404 Karl-Heinrich Ostmeyer weist darauf hin, dass das Gleichnis eine Vorstellung befördert hat, nach der es eine „allgemeine prekäre Sicherheitslage zur Zeit Jesu“ auf der Strecke von Jerusalem nach Jericho gegeben habe, was in klarer Spannung zu anderen Quellen steht. Die realistische Erzählung des Gleichnisses hat dazu geführt, dass Exegeten in diesem Gleichnis die tatsächliche Umwelt Jesu gespiegelt sahen und „die Samariterparabel paradigmatisch für die Einschätzung der Sicherheitslage in der Lebenswelt Jesu“ wurde. Vgl. Karl-Heinrich Ostmeyer, Gleichnisse – Quelle des Verständnisses der Umwelt Jesu? Umwelt – Quelle des Verständnisses der Gleichnisse Jesu? In: Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu, Tübingen 2008, 133. 405 Michael Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 395.

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cher, die Auslegung mit an den Haaren herbeigezogenen Vermutungen406 zu „bereichern“) – Wertungen und Phantasien, die das Gleichnis auslöst, unterstreichen die Qualität der Erzählung. Ein Mensch fällt unter die Räuber407. Diese schlagen ihn, rauben ihn aus und lassen ihn halbtot zurück. Schon diese Eingangsszene lässt Menschen neugierig werden – ähnlich dem Verhalten von Gaffern bei Unfällen. Aber auch Leser von Kriminalgeschichten kennen die Frage: Was wird weiter geschehen? Aus neurobiologischer Perspektive ist anzumerken: Die Eingangsszene evoziert zwei basale Gefühle: Angst und Ekel.408 Auch wenn noch nicht abschließend geklärt ist, welche Gehirnregionen bei Angst und Ekel aktiviert sind,409 so kann doch fest gehalten werden, dass Angst und Ekel mehrere Gehirnregionen aktivieren.410 Damit erläutert die neurowissenschaftliche Perspektive, wie es möglich ist, in zwei Sätzen die Aufmerksamkeit von Menschen zu gewinnen. Nun kommen zwei Geistliche vorbei, auf dem Rückweg nach Hause vom Tempeldienst in Jerusalem, den sie wochenweise verrichten.411 Der Priester sieht jemanden, der halbtot am Weg liegt – vielleicht aber auch tot ist! Der Kontakt mit einem Toten würde ihn nach dem Gesetz unrein machen und ist ihm daher verboten. „Er geht in entgegengesetzter Richtung weiter…, um mit dem Schwerverletzten nicht in Berührung zu kommen. Daß er in dem Geschick ein Urteil Gottes sieht und deshalb ausweicht, ist weniger wahrscheinlich. Eher ist an das vor allem in sadduzäischen Kreisen rigoros eingehaltene Verbot für einen Priester, sich an einer Leiche zu verunreinigen (Lev 21,1) zu denken. Der Halbtote könnte ihm unter den Händen sterben“412. In dieser Konfliktsituation entscheidet sich der Priester, ebenso wie später der Levit, für seine kultischen Aufgaben und geht vorbei. Michael Wolter hält fest, „dass Priester und Levit (nicht) achtlos ‚vorbeigehen‘, sondern dass sie dem Überfallenen bewusst aus dem Weg gehen“413. Umstritten ist, ob sie vorschriftsmäßig handeln oder nicht,

406 „der Räuber (ist) aus sozialer Not geworden …, was er ist, weil ihm wahrscheinlich eine Tochter verhungerte.“ B. Giehl in seiner Predigtmeditation zur Stelle (13. Sonntag nach Trinitatis. In: E. Domay (Hg.), Gottesdienstpraxis. Arbeitshilfen für die Gestaltung der Gottesdienste im Kirchenjahr. Gottesdienstpraxis Serie A, 1. Perikopenreihe, Bed. 3: Trinitatis bis 14. Sonntag nach Trinitatis, 141–149), zitiert bei Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 134. 407 Evtl. von Raub lebende zelotische Terroristen, vgl. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. 408 „There is wide agreement amongst emotion researchers that disgust as well as fear belong to the group of basic emotions.“ Dieter Vaitl, Anne Schienle, Rudolf Stark, Neurobiology of fear and disgust. In: International Journal of Psychophysiology 57 (2005), 2–3. 409 Vgl. Dieter Vaitl, Anne Schienle, Rudolf Stark, a. a. O., 3–4. 410 Vgl. Dieter Vaitl, Anne Schienle, Rudolf Stark, a. a. O., 1–4. 411 Vgl. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. 412 Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. 413 Michael Wolter, a. a. O., 396.

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ebenso, ob eine antiklerikale oder kultkritische Spitze erkennbar ist.414 Jedenfalls handeln Priester und Levit nicht anders, als Menschen heute handeln würden – und das, obwohl der barmherzige Samariter inzwischen zum feststehenden Begriff geworden ist – der Versuch von John M. Darley und Daniel Batson415 – wie bereits oben in 3.4. geschildert – beweist das eindrücklich. Die Reihung Priester, Levit und Samariter416 im Folgenden dürfte kein Zufall sein. „Die Konstellation der Erzählfiguren orientiert sich am Modell des dramatischen Dreiecks“417. Näher gelegen hätte die Reihung Priester, Levit und Israelit. Dass diese übliche Präfiguration im Gleichnis mit der Einführung des Samariters nach Priester und Levit überraschend geändert wird, unterstreicht – ebenso wie das ebenfalls überraschende Eingreifen des Samariters – dessen Metaphorizität.418 Nicht zuletzt zeigt es das geschickte Erzählen an. Indem Jesus die Reihung Priester, Levit mit „Samariter“ ganz anders fortsetzt als erwartet, provoziert er bei seinen ersten Zuhörern wahrscheinlich eine Überraschung. Seine Zuhörer sind damit schon zum dritten Mal (nach der Faszination durch das geschilderte Verbrechen und den Konflikt des Priesters und des Leviten) besonders aktiviert. Aus neurobiologischer bzw. psychologischer Perspektive ist anzumerken, dass Menschen sich selbst belohnen, auch mit „höheren Belohnungen“, etwa durch Musik419 oder indem sie einer spannenden Geschichte zuhören. Wenn eine Geschichte reizvoll erzählt wird, erfolgt im Gehirn eine Dopaminausschüttung. Ruben Zimmermann meint, dass die Hörer- oder Leserinnenerwartung durch Auftritt und Handeln des Samariters „jäh enttäuscht“420 wird: ein „prediction error“. Diese Reize sind durchaus nicht weniger wichtig als das tägliche Brot.421 414 So Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. Anders Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 133. Ostmeyer weist darauf hin, dass der Levit keine Entschuldigung für sein Nicht-Handeln besitzt, da er auf dem Rückweg vom Tempel war und für ihn weniger strenge Bestimmungen galten als für den Priester. Ostmeyer führt den Gedanken ein, dass Jesus in seiner Erzählung bewusst beiden Männern jede Entschuldigung für ihr Handeln nimmt. Dies wäre eine Zuspitzung des Gleichnisses, die jedoch ebenfalls mit den Untersuchungen von John M. Darley und C. Daniel Batson kompatibel ist, denn auch die Theologiestudenten im Versuch haben keine Entschuldigung für ihr Handeln. 415 John M. Darley, C. Daniel Batson, From Jerusalem to Jericho: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. 416 „die Beispielerzählung ist nach dem Schema Regeldetri aufgebaut“. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210. 417 Michael Wolter, a. a. O., 395. 418 Vgl. Ruben Zimmermann, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter). In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 547–548. 419 Vgl. Valorie N. Salimpoor, Mitchel Benovoy, Kevin Larcher, Alain Dagher, Robert J. Zatorre, Anatomically distinct dopamine release during anticipation and experience of peak emotion to music. In: Nature Neuroscience, Volume 14, Number 2, February 2011, 257–259. 420 Ruben Zimmermann, a. a. O., 548. 421 „These rewarding stimuli are either biological reinforcers that are necessary for survival,

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Überlebenswichtige biologische Substanzen können lohnende Reize sein, ebenso aber auch abstrakte Reize wie Musik oder Kunst, die zwar für das unmittelbare Überleben nicht essentiell, jedoch nicht weniger wichtig sind als biologische Substanzen – der Mensch lebt nicht vom Brot allein! Das Gleichnis setzt an mit einer Gesetzesdiskussion.422 „Formgeschichtlich handelt es sich um eine Chrie, die aber weniger als Streitgespräch, sondern eher als Lehrgespräch konzipiert ist“423. Doch ist eine normative Auseinandersetzung tatsächlich das Ziel der Parabel? Ruben Zimmermann sieht das Berührtwerden, die Anteilnahme, das Mit–Leid als narrativen Wendepunkt des Gleichnisses und hermeneutischen Schlüssel für seine Ethik.424 Die neurobiologische Perspektive konnte experimentell zeigen, dass Mitgefühl durch eine Erzählung ausgelöst werden kann.425 Durch die Erzählung werden sehr verschiedene Gehirnregionen angesprochen.426 Dank ihrer Spiegelneurone sind Menschen in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mitzufühlen. Spiegelneurone ermöglichen Empathie. Allerdings: Empathie und Schadenfreude schließen sich gegenseitig aus. Dies ist eine wichtige neue Information der Neurowissenschaft und korrigiert die Vorstellung, dass Appelle an die Menschlichkeit in jeder Situation erfolgversprechend sind. Diese Information der Neurowissenschaft lässt das Verhalten des Samariters noch erstaunlicher erscheinen, denn der verletzte Mensch ist kein Freund, sondern eher ein Feind, zumindest ein gehasster Bruder.427 Aus jüdischer Perspektive ist der Samariter kein Nächster, sondern ein

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synthetic chemicals that directly promote dopaminergic neurotransmission, or tangible items that are secondary rewards. However, humans have the ability to obtain pleasure from more abstract stimuli, such as music and art, which are not directly essential for survival and cannot be considered to be secondary or conditioned reinforces.“ Valorie N. Salimpoor, Mitchel Benovoy, Kevin Larcher, Alain Dagher, Robert J. Zatorre, a. a. O., 257. Zur Diskussion über die Redaktionsgeschichte vgl. auch Wolfgang Wiefel, a. a. O., 207–208. Michael Wolter, a. a. O., 391. Vgl. Ruben Zimmermann, a. a. O., 549. Vgl. Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, Neural correlates of admiration and compassion. In: PNAS May 12, 2009, vol. 106, no. 19, 8021–8026. In dem geschilderten Experiment wurden die Teilnehmer Erzählungen ausgesetzt, die auf wahren Geschichten basierten, um Bewunderung und Mitgefühl zu wecken. Vgl. Mary Helen Immordino-Yang, Andrea McColl, Hanna Damasio, Antonio Damasio, a. a. O., 8021. Anders Luise Schottroff: „Die Deutung von Lk 10,30–37 als Beispiel für Feindesliebe in der Beziehung des Samaritaners zum Opfer ist also nicht überzeugend. Der Text müsste es deutlich machen, dass der Überfallene Jude ist.“ Luise Schottroff, a. a. O., 172. Allerdings muss auch Schottroff zugeben: „Das Gleichnis setzt in der Tat ein Publikum voraus, das jüdisch ist oder jüdisch praktiziert.“ A.a.O, 172. Wolfgang Wiefel geht davon aus, dass der Überfallene ein Jude ist: „Auf dieser Straße war ein Mann, gedacht ist wohl an einen Juden“. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 210.

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Fremder. Das Gleichnis präsentiert daher „eine keineswegs übliche, sondern vielmehr provokante und insofern metaphorische Kopplung“428. Menschen zeigen beim Anblick von ihnen nicht ähnlichen, fremden Physiognomien kortikale Reaktionen.429 „Neuroimaging research in adults has consistently found that differential perception of race is associated with increased amygdala activity.“430 Leider reagieren menschliche Gehirne nicht politisch korrekt, in der Tat: ein „Heikles Forschungsgebiet“431, zumal diese Reaktionen nicht angeboren sind, sondern sich erst entwickeln: „Results suggest that differential amygdala response to African American faces does not emerge until adolescence“432. Das bedeutet, dass die Erziehung Rassismus ausprägen kann. „Cultural norms and biases about race develop over the course of childhood and adolescence. When social groups are treated or labeled differently in children’s environment, children learn that certain categories are salient (e. g. race) whereas others are not“433. Der Verletzte war dem Samariter fremd – und umgekehrt.434 Trotzdem hilft der Samariter vorbildlich und gibt Geld aus, immerhin den Gegenwert von zwei Tageslöhnen,435 um die Pflege des Verletzten zu sichern. Dabei: „Von Priester und Levit hätten die Hörer und Hörerinnen eher als vom Samaritaner erwartet, dass sie wissen, wie sie nach der Tora leben sollen.“436 Wenn sich Empathie und Schadenfreude gegenseitig ausschließen, wenn der Anblick des anderen in der Amygdala Reaktionen auslöst, einer Region im Gehirn „involved in processing of stimuli that have an acquired emotional significance based on previous experience and plays a role in sensitivity to the salience

428 Ruben Zimmermann, a. a. O., 543. 429 „Richeson et al. (2003) showed that white individuals activate the executive network in response to pictures of black faces according to their level of racial bias (Richeson and Shelton, 2003). Bartels and Zeki, on the other hand, have demonstrated that watching pictures of loved ones cause subjects to deactivate the executive and social cognitive networks“ (Uffe Schjoedt, Hans Stødkilde-Jørgensen , Armin W. Geertz, Torben E. Lund, Andreas Roepstorff, The power of charisma – perceived charisma inhibits the frontal executive network of believers in intercessory prayer. In: SCAN (2011) 6, 19.) 430 Eva H. Telzer, Kathryn L. Humphreys, Mor Shapiro, Nim Tottenham, Amygdala Sensitivity to Race Is Not Present in Childhood but Emerges over Adolescence. In: Journal of Cognitive Neuroscience 25. 02. 2013, 234. 431 Michael Lange, Heikles Forschungsgebiet. US-Forscher untersuchen Gehirnaktivität am Anblick unterschiedlicher Rassen. Deutschlandfunk. http://www.Dradio.de/dlf/sendungen/ forschak/376169. 432 Eva H. Telzer, Kathryn L. Humphreys, Mor Shapiro, Nim Tottenham, a. a. O., 234. 433 Eva H. Telzer, Kathryn L. Humphreys, Mor Shapiro, Nim Tottenham, a. a. O., 234. 434 „Die Samaritaner lebten in einer konfliktreichen Nähe zu dem jüdischen Volk, das den Gott Israels im Tempel in Jerusalem verehrte“. Luise Schottroff, a. a. O., 174. 435 Vgl. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 211. 436 Luise Schottroff, a. a. O., 174.

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of environmental cues“437, dann wird die Schwierigkeit des Gleichnisses noch einmal unterstrichen. Was das Gleichnis erzählt, das ist eigentlich nicht möglich. Menschen kann man nicht befehlen, sich vom Elend eines Feindes anrühren zu lassen. Dies ist eine wichtige neue Information der Neurowissenschaften, die eine Pointe des Gleichnisses aus ihrer Perspektive erläutert und sogar unterstreicht. Wenn es trotzdem geschieht, dass ein Mensch einem Feind hilft, ist das bemerkenswert und ungewöhnlich. Die neurowissenschaftlichen Aussagen helfen wesentlich, dieses Gleichnis besser zu verstehen. Sie zeigen, dass Hilfsbereitschaft durch Argumentation nicht selbstverständlich abzurufen ist. Sie konfrontieren mit der brisanten Information, dass Rassismus biologische Wurzeln hat und nicht durch moralische Appelle, Gesetze oder Argumentationen vergehen wird. Auf der anderen Seite zeigen die Ergebnisse, dass dieser Rassismus erlernt wird, also zwar biologische Wurzeln hat, die jedoch nicht angeboren sind. Regeln und Gesetze blenden aus, dass es biologische Rahmenbedingungen für Rassismus gibt und Menschen andersfarbige Menschen als Bedrohung empfinden. Da dieser Rassismus jedoch erlernt ist, also nicht angeboren, ist danach zu fragen, wie Menschen vor dem Zeitpunkt rassistischer Prägung lernen können, dass Andersfarbige keine Bedrohung sind bzw. wie Rassismus, wenn er einmal entstanden ist, so kultiviert werden kann, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarben friedlich koexistieren können. Neurowissenschaftliche Aussagen bilden offenbar auch gesellschaftliche Debatten ab.438 Rassismus ist offenbar eine biologische Rahmenbedingung, die im gesellschaftlichen Diskurs in Rechnung gestellt werden sollte. Es ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die auch der Predigt gilt, nach Möglichkeiten zu suchen, unter Berücksichtigung dieser biologischen Rahmenbedingungen nach Wegen zu suchen, wie Menschen menschlich miteinander leben können. Eine moralisierende Haltung scheint jedenfalls weniger geeignet zu sein. Eher sollte nach einem kultivierenden, ja spielerischen Umgang gesucht werden, der Menschen hilft, tatsächlich Spielräume mit- und füreinander zu entdecken. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter geht narrativ einen solchen Weg. Die Reinheitsvorschriften im Tempeldienst und die Unterschiede zwischen Juden und Samaritern werden vielen Menschen heute fremd sein. Auch Wirtschaften sind heute meistens keine verkappten Bordelle. Diese Provokationen des Gleichnisses wirken daher heute nicht mehr. Trotzdem sind die Bekanntheit 437 Eva H. Telzer, Kathryn L. Humphreys, Mor Shapiro, Nim Tottenham, a. a. O., 234. 438 Die Ereignisse nach der Tötung eines unbewaffneten schwarzen Jugendlichen in Ferguson/ USA und die dadurch neu entfachte Rassismusdebatte illustrieren die Problematik. Offensichtlich ist es moralischen Regeln und engagierten Gleichstellungsbeauftragten nicht gelungen, die Diskriminierung von Afroamerikanern in den USA zu verhindern.

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und die Wirkung des Gleichnisses bis heute ungebrochen. Sicherlich liegt das an den Fragen, die das Gleichnis aufwirft. Jesu Aufforderung an den Schriftgelehrten „Geh hin und handele auch du in gleicher Weise“ will „nicht lediglich die Einsicht vermitteln, dass man einem in Not Geratenen helfen soll, denn das ist sowieso selbstverständlich“439. Es geht um einen „Rollenwechsel vom ethischen Objekt zum ethischen Subjekt“440 und um menschliche Grundfragen: Wie werde ich von einem Menschen berührt, der mir fremd ist, wie kann ich mitfühlend gegenüber einem Feind sein? Und: Wer fühlt mit mir, wenn ich darauf angewiesen bin, dass ein Mensch sich von mir berühren lässt? Wer sieht hin und wer sieht weg? Das sind menschliche Grundfragen, und es sind menschliche Dilemmata. „Die Deutung dieses Gleichnisses auf allgemeine Menschliebe oder Feindesliebe geht auf eine relevante Weise am Text vorbei: Es geht hier nicht um Vorstellungen und Ideen über Liebe, sondern darum, wie eine Liebes‚lehre‘ zur Tat werden kann. Daran scheitern Priester und Levit“441. Wenn es nicht gelingt, ist das tödlich: Der Verletzte wäre gestorben, wenn sich der Samariter nicht hätte berühren lassen. Menschen sind zutiefst soziale Wesen und können nicht alleine überleben, sie sind auf Kooperation angewiesen – nicht zuletzt kooperiert der Samariter auch mit dem Wirt und vertraut ihm die Pflege des Verletzten an. Wolter weist auf die Reziprozität des Begriffs Nächster hin und darauf, dass wenn einer für den anderen zum Nächsten wird, das immer auch umgekehrt gilt.442 Weil Menschen soziale Wesen sind und ihr Gedächtnis ein autobiographisches Gedächtnis ist, erzählen sie Geschichten und sind darauf angewiesen, dass ihnen Geschichten erzählt werden.443 Deshalb ist es wichtig, dass diese Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt wird. Nicht als moralische Zeigefingerpredigt, sondern als Predigt, die dazu einlädt, sich berühren zu lassen, um zu einer sozialen Identität zu finden, zugleich zu einer Gottesbeziehung. Das ist schließlich auch die Intention des Gleichnisses: „Priester und Levit personifizieren hier also die distinkte Gottesbeziehung Israels, die im Jerusalemer Tempelkult zur Anschauung gebracht wird“444. Lukas fasst Gottes- und Nächstenliebe zusammen, eine ebenfalls einzigartige, die damaligen gesetzeskundigen Zuhörer mit Sicherheit faszinierende Zusammenfassung. Denn die „Kombination dieser beiden alttestamentlichen Gebote gibt es im NT sonst nicht“445. Sollte diese Zu439 440 441 442 443

Michael Wolter, a. a. O., 398. Michael Wolter, a. a. O., 398. Luise Schottroff, a. a. O., 172. Vgl. Michael Wolter, a. a. O., 391. Vgl. dazu auch Stephan Müller-Kracht, der „Telling stories“ als wesentlichen Bestandteil medientauglichen Erzählens beschreibt: Stephan Müller Kracht, Qualität und Quote, Deutsches Pfarrerblatt 4/2013, 232–235. 444 Michael Wolter, a. a. O., 396. 445 Michael Wolter, a. a. O., 393.

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sammenfassung der Apologetik dienen, um christliche Leser in der Kontinuität zur Thora zu bestätigen446, so gilt ebenfalls, dass die ersten Leser durch diese völlig neue Kombination und Beziehung fasziniert sein mussten. Weil es in diesem Gleichnis darum geht, sich berühren zu lassen und berührt zu werden, liegt die essayistische Form der Predigt über dieses Gleichnis besonders nahe. Schließlich hat der Essay die essayistische Existenz zur Voraussetzung, die aus der eigenen Berührtheit, dem eigenen Wahrnehmen heraus sich schreibend mitteilt und dadurch andere berühren und bewegen kann. Die am Ende offene Handlung und der offene Schluss447 passen zu einer essayistischen Predigt, die ebenfalls nicht geschlossen ist. Die essayistische Predigt kann ohne moralistische Tönung schildern, wie es ist, an den eigenen ethischen Ansprüchen zu scheitern und trotzdem nicht am eigenen Unvermögen zu verzweifeln. Sie kann die persönliche Glückserfahrung teilen, wenn ein menschliches Miteinander trotz aller Widerstände gelingt. Sie könnte es sogar wagen, eigene rassistische Prägungen und das Leiden daran zu thematisieren und die Hörenden so durch Aufrichtigkeit berühren. Sie kann aber auch, als Traktat geformt, erläutern, was das Überraschende und Herausfordernde dieses Gleichnisses ist. Ebenfalls in der Form des Traktats kann sie sich mit dem brisanten Thema Rassismus auseinandersetzen. Die Kurze Form erhebt dabei nicht den Anspruch, schwierige Themen umfassend zu behandeln. Das muss sie auch nicht, weil schon viel erreicht ist, wenn die Hörenden von einem Aspekt bewegt werden. Die Fokussierung kommt den Hörenden entgegen.

4.5.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11–32)

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat deutliche sexuelle Anklänge, was die ersten Hörenden sofort verstanden haben müssten. Denn der Vorwurf des älteren Bruders, dass der jüngere sein Vermögen mit unzüchtigen Menschen verprasst hat, ist nicht aus der Luft gegriffen. Karl-Heinrich Ostmeyer weist darauf hin: „mit Präposition verwendete Genitiv-Plural-Form (μετὰ πορνῶν – meta porno¯n – mit Prostituierten) bezeichnet als solche beide Geschlechter“448. Denn: „Wird die letzte Silbe akzentuiert, handelt es sich um Huren; bei Hurern liegt der Akzent auf der ersten Silbe. Meist wird die weibliche Variante favori-

446 So Michael Wolter, a. a. O., 393. 447 So Luise Schottroff, a. a. O., 176. 448 Karl-Heinrich Ostmeyer, Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn). In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 620.

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siert… – es ist nicht auszuschließen, dass das Geschlecht der Prostituierten bewusst offen gehalten werden soll.“449 Wörtlich heißt es, dass der jüngere Sohn sich in seiner Not an einen Bürger des Landes haftete bzw. herandrängte450 (Lk 15, 15). „Bildlich ist dieses Haften dasselbe wie berühren… Von hier aus ist es begreiflich, daß κολλᾶσθαι auch für den intimen Verkehr im Sinne des Geschlechtsverkehrs gebraucht wird.“451 „Die Septuaginta gebraucht den Begriff einerseits zur Bezeichnung der ehelichen (sexuellen) Verbindung …, andererseits benennt sie dabei die Hingabe an Gott“452. Jesus erzählt also von einer skandalösen, weil durch die Tora verbotenen Beziehung453, noch dazu zu einem Heiden, der erst in der Folge des „Haftens“ den jungen Mann zum Schweinehüten schickt, ihn also mit für Juden unreinen Tieren verbindet. Er wird doppelt gedemütigt, weil er Schweine hüten muss und nicht einmal deren Futter essen darf. Lukas dürfte die gespannte, ungeteilte Aufmerksamkeit seiner ersten Zuhörer gewiss gewesen sein. Die Kunst hat diese Wirkung des Gleichnisses dankbar aufgegriffen. Luise Schottroff erwähnt eine Lesart des Gleichnisses aus der Perspektive eines Inzestopfers. Inzestopfer könnten das Gleichnis so lesen, dass der verlorene Sohn vom Vater sexuell missbraucht wurde. Schottroff folgert: „Doch ist die Frage zu stellen…: Warum lässt sich das Gleichnis so lesen? Meine Antwort: Weil der Vater 449 Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 620. Bovon bevorzugt – ohne Begründung – die weibliche Form: „Die weibliche Form μετὰ πορνῶν ,mit Huren‘, ist der männlichen μετὰ πορνῶν vorzuziehen“ (François Bovon, Das Evangelium nach Lukas, EKK III/3, Zürich/Düsseldorf/ Neukirchen/Vluyn 2001, 52). Damit bestätigt Bovon jedoch, dass beide Übersetzungen möglich sind. 450 Vgl. Horst Balz, Gerhard Schneider (Hg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 21992, Art. κολλάω, 757; und Karl Ludwig Schmidt, Art. κολλάω, προσκολλάω. In: Gerhard Friedrich (Hg.), begründet von Gerhard Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1959, 822–823. 451 Karl Ludwig Schmidt, Art. κολλάω, προσκολλάω. In: Gerhard Friedrich (Hg.), begründet von Gerhard Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1959, 822. 452 Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 626. 453 Anders Schottroff, a. a. O., 181: „Das griechische Wort an dieser Stelle … kann eine sexuelle Konnotation haben… doch will die Erzählung darauf nicht hinaus.“ Näher begründet Schottroff ihre Entscheidung nicht, was um so fraglicher ist, als das Verhältnis des Bürgers und des jüngeren Sohnes ansonsten nicht ganz fassbar ist, wie sie selbst schreibt: „Das spezielle Abhängigkeitsverhältnis zu einem Bürger, das der Text beschreibt, passt nicht zu normaler Lohnarbeit. Da der junge Mann auch nicht Sklave oder Freigelassener ist, scheint mir ein Klient-Patron-Verhältnis am ehesten eine passende Erklärung.” Die sexuelle Konnotation lehnt Schottroff offenbar ab, da diese nicht zu ihrer Interpretation dieses Gleichnisses passt. Anders auch Wolter: „Der Begriff bezeichnet vielmehr die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses, das im Unterschied zu dem eines Tagelöhners auf Dauer gestellt war und als Bestandteil der Entlohnung häufig auch (oder nur) die Bereitstellung von Nahrung, Unterkunft und Kleidung einschloss.“ (Michael Wolter, a. a. O., 533). Auf die sexuellen Konnotationen des Begriffs geht Wolter mit keinem Wort ein.

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im Gleichnis eine absolute Machtstellung gegenüber seinen Söhnen hat.“454 Näherliegender finde ich den Schluss, dass diese Szene tatsächlich sexuelle Konnotationen hat, auch wenn ich die Vorstellung, der Sohn wäre vom Vater sexuell missbraucht worden, abwegig finde. Da Schottroff nicht hinnehmen mag455, dass die Figur des Vaters mit Gott zu vergleichen ist,456 kann sie auch nicht die Bedeutung des Begriffs „zusammenleimen“ auch für die Hingabe an Gott als wesentliches Moment des Gleichnisses sehen – oder will es eben nicht. Dabei ist die Beschreibung der Beziehung von Gott und Menschen als Liebesbeziehung gut biblisch und durchzieht beide Testamente. Ich halte es daher für keinen Zufall, dass der Vater den Sohn begrüßt, indem er ihm um den Hals fällt und ihn küsst und um den älteren Sohn wirbt: „Zur Mitfreude wird der ältere Sohn geradezu gebeten“457. Mystische Frömmigkeit hat diesen Aspekt theologisch und spirituell aufgenommen. Klaas Huizing betont aus theologischer Perspektive die dialektische Verbundenheit zwischen Begehren und Bedürfnis.458 Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist eingebettet in zwei andere Gleichnisse, in denen es um Verlieren und die Freude des Findens geht (verlorener Groschen, verlorenes Schaf). Ostmeyer weist darauf hin, dass bei der Sohn-Parabel ein anderes Verb für sich-freuen genannt wird, das sich im lukanischen Doppelwerk und im Pentateuch meist auf die Freude vor Gott bezieht.459 Diese Beobachtung unterstreicht, dass es sich im Gleichnis um eine göttliche Freude handelt, die mit anderen Freuden kontrastiert wird, die beide Söhne im Gleichnis wünschen: Der Jüngere im Ausland mit unzüchtigen und verschwenderischen Aktionen, der ältere mit seinen Freunden, abseits seines Vaters. Beide Söhne werden zum Fest eingeladen und damit darauf verwiesen, dass Freude nicht außerhalb, sondern nur beim Vater zu finden ist. „Nähe oder Distanz im Verhältnis zum Vater (entscheiden) über Wohl oder Wehe“.460 Die Erzählung eines Festes, die Freude der Gemeinschaft dürften bei den Zuhörern viele glückliche Erinnerungen provoziert haben, die Jesus bzw. Lukas mit der Freude vor und mit Gott verknüpft. Freudige Erinnerungen aktivieren viele Gehirnregionen.

454 Luise Schottroff, a. a. O., 195–196. 455 „Die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte dieses Gleichnisses hat heutigen Christinnen und Christen nicht nur das Erbe der antijudaistischen und triumphalistischen Deutung auferlegt, sondern auch das der Divinisierung des patriarchalischen Vaters“. Luise Schottroff, a. a. O., 195. 456 Michael Wolter, a. a. O., 529. 457 Wolfgang Wiefel, a. a. O., 290. 458 Klaas Huizing, a. a. O., 175. 459 Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 619. 460 Michael Wolter, a. a. O., 534.

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Das Ziel des Gleichnisses dürfte gewiss nicht die Zementierung eines patriarchalischen Systems sein, wie sie Schottroff beklagt.461 So berechtigt es sein mag, gerade aus geschlechtergerechter Perspektive, auf das zu achten, was in einem Text nicht gesagt wird – so wichtig ist es doch auch zu sehen, dass ein kurzer Text fokussieren muss und ein Gleichnis über einen Vater mit seinen beiden Söhnen nicht den ganzen antiken Hausstand abbilden kann. Jesus bzw. Lukas hätte außerdem schwerlich ein Gleichnis erzählen können von zwei Töchtern, von denen die jüngere sich ihr Erbteil auszahlen lässt. Ziel des Gleichnisses ist es wohl auch kaum, Menschen dazu zu bringen, ihr Vaterhaus nicht zu verlassen. Vielmehr erzählt es von der legitimen Bitte eines jüngeren Sohnes um die vorzeitige Auszahlung des Erbteils (Abschichtung) 462, wobei er nach der Abfindung jeden weiteren Anspruch auf sein Erbe verliert.463 Wiefel nimmt an, dass es die wirtschaftlich schwierige Lage Palästinas sei, die den jüngeren Sohn zum Auswandern zwänge, obwohl „Galiläa als Exportland… zu Lebzeiten Jesu keine Hungersnöte“464 kannte. Auch hier hat die lebendige Erzählung des Gleichnisses „dem Transport einer bestimmten Sicht der Umwelt Jesu“465 gedient. Jesus selbst beruft Menschen aus ihren familiären Bezügen in seine Nachfolge, und schon die Schöpfungsgeschichte wusste, dass der Mensch Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen wird, was Jesus selbst zitiert. Daher überzeugt mich die Auslegung, dass es bei der Freude um die besondere Freude der Gemeinschaft mit Gott geht – und die wird in beiden Testamenten und in der Theologiegeschichte immer wieder auch mit sexuellen Konnotationen und Bildern erzählt. Gerade das macht eine Predigt über diesen Text – oder andere mit ähnlichen Konnotationen – aber auch so anspruchsvoll, gerade in der kurzen Form der Predigt. Denn in der Tat muss eine Predigt heute der besonderen Sensibilität des Themas gerecht werden. Es wäre fatal, wenn sie sich in Aufmerksamkeit heischender Darstellung einschlägiger „Sünden“ erschöpft, um dann bei der Darstellung himmlischer Freuden deutlich nachzulassen. Die sprachliche Gestaltung erfordert besondere Sorgfalt – auch hier ist die Bibel Vorbild. Die Sprache des Hoheliedes ist wunderschön, das Weinberglied ein kunstvolles Gebilde. Schließlich geht es in der Sexualität um das Schönste, was sich zwei Menschen schenken können, Nähe und Verschmelzung, Vertrauen und 461 „Das patriarchatskritische Bewusstsein der Erzählung ist allerdings begrenzt. Der Text sieht kein Problem darin, die Frauen und Sklavinnen in diesem Haushalt zu verschweigen, ohne die das große Fest… wohl kaum vorbereitet worden ist. Auch die Tatsache, dass der Hausvater Sklaven und Lohnarbeiter beschäftigt… ist für die Erzählung ebenso patriarchalselbstverständlich wie das Verschweigen aller Frauen im Haushalt.“ Luise Schottroff, a. a. O., 195. 462 Vgl. Wolfgang Wiefel, a. a. O., 531. 463 Vgl. Michael Wolter, a. a. O., 531. 464 Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 135. 465 Karl-Heinrich Ostmeyer, a. a. O., 135.

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Hingabe. Kein Wunder, dass die Bibel das mit der Gottesbeziehung, mit dem Reich Gottes vergleicht. Anregend kann in diesem Zusammenhang sein, wie wissenschaftliche Spezialisten das Thema Sexualität behandeln. Christoph Joseph Ahlers, Klinischer Sexualpsychologe, sagt: „Erregungslust ist, neben der Fortpflanzung, der Aspekt, den die meisten Menschen als Erstes mit Sex in Verbindung bringen. Aber seine zentrale Bedeutung besteht darin, dass wir durch Sex psychosoziale Grundbedürfnisse erfüllen können… Angenommensein, Zugehörigkeit. Alles, was wir im Leben tun, zielt darauf ab… Und die intensivste Form, das zu spüren, ist sexuelle Körperkommunikation. Das ist die tiefere Bedeutung von Sex. Das, was die Kirche Himmel nennt. Und die frohe Botschaft der Sexualpsychologie ist: Ein bisschen was davon können wir auch auf Erden haben.“466 Ahlers hält fest: „ Es gibt keinen anderen Lebensbereich mit einer vergleichbaren Spannweite: vom tiefsten Leid bis zum größten Glück.“467 So irdisch-himmlisch kann man also Sexualität und Himmel in Verbindung bringen. Und kein Satz von Ahlers wirkt pornographisch. Das kann ein Ansporn für eine Kurze Form der Predigt über das Gleichnis vom verlorenen Sohn sein: Zärtlich und einladend von der Liebe Gottes zu seinen Menschenkindern zu predigen; die frohe Botschaft verkündigen, dass es möglich ist, in menschlichen Beziehungen eine Ahnung vom Himmel zu gewinnen. Diese Kurze Form der Predigt sollte überraschend anders sein als die übliche Rede über die Liebe Gottes und doch nicht die Grenzen des guten Geschmacks verletzen. Sie darf aber ruhig in ihren Andeutungen schillern und so überraschen und persönliche Assoziationen anregen.

4.6.

Homiletische Konsequenzen für die Kurze Form der Gleichnispredigt

In der näheren Betrachtung von vier Gleichnissen bzw. Parabeln hat sich gezeigt, dass sich vielfältige Beziehungen zu den literaturwissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Ergebnissen der Arbeit ergeben. Gleichnisse sind offensichtlich eine äußerst vielschichtige biblische Form der Kurzpredigt, die Impulse auch für gegenwärtige Kurzpredigten bieten kann. „Gleichnisse sprechen die Sprache der Menschen. Indem die Gleichnisse die ‚Bilder der Welt‘ verwenden, indem sie konkrete Ereignisse erzählen und theologische Begriffsbildungen vermeiden, bieten sie Anknüpfungspunkte für einen Dialog über Theologie und Kirche hinaus.“468 Diese Beschreibung von Ruben Zimmermann könnte ebenso 466 Christoph Joseph Ahlers, Wir wissen inzwischen wirklich alles über Sex? Großer Irrtum. Gespräch mit einem Sexualtherapeuten. In: ZEITMAGAZIN 18, 25. 04. 2013, 24. 467 Christoph Joseph Ahlers, a. a. O., 32. 468 Ruben Zimmermann, Kompendium, 11.

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eine Aufgabenskizzierung von Kurzpredigten sein. Auch sie sollen nicht in der „Sprache Kanaans“ verfasst sein, sondern die Sprache der Menschen sprechen. „Indem der Gleichniserzähler durch die Bildwahl das Gewaltige mit dem Kleinen, Profanen verbindet, tut er genau das, was er von der Königsherrschaft Gottes behauptet, dass diese nämlich „durchsäuernd“ sich auch mit dem Entlegensten zu verbinden vermag und bis in die letzten Winkel Kraft ausstrahlt, auch bis dahin, wo die galiläischen Gleichnishörer in ihrer Alltagswelt vor sich hin werkeln… Die Verknüpfung von göttlicher Königsherrschaft und galiläischem Alltag wird also auf doppelte Weise … nahegebracht; diese Kongruenz gibt dem Gleichniswort besondere Stärke, so dass der Hörer sich auf die erzählte Welt einlässt und in dieser seinen Platz zu suchen beginnt.“469 Gleichnisse sind Rätseltexte. Sie leuchten manchmal sofort ein, dann wandelt sich durch Neu-Lesen das Verständnis und setzt einen Prozess der Deutung und des Verstehens in Gang.470 Nicht nur die Allegorie verlangt „einen Code, um verstanden zu werden“471, Gleichnisse spielen mit Bildern, die entdeckt werden wollen bzw. die sich erst durch eine vertiefte Kenntnis des sozial-politischen Umfelds entschlüsseln. Kurzpredigten sind keine Rätseltexte, allerdings enthalten sie, wenn sie gelungen sind, überraschende Deutungen, Ideen, Wendungen, die beim Hörer ebenfalls einen hermeneutischen Prozess in Gang setzen.472 Zumindest eine Nähe des Überraschungsmoments von Kurzpredigten zum „enigmatischen Charakter“473 der Parabeln ist festzuhalten. Überraschung ist auch verstörend. „Das Verstehen der Gleichnisse ist offenbar nicht einfach, leicht und unstrittig.“474 Eine Predigt wird nie eine eindimensionale Botschaft haben, es sei denn, sie ist nicht auf einen Dialog mit den Hörenden hin orientiert. Gleichnissen gelingt es mühelos, den garstigen Graben der Geschichte zu überwinden und Menschen aller Zeiten neu zu faszinieren. Gleichnisse verwickeln mit ihrer bildlichen Sprache die Lesenden in einen Verstehensprozess. Sie sind gerade nicht logisch und entziehen sich einer eindeutigen Definition oder einseitigen Interpretation.475 Auch eine Predigt, die ihren Hörern auf Augenhöhe begegnen will, wird immer eine Deutungsambi469 470 471 472

Peter Lampe, a. a. O., 156. Vgl. Ruben Zimmermann, Hermeneutik, 5. Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen, 345. „Die Kraft des Gärstoffs wird durch die witzig übertriebene Mehlmenge herausgehoben… Der galiläische Hörer muss beim Nachdenken über das Gleichniswort kombinieren, dass auch er in seinem galiläisch-bergigen Hinterland von der Gottesherrschaft ergriffen werden kann, wenn er sich ihr öffnet.“ Peter Lampe, a. a. O., 156. 473 Ruben Zimmermann, Hermeneutik, 3. 474 Ruben Zimmermann, a. a. O., 4. 475 Vgl. Ruben Zimmermann, Kompendium, 42.

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valenz haben, keine eindimensionale Wahrheit verkünden – auch nicht verkünden wollen! –, weil Leben und Glauben nicht eindeutig sind und sich der Eindeutigkeit verweigern. Glauben und Leben funktionieren nicht digital. Eine Predigt sollte Hoffnungsräume eröffnen, so wie Parabeln Spielräume und Spielfelder eröffnen476, und zum Spiel des Lebens einladen. Kurzpredigten sollten, wie Gleichnisse, offen für einen Dialog sein oder ihn sogar eröffnen – auch mit Menschen, die dem Glauben skeptisch gegenüberstehen. Die weiteren von Zimmermann für Gleichnisse herausgearbeiteten Kriterien können ebenfalls gut in Bezug auf die Kurze Form der Predigt gesetzt werden. Nach Zimmermann sind Gleichnisse stets narrativ. Parabeln sind Erzählminiaturen. Kurze Predigten können, müssen aber nicht narrativ sein. Gleichnisse sind fiktional, sie erzählen von erfundenen Personen. Wenn in Kurzpredigten von Personen erzählt wird, gehen Hörerinnen und Hörer zunächst selbstverständlich davon aus, dass diese Personen existieren, es sei denn, sie werden als erfundene Personen entsprechend eingeführt. Allerdings ist nicht klar, ob den Menschen, denen Jesus seine Gleichnisse erzählte, stets deutlich war, dass seine Gleichnisse fiktional waren. Schließlich: Es gibt auch eine erfundene Wahrheit. Deshalb sind Gleichnisse immer realistisch. Im Unterschied zu Fabeln erzählen Parabeln von Menschen, die so oder ähnlich gelebt und gehandelt haben könnten. Gleichnisse erzählen Lebenswirklichkeit, sie können dabei auch gesellschaftskritisch sein. Gleichnisse sind metaphorisch. Sie treffen Aussagen jenseits der primären Sinnebenen und leisten einen semantischen Bedeutungstransfer zwischen verschiedenen Sinnebenen.477 Ihre bildhafte Sprache entspricht menschlichem Denken: Menschen lernen und denken in Bildern. Eine bildhafte Sprache zeichnet auch gelungene kurze Predigten aus. Gerade ihre besondere Metaphorik erklärt die bleibende Wirkung von Gleichnissen. Sie prägen sich ein und laden zum Weitererzählen ein, trotzdem und gerade weil sie Gegenwartserfahrung auch irritierend verfremden. Der metaphorische Prozess, den ein Gleichnis anstößt, ist nicht schon abgeschlossen, „sondern muss im Akt des Lesens je und je neu vollzogen werden“478, „dann fangen die alten Bilder wieder an zu sprechen“479. Deshalb sind Gleichnisse „appellativ-deutungsaktiv“480. Die Parabel erwartet eine

476 Vgl. Ruben Zimmermann, a. a. O., 42. 477 Vgl. Paul Ricoeur, Eberhard Jüngel (Hg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh. Sonderheft, München 1974, 24–45. 478 Zimmermann, Kompendium, 27. 479 Gerd Theißen, a. a. O., 344. 480 Vgl. Zimmermann, a. a. O., 27.

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Sinnkonstitution und provoziert zur Stellungnahme, sie ist deutungsoffen.481 Dieser Struktur entspricht die Intention von kurzen Predigten, die ebenfalls in ein inneres Gespräch mit den Hörern eintreten wollen. Luise Schottroff 482 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bilder der Gleichnisse mehr sind als Anschauungsmaterial und theologisch alles andere als unbedeutsam. Schottroff würdigt den Alltag der Menschen, von denen die Gleichnisse erzählen und betont ihre gesellschaftspolitischen Implikationen. Danach sind Gleichnisse auch sozial interessiert und bedeutsam – noch dann, wenn sich die politischen Verhältnisse verändert haben. Der politische Anspruch bleibt. Gleichnisse sind aktuell – Kurzpredigten sollten es auch sein! Gleichnisse sind, wie auch jede Kurzpredigt, kontextbezogen. Gleichnisse sind bleibend faszinierend, obwohl sich die Lebensumstände vieler Menschen, die sie hören, fundamental geändert haben. Ein Heidelberger Familienvater, der in der Universitätsbibliothek als Bibliothekar arbeitet, lebt anders als ein Schriftgelehrter im Jerusalem zur Zeit Jesu. Trotzdem werden beide mit einiger Wahrscheinlichkeit das Gleichnis vom barmherzigen Samariter spannend finden können. Eine Fabrikarbeiterin aus Ludwigshafen lebt anders als eine Bäuerin aus der Nähe von Bethlehem zur Zeit des Königs Herodes und doch werden beide etwas anfangen können mit dem Gleichnis von der Frau, die das ganze Haus auf der Suche nach der verlorenen Münze auf den Kopf stellt. Glücklicherweise leben wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr im Kriegszustand und auch – ebenso glücklicherweise – in einer Demokratie. Dennoch spricht mich das Gleichnis an vom König, der seine Möglichkeiten erst abschätzen muss, bevor er entscheidet, ob er einen Kriegseinsatz wagt oder doch lieber Verhandlungen anstrebt. Das liegt auch daran, dass Jesus Gleichnisse so erzählt, dass seine Zuhörer besonders angeregt werden. „Bilder verwandeln den Menschen eher als abstrakte Gedanken. Sie sprechen emotionale und motivationale Tiefenschichten im Menschen an.“483 Die Themen und Akteure sind so gewählt, dass Menschen gar nicht anders können, als fasziniert zu sein – auch abgestoßen, was ebenfalls eine Form der Faszination ist. Diese Themen sind nicht immer bleibend faszinierend oder abstoßend. Die Vorstellung, Schweinefutter essen zu müssen, ist für einen christlichen Mitteleuropäer aus anderen Gründen widerlich als für einen gläubigen Juden, für den Schweinefleisch nicht koscher ist. Neurobiologische Forschungsergebnisse helfen, menschliche Reaktionen besser zu verstehen. Alle Menschen reagieren automatisch auf Blut mit einer kortikalen Reaktion, doch 481 Vgl. Zimmermann, a.a.O, 27. 482 Luise Schottroff, a. a. O. 483 Gerd Theißen, a. a. O., 349.

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gläubige Juden, für die der Kontakt mit Totem zur Verunreinigung führt, noch einmal mit einem besonderen Akzent. Trotz solcher fundamentaler Unterschiede behalten Gleichnisse ihre Wirkung. Offenbar setzen Gleichnisse nicht auf ein Reiz-Reaktionsschema allein. Jesus erzählt nicht distanziert, sondern so, dass Menschen emotional angesprochen werden. Christian Schärf betont, dass der Essay die Vorstellungen einer normativen Denkweise beseitigt484, was eine „Kehre“485 aus einer normativen Denkweise bedeutet. Die Nähe dieser Beschreibungen zum Gleichnis liegen auf der Hand – trotz aller Unterschiede. Jesus erzählt essayistisch insofern, als er aus der Haltung des Beobachtens und Wahrnehmens erzählt und eine eigene, überraschende, die Vorstellungen seiner Zuhörer übersteigernde Wendung schildert. Zudem sind Gleichnisse dialogisch. Sie legen nicht fest: „wenn es nicht um historische Fakten- oder allgemeine Vernunftwahrheiten, sondern um konkrete Lebenswahrheiten geht, dann kann es auch keine vorschreibende Auslegung geben.“486 Die literarische Form, die explizit auf die innere Erfahrung des Autors rekurriert und sie dialogisch487 in Beziehung zur Außenwelt setzt, ist der Essay. Essays sind immer persönlich, aus der Perspektive des Autors erzählt. Wenn Jesus vom Reich Gottes erzählt hat das in der Tat viel mit seiner Persönlichkeit zu tun. „Der Gleichniserzähler ist selbst das ‚Gleichnis Gottes‘“.488 In der ganz kurzen Form des Gleichnisses finden sich auch Parallelen zur Aufzeichnung. Allerdings ist dem Essay eine pädagogische Zuspitzung, die auf das Einverständnis des Hörers abzielt, fremd. Das Gleichnis weist hier eine Nähe zur antiken Rhetorik auf. Auch beim Traktat gehört das Werben um die Zustimmung der Hörer zur Kunstform dazu. „Was Jülicher zu Recht erkannt hatte, ist dies, dass der Verstehensprozess zum Teil mit einer suggerierten Eindeutigkeit des bildspendenden Bereichs arbeitet. Die Selbstverständlichkeit, mit der hierbei Zustimmung erwartet wird, ist dabei ein Aspekt der rhetorischen Funktion, der die Parabel unterliegt.“489 Das Gleichnis scheint deshalb zunächst nicht so offen wie ein Essay, es hat eine deutliche Zuspitzung: So geh hin und tue desgleichen! (Lk 10,37). Annette Merz stellt jedoch im Blick auf das Lukasevangelium fest, dass durch bewusst platzierte Logien eine Vielfalt von Deutungswegen eröffnet wird, 484 485 486 487

Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, 9–10. So Christian Schärf, a. a. O., 9–10. Zimmermann, a. a. O., 14. Peter V. Zima bezeichnet „Dialog“ als Merkmal des Essay. (Peter V. Zima, Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2012, 29.) 488 Zimmermann, a. a. O., 5. (im Anschluss an Jüngel). 489 Zimmermann, a. a. O., 13.

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die in die unterschiedlichsten Richtungen weisen. Sie urteilt: „Lukas … hat keineswegs die Gleichnisse „auf Linie“ gebracht, so dass sie den einfachen pädagogischen Formeln genügen würden. Das macht jede Auslegung zu einem spannenden Unternehmen, bei dem man am Anfang nie weiß, wohin es eine/n führen wird.“490 Nicht zu wissen, wohin es einen führen wird – das bedeutet wieder eine große Nähe zum Essay, der sich schreibend formt. Der Essay ist die direkte Konfrontation des Subjekts mit dem Schreiben. Während der rhetorisch geschulte Schreiber eines Traktats vorher weiß, was er sagen will, sein Ziel kennt und dann schreibt, entsteht der Essay im Prozess des Schreibens – eine Form der Selbst- und Welterkenntnis, zugleich eine Expedition ins Ungewisse. Im Gegensatz zum Traktat spricht der Essay auf Augenhöhe – und auch dem Gleichnis ist jede Hierarchie fremd. Weil Gleichnisse offen sind, legen sie nicht fest. Theißen hält fest, dass Jesus in seinen Gleichnissen von Gott „in einer nichtautoritären Weise“491 spricht. Die Hörenden und Lesenden werden eingeladen, sich in die Geschichte verwickeln zu lassen – sie werden nicht dazu gezwungen. Zudem verweigert sich die mehrdimensionale Struktur von Gleichnissen per se autoritärer Zuspitzung. Wenn auch die Gleichnisse sehr genau rhetorisch durchgeformt sein mögen – ihre Auslegung bleibt eine spannende Reise in ein unbekanntes Land. „Humans are storytellers. They share daily experiences, tell each other anecdotes, and exchange gossip“492. Die Neurobiologie erläutert in ihrer Beschreibungssprache, was die Soziologie aus ihrer Perspektive erklärt: Beziehungen entstehen durch „stories“, die Menschen sich erzählen,493 ein besonderes Netzwerk494. Gleichnisse erzählen Geschichten und sind gerade so paradigmatische kurze Predigten. „Jesu Verkündigung ist das große Modell einer Predigt von

490 Annette Merz, Einleitung. Parabeln im Lukasevangelium. In: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Güterlsoh 2007, 516–517. 491 Gerd Theißen, a. a. O., 346. 492 Ulrike Altmann, Isabel C. Bohm, Oliver Lubrich, Winfried Menninghaus, Arthur M. Jacobs, The power of emotional valence – from cognitive to affective processes in reading. In: Frontiers in Human Neuroscience, June 2012/Volume 6/Article 192, 1. 493 Vgl. Harrison C. White, Identity and Control. A Structural Theory of Social Action, Princeton NJ: Princeton UP 1992; Harrison C. White, Identity and Control, How Social Formations Emerge, Princeton NJ: Princeton UP 2/2008; Harrison C. White, Frédéric C. Godart, Stories from Identity and Control, Sociologica 3/2007, 1–17. Diese Hinweise verdanke ich Dr. Athanasios Karafilidis, RWTH Aachen. 494 Auf die Bedeutung des Querschnittthemas „Netzwerk“ weist auch Andreas Draguhn hin: Andreas Draguhn, Erklärungsansprüche und Wirklichkeit der Hirnforschung. Auszug aus dem Jahresbericht „Marsilius-Kolleg 2010/2011“, http://www.marsilius-kolleg.uni-heidel berg.de/md/einrichtungen/mk/publikationen/12_erklaerungsansprueche_und_wirklich keit_der_hirnforschung.pdf., 138. Zugriff 09. 12. 2013.

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Gott in Gleichnissen und Bildern.“495 Und: „Was Bilder über den Menschen vor Gott sagen, können wir aus den Gleichnissen Jesu lernen. Sie handeln von der Beziehung zwischen Mensch und Gott.“496 Jedoch: Wenn Gleichnisse selbst Kurzpredigten sind, dann stellt die Predigt über sie vor besondere Herausforderungen. Kann man über eine Predigt predigen? Gelten hier besondere Regeln? Und – lassen sich aus der homiletischen Analyse der Gleichnispredigten Folgerungen für die Predigt generell ablesen? Die Geschichte der Parabelpredigt497 weist verschiedene Lösungsmöglichkeiten auf. Martin Dutzmann benennt den „Willen zur Kommunikation, wie er die Aufklärungspredigt in besonderer Weise auszeichnete… emotionale(n) Beanspruchung der Predigthörer, auf die die ‚Parabelpredigt als Aufruf zu persönlicher Frömmigkeit‘ zielte… Interesse an theologischer Wegweisung, das die konfessionell-lutherische Parabelpredigt des 19. Jahrhunderts beherrschte“498. Dutzmann zeigt aber auch die Fallstricke auf. So erweist es sich als den Gleichnissen nicht angemessen, wenn sie lediglich als Aufhänger für eine Lehr- oder Bekenntnispredigt benutzt und nicht in ihrer Besonderheit wahrgenommen werden. Im Blick auf die Kurze Form der Predigt wurden in der literaturwissenschaftlichen Analyse kurzer literarischer Formen Traktat und Essay als mögliche literarische Vorbilder gezeigt. Für die Gleichnispredigt wird jedoch der Traktat in seiner didaktischen Ausrichtung als Form problematisch sein: „Auch das lernpsychologische Aufbauschema… erscheint als ungeeignet für die Predigt von Gleichniserzählungen Jesu, da es den Predigttext nach den Phasen ‚Motivation‘, ‚Problemabgrenzung‘, sowie ‚Versuch und Irrtum‘ unter dem Aspekt des ‚Lösungsangebotes‘ einbringt, dem dann noch die ‚Lösungsverstärkung‘ folgt. Indem die Parabel so nur als Antwort auf ein gestelltes Problem wahrgenommen wird, büßt sie ihre Sprachkraft und damit ihre Möglichkeit, Neues zu sagen, ein.“499 Der folgende eigene Versuch bemüht sich – trotz der geschilderten Schwierigkeiten –, mit Hilfe der Bildhaftigkeit von Gleichnissen von Gott zu reden – wissend, dass dies eigentlich unmöglich ist.

495 Gerd Theißen, a. a. O., 355. 496 Gerd Theißen, a. a. O., 349. 497 Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von Martin Dutzmann, Gleichniserzählungen Jesu als Texte evangelischer Predigt, Göttingen 1990. 498 Martin Dutzmann, a. a. O., 217. 499 Martin Dutzmann, a. a. O., 212–213.

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Angela Rinn-Maurer SWR 2 – Wort zum Tag 23. 06. 2003500 Die Tiefe des Glaubens können wir Menschen gar nicht ausloten! Jesus öffnet uns die Tür einen Spaltweit, so dass ich einen Blick erhaschen kann in einen im Grunde fremden Raum. Eine Dimension, die mir eigentlich noch verschlossen ist. Wenn ich meine, ich hätte mit diesem Blick, diesem Augenblick, schon alles erfasst… du lieber Himmel! Deshalb sind es Bilder, mit denen Jesus erzählt, denn anders als in Bildern können Menschen das Reich Gottes nach wie vor nicht begreifen. Müssen fragen, tasten, können nur ahnen. Wie kann er mir armen Menschen den Himmel erklären? Ich versuch’s einmal selbst! Und erzähl’ einem Blinden von der Farbe, spiel’ einem Tauben eine Symphonie vor und dem, der noch nie geliebt hat, dem erkläre ich, wie die Liebe ist. Und es gelingt mir weder bei der Farbe noch bei der Musik und ich komme schließlich vollends ins Stottern, wenn es um die Liebe geht. Liebe ist… ja wie denn? Und schon bald merke ich, wie ich Bilder zur Hilfe nehme: Deine Liebe ist lieblicher als Wein, von deinen Lippen träufelt Honig, Honig und Milch sind unter deiner Zunge. Wenn’s um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geht, geht es nicht ohne Bilder: Farbe ist rot und eine Symphonie dauert eine Stunde. Das sagt gar nichts. Da verblasst das Wunder. Ich kann es nur begreifen, wenn ich anfange zu erzählen, wenn mir die Bilder aus dem Herzen auf die Lippen kommen, wenn ich anfange zu schwärmen. Und dann kann es sein, dass das eine sich aufs andere bezieht und sich so erklärt. Da kann man dem Blinden erzählen, dass Farben wie eine Symphonie sein können, ja eine Symphonie von Farben, kann erzählen, dass die Liebe ein bisher graues Leben in leuchtenden Farben erstrahlen lässt und dass sich bei mancher Musik das Herz öffnet und es einem scheint, als ob mit dem Herzen der Himmel offen steht. Und wie steht’s mit dem Himmel? Erklär mir doch den Himmel, Jesus. Erklär mir… Gott! Es ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen, antwortet er. Oder: Es war einmal ein Senfkorn, so klein, und wurde doch zum großen Baum, in dem die Vögel nisten konnten. Seltsame Bilder? Aber anders lässt sich der Himmel nicht erahnen.

Die Predigt setzt das Dilemma an den Anfang: Die Tiefe des Glaubens verschließt sich menschlichen (Sprach-)Möglichkeiten ebenso wie der Himmel (1–4). Es ist Jesus, der einen Weg zeigt: Er erzählt in Bildern vom Himmel und erschließt ihn so (4–6). Die Predigt nutzt dabei die neurowissenschaftliche Information, dass die einzelnen Areale im Gehirn, die Sinneswahrnehmungen verarbeiten, nicht direkt, sondern vermittelt über andere Areale aktiviert werden. Ebenso nutzt die Predigt die Information der sogenannten „Hebb’schen Regel“. Diese beschreibt, dass im Gehirn Assoziationen gespeichert werden und gleichzeitige Aktivität von Nervenzellen Zellensembles zusammenbindet, so dass am Ende die Erwähnung einer Assoziation das ganze Ensemble aktiviert. Homiletisch ist wichtig, dass stimmige Bilder, die verschiedene Sinneseindrücke ansprechen, größere Areale 500 http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2003-03-23. Zugriff 09. 01. 2014.

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unseres Gehirns ansprechen und später umfassender erinnert werden. Die Predigt nimmt auf, dass Jesus Bilder aus der Welt der Menschen mit Vorstellungen vom Himmel verknüpft. Wie eine solche Verknüpfung wirkt, wird durch die Erläuterung von Begriffen wie „Liebe“, „Farbe“ und „Symphonie“ (7–10) gezeigt. Die Erläuterung erfolgt mithilfe von Bildern (11–13), die sinnliche Erfahrungen ansprechen und so dem Blinden – ebenso wie den Hörenden, die ja auch nicht wissen, wie der Himmel aussieht – mit Geschmack und Musik das Wunder der Farben und damit das Wunder des Himmels erklären (17–21). Die Bilder werden mit dem Begriff „Himmel“ verknüpft. Tückisch ist die Form der Nacherzählung in der Gleichnispredigt, wenn Unstimmigkeit darüber besteht, aus welcher Perspektive das Gleichnis erzählt wird501. Eine Nacherzählung müsste sich zudem sprachlich auf dem Niveau des Gleichnisses halten. Außerdem: „Die Grenze der Nach- wie der Fortsetzungserzählung liegt darin, daß die Möglichkeit der Aktualisierung begrenzt ist.“502 Vielversprechender ist es, „mit der Provokation durch die Parabel“503 einzusetzen und zugleich die Offenheit der Parabel homiletisch zu respektieren. Spannung ist ein weiteres Kriterium, das für die homiletische Auseinandersetzung mit Gleichnissen genannt wird.504 Dutzmann spricht von der Gleichniserzählung Jesu als von einer „Spannungsmetapher“, bei der es sowohl um das Leben der Menschen als auch um das Leben von Gott her geht. Dabei werden sowohl menschliche Bewertungen grundsätzlich hinterfragt als auch neue Aspekte eröffnet.505 In der Tat scheint im überraschenden Perspektivwechsel ein Schlüssel für eine gelungene Predigt, besonders in der kurzen Form, über Gleichnisse zu liegen. Der folgende eigene Versuch möchte entsprechend mit dem Gleichnis umgehen:

501 Dutzmann vertritt – meines Erachtens zu Unrecht – die Ansicht, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus der Perspektive des Überfallenen und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg aus der der Ganztagsarbeiter erzählt wird. (Martin Dutzmann, a. a. O., 215.) 502 Martin Dutzmann, a. a. O., 215. 503 Martin Dutzmann, a. a. O., 216. 504 Martin Dutzmann, a. a. O., 190. 505 Vgl. Martin Dutzmann, a. a. O., 193.

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Angela Rinn Gott ist wie ein verrückter Sämann, der seine Botschaft ohne Rücksicht auf Verluste verschleudert. Ein verrückter Sämann SWR 2 – Wort zum Tag 23. 03. 2009506 „Ein ziemlich merkwürdiger Bauer ist das, der ohne Rücksicht auf Verluste sein Saatgut verschleudert, kein vernünftiger Mensch sät so, dass dreiviertel der Körner statt in der Furche zwischen Dornen, auf Fels oder auf dem Weg landen. Das ist doch verrückt! So viel Verlust!“ Ich unterhalte mich mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden über das Gleichnis vom Sämann, das Jesus im Lukasevangelium erzählt. Wir verstehen diesen Bauern nicht, der so unvernünftig sein Gut verschleudert. Unbeirrt davon sät der Sämann. Verschleudert den Samen, das Wort, mit vollen Händen auf den Felsen, auf den Weg, in die Dornen. Manches fällt auf gutes Land. „Zu welcher Sorte gehört Ihr wohl, Eurer Meinung nach“, frage ich. Zögern. „Felsen, Dornen“, meinen sie dann, fast ein wenig schüchtern. Wer kann schon von sich behaupten, gutes Land zu sein, auf dem die Botschaft Gottes wächst und gedeiht. Aber – ist meine Frage überhaupt die richtige Frage? Kommt es bei der Geschichte vom Sämann vielleicht gar nicht darauf an, sie eins-zu-eins zu übersetzen, sondern darauf, zu staunen? Können Sie darüber staunen, wie unökonomisch der Sämann Gott ist? Wie er verschwendet und verschleudert, aus lauter Liebe! Das kann nicht an seiner Unfähigkeit als Bauer liegen. Nein, der Sämann handelt mit voller Absicht. Er knickert und geizt nicht mit dem, was er hat. Und er schaut nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange Effizienz. Er traut sich, Misserfolg zu haben. Er traut sich auch, sich auf den Misserfolg einzulassen, der in meiner Person liegen könnte, schreckt nicht davor zurück, dass ich vielleicht nur dorniges Gestrüpp bin. Wenn ich dem verrückten Bauer länger zuschaue, dann ahne ich: Jeder, der das Wort hört, das da gesät ist, jeder fasst es für einen Moment, auch wenn dieser Moment nur ganz kurz ist. Alle nehmen erst einmal das Wort auf, das mit liebevollen Händen reich ausgesät ist – auch noch der Felsen. Wer weiß, was in meinem Leben alles noch wachsen wird – auch dann, wenn ich mir selbst gerade wie ein harter Felsblock vorkomme. Wenn er so ist, der Sämann, unser Gott, dass er mit einem Herzen voller Liebe und mit vollen Händen das Saatgut in die Dornen wirft und auf den Fels und auf den Weg, wenn er die Hoffnung nicht aufgibt, dass auf dem Fels und unter Dornen doch etwas wächst, dann müssen auch wir die Hoffnung nicht aufgeben. Denn auch ein kleines Hälmchen, das zwischen den Dornen aufgeht, ist doch ein Hälmchen der Liebe, und das ist mehr, als nie geliebt zu haben und geliebt zu werden. Und da es ein göttliches Hälmchen ist, reicht es für die Ewigkeit.

Die Provokation des Gleichnisses wird zu Beginn genannt, emotional bewertet und im Gespräch mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden aufgenommen (1–6). Ebenfalls im Gespräch mit den Jugendlichen wird eine übliche Lesart des 506 http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2009-03-23. Zugriff 09. 01. 2014.

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Gleichnisses thematisiert: Menschen sind unterschiedlich offen für das Evangelium (9–10). Dann wird die Frage problematisiert (12) und dadurch ein Perspektivenwechsel ermöglicht, der die Interpretationsmöglichkeiten öffnet. Der Fokus wird vom unterschiedlichen Boden zum Sämann verschoben. Die negative Sicht – das Saatfeld ist defizitär (11–12) – wird umgedeutet: Der Sämann sieht das Potential des Bodens. Auf jedem Boden wächst etwas (27–28). Der Schlusssatz (31–32) spricht dem vergänglichen Halm göttliche Ewigkeitshoffnung zu. Das ist – wie der Perspektivwechsel vom Saatfeld zum Sämann – eine Überraschung, die die Aufmerksamkeit der Hörenden evoziert. Auch ein kleines Hälmchen ist ein Zeichen der Liebe (29–31). Der Schluss hat auch eine humoristische Note, hier wird die Information genutzt, dass ein „Humornetzwerk“507 viele Hirngebiete aktiviert, vor allem, wenn es gelungen ist, bei den Hörenden ein Lächeln auszulösen. Eine hermeneutische Schwierigkeit, die noch 1990 relevant war – eine übermäßige Bekanntheit, die das Hören vorprägt – dürfte sich 2013 nicht mehr zwangsläufig stellen. Ende des 20. Jahrhunderts geht Dutzmann noch davon aus, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter so bekannt ist, dass es gar nicht mehr anstößig und provozierend wirken kann.508 Davon ist 2013 nicht mehr unbedingt auszugehen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ein Gleichnis die Hörer heute wieder neu überraschen kann, ein Ziel, das 1990 durch Verfremdungstechniken erreicht werden sollte, an deren Wirksamkeit jedoch schon damals Zweifel bestanden: „Ob es freilich schon dadurch gelöst wird, daß man die Parabel als „das Gleichnis vom barmherzigen Kommunisten“ liest, ist angesichts der tiefen Verwurzelung des positiven Samariterbildes in der Frömmigkeit zu bezweifeln.“509 Vorgeschlagen wird eine „dreifache Pro-vokation“510, um „die Predigthörer aus den beschriebenen Engführungen, Festlegungen und Karikierungen herauszurufen.“511 Die erste Pro-vokation sei, den Zuspruch der Parabel an den Hörer auszuteilen: „Tua res agitur!“512 Die zweite Pro-vokation, „die Hörer in der Auseinandersetzung mit der Gleichniserzählung zu einer neuen Sicht ihrer eigenen

507 508 509 510 511 512

Barbara Wild, a. a. O., 33. Vgl. Martin Dutzmann, a. a. O., 164. Martin Dutzmann, a. a. O., 164. Martin Dutzmann, a. a. O., 166. Martin Dutzmann, a. a. O., 166. Martin Dutzmann, a. a. O., 166. Interessanterweise erläutert Dutzmann die „Pro-vokationen“ mit einem alttestamentlichem Gleichnis, der Nathanparabel, vgl. Martin Dutzmann, a. a. O., 166.

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Lebenswirklichkeit sub specie Dei zu pro-vozieren“513, die dritte die „Pro-vokation zum Dialog“514. Wenn 1990 unterstrichen wurde, dass das Gleichnis als „autonomes-ästhetisches Objekt“515 einen Dialog mit den Hörern bzw. Lesern anbietet, eine Kommunikation, die nicht nur intellektuell, sondern auch „auf der Ebene des Gefühls“516 arbeitet, dann zeigt sich hier der Einfluss der damaligen Seelsorgebewegung mit ihrer Betonung der non-direktiven Gesprächsführung517 und der Aufnahme der Gefühle der „Klienten“ bzw. Gesprächspartner (tiefere Schichten im Menschen sollen angesprochen, Distanz zum inneren Feind gewonnen werden) 518 sowie die Konzeption der Predigt als offenes Kunstwerk. Doch ist die „Identifikation der Hörer“519 mit Personen des Gleichnisses tatsächlich das angemessene Ziel einer Parabelpredigt? Martin Dutzmann fordert 1990: „Ausgehend von der Gleichniserzählung als ganzer setzt die Predigt mit der Provokation durch die Parabel und den dadurch ausgelösten Gefühlen ein und bearbeitet diese Emotionen im Spannungsfeld von homiletischer Situation und Gleichniserzählung“520. Aber woher weiß die Predigerin oder der Prediger, welche Gefühle bei den Hörenden ausgelöst werden? Ist es tatsächlich nicht-direktiv, wenn diese Gefühle „bearbeitet“ werden? Hier ist doch deutlich ein hierarchisches Gefälle zwischen Predigerin und Prediger auf der einen und den Hörenden auf der anderen Seite festzustellen. Entsprechende Praxiserfahrungen521 haben ebenfalls einen merkwürdig autoritären Beigeschmack: „indem ich die Gefühle meiner Zuhörer zum Klingen bringe, indem ich ihnen Identifizierungsmöglichkeiten mit dem Opfer anbiete, handle ich im Sinne der Rahmenerzählung: Ich gieße selbst „Öl auf ihre wunden Seelen“… und bin damit ihr Nächster. Und indem ich ihnen Identifizierungsmöglichkeiten mit dem Samariter anbiete, sage ich ihnen, daß sie hingehen und desgleichen tun können.“522 Die vorgeblich im Rahmen des Gleichnisses agierende Predigt zeigt einen gewissen Allmachtswahn, die Predigerin setzt sich mit Jesus gleich. Braucht es „Identifizierungsmöglichkeiten“, die 513 514 515 516 517

518 519 520 521 522

Martin Dutzmann, a. a. O., 166. Martin Dutzmann, a. a. O., 167. Martin Dutzmann, a. a. O., 180. Martin Dutzmann, a. a. O., 183. „Darin zeigt sich die seelsorgerliche Eigenart der Parabeln Jesu: Sie stellen eine nicht-direktive Form der Kommunikation dar, ohne jedoch ihre Adressaten allein zu lassen. Sie lösen einen emotionalen und kognitiven Prozeß im Hörer aus, ohne ihm die Durchführung des Prozesses zu ersparen oder ihm gar die daraus resultierende Entscheidung abzunehmen.“ Martin Dutzmann, a. a. O., 211–212. Vgl. Martin Dutzmann, a. a. O., 187. Martin Dutzmann, a. a. O., 187. Martin Dutzmann, a. a. O., 216. Ingrid Adam, Manchmal springt ein Funke über. Die psychische Aktualität von Bibeltexten – Homiletische Erfahrungen. In: ZGP 2(1983), 5–8. Ingrid Adam, a. a. O., 8.

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die Predigenden anbieten, damit Menschen mit einem Gleichnis etwas anfangen können? Gleichnisse sind kleine Kunstwerke, die mit überraschender Metaphorik arbeiten, sie nehmen einerseits die Lebenswirklichkeit von Menschen sorgfältig wahr, verblüffen zugleich mit Verknüpfungen und Wendungen. Gleichnisse zeichnen sprachlich präzise und lebendig. Trotzdem herrscht eine gewisse Skepsis darüber, ob Gleichnisse den garstigen Graben der Geschichte mit ihrer Bildkraft überspringen können, manche Predigerinnen und Prediger trauen der biblischen Geschichte nicht zu, „moderne“ Menschen zu erreichen, obwohl die Parabel als Metapher begriffen wird. Nur so erklärt sich auch der Versuch, Gleichnisse durch „moderne Gleichnisse“ auszulegen.523 Selbst Theißen, der dafür werben will, „ihrer Bildersprache etwas mehr zuzutrauen und sich ihr nach kritischer Prüfung anzuvertrauen“524 und eine „allgemeine Bibelmüdigkeit des Protestantismus“525 beklagt, erliegt der Versuchung, die Gleichnisse umschreiben zu wollen, um sie prädikabel zu machen: „… umso mehr wird die Metapher „Vater“ wieder als ein lebendiges Bild verstanden. Erst recht geschieht das, wenn wir eine kleine Geschichte von einem Vater erzählen, in der zwei Söhne vorkommen, die untereinander im Konflikt stehen. Und wenn es uns gelingt, dabei die Geschichte vom verlorenen Sohn vielleicht umzuschreiben zu einer Geschichte vom verlorenen Vater, dann fangen die alten Bilder wieder an zu sprechen.“526 Jedoch: „Gleichnisse sind allen zugänglich“527 – deshalb sind Umschreibungen oder Neuschreibungen ein sehr anspruchsvolles Vorhaben, das leicht scheitern kann. Ein solches problematisches Beispiel für die Auslegung der Gleichnisse von Schatz und Acker und Perle möchte ich vorstellen: „Eine alte Dame meldete im Fundbüro den Verlust einer Brosche. Sie beschrieb das Schmuckstück genau, worauf der Beamte ausrief: „Sie haben Glück gehabt; vor einer Stunde erst hat ein kleines Mädchen diese Brosche abgegeben.“ Und er legte die Fundsache vor sich auf den Tisch. Die Dame nickte bestätigend. Sie kramte aus ihrer Tasche einen 5 Geldschein hervor und bat den Beamten, ihn der Finderin auszuhändigen. Der Mann starrte sie ungläubig an, als zweifle er an ihrem Verstande. In schonendem Tonfall wandte er ein: „Die Brosche, mit Verlaub, ist nur vergoldet. Sie besteht aus ganz gewöhnlichem Blech und ist kaum einen Bruchteil des Geldes wert. Wenn ich Ihnen raten darf, gnädige

523 So z. B. Katharina Seidel, Moderne Gleichnisse, Stuttgart 1994; oder – als Beispiel für eine Fülle entsprechender Literatur aus seiner Feder: Willi Hoffsümmer, 55 Symbolpredigten, Ostfildern 2011. 524 Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen, 344. 525 Gerd Theißen, a. a. O., 344. 526 Gerd Theißen, a. a. O., 344–345. 527 Gerd Theißen, a. a. O., 346.

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Frau: Spendieren Sie der Kleinen ein Eis, das ist mehr als genug. Der gesetzliche Finderlohn…“ Da fiel ihm die Dame heftig ins Wort. „Den gesetzlichen Finderlohn hätte ich auf 10 Heller und Pfennig bezahlt, wenn es sich um mein Perlenkollier oder mein Saphirarmband gehandelt hätte. Diese Brosche ist kostbarer.“ Fast zärtlich strich sie das blecherne Schmuckstück ein, grüßte und ließ den Beamten mit seinem Kopfschütteln allein.“528

Das „moderne“ Gleichnis als Auslegung des Gleichnisses vom Schatz im Acker und von der kostbaren Perle wirft viele Fragen auf. Ist es wirklich modern? Die Sprache mutet eher wie ein Relikt aus den 50er oder Anfang 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an, veröffentlicht wurde die Geschichte 1994. Kein Mitarbeiter eines Fundbüros sagte 1994 noch „mit Verlaub“ (7) oder „gnädige Frau“ (8–9), es ist auch daran zu zweifeln, dass Mitarbeiter von Fundbüros sich als Schmuckspezialisten betätigen und Kunden auf die Materialqualität der Fundstücke hinweisen (7–8). Erzählen Damen Ende des 20. Jahrhunderts tatsächlich von Perlencolliers und Saphirarmbändern (11)? Das moderne Gleichnis wirkt verstaubter als jedes biblische Gleichnis, zudem greift es nur einen Aspekt der beiden biblischen Gleichnisse auf (Die Brosche ist für die Dame kostbarer als andere Schmuckstücke, 12) und verengt damit die Botschaft. Gleiches gilt für ein modernes Gleichnis, das das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat auslegen will: „Ein Mann der Presse ärgerte sich über den abwertenden Gebrauch des Begriffes ‚Illusion‘ durch seine Kollegen. „Jede Illusion“, sagte er „hat ihre eigene Kraft und Realität.“ Dazu erzählte er folgendes Beispiel: „In der Stadt trat eine Truppe von Seiltänzern auf. Sie spannten ihr Seil vom Glockenstuhl der Don-Bosco-Kirche zum Turm des Rathauses hinüber. Die Vorstellung fand am Abend statt, bei Scheinwerferlicht und ohne Netz. Es war 5 das Übliche: Sie liefen, sie tanzten, sie radelten über das Seil. Hauptattraktion aber war der Auftritt eines blutjungen Mädchens, der Tochter des Schaustellerpaares. Wie eine Schneeflocke schwebte sie im Lichtkreis von Turm zu Turm über den Abgrund von Dunkelheit. Später gab mir der Vater der Kleinen ein Interview. Ich konnte meinen Vorwurf kaum verhehlen: ‚Wie haben Sie dieses Kind eine so halsbrecherische Kunst gelehrt?‘ 10 ‚Seiltanzen ist nicht schwer‘, erwiderte der Mann, ‚auch Sie würden es spielend lernen. Das Problem ist die Angst. Meine Tochter fürchtet sich nicht, denn sie ist überzeugt, daß ein unsichtbares Netz ausgespannt sei, fester als Nylon und Hanf.‘“529

Geht es beim Gleichnis von der selbstwachsenden Saat tatsächlich um Angst (12)? Der Verbindungspunkt beider Gleichnisse ist das Thema der Unsichtbarkeit (13) – aber trifft die Pointe des modernen Gleichnisses tatsächlich die des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat? Im Gegenteil ist es ja so, dass die Saat tatsächlich wächst, auch wenn der Bauer nicht weiß, wieso, während das Kind auf 528 Katharina Seidel, a. a. O., 48–49. 529 Katharina Seidel, a. a. O., 33.

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einem Netz tanzt, obwohl es dieses Netz nicht gibt. Das moderne Gleichnis legt den Schluss nahe, dass Glaube Illusion ist (1,2), die als Illusion Kraft und Realität hat (2). Die Definition von Glaube als Illusion trifft nun gewiss nicht die Intention des biblischen Gleichnisses. Auch die folgende Predigt über die Gleichnisse vom Schatz im Acker und der selbstwachsenden Saat erliegt der Versuchung, ein eigenes Gleichnis zu erzählen, eine Geschichte, die der Prediger nach eigener Angabe „irgendwo“ gelesen hat: „Es ist eine ausgesprochen ungewöhnliche Geschichte, die ich vor einiger Zeit irgendwo gelesen habe: Bei einem Mann war infolge eines Unfalls und durch den Schrecken, den er dabei erfahren hatte, eine Lähmung des Sehnervs eingetreten. Welchen Arzt er auch aufsuchte, was immer er unternahm – er war und blieb blind. Bis eines Tages bei einem 5 schweren Gewitter der Blitz in das Haus einschlug, in dem er sich befand. Der darauf folgende Donnerschlag war so ungeheuerlich, daß der Schreck, den der Blinde dadurch bekam, seine Lähmung löste und er plötzlich wieder sehen konnte. Es war nun für ihn, wie wenn er neu geboren wäre. Die Welt mit all ihrer Schönheit ging ihm ganz neu auf. Während es vorher dunkel um ihn gewesen war und er sich alles von anderen Menschen 10 beschreiben lassen mußte, sah er jetzt die Welt in strahlendem Licht und konnte sich frei und ohne die Hilfe anderer bewegen. Kein Wunder, daß eine überströmende Freude diesen Menschen erfüllte. Blind sein – und dann wieder sehen können: das ist etwas vom Größten, was sich denken läßt. Das kann im Grunde nur der nachfühlen, der in einer ähnlichen Lage war… Daß uns das wieder aufgeht, daß wir wieder sehen lernen und den Blick freibe15 kommen, dazu muß auch an uns zuerst ein Wunder geschehen. Dazu bedarf es zunächst einer großen Entdeckung, und dann ist da eine ganze Entscheidung zu treffen. Wie das zugeht, das will uns ein Gleichnis Jesu aus dem Matthäusevangelium sagen:“530

(Es folgen die Gleichnisse vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle). Der Prediger erzählt eine Geschichte, die er „irgendwo“ (1) gelesen hat als modernes Gleichnis, dessen Verbindungslinie zum Schatz im Acker und der kostbaren Perle lediglich im Moment der Entscheidung (16–17) liegt, die jedoch in seinem modernen Gleichnis überhaupt nicht vorkommt, sondern vom Prediger eingetragen wird. Auch hier zeigt sich, dass der Bildkraft des Gleichnisses weniger zugetraut wird als einer Geschichte, die zwar in der modernen Zeit spielt, aber wesentlich fremder wirkt als die Geschichte vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle. Nach einem Schatz hat fast jeder schon einmal gesucht – aber wie viele Personen kennen die Erfahrung, durch ein Schockerlebnis zu erblinden (2–3) und durch einen zweiten Schock wieder sehend zu werden (6–7)? Und: Ist das die Voraussetzung, um neu auf das Reich Gottes „hinsehen“ zu können? Die Fülle entsprechender Literatur – allein Willi Hoffsümmer hat neun Bände mit mehr als 1800 Geschichten herausgebracht – ist jedoch ein deutlicher Hinweis 530 Johannes Kuhn (Hg.), bilder helfen hören. Gleichnisworte der Bibel. Stuttgart 1973.

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darauf, dass Predigerinnen und Prediger Probleme damit haben, auf die Kraft der biblischen Bilder zu vertrauen. Bei den zitierten Auslegungen fällt zudem auf, dass Predigerin und Prediger nicht etwa zu eigenen, persönlichen Bildern finden, die sich aus der Begeisterung durch das Gleichnis speisen, sondern dass sie hinter dem modernen Gleichnis versteckt bleiben. Ihre eigene Haltung bleibt unsichtbar, ihre Persönlichkeit als Predigerin und Prediger ist nicht erkennbar, obwohl sie vorgeblich eigene Erfahrungen bzw. Eigengehörtes oder Eigengelesenes erzählen. Weiterhin erscheint die Pseudo-Authentizität problematisch. Während Gleichnisse fiktional sind und auch nicht vorspiegeln, echte Geschichten zu erzählen, zugleich jedoch ganz nahe am Erleben der Zuhörer sind, erzählen die modernen Gleichnisse vorgeblich echte Geschichten, die jedoch keiner Überprüfung standhalten und vom Erleben der Zuhörenden weit entfernt sind – oder wer hat schon einmal versucht, vom Glockenstuhl einer Kirche bis zum Turm eines Rathauses zu balancieren? Eine kreative Neudichtung eines Gleichnisses müsste also sorgfältig einerseits eigene Erfahrungen einbringen als auch nahe an der Erlebniswelt der Hörenden sein – und sprachlich mit äußerster Gewissenhaftigkeit gestaltet. Denn im direkten Vergleich entlarven sich die modernen Geschichten sowohl sprachlich als auch in ihrer eindimensionalen Botschaft als literarisch wesentlich schwächer als jedes Gleichnis. Auch dies ist das Problem einer Predigt über Gleichnisse, die selbstgeschriebene oder in der Fülle der Literatur gefundene Gleichnisse als Predigt einsetzt: Die literarische Qualität ist selten auf einer Ebene mit der biblischen Geschichte, so dass eine qualitative Schieflage entsteht. Das bedeutet jedoch nicht, dass Predigende gezwungen sind, selbst zu Künstlern zu werden. Es ist wunderbar, wenn Predigten kleine Kunstwerke sind. Notwendige Voraussetzung ist es nicht. Eine Predigt, die „die Offenheit der jeweiligen Gleichniserzählung“531 respektiert und zur Geltung bringt, kann schwerlich nur dann realisiert werden, wenn der Predigerin und dem Prediger selbst ein Predigt-Kunstwerk gelingt. Welcher Prediger und welche Predigerin kann sich tatsächlich mit der dichterischen Kunst eines Gleichnisses messen? In der Tat müssten Predigende verzweifeln532, wenn die Erschaffung eines eigenen Kunstwerks Voraussetzung für eine gelungene Predigt wäre – zumindest dann, wenn sie über eine realistische Selbsteinschätzung verfügen. Die berechtigte Forderung, sich an und mit Literatur, Film und bildender Kunst zu schulen, darf nicht bedeuten, dass aus jedem Pfarrer und jeder Pfarrerin ein Schriftsteller oder eine Regisseurin wird. Vielmehr kann aus essayistischer 531 Martin Dutzmann, a. a. O., 197. 532 „Durch die Poeten lerne ich, daß es meine Unfähigkeit ist und nicht die der Sprache.“ Helmut Siegel, Lernen von den Schriftstellern? Zum Verhältnis von Literatur und Homiletik, PTh 71(1982), 465.

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Perspektive nach dem gesucht werden, was die Predigerin und den Prediger am Gleichnis besticht. Gleichnisse haben ein punctum533, dass dies entdeckt wird ist ein Ziel der Gleichnisse. Das punctum im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat kann die Sichel sein, genauso aber auch der Schlaf und die Ernte oder das Zusammenwirken von Gott und Mensch. So gelingt es diesem Gleichnis, in wenigen Sätzen die Zuhörenden zu elektrisieren. Spannend und für Predigthörende als Belohnung identifizierbar sind Predigten mit einem punctum, die diesen bestechenden, faszinierenden Moment teilen. Das kann in klaren, einfachen Worten geschehen, in sorgfältig formulierten Gedanken. Kunstvoll muss das nicht sein, allerdings bestechend. Bestechend sind Predigten, wenn sie überraschende neue Lebensmöglichkeiten eröffnen und einen Bezug zwischen biblischer Botschaft und aktueller Lebenssituation zeigen. Eine essayistisch angelegte Predigt ist dabei non-direktiv, da sie nicht die Gefühle der Hörerinnen und Hörer „analysiert“ und „bearbeitet“, sondern eigene Beobachtungen und Gefühle wahrnimmt und diese mit den Hörerinnen und Hörern teilt, ohne sie zu zwingen, sie anzunehmen. Dies entspricht der berechtigten Forderung: „Im Prozeß der homiletischen Auslegung ist der Prediger genötigt, die distanzierte Haltung aufzugeben und die eigene Person und Biographie in seine Predigtarbeit einzubringen, so daß die Parabelpredigt mittelbar oder unmittelbar eine in besonderer Weise persönliche Predigt sein wird. Zugleich kann die Parabelpredigt, die der Bewegung der Gleichniserzählung folgt, ihre Hörer beteiligen, ohne sie zu vereinnahmen.“534 Eine eigene Kurzpredigt über das Gleichnis vom Schatz im Acker versucht dies. Die Auslegung ist insofern essayistisch angelegt, als sie eigene Beobachtungen schildert und diese den Hörern anbietet, ohne sie zu zwingen, dieselben Schlüsse zu ziehen. Angela Rinn Schatzsucher am Strand An der Leidenschaft erkenne ich das Gottesreich SWR2 – Wort zum Tag 19. 09. 2013535 Schatzsucher am Strand – Im Urlaub habe ich sie täglich beobachtet. Bewaffnet mit Metalldetektoren sind sie auf der Suche nach Münzen und Gold. „Glauben die im Ernst, dass 533 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt 1989. 534 Martin Dutzmann, a. a. O., 218. 535 http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2013-09-19. Zugriff 09. 01. 2014.

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sie was finden“ fragt mein Freund. „Zumindest sind sie mit Leidenschaft bei der Sache“. Wo Dein Schatz ist, da ist dein Herz. Und den Schatz, den du haben willst, den suchst du mit Leidenschaft, sonst ist es kein echter Schatz. Wenn es nötig ist werden dabei auch krumme Wege beschritten. Jesus erzählt von einem Mann, der einen vergrabenen Schatz in einem fremden Acker findet und daraufhin diesen Acker vom ahnungslosen Besitzer kauft. So ganz legal ist die Sache nicht. Merkwürdig nur: Jesus will mit diesem unmoralischen Gleichnis das Himmelreich erklären. Neurowissenschaften geben uns zum Verhalten des schatzfindenden Ackerbauern erhellende Erklärungen: Unser Überleben als homo sapiens ist davon abhängig, dass wir Partner und Nahrung erkennen und erreichen, auch wenn diese nicht direkt neben uns stehen – und das ist die Regel! Auf der Suche nach Essen und Lebensgefährten müssen Menschen immer einen Spagat zwischen Risiko und Sicherheit meistern. Sind die Partner und die Nahrung erreicht, dann erfolgt im Gehirn eine Dopaminausschüttung – und die verursacht Glücksgefühle. Die Schatzsucher am Strand sind auf der Suche nach dieser Dopaminausschüttung. Der schatzfindende Ackerbauer hat eine Dopaminausschüttung erlebt, als er den Schatz fand. Auch wenn wir selbst nicht mit dem Metalldetektor am Strand unterwegs sind: Wir können bestimmt alle nachvollziehen, was diese Menschen antreibt. Das bedeutet, dass jeder von uns eine Ahnung vom Himmelreich hat. Mag sein, wir suchen nach Schätzen anderer Art als die Leute am Strand. Leidenschaft ist eine sehr persönliche Angelegenheit, denn das Herz schlägt bei jedem etwas anders. Mag sein, die anderen schütteln den Kopf über das, wofür mein Herz schlägt. Doch: bloß keine moralischen Hemmungen, die hat Jesus auch nicht. Mit keinem Satz tadelt er den SchatzimAckerFinder. Leidenschaft ist hemmungslos. Das Himmelreich kennt keine Grenzen. Wenn ich herausfinde, wann mein Atem sich beschleunigt und die eigene Leidenschaft geweckt ist, bin ich nah dran am Gefühl des Himmelreichs. Und das ist doch schon was, ein Gefühl fürs Reich Gottes zu haben! Vielleicht bekomme ich ja Lust, nicht nur nach meinem Schatz, sondern auch nach diesem Reich und seinen Schätzen zu suchen. Ich glaube, dass Jesus die Geschichte deshalb erzählt hat, um mich neugierig zu machen. So dass ich mehr wissen will. Und mehr herausfinden will, über himmlische und irdische Schätze. Kann gut sein, dass auch das zu einer Dopaminausschüttung führt. Eine spannende Angelegenheit!

Eigene Beobachtungen sind der Ausgangspunkt der Predigt (1–3). Weitere Erfahrungen und eigene Überlegungen werden eingespielt (19–28). Überraschend für die Hörenden ist, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse als Interpretationshilfe für das Gleichnis genutzt werden (10–18; 33–34), dass die Predigt behauptet, dass alle Hörenden eine Ahnung vom bzw. ein Gefühl für den Himmel haben (20–21; 26–28) sowie der Hinweis darauf, dass das Gleichnis positiv auf ein nicht ganz legales, ja unmoralisches Handeln verweist (7–8). Essayistisch ist die Predigt insofern, als sie ihre Gedanken den Hörenden zuspielt, ohne sie auf eine Interpretationslinie zu zwingen. Die Informationen zur Dopaminausschüttung werden humorvoll geschildert (10–16), das aktiviert die Hörenden und lässt sie aufmerksam werden.

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Manche Gleichnisse haben durchaus eine humoristische oder ironische Note – etwa das Gleichnis vom Sauerteig, in dem eine Unmenge Mehl verarbeitet wird, oder die Beelzebulkontroverse, bei der ein Satan den anderen hinauswirft, oder das Gleichnis vom Richter, der Angst hat, dass ihm eine Witwe ein blaues Auge verpasst. Jesus – bzw. die Evangelisten – hatten offenbar Humor. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, die Wirkung von Humor bei Menschen besser zu verstehen. Barbara Wild vermutet, dass sich Humor beim Menschen wahrscheinlich im Rahmen der Fähigkeit entwickelt, sich in einer zunehmend komplexen und sich ständig ändernden Welt zu orientieren, denn Humor befähigt dazu, sich von dem Wunsch nach Perfektion zu verabschieden und sich stattdessen an eigener und fremder Unvollkommenheit zu erheitern. Es befähigt Menschen dazu, gemeinsam auch über eigene Fehler zu lachen, auch über die eigene Unfähigkeit, das Leben völlig im Griff zu haben. Dazu erheitert ein guter Witz emotional und intellektuell.536 Ein guter Witz aktiviert viele Areale im Gehirn, darunter zerebrale Strukturen, die auch an anderen komplexen kognitiven Fähigkeiten beteiligt sind,537 und das bei Menschen jeden Alters. „Dies legt nahe, dass im Alter vielleicht bei Witzen der ‚Groschen langsamer fällt‘, aber die Reaktionen auf gute Witze gleich bleiben.“538 „Humor als Ganzes ist… ‚alterungsresistent‘.“539 „Humor bezeichnet die Fähigkeit, sich selbst und andere mit Komik zu sehen, Komik und Inkongruenz zu schätzen, eine spielerische, gelassene Haltung einzunehmen, positive Seiten auch in ernsten Situationen zu sehen, Erheiterung bei sich und anderen hervorrufen und damit soziale Situationen regulieren zu können.“540 Deshalb passt Humor nicht nur an den Anfang der Predigt, sondern kann die ganze Predigt würzen, auch den Schluss. Wie schön, wenn die Hörer mit einem Lächeln und aktivierten Gehirnregionen aus dem Gottesdienst gehen oder – nach einem Wort zum Tag – erheitert in den Tag starten. Hier ein eigener unveröffentlichter Versuch, es ist der Predigtschluss einer Predigt über das vierfache Saatgut (Lk 8, 4–8): „Zu welcher Sorte gehören wir?“ fragt meine Freundin. – „Nun, bei uns ist es wohl auf guten Boden gefallen“, meine ich, „wir glauben doch an Jesus Christus.“ – „Sei dir mal nicht so sicher“, meint sie, „vielleicht gehörst du ja zu denen unter den Dornen, vielleicht hast du ja noch keine richtige Anfechtung erlebt! Wart’s mal ab, wenn die kommt! Vielleicht gehöre 536 Vgl. Barbara Wild, Humor und Gehirn, Neurobiologische Aspekte, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 1.2010, besonders 33–34. 537 „Studien belegen, dass eine Vielzahl von zerebralen Strukturen, die alle auch an anderen komplexen kognitiven Fähigkeiten beteiligt sind, bei der Wahrnehmung eines Witzes aktiviert werden.“ Barbara Wild, a. a. O., 34. 538 Barbara Wild, a. a. O., 34. 539 Barbara Wild, a. a. O., 34. 540 Barbara Wild, a. a. O., 31.

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ich ja zu denen auf dem Felsen, also, ich bin mir nicht so sicher, ob wir zu denen auf dem 5 guten Feld zählen.“ – „Weißt du“, sage ich, „wenn er so ist, der Sämann, unser Gott, dass er mit einem Herzen voller Liebe und mit vollen Händen in die Dornen wirft und auf den Fels und auf den Weg, wenn er die Hoffnung nicht aufgibt, dass auf dem Fels und unter Dornen doch etwas wächst, dann muss ich die Hoffnung auch nicht aufgeben. Dann kann es sein, dass selbst wenn ich zu den Körnern zähle, die auf den Weg fallen und zertreten werden und 10 von den Vögeln aufgepickt werden, dass dieser Vogel, der mich aufpickt, mich dann später gut verdaut in eine Furche fallen lässt. Und dann ist mein Korn doch auf gutem Boden gelandet und hat den Dünger noch dazu. Amen.

Der Anfrage der Freundin (1) wird zunächst mit einer Glaubensgewissheit geantwortet (1–2). Als diese wieder infrage gestellt wird (2–6) erfolgt eine humorvolle Antwort. Die überraschende Wendung (der Vogel lässt das verdaute Korn in die Furche fallen 11–12) ist witzig. Durch die kurze Weitererzählung des Gleichnisses, wird die Aufmerksamkeit der Hörenden geweckt: Wie kann es Hoffnung geben, wenn das Korn von einem Vogel aufgepickt wird? Die witzige Lösung, die zudem aus der eigentlich völlig verfahrenen Situation eine Bonussituation entstehen lässt (das Korn hat den Dünger dazu geliefert bekommen 13), aktiviert noch einmal die Aufmerksamkeit der Hörenden, weil Witze verschiedene Areale im Gehirn aktivieren. Zugleich wird mit dem Witz ein Reframing erzielt. Die Hörenden haben ein Surplus an Erfahrung, weil sie hörend erfahren, dass es möglich ist, selbst in einer verzweifelten Situation die Hoffnung nicht zu verlieren und sich die Verzweiflung in eine besondere Chance umwandeln kann. Damit entspricht dieser Schluss der Haltung des Bauern, der voller Hoffnung sein Saatgut verschleudert. Die Qualität dieses humorvollen Predigtschlusses besteht auch darin, dass der Witz im Rahmen des Gleichnisses erzählt und nicht als textfremder Witz der Predigt voran gestellt wird. Es wird also kein „besseres“ oder „modernes“ Gleichnis erzählt. Die Predigt bleibt im Bildfeld der Gleichniserzählung vom vierfachen Saatgut. Für Humor ist eine präzise Wahrnehmung unabdingbar, etwa die Wahrnehmung einer komischen Situation oder einer ungewöhnlichen Verhaltensweise. Solche ungewöhnlichen Verhaltensweisen schildern Gleichnisse, die selbst präzise wahrnehmen und schildern. „Wahrnehmung“ ist daher ein homiletischer Schlüsselbegriff für die Kurze Form der Gleichnispredigt, aber auch für die Predigt über andere biblische Texte.541 Das gilt auch für die lange Form, allerdings erfordert die Kurze Form besondere sprachliche und gestalterische Sorgfalt. 541 Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann halten fest: „In der Zuspitzung einer Frage nach dem Ich des Menschen, die nicht nur seine psychologischen und kognitiven, sondern auch seine geistliche Dimension ernst nimmt, soll gefragt werden: Wie können wir predigen und wie kann ich predigen? Dies ist nach unserer Einsicht nicht zuerst eine Frage nach einzelnen Fertigkeiten, sondern die Frage nach einer grundlegenden, alle einzelnen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten übergreifenden Haltung, die sich auch in der Leiblichkeit aus-

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Die „Theorie der Predigt von Gleichniserzählungen Jesu zielt nun nicht auf das Postulat einer solchen genuinen Gattung, sondern sie versucht im Gegenteil, die exemplarische Bedeutung der Parabelpredigt für die christliche Predigt überhaupt herauszuarbeiten.“542 In der Tat zeigen sich in der besonderen Herausforderung der Predigt über Gleichnisse Hinweise auch für die Predigt anderer Bibeltexte. „Wenn das erste Ziel jeder Predigt ist, den Dialog mit Gott aufzunehmen, ist eine Predigt ohne Bilder und Gleichnisse nicht möglich.“543 Schließlich ist es nicht möglich, von Gott „direkt“ zu sprechen. So entspricht die bildhafte Rede der Gleichnisse theologischen Anforderungen. Gleichnissen gelingt das in wenigen Sätzen, und sie sind schon deshalb Vorbild für die Kurze Form der Predigt. Wesentlich für die Kurze Form der Predigt, die sich am Beispiel der Gleichnisse orientiert, ist es, im Dialog mit den Hörenden zu bleiben, ihre Fragen mit zu bedenken bzw. in die Predigt zu integrieren, die Überraschung zu wagen, die wiederum Erstaunen und Fragen provoziert und die Neugier zu wecken, mehr über das Leben im Horizont göttlicher Liebe zu erfahren. Eine Predigt, die davon erzählt, was sie selbst an einem solchen Leben besticht, sowohl in der Anziehung als auch in der Verstörung, bietet die besten Voraussetzungen dafür – besonders wenn es ihr gelingt, sich zu konzentrieren und die Beschränkung zu wagen und zu gestalten. Die Gleichnisse lehren, dass die Kurze Form hierfür nicht die Ausnahme sein muss, sondern die Regel sein kann.

prägt… Damit ist keineswegs allein ‚Innerlichkeit‘ gemeint, sondern zuerst Wahrnehmungsoffenheit der ganzen Lebensrealität gegenüber“ Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, 201. 542 Martin Dutzmann, a. a. O., 219. 543 Gerd Theißen, a. a. O., 356.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

5.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

5.1.

Einführung

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Aus dem komplexen Gefüge des Predigtgeschehens habe ich Text, Mensch und Bibel gewählt. Ich habe mich mit der Person der Predigenden und mit neurowissenschaftlichen Perspektiven und mit kurzen literarischen Formen beschäftigt. Ausführlich bin ich auf die Kurze biblische Form der Gleichnisse eingegangen und habe homiletische Konsequenzen für die Kurze Form der Gleichnispredigt gezogen. Bevor ich nun die wenigen Aussagen der praktischen Theologie zur Andacht bzw. Kurzen Form darstelle und die homiletische Debatte der letzten Jahrzehnte im Blick auf einen Ertrag für die Kurze Form der Predigt würdige, möchte ich versuchen, Gründe dafür zu finden, warum die Kurze Form in der homiletischen Diskussion übersehen wird. 1. Ein Grund könnte sein, dass nicht gesehen wird, dass die Kurze Form eine gesonderte Homiletik erfordert. Überlegungen zur Langform werden als ausreichend angesehen. 2. Ein weiterer Grund könnte sein, dass die Langform als „eigentliche“ Form gesehen wird, die Kurzform dagegen als zweitrangig. 3. Ein dritter Grund könnte sein, dass die Kurzform nur als Reduktion gesehen und ihr die Legitimität abgesprochen wird. Die Kurze Form unterscheidet sich in ihren Anforderungen von der Langen Form. Sie ist nicht lediglich ein „abstract“ der Langform, sie kann auch nicht dadurch zufriedenstellend gestaltet werden, dass eine Langform gekürzt wird – das ist nur möglich, wenn die Langform selbst als Kombination von ursprünglich selbständigen Kurzformen gestaltet wurde. Die Kurzform muss ihren Raum gestalten, also in höchstens 5 Minuten Sprechzeit einen Spannungsbogen aufbauen und ausarbeiten. Die Langform dagegen muss den Spannungsbogen über mindestens 15 Minuten halten. Schon die Dauer zeigt an, welche unterschiedlichen Anforderungen an die Kurze und die Lange Form gestellt werden. Die Langform ist tatsächlich in Sonntagsgottesdiensten nach wie vor die Regel. In Kasualgottesdiensten, Schulgottesdiensten und Familiengottesdiensten ist die Regel jedoch die Kurze Form. Dazu kommen Fernsehgottesdienste, bei denen die Predigt häufig als Kombination von Kurzformen gestaltet wird ( jeden Sonntag wird im ZDF ein Fernsehgottesdienst übertragen) und Rundfunkansprachen. Die Kurze Form ist also schon aufgrund ihres inzwischen häufigen Vorkommens keineswegs zweitrangig, sondern eine Regelanforderung.

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Zugänge

Manfred Josuttis hat Ende des letzten Jahrhunderts der Kurzen Form faktisch das Existenzrecht abgesprochen, indem er sie als inhaltsleer, hybrid und gotteslästerlich disqualifiziert.544 Lediglich in der Gestaltung des erfüllten Augenblicks sei der Kurzen Form eine Chance einzuräumen, um der Gefahr der Banalisierung zu wehren. Gegen diese pauschale Abwertung sprechen schon Beispiele von Kurzen Formen der Predigt, die gehaltvoll und theologisch qualifiziert verkündigen. Gewiss braucht es immer wieder Zeit, sich dem Heiligen anzunähern und von Gott zu sprechen, wie es Josuttis fordert. Doch erhebt die Kurze Form keineswegs den Anspruch, die einzige Form zu sein. Josuttis deutet in seiner Erwähnung des Kairos selbst an, dass es überraschende Momente gibt, die den Alltag unterbrechen und Gotteserkenntnis vermitteln können. Zuletzt muss auch Josuttis anerkennen, dass in der Bibel selbst Kurze Formen überliefert sind. Wenn ich nun die Homiletischen Perspektiven betrachte, dann nicht, um lediglich das Defizit der fehlenden Überlegungen zur Kurzen Form darzustellen, sondern um die Erträge zu würdigen, die die jeweiligen Perspektiven für die Kurze Form der Predigt bieten. Der Überblick über die homiletische Diskussion bestätigt, dass es noch keine Theologie der Kurzen Form gibt, jedoch viele sinnvolle und weiterführende Hinweise zur Gestaltung. Der Ertrag für die Kurze Form wird nach jeder Darstellung der Perspektive benannt. Der Blick auf die homiletische Literatur der zweiten Hälfte des 20. und des Beginns des 21. Jahrhunderts im Blick auf die Kurze Form der Predigt ist ernüchternd. „Jeder Pfarrer tut’s – aber keiner weiß, was er tut.“545 Was 1982 von Friedemann Merkel in einem 1985 veröffentlichten Vortrag festgestellt wurde, hat sich nicht wesentlich geändert. In den großen homiletischen Entwürfen, aber auch in praktisch orientierten Predigtlehren, fristet die Kurze Form ein Nischendasein oder wird schlicht ignoriert. So wird nicht wahrgenommen, dass die Kasualansprache heute oft als Kurze Form konzipiert werden muss. Außer einigen wenigen, meist pragmatischen, Hinweisen, ist die Kurze Form der Predigt kein Gegenstand der ausführlichen homiletischen Diskussion. Selbst in der Medienhomiletik geht es um praktische Hilfen für die Kurze Form, nicht jedoch um eine grundsätzliche Reflexion. Homiletische Konzeptionen gehen in der Regel nicht auf die Kurze Form ein, auch dann, wenn sich dies vom Ansatz her eigentlich nahelegen würde. Ich nenne beispielsweise: 544 Manfred Josuttis, Unterhaltsam von Gott reden? Gesetz und Evangelium in der Rundfunkverkündigung. In: Manfred Josuttis, Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit, Gütersloh 1995, 86. 545 Friedemann Merkel, Andacht – eine vernachlässigte „Kleine Form“. In: Pth 74 (1985), 272.

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Ernst Lange konstatiert bereits 1967 „eine verblüffend hohe Teilnahme an den religiösen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen… ohne daß die Kirche dem, außer durch die zögernde Einrichtung von ‚Sonderpfarrämtern‘ irgendwie angemessen Rechnung trüge.“546 Allerdings bietet auch Lange keine homiletische Reflexion der Kurzen Form, obwohl er die Relevanz der Kasualien deutlich wahrnimmt.547 Zu seiner Zeit war die Verbindung Kurze Form – Kasualien offenbar noch nicht relevant. Peter Bukowski548, Leiter des reformierten Predigerseminars in Wuppertal, gibt viele detaillierte Hinweise aus der Praxis, geht aber auf die Kurze Form nicht ein. Dietrich Rössler549 geht in seinem Grundriss ausführlich auf die Kasualpredigt ein, ohne in diesem Zusammenhang jedoch das Thema der Kürze zu thematisieren. In den „Grundzügen der Homiletik“ beschreibt er zwar die Bedeutung der Rhetorik, auf die Kurze Form geht er jedoch auch hier nicht ein. Ulrich Nembach550 stellt das Teil-Geben und das Teil-Nehmen an Freud und Leid der Menschen in den Mittelpunkt seiner Homiletik. In diesem Konzept geht er auf die Kurze Form der Predigt nicht ein. Ulrich Nembach gebührt das Verdienst, schon früh das Internet als Plattform erkannt zu haben. Seine „Göttinger Predigten im Internet“ werden im Jahr 9 Millionen Mal angeklickt. Paul Oskamp und Rudolf Geel551 bieten eine praktische Predigthilfe mit vielen Hinweisen, gehen aber nicht auf die Kurze Form ein. Die Arbeitshilfe denkt material: Wie kann Literatur (Anekdote, Legende) in die Predigt eingebaut werden. Gerhard Marcel Martin552 geht in einem auch auf einer Rundfunktagung der SWR-Autoren als Vortrag gehaltenen Beitrag mit keinem Wort auf die Länge der Beiträge bzw. die Bedeutung der Länge bzw. Kürze eines Beitrags ein, er beschränkt sich auf ein: „Dass das Medium Rundfunk von vornherein die Frage nach den anderen Formen mit sich gebracht hat und die Engführung in puncto Verkündigung aufgesprengt hat, kann die Geschichte kirchlicher Rundfunksendungen von früh an belegen.“553

546 Ernst Lange, Predigen als Beruf, München 1982, 9–10. 547 „Immer noch gilt… im Verlauf weniger Jahres begegnet in einem großstädtischen Bezirk wie Berlin-Spandau jeder der vierzig Pfarrer nahezu jedem der Spandauer Bürger mehrfach bei Taufen, Konfirmationen, Trauungen und vor allem bei Beerdigungen, weil die Sitte, bei solchen Anlässen Nachbarschaft oder berufliche Beziehung auszudrücken, nach wie vor ziemlich zwingend ist. Und entgegen einer in der Kirche umgehenden Zwecklüge sind die Menschen in diesen Schnittpunkten ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Existenz außerordentlich engagiert und keineswegs hörunwillig. Der Zeitgenosse weiß sehr wohl, wovon er redet, wenn er die Predigt unverständlich, pathetisch, irrelevant, langweilig nennt, und warum er zu der Kirche, die sich selbst und die er als die predigende Kirche versteht, Distanz hält.“ Ernst Lange, a. a. O., 15. 548 Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen, Neukirchen-Vluyn 1990. 549 Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994. 550 Ulrich Nembach, Predigen heute – ein Handbuch, Stuttgart 1996. 551 Paul Oskamp und Rudolf Geel, Gut predigen. Ein Grundkurs, Gütersloh 2001. 552 Gerhard Marcel Martin, „… und wo bleibt das Theologische?“ In: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 51–60. 553 Gerhard Marcel Martin, a. a. O., 58.

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Auch Jörg Neijenhuis554 geht nicht auf das Thema Kurzpredigt bzw. die Kurze Form ein – was doch nahegelegen hätte! Bei öffentlichen Ansprachen ist oft die Kurze Form gefordert. Ebenso interessiert Jürgen Ziemer555 das Thema der Kurzen Form nicht, obgleich er auf Kasualansprachen rekurriert, die heute oft in der Kurzen Form gestaltet werden (müssen). Ziemer erwähnt auch Rundfunkansprachen nicht. Achim Härtner und Holger Eschmann556 bieten viele praktische Hinweise für das Predigthandwerk bis hin zur Wirkung der Stimme und zu Gestik und Mimik. Zur Kurzen Form äußern sie sich nicht, Bezüge zur Literaturwissenschaft werden nicht erwähnt. Härtner und Eschmann weisen darauf hin, dass man Anekdoten in Geschichten verwenden kann, reflektieren jedoch nicht über die Anekdote an sich, etwa über die Anekdote als kurze narrative Form. Kristian Fechtner557 geht ebenso wenig auf die Herausforderung durch die in Großstädten terminierten Bestattungszeiten ein wie auf die geforderte Kürze von Kasualansprachen, auch bei anderen Kasualien wie Taufen und Trauungen. Walther Lührs558 geht nicht auf die Kurze Form ein, obwohl diese Form tatsächlich eine Gestaltungsaufgabe bedeutet. Seine Konzeption bleibt ganz theoretisch-abstrakt verhaftet. Seiner Ansicht nach wird ein Gottesdienst neu durch die Bereitschaft, dem Wirken des Heiligen Geistes Raum zu geben, nicht jedoch durch neue Sprache oder neue Musik oder andere neue Formen. Michael Meyer-Blanck und Birgit Weyel559 gehen in ihren Ausführungen zu Kasualien – Lebensbegleitung und Erneuerung nicht auf die Kurze Form ein. Selbst Kenner der Praxis übersehen die Kurze Form als besondere Herausforderung: Johanna Haberer560 bietet viele praktische Tipps, entwirft jedoch keine Theologie oder Konzeption der Kurzen Form.

Die Kurze Form der Predigt hat eine zweitausendjährige christliche Geschichte in der Form der Andacht, in der Rundfunkverkündigung eine immerhin fast hundertjährige. In der Praxis ist die Kurze Form tägliche Aufgabe von Predigerinnen und Predigern bei Kasualien und Ansprachen im öffentlichen Raum (Grußworte, Jubiläen, Kolumnen, Stellungnahmen). Auf diesem Hintergrund überrascht der homiletische Befund. Die Kurze Form der Predigt scheint ein blinder Fleck in der Homiletik zu sein. Friedemann Merkel ist einer der wenigen 554 Jörg Neijenhuis, Die Predigt als Zeichen in Öffentlichkeit und Gesellschaft. In: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 189–210. 555 Jürgen Ziemer, Predigt über den Zaun. In: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 225–239. 556 Achim Härtner und Holger Eschmann, Predigen lernen, Stuttgart 2001. 557 Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten, Gütersloh ²2011. 558 Walther Lührs, Die Erneuerung des Gottesdienstes – Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe. In: Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Michael Meyer-Blanck, Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen ³2003, 940–954. 559 Michael Meyer-Blanck, Birgit Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, Göttingen 2008. 560 Johanna Haberer, Gottes Korrespondenten, Stuttgart 2004.

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geblieben, die sich mit der Kurzen Form homiletisch auseinandersetzen, und erkennt, dass die Kurze Form mehr ist als ein kleineres Modell des Predigtgottesdienstes und einen eigenen Stil hat. Er betont, dass die Andacht einer gesonderten Beachtung bedarf und nicht einfach aus Homiletik, Liturgik oder Religionspsychologie abgeleitet werden darf, so sehr auch Beziehungen zu diesen bestehen. Wolfgang Ratzmann561 stellt fest, dass sich in den Lehrbüchern der Praktischen Theologie nur wenige Hinweise auf die Andacht finden.562 Ratzmann skizziert die unterschiedlichen spirituellen Richtungen innerhalb der evangelischen Kirche, die unterschiedliche Andachtsformen hervorbringen. Er kritisiert eine Individualisierung, die das eigene Ich als letzte Instanz begreift und sich in Subjektivität erschöpft. Ratzmann hat das praktische Ziel, interessierten Theologen und Laien das Wesen der Andacht zu erläutern, zugleich will er Gestaltungshinweise geben. Er bietet eine ausführliche Begriffsklärung und einen Überblick über die Geschichte der Andacht. Der Fokus von Ratzmann liegt auf der Gesamtgestaltung einer Andacht, ihm ist die spirituelle Dimension wichtig, der passende Zusammenklang von Wort, Musik und Zeichenhandlung. Er sieht die Chance emotionaler Bewegung von Menschen besonders durch Verwendung von Symbolen. Ratzmann hat die Andacht als Gesamtgeschehen im Blick, definiert sie als Unterbrechung des Alltags und grenzt sie von der Langen Form der Predigt ab: „Im Unterschied zum Hauptgottesdienst geht es in der Andacht nur um ein ‚An-Denken‘, um eine kurze, unabgeschlossene erste Wahrnehmung eines Textes. Dessen Botschaft soll gedanklich mitgenommen werden können in den Tag.“563 Er betont die Bedeutung der Konzentration: „Theologisch mag es richtig sein, wenn man die Bedeutung des Gemeindegottesdienstes mit Wort und Sakrament höher einstuft. Betrachtet man die verschiedenen spirituellen Formen anthropologisch, unter der Frage, was denn einem Menschen hilft, sich im Glauben zu vergewissern, dann kann es manchmal sein, daß die Konzentration einer Andacht mehr bewirkt als der Reichtum der liturgischen Fülle.“564 Ratzmann wünscht sich Kreativität, die man trainieren könne, um zu der zündenden Idee für eine Andacht zu kommen. Als Ausgangspunkt weist er auf die Losungen hin, alternativ könne die Situation oder die persönliche Betroffenheit Ausgangspunkt sein.

561 Vgl. Wolfgang Ratzmann, Kleiner Gottesdienst im Alltag. Beiträge zur Liturgie und Spiritualität, Leipzig 1999. 562 Vgl. Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 18. Hier auch eine Literaturliste mit den spärlichen Hinweisen. 563 Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 130. 564 Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 112.

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Unter der Überschrift „Formen von Andachten in Gruppen“ gibt er abschließend konkrete Hinweise zur Gestaltung von Andachten und unterscheidet verschiedene Andachtstypen. Einer dieser Typen ist die Textauslegung, die Ratzmann als die traditionelle Art und Weise sieht, in der geistliche Besinnung geschehen kann. Als Beispiel führt Ratzmann eine Andacht von Heinz Wagner an. Jedoch ist dieses Beispiel nicht ohne Tücken, Ratzmann selbst findet, dass der erste Satz „vielleicht zunächst etwas banal“565 klingt, die Durchführung „recht unvermittelt und allgemein“566 erfolgt. Was den Schluss betrifft bekennt er: „Ich halte den Schluss dieser Rede nicht für gelungen… Läßt sich das nicht konkreter sagen“567. Offenbar ist es nicht einfach, gelungene Beispiele für die Kurze Form zu finden. Ratzmann beurteilt abschließend: „Wagners Rede ist ein Beispiel von vielen. Manches scheint mir in ihr gut gelungen zu sein, einiges aber nicht. Vielleicht ermutigt es aber andere, wenn auch die biblischen Auslegungen eines außerordentlich verdienstvollen Fachmannes nicht perfekt wirken, sondern Mängel zeigen.“568 Auf der – nur teilweise positiven – Folie der Andacht von Wagner erarbeitet Ratzmann folgende Regeln: Aussagen sollen nur angerissen, nicht angedacht werden, nicht abschließend und umfangreich ausgeführt sein. Die Andacht sollte auf ein Thema, einen Begriff oder ein Bild konzentriert sein. Die Andacht sollte kein exegetischer Vortrag sein. Der Bibeltext wird kurz beleuchtet und auf heutige Fragen bezogen, die die Hörer innerlich abholen. Die biblische Auslegung soll konkret und anschaulich sein, wenn irgend möglich erzählerischanschaulich. Es empfiehlt sich, die Rede mit einem Satz zu eröffnen, der von vornherein das Interesse des Hörers weckt. Hier betont Ratzmann den Moment der Überraschung. Gedanken sollten am Ende nicht wiederholt werden. In der Vorbereitung sollten Text, Situation, Ich und Gemeinde bedacht werden.569 Ratzmann konzentriert sich auf praktische Tipps zur Anfertigung einer Andacht. Von der Andacht mit Textauslegung unterscheidet er die Thematische Andacht. Hier bezieht er sich auf die Ratschläge von Autoren in der Rundfunkarbeit. In diesem Abschnitt wird eine Rundfunkpredigt angeführt, die jedoch ebenfalls Ratzmann selbst nicht überzeugt. Im Blick auf die Thematische Andacht findet er zu folgenden Regeln: Die Themen sollten die Zuhörer interessieren, die Rede prägnant und hörergerecht mit Beispielen angereichert sein. Sie soll geistliche Rede sein. Zeiten assoziativen Suchens, eventuell auch in einer Gruppe, unterstützen die Vorbereitung. 565 566 567 568 569

Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 141. Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 143. Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 143. Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 143. Vgl. Wolfgang Ratzmann, a. a. O., 144–146.

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Dabei stellt er zutreffend fest: „Geht man von der Häufigkeit und der Vielfältigkeit des Vorkommens in der kirchlichen Praxis aus, sollte man annehmen, daß eine Theorie der Andacht entsprechend vielfältig und der praktischen Aufgabe angemessen zu finden sei. Dies ist aber ein Irrtum. Es gibt heute keine Theorie der Andacht, die theologische Reflexion des Gegenstandes steht in keinem Verhältnis zu der offenkundig großen Bedeutung im Leben der Gemeinde.“570 Ertrag: Offenbar ist es nicht so einfach, gelungene Bespiele von Andachten zu finden. Wichtig erscheint mir der Moment der Überraschung und der Unterbrechung, gerade das Unabgeschlossene der Andacht ist ihre große Chance. Die Überlegungen zur Andacht machen Mut, ein Thema nur anzureißen und sich von dem überzogenen Anspruch zu verabschieden, Themen umfassend darstellen zu müssen – das funktioniert auch nicht in der Langform der Predigt. Die Rezeptionsästhetik betont die Chance der Unabgeschlossenheit von Texten durch Leerstellen, die eine aktive Beteiligung der Lesenden herausfordern. Henning Luther hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Fragmentarische menschlich ist571 und eine breite Debatte dazu angestoßen.572 Die Kurze Form repräsentiert in ihrer Unabgeschlossenheit das Fragmentarische menschlicher Existenz. Sie kann schon in ihrer Form niemals Vollständigkeit vorspiegeln. Ihre Grenze ist ihre Chance, denn gerade so lädt sie zum aktiven Hören ein. Die Unabgeschlossenheit kann von einem Perfektionswahn entlasten. Zugleich macht sie aufmerksam für die Schönheit des Fragments und die Gefahr von Bildern, die Vollkommenheit suggerieren. Menschliche Existenz ist immer offen und unabgeschlossen, das spiegelt die Offenheit der Andacht wider. Die Aktualität der Andacht, ihr Bewusstsein für die konkrete gesellschaftspolitische Situation, auch ihre Offenheit, verortet sie bei den Menschen. Die Konzentration auf ein Thema oder einen Gedanken führt zur Prägnanz, jedenfalls dann, wenn ein unerwarteter Gedanke gefunden wird. Ihre spirituelle Dimension öffnet sie für die Wirklichkeit Gottes. Obwohl die Ausführungen von Ratzmann und Merkel die Ausnahme sind und sich die große homiletische Debatte nicht zur Kurzen Form der Predigt äußert, bietet der Blick auf die homiletische Diskussion in der zweiten Hälfte des 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert doch Perspektiven für die Kurze Form der Predigt. Diese Perspektiven begründen und beleuchten aus ihrer Sicht homile570 Friedemann Merkel, a. a. O., 272. 571 Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. In: WzM 43 (1991), 262– 273. 572 Diese Debatte dokumentiert Kristian Fechtner u. a. (Hg.), Henning Luther. Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne., Stuttgart 2014.

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Zugänge

tische Praxis, was für die Kurze Form der Predigt fruchtbar gemacht werden kann.

5.2.

Perspektive der Krise

Die Dialektische Theologie reagiert auf die Krise der Weltkriege und der sich grundlegend wandelnden Gesellschaft und mahnt zur Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes im umstürzenden Weltgeschehen. Wenn Welten zusammenbrechen, droht auch die Sprache verloren zu gehen, zumal sich die Predigt im Gefolge der Dialektischen Theologie in der prekären Situation bewegt, Worte zu finden, die sich eigentlich nicht finden lassen, also von Gott zu sprechen, obwohl dies gar nicht möglich ist. In dieser Lage orientiert sich Rudolf Bohren an der Literatur und entwirft seine Homiletik in ihrem Kontext: „Diese Homiletik wird im Kontext moderner Literatur geschrieben“573. Der Essay ist ihm dabei in seiner Unabgeschlossenheit die angemessene Form der Predigtlehre.574 Die Dichtung bietet der Predigt ihre Sprache an und erweitert ihren Horizont. Als zeitgenössische Literatur hat sie sich ja ebenfalls in und mit der Krise auseinandersetzen und beweisen müssen, dass sie sich in der Krise nicht in eine ästhetisierende Bedeutungslosigkeit entzieht, sondern Worte findet, die standhalten können. Dichtung ist dabei mehr als ein Hilfsmittel für die Predigt, sie bietet einen Ausweg aus einer verfahrenen Lage, in der die Predigt eine Sprache verloren hat, die die Menschen verstehen und hilft der Predigtsprache, den Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit und das Schweigen der Welt aufzunehmen,575 ohne sich an Regeln der Welt zu verlieren.576 Predigt und Dichtung schöpfen aus dem Material der Sprache. Norm der Predigt577 wird die Dichtung dabei nicht sein, sie bleibt an die Bibel gewiesen:578 Offenbar ist die Philosophie Roland Barthes später für Bohren mehr als Kontext, sondern Inspiration, die ihn schon in den 1970er Jahren eine Perspektive der Performanz entdecken lässt. Jantine Nierop weist darauf hin, dass sich Bohren Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 41980, 59. Rudolf Bohren, a. a. O., 54. Vgl. Rudolf Bohren, a. a. O., 60. „Das Evangelium wird als Ware vermarktet, nachdem man das theologische und exegetische Gewissen zum Schweigen gebracht hat. Eine Homiletik, die empirisch einsetzt, wird den Geist der Empirie vermitteln: den landesüblichen Geist eines religiösen Merkantilismus. Sie paßt zu einer Kirche, die auf Kirchentagen den ‚Markt der Möglichkeiten‘ eröffnet“, Rudolf Bohren, a. a. O., 555. 577 „Würde die Dichtung zur Norm des Sagens, würde der Umgang mit der Dichtung der freien Rede Fesseln anlegen“, Rudolf Bohren, a. a. O., 60. 578 „Freilich bin ich als Prediger nicht an die Dichtung gewiesen, sondern an die Schrift. Dichtung wird in diesem Fall nur Kontext sein, mehr nicht.“, Rudolf Bohren, a. a. O., 59.

573 574 575 576

Perspektiven der homiletischen Diskussion

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von der Lektüretheorie Roland Barthes beeinflussen lässt.579 In der Übertragung von Barthes’ Idee eines verführerischen Spiels zwischen Text und Leser, wünscht sich Bohren Predigten, die einen Raum, ja Körper der Wollust oder der Seligkeit eröffnen. Erotische Spannung entsteht in der Unterbrechung, Sätze können dann erotisch sein und einen Raum der Wollust erschaffen. „Wer eine Predigt schreibt, schafft, falls ihm das gelingt, einen Raum der Wollust, oder wenn Sie lieber wollen, einen Raum der Seligkeit. Der Raum der Wollust ist ein Spielraum in Christus.580 Einen anderen Umgang mit den Krisen seiner Zeit wählt Ernst Lange. In einer Krise zeigt und beweist sich, was wirklich wichtig ist und Bestand hat, und so ist Relevanz für Ernst Lange ein entscheidendes Kriterium. Überlieferte Traditionen garantieren diese Relevanz nicht, da es verschiedene Welt- und Glaubensdeutungen gibt und die Menschen die Wahl haben, eigenständig festzuhalten, was sie tatsächlich betrifft. Lange stellt fest, dass die Hörenden in der Predigt einen eindeutigen und klaren Bezug zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit entdecken müssen, damit die Predigt für sie wichtig werden kann.581 Frühzeitig erkennt er, was im zu Ende gehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert im Zuge der Globalisierung Trend sein wird582 und zugleich eine Herausforderung an die Predigt und die Glaubwürdigkeit der Predigenden: Eine Cross-over-Religiosität, die nach individuellem Geschmack auswählt. Menschen wählen die Religion, die sich in ihrer Lebenswirklichkeit bewährt.583 In der Situation der Krise richtet Ernst Lange den Blick auf die Hörenden und stellt die Kommunikation mit ihnen und ihrer Lebenswirklichkeit in den Fokus. Diese Schwerpunktsetzung eröffnet zugleich das interdisziplinäre Gespräch mit den Humanwissenschaften. Ertrag: Die Perspektive der Krise regt dazu an, gesellschaftliche Krisen aufmerksam wahrzunehmen und sie als Herausforderung an die Homiletik zu begreifen. Krisen erfordern qualifizierte Antworten, deren Relevanz sich im Leben der Menschen erweisen muss. Was ist wirklich relevant und bedeutsam? Diese Perspektive zwingt zur Nagelprobe. Sie mahnt, Theologie ernst zu nehmen und erinnert daran, dass es eine heilsame Unterscheidung zwischen Gott und Mensch gibt. Das Evangelium muss immer wieder neu erzählt und zugesprochen werden, es ist kein Besitz, es ist unverfügbar. Die Perspektive der Krise motiviert dazu, die 579 Jantine Nierop, Die Gestalt der Predigt im Kraftfeld des Geistes. Eine Studie zu Form und Sprache der Predigt nach Rudolf Bohrens Predigtlehre, Zürich/Berlin 2008, 203–205. 580 Rudolf Bohren (Martin Nicol Hg.), Auslegung und Redekunst, Waltrop 2005, 102. 581 Vgl. Ernst Lange, a. a. O., 65–66. 582 Vgl. dazu auch: Gerhard Altenburg, Kirche – Institution im Übergang. Eine Spurensuche nach dem Kirchenverständnis Ernst Langes, Berlin 2013. 583 Vgl. Ernst Lange, a. a. O., 11.

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Predigtsprache an der Sprache der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu schulen. Deren Weltsicht sollte aufmerksam wahrgenommen werden, um die Predigt im literarischen Diskurs zu verorten. Der Essay wird dank seines fragmentarischen Charakters als Paradigma entdeckt. Für die Kurze Form der Predigt erhebt sich der Anspruch, theologisch gehaltvoll zu sein und sich nicht in Banalitäten oder Alltäglichkeiten zu erschöpfen. Sorgfältig ist zu überprüfen, welche Aussagen über Gott getroffen werden: Wird Gott für eigene Zwecke vereinnahmt oder respektieren die Predigenden, dass sie letztlich nicht über ihn sprechen können? Dies gilt es auch in der Kurzen Form aus- und durchzuhalten. Die Perspektive der Krise weist auf die Spannung hin, die in der Unterbrechung entsteht und ermutigt dazu, die Lust an der Sprache zu entdecken. Deshalb erweist es sich als sinnvoll, kurze Formen von Literatur zu lesen und zu beobachten, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit der Herausforderung umgehen, die Kurze Form zu gestalten. Kurze literarische Formen können als Paradigma auch für die Predigt, nicht nur für die Predigtlehre fruchtbar sein. Im Prozess des Predigtschreibens sollten die Hörenden und ihre Situation vor Augen sein. Was ist für sie wichtig? Was ist die gesellschaftliche Realität? Die Predigenden sollten überlegen, welche Botschaft die Hörenden aufrichten und ansprechen könnte. Die Entlastung davon, perfekt sein zu müssen, die Erkenntnis, dass menschliches Leben Fragment ist und bleibt, verhilft dazu, sich selbst und die Bruchstücke des eigenen Lebens anzunehmen. Predigende beziehen auch politisch Stellung und mahnen im Sinne der Bibel Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung an.

5.3.

Perspektive der Vermittlung

Während die Perspektive der Krise die Unterscheidung von Gott und Mensch betont, hat die Perspektive der Vermittlung das menschliche Subjekt im Blick. Dieser Perspektive geht es nicht darum, dogmatische Grundentscheidungen und die Gesamtheit biblischer Tradition homiletisch zu verteidigen. Die Perspektive der Vermittlung möchte, dass die Botschaft der biblischen Erzähltradition beim menschlichen Subjekt Eingang finden kann, dass Menschen dazu Zugang finden können. In dieser Perspektive wird versucht, Beziehungen aufzuzeigen, auch zwischen theologischen Konzeptionen, die eigentlich gegeneinander profiliert worden sind. Gegensätzlichkeit wird aufgelöst, weil es nicht zuerst darum geht, eine theologische Haltung zu verteidigen, sondern darum, die Hörenden zu erreichen.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

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Wilhelm Gräb584 stellt in diesem Horizont Lösungsperspektiven der Problemanzeige „Krise des dogmatischen Predigtbegriffs“585 gegenüber. Diese Krise ist seiner Ansicht nach dadurch verursacht, dass sich Praktische Theologie der Transformationsleistung entzogen hat, Dogmatik als ein Stück der Praktischen Theologie aufzunehmen. Dieser Transformationsleistung unterzieht sich Gräb. Seine Lösungsperspektiven denken sehr unterschiedliche Positionen, nämlich Karl Barth, Emanuel Hirsch und Friedrich Schleiermacher, zusammen, deren gemeinsame Grundintention er in der Aufforderung zur „Predigt als Handlung“586 erkennt. Bezeichnend ist, dass Gräb von den Predigenden einen „Prozess des Findens“587 erwartet. Im Schlusssatz seines Entwurfs fordert er eine Vielstimmigkeit der Predigt588 und hebt den Begriff Vielstimmigkeit kursiv hervor. In der Tat ist es die Vielstimmigkeit, das Zusammendenken der verschiedenen homiletischen Konzeptionen seiner Zeit, die er anstrebt. Deutlich kritisch setzt er sich jedoch gegen Ernst Lange ab, der seiner Ansicht nach die „theologischen Implikate in der Beschreibung des homiletischen Aktes verkannt“589 und stattdessen „penetrant nach dem Hörer und seiner Situation gefragt“590 habe. Gert Otto wirft er vor, dass ihm die „theologische Valenz der durchaus richtigen Einsicht in die Verschränkung von Form und Inhalt der Predigt verborgen“591 bleibt und Manfred Josuttis, dass er die „Subjektivität des Predigers zum Organisationszentrum der Homiletik erhebt“592. Peter Cornehl593 definiert das Gottesdienstgeschehen handlungstheoretisch. Der Kultus hat drei Funktionen: Orientierung, Expression und Affirmation.594 Dies entspricht der kognitiven, expressiven und performativen Dimension von Sprechakten. Alle drei Funktionen sind ambivalent zu bewerten. Orientierung wird durch öffentliche Darstellung der Gottesverehrung geleistet, allerdings kann die Integration im Rahmen der Orientierung auch erzwungen sein. Expression ist der Ausdruck der Glaubensgemeinschaft, was betende Hingabe zum Göttlichen, aber auch Fixierung in Abhängigkeit bedeuten kann. Die Affirmation vergewissert die Einzelnen inmitten der Bedrohlichkeit der Welt, kann aber auch zu 584 Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988. 585 Wilhelm Gräb, a. a. O., 6. 586 Wilhelm Gräb, a. a. O., 241. 587 Wilhelm Gräb, a. a. O., 262. 588 Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 263. 589 Wilhelm Gräb, a. a. O., 248. 590 Wilhelm Gräb, a. a. O., 248. 591 Wilhelm Gräb, a. a. O., 253. 592 Wilhelm Gräb, a. a. O., 261. 593 Peter Cornehl, „Die Welt ist voll von Liturgie”. Studien zu einer integrativen Gottesdienstpraxis, Stuttgart 2005. 594 Peter Cornehl, a. a. O., 44–61.

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unterdrückerischen Zwecken missbraucht werden. Insgesamt ist der Gottesdienst ein Ensemble von Handlungen und damit verknüpften Mitteilungen mit dem Ziel der Glaubensvergewisserung.595 Mit diesem handlungstheoretischen Ansatz eröffnet Cornehl Perspektiven, die lebensgeschichtliche, gesellschaftspolitische und innerkirchliche Aufgaben in den Blick nimmt. Ich kann jedoch nicht feststellen, dass Cornehl in seinem integrativen Ansatz die leibliche Dimension in den Blick nimmt. Auch wenn er die performative Dimension von Sprechakten benennt, bleibt er auf der Ebene der Sprache, nicht des gesamten Leibes. Michael Meyer-Blanck596 sieht die Semiotik als Verbindungsglied zu Kunstund Literaturwissenschaft. Er kann dank seines interdisziplinären Ansatzes, der die enge Verbindung von Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften betont, in der Perspektive der Vermittlung verortet werden, ebenso jedoch in der Perspektive der Semiotik und auch in der Perspektive der Inszenierung. Helmut Schwier fordert eine Praktische Theologie, die sich im Ganzen der Theologie integriert und zugleich das interdisziplinäre Gespräch mit anderen Wissenschaften pflegt.597 Gemeinsam mit Sieghard Gall hat er zwei umfangreiche empirische Untersuchungen zur unmittelbaren Predigtrezeption durchgeführt.598 Mit Hilfe des REACTOSCOPE-Verfahrens wurden ablaufsimultan die Reaktionen der Hörenden verarbeitet, ihr abschließender Eindruck von den Predigten wurde verglichen mit zuvor erfragten Kriterien der Hörenden. In Gruppengesprächen tauschten sich die Hörenden untereinander aus. Schwier und Gall beobachten, dass die ersten Minuten einer Predigt entscheidend sind in der Rezeption der Hörenden. Nach vier bis fünf Minuten verändert sich, sichtbar im REACTOSCOPE-Verfahren, die Kurve nicht mehr wesentlich. Als Ergebnis dieser umfassenden Untersuchungen, die erstmalig vielschichtig die Reaktionen auf Predigten auswertet, wurden Kriterien herausgearbeitet: Eine Predigt muss eine „Gratifikation“599 bieten. Voraussetzungen für eine gute Predigt sind „rücksichtsvolle Menschenfreundlichkeit und … rednerische Disziplin der Predigerinnen und Prediger.“600 Die Hörenden erwarten eine Bibelauslegung mit einem erkennbaren Lebensbezug, ethische Orientierung, mit sie inspirierenden Aussagen und einprägsamen Thesen, präsentiert in einer ansprechenden, qua595 Vgl. Peter Cornehl, a. a. O., 53. 596 Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011. 597 Vgl. Christian Grethlein, Helmut Schwier (Hg.), Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, VI. 598 Helmut Schwier, Sieghard Gall, Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Berlin 2008; Sieghard Gall, Helmut Schwier, Predigt hören im konfessionellen Vergleich, Berlin 2013. 599 Helmut Schwier, Sieghard Gall, a. a. O., 207. 600 Helmut Schwier, Sieghard Gall, a. a. O., 240–241.

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litativ hochwertigen Form mit einem sorgfältig gestalteten Anfang und klarer Gedankenführung in der Folge. Die Sprache soll anschaulich, klar und präzise sein. Insgesamt wünschen sich die Hörenden eher kürzere, prägnante Predigten, die möglichst nicht länger als 15 Minuten dauern, als weitschweifige Auslegungen. Die Predigten sollen relevant für die Menschen sein, indem sie ihnen spirituelle und geistige Impulse bieten.601 Eine Vielfalt der Predigtformen verhindert Langeweile. Diese scheinbar lediglich handwerklichen Erwartungen sind notwendige Bedingungen dafür, dass die Predigt bei den Hörenden ankommt – unbeschadet davon dass es der Heilige Geist ist, der im Gottesdienst wirkt und sich menschlicher Verfügung entzieht.602 Schwier setzt sich für eine verantwortliche Bibelauslegung in der Predigt ein. „Meine These ist, dass eine verantwortliche Bibelauslegung alle drei Funktionen benötigt: die theologisch-anthropologische, die kritisch-methodische sowie die kontextuell-applikative. Würde eine fehlen, wäre dies hermeneutisch und phänomenologisch defizitär.“603 Die Philosophie Paul Ricœurs hilft, die verschiedenen Ansätze zu integrieren,604ohne sie jedoch aufzulösen, denn die Vielstimmigkeit entspricht der vielstimmigen biblischen Botschaft. Diese Botschaft ist komplex, dies spiegelt sich im Gottesdienst wider, und so sieht Schwier auch die Berechtigung der vielen homiletischen Perspektiven, sowohl der historischen, rezeptionsästhetisch-semiotischen als auch der dramaturgischen und ritualwissenschaftlichen Konzeption.605 Das Theorie- und Methodenkonzert ist kein Glasperlenspiel im Elfenbeinturm der Praktischen Theologie, sondern der Komplexität des Gottesdienstes geschuldet. In einem qualitativ hochwertigen Gottesdienst werden daher ökumenische Verbundenheit und verschiedene Traditionen lebendig. Kritisch merkt Schwier zur derzeitigen homiletischen Debatte an, dass materiale Aspekte der Homiletik vernachlässigt werden606 und das Verhältnis von 601 Vgl. Helmut Schwier, Was ist eine gute Predigt? Bemerkungen zur Notwendigkeit homiletischer Aus- und Fortbildung als Bestandteil theologischer Bildung. In: Manfred Oeming, Walter Boes (Hg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS Jürgen Kegler, Beiträge zum Verstehen der Bibel Bd. 18, Berlin 2009, 135–144. 602 Vgl. Helmut Schwier, Herausforderungen zur Qualitätsentwicklung von Gottesdiensten. Anfragen und Thesen aus dem Bereich der wissenschaftlichen Praktischen Theologie, in: „Von anderen lernen“. Dokumentation des Workshops „Qualitätsentwicklung von Gottesdiensten“, epd-Dokumentation Nr. 18 (2008), 10. 603 Helmut Schwier, Zur Sache der Texte. Bibel, Predigt und Hermeneutik aus exegetischer Sicht, in: Alexander Deeg, Martin Nicol (Hg.), Bibelwort und Kanzelsprache. Homiletik und Hermeneutik im Dialog. Leipzig 2010, 22. 604 Vgl. Helmut Schwier, Plädoyer für Gott in biblischer Vielfalt. Hermeneutische und homiletische Überlegungen zum Inhalt der Predigt, in: Hanns Kerner (Hg.), Predigt konkret. Grundlinien homiletischer Ansätze, Leipzig 2011, 149–150. 605 Vgl. Helmut Schwier, Herausforderungen zur Qualitätsentwicklung von Gottesdiensten, 7. 606 Vgl. Helmut Schwier, Plädoyer für Gott in biblischer Vielfalt, 149–150.

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Predigt und Liturgie noch nicht geklärt ist, so dass noch nicht deutlich wird, ob die Predigt eine bewusste Unterbrechung des Ritus oder dem Gottesdienstverständnis unterzuordnen sei.607 Ertrag: Die Perspektive der Vermittlung lehrt, dass die Predigt des Evangeliums in dem Maße überhaupt erst möglich und sinnvoll ist, wie Menschen in ihrer Selbstthematisierung ihre Mitteilung aufnehmen können. Sie fragt nach der Subjektivität des Glaubens und danach, wie Menschen eine Predigt für ihre Sinnthematisierung und Lebensdeutung annehmen können. Diese Perspektive weiß um die Relevanz der Tradition, orientiert sich jedoch zuerst an den Rezipienten. Es ist danach zu fragen, was relevant für das Leben der Hörenden ist. Die Perspektive der Vermittlung regt dazu an, die jeweiligen Vorteile der Traditionen ein- und umzusetzen, zugleich öffnet sich der Blick für andere Wissenschaften. Wesentlich sind Methoden, die helfen, die Bedürfnisse der Hörenden genauer kennen zu lernen. Die Predigt ist vergewissernder und orientierender Ausdruck des Glaubens. Für die Kurze Form der Predigt ist fest zu halten, dass die Predigt zugleich vielstimmig und prägnant sein kann und soll. Die Perspektive der Vermittlung regt an, nach einer Sprache zu suchen, die Menschen verstehen und darauf zu achten, dass die Botschaft konzentriert, klar und verständlich bleibt. Predigende sind informiert darüber, was andere Wissenschaften über das Thema ihrer Predigt sagen und arbeiten dies ein bzw. reden in diesem Horizont. Sie überlegen, welchen Nutzen die Hörenden von ihrer Predigt haben, deshalb bieten sie ihnen einen sie überraschenden Gedanken oder eine Idee an, mit der sie ihre Lebensmöglichkeiten erweitern können. Sie wissen, wie wichtig handwerkliche Fähigkeiten bei der Predigtarbeit sind. Sie bemühen sich um eine schöne Sprache und eine angenehme Präsentation der Predigt weil sie wissen, dass Menschen das genießen.

5.4.

Perspektive der Ästhetik

Gerhard Marcel Martin prägt mit seiner Antrittsvorlesung in Marburg, „Predigt als ‚offenes Kunstwerk‘? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik“608, die Rezeptions- Ästhetik als neues Paradigma der Homiletik. Lesende und Text werden in enger Verbindung wahrgenommen, der Text bestimmt dabei das 607 Helmut Schwier, Der evangelische Sonntagsgottesdienst. In: Liturgisches Jahrbuch 60 (2010), 129. 608 Gerhard Marcel Martin, Predigt als „offenes Kunstwerk“? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik. In: Evangelische Theologie 44 (1984), 46–58.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

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Lesen, lesend entsteht erst das literarische Werk. Für den Bereich der Predigt bedeutet das, dass die Hörenden die Rezeption der Predigt bestimmen, es ist nicht mehr entscheidend, was die Predigenden sagen wollten, sondern was die Hörenden aufnehmen. Die ästhetische Wende bedeutet zugleich eine Demokratisierung. Wenn Predigende und Hörende in einem gemeinsamen ästhetischen Prozess verbunden sind, gibt es kein hierarchisches Gefälle zwischen Predigenden und Hörenden. Die Eigenart ästhetischer Prozesse ist es, dass sie unabgeschlossen sind. Dies unterscheidet die Predigt vom Rechtswesen. Es gibt keine eindeutigen Regeln, die die Rezeption definieren. „Die Sprache der Rechtsprechung ist eindeutig und nicht mehrdeutig, weil es in ihrem Vollzug nicht halb offene Gefängnistüren oder Drittelköpfungen gibt. Jede Mehrdeutigkeit verunklart den Prozess, würde zur Vermischung von Gesetz und Evangelium, von Verurteilung und Freispruch führen.“609 Das Evangelium dagegen ist mehrdeutig und durchbricht die „tödliche Logik des Gesetzes, indem es in den Raum und die Zeit der Gnade Gottes einlädt.“610 Wie aufsehenerregend neu der Ansatz von Gerhard Marcel Martin im Kontrast zur Perspektive der Krise war, zeigt sich auch daran, dass er direkt gemeinsam mit einer kritischen Würdigung durch Henning Schröer veröffentlicht wurde.611 Weitsichtig erkennt Schröer: „Nach der Hermeneutik kam die Kommunikationswissenschaft, was kommt jetzt? Rhetorik oder Pastoralpsychologie oder vielleicht Ästhetik, und zwar gerade in der Form der Ästhetik des Autors von ‚Der Name der Rose‘, Umberto Eco“612. Schröer würdigt den neuen Ansatz und bescheinigt ihm Potential, Unlust an der Predigt zu vermeiden und Freude an der befreienden Botschaft zu vermitteln,613 stellt jedoch Rückfragen. Zunächst fordert er, dass die Beziehung des von Martin geforderten ästhetischen Kommunikationsmodells zur Theologie gründlich erörtert werden muss.614 Seine grundsätzlichste Anfrage betrifft das Verhältnis von Theologie und Ästhetik,615 sodann nach dem Verhältnis von Bibeltext zu Predigt616 und nach der Bedeutung, die für Martin der Bibeltext überhaupt hat.617 Schröer regt an, das ästhetische Konzept durch „symbolhermeneutische Vorarbeit“618 zu präzisieren. Gegen eine 609 Gerhard Marcel Martin, a. a. O., 51. 610 Gerhard Marcel Martin, a. a. O., 51. 611 Henning Schröer, Umberto Eco als Predigthelfer? Fragen an Gerhard Marcel Martin. In: Evangelische Theologie 44 (1984), 58–63. 612 Henning Schröer, a. a. O., 59. 613 Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 63. 614 Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 60. 615 Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 62. 616 Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 61. 617 Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 63. 618 Henning Schröer, a. a. O., 61.

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Zugänge

vage Mehrdeutigkeit verteidigt er eine notwendige „Deutlichkeit“619, besonders in Bezug auf Ökumene und Hermeneutik, und betont die Lehre, die Sprechakte Gebet und Bekenntnis gegen ein rein narratives Verständnis, weil Predigt nicht rein narrativ sein könne.620 Abschließend problematisiert Schröer, dass Leben „absolute Primärkategorie“621 geworden ist und fordert – ganz bewusst mit einem Begriff Ecos – die „Ambiguität, die Theologie zur Geltung bringt“622, nämlich etwa die Einordnung von Gnade und Gericht in die homiletischen Überlegungen. Zwölf Jahre später definiert Albrecht Grözinger Praktische Theologie als „Kunst der Wahrnehmung“.623 Für die Kurze Form der Predigt wesentliche Anregungen dieses Entwurfs sind die Betonung des plötzlichen und überraschenden Erkennens im Prozess des Wahrnehmens, der Hinweis auf Roland Barthes624 und die vom Nullpunkt ausgehende Dynamik. Der Essay ist Inspirationsquelle. De facto beginnt Grözinger sein Buch mit der Kurzen Form, nämlich mit Tagebuchaufzeichnungen.625 Grözinger konstruiert mit fiktiven Tagebucheintragungen eines Pfarrers fünf Ebenen der Wahrnehmung, eine Begriffsklärung führt er unter Berücksichtigung des Mittelhochdeutschen, der Gebrüder Grimm und Wittgenstein durch. Als hermeneutischen Schlüssel zieht Grözinger den Film „Fenster zum Hof“ von Hitchcock heran, weil dieser Film zeige, wie Wahrnehmung als plötzliches Erkennen funktioniert und dass diese Wahrnehmung keineswegs selbstverständlich sei:626 „Wahrnehmung ist in vielen Fällen mit dem Modus der ‚Plötzlichkeit des Erkennens‘ verbunden: Der eine Augenblick, der genutzt werden kann oder der ungenutzt verstreicht. Im Blick-Wechsel eines Augenblickes signalisiert der Mörder seinem Beobachter: Ich bin schuldig.“627 Grözinger berücksichtigt die Leiblichkeit des Menschen und ordnet die Vielfalt der Wahrnehmung mithilfe der „biologischen Beschaffenheit und stammesgeschichtlichen Entwicklung“628. Er zitiert ausführlich die körperlichen Implikationen von Wahrnehmung von Dieter Hoffmannn-Axthelm und kann

619 620 621 622 623 624 625 626 627 628

Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 62. Vgl. Henning Schröer, a. a. O., 61. Henning Schröer, a. a. O., 63. Henning Schröer, a. a. O., 63. Albrecht Grözinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main 2006, 9–69. Vgl. hierzu die Zugänge zur Literaturwissenschaft. Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 25. Albrecht Grözinger, a. a. O., 21. Albrecht Grözinger, a. a. O., 29.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

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seine Thesen auch durch biblische Schilderungen sinnlicher Wahrnehmungen fundieren.“629 Grözinger ist der Essay wichtige Inspirationsquelle, zumal auch hier eine plötzliche, überraschende Wendung festzustellen ist.630 Kritisch setzt sich Karl-Heinrich Bieritz mit der Perspektive der Ästhetik auseinander.631 In Auseinandersetzung mit Engemann kritisiert Bieritz das Konzept eines ästhetischen Denkens in der Predigt und verweist auf drei plakative Begriffe, die das zeitgenössische Selbst- und Weltverhältnis bestimmen und von denen er meint, dass sie von besonderem Gewicht für die Predigt sind: „Ästhetisierung, Anästhesierung, Virtualisierung“.632 Unter der Überschrift: „Predigt in der Schule des Andersseins“ nimmt Bieritz den Philosophen Wolfgang Welsch auf, der vorschlägt, der Hyperästhetisierung der Kultur mit einer Kultur des blinden Flecks zu begegnen, der sensibilisiert für blinde Flecken in der gesellschaftlich-kulturellen Wahrnehmung und gegen ein Schönreden dieser Situation.633 Parallelen zu Roland Barthes liegen auf der Hand: Bieritz wünscht sich: „Den Philosophen würde man gern für die homiletische Ausbildung gewinnen. Seine ‚Schule der Anderheit‘ ist zugleich – das ist deutlich – eine Schule des Eigen-Sinns. Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit sind – als ästhetische Kategorien – vorzüglich geeignet, den etwas vagen Erzählungen zur ‚offenen Predigt‘ Farbe und Form zu verleihen.“634 Die ästhetische Perspektive wird auch aus praktischer Perspektive kritisch gewürdigt. Dem Anspruch, dass Predigt Kunst sei, wird das Paradigma der Predigt als Kunsthandwerk entgegengestellt. Michael Herbst und Matthias Schneider kritisieren in ihrer praktisch orientierten Predigtlehre die an Semiotik, Rezeptionsästhetik und Dramaturgie orientierten Homiletiken, die zwar schön klängen, doch nur in der Theorie. In der Praxis vermissen Herbst und Schneider die Lust am Predigen und sehen keine Künstler, nicht einmal Kunsthandwerker am Werke.635 Mit dem Stichwort Relevanz wird ein Gedanke von Ernst Lange wieder aufgenommen. Für Herbst und Schneider ist es – neben der mangelnden Ver629 Albrecht Grözinger, a. a. O., 35. 630 Vgl. Albrecht Grözinger, a. a. O., 157–158, vgl. Roland Barthes, a. a. O. 631 Karl-Heinrich Bieritz, Offenheit und Eigensinn. Plädoyer für eine eigensinnige Predigt. In: Winfried Engemann, Frank M. Lütze (Hg.), Grundfragen der Predigt, Leipzig 2006, 195–216. 632 Karl-Heinrich Bieritz, a. a. O., 205. 633 Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, a. a. O., 215. 634 Karl-Heinrich Bieritz, a. a. O., 215. 635 Vgl. Michael Herbst und Matthias Schneider, … wir predigen nicht uns selbst. Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn 22001, 127.

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ständlichkeit – die fehlende Relevanz des Gesagten, die für Predigtprobleme sorgt, kurzum das Phänomen „gepflegter Langeweile“ in der Predigt. Beide zitieren einen provokativen Satz von Rick Warren. Warren wundert sich darüber, wie es Predigern gelinge, „das interessanteste Buch der Welt zu nehmen und damit Menschen zu Tode zu langweilen. Ich glaube, dass es Sünde ist, Menschen mit der Bibel zu langweilen. Wenn Gottes Wort uninteressant vermittelt wird, dann denken die Menschen nicht einfach, dass der Pastor langweilig ist, sondern sie denken, Gott sei langweilig. Wir bringen Gottes Charakter in Verruf, wenn wir in einem geistlosen Stil oder ermüdenden Tonfall predigen.“636 Auf dem Hintergrund ihrer Ausführungen verwundert es nicht, dass Herbst und Schneider ausführlich auf Rhetorik eingehen, jedoch keine Verbindung zu den Literaturwissenschaften knüpfen. Ertrag: Die Perspektive der Ästhetik leitet dazu an, genau auf die Form zu achten. Im Anschluss an Immanuel Kant zeigt sich, dass beim ästhetischen Urteil nicht ein Einzelnes einem Allgemeinen zugeordnet werden kann, sondern dass vielmehr ein Spiel zwischen Allgemeinem und Individuellem entsteht. Die Botschaft des Evangeliums ist keine allgemeine Verheißung, die einfach mitgeteilt werden könnte, vielmehr geht es darum, Metaphern und Symbole zu finden, die Menschen auf sich beziehen können. Mit diesen Menschen befinden sich die Predigenden im Gottesdienst in einem gemeinsamen Geschehen, in einem Dialog auf Augenhöhe. Die Perspektive der Ästhetik weist auf Roland Barthes hin, Predigende können über Blitz, Unterbrechung und Störung als ästhetische Kategorien nachdenken. Dafür müssen sie sich in der Kunst des Wahrnehmens einüben. Im Blick auf die Kurze Form ist darauf zu achten, dass die Predigt der ästhetischen Unterbrechung Rechnung trägt. Predigende müssen deshalb darauf verzichten, es allen Recht machen zu wollen. Diese Perspektive lehrt die Predigenden, aufmerksam zu sein im Blick auf Unterbrechungen bei den Themen, die sie behandeln und den Bibelstellen, von denen sie ausgehen. Was irritiert, was durchbricht die übliche Sichtweise? Die Perspektive der Ästhetik regt dazu an, nach Metaphern und Symbolen zu suchen, die das Thema der Predigt vertiefen und verständlich machen sowie neue Wahrnehmungsmöglichkeiten erschließen. Predigende lernen, die Form ernst zu nehmen, sich vom Essay inspirieren zu lassen und es zu wagen, ihre Wahrnehmungen, das, was sie im Sinne von Roland Barthes „besticht“, mit den Menschen zu teilen, die ihre Predigten hören.

636 Zitiert in: Michael Herbst und Matthias Schneider, a. a. O., 238.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

5.5.

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Perspektive der Semiotik

Umberto Eco hat die Theorie des offenen Kunstwerks entwickelt. Die Rezipienten sind an der Interpretation des Kunstwerks beteiligt. Ecos Einfluss auf die homiletische Diskussion mündet in der von Wilfried Engemann konzipierten Semiotischen Homiletik.637 In Anknüpfung an die Semiotik Umberto Ecos entwirft Engemann eine Homiletik als Theorie der Kultur, ein System von sich austauschenden, strukturierenden, ersetzenden und erzeugenden Zeichen im Prozess der Kommunikation. Engemann definiert Predigt im Anschluss an amerikanische Forschungsergebnisse und an Bernard Reymond als Oralitur. Predigt ist für ihn ein mündliches Geschehen, das sich ereignet. Damit setzt er das Predigtgeschehen von schriftlichen Texten ab. Das, was die Hörenden von der Predigt aufnehmen, ist das Auredit. Die Hörenden nehmen die Oralitur aktiv auf und setzen sie kreativ in Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit, indem sie das, was sie hören, mit eigenen Erfahrungen und Ideen ergänzen und Leerstellen füllen. Mit dem Begriff „Leerstelle“ nimmt Engemann einen Begriff aus der Rezeptionsästhetik auf, der von Wolfgang Iser unter Bezug auf Roman Ingarden geprägt wurde.638 Leerstellen sind fehlende Informationen im Text, Brüche, Übergänge, Auslassungen, die die Lesenden mit eigenen Vorstellungen füllen müssen. Leerstellen sind keine Fehler im Text, sondern eröffnen den Lesenden die Möglichkeit, sich den Text aktiv anzueignen. Für die Predigt übertragen bedeutet das, dass die Hörenden mitwirken am offenen Kunstwerk des Predigtgeschehens. Das verflüssigt das Predigtgeschehen, bei dem es nun nicht mehr um eine buchstäblich zementierte Botschaft geht, sondern um ein lebendiges Geschehen in der Spannung von Oralitur und Auredit. Allerdings können Predigten diesem lebendigen Geschehen entgegenstehen, wenn sie geschlossene Botschaften verkünden. Ambiguitäre Predigten dagegen forcieren, ermöglichen und unterstützen die kreative Aneignung der Hörenden. Jan Hermelink und Eberhard Müske fordern eine Kooperation von Theologie und Literaturwissenschaft.639 Sie analysieren mit ästhetisch-semiotischen Kate637 Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik, Tübingen und Basel 1993. 638 Vgl. Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 41974, ders., Der Akt des Lesens. München 21984. Zur Forschungsgeschichte vgl. Axel Spree, Art. Leerstelle. In: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2007, 388–389. 639 Jan Hermelink und Eberhard Müske, Predigt als Arbeit an mentalen Bildern. In: Winfried Engemann, Frank M. Lütze (Hrsg.), Grundfragen der Predigt, Leipzig 2006.

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Zugänge

gorien das Predigtgeschehen. Gegen digitale Organisationsmodelle betonen sie eine „bildhafte Organisation von Weltwissen“640. Michael Meyer-Blanck641 sieht die Semiotik als eine Form der Rezeptionsästhetik, die als Kulturtheorie dazu beiträgt, die Bewegungen zwischen den an einer Predigt beteiligten Personen und Texten zu beschreiben. Da ein Gottesdienst stets ein Interaktionsgeschehen ist, entspricht diese Rezeptionsästhetik dem Geschehen eher als eine isoliert Themen und Personen analysierende Theorie. Meyer-Blanck sieht im von Gerhard Marcel Martin entwickelten Gedanken der Predigt als offenem Kunstwerk und dem von Engemann eingeführten Auredit im Unterschied zum Manuskript der Predigenden einen homiletischen Perspektivenwechsel, weil aus dem starren homiletischen Dreieck eine offene Rezeption geworden ist. Er streift das Thema der Kürze, indem er die Predigt poetischen Kriterien unterwirft. Gute Literatur, etwa ein Gedicht, kann mit wenigen Worten viele Botschaften ermöglichen, schlechte, etwa ein Werbetext, wiederholt lediglich das Gesagte.642 Es ist bedauerlich, dass Meyer-Blanck eine schlechte Predigt mit Werbebotschaften gleichsetzt. Die Predigt könnte viel von der Werbung lernen, z. B. die Kunst, in kurzer Zeit eine Botschaft so zu platzieren, dass Menschen sie verstehen und behalten. Kritisch ist weiterhin zu fragen, ob ausgerechnet das Gedicht eine geeignete literarische Form ist, um Predigt zu definieren. Ein Gedicht ist eben nicht unbedingt gut zu hören, Poesie erschließt sich nicht zwangsläufig beim Hören, zumindest nicht beim ersten Hören. Bestes Beispiel dafür ist, dass Paul Celan bei der Gruppe 47 mit seinem Gedicht „Todesfuge“ durchfiel, ein Ereignis, das ihn persönlich tief getroffen hat. Die Gruppe herausragender zeitgenössischer Autoren war in der Situation offenbar gerade nicht in der Lage, die heute unbestrittene Qualität dieses Gedichts wahrzunehmen. Auf diesem Hintergrund ist sogar – noch weitergehender – zu fragen, ob Gedichte tatsächlich in Predigten zitiert werden sollten643 – es sei denn, es handelt sich um allgemein bekannte und daher vertraute Verse. Auch Grözinger sieht die Identifizierung von Poesie und

640 Jan Hermelink und Eberhard Müske, a. a. O., 371. 641 Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011; Michael Meyer-Blanck, Birgit Weyel, Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, Göttingen 2008. 642 Vgl. Michael Meyer-Blanck, Birgit Weyel, a. a. O., 23. 643 Skeptisch ist hier sogar Martin Nicol: „Gedichte beispielsweise gehören in der Regel nicht in eine Predigt.“ Martin Nicol, Einander ins Bild setzen, Dramaturgische Homiletik, Göttingen ²2005, 89–90.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

175

Gottesrede skeptisch, obwohl er selbst ursprünglich die Sprache der Predigt als Sprache der Poesie definiert hatte.644 Ertrag: Von der Perspektive der Semiotik ist zu lernen, dass das, was die Menschen hören, etwas anderes ist als das Manuskript einer Predigt. Das Manuskript wird in einer lebendigen, gehaltenen Predigt in ein Ereignis transformiert. Die Hörenden spielen mit diesem Ereignis weiter und es ereignet sich ein Auredit. Die Predigt sollte daher keine geschlossene Form haben, sondern offen sein, damit sich diesem Auredit nichts entgegenstellt. Die Predigenden werden angeregt, sich im Gewebe von Literatur und Kunst wahrzunehmen und dieses Gewebe mit Hilfe der Semiotik zu analysieren. Sie können sich berauschen lassen von der Fülle der Zeichen, die sie umgeben und in geheimnisvoller Weise aufeinander einwirken, sich ersetzen und auslegen. Dieses Gewebe ist auch im Gefüge der Predigt, der Person der Predigenden, der Hörenden und der biblischen Botschaft wahrnehmbar. Die Perspektive der Semiotik regt dazu an, den Hörenden ihr Auredit zuzutrauen und sich von der Vorstellung zu lösen, die Predigenden könnten über das entscheiden, was die Hörenden annehmen. Die Predigenden haben nicht die Deutungshoheit über das, was andere Menschen glauben und denken und begeben sich predigend mit ihnen in ein lebendiges Geschehen hinein. Leerstellen eröffnen für die Hörenden eine aktive Aufnahme der Predigt. Für die Kurze Form der Predigt ist zu lernen, auch in der Kürze offen zu bleiben und mit dem Auredit der Hörenden zu rechnen. Die Perspektive der Semiotik lehrt wahrzunehmen, welche Beziehungen das Thema einer Predigt hat und sich schreibend vorzustellen, dass das Thema sich in einem Gewebe von Zeichen entfaltet. Gerade die Kurze Form kann die Leerstellen wertschätzen, die den Hörenden eine aktive Aufnahme der Predigt ermöglichen. Eine Kurze Form ist durch ihre Unabgeschlossenheit nicht defizitär, sondern eröffnet in ihren Leerstellen den Hörenden die Möglichkeit, eigene Sinnkonstruktionen einzutragen. Sie begegnet den Hörenden auf Augenhöhe, weil sie nicht nur akzeptiert, sondern auch erhofft, dass die Hörenden die Predigt für sich weiter fortsetzen, auch wenn dies die ursprünglich intendierte Richtung der Predigt verändern wird. Diese Predigt ist nicht autoriär, weil sie nicht über die Richtung dieser Veränderung bestimmen will. Sie weiß, dass die ganze Wahrheit niemals abgebildet werden kann und begreift die Kürze schon als formale Erinnerung daran.

644 Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, 227.

176 5.6.

Zugänge

Perspektive der Rhetorik

Mit seiner Perspektive auf die Rhetorik knüpft Gert Otto an eine Kunst an, die von den Anfängen der Predigt an mit ihr verbunden war. Während andere Perspektiven die Differenz zwischen Gott und der Welt oder die Hörenden in den Fokus setzen, konzentriert sich die Perspektive der Rhetorik auf den Text der Predigt. Der Schwerpunkt von Gert Ottos Entwurf liegt im Spannungsfeld von Poetik und Rhetorik, er hat jedoch auch die verschiedenen anderen literarischen Formen im Blick. Otto listet 13 Literaturformen auf, unter 11. auch den, als eigene Form seiner Ansicht nach leicht übersehenen, Essay. Er fordert auf, die Besonderheit eines Essay wahrzunehmen, nämlich „Verzicht auf wissenschaftliche Absicherung, die Liebe zu Fragment und Versuch, die subjektive Sichtweise und nicht zuletzt: die geschliffene, die zugängliche Sprache.“645 Letztlich traut Otto den Predigerinnen und Predigern zwar zu, Lehren aus dem Studium literarischer Vorbilder zu ziehen und sprachlich sensibel zu werden, nicht jedoch, selbst zu Schriftstellern zu werden.646 Poesie und Predigtrede verbindet, dass sie Gefühle und Intellekt bewegen und die Vieldimensionalität des Lebens ausdrücken können. Predigende sollen lernen, in Bildern zu denken und zu sprechen und sich in bildhafter Rede, also in Metaphern, Allegorien etc. auszudrücken. Eine solche Sprache ist wohltuend und im besten Sinne erbaulich. Im Gegensatz zur Perspektive der Ästhetik und der Perspektive der Semiotik hält Otto Rhetorik und Ästhetik für zwar benachbart, jedoch nicht deckungsgleich.647 Kritisch ist anzumerken, dass Gert Otto Literatur als Zitat benutzt, nicht jedoch als Form gebend erkennt. Er reflektiert etwa nicht darüber, wie eine Predigt als Essay oder Kurzgeschichte gestaltet werden könnte. Dies liegt sicher auch in der Fluchtlinie seiner Gedanken, die es Predigenden nicht zutrauen, selbst Schriftstellerinnen oder Schriftsteller zu werden. Ob eine Predigerin oder ein Prediger als Schriftstellerin oder Schriftsteller sein kann, ist sicherlich – auch – eine Frage der Definition. Wichtig scheint mir, dass er oder sie künstlerisch tätig sein kann, aber nicht muss. Es ist wunderbar und beglückend, wenn Predigende künstlerisch mit Texten, mit ihrer Sprache umgehen können. Doch das ist nicht die Voraussetzung, um zu predigen. Auch hier gilt, dass das Fragment ermutigt. Predigerinnen und Prediger können gute Verkündigerinnen und Verkündiger sein, auch wenn ihre Predigten künstlerischen Ansprüchen nicht standhalten würden. 645 Gert Otto, Rhetorische Predigtlehre, Mainz 1999, 46. 646 Vgl. Gert Otto, a. a. O., 52. 647 Gert Otto, a. a. O., 28.

Perspektiven der homiletischen Diskussion

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Für Manfred Josuttis648 ist – im Anschluss an Walter Jens – die Rhetorik eine Schönheit, die es aus dem Dornröschenschlaf neu zu erwecken gilt. In einem Studienband dokumentiert er den zwanzigjährigen Prozess dieser Auferweckung, der einen Bogen schlägt vom Predigteinfall bis zum Predigtschluss. 1968 kann da noch unbefangen behauptet werden, dass es nicht notwendig sei, dass „die Predigt selber zum Kunstprodukt wird.“649 Allerdings sollten die Gesetze sprachlicher Kunstwerke wahrgenommen werden und von den Dramatikern die Spannung, von den Lyrikern performative Wortgewalt und von den Epikern die Kunst des Erzählens gelernt werden, alles, um zu einer Sprache zu finden, die performative Kraft gewinnt, indem sie „das schenkt, was sie sagt“650 – und das kann den Hörenden seelisch und körperlich gut tun. Knapp zwanzig Jahre später und kurz vor der Antrittsvorlesung von Gerhard Marcel Martin stellt Josuttis fest: „Aufhören ist eine Kunst.“651 Und diese Kunst ist nicht selbstverständlich, zumal sie mit dem Ende der Predigt auch das Ende der Welt in den Horizont rückt, die Ansage des Gerichts. Hier werden ethische Fragen thematisiert, die in der Perspektive der Ästhetik leicht aus dem Blick geraten können: Buße, Freispruch des Sünders, das „Evangelium stellt in den Kampf“652, falsche und wahre Propheten streiten gegeneinander. Politisch konkret werden die Überlegungen zum Feindbild in der Predigt im Blick auf den Deutschen Herbst: Darf man Terroristen lieben? Und: Gibt es eine „Unfähigkeit zu hassen“653? Josuttis verortet die Rhetorik im Bereich der homiletischen Kompetenz, die von den Predigenden personale Fähigkeiten erfordert, nämlich sowohl eine Kongruenz zwischen Person und Sprache als auch eine Beachtung grammatikalischer und kommunikationsrelevanter Spielregeln. In seiner in der Evangelischen Theologie abgedruckten Abschiedsvorlesung654 rückt Rainer Preul – wie Josuttis im Anschluss an den Rhetoriker Walter Jens, der eine evangelische „rhetorica nova“655 fordert – die Rhetorik als Predigtkunst wieder in den Fokus homiletischer Reflexion. Preul stellt – mit einem gewissen Bedauern – fest, dass Schleiermacher noch fast eine Dreiviertelstunde predigen konnte, während er, Preul selbst, schon nach einer Viertelstunde das nahe Ende seiner Predigt ankündigen müsse, um die Aufmerksamkeit der Hörenden zu 648 Manfred Josuttis, Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien, München 1985. 649 Manfred Josuttis, a. a. O., 28. 650 Manfred Josuttis, a. a. O., 28. 651 Manfred Josuttis, a. a. O., 201. 652 Manfred Josuttis, a. a. O., 114. 653 Manfred Josuttis, a. a. O., 113. 654 Rainer Preul, Die Aktualität der Predigt, Evangelische Theologie 66 (2006), 328–340. 655 Zitiert in: Rainer Preul, a. a. O., 328.

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halten.656 Preul reflektiert jedoch nicht über die Bedürfnisse der Hörenden oder die Kurze Form oder über eine Gestaltung der Predigt in Abschnitten, denen Hörende gut folgen können. Preul sieht in der Vielfalt der literarischen Formen ein Vorbild für die Predigt, die sich feuilletonistisch äußern, Storys erzählen, sich von Romanen und Kurzgeschichten anregen, dialogisch oder kabarettistisch äußern darf.657 Wilhelm Gräb658 entwirft Predigt als religiöse Rede im Kontext gegenwärtiger Kultur und entfaltet Aspekte einer religionshermeneutischen Theologie und Praxis der Predigt. Er differenziert vier homiletische Reflexionsperspektiven: Biblische Texte interpretieren; ansprechende, ergreifende, erbauliche Rede gestalten; christliche Rechtfertigungsbotschaft im Sinne christlicher Lebensdeutung je konkret ausarbeiten; religiöse Lebensfragen der Hörenden verstehen.659 Dabei ist ihm religiöse Rede im Kontext von Medien im Blick. „Predigende (brauchen) den hermeneutischen Blick auf die mediale Kultur, eben um sie auf die Lebensdeutungen hin zu erschließen, die sich in ihr Ausdruck verschaffen.“ Sein Augenmerk liegt jedoch auf der Interpretationsarbeit, nicht auf den äußeren Bedingungen bzw. Chancen der Kurzen Form, die Medien fordern, ja in vielen Bereichen kennzeichnen. Das ist besonders bedauerlich, da dieser aktuelle homiletische Entwurf ja um Internet und Twitter weiß und deren Relevanz wahrnimmt. Auch im Blick auf Kasualien wird das Thema der Kurzen Form nicht thematisiert, obgleich Gräb im Kontext einer Großstadt lehrt660 und die Bedeutung von Kasualien unterstreicht, die er als attraktivstes Angebot der Kirche definiert, weil Sinnsuche von Menschen und Deutungsangebot der Kirche zusammenpassen und zusammenfinden.661 Die Kasualpredigt ist für ihn das Paradigma religiöser Rede, so dass er sogar fordert, dass jede Predigt zu einer Kasualpredigt werden solle.662 Dennoch geht er auf die Kurze Form nicht ein, auch unter den im Anhang abgedruckten Beispielpredigten ist keine Kurze Form zu finden, dabei ist doch gerade die religiöse Rede im öffentlichen Kontext oft kurz und hätte gut als Beispiel aufgeführt werden können.

656 657 658 659 660

Vgl. Rainer Preul, a. a. O., 329. Vgl. Rainer Preul, a. a. O., 340. Wilhelm Gräb, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 62. Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 84. In Berlin kostet z. Zt. die Nutzung der Trauerhalle bis 30 min 159 €, je angefangene 10 Minuten Verlängerung 53 € Aufschlag. Quelle: Gebührenordnung für die landeseigenen Friedhöfe Berlins vom 17. November 2003, GVBL S. 546, zuletzt geändert durch Verordnung vom 11. Januar 2011, GVBL S.9. 661 Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 27. 662 Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 28.

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Die Gestaltung der religiösen Rede Predigt entfaltet Gräb als homiletische Rhetorik. Die religiöse Rede legt den biblischen Text sprachlich sorgfältig und dogmatisch reflektiert aus und ist wahrhaftig. Ziel ist es, die Hörenden zu erbauen. Dies gelingt durch Authentizität im geübten Vortrag, eine unmittelbar verständliche Sprache, die die Bewegung des religiösen Gefühls der Predigenden aufnimmt und performative Kraft hat, weil sie um metaphorische und symbolische Kraft weiß. Für Gräb sind die Predigenden mediale Subjekte der religiösen Rede, die ihre eigene religiöse Überzeugung zum Ausdruck bringen. Predigt ist keine Sachinformation, die Predigenden kommunizieren das, was sie selbst angeredet hat. Gräb verlangt ein energisches Einbringen des Selbstverständnisses der Predigenden, damit die Hörenden in die Botschaft existentiell hineingezogen werden. Dabei setzt er sich deutlich gegen Nicol ab: „Leider wird das ‚ästhetische Paradigma‘ in der ‚dramaturgischen Homiletik‘ aber nur auf den Umgang mit dem biblischen Text bezogen und dabei mit einer bibelhermeneutischen These verbunden, die sich die Sache entschieden zu einfach macht.“663 Gräb wirft der dramaturgischen Homiletik vor, dass sie die Vielfalt biblischer Sprachfomen auf die Narration reduziert und keine rhetorisch-homiletische Aufgabe skizziert, ja überhaupt die Form der Rede nicht sieht und den Hörenden die Aufgabe zuschiebt, zu Subjekten der Auslegung der biblischen Texte zu werden. Eine Übereinstimmung des ästhetischen Paradigmas mit seiner eigenen Konzeption sieht Gräb im Begriff des Erbaulichen. Mit Wilfried Engemann und Gerhard Marcel Martin betont Gräb die Relevanz einer offenen, mehrdeutigen Predigt, die die Rezeptionsaktivität der Hörenden aktiviert. Allerdings: „Die Rezeptionsästhetik entlastet weder von der durch den Prediger/die Predigerin selbst zu leistenden Textauslegung noch von der Klärung der Intention der Predigt. Sie verlangt vielmehr beides, die gegenwartsbezogene Interpretation des biblischen Textes wie die rhetorischen Überlegungen zu einer der Predigtintention angemessenen Form der Predigt.“664 Gräb spitzt die Rezeptionsästhetik auf eine rezeptionsreligiöse Sprachgestalt der erbaulichen Predigt zu.665 Schließlich weist er auch die Definition der Predigt als Kunstwerk zurück. Im Gegensatz zum Kunstwerk, das in ästhetische Erfahrungen führt, die eventuell religiös gedeutet werden können, diese aber nicht intendiert, ist es das Ziel der religiösen Rede, Religion mitzuteilen, um zu Lebensdeutung zu ermutigen und zu befähigen.666 Sehr wohl spielt die ästhetische Performanz bei der Predigt eine entscheidende Rolle, damit die Hörenden angesprochen und angeregt werden können. 663 664 665 666

Wilhelm Gräb, a. a. O., 292. Wilhelm Gräb, a. a. O., 296. Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 300. Vgl. Wilhelm Gräb, a. a. O., 301.

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Ertrag: Die Perspektive der Rhetorik lehrt, dass die Predigt eine Rede ist, die sorgfältig aufgebaut und strukturiert sein will. Predigende schulen ihre Sprache an qualitätsvoller Literatur und lernen die Kunstgriffe der Rhetorik. Sie reden über das, was sie selbst angesprochen hat und achten auf die Logik der Gedankenfolge. Die Predigt darf gut tun und erbauen. Die Perspektive der Rhetorik unterstreicht den Anspruch, dass die Predigtsprache verständlich und geschmackvoll ist. Die Kurze Form kann sich an der Rhetorik schulen und lernen, auch in den wenigen zur Verfügung stehenden Sätzen ansprechend, ergreifend und erbaulich zu formulieren. Für die Kurze Form ist festzuhalten, dass mit Hilfe der Rhetorik vor allem ethische Fragen gut auch in einem begrenzten Rahmen behandelt werden können. Hier bietet die Perspektive der Rhetorik wichtige Anregungen. Die als Traktat gestaltete Kurze Form ist bestens dafür geeignet, ethische Themen zu entfalten und das Für und Wider so abzuwägen, dass sich die Hörenden ein eigenständiges Urteil bilden können. So können im Rahmen der Kurzen Form die christliche Rechtfertigungsbotschaft im Sinne christlicher Lebensdeutung ausgelegt und religiöse Lebensfragen der Hörenden behandelt werden. Die Perspektive der Rhetorik entdeckt den Essay als Kurze Form, die das Fragment nicht nur aushält, sondern liebt, die sprachlich schön ist und es wagt, subjektiv zu sein. Bei einer Kurzen Form müssen Anfang und Ende der Predigt besonders sorgfältig gestaltet werden. Die Perspektive der Rhetorik stellt hier hilfreiche Gestaltungshinweise zur Verfügung. Sie lehrt, wie die Kurze Form, z. B. als Traktat, überzeugend und ansprechend formal und inhaltlich gestaltet werden kann.

5.7.

Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung

Zwanzig Jahre nach der Einführung des ästhetischen Paradigmas stellt Martin Nicol fest, dass die Praxis auf deutschen Kanzeln der Theorie hinterherhinkt. Er kombiniert die new homiletics Bewegung aus den USA mit der ästhetischen Perspektive zu einer „Dramaturgischen Homiletik“. Durch die Gründung des „Atelier Sprache“ in Braunschweig und die Vermittlung in Workshops gewinnt die Dramaturgische Homiletik großen Einfluss in Deutschland und wird in der Praxis umfassend aufgenommen.

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Gegen die klassische Drei-Punkte-Predigt postuliert Nicol667 und mit ihm später sein Schüler Alexander Deeg668 im Anschluss an die new homiletics, dass Predigen Kunst und die Homiletik eine „Kunst-Lehre“669 ist, Predigende werden zu Künstlerinnen und Künstlern, ihre Arbeitszimmer und Schreibstuben werden zu Ateliers, der Gottesdienst wird wie ein Theaterstück oder ein Film inszeniert. Aus dem langweiligen Predigtvortrag wird ein „Lebensphänomen“670, in dem Inhalt und Form nicht getrennt sind. Predigt redet nicht mehr über etwas, sie ist „Preaching from Within“671, Predigende und Gemeinde setzen einander ins Bild. In der Konzeption von Nicol und Deeg werden verschiedene Kurze Formen kombiniert: „Gedichte, Berichte über Ausstellungen, Konzertkritiken, Beobachtungen aus der Welt der Architektur und vieles mehr“672, die dann „im Wechselschritt von Moves & Structure, von Teilen & Ganzem“673 präsentiert werden. Dabei machen die Autoren Mut, Überflüssiges zu streichen und lernen von Journalisten die Kunst des Weglassens, was besonders im Blick auf die Kurze Form der Predigt eine unerlässliche Fähigkeit ist. Spannung und Performance sind wesentliche Prinzipien dieser Konzeption. Die Sprache der Predigt soll metaphorisch sein. Predigende sollen wahrnehmen, die Sprechschule wird zur Sehschule. Gedichte sind hermeneutischer Schlüssel für die Predigtsprache, die die Sprache der Bibel nachdichten soll. Hier sind die Gleichnisse Jesu Vorbild, da Jesus alltägliche Bilder und Erfahrungen nutzt, um den Blick für den Himmel zu öffnen.674 Auch Nicol und Deeg entdecken den Philosophen Roland Barthes als inspirierende Lektüre: „Roland Barthes hat ‚die Lust am Text‘ einer lustlos gewordenen Literaturwissenschaft neu ins Stammbuch geschrieben: Das Brio des Textes… wäre also sein Wille zur Wollust: genau das, wodurch er den Bedarf übersteigt, das Plappern überschreitet und versucht, die Beschlagnahme durch die Adjektive zu vereiteln – die jene Pforten der Sprache sind, durch die das ideologische und das Imaginäre in großen Strömen eindringen.“675 – „Sich lustvoll seinem ‚Brio‘ überlassen? Warum nicht auch dem Brio der Worte, Bilder und Geschichten der Bibel?“676

667 Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, 22005. (Erste Auflage 2002) 668 Martin Nicol, Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel, Göttingen 2005. 669 Martin Nicol, a. a. O., 36. 670 Vgl. Martin Nicol, a. a. O., 26–27. 671 Martin Nicol, a. a. O., 55. 672 Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 10. 673 Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 16. 674 Vgl. Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 64. 675 Zitiert bei Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 21. 676 Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 72.

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Dogmatisch beschränkt sich Nicols Entwurf auf eine elementarisierte Dogmatik677, er orientiert sich an Friedrich Mildenberger und übersetzt vier Grundentscheidungen der Kirche in vier homiletische Suchbewegungen, hier geht es um Gott und Welt (Wie kann so von Gott geredet werden, dass die Welt integral dazu gehört?), Gott und Mensch (Wie kann vom Menschen so geredet werden, dass Gott Gott bleibt?), Gott und Mächte (Wie kann von Gott so geredet werden, dass er der Herr über alle Mächte bleibt?) und Gott und die Religionen (Wie kann von dem dreieinigen Gott so geredet werden, dass die Gemeinschaft zwischen dem Christentum und den Religionen der Welt (sic) gefördert wird?) 678. Ob diese elementarisierte Dogmatik die Grundlage oder auch nur ein Beitrag dazu sein kann, die von Nicol eingeforderte Spannung zu erzeugen? Es ist ja gerade eine differenzierte theologische Sicht, die Unterschiede und Übereinstimmungen sorgfältig herausarbeiten und darstellen kann. Das ist aufregend, im Gegensatz zu einer Elementarisierung, die auf die Nuancen verzichtet. Sicherlich kann es einer sorgfältigen theologischen Analyse gelingen, ihre Ergebnisse zu elementarisieren, umgekehrt ist es jedoch kaum möglich, von einer vereinfachenden Sicht zu präzisen Blickwinkeln zu finden. Elementarisierung ist im Gegensatz zur Simplifizierung eine Kunst. Die Elementarisierung macht etwas Komplexes anschaulich. So gelingt es ihr, Interesse und Neugier zu wecken und zu faszinieren, so dass Menschen immer mehr und tiefer verstehen wollen. Sie schafft eine anschauliche Form, ohne zu vereinfachen. Dies ist eine elementar wichtige Voraussetzung für die Kurze Form. Auch Jahre nach dem großen Rezeptionserfolg der Dramaturgischen Homiletik sieht die Praxis nicht kunstvoll aus. Nicol formuliert eine Problemanzeige und eine Forderung: „Evangelischer Gottesdienst ist, keineswegs nur in der Außenperspektive, noch immer Wortgottesdienst mit der Predigt als Zentrum: Das biblische Wort verflüchtigt sich in die alles beherrschende Predigt, und unter der antirituellen Widerborstigkeit traditioneller Kanzelrede leidet die eigene Sprache der Liturgie. Was ansteht, ist der Aufbruch vom Predigtgottesdienst der Tradition zu einem evangelischen Wortgottesdienst, den es noch nicht gab. Die Kirche des Wortes leistet vorerst am besten ihren Beitrag zu einer Liturgie der Kirche, wenn sie ihren Weg endlich konsequent geht: den Weg im Geheimnis des Wortes.“679 Entspricht dieser groß angelegte Entwurf der Wirklichkeit deutscher Kanzeln und halten die Begriffe, was sie versprechen? Offenbar hat Nicol selbst gewisse Zweifel: „Es ist schon Ereignis genug, dass da Sonntag für Sonntag Menschen 677 Vgl. Martin Nicol, a. a. O., 95. 678 Martin Nicol, a. a. O., 94–99. 679 Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 2009, 65.

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zusammenkommen, um eine Predigt zu hören. Zu diesem gleichsam normalen Ereignis gehören geglückte und missglückte Augenblicke, Ärgerliches und Hocherfreuliches, Ausnahmepredigten und solide Kost, Langeweile ebenso wie Hochspannung. Wo Erwartungen sind, bleiben Enttäuschungen nicht aus.“680 Es bleibt weiter die Frage, woher und wie die Predigerinnen und Prediger die Kunst der Inszenierung lernen. Reicht da der Hinweis auf eine Pinnwand681 und auf ein Formular aus, auf dem man Titel und Mittel, Moves und Structure festhält? Ist es Kunst, wenn technische Begriffe aus dem Bereich Film übernommen werden: Jump cut682, Dissolve683? Martin Nicol offenbart sich als süchtig nach Zeitungslektüre, besonders nach dem „Streiflicht“, einer Kolumne der Süddeutschen Zeitung. Reißt seine Konzeption die deutsche Predigtkultur in eine wahrhaftige künstlerische Existenz, die auch vor den Kritikern der „Süddeutschen Zeitung“ bestehen kann? Schließlich müssen auch Regisseure ihre Kunst erlernen. Bleibt „dramaturgisch“ daher eine Worthülse? Zumal Kriterien nicht aufgeführt werden. Wer beurteilt die Qualität der Werkstücke? Bedauerlich ist, dass trotz der Abneigung Nicols gegen protestantische Geschwätzigkeit, er auf die Kurze Form der Predigt nicht eingeht – was als Gegenentwurf zur Geschwätzigkeit nahegelegen hätte! Zumal das „Streiflicht“ ein Beispiel für eine Kurze Form ist. Michael Meyer-Blanck684 schlägt aus der Perspektive des Liturgikers vor, den Gottesdienst analog zu einer Theateraufführung zu sehen, in der Verbindung von „Verheißung und Inszenierung“685. Der einzelne Gottesdienst ist Inszenierung, die Mitwirkenden sind Mitspieler, zugleich geschieht im Gottesdienst ein heilsamer therapeutischer Prozess, der die ganze Leiblichkeit des Menschen betrifft. Die Inszenierung ist dabei keine Vorführung, der die Gottesdienstbesucher zuschauen, sondern ein Ereignis, das ihre Persönlichkeit betrifft und berührt. Die Erneuerte Agende mit ihrer Beschreibung des Gottesdienstes in einem Viererschritt definiert Meyer-Blanck anthropologisch, der Mensch in seiner Geschichte und in seiner Leiblichkeit kommt im Gottesdienst vor. So erschließen sich die einzelnen liturgischen Schritte in einer neuen Intensität: ein für viele, besonders Jugendliche, lebensfernes Ritual wird in die geschichtliche und leibliche Lebenswirklichkeit eingetragen. Der Lebensrhythmus von Menschen findet sich im Rhythmus des Gottesdienstes und des Kirchenjahres wieder, das Kirchenjahr wird dabei zum Psychodrama, das Menschen heilvoll bewegt. 680 681 682 683 684 685

Martin Nicol, Einander ins Bild setzen, 54–55. Martin Nicol, a. a. O., 102. Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 103. Martin Nicol, Alexander Deeg, a. a. O., 104. Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997. Michael Meyer-Blanck, a. a. O., 18.

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Ertrag: Für die Kurze Form ist es anregend, nach einem Bild oder einem Symbol zu suchen, das Bilder im Kopf der Hörenden entstehen lässt und eine metaphorische Sprache zu benutzen, die Lust macht, mehr zu hören. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung ermutigt dazu, Freude zu haben an den eigenen Einfällen zum Bibeltext und daran, mit diesen Einfällen zu spielen und ihnen etwas zuzutrauen. Hier ist – auch kritisch – anzumerken, dass erst eine anspruchsvolle theologische Analyse, die eine differenzierte Sicht auf biblische Texte eröffnet, Elementarisierung ermöglicht. Dies ist zentral wichtig, um die Kurze Form der Predigt theologisch ansprechend zu gestalten und die Hörenden zu faszinieren. Eine solche Elementarisierung ist Kunst. Zugleich können sowohl die differenzierte theologische Wahrnehmung als auch die Elementarisierung spannend sein und neugierig machen – bieten also wichtige Voraussetzungen, um die Kurze Form zu gestalten. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung ermutigt dazu, sich vom eigenen Alltag und dem Alltag der Menschen bewegen zu lassen und dies in der Predigt abzubilden, sie regt dazu an, sich von Theater, Film und Literatur für die Predigt inspirieren zu lassen, zumal sich hier kurze Formen finden („moves“). Zeitungen bieten in Kolumnen Beispiele, wie die Kurze Form gestaltet werden kann. Das „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung bedient sich dabei regelmäßig des Stilmittels Humor. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung hilft, die Bedeutung von Inszenierungen für das eigene Leben zu entdecken, etwa indem sich die eigene Lebenswirklichkeit im Kirchenjahr gespiegelt findet. Sie schätzt das künstlerische Potential einer Predigt und ermutigt dazu, nach sprechenden Bildern zu suchen. Diese Perspektive entdeckt die Gleichnisse Jesu als Sprachschule. Im Anschluss an Roland Barthes hat sie Lust am Text, sowohl an dem der Bibel als auch an dem der eigenen Lebensgeschichte.

5.8.

Perspektive der Performanz

Sprache ist mehr als ein Zeichensystem und Informationsübermittlung, Sprache kann auch handeln. Diese Entdeckung der Sprachphilosophie hat Relevanz für die Praktische Theologie. Ein Segen ist mehr als eine Information, er ereignet sich im Moment der Zusage. Das Evangelium wird inszeniert.686Über den performativen Sprechakt hinaus geht die Betonung der Leiblichkeit der Botschaft. Der Gottesdienst ereignet sich in einem Raum, im Raum des eigenen Leibs, im Zusammenspiel mit anderen Menschen, die den Gottesdienst feiern, im Kirchen686 Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997.

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raum, verbindet Menschen zum Leib Christi. Das ist mehr als Kommunikation. Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann sprechen von „Einverleibung“687. Schon 1990 verweist Christian Bunners weitsichtig auf die Relevanz der Wahrnehmungsanalyse. Er betont: „Die in neuerer Psychoakustik betonte Organbezogenheit des Bewußtseins hat Analogien in Aussagen der Bibel. Nicht zuletzt ist Predigthören ein eminent sinnlicher Vorgang“688 und fordert: „Neben einer Organbezogenheit des Predigthörens ist in weiterem Sinne auch von einer Leibbezogenheit zu sprechen. Die Psychoakustik weist darauf hin durch Beobachtungen der vegetativen und körperlichen Abläufe, die sich beim Hören einstellen können (Atmungsvariation, Blutgefäßerweiterung, Frequenzänderung des Herzschlages, Haut- und Eingeweidereaktionen).“689 Treffend formuliert Bunners: „Die Organ- und Leibbezogenheit des Hörens läßt sich für das Predigthören auch als Realsymbol für eine Verbindung von Hören und Lebenspraxis ansehen, letztlich für die Vernetzung von Wort Gottes und Leben.“690 Harald Schroeter-Wittke691 untersucht zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Phänomen der Unterhaltung und stellt fest, dass nutritive, kommunikative und die Dimension des Amusements zusammenspielen müssen, damit Unterhaltung gelingen und „Subjekte ins Schweben, in Schwingung, in Bewegung“692 kommen. Dieser Schwebezustand ist ambivalent, sowohl heilsam und zugleich verunsichernd. Unterhaltung ist damit stets ambivalent, ein Zwischenraum, der die Subjekte in der Spannung „zwischen Erlebnis und Erfahrung“693 hält. Weil die Subjekte dadurch in Bewegung kommen, eröffnen sich neue Lebensmöglichkeiten. Gute Unterhaltung erweist sich dadurch, dass sie im Sinne einer fragmentarischen, offenen Identität identitätsstiftend wirkt. Abzulehnen sind Identifikationsangebote, die abgeschlossen sind oder die nicht angeboten, sondern aufgezwungen werden. Schroeter-Wittke entdeckt das Internet als Medium einer neuen Bibellektüre, die eine Theologie der Aszetik fördern könnte, die ins Christentum einübt, als Übung der Enthaltung, die zur Unterhaltung wird. Solche Übung wird auch körperorientiert sein. Eine Möglichkeit solcher Einübung ins Christentum wären interdisziplinär betreute Homepages, die eine Vielfalt des Bibelgebrauchs eröffnen. 687 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, 120. 688 Christian Bunners, Die Hörer. In: Handbuch der Predigt, Berlin 1990, 139. 689 Christian Bunners, a. a. O., 139–140. 690 Christian Bunners, a. a. O., 140. 691 Harald Schroeter-Wittke, Unterhaltung. Praktisch-theologische Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jahrhundert anhand der Figur Elia, Frankfurt 2000. 692 Harald Schroeter-Wittke, a. a. O., 19. 693 Harald Schroeter-Wittke, a. a. O., 21.

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Andrea Bieler694 fragt nach den somatischen Aspekten der Predigt und ihrer Performanz. Am Beispiel einer schwarzen Predigerin, die während des amerikanischen Bürgerkriegs durch ihre Predigt einer Gemeinde von Sklaven hilft, in ihren geschundenen und vergewaltigten Leibern die Schönheit Gottes zu erkennen, entwirft sie eine performative Homiletik, die leibhaftig wirkt. Predigt ist im dialogischen Geschehen „bewegtes Wort“695, wobei die biblischen Texte selbst in ihrer performativen Qualität erkannt werden. Für eine gelingende Performanz ist die Stimme wesentliche Voraussetzung, weil sie den Körper repräsentiert696 – gerade in ihrer Verletzlichkeit und Vergänglichkeit, die zugleich so mächtig wirken kann. Wenn Performanz gelingt, wenn die Predigerin dem Wort Gottes erlaubt, in ihrer Präsenz zu sprechen, dann kann sich Überraschung und heilvolle Verstörung ereignen. Andrea Bieler weist darauf hin, dass Predigt mehr als ein geschriebener Text ist und fragt nach den Dimensionen, in denen sich Predigt ereignet: Stimme, Rhythmus, Klang und Energie. Als hilfreiche Theorie erkennt sie die „Primal Pattern Theory“, die vier Energiemuster erkennen will, in denen Menschen sich bewegen: Thrust (Schubkraft), Hang (Relaxenergie), Shape (ordnende Energie) und Swing (schwingende Körperenergie).697 Bieler ordnet verschiedene Predigtund Predigerinnen-Typen diesen Energiemustern zu und lädt dazu ein, diese Energieformen wahrzunehmen und bewusst damit umzugehen, damit Menschen kinästhetische und energetische Gotteserfahrungen eröffnet werden können. Auch Thomas Klie698 betont die Performanz des Wortes und beklagt eine fehlende Kultur des Vorlesens biblischer Texte in evangelischen Gottesdiensten – Predigt ist „Lautung“699. Wenn Vorlesen gelingt, erkunden die Hörenden eine fremde Welt, sie beginnen eine innere Reise oder betreten ein unbekanntes Schloss. Raum- und Landschaftsmetaphern kennzeichnen das Hörgeschehen.700 „Der Text erschließt sich nicht durch lebensweltliche Aktualisierungen, sondern 694 Andrea Bieler, Das bewegte Wort. Auf dem Weg zu einer performativen Homiletik. In: Pth 95 (2006), 268–283. 695 Andrea Bieler, a. a. O., 270. 696 Andrea Bieler, a. a. O., 271. Vgl. Andrea Bieler, a. a. O., 268–283. 697 Andrea Bieler, a. a. O., 268–283. Vgl. Andrea Bieler, a. a. O., 279–281. 698 Thomas Klie, Passworte und Lesarten. Zur Performanz gottesdienstlicher Lektionen. In: Thomas Klie, Dietrich Korsch, Ulrike Wagner-Rau (Hg.), Differenz-Kompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, 303–314; Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003; Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Stuttgart 2010; Thomas Klie, Silke Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik, Stuttgart 2008; Silke Leonhard, Thomas Klie (Hg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig ²2006. 699 Thomas Klie, Fremde Heimat Liturgie, 89. 700 Thomas Klie, Passworte und Lesarten, 303–314.

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er öffnet sich dem gegenwärtigen Verstehen gerade durch das tentative Vertrautwerden mit der fremden Textwelt“701 – ein völlig gegensätzliches Verständnis zu der homiletischen Konzeption Ernst Langes. Dieses „tentative Vertrautwerden“ geschieht in konkreten Räumen, die wahrgenommen werden wollen und werden. Der Raum ist elementar wichtig für das Predigtgeschehen. Klier erinnert daran, dass Raummetaphern in unserer Sprache ebenso zentral sind wie in biblischen Texten.702 Silke Leonhard703 fragt nach der Leiblichkeit im Religionsunterricht und definiert sie als pädagogische Dimension, ihre Ergebnisse sind jedoch auch auf die Homiletik übertragbar bzw. Thema der Homiletik, denn sie beschäftigt sich mit dem leiblichen Raumaufbau und spürt Religion zwischen Lebensraum und Kirchenraum nach. Im Focusing, das lehrt, achtsam die Leibräumlichkeit des Lebens wahrzunehmen, entdeckt sie eine neue Wahrnehmungskunst für die Botschaften ihres Körpers und zugleich der Wahrnehmung von Religion. So wird der Leib als Tempel des Heiligen Geistes Resonanzraum für Gott und Welt erkannt. In einer gesellschaftlichen Situation, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinanderklafft, nehmen Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann704 diejenigen wahr, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und von Teilhabe ausgeschlossen werden: die „Überflüssigen“. Die Predigt für diese Menschen gewinnt in der Performanz leibliche Gestalt als Wort Gottes, das Raum- und Leiberfahrungen erschließt und räumliche, energetische, leibliche und wirtschaftliche Dimensionen hat. Dieser homiletische Entwurf nimmt die gesellschaftspolitische Lage wahr und versucht, den Sprachlosen und der Sprache Beraubten durch das Wort Gottes Würde und eine ganzheitliche, den Leib berührende Sprache zu schenken. Ertrag: Die Perspektive der Performanz lehrt, dass sich das Evangelium leibhaftig ereignet in der Kommunikation von Menschen, die in ihrem Leib sind. Sie zeigt, dass sich die Botschaft im Sprechgeschehen ereignet und unterstreicht, welche Kraft Worte entfalten können. Sie entwirft eine leibliche Sprechakttheorie. Sie regt die Predigenden an, sich anrühren zu lassen von der Gabe des Leibes, der ein Geschenk Gottes ist und noch in seiner Gebrochenheit die Schönheit Gottes und seine Liebe widerspiegelt. Die Perspektive der Performanz betont die Relevanz von Raumerfahrungen, sowohl im eigenen Leib als auch in der Begegnung mit den Körpern der anderen Menschen; sie beschreibt Raumerfahrungen in Kir701 Thomas Klie, a. a. O., 313. 702 Vgl. Thomas Klie, Fremde Heimat Liturgie, 91–92. 703 Silke Leonhard, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs, Stuttgart 2006. 704 Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, a. a. O., 270.

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chenräumen und in Texten, die wie Räume sein können. Sie weist darauf hin, dass sich alles gegenseitig beeinflusst und lehrt wahrzunehmen, dass Sprache andere bewegen kann und zeigt auf, was dafür nötig ist. Wesentlich ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ein besonderes Augenmerk gilt den Menschen, die in dieser Wirklichkeit an den Rand gedrängt werden. Das heilvolle Potential der Botschaft wird entdeckt. Predigende können lernen, dass sie sich in einer lebendigen Spannung befinden und dass sich auch darin Gottes Zusage ereignet. Für die Kurze Form ist darauf zu achten, dass die Predigt wie ein Raum ist, den Menschen gerne betreten mögen. Möglicherweise sind Raummetaphern hierfür hilfreich, dies müssen die Predigenden je und je überprüfen. Predigende sollten um die Kraft von Worten wissen und überlegen, was ihre Worte anderen Menschen zusagen und eröffnen, versagen und abschneiden. Sie sollten Menschen in ihrem ganzen Leib vor sich sehen, wenn sie ihre Predigt entwerfen. Die Perspektive der Performanz leitet dazu an, mit dem eigenen Leib der Botschaft nicht im Wege zu stehen.

5.9.

Perspektive der Rundfunkhomiletik

Siegfried Krückeberg bietet einen sorgfältigen und umfassenden Überblick über die homiletische Reflexion der kleinen Form – jedenfalls, soweit er homiletische Reflexionen finden kann, denn die mediale Verkündigung wird in den homiletischen Standardwerken fast völlig ignoriert, wahrscheinlich, weil sie innerhalb der Praktischen Theologie lediglich als „Randthema“ gesehen wird.705 Das Verdienst Krückebergs liegt auch darin, umfassend die gesamte europäische Literatur gesichtet zu haben. So zitiert er die treffende Beobachtung des Norwegers Olav Skjevesland, der, wahrscheinlich im Anschluss an Merkel, meint, „dass diese ‚stiefmütterliche Behandlung‘ schon für die Kurzform der Andacht gelte. Dies habe seine Ursache vermutlich darin, (dass) Andachten ursprünglich in einem eher privaten, häuslichen Rahmen gehalten wurden, und zweitens habe man innerhalb der Praktischen Theologie wohl angenommen, dass mit einer allgemeinen Predigttheorie auch das ‚Andachtsproblem‘ zu lösen sei.“706 Auch Lucie Panzer bestätigt die Forschungslücke und stellt fest, dass „es keine eigene Rundfunkhomiletik zu geben scheint“707. Sie wählt deshalb den Weg der praxisorientierten Anwenderorientierung und bietet viele Hinweise und Hin705 Vgl. Siegfried Krückeberg, Die Hörfunkarbeit evangelischer Kirchen in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Erlangen 2008, 258. 706 Siegfried Krückeberg, a. a. O., 258. 707 Lucie Panzer, Den Glauben ins Gespräch bringen. Verkündigung im Rundfunk als Mitteilung von Erfahrungen, Freiburg im Breisgau 2012, 310.

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tergrundinformationen, z. B. eine Analyse der Zielgruppen mit Hilfe der SinusMilieus. Lucie Panzer setzt sich kritisch mit der Definition von Predigt als Kunstwerk auseinander.708 Eine Ausnahme bildet eine Darstellung aus katholischer Sicht709, die eine trinitarische Grundkonzeption als Umriss einer künftigen Rundfunkhomiletik vorschlägt. Problematisch erscheint die Zielrichtung dieser Konzeption. David Hober will den christlichen Glauben „wiederbeleben“, er will bei den Hörerinnen und Hörern durch klare Position einen „Richtungsstoß auslösen“ und „privatisierte Problemlösungen“ vermeiden.710 Dies klingt nicht nach einer Konzeption, die es den Hörenden zutraut, eine eigene Entscheidung zu treffen. Ob die Hörenden sich dann darüber freuen, dass ihnen keine privatisierten, sondern zentrale Problemlösungen angeboten werden, ist darüber hinaus fraglich. Die Konzeption erweckt nicht den Eindruck, die Hörenden auf Augenhöhe wahrzunehmen. Manfred Josuttis711 gebührt das Verdienst, sich als Herausgeber verschiedener Beiträge als erster grundsätzlich mit der Verkündigung im Rundfunk auseinanderzusetzen – immerhin 40 Jahre nach der ersten kirchlichen Verkündigung im Rundfunk. Die Beiträge beleuchten die Probleme der Rundfunkhomiletik aus der Perspektive und oft auch in der Sprache der 1960er Jahre, gehen aber auf die Probleme der Kurzen Form nicht ein und entwerfen auch keine Homiletik der Kurzen Form. Heute wirken vor allem die Ausführungen von Wilhelm Schmidt teilweise wie eine unfreiwillige Karikatur, zeigen jedoch zugleich, wie schwer sich die Praktische Theologie mit den Anforderungen an eine hörergerechte Sprache der Predigt lange getan hat. Wilhelm Schmidt sieht die Kürze als Thema, wenn auch bei ihm Kürze 15 Minuten bedeutet, was aber sicher im Vergleich zur üblichen Länge damaliger Predigten eher kurz bedeutet. Schmidt möchte sich durch die vielfältigen Formen von Rundfunkbeiträgen nicht irritieren lassen. Dialogische Formen lehnt er ab. Er fordert, dass die Rundfunkansprache verbindliche Rede sein muss, die die Hörenden „anleitet“ und „fördert“, und schreibt: „Die verbindlichste Rede und die, die am unbefangensten aufgenommen werden kann, ist die Rede eines Professors. Sie ist an der Sache orientiert und mutet dem Hörer zu, sich der Sache zuzuwenden. Sie bemüht sich, mit klaren Sätzen dem Hörer 708 Panzer fordert „Handwerk statt Kunstwerk“ und begründet ihre Forderung damit, dass sich ein Kunstwerk „nicht unter sprachpragmatischen und rhetorischen Gesichtspunkten überprüfen und ggf. korrigieren“ lässt. Lucie Panzer, a. a. O., 161. 709 David Hober, Die Radiopredigt. Ein Beitrag zur Rundfunkhomiletik, Stuttgart, Berlin, Köln 1996. 710 Vgl. David Hober, a. a. O., 204. 711 Manfred Josuttis (Hg.), Beiträge zu einer Rundfunkhomiletik, München 1967.

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etwas mitzuteilen. Diese Rede ist erst in zweiter Linie am Hörer orientiert.“712 Ganz offensichtlich ist Schmidt an einer Kommunikation auf Augenhöhe nicht interessiert. Friedrich Baumgärtel unterscheidet zwischen Predigt und Anrede713und hält eine Rundfunkpredigt im Grunde für unmöglich. Zu Recht erkennt er die Relevanz biblischer Bilder und Begriffswelten, die den Hörenden im Gemeindegottesdienst vertraut, den Zuhörenden am Radio jedoch fremd sein können.714. Baumgärtel sieht einen Ausweg: „Ist so die Verkündigung des Evangeliums durch die Funkpredigt nicht möglich, so bleibt nur die christliche ‚Anrede‘. Hier weiten sich die Möglichkeiten, weitet sich der Zuhörerkreis.“715 Das Misstrauen gegenüber der Rundfunkpredigt zieht sich z. T. bis in das 21. Jahrhundert, etwa bei Wilm Sanders. Die tiefverwurzelte Skepsis der Theologie gegenüber dem Medium spiegelt sich schon in der Eingangsdefinition von Sanders, die strikt den Begriff Radio- oder Fernsehgottesdienst zurückweist, da ein Gottesdienst immer Veranstaltung der Kirche und einer konkreten Gemeinde sei.716 Sanders behauptet einen fundamentalen Unterschied zwischen der tätigen Teilnahme am Gottesdienst und der medialen Beteiligung und hinterfragt den Sinn medialer Gottesdienstübertragung.717 Damit kann Sanders die besonderen Bedingungen und Chancen einer Rundfunkhomiletik nicht erkennen – ebenso wenig wird die Besonderheit der Kurzen Form gewürdigt, die in diesem Zusammenhang immer wieder stattfindet. Drei Jahrzehnte nach seinen ersten grundsätzlichen Überlegungen steht Manfred Josuttis718 der Kurzen Form im Radio skeptisch gegenüber. Wenn Rundfunkandachten nur noch ein oder zwei Minuten dauern, drohen sie im Kontext von Unterhaltung verortet zu werden. Mit der zunehmenden zeitlichen 712 Wilhelm Schmidt, Überlegungen zur geistlichen Ansprache im Rundfunk. In: Manfred Josuttis (Hg.), a. a. O., 165–166. 713 David Hober, a. a. O., 67, kritisiert zutreffend: „Dabei unterscheidet er zwischen Predigt im gottesdienstlichen Verständnis und christlicher Anrede. Letzterer räumt er für den Rundfunk eindeutig Priorität ein, ohne jedoch das Spezifikum der von ihm intendierten christlichen Anrede gegenüber der herkömmlichen Predigt ausreichend deutlich zu machen.“ 714 Vgl. Friedrich Baumgärtel, Religion und Kirche im Rundfunk. In: Manfred Josuttis (Hg.), a. a. O., 18. 715 Baumgärtel, a. a. O., 20. 716 Vgl. Wilm Sanders, Gottesdienstübertragungen im Rundfunk – Hörfunk und Fernsehen. In: Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Michael Meyer-Blanck, Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 929. 717 Vgl. Wilm Sanders, a. a. O., 929. 718 Manfred Josuttis, Unterhaltsam von Gott reden? Gesetz und Evangelium in der Rundfunkverkündigung. In: Manfred Josuttis, Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit, Gütersloh 1995, 82–93.

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Beschränkung steigt die Gefahr der Banalisierung. Er sieht in der Kurzform nur eine Reduktion und kann keine Chance der kurzen Form erkennen, zumal in der Kurzen Form keine grundsätzlichen Lebenskonflikte thematisiert werden und die grundsätzliche Ambivalenz des Lebens in drei Minuten nicht abgebildet werden können. Dennoch gibt es die Chance einer theologischen Legitimierung, indem die Rundfunkandachten abseits des Rituals im Kairos verortet werden, also im eschatologischen Augenblick. Vorbild ist hier Jesus selbst, der in Kurzen Formen, die nicht länger als drei Minuten dauern, mit Segens- und Weherufen, in Gleichnissen und Sprüchen gesprochen hat. Jesus nimmt dabei die Lebenswirklichkeit der Menschen wahr und erzählt mit lebendigen Beispielen im Horizont dieser Wirklichkeit vom Reich Gottes. Er tut dies unterhaltsam und in angenehmer Sprache, der Menschen gerne zuhören. Josuttis entdeckt religionsgeschichtliche Parallelen zu dieser Rede im „erfüllten Augenblick“719 im Mantra oder im Haiku und weist in Bezug auf das Haiku auf die Strenge der Form und ihre Begrenzung hin. Er zitiert ein Haiku als Beispiel: „Ein alter Weiher. Ein Frosch plumpst in ihn hinein. Geräusch des Wassers.“720 Er folgert: „Wenn man dem nachsinnt, hat man etwas vom Leben verstanden.“721 Kritisch ist anzumerken: Selbst wenn man tatsächlich durch Nachsinnen über diesen Haiku viel vom Leben verstehen sollte, was ich nicht glaube, bleibt fraglich, ob ausgerechnet in einer der kürzesten Gedichtformen ein Vorbild für die Kurze Form der Predigt liegen kann. Haben die Hörenden dieses Haiku tatsächlich Zeit, über den Haiku nachzusinnen? Können sie die Worte beim ersten Hören behalten? Grundsätzlich scheinen mir Gedichte nicht als Beispiel-Form für die Kurze Form geeignet zu sein, weil Poesie aufs äußerste konzentrierte, verdichtete Sprache ist. Hörende haben nicht die Chance, während der Predigt nachzulesen. Wie Roland Barthes, der vom punctum fasziniert ist, erkennt Josuttis: „Eher wird das Widerborstige Aufmerksamkeit erregen, das Fragen aufreißt, das ins Nachdenken führt.“722. Viele Arbeiten zur Rundfunkhomiletik sammeln praktische Hinweise, so etwa Horst Albrecht723, der eine sehr umfassende und zugleich etwas unübersichtliche Zusammenstellung von Kriterien und praktischen Hinweise bietet. Eine eigene homiletische Konzeption ist jedoch nicht zu erkennen. Johanna Haberer setzt sich in vielen Veröffentlichungen mit der Verkündigung in den elektronischen Medien auseinander. Sie greift den Begriff der Relevanz auf, der damit wiederholt in der homiletischen Debatte auftaucht: „Die 719 720 721 722 723

Manfred Josuttis, a. a. O., 87. Manfred Josuttis, a. a. O., 87. Manfred Josuttis, a. a. O., 87. Manfred Josuttis, a. a. O., 91. Horst Albrecht, Christus hinter Sprachbarrieren, Stuttgart 1974.

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Relevanz eines Sachverhalts, einer Aussage, einer Person, eines Ereignisses bezieht sich dabei auf unterschiedliche und wechselnde Parameter. Ein Sachverhalt ist also nie aus sich heraus bedeutsam, sondern immer in Bezug auf etwas anderes.“724 Charlotte Magin und Helmut Schwier werten ihre langjährige Erfahrung mit ZDF-Gottesdiensten für die gottesdienstliche Praxis aus. In den aufgeführten Beispielgottesdiensten erscheint die Predigt de facto als Kurze Form, da sie nie länger als 6 Minuten, in der Regel jedoch in noch kürzere Segmente von 1 bis 4 Minuten unterteilt ist. Die Autoren schlagen eine Planung der Predigt nach Sinneinheiten vor. Diese Sinneinheiten sind ebenfalls Beispiele für die Kurze Form, zumal viele der aufgeführten Sinneinheiten auch unabhängig von den anderen Sinneinheiten verstanden werden können. Die aufgeführten praktischen Hinweise, „Regeln zur Verständlichkeit“725 (Schreiben Sie so, wie Sie sprechen würden! Lassen Sie hören, was sie zu sagen haben! Der Predigthörer soll sich nichts merken müssen! Das Verb gehört nach vorn! Nominalstil meiden! Keine Angst vor Anhängern! Zentrale Begriffe wiederholen! Wiederholung schafft Verständlichkeit! Immer wieder zusammenfassen! Aktiv ist besser als Passiv! Bejahung ist verständlicher als doppelte Verneinung! Wörter der Umgangssprache sind verständlicher als Fachbegriffe! Modalverben sind fast immer verzichtbar – ebenso alle überflüssigen Füllwörter! Sprechakte müssen klar sein! „Man“ und „wir“ sind meist unklar oder vereinnahmend. „Ich“ ist besser! Ironie auf der Kanzel versteht niemand! Rhetorische Fragen erzeugen weniger Spannung als der Redner denkt!) sind sinnvolle Gestaltungshinweise für die Kurze Form. Durch die in Kapitel 3 geschilderten Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Perspektive werden diese Forderungen unterstrichen. Die Wiederholung von Begriffen etwa ist ein Priming. Die Zusammenfassung hilft dem Gedächtnis, die neuen Informationen zu speichern. Die Autoren zeigen am Beispiel eines Fernsehgottesdienstes zum 60. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs eindrücklich, dass gottesdienstliches Handeln emotional und zugleich intellektuell sein darf. Die homiletische Reflexion dieses gottesdienstlichen Geschehens726 zeigt, wie fruchtbar die Perspektive der Performanz in die Rundfunkhomiletik eingebracht werden kann. Die Performanz des Gottesdienstes, die auf die Gesamtpersönlichkeit des Menschen zielt, eröffnet einen Raum, in dem Gott und Mensch sich begegnen. „Solche Begegnungen sind riskant wie beglückend – oder 724 Johanna Haberer, Die Predigt in publizistischer Perspektive, Evangelische Theologie 5 (1966), 358. 725 Charlotte Magin, Helmut Schwier, Kanzel, Kreuz und Kamera. Impulse für Gottesdienst und Predigt, Leipzig 2005, 117–118. 726 Charlotte Magin, Helmut Schwier, Der Schrei nach Versöhnung. In: Kristian Fechtner, Thomas Klie (Hg.), Riskante Liturgien – Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011, 59–66.

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in der Sprache der Tradition formuliert: sie lassen Vergebung der Sünde, Leben und Seligkeit wirklich werden.“727 Ertrag: Die Perspektive der Rundfunkhomiletik vermittelt viele praktische Hinweise für die Kurze Form. Predigende sollten auf Verbalisierung achten, lange Sätze vermeiden und nach aussagekräftigen Bildern suchen. Sie sollten immer wieder zusammenfassen, was sie sagen wollen, und die Sprache der Menschen sprechen. Die Perspektive der Rundfunkhomiletik leitet dazu an, sich in der Predigt mit Gesellschaft, Kultur und Alltag auseinanderzusetzen und dazu Relevantes zu sagen. Dabei sollte eine verständliche Sprache gesprochen werden. Diese Perspektive ermutigt dazu, widerborstig zu sein und Fragen aufzuwerfen. Sie vermeidet es, banale Wahrheiten zu artikulieren und ist achtsam für den Kairos, den erfüllten Augenblick.

5.10. Fazit Für die Gestaltung der Kurzen Form sind Hinweise aus der homiletischen Debatte hilfreich, obwohl diese Debatte kaum explizite Aussagen zur Kurzen Form bietet. Diese wenigen Aussagen in den Ausführungen zur Andacht konnten einzelne Anregungen bieten. Ratzmann und Merkel verweisen auf die Faktoren Prägnanz, Überraschung und Unterbrechung und sehen die Chance der Unabgeschlossenheit der Andacht. Die Kurze Form wird in ihrer Besonderheit nicht als Reduktion, sondern als spezifische Möglichkeit erkannt. Als Herausforderung wird die gesellschaftliche Aktualität der Andacht benannt. Verschiedene Perspektiven der homiletischen Diskussion (Krise, Vermittlung, Ästhetik, Semiotik, Rhetorik, Dramaturgie/Inszenierung, Performanz und Rundfunk) habe ich im Blick auf Impulse zur Gestaltung der Kurzen Form untersucht. Hier – aber auch an Wilhelm Gräb, den ich mit seinem letzten homiletischen Entwurf in die Perspektive der Rhetorik einordne, oder Manfred Josuttis, der in der Perspektive der Rhetorik und bei der rundfunkhomiletischen Perspektive vorkommt, oder Helmut Schwier, der ebenfalls rundfunkhomiletische und vermittelnde Perspektiven aufweist – zeigt sich, dass Homiletik tatsächlich keine abgeschlossene Debatte ist, sondern ein Gespräch auf einem Weg, bei dem die Gesprächspartner sich jeweils neue Perspektiven eröffnen. Die Perspektive der Krise unterstreicht, dass sich die Predigt nicht im Elfenbeinturm, sondern in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit ereignet, 727 Charlotte Magin, Helmut Schwier, a. a. O., 66.

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zugleich wird die notwendige theologische Unterscheidung von Mensch und Gott betont. Die Perspektive der Krise unterstreicht das Problem, von Gott reden zu müssen und um die Unmöglichkeit dieses Vorhabens zu wissen. Sie will sich nicht mit Banalitäten abfinden und fragt nach dem Wesentlichen. Die Perspektive der Krise hat sich mit literarischen Formen beschäftigt und dabei auf den Essay als inspirierende literarische Kunstform für die Predigt hingewiesen. Die Perspektive der Krise fordert gesellschaftspolitische Wachheit. Die Kurze Form, die sich am Traktat orientiert, bietet sich besonders dafür an, sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen. Sie beschreibt das Für und Wider der Argumentation, bereitet eine Entscheidung vor und bietet Lösungsmöglichkeiten an. Die Perspektive der Vermittlung ist Anwältin der Hörenden und fragt nach der Relevanz der Predigt für die persönliche Sinn- und Lebensdeutung von Menschen, sie fordert eine sorgfältige sprachliche Gestaltung. Die Kurze Form ist in diesem Kontext auch deshalb angemessen, weil sie den Hörgewohnheiten von Menschen entgegenkommt, die es nicht gewohnt sind, einer längeren Rede zuzuhören. Die Perspektive der Vermittlung ermutigt die Predigenden, trotz der Kürze der Form interdisziplinäre Weite zu kultivieren. Die Perspektive der Ästhetik leitet im Blick auf die Kurze Form dazu an, dass dem Bedürfnis nach ästhetischer Unterbrechung Rechnung getragen wird. Im Anschluss an Roland Barthes werden für die Kurze Form Blitz, Unterbrechung und Störung als Gestaltungsmomente entdeckt. Treffende Metaphern und Symbole können den Text vertiefen und verdichten und Sinn erschließen. Voraussetzung dafür ist allerdings eine sorgfältige und differenzierte theologische Analyse. Die Perspektive der Semiotik greift mit dem Begriff „Leerstelle“ einen Begriff aus der Rezeptionsästhetik auf. Fehlende Informationen im Text, Brüche, Übergänge, Auslassungen, die die Lesenden mit eigenen Vorstellungen füllen müssen, sind keine Fehler im Text, sondern eröffnen den Lesenden Möglichkeiten, sich den Text aktiv anzueignen. Diese Leerstellen können ihren Platz auch und gerade in der Kurzen Form der Predigt haben. Menschliche Existenz ist fragmentarisch. Die Kurze Form bildet dies ab, sie ist schon von ihrem Umfang her nie vollständig. Selbst wenn sie in der geschlossenen Form des Traktats formuliert wird, bleibt ihre Argumentation lückenhaft. Die homiletische Debatte zeigt, dass diese Unabgeschlossenheit eine Chance bedeutet. Die Kurze Form kann schon von der Form her keine Vollständigkeit anstreben, die Perspektive der Semiotik zeigt mit ihren Überlegungen zur Leerstelle, dass dies kein Defizit ist, sondern eine Bereicherung. Umgekehrt heißt das, diese Chance zu achten, auch in der Kürze offen zu bleiben und mit dem Auredit der Hörenden zu rechnen.

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Die Perspektive der Rhetorik konzentriert sich auf den Text der Predigt. Sie lehrt die Kurze Form der Predigt, dass die Predigt eine Rede ist, die in ihrer Kürze sorgfältig aufgebaut und strukturiert sein will, indem sie die Gesetze sprachlicher Kunstwerke kennt. Drama, Lyrik und Epik helfen durch ihr Beispiel, die Kurze Form spannend, performativ wortgewaltig und narrativ zu gestalten. Anfang und Ende benötigen in der Kurzen Form besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt die Perspektive der Rhetorik hilfreiche Hinweise, wie eine Rede begonnen und abgeschlossen werden kann, etwa in der als Traktat gestalteten Form als exordium und als conclusio. Während der Perspektive der Ästhetik ethische Fragen etwas aus dem Blick geraten, sind sie der Perspektive der Rhetorik ein Anliegen. Die als Traktat gestaltete und rhetorisch geschliffene Kurze Form ist bestens dafür geeignet, um ethische Fragen und gesellschaftspolitische Themen gut auch in einem begrenzten Rahmen darzustellen und zu behandeln und das Für und Wider so abzuwägen, dass sich die Hörenden ein eigenständiges Urteil bilden und Entscheidungen treffen können, weil ein klarer Aufbau Argumente ordnet. Eine klare und geschmackvolle Sprache macht die Predigt verständlich. Die Perspektive der Rhetorik ermutigt, die Besonderheit des Essay wahrzunehmen, nämlich seine Liebe zum Fragment und seinen Verzicht auf wissenschaftliche Absicherung, gefasst in geschliffene und verständliche Sprache. Die am Essay geschulte Kurze Form redet über das, was die Predigenden selbst ganz persönlich angesprochen hat. Nicht zuletzt: Die Predigt darf durch ihre performative Kraft, durch sprachliche Schönheit, sorgfältige rhetorische Gestaltung und theologisch verantwortete Inhalte im besten Sinne erbauen und Leib und Seele gut tun. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung regt dazu an, sich von Theater, Film und Literatur für die Predigt inspirieren zu lassen. Martin Nicol und Alexander Deeg haben in diesem Zusammenhang von „Moves“ gesprochen. „Moves“ sind kurze Einheiten, die entsprechend für die Kurze Form inspirierend sind. Die Perspektive der Dramaturgie möchte, dass durch die Predigt ein „Kino im Kopf“ entsteht. Dafür ist eine nicht begriffliche, sondern metaphorische Sprache hilfreich. Deshalb regt die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung an, nach sprachlichen Bildern und Symbolen zu suchen, die dieses Kino im Kopf der Hörenden entstehen lassen. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung legt ein Augenmerk auf die Alltagserfahrungen von Menschen, um dies in der Predigt abzubilden. Für die Kurze Form der Predigt, die sich am Essay orientiert, bedeutet das, nach Alltagserfahrungen zu suchen, die bestechen und berühren. Für die Kurze Form, die sich am Traktat orientiert, bedeutet das, Alltagserfahrungen prägnant darzustellen und in den Argumentationsaufbau einzufügen. Die Perspektive der Dramaturgie und Inszenierung wünscht sich Predigende, die Lust („Brio“ – Roland Barthes) an ihrem eigenen Text haben, weil sich diese Lust auf die Hörenden überträgt. Die Bibel ist für die Perspektive der

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Dramaturgie und Inszenierung eine Sprachschule, die Gleichnisse Jesu lehren, wie metaphorische Sprache in einem Kurzen Text eingesetzt werden kann. Die Perspektive der Performanz lehrt, dass sich das Evangelium leibhaftig im Sprechgeschehen ereignet, dass Sprache handeln kann und mehr ist als ein Zeichensystem und Informationsübermittlung. Überraschende und neue Erfahrungen werden nicht erst durch begriffliche Interaktionen oder Sachinformationen zugänglich, sondern ereignen sich im Akt des Sprechens und Hörens. Ein Segen etwa besteht in der Regel aus wenigen Sätzen und ist doch ein höchst wirksamer performativer Sprechakt, er verwirklicht sich im Moment der Zusage. Die Inszenierung des Evangeliums geschieht im Raum der Kirche und im Raum des Leibes und in der Gemeinschaft der Feiernden als Einverleibung. Menschen werden in der Inszenierung des Evangeliums zum Leib Christi verbunden – das ist mehr als Kommunikation. Für die Kurze Form ist das insofern bedeutsam, als die Kürze der Wirkmächtigkeit von Worten nicht entgegensteht. Im Gegenteil kann die Kürze die Prägnanz des Zugesagten noch unterstreichen, weil sie sich nicht in der Länge verliert. Über den performativen Sprechakt hinaus geht die Betonung der Leiblichkeit der Botschaft des Evangeliums.728 Die Leiberfahrung ist die erste und wichtigste Erfahrung des Menschen, mit dieser Erfahrung betreten Menschen Räume und auch Texte. Für die Kurze Form bedeutet dass, nach Raummetaphern zu suchen, die es Menschen erleichtern, sich auf die Predigt einzulassen. Die Kurze Form wird darauf achten, dass die Predigt durch ihre sorgfältige sprachliche Gestaltung wie ein Raum ist, den Menschen gerne betreten mögen. Die Performanz der Rechtfertigungsverheißung betrifft die Wahrnehmung der Lebenslage und Lebensführungsmöglichkeiten von Menschen. Die Perspektive der Performanz hat deshalb ein besonderes Augenmerk auf die Leidenden und Ausgegrenzten, also auf die Menschen, die in der Gesellschaft keine oder wenige Partizipationsmöglichkeiten haben. Performanz ist mehr als ein reflexives Nachdenken über Rechtfertigung. Die Rechtfertigungsverheißung teilt sich im Moment des Zuspruchs mit und ereignet sich. Die Perspektive der Rundfunkhomiletik vermittelt wichtige praktische Hinweise für die Kurze Form. Die Hinweise aus den Perspektiven werden in die Homiletik der Kurzen Form (III.1.) einfließen.

728 Die Perspektive der Performanz mit ihrer Betonung des Leibs hat sich noch nicht mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft auseinandergesetzt, was jedoch eine sinnvolle Erweiterung dieser Perspektive ist.

III.

Schlussfolgerungen

1.

Homiletik der Kurzen Form

Ich habe versucht, die homiletische Lücke zu schließen und eine Theorie der Kurzen Form zu entwickeln, die zugleich auch praxistauglich ist. Im Unterschied zu Arbeiten zur Rundfunkhomiletik, die sich vorwiegend auf praktische Hinweise beschränken und eher einen journalistischen Schwerpunkt haben, will ich eine Homiletik der Kurzen Form bieten. Dabei ist für mich ein interdisziplinärer Ansatz wichtig. Biologische, psychologische und neurowissenschaftliche Forschungen haben Erkenntnisse über menschliches Lernen, über Emotionen, soziales Verhalten und Sinneswahrnehmungen hervorgebracht und bieten aus ihrer jeweiligen Perspektive und Tradition wertvolle Informationen. Dazu kommen Hinweise aus der Literaturwissenschaft zu kurzen literarischen Textsorten. Dabei zeigt sich, dass die einzelnen Abschnitte vielfältige Beziehungen untereinander aufweisen. So können in den Gleichnissen Jesu, die eine paradigmatische biblische Kurze Form sind, essayistische Züge entdeckt werden. Essays haben, genau wie Gleichnisse, ein „punctum“. Für die Interpretation des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter ist es wichtig zu wissen, dass Rassismus biologische Wurzeln hat und zugleich kulturell geprägt und erlernt wird, dass Spiegelneuronen im Gehirn zwar Empathie ermöglichen, dass allerdings diese Empathiefähigkeit auch blockiert werden kann, wenn ein Mensch als Feind eingeordnet wird, und dass Menschen an Notleidenden vorbeisehen, wenn ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge oder Aufgaben fokussiert ist – sogar dann, wenn sie unmittelbar zuvor über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nachgedacht haben. In der Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Perspektive habe ich als literarische kurze Textsorten Traktat, Essay und Aufzeichnung herausgearbeitet. Während der Traktat klassisch mit der Predigt verbunden ist, ist der Essay von homiletischen Perspektiven zwar gesehen und gewürdigt, doch nicht

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Schlussfolgerungen

als Form für die Predigt1 in Erwägung gezogen worden.2 Aber gerade der Essay erweist sich mit seiner Betonung der essayistischen Existenz und seiner nichthierarchischen Form, die auf Augenhöhe kommuniziert, als wertvolle und grundlegende Inspiration. Die Aufzeichnung ist in der Folge des Essays eine moderne Textsorte, die das Unabgeschlossene, das auch den Essay kennzeichnet, noch betont. Selbstverständlich sind die Hinweise zum kreativen Schreiben, die zur Erstellung einer Aufzeichnung, beispielsweise durch Ortheil3, gegeben werden, durchaus praktisch und haben eine Nähe zu den praktischen Hinweisen, die auch ein Journalistenhandbuch4 oder eine theologische Überlegung zur Radiopredigt5 bieten. Ortheils Begründung ist jedoch nicht funktional, sondern literarisch. Es geht in der Homiletik der Kurzen Form nicht um „Rezepte“, die man ausprobieren kann („so macht man das“). Das ist schon deshalb nicht möglich, weil die eigene Biographie der Predigerin und des Predigers mit einbezogen ist und sie bzw. er sich mit dem eigenen konkreten Leben einbringt. Diese privaten Erfahrungen werden aufgenommen. Auch wenn sie nicht explizit genannt werden, verdichten und vertiefen sie die Predigt. Es ist nicht möglich, essayistisch zu predigen, und von der eigenen Person zu abstrahieren. Damit kommt das Ich der Predigenden ins Spiel.6

1 Rudolf Bohren sieht ihn wegen seines fragmentarischen Charakters als „angemessene Form der Predigtlehre“. Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 41980, 54. 2 Abgesehen von einer kurzen Anmerkung im Internet durch Karsten Dittmann in http://www. homilia.de. Allerdings sind die Schritte, die Dittmann zum Verfassen eines Essay angibt, merkwürdig nahe am Traktat und erschließen gerade nicht die Bedeutung der essayistischen Existenz und die Architektur eines essayistischen Textes: „1. Stell eine Frage 2. Stell eine These auf (keine Larifari-These, sondern eine, die etwas aussagt). 3. Schreib eine Einführung, die deine These enthält 4. Gib drei Gründe für die Wahrheit deiner These an (Hauptgründe und unterstützende Überlegungen) 5. Schreib eine Schlussfolgerung“ Karsten Dittmann, Fünf Schritte zum Essay. In: homilia.de, posted 29. 5. 2011. http://www.homilia.de/2011/05/funfschritte-zum-essay/. Zugriff 06. 12. 2013. 3 Hanns-Josef Ortheil, Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, Mannheim 2012. 4 Etwa Walther von La Roche, Axel Buchholz (Hg.), Radio-Journalismus. Ein Handbuch für die Ausbildung und Praxis im Hörfunk, Berlin 92009. 5 Etwa Lucie Panzer, Den Glauben ins Gespräch bringen, Freiburg 2012. 6 „Das Ich des Predigers wahrt den demokratischen und dialogischen Charakter der Predigt. Man hat der monologischen Kanzelrede in den letzten Jahren mit einem gewissen Recht vorgeworfen, sie stelle eine einlinige und autoritäre Kommunikationsform dar… Demokratisch wird eine Predigt, die auf objektivierte Deus-dixit-Sätze verzichtet, weil erst auf dieser Basis ihre Aussagen diskussionsfähig werden. Und dialogisch wird sie deswegen, weil nicht das verallgemeinernde Wir, sondern erst das Ich zur Antwort mit einer eigenen Ich-Aussage einlädt. Gegen den Pfarrer, der Wir sagt, kann ein mündiger Predigthörer nur aufbegehren und protestieren. Gegenüber einem Pfarrer, der Ich sagt, wird der Hörer überlegen, was er in dieser Hinsicht als eigenes Ich zu bemerken hat.“ Manfred Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion: Grundprobleme der praktischen Theologie, München 1983, 83.

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Der Essay ist „das Versprechen auf ein Surplus an Erfahrung, die erotische Spannungslage zwischen Denken und Form in einer existentiellen Entscheidungsszene.“7 Essayistische Predigten sprechen den ganzen Menschen an – hier sind die Gleichnisse Vorbild, die ebenfalls die Sinnlichkeit des Menschen ansprechen. Essayistisch predigen bedeutet auch, sich der eigenen Sterblichkeit, des eigenen Todes bewusst zu sein. Mit Henning Luther8 ist daran zu erinnern, dass Identität Fragment ist und die Begrenztheit des Lebens eine Chance für das eigene Leben. Der eigene, persönliche Blick ist ein vergänglicher Blick. Das macht demütig, zugleich bettet es die essayistisch Predigenden ein in eine Wirklichkeit, die den Tod überwunden hat – und schenkt die Anmaßung der sich geliebt Wissenden, Leben und Liebe teilen zu wollen.9 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse eröffnen spannende Einblicke auf die Art und Weise, wie Jesus durch seine Gleichnisse die Menschen seiner Zeit faszinieren konnte und was uns heute noch an diesen Gleichnissen fasziniert. Selbstverständlich ist schon vorher klar gewesen, dass eine aufregende Geschichte Lust macht, mehr zu erfahren. Doch es ist hilfreich zu wissen, auf welche Aspekte der Geschichte Menschen besonders reagieren. Die Gleichnisse Jesu sind so geschickt aufgebaut, dass ihm seine Zuhörerinnen und Zuhörer an den Lippen hängen mussten. Als Bereicherung für die Homiletik erweist sich die neurowissenschaftliche Erforschung des Belohnungssystems von Neuronen. Eine gute Predigt kann durchaus zu einer Dopaminausschüttung führen, wenn sie überraschende, neue Lebensmöglichkeiten eröffnet oder einen Bezug zwischen biblischer Botschaft und aktueller Lebenssituation zeigt. Die Neurowissenschaften zeigen, dass Menschen besonders gut lernen, wenn sie emotional betroffen sind. „Anders als im Computer ereignen sich Prozesse im Gehirn deshalb, weil sie lebensweltlich relevant sind, und nicht, um Informationen als solche zu verarbeiten.“10 Es ist für Predigerinnen und Prediger wichtig zu wissen, dass im Gehirn nur das, was im aktuellen Kontext relevant ist, sinnesphysiologisch erfasst, dem Bewusstsein zugesandt, bewertet und schließlich erinnert oder in das Handeln einbezogen wird. Wenn eine Predigt einen Überraschungsmoment enthält, der über das Erwartete hinausgeht, dann werden beim Hören große Hirngebiete angesprochen, es können „Bilder im Kopf“ entstehen und die Neuronen feuern Dopamin. Weil die Lust im Moment des Zugreifens auf das begehrte Objekt am 7 Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, 23. 8 Henning Luther, Religion und Alltag, Stuttgart 1992. 9 Dies könnte im Blick auf die Kurze Form der Predigt im Horizont der theologia crucis weitergedacht werden. 10 Andreas Draguhn, Das Verhältnis von Emotion und Kognition aus Sicht der Hirnforschung. In: Siegried Höfling, Felix Tretter (Hg.), Homo Neurobiologicus. Ist der Mensch nur sein Gehirn? München 2013, 56.

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Schlussfolgerungen

größten ist, kann die Kurze Form der Predigt getrost die Kürze gestalten: Es kommt auf das Begehren an, nicht darauf, satt zu werden. Bilder im Kopf entstehen durch symbolische Kommunikation.11 Die Neurowissenschaften weisen auf die enorme Bedeutung symbolischer Kommunikation für den evolutionären Fortschritt hin. Die Bibel hat zentrale Symbole auf Gott hin gedeutet und kommuniziert symbolisch, z. B. durch Abendmahl und Taufe in rituellen Vollzügen. Für das Christentum gilt dabei, dass das Wort Fleisch wurde – eine Betonung der Leiblichkeit der Botschaft. „Zum einen gehört Natur zu unserem leiblichen Selbstsein… Zum anderen realisiert sich die Natur des Leibes nur durch Zwischenleiblichkeit und Intersubjektivität; das aber heißt, die menschliche Natur ist phylogenetisch wie ontogenetisch nicht ohne ihre Einbettung in die menschliche Kultur zu begreifen… Der Mensch ist… eine durch leibliche Sozialität vermittelte Einheit von Natur und Geist.“12 Mit fünf Sinnen erfassen Menschen ihre Umwelt, verknüpfen die Informationen in höheren Hirnregionen mit Erfahrungen zu komplexen Eindrücken. Unsere Sprache spiegelt die Sinneseindrücke wider. Der Hinweis darauf, dass Sinneszellen voneinander Informationen bekommen (Intermodale Verrechnung), unterstreicht die enge Verbindung aller Sinneseindrücke, Verbindungen in der Großhirnrinde ziehen von einer kortikalen Zelle zu einer anderen kortikalen Zelle. Diese Erkenntnis macht sich das Marketing zunutze – warum nicht auch die Predigt? Die Kürze steht diesen Vollzügen nicht im Wege – im Gegenteil! Die Kurze Form der Predigt kommt den Hörern entgegen und entspricht menschlichen Möglichkeiten. Sie ist als Form menschenfreundlich. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass niemand einem neuen Stoff für mehr als fünf Minuten konzentriert zuhören kann. Das Arbeitsgedächtnis muss dann Gelegenheit haben, das Gehörte oder Gelesene vorläufig zusammenzubinden und in das Zwischengedächtnis abzulegen. Andernfalls ‚schiebt‘ die neue Information die alte aus dem Arbeitsgedächtnis heraus.13 11 „Für die Möglichkeit, heute ‚Ich‘ zu sein, werden biblische Gestaltungen und auch theologische Überlegungen wirksam in machtvollen inneren Bildern: Sie helfen, sich von keiner politischen und ökonomischen Macht und keiner Bedrohung im Innersten verängstigen zu lassen und die Freude des Lebendigseins, aber auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Verteilung sozialer und ökologischer Lebenschancen heute wahrzunehmen. Innere Bilder bleiben nur dann wirksam, wenn sie sozial eingebettet sind und in Lebensvollzügen lebbar werden.“ Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, 200–201. 12 Thomas Fuchs, Verkörperung, Sozialität und Kultur. In: Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs, Grit Schwarzkopf (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg 2013, 30. 13 Gerhard Roth, Neuronen in der Schule. Wie das Gehirn lernt. SWR 2 Aula vom 19. 7. 2011. swr. de/-/id=8002092/property=download/nid=660374/1fc642e/swr2-wissen-20110619.pdf. Zugriff 06. 12. 2013, 8.

Homiletik der Kurzen Form

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Menschen lernen, dass sie sind und wer sie sind in der sozialen und kulturellen Gemeinschaft, zu der sie gehören. Sie prüfen, ob andere Menschen zu ihrer eigenen Gemeinschaft gehören oder nicht. Voraussetzung dafür, dass eine Predigt überhaupt gehört wird, ist, dass die Predigende oder der Prediger als glaubwürdig eingeschätzt werden. In wenigen Augenblicken wird in der Amygdala und in der limbischen Großhirnrinde die Vertrauenswürdigkeit abgeschätzt – der berühmte „erste Eindruck“. Wichtig ist dabei auch die Prosodie, also die Sprachmelodie eines Menschen. Elementar Biologisches hat also entscheidende Auswirkungen auf die Kommunikation. Weil Menschen soziale Wesen sind und ihr Gedächtnis ein autobiographisches Gedächtnis ist, erzählen sie Geschichten und sind darauf angewiesen, dass ihnen Geschichten erzählt werden.14 Wenn Jesus von glücklichen Ereignissen wie einer Hochzeit oder einem Festmahl, einem gefundenen Schatz oder einer wiedergefundenen Münze spricht, dann aktiviert er durch diese Erzählungen positive Erinnerungen bei Menschen und damit Aktivitäten in ihren Gehirnregionen. Während glücklicher Erinnerungen geschieht eine erhöhte Aktivität in präfrontalen und subkortikalen Regionen. Durch die Beteiligung des Thalamus während glücklicher Erinnerung werden auch sensorische Informationen mit einbezogen. Die Kurze Form der Predigt wird gerade bei Kasualien gefordert und begleitet und prägt damit glückliche persönliche Erinnerungen oder lässt – selbst bei einem traurigen Anlass wie einer Beerdigung – auch schöne Erinnerungen an einen geliebten Menschen aufleben. Jesus verknüpft positive Erinnerungen mit Vorstellungen vom Himmel. Wie eine solche Verknüpfung wirkt, wird durch die sogenannte „Hebb’sche Regel“ erläutert. Sie beschreibt, dass im Gehirn Assoziationen gespeichert werden und gleichzeitige Aktivität von Nervenzellen Zellensembles zusammenbindet, so dass am Ende die Erwähnung einer Assoziation das ganze Ensemble aktiviert. Homiletisch ist wichtig, dass stimmige Bilder, die verschiedene Sinneseindrücke ansprechen, größere Areale unseres Gehirns ansprechen und später umfassender erinnert werden. Umgekehrt stören unstimmige Bilder.15 Weil Jesus positive Ereignisse immer wieder mit dem Reich Gottes gleichsetzt, können Menschen sich „Bilder vom Himmel“ machen.

14 Vgl. dazu auch Stephan Müller-Kracht, der „Telling stories“ als wesentlichen Bestandteil medientauglichen Erzählens beschreibt: Stephan Müller-Kracht, Qualität und Quote. In: Deutsches Pfarrerblatt 4 (2013), 232–235. 15 „Die heutige Predigt leidet nicht an Gedankenreichtum, sondern an Gedankenarmut. Sie leidet nicht einmal an Bildarmut, sondern an Bildinflation, d. h. an Bildern, die nichts wert sind. Wir brauchen durchdachte Bilder, die dazu inspirieren, neue Gedanken und Bilder zu entwickeln.“ Gerd Theißen, Predigen in Bildern und Gleichnissen. Metapher, Symbol und Mythos als Poesie des Heiligen. In: Evangelische Theologie 66, 2006, 356.

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Schlussfolgerungen

Aus der homiletischen Diskussion können – obwohl sie sich zur Kurzen Form kaum äußert – vielfältige Anregungen gewonnen werden. Die verschiedenen Perspektiven der Diskussion weisen immer wieder auf Roland Barthes hin. Seine Lust am Text, der Hinweis auf den Nullpunkt, an dem eine besondere Dynamik entsteht, die Erfahrung des Bruchs, die Unterbrechung, die zu einer Wollust am Text führt und einer erotischen Spannung, betonen, wie wichtig ein überraschender Einfall in der Predigt ist. Die Predigt muss einen Bruch mit gewohnten Sichtweisen bieten. Der Fokus der homiletischen Diskussion wechselt immer wieder zwischen Text, Predigenden und Hörenden. Darüber hinaus wird zunehmend eine Demokratisierung des Predigtgeschehens relevant, Hörende sind nicht mehr passiv Empfangende der Botschaft, sondern gestalten und bestimmen das Predigtgeschehen. Solche Predigten sind nicht unbedingt angenehm. Auch das „punctum“ ist nicht nur wohltuend bestechend. Es kann wehtun, wenn lieb gewordene Seh- und Denkstrukturen hinterfragt werden. Der rezeptionsästhetische Begriff der Leerstelle zeigt die Chance der Unabgeschlossenheit der Kurzen Form auf. Diese Unabgeschlossenheit ist nicht defizitär, da es gerade die Leerstellen sind, die die Hörenden zum aktiven Einsetzen eigener Sinnkonstruktionen einladen. Relevanz ist eine Forderung, die sich ebenfalls durch die verschiedenen Perspektiven der homiletischen Diskussion zieht. Diese Relevanz zeigt sich in der Bedeutung, die die Hörenden einer Predigt zumessen, aber auch in der theologischen Aufrichtigkeit der biblischen Botschaft gegenüber. Relevanz erweist sich auch in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedingungen, die Predigenden sind als wache Zeitgenossen gefordert. Interdisziplinäres Denken fordern ebenfalls viele Perspektiven der Homiletik. Hier hat Helmut Schwier, gemeinsam mit Sieghard Gall, methodisch neue Wege beschritten und mit naturwissenschaftlichen Methoden16 Hörerreaktionen auf Predigten untersucht. Als Ergebnis hält er fest, dass Predigten einen Lebensbezug haben müssen, lebendig und verständlich, prägnant und nicht länger als 15 Minuten sein sollten und den Hörenden eine Gratifikation durch lebenspraktische, geistige, theologische und spirituelle Impulse geben sollten.17 Man könnte einwenden, dass diese Einschätzung auch ohne REACTOSCOPE-Verfahren und ohne Heidelberger Studien zur Predigtforschung getroffen werden könnte. Es ist jedoch ein großer Unterschied, ob eine solide Untersuchung zu diesen 16 Dem REACTOSCOPE-Verfahren, einer Darstellung von Reaktionen auf von einer Reizquelle ausgehende Reize. Vgl. Helmut Schwier, Sieghard Gall, Predigt Hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption. Berlin 2008 und Sieghard Gall, Helmut Schwier, Predigt hören im konfessionellen Vergleich, Berlin 2013. 17 Vgl. Helmut Schwiers forschungsgeschichtlicher Überblick zu Untersuchungen zur Predigtrezeption. In: Sieghard Gall, Helmut Schwier, a. a. O., 15–16.

Homiletik der Kurzen Form

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Schlussfolgerungen kommt oder ob es sich um bloße Annahmen handelt. Das Verdienst der Untersuchung von Gall und Schwier ist es, die von Schwier formulierten vier Bestimmungen einer guten Predigt und die damit verbundenen theologischen Aufgaben durch Untersuchungsergebnisse belegen zu können. Immer wieder wird betont, wie wichtig die Sprache für die Predigt ist. Durchgehend wird – aus der jeweiligen Perspektive – auf die bildhafte Sprache, etwa in Metapher, Symbol, Gleichnis, als der Predigt besonders angemessene Sprache hingewiesen. Sprache wird in ihrer performativen Kraft entdeckt, die Perspektive der Performanz weist auf die Leiblichkeit hin. In der Schönheit, aber auch in der Gebrochenheit menschlicher Körper zeigt sich die Liebe Gottes und seine Schönheit. Diese Beobachtungen vertiefen sich durch die Beachtung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Wesentlich für eine gelungene Kurze Form sind die genaue Beobachtung und die präzise Umsetzung in Sprache. Dabei wird die Kürze nicht als Manko, sondern als Chance begriffen. Schließlich kommt auch die Freude an der Gestaltung, an Einfällen, das Spielerisch-Leichte durch die Perspektiven in den Blick. Menschenleben hat auch diese Dimension und es ist wichtig, dass sich das in der Predigt spiegeln darf. Als entscheidend für die Kurze Form der Predigt werden von mir neun Ansprüche an eine Kurze Form der Predigt erarbeitet, die dazu beitragen, „die „Sache der Texte“ neu wahr(zu)nehmen und zu einer Predigt an(zu)leiten, die durchaus etwas zu verstehen und zu begreifen gibt.“18 1. Die Biographie der Predigerin bzw. des Predigers verdichtet und vertieft die Predigt. Es ist nicht möglich, essayistisch zu predigen und von der eigenen Person zu abstrahieren. 2. Die Predigt – auch die am Traktat ausgerichtete – ist auf einen Diskurs angelegt. 3. Die Predigenden lassen sich überraschen und predigen überraschend. Sie wagen die Unterbrechung wahrzunehmen und die darin entstehende Spannung. 4. Die Predigenden teilen das, was sie besticht, ihr persönliches „punctum“, mit den Hörenden. 5. Predigende schulen ihre Beobachtung, um treffend beschreiben zu können, was sie wahrnehmen. 6. Predigende schulen ihre Sprache, weil sie um die Bedeutung korrekter Sprache und um die Faszination schöner Sprache wissen. Sie können sprachlich variieren. Ihre Sprache ist präzise.

18 Helmut Schwier, Gott wagen. Praktisch-theologische Perspektiven zum Gespräch der theologischen Disziplinen, in: Paul Metzger (Hg.), Die Konfession Jesu, BenshH 112, Göttingen 2012, 87.

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Schlussfolgerungen

7. Die Predigt verspricht ein „Surplus an Erfahrung“, so dass die Hörenden neugierig werden und den Hörprozess als Belohnung erfahren. Die Predigt darf spannend und humorvoll sein. 8. Predigende schätzen die Begrenzung als Chance und wissen, dass die Kurze Form die elaborierte Form ist. Sie müssen nicht alles auf einmal sagen und wissen zu gewichten und auszuwählen. 9. Die Predigt ist aktuell, die Predigenden sind politisch wache Zeitgenossen. Zwar erweist sich die Auseinandersetzung mit literarischer Kunst (dazu zähle ich auch die Gleichnisse) als wegweisend für die Kurze Form der Predigt, an die Kurze Form der Predigt wird jedoch nicht der Anspruch gestellt, selbst Kunst zu sein. Selbstverständlich ist es möglich, dass einzelne kurze Predigten tatsächlich künstlerischen Ansprüchen standhalten, dies ist jedoch nicht Voraussetzung. Entscheidend ist dagegen für eine Kurze Form der Predigt, die essayistisch sein will, die grundlegende essayistische Haltung der Predigerin und des Predigers. Ohne essayistische Haltung gibt es keine essayistische Predigt. Dies gilt auch für die kurze Form der Aufzeichnung. Diese essayistische Haltung ist zugleich spirituell. Das bedeutet, dass für jede Predigerin und jeden Prediger eine geistliche Existenz vorausgesetzt wird. Essayistisch predigen kann man nicht aus der Distanz, nicht leib- und lieblos und mit hierarchischem Gefälle. Deshalb ist der essayistischen Predigt eine bildungsbürgerliche Attitüde fremd, aber auch jede Selbststilisierung. Essayistisch zu predigen fordert die gesamte Persönlichkeit. Deshalb ist die entsprechende Haltung Schlüssel für die Kurze Form der Predigt.

Szenen aus dem Alltag

2.

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Szenen aus dem Alltag

Eine fiktive Beschreibung einer Arbeitswoche einer Pfarrerin soll nun zeigen, wie sich die erarbeitete Homiletik der Kurzen Form in die Praxis einfügt. Ich wähle hierfür die narrative Form, weil sich die vielfältigen Aufgaben im Gemeindepfarramt, bei denen die Kurze Form angefragt ist, erzählend anschaulicher als etwa im Raster eines Stundenplans darstellen lassen. Die Homiletik der Kurzen Form wird die Pfarrerin und den Pfarrer nicht auf die essayistische Predigt festlegen. Es ist stets möglich – und manchmal auch notwendig, Kurzpredigten anders, etwa als Traktat, zu formen. Ein Pfarrhaus, an einem schwülen Julimorgen. Die Ortspfarrerin sitzt an ihrem Schreibtisch und will eine Rundfunkandacht schreiben, ihr stehen knapp drei Minuten zur Verfügung. Sie hat schon die lokale Zeitung und heute auch einmal die Süddeutsche gelesen, ihre Morgenmeditation absolviert und lässt die Erfahrungen der letzten Woche Revue passieren. Spontan fällt ihr das Bibelwort vom falschen und rechten Sorgen ein. Sie denkt an den gestrigen Abendspaziergang mit dem Liebsten und wie sehr sie beide den Geruch nach Sommer und die schönen Sommerblumen auf dem Feld bewundert haben. Ein kostbarer Tag ist das gewesen. Ihre Gedanken führen sie in das Universitätsklinikum. Vor dem Spaziergang war sie dort, ein Krankenbesuch bei einer Frau aus ihrer Gemeinde. Es war sehr heiß im Krankenzimmer in einem oberen Stockwerk des Gebäudes, die Patientin rang nach Luft und Leben, die Aussicht aus dem Fenster war zwar schön, aber die Genesungsaussichten sind schlecht. Jeder Tag mit der Familie wird ab sofort ein Geschenk sein. Die Ortspfarrerin schreibt. Sie hat nicht die Absicht, ein Kunstwerk zu schaffen. Sie ist keine Schriftstellerin. Was sie will, ist: Ihre Berührtheit teilen mit den Menschen, die ihr zuhören werden, morgens beim Kaffeetrinken oder auf dem Weg zur Arbeit. Dazu muss sie ihr Herz öffnen für andere, es wagen, ihre Freude und ihre Gleichgültigkeit, ihre Sehnsucht und ihre Scham wildfremden Menschen weiterzusagen. Das ist nicht einfach. Sie weiß: Es gibt Tage, da ist es ihr nicht möglich, da muss sie sich selbst schützen und kann nicht so persönlich werden. Dann wählt sie Themen, über die sie mit einer für sie dann heilvollen Distanz reden kann. Wenn es ihr, mutig, gelingt, persönlich zu werden, erzählt sie von ihren Gedanken, so wie sie einem Freund oder einer Freundin erzählen würde – oder Gott. Sie versteckt sich nicht hinter Gedichten oder Szenen, die sie nicht erlebt hat. Sie erfindet nichts. Eine Gratwanderung ist zu meistern. Sie will ohne Schere im Kopf schreiben, ohne moralische oder politisch-korrekte Vorinstanz und zugleich geschmackvoll bleiben. Wenn sie alles aufgeschrieben hat, überprüft sie daher ihre Sprache. Sie möchte nicht, dass die Hörerinnen und Hörer durch

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Schlussfolgerungen

inadäquate Ausdrücke, fehlerhafte Grammatik oder Syntax abgelenkt werden von dem, was sie ihnen mitteilen möchte. Wichtig ist ihr, passende Metaphern zu finden. Sie weiß, dass Menschen bildhaft denken. Sie sagt das Persönliche, das ist sehr viel, für jeden Satz steht sie mit ihrer Existenz gerade. Und sie wagt den Sprung in die Aktualität. Die Zeitungslektüre hilft tatsächlich: Welche Sorgen werden da artikuliert? Klingt das Bibelwort auch im gesellschaftspolitischen Zusammenhang? Eine Schriftstellerin ist sie nicht. Auch keine Regisseurin. Sie geht gerne ins Kino, aber sie weiß, dass das Kino sehr anspruchsvoll ist für die Gehirne der Menschen, da im Kino Bilder parallel kommen und damit ein großer Informationsgehalt parallel auf das Gehirn einwirkt. Auditorisch kann man nur sequentiell in der Zeit wahrnehmen, also eins nach dem anderen, und das müssen Hörerinnen und Hörer sich selbstständig zusammenbauen. Deshalb ist Hören aktiver als einen Film zu sehen – und das schätzt die Pfarrerin. Der Glaube kommt aus dem Hören (Röm 10,17). Die Pfarrerin weiß, dass sie in ihrer Predigt sinnliche Wahrnehmungen ansprechen kann, die dabei zugleich andere Sinneswahrnehmungen aktivieren, da die einzelnen Areale im Gehirn, die Sinneswahrnehmungen verarbeiten, nicht direkt, sondern vermittelt über andere Areale aktiviert werden. Bei der Aufnahme wird sie auf ihre Sprachmelodie achten. Sie kennt neurowissenschaftliche Untersuchungen zur Prosodie, also zur Sprachmelodie, nach der Menschen die Glaubwürdigkeit einer Person auch vom Klang ihrer Worte abhängig machen. Von ihrer Art zu sprechen, den Pausen, ihrem Sprechrhythmus und ihrer Intonation hängt mit ab, ob ihr die Menschen glauben, was sie sagen wird. Wenn sie sich schon vergleichen soll, dann am ehesten mit einer Architektin, die ein Haus aus Sätzen baut, in dem sich Menschen umschauen können und sehen, ob sie sich in dem einen oder anderen Zimmer wohlfühlen oder zumindest eine Zeit lang sein möchten. Beim Bau muss die Statik stimmen. Auch ein Text hat eine Architektur – sogar ein so persönlicher wie der, den sie gerade schreibt. Das ist nicht der klassische Aufbau des Traktats, auch nicht der Dreischritt, den man ihr im Theologischen Seminar damals beigebracht hat. Es ist ein essayistischer Text. Sie kann ihn schreiben, weil sie eine essayistische Existenz wagt. Sie erzählt ihre Beobachtungen, so wie sie es bei Montaigne und Lord Bacon kennen gelernt hat, sie teilt das, was sie trifft, so wie es ihr Roland Barthes19 gezeigt hat, und sie traut sich eine prophetische Stimme zu, das hat sie bei Walter Benjamin20 bewundert. „Erst lesen. Dann schreiben“21: das war für sie ein hilf19 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt 1989. 20 Walter Benjamin, Einbahnstraße, Frankfurt 1955. 21 Stephan Porombka, Olaf Kutzmutz (Hg.), Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister, München 2007.

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reiches Buch und zugleich ein Programm, ebenso wie der Hinweis, das eigene Beobachten mit Hilfe eines strukturierten Tagebuchs zu schulen. Sie hat deshalb Peter Handke22 gelesen. Ihre Variationsfähigkeit übt sie mit Raymond Queneau23. Am nächsten Tag steht eine Beerdigung an. Die Pfarrerin ordnet ihre Aufzeichnungen, die sie nach dem Gespräch verfasst hat. Angeregt ist sie heute durch Hanns-Josef Ortheils Bemerkungen zur Aufzeichnung. „Schreiben dicht am Leben“ heißt sein Buch24, und sie findet, genau darum geht es bei einer Beerdigung. Sie hat nicht den Anspruch, das ganze Leben des Verstorbenen wiederzugeben. Sie wird in ihrer Predigt, für die sie dank der städtischen Vorschriften über den Benutzungszeitraum der Trauerhalle knapp 5 Minuten Zeit hat, ihre Notizen mit der Trauergemeinde teilen. Sie hat sich darin geübt, Emotionen und Passionen zu notieren, in ihren Notizen zu portraitieren und zu erinnern. Sie weiß, welche kortikalen Auswirkungen die Erinnerung an positive und negative Ereignisse bei Menschen haben. Sie ist präzise und schwafelt nicht und findet biblische Metaphern, die zu dem Leben des Verstorbenen passen. Sie bietet ihren Hörerinnen und Hörern Bilder an, aber sie zwingt sie ihnen nicht auf. Sie hat sich darin geübt, die Kürze zu würdigen. Auch das Leben ist nicht unendlich, sondern begrenzt. Gerade darin liegt seine Schönheit, denkt sie manchmal. Sie bewertet nicht, sie präsentiert der Trauergemeinde ihre Gedanken, die biblische Bilder mit den Bildern aus der Lebensgeschichte des Verstorbenen verflechten, und regt dadurch die Menschen an, eigene Erinnerungen zu ergänzen. Am Dienstag findet der Schulanfänger-Gottesdienst statt. Länger als eine halbe Stunde soll der Gottesdienst nicht dauern, die Schülerinnen und Schüler müssen nach dem Gottesdienst noch zur Feier in die Aula der Schule. Neben den Eltern nehmen an dem Gottesdienst auch Großeltern und Geschwisterkinder, Paten und Lehrkräfte teil. Die Pfarrerin weiß, dass Menschen sich selbst belohnen und dabei eine Dopaminausschüttung im Gehirn geschieht. Sie begreift den gelungenen Schulanfang als eine „höhere Belohnung“, bei dem ein Spagat zu meistern ist zwischen der bisherigen Geborgenheit und dem Risiko, in eine fremde, unbekannte Umgebung einzutreten. Sie weiß um die Kraft von positiven Erinnerungen und nutzt dies in ihrer kurzen Predigt. Sie hat ein Sensorium für die performative Kraft von Segenshandlungen. Am Mittwoch muss sie ein Grußwort anlässlich der Einweihung der Solaranlage auf dem Dach der örtlichen Turnhalle halten. Der Vorstandsvorsitzende der Solarfirma, die Bürgermeisterin und der Vorstand der Turngemeinde sind ebenso anwesend wie zahlreiche Vereinsmitglieder und die Presse. Die Pfarrerin sichtet, was sie theologisch zum Thema Sport und Sonne findet. Hier geht es nicht 22 Z.B. Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal, Frankfurt 1979. 23 Raymond Queneau, Stilübungen, Frankfurt 1990, 2007. 24 Hanns-Josef Ortheil, Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, Mannheim 2012.

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Schlussfolgerungen

darum, ihre Berührtheit mit dem Vorstandsvorsitzenden zu teilen oder ihre Gefühle angesichts einer Solaranlage wahrzunehmen. Sie ist als Repräsentantin der Kirche anwesend. Deshalb entwirft sie einen kurzen Traktat über das Thema: „Was hält Leib und Seele zusammen“. Die Sonne deutet sie dabei als Symbol für spirituelle Energie und sie erzählt davon, dass Paulus den Wettkampf im Stadion kannte und schätzte. Sie spricht frei, denn sie hat sich die einzelnen Teile ihres Traktats gut eingeprägt. Die Anekdote, die sie am Anfang über ihre eigenen sportlichen (Miss)erfolge erzählt, lockert die Zuhörer auf, das merkt sie – und das war ja auch die Absicht. Ihr Schlusssatz ist so prägnant formuliert, dass die Pressevertreter mühelos mitschreiben können. Am nächsten Tag ist sie mit diesem Satz in der Überschrift des Artikels zitiert. Sie ist nicht Bischöfin – wäre sie es, müsste sie öfter die Kurze Form als Traktat gestalten. Kirchenleitendes Handeln verlangt nach klaren Thesen. Reden in leitenden Funktionen verträgt auch das Gefälle, die der Traktat immer hat. Denn der Traktat setzt die Autorität der Sprechenden voraus, er belehrt, auch wenn er – nach-aufklärerisch – den Hörerinnen und Hörern eine eigene Meinung zugesteht und keine „ewigen Wahrheiten“ mehr verkündet. Bei einer Bischöfin oder einem Bischof erwartet man Autorität, das ist rollengemäß. Die Pfarrerin wählt gern die Form des Traktats, wenn sie ethische Themen in ihren kurzen Predigten behandelt. Sie findet, dass seine klare Argumentationsstruktur dazu passt. Das waren Szenen aus der pfarramtlichen Arbeitswoche. Die Kurze Form der Predigt wird – auch wenn eine Pfarrerin oder ein Pfarrer nicht in der Rundfunkarbeit tätig ist – ständig gefordert. Eine Form, die aus universitär-homiletischer Perspektive ein Nischendasein gefristet hat, ist in der pastoralen Praxis schon lange ins Zentrum gerückt. Darüber hinaus gibt die Kurze Form wertvolle Impulse auch für die lange Form der Predigt.25

25 Charlotte Magin und Helmut Schwier zeigen, dass die Predigten bei Fernsehgottesdiensten meistens in Sinneinheiten eingeteilt sind – also im Grunde aus der Verbindung verschiedener kurzer Predigten bestehen, die auch unabhängig voneinander einen Sinn ergeben können. Oft werden diese Sinneinheiten deutlich durch musikalische Programmpunkte als Unterbrechungen markiert. Vgl. Charlotte Magin, Helmut Schwier, Kanzel, Kreuz und Kamera. Impulse für Gottesdienst und Predigt, Leipzig 2005.

Zwei praktische Umsetzungen

3.

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Zwei praktische Umsetzungen

Die folgenden beiden Kurzen Formen der Predigt sollen zeigen, zu welchen Ergebnissen meine Überlegungen praktisch führen können. Die erste Predigt ist eine Liedpredigt in der Adventszeit, die zweite eine Bestattungsansprache. Für eine Adventspredigt habe ich mich entschieden, weil gerade in der Adventszeit häufig im Kontext von Weihnachtsfeiern die Kurze Form der Predigt angefragt wird. Für die Kasualie Bestattung habe ich mich entschieden, weil die kirchliche Bestattung die häufigste Kasualie ist, die zugleich – vor allem im städtischen Kontext – am strengsten zeitlicher Limitierung unterliegt.

3.1.

Eine Adventspredigt

Angela Rinn Leiblichkeit Der Advent singt in sinnlichen Liedern von der Ankunft des Gotteskindes SWR 2 – Wort zum Tag 09. 12. 201326 „O Heiland reiß die Himmel auf“ – ich denke sehr in Bildern und dieses Adventslied ist voller Bilder, die ich mir immer gut vorstellen konnte. Als Kind habe ich mir vorgestellt, dass der Heiland mit einem Reißverschluss den Himmel aufreißt. Irritiert hat mich bei diesem schönen Adventslied allerdings der Satz: O Gott ein Tau vom Himmel gieß, im Tau herab o Heiland fließ. Tau, der steht morgens tropfig auf Grashalmen, ich habe ihn aber – 5 im Gegensatz zu Regen – noch nie vom Himmel fließen sehen. Bis mich mal jemand darüber aufgeklärt hat, dass mit Tau in diesem Fall der Same Gottes gemeint ist. In der Tat: Samen ergießt sich, und im Fall des Adventslieds leuchtet es dann natürlich ein, dass in diesem Tau der Heiland vom Himmel herab fließen kann. Offenbar dachte auch der Dichter des Adventslieds sehr bildhaft, mit einer Freude an der Leiblichkeit, die mich 10 berührt. Kein Wunder, dass sich diese alten Adventslieder so einprägen. Das sind keine abstrakten theologischen Vorlesungen, das ist keine dogmatische Wissensvermittlung. Wovon die Adventslieder singen und erzählen, das ist mir vertraut, das ist mein Körper, das sind meine Sinne, mein Fleisch und Blut. Und das ist meine Welt, in der ich lebe, die Erde, die Blumen hervorbringt, mit Berg und Tal, mit Sonne und Sternen. Da reißt der Himmel 15 auf, wie ich es auch kenne, wenn an einem düsteren Tag plötzlich die Wolken aufreißen und die Sonne sich strahlend in die Welt ergießt. Wie schön, dass Gott Mensch geworden ist mitten in unserer wunderschönen, zugleich so gefährdeten und zerrissenen Welt und wir in unserer menschlichen Leiblichkeit und in der Schöpfung Bilder für Gottes Gnade und Liebe finden dürfen. 20 26 http://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&sendung=5&archiv&w=2013–12-09. Zugriff 09. 01. 2014.

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Schlussfolgerungen

In dieser Adventszeit möchte ich mich mit Leib und Seele, mit meinem ganzen Sein auf Gott freuen, mit jedem Atemzug, mit jeder Umarmung, aber auch in den Schwächen meines Körpers, mit meinen Narben und Falten. Ich möchte an Gott denken, wenn ein Sonnenstrahl den Winterhimmel erhellt und wenn Sterne abends am Himmel strahlen. 25 Wenn Gott leibhaftig Mensch wird, dann ist unser Körper sein kostbares Geschenk, das uns, sowohl als Geschenk als auch als Bürde, hinweist auf ihn. Denn auch dem Krippenkind blieben, erwachsen geworden, körperliche Schmerzen nicht erspart. Gerade das unterscheidet ihn ja von den Göttern der Antike, die nur scheinbar Menschen waren, nie jedoch wirklich Menschenleben teilten. 30 Mit Leib und Seele Advent feiern, mit der Last und der Freude, die mein Leib für mich bedeutet – ich wünsche mir, dass dann der Himmel aufreißt. Für mich. Für uns alle.

Diese Liedpredigt ist essayistisch angelegt. Die Predigerin schildert eigene Beobachtungen und Erlebnisse (1–7) und lädt die Hörenden ein, mit eigenen Erfahrungen anzuknüpfen. Überraschend ist die Auslegung zu „Tau“ (7–9). Durch die Gleichsetzung Tau – Samen (7) wird die Aufmerksamkeit der Hörenden provoziert. Diese Gleichsetzung ist zugleich das „punctum“ der Predigt und eröffnet die Überlegungen zur Leiblichkeit (ab 10), die in ihren schwierigen und beglückenden Dimensionen geschildert werden (21–26). Die eigene Biographie der Predigenden kommt in der Schilderung der persönlichen Erfahrungen mit dem Lied (2–7) und in der Beschreibung der Leiblichkeit (21–26) zum Ausdruck, die mit den Bildern des Lieds verbunden werden. Die Hörenden werden angeregt, in ihrer eigenen Leiblichkeit mit allen Sinnen Advent zu entdecken – ein überraschender, ein Surplus an Erfahrung versprechender Gedanke (30–31). Gesellschaftspolitische Anklänge bietet der Hinweis auf die gefährdete und zerrissene Weltsituation (18), die mit der Vergänglichkeit und Gefährdung des menschlichen Lebens in Beziehung gesetzt wird (17–20): Menschliches Leben ereignet sich im Kontext der Welt.

3.2.

Eine Kasualpredigt

Trotz aller Veränderungen, die die „Spätmoderne“27 mit sich gebracht hat, sind die Erwartungen an die Kirche anlässlich einer Beerdigung hoch. Das Ritual soll trösten, ohne zu vertrösten.28 Zuspruch, Deutung, Stärkung und Verwandlung 27 Kristian Fechtner sieht Kasualien im Kontext der Spätmoderne und beschreibt die Chancen der Kirche in der Gestaltung des Passagerituals Beerdigung. Vgl. Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Er unterstreicht die Bedeutung von „Beobachtungsgabe und Deutungskraft“ (a. a. O., 15.) Fechtner zitiert Walter Benjamin „nur was trifft, trifft auch zu“, um zu betonen, dass aus der Perspektive der Menschen, die den Kasualgottesdienst feiern, erst die subjektive Plausibilität die religiösen Handlungen bewahrheiten (vgl. a. a. O., 31). Die Nähe zum „punctum“ Roland Barthes ist im Zitat offensichtlich.

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sollen sich in den symbolischen Handlungen des gottesdienstlichen Geschehens ereignen.29 Biographie und Eschatologie sind in ihrem Zusammenhang zu verdeutlichen, ohne dass die radikale Zäsur „Tod“ überspielt wird,30 symbolische Tradition und persönliches Leben sind aufeinander zu beziehen.31 Dieser „kommunikativen und theologischen Herausforderung“32 muss im städtischen Kontext die Kurze Form der Predigt in höchstens 5 Minuten gerecht werden. Das folgende Beispiel ist eine Kasualansprache anlässlich der Beerdigung eines Mannes, der im Alter von 71 Jahren tödlich verunglückt ist. Angela Rinn Beerdigungspredigt für Hermann R., 2010 Liebe Familie, liebe Trauergemeinde, was mir von ihm in Erinnerung bleibt, ist sein forschender Blick, tief und ernst. Ein suchender Mensch, dachte ich, und so war er wohl auch, niemand, der sich dauerhaft eingerichtet hatte, vielmehr ein Mensch, der auf dem Weg war, auch wenn er – manchmal in 5 seinem Leben – auch vor sich weglaufen konnte. Wenn es sein musste: 100 km, ExtremMarathon. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen – woher kommt mir Hilfe? Ein Suchender wie dieser Psalmbeter vor 1000enden Jahren, der sich selbst antwortet: Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Und beide blicken: Auf Berge, sicher, weil es wohl nur wenige Orte gibt, an denen wir die Größe und das Mysterium der 10 Welt so ahnen wie im Angesicht der Berge. Kein Wunder, dass sich Hermann R. im Deutschen Alpenverein engagierte, und wenn er es sich hätte aussuchen können, hätte er sich sicher einen Tod gewählt nicht nach langem Leidenslager sondern im Angesicht der Berge, aufschauend zu diesen monumentalen Wunderwerken unseres Schöpfers. Nur nicht so, wie er ihn dann erlitten hat, seinen Tod, plötzlich, ohne die Chance eines Abschieds- 15 worts an seine liebsten Menschen, uns fassungslos zurücklassend. Und traurig. Er war ja 28 Vgl. Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen: eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 245 und 247. 29 Vgl. Kristian Fechntner, a. a. O., 29. 30 Birgit Weyel hat sich – gemeinsam mit Tobias Weimer und Carmen Hoffmann mit den modernen Herausforderungen der Kasualie Bestattung auseinandergesetzt und eine Umfrage zur Bestattungspredigt in Württemberg ausgewertet. (Birgit Weyel, Tobias Weimer, Carmen Hoffmann, Biographie und Eschatologie. Eine Umfrage zur Bestattungspredigt in Württemberg, PThl 33 (2013), 61–75.) Die Autoren spitzen zu, dass die Bestattungspredigt die Aufgabe hat, „die Schwelle, die durch das Ritual der Bestattung markiert wird, zu deuten. Es geht um die Deutung radikaler Liminalität, die – im Blick auf den Toten – über alle anderen lebensgeschichtlichen Passagen hinausgreift, weil sie auf die Grenzüberschreitung von Leben und Tod zielt. Sowohl rückblickend das Leben des Verstorbenen als Ganzes als auch vorausblickend das Leben in der künftigen Welt werden zum Gegenstand der Predigt. Biographie und Eschatologie sind in ihrem Zusammenhang zu verdeutlichen, ohne dass die radikale Zäsur, die der Tod markiert, überspielt werden kann.“ A. a. O., 64. 31 Vgl. Hans-Martin Gutmann, Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, Hamburg 2 2011, 249. 32 Christian Grethlein, Grundinformation Kasualien, Göttingen 2007, 302.

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Schlussfolgerungen

doch noch nicht angelangt am Ziel seiner Suche, seiner lebenslangen Suche. Hermann, 1938 in H. geboren, seine Schwester wird Dorothea heißen, kein Wunder bei einem Germanistikprofessor als Vater, Goethe stand wohl Pate bei der Namenswahl. Und wie sein literarisches Vorbild ist Hermann auf der Suche nach etwas Tiefem, Wahren, könnte es sein – auf der Suche nach Liebe? – und wie bei seinem literarischen Namenspaten ist es der eigene Vater, der sich dabei in den Weg stellt. Der Germanistikprofessor ist Preuße, kein Freund von offen gezeigten Gefühlen. Hermann wagt es, dem eigenen Vater auch Kontra zu geben, er erbt jedoch die Schwierigkeit seines Vaters, sich in andere Menschen einzufühlen. Seinen eigenen Körper kannte Hermann R. genau, forderte ihn, achtete auf ihn, lebte gesund, horchte in sich hinein. In andere Menschen konnte er sich nicht so gut hineinversetzen, das war nicht sein Talent. Und er musste daher, in seinem Leben, auch schmerzlich erfahren, dass deshalb Beziehungen zerbrechen konnten. Seine Ehe mit I., 19… geschlossen, der die Kinder J., C. und U. entstammten, scheiterte ebenso wie die Ehe mit E., die er 19.. einging. Darunter hat er auch gelitten, das hat er sich lange zum Vorwurf gemacht. Aber es war schon so: Lange standen seine Reisen, seine Forschungen im Vordergrund seines Lebens. Der Geologe, der in Freiburg und in Clausthal Zellerfeld studiert hatte, sollte später als Beamter des Landes Rheinland-Pfalz die Gegend um K. kartografieren, im Grunde war er aber auf der ganzen Welt unterwegs. Besonders oft war er in Spanien, promovierte über die spanischen Westpyrenäen, reiste auf der ganzen Welt, vielleicht auch hier rastlos auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens. Das Geheimnis des Lebens, das er auch bei Gott suchte, die kostbaren Notizen aus seinem geistlichen Tagebuch, die mir seine Schwester gezeigt hat, legen Zeugnis ab von einem Menschen, der ernsthaft versucht, sich mit seinem Schöpfer, mit Jesus Christus auseinanderzusetzen. Ein suchender Mensch, stur konnte er sein, dabei ernsthaft, auch tief sozial. Er war niemand, der lange alleine bleiben wollte und konnte. Seit 19.. war er mit Ihnen, seiner Ehefrau C. verheiratet. Die Ehe ist meine Lebensform, sagte er, er war wohl auch hier immer auf der Suche nach dem Du, tiefe Erkenntnis des Geheimnis unseres Menschseins, denn wir müssten sterben, ohne ein Du. Und werden doch immer wieder schuldig, schmerzhaft schuldig an denen, die wir lieben. Doch mich verwundert nicht, dass er stets einen Menschen fand, der sich für ihn öffnete. Denn er konnte auch sehr hilfsbereit sein, hatte einen einnehmenden Witz, war kunstinteressiert, ich habe ihn oft im Staatstheater getroffen, er schätzte das Ballett, liebte Musik. Seine große Liebe galt aber der Natur, unermüdlich konnte er sich an Blumen und Tieren begeistern, und ich kenne keinen Großvater der es schaffte, so häufig mit der Enkelin in den Zoo zu gehen, dass die Kleine letztlich kapitulierte. „Opa, nicht schon wieder Zoo…“ Dazu hatte er in manchen, kostbaren Augenblicken, wenn er spielte, etwa Karten, diesen besonderen Glanz in den Augen, konnte losgelöst sein, ganz offen und frei, wie ein Kind. Ich denke, so war er auch in seinen geliebten Alpen. Seinem Schöpfer ganz nah, fast erlöst. Oft stellte er mir nach den Gottesdiensten eine Frage, sein Blick intensiv, er wollte noch etwas wissen, er war eben – auf der Suche. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Bei seiner Leiche haben sie keine Fotokamera gefunden, wahrscheinlich wurde sie weggeschleudert, weil er sie in der Hand trug, auf der Suche nach dem perfekten Bild, dem perfekten Licht, denn er war ja immer auf der Suche nach dem perfekten Licht auf seinen Fotos. Ein Schritt zu nah dem Abgrund.

Zwei praktische Umsetzungen

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Ich wünsche mir, dass er es zuletzt gesehen hat, das Licht. Woran ich glaube ist: Er hat sie jetzt gefunden, die Antwort auf alle seine Fragen, die Antwort auf die Rätsel seines Lebens. Ich hätte mir gewünscht, ihm wäre mehr Zeit geblieben, Zeit seines Lebens danach zu suchen, Ich hätte mir mehr Zeit für uns alle gewünscht, mit ihm zu suchen, mit ihm zu 65 lachen, mit ihm eine Strecke des Wegs zu wandern, zu gehen, meinetwegen auch zu laufen. Ein Schritt zu weit. So dass wir ihn hergeben müssen, traurig, nachdenklich, dankbar, vielleicht auch zornig darüber, dass er jetzt schon gegangen ist. Ins Licht, in die Antwort aller Fragen. Ich meine: Es ist die Liebe. Amen.

Diese Beerdigungspredigt ist essayistisch angelegt. Die Predigt schildert Bilder aus dem Leben von Hermann R., ohne diese Bilder einer zentralen These unterzuordnen. Der Psalmvers als Beerdigungsspruch definiert nicht die Erlebnisse, sondern stellt sich ihnen als Interpretationsmöglichkeit an die Seite (7; 8–9; 56–57). Das Motiv der Suche nach Gott, Lebenssinn und Liebe, das mit dem Psalmvers in Verbindung gesetzt wird (8), gliedert den Text (3–4; 8; 17; 20–21; 37; 40; 43; 59–60; 65). Zugleich prägt sich das Motiv durch die häufige Wiederholung ein und verknüpft sich mit den Szenen aus dem Leben des Verstorbenen. Die Predigt schildert Begegnungen und Erfahrungen der Predigenden mit dem Verstorbenen (3; 48; 55–56), verbunden mit Erzählungen der Angehörigen. Die Predigerin schildert das, was sie am Leben von Hermann R. trifft, doch sie schildert sein Leben nicht wertend, obwohl sie schwierige Punkte anspricht (z. B. 26–27; 40–41). Das Leben von Hermann R. und die Konflikte, die darin entstanden sind, und unter denen er auch selbst gelitten hat, werden benannt, ebenso wie glückliche Momente (52–54). Die Leiblichkeit von Hermann R. kommt zum Ausdruck (25–26), auch sein Glaube (36–39). Die Suchbewegung der Predigt, die das Motiv widerspiegelt, lädt die Hörenden dazu ein, zu eigenen Antworten und eigenen Fragen zu finden; das Leitmotiv der Suche wird mit dem Bibelwort in Beziehung zu setzen. Diese Suchbewegung ist zugleich das Surplus an Erfahrung, denn sie macht die Hörenden neugierig, auf diesem Weg über das Leben der Verstorbenen und die gemeinsame Geschichte nachzudenken. Zugleich setzt sich die Predigerin mit dieser Predigt selbst aus und macht sich erkennbar, auch in ihrer eigenen Ratlosigkeit und Traurigkeit (67–68). Die Persönlichkeit der Predigerin kommt neben den geschilderten Begegnungen mit dem Verstorbenen auch durch ihre persönliche Glaubensaussage (62–63) zum Ausdruck. Indem ein Wunsch (65–66) formuliert wird, bleibt auch hier die Predigt offen, zugleich steht die Predigerin mit ihrer Person für die Glaubensaussage ein und spricht ihre Zuversicht den Trauernden zu.

70

214

4.

Schlussfolgerungen

Homiletisches Konzept: Die predigende Existenz

Meine Überlegungen zur Kurzen Form der Predigt haben den Essay als beispielhafte kurze literarische Form herausgearbeitet. Für den Essay ist die essayistische Existenz Voraussetzung und unabdingbare Haltung. Wenn essayistisch Schreiben heißt, die eigene Existenz immer neu ins Spiel zu bringen und aufs Spiel zu setzen in der lebendigen Begegnung mit einer sich ständig verändernden Umwelt, dann rückt analog dazu bei der Kurzen Form der Predigt die Person des Predigers bzw. der Predigerin in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Predigenden mit ihrer leibhaften Existenz, ihren intellektuellen Fähigkeiten, ihrer Spiritualität, ihren Biographien und ihrer Wahrnehmung der Welt stehen im Mittelpunkt. Wie nehmen sie die Welt wahr, wie sehen sie „d i e Wirklichkeit“ – und: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“33 Was sind ihre ganz persönlichen Haltungen zu Gott und der Welt? Wie verhalten sie sich zu den empfundenen oder auch reflektierten Widersprüchen zwischen Sein und Sollen? Wie positionieren sie sich mit ihren persönlichen Überzeugungen gegenüber gesellschaftlichen Normen und Konventionen? Zu welcher Haltung und zu welchem Verhalten finden sie in ethischen Fragen? Dies muss nicht in jedem Fall explizit benannt werden, aber die Erfahrungen und ihr Leben verdichten und vertiefen die Predigt. Es ist nicht möglich, essayistisch zu predigen und zugleich von der eigenen Person zu abstrahieren. Die Person der Predigerin und des Predigenden wird zum Schlüssel, ihre Haltung zum homiletischen Konzept. Ich nenne es, in Anlehnung an die „essayistische Existenz“ die „predigende Existenz“. Albrecht Grözinger unterscheidet bei der Frage nach der Person des Predigers und der Predigerin zwei Ebenen: „Die eine Ebene ist die des faktischen Sachverhalts. Jede Predigerin ist mit ihrer Person in die Predigt verwickelt – unabhängig davon, ob dies ihrer eigenen Vorstellung von Predigt entspricht oder nicht. Jeder Prediger ist mit seiner Person in der Predigt präsent – unabhängig davon, ob er dies selbst so wahrnimmt oder nicht. Die andere Ebene ist die des Konzeptionellen: Ich möchte mit meiner Person in meiner Predigt vorkommen.“34 Die predigende Existenz führt über diese beiden Ebenen hinaus. Die Entscheidung für diese Existenz ist mehr als ein „möchte“, das auch einmal ein „ich möchte gerade nicht“ sein kann. Es ist auch mehr als die selbstverständliche Tatsache, dass jede Rede mit dem und der verbunden ist, der und die redet. Es geht hier um eine grundsätzliche Entscheidung zu einer Existenz, die auf „re33 Vgl. Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976. 34 Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008, 132.

Homiletisches Konzept: Die predigende Existenz

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flexiven, meditativen und argumentativen Wegen immer zuerst die Frage nach dem konkreten Leben, der Rolle des Ichs beim Denken und Handeln und insgesamt nach einer ethischen Haltung der Welt gegenüber stellt“35 und dies im Horizont von Bibel und göttlicher Gegenwart und Wirklichkeit. Was Schärf reflexiv, meditativ und argumentativ nennt, kann im Blick auf die Predigt gerade so übernommen und mit exegetisch, spirituell und dialogisch ergänzt werden. Die essayistische Haltung ist die Haltung der Beobachtung und Wahrnehmung. Dies gilt analog für die predigende Existenz, die sich im Entstehungsprozess der Predigt selbst begegnet, ihren Abgründen, ihrem Begehren, ihrer Lust, ihrer Begeisterung und ihrer Erschütterung, Ratlosigkeit und Irritation angesichts eines Bibeltextes, angesichts der Welt, angesichts der Mitmenschen und der eigenen Person. Die Predigt entsteht in diesem Wahrnehmungsprozess und ist deshalb, muss es immer sein: eine Expedition ins Ungewisse. Die predigende Existenz kann auch deshalb keine Thesen verfassen, die in der Predigt argumentativ abgearbeitet werden, weil es auf dieser Ebene keine normativen Denkwege oder klaren Ziele gibt, die den Hörern bekannt gemacht und als konkrete Handlungsanweisungen vorgegeben werden könnten. Die Aufforderung Jesu im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter „So geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10, 37) ist nur auf den ersten Blick eine direktive Handlungsanweisung. Der Anweisung geht die eigene Einsicht des Pharisäers voraus, die allerdings durch Jesu Fragen ans Licht gebracht wird. Es ist der Pharisäer, der entscheidet, was für ihn stimmig und richtig ist. Jesus fordert ihn auf, das zu tun, was er selbst anhand des Gleichnisses erkannt hat. Die Wahrnehmungen der Predigenden laden die Hörenden zu eigener Wahrnehmung ein, und die kann ganz anders sein als die der Predigenden. Klassisch für den Essay ist, dass eigene Erfahrungen mit denen anderer verglichen werden. Der Essay ist eine dialogische Form, die die Erfahrungen der Autorin bzw. des Autors in Bezug zur Umwelt setzt. Es kommt zu Wechselwirkungen, deren Dynamik und Ergebnis nicht vorhersagbar und berechenbar sind. Die essayistische Predigt vergleicht ihre Wahrnehmungen mit biblischen Bildern, mit der aktuellen politischen Gegenwart, mit der Situation in Kirche und Gemeinde, mit Literatur und Kunst und lädt die Hörenden ein, dies aufzunehmen oder abzulehnen, auf Stimmigkeit hin zu prüfen und selbst zu ergänzen. Die Predigenden müssen es aushalten, dass die Wahrnehmungen der Hörenden gleichberechtigt sind. Schon dies ist ein Aushalten, ein Sich Hingeben. Eine Einladung. Damit die Einladung ankommt, müssen die Predigenden ihre Wahrnehmungen so formulieren, dass die Hörenden sie auch verstehen können. Deshalb sind die neurowissenschaftlichen Beobachtungen so wichtig! Die Predigenden haben die Verantwortung, danach zu fragen, was die Bedingungen des 35 Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999, 19.

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Schlussfolgerungen

Gelingens von Kommunikation und von Verstehen sind. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, nach Bildern zu suchen, die emotional verknüpft werden können, auf Themen zu achten, die Menschen faszinieren. Die Predigenden vermitteln diese Bilder und Wahrnehmungen in einer präzisen Sprache, die auf den Punkt trifft. Das geht nur, wenn die predigende Existenz sich von ihren Wahrnehmungen selbst ins Herz treffen lässt. Die predigende Existenz muss eine Predigerin bzw. ein Prediger wollen, weil sie riskant ist, sich selbst riskiert und ausliefert. Diese Existenz kann sich nicht hinter Inszenierungen und Performances, nicht hinter theologischen oder sprachlichen Formen verstecken, sie kann sich auch nicht hinter Argumentationen und rhetorische Geschliffenheit zurückziehen, sie kann sich nicht an Zeichen festhalten. Der Essay bedeutet die Abkehr von einem normativen Denken. Die predigende Existenz setzt sich aus, weil sie das Ergebnis nicht kennt, sie bleibt offen für die Wirklichkeit Gottes und der Menschen. Sie kann sich noch nicht einmal hinter sichere Mauern ihrer eigenen Persönlichkeit flüchten. Denn die Neurowissenschaften bestätigen, dass Biographie erst in der Kommunikation mit anderen Menschen entsteht. Niemand existiert solipsistisch. Die predigende Existenz weiß, dass sie nicht alleine auf der Welt ist, deshalb ist sie aktuell, wache Zeitgenossin, Anwältin derer, die sonst in der Gesellschaft keine Stimme haben. Insofern hat die predigende Existenz auch eine prophetische Stimme. Sie setzt sich dem aus, was sie besticht, erregt, überwältigt. Das kann beglückend sein, aber auch schmerzhaft. Das Ergebnis dieser Wahrnehmung wird dann allerdings gewiss nicht beliebig aneinandergereiht in einer irgend gearteten willkürlichen Struktur, sondern gegliedert, in einer textlichen Architektur geformt präsentiert. So wie ein Essay geformte Spontaneität ist, sollte die Predigt Spontaneität in textlicher Architektur sein. Die predigende Existenz überlässt das, was sie in der Predigt zeigt, nicht den Hörenden in dem Sinn, dass sie ihnen ein Kunstwerk hinstellt, das diese nun entweder verstehen oder eben auch nicht verstehen können. Sie teilt vielmehr mit den Hörenden ihre Ergriffenheit und Bewegung. Das ist etwas sehr Persönliches, macht angreifbar. Insofern müssen Predigende, die sich zu einer predigenden Existenz entscheiden, schon mutig sein. Sie bringen sich ins Spiel und setzen sich aufs Spiel. Allerdings scheint mir die predigende Existenz in ihrer Unsicherheit, in dem Ausgeliefertsein, ihrem Ausgespanntsein zwischen Welt, Himmel, eigener Existenz und Nächstem eine der Nachfolge Jesu Christi sehr angemessene Haltung zu sein. Sie stellt ihre eigene Existenz in den Dienst Gottes und der Menschen. Das ist Demut im (ursprünglichen) Sinne von „Mut zum Dienen“. In der Nachfolge des Inkarnierten wird die Leiblichkeit der Botschaft wichtig. Der ewige Logos wird Sarx, wird sterblich, ein den Unsicherheiten menschlicher

Homiletisches Konzept: Die predigende Existenz

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Existenz ausgelieferter Mensch. Die Inkarnation ist kein Gottwerdungsprogramm (das mittels Therapie lauter „reife Persönlichkeiten“ hervorbringt), sondern ein Menschwerdungsprozess, der das Mensch-Sein ernst nimmt mit seinen Unsicherheiten und Risiken, den Geschenken des Augenblicks, seiner Bedürftigkeit, auch der Krankheit und dem Tod. In der Begrenzung der Kurzen Form spiegelt sich die Endlichkeit wider – und die Bereitschaft dazu, diese Endlichkeit zu gestalten, wissend, dass es ein Mehr gibt. Das ist zugleich das „Surplus an Erfahrung“, das in der essayistischen Predigt aufleuchtet, eine Spannungslage zwischen Denken und Form. So ist die predigende Existenz in der Nachfolge Christi ein Grenzgängertum, an der Grenze, am Übergang, wo es durchlässig wird für das Göttliche im Menschlichen und das Menschliche im Göttlichen. Wenn sich dies ereignet, geschieht: Überraschung. Menschen kommen ins Staunen. Staunen bedeutet Unterbrechung des Laufs der Welt, wie sie nun mal ist, bedeutet Infragestellung von Gewohntem. Die Predigt Jesu spiegelt das wider, und sie ist als Kurze Form der Predigt Paradigma für die Kurze Form, seine Haltung Paradigma der predigenden Existenz.

IV.

Anhang

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Namensregister

Ackermann, H. 104 f Adam, Ingrid 145 Ahlers, Christoph Joseph 134 Albrecht, Horst 191 Altenburg, Gerhard 163 Altmann, Ulrike 139 Ariely, Dan 118 Asendorpf, Jens B. 80

Darley, John M. 93 f, 125 Dittmann, Karsten 32, 198 Dormeyer, Detlev 115, 120 f Draguhn, Andreas 9, 71–77, 79, 84, 96 f, 102, 105 f, 139, 199 Drechsel, Wolfgang 85, 87 f, 106 Dutzmann, Martin 123, 140, 142, 144 f, 149 f, 154

Bakewell, Sarah 32 Balz, Horst 117, 131 Barth, Hans-Martin 165 Barthes, Roland 16, 23, 47–49, 150, 162 f, 170–172, 181, 184, 191, 194 f, 202, 206, 210 Baumgärtel, Friedrich 190 Beck, Stefan 10, 96, 98 Benjamin, Walter 41, 51, 206, 210 Beutel, Albrecht 21–23 Beyer, Franz-Heinrich 97 Bieler, Andrea 52, 68 f, 91, 153 f, 185–187, 200 Bieritz, Karl-Heinrich 13, 97, 158, 171, 190 Birnstiel, Jürg 30 f Bohren, Rudolf 162 f, 198 Borst, Alexander 73, 99 f Bovon, François 131 Bukowski, Peter 157 Bunners, Christian 185

Eckoldt, Matthias 73 Eikelmann, Manfred 24 Elger, Christian E 72, 221 Engemann, Wilfried 11, 22, 52, 56, 59, 63– 68, 157 f, 171, 173 f, 179

Celan, Paul 174 Cerqueira, C.T. 88 f Collins, Adela Yarbro Cornehl, Peter 165 f

121

Fechtner, Kristian 158, 161, 210, 211 Fendt, Leonhard 113 Fisseni, Hermann-Josef 80 Frevert, Ute 85, 92 f Fricke, Harald 13 f, 21, 24 f, 173 Friedell, Egon 50 Friederici, Angela D. 87 Fuchs, Gotthart 37–39 Fuchs, Thomas 15, 71, 73 f, 89, 96, 200 Gnilka, Joachim 120–122 Götz, Klaus 80 Gräb, Wilhelm 52, 165, 178 f, 193, 211 Greeven, Heinrich 117 Grethlein, Christian 166, 211 Grimm, Jacob und Wilhelm 170 Grözinger, Albrecht 48, 52, 56, 63 f, 69, 170 f, 174 f, 214

236 Gutmann, Hans-Martin 9, 52, 68 f, 91, 153 f, 185, 187, 200, 211 Gyseler, Dominik 86 Haberer, Johanna 158, 191 f Häfner, Gerd 80, 114 Handke, Peter 34 f, 48, 107, 207 Härle, Wilfried 15, 18, 70, 119 Härtner, Achim 158 Herbst, Michael 171 f, 177 Hermelink, Jan 173 f Herrmann, Jörg 224 Hober, David 189 f Hoffsümmer, Willi 146, 148 Hubel, Torsten. 86 Huber, Wolfgang 26 Huizing, Klaas 113, 132 Illing, Robert-Benjamin 86 Immordino-Yang, Mary Helen 76, 92, 126 Iser, Wolfgang 173 Josuttis, Manfred 13, 52, 56–59, 62, 68–70, 156, 165, 177, 189–191, 193, 198 Kahre, Mirko-Alexander 32 Kiefer, Falk 79–81 Klausnitzer, Ralf 24 Klein, Andreas 13, 43, 106, 114, 135, 147, 156, 159, 212 Klie, Thomas 186 f, 192 Kluge, Friedrich 87 Korte, Martin 100, 103 f Krückeberg, Siegfried 188 Kuhn, Johannes 148 Kupferschmidt, Kai 81 Lampe, Peter 83–85, 98, 101, 106, 114, 135 Lange, Ernst 157, 163, 165, 171, 187 Lange, Michael 127 Larsson, Edvin 117 Leiberg, Susanne 80 Leonhard, Silke 186 f Lienhard, Fritz 9, 49 Lohfink, Norbert 107 Loughead, James W. 86

Namensregister

Lührs, Walther 158 Luther, Henning 68, 70, 161, 199 Luther, Martin 34 f Lütze, Frank M 59, 171, 173 Luz, Ulrich 116–118 Magin, Charlotte 192 f, 208 Mar, Raymond A. 88 Markowitsch, Hans J. 80, 86–88, 103 Martin, Gerhard Marcel 11, 22, 157, 168 f, 174, 177, 179 Merkel, Friedemann 13, 156, 158, 161, 188, 193 Mertens, Volker 22, 25 Merz, Annette 114 f, 138 f Mey, Jörg, 71 Meyer-Blanck, Michael 13, 97, 158, 166, 174, 183 f, 190 Mitchell, Rachel L.C 104 f Montaigne, Michel de 32 f, 40, 49, 138, 199, 206, 215 Muhammed, Sherif Abdel Azim 26 Müller, Peter 13 f, 21, 24 f, 88, 117–119, 129, 173 Müller-Kracht, Stephan 9, 129, 201 Nagorni, Klaus 39 f Neijenhuis, Jörg 158 Nembach, Ulrich 26, 157 Nicol, Martin 22, 27, 49, 163, 167, 174, 179– 183, 195 Nierop, Jantine 162 f Nietzsche, Friedrich 23, 41 f Oberlinner, Lorenz 119 Ortheil, Hanns-Josef 45–48, 198, 207 Oskamp, Paul 157 Ostmeyer, Karl-Heinrich 120, 123–125, 130–133 Otto, Gert 52–55, 62, 64, 69, 113, 165, 176 Panzer, Lucie 188 f, 198 Peres, Julio F.P 91 Porombka, Stephan 206 Preul, Rainer 177 f Probst, Rudolf 87

237

Namensregister

Raschzok, Klaus 97 Ratzmann, Wolfgang 159–161, 193 Reymond, Bernard 173 Richter, Horst Eberhard 44, 59, 152 Ricœur, Paul 167 Riemann, Fritz 56, 59–63, 66, 69 Rinn, Angela 42, 75, 143, 150, 209, 211 Rinn-Maurer, Angela 141 Rödszus-Hecker, Marita 35–37 Rohr, Richard 68 Rössler, Dietrich 157 Roth, Gerhard 80, 102–104, 200 Salimpoor, Valorie N. 125 f Sanders, Wilm 190 Schärf, Christian 9, 32, 40–42, 50 f, 138, 199, 215 Schildknecht, Christiane 13 f Schjoedt, Uffe 76, 104, 127 Schmidt, Gunther 49 Schmidt, Karl Ludwig, 131 Schmidt, Wilhelm 189 f Schmoll, Gerd 27–30 Schottroff, Luise 82, 116 f, 120 f, 126 f, 129–133, 137 Schröer, Henning 169 f Schroeter-Wittke, Harald 185 Schultz, Wolfram 78–80, 82, 84 Schwier, Helmut 75, 98, 166 f, 203 Schwier, Helmut 9, 14, 79, 84 f, 97 f, 102, 106–108, 166–168, 192 f, 202 f, 208 Seidel, Katharina 146 f

Siegel, Helmut 149 Singer, Tania 80, 85, 92 f Souvinier, Georg 71 Spree, Axel 43, 173 Stetter, Manuel, 26 f Störmer-Caysa, Uta 25 Sträter, Udo 33 Telzer, Eva H. 127 f Theißen, Gerd 84, 90, 98, 114 f, 119–122, 135–137, 139 f, 146, 154, 201 Thurneysen, Eduard 55 Thyen, Hartwig 114 f Tretter, Felix 72, 75, 97, 199 Tschacher, Wolfgang 74, 95 Vaitl, Dieter 91, 124 Vogel, Pierre 27, 153 von La Roche 98, 101, 198 Waßmann, Harry 33–35, 37 Watzlawick, Paul 214 Weder, Hans 53, 113 f Welker, Michael 15, 98 Weyel, Birgit 158, 174, 211 White, Harrison C. 139 Wiefel, Wolfgang 123–127, 132 f Wild, Barbara 79, 144, 152 Wolter, Michael 123–126, 129–133 Woydack, Tobias 97 Ziemer, Jürgen

158