Der schweigende Kant: Die Entwurfe zu einer Deduktion der Kategorien von 1781 [1 ed.] 3525824661

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Der schweigende Kant: Die Entwurfe zu einer Deduktion der Kategorien von 1781 [1 ed.]
 3525824661

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ABHANDLUNGEN DER

AKADEMIE

DER

WISSENSCHAFTEN

IN GÖTTINGEN

Der schweigende Kant Die Entwürfe

zu einer Deduktion

der Kategorien vor 1781

Von Wolfgang Carl

VANDENHOECK

& RUPRECHT

IN GÖTTINGEN

Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Götti ngen Philologisch-Historische Klasse - Dritte Folge

Auskünfte über ältere oder vergriffene Titel erteilen die Akademie der Wissenschaften oder der Verlag

55.

Fränkel, Hermann, Einleitung zur kritischen Ausgabe der Argonautika des Apollonios . 1964.

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Die

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Dichterfragmente

der

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sprung bei Hegel, Haym, Dilthey und York. 2. durchges. Aufl. 1968. Völckers, Hans H., Karolingische Münzfunde der Frühzeit (751-800).

Band

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157 S. . 1965. 217 S. mit

17 Lichtdrucktafeln. Hypsikles, Die Aufgangszeiten der Gestirne. Hrsg. und übersetzt von V. de Falco und

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Ernst,

Krause

(f) mit einer Einführung

von O.

Neugebauer.

1966.

85 S.

Heissig, Walther, Die mongolische Steininschrift und Manuskriptfragmente aus Olon

süme in der Inneren Mongolei. 1966. 93 S. und 32 Tafeln. 64. Schellenberg, Hartwig, Die Interpretationen zu den Paulussentenzen. 1965. 131 8. 66. Dietrich, Albert, Medicinalia Arabica, 1966. 258 $. 67. Wießner, Gernot, Zur Märtyrerüberlieferung aus der Christenverfolgung Schapurs II. 1967. 289 S. In 68. Szabö, Läszlö, Kolalappische Volksdichtung. Texte aus den Dialekten in Kildin und Ter. 1966. 153 S. 70, Horn-Oncken, Alste, Über das Schickliche. Studien zur Geschichte der Architekturtheorie I. 1967. 164 S. . 7. Redei, Karoly, Nord-ostjakische Texte (Kazym-Dialckt) mit Skizze der Grammatik. 1968. 139 S. 72. Szabö, Läszlö, Kolalappische Volksdichtung (Zweiter Teil). 1968. 117 S. on 74, Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittel- und Nordeuropa. Bericht über ein Symposion in Reinhausen bei Göttingen. 1970. 319 S. mit zahlr. Abb. 76. Symposion über Syntax der uralischen Sprachen. 1970. 230 S. 7. Hiestand, Rudolf, Papsturkunden für Templer und Johanniter. 1972. 431 S. . 78. Wittram, Reinhard. Studien zum Selbstverständnis des I. und 2. Kabinetts der russischen Provisorischen Regierung (März bis Juli 1917). 1971. 158 S. . _ 79. van Ess, Josef, Das Kitäb- an-Nakt des Nazzäm und scine Rezeption im Kitäb al 80,

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Bibliographie der Runeninschriften nach Fundorten. I. Teil: Uwe Schnall, die Ruineninschriften des europäischen Kontinents. 1973, 100 S. 82, Anton Raphael Mengs: Briefe an Raimondo Ghelli und Anton Maron. Hrsg. u. kommentiert von Herbert von Einem. 1973, 115 S. und 12 Tafeln. 83. Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. Teil I. 2. Aufl. 1975. 337 S. mit zahlr. Textabb. und 32 Tafeln. 84. Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. Teil IL. 2. Aufl. 1975. 322 S. und 78 Tafeln und zahlr. Abb, 85. Zanker, Paul. Studien zu den Augustus-Porträts. I. Der Actium-Typus. 2. Aufl. 1978. 55 S. und 36 Tafeln. , o. 86. Bulst-Thiele, Marie Luise, Sacrae Domus Militae Templi Hierosolymitani Magistri. Untersuchungen zur Geschichte des Templerordens 1118/19-1314. 1974. 416 S. 87. Das Einhardkreuz. Vorträge und Studien der Münsteraner Diskussion zum arcus Einhardi. Hrsg. von Karl Hauck, 1974. 220 S. und 51 Tafeln . 89. Wort und Begriff „Bauer“. Zusammenfassender Bericht über die Kolloquien der Komission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas. 1975. 263 S. MD. Gaethgens, Thomas W., Napoleons Arc de Triomphe. 1974. 83 S. und 56 Tafeln. 91. Schindel, Ulrich, Die lateinischen Figurenlchren des 5.-7.Jhs. und Donats Vergilkommentar (mit 2 Editionen). 1975. 293 S,

_

VAR

ABHANDLUNGEN DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN GÖTTINGEN

PHILOLOGISCH-HISTORISCHE KLASSE DRITTE FOLGE Nr. 182

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN 1989

Der schweigende Kant Die Entwürfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781

Von

Wolfgang Carl

VANDENHOECK

& RUPRECHT IN GÖTTINGEN 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Carl, Wolfgang: Der schweigende Kant: die Entwürfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781 / von Wolfgang Carl. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse; Folge 3, Nr. 182) ISBN 3-525-82466-1

NE: Akademie der Wissenschaften (Göttingen) / Philologisch-Historische Klasse: Abhandlungen der Akademie ...

© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1989 Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde

Druck: Hubert & Co., Göttingen

- 29983 -

Inhaltsverzeichnis Einleitung .... 2.2222 2ceneseeeeeeeeeeeene nenne nenn nenn nen I. Die Fragestellung von 1772 .... 2222 ceeeeeeeeeeenn rennen $ 1: Die Entdeckung von 1772

22

cueeeeeer seen enn en nn

$ 2: Die Begriffe des Verstandes „v2 222 ceeeeeeenneree nennen nn $ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik .. 2... 2e ec ceerenn $ 4: Eine Frage und verschiedene Antworten „2... er een een

U. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung .............enn een rennen reeee nennen $1: Kategorien .. 222er eeeee $ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung . .......-

III. Kategorien und Apperzeption um 1775 .......reeceeeeeneen $ $ $ $

1: 2: 3: 4:

Die Exposition der Erscheinungen ...... ss. s see eeeereneneen ne nennen Vorstellungen von Objekten ... u. rue cs reeeeene en eenen Die Einheit der Apperzeption .....s2ceeereeeennen ee nenn Die Deduktion der Kategorien um 1775 .. 2... r rennen

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft ...........ern $ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens .... 2. eereeneneree $ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes .. $ 2.1: Kants Position um 1780

222er erer

een nen

$ 2.2: Kantund Tetens ... 222er re ecenerennnne Pe $ 2.3: Einbildungskraft und Einheit der Apperzeption ....... rer. $ 3: Die Deduktion der Kategorien in ‚B12° .....2cerenereenerere

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

.........ereeree.

r rennen nenne $1: Kanrüber Hume ..... 2222 eeeereerenne scene esreeeeenno $ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion ... 2... $ 3: Die subjektive Deduktion von 1780 . 2... nern eerennenenene GA: Fazit .. 2.22

Literaturverzeichnis

n nn esee ernenne eeee eeesrennen

rennen en „2. ...2222sreeeeseeeseeeseene

Namenregister

n ern ernennen eneeeee rennen ......2ceeeeer

Stellenregister

nn ne nennen nennen 2.22.22 2eeeeeeeeeeeee

Einleitung Das Buch ist anders ausgefallen, als sein Verfasser erwartete. Die Nachforschungen, deren Ergebnisse in ihm zusammengefaßt sind, nahmen ihren Ausgang von der häufig konstatierten Aktualität Kants in der gegenwärtigen Analytischen Philosophie. Diese Aktualität besagt nicht, daß seine Philosophie allgemein akzeptiert wird, sondern besteht darin, daß sie als die vielleicht wichtigste Alternative zu den verschiedenen Formen des Naturalismus anzusehen ist. Es liegt daher nahe, sich die Frage zu stellen, wie Kant selber sich zu einer solchen Position verhalten hat, die ihm als Humes „System des allgemei-

nen Empirisms“ bekannt war!, und eine Antwort insbesondere von der ‚Deduktion der Kategorien‘ zu erwarten, die, wie Kant selber behauptet hat, von

Hume angeregt worden war?. Hier, so schien mir, wäre eine historische und

systematische Diskussion der Alternative von Naturalismus und Transzen-

dentalphilosophie am Beispiel von Kants Auseinandersetzung mit Hume zu führen.

Es ist bekannt, daß die ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ zu den zentralen, aber auch zu den besonders schwer verständlichen Lehrstücken der

theoretischen Philosophie Kants gehört. Wie er selber schreibt, hat es ihn „die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht unvergoltene Mühe gekostet“ (A XVD. Es schien mir sinnvoll zu sein, diese „Mühe“ einmal genauer zu betrachten, zumal sie, vielleicht mehr als ihr veröffentlichtes Resultat, über die Auseinanderset-

zung mit Hume Aufschluß geben konnte. Zu meiner Überraschung mußte ich feststellen, daß die aus dem Nachlaß publizierten Dokumente dieser „Mühe“ eine solche Auseinandersetzung nicht belegen. Ein Einfluß von Hume auf die Überlegungen Kants, die zu einer ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ geführt haben, ist nicht faßbar. Eine Diskussion der Alternative von Naturalismus und Transzendentalphilosophie anhand der Entwicklungsgeschichte dieser Überlegungen ist daher nicht möglich; sie muß in einem anderen Rahmen entfaltet werden. Nachdem aber mein Interesse an dieser Entwicklungsgeschichte einmal geweckt war, bemerkte ich, daß ihr Studium für das Verständnis der beiden von

Kant veröffentlichten Fassungen der ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ von nicht geringem Interesse ist. Schon seine Zeitgenossen klagten über „die Ich bin Hans Graubner, Lorenz Krüger und Bernhard Thöle, die das Manuskript oder Teile von ihm gelesen haben, für ihre Kritik und Verbesserungsvorschläge zu großem Dank verpflichtet. Eva Günther danke ich für die sorgfältige Erstellung des Manuskripts, Peter Baumann für die Mühen, die er auf die Korrektur desselben und auf die Anfertigung der Register verwandt hat. ‘1 KpV, Vorrede (AA 5.13). 2 Vgl. Prolegomena, Vorwort (AA 4.260/2).

8

Einleitung

Dunkelheit... ., die eben in diesem Theile der Kritik, welcher gerade ce nelleste ageau seyn müßte, .. „am allerstärksten herrscht“; und Kant mufed iese “ näc sier de als berechtigt gelten lassen*. Er versprach, „diesen Mangel genheit zu beheben’. Daß die von ihm besorgte „zweite, hin un wiec er verbesserte Auflage“ der ‚Kritik der reinen Vernunft dieses Versprechen wirklich eingelöst hat, wird man heute, nach zweihundert Jahren Kant-Exegese, Kommentierung und Kontroversen, kaum glauben können. Noch 1797 bemühte sich Kant um eine Fassung dieses zentralen Lehrstücks seiner theoreti-

schen Philosophie, die ein „neues Licht“ auf die Sache werfen sollte®. Seine

Überlegungen zum Thema ‚Deduktion der Kategorien

sind also nach 1781

keineswegs abgeschlossen, und ein genaueres Studium der Entwicklung dieser

Überlegungen würde vielleicht dazu führen, daß man berechtigte Zweifelan der so verbreiteten Rede von der Deduktion der Kategorien bei Kant anmeldet. Im folgenden geht es jedoch um die Entwicklungsgeschichte dieser Überle-

gungen vor 1781, die aus mehreren Gründen unser besonderes Interesse verdient. Wie schon erwähnt, hatte Kant die ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ „die meiste ... Mühe gekostet“. Angesichts der Bedeutung, die diesem

Lehrstück für die kritische Philosophie insgesamt zukommt, und angesichts der bis heute ungebrochenen Faszination, die es auf die Philosophie nach Kant ausgeübt hat, ist es wichtig zu klären, worin diese Mühe bestanden hat, welchen Schwierigkeiten er sich gegenübergestellt sah, und wie er sie zu beheben versuchte. Dieses Interesse ist nicht nur ein historiographisches Interesse an der Frage, wie die Entwicklung seiner Überlegungen eigentlich verlaufen ist; es verbindet sich vielmehr mit dem hermeneutischen Interesse an einem besseren Verständnis der von Kant 1781 veröffentlichten Fassung der ‚Deduktion der Kategorien‘. Für eine solche Verbindung gibt es wenigstens zwei Gründe. Auf eine Betrachtung der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘ wird man erstens verwiesen, wenn man sich die Gründe ansieht, die er für die von ihm selber eingeräumte, von seinen Zeitge-

nossen so beklagte „Dunkelheit“ dieses Lehrstücks der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gegeben hat. Er weist auf die durch das Thema bedingten „Schwierig-

keiten“ hin, die mit dem Projekt einer ‚Deduktion der Kategorien‘ verbunden sind, und ermuntert den Leser, sich „durch die Dunkelheit nicht abwendig

machen zu lassen, die auf einem Wege, der noch ganz unbetreten ist, anfänglich unvermeidlich ist“ (A 98). Im gleichen Sinne schreibt er bei dem Erscheinen des Buches an Herz, „daß man es nicht erwarten kan daß die Denkungsart

auf-

einmal in ein bisher ganz ungewohntes Gleis geleitet werde. . .“7. Die Verständnisschwierigkeiten, die Kant voraussah, ergaben sich für ihn durch die ungewohnten und neuartigen Denkwege, die er eingeschlagen hatte und die er 3 Schultz, Allg. Lit.-Zeit. 295, Jena 1785, 298, 4 Vgl. Prolegomena, Vorwort (AA 4.261).

5 Vgl. Anfangsgründe, Vorrede (AA 4.476 Anm.). 6 Vgl. Brief an Tieftrunk vom 11. 12. 1797 (AA 12.220/2); vgl. R 6358 ff.

7 Brief vom 11. 5. 1781 (AA 10.269).

Einleitung

49

einschlagen mußte, um „so tief in die erste Gründe der Möglichkeit unsrer

Erkenntnis überhaupt einzudringen“ (A 98). Erst das Ausbleiben einer auch nur halbwegs angemessenen Reaktion ließ in ihm die „Besorgniß .. ., daß ich

die Gabe mich verständlich zu machen in so gringem Grade, vielleicht in einer so schweren Materie gar nicht besitze“ wach werden®. Als Gründe für die „Dunkelheit“ erschienen ihm jetzt „die Neuigkeit der Sprache“, „eine Menge ganz ungewohnter Begriffe und einer noch ungewöhnlichern, obzwar dazu nothwendig gehorigen neuen Sprache“!°, aber auch seine eigene Präsentation der Argumente: „Die Dunkelheit, die in diesem Theile der Deduction meinen

vorigen Verhandlungen anhängt, und die ich nicht in Abrede ziche, ist dem gewöhnlichen Schicksale des Verstandes im Nachforschen beizumessen, dem

der kürzeste Weg gemeiniglich nicht der erste ist, den er gewahr wird.“'' Die Einsicht, daß die Beschreibung des Weges, auf dem man zu der Entdeckung

eines Gedankens gelangt, nicht eine durchsichtige Präsentation der Argumente,

die für ihn vorgebracht werden können, ist, mußte Kant daran erinnern, wie die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ abgefaßt worden war. Diese Umstände waren ein

weiterer Grund für die Verständnisschwierigkeiten, denen das Werk begegnete und bis heute begegnet: „Auch gestehe ich frey, daß ich auf eine geschwinde günstige Aufnahme meiner Schrifft gleich zu Anfangs nicht gerechnet habe; denn zu diesem Zwecke war der Vortrag der Materien, die ich mehr als 12 Jahre hinter einander sorgfältig durchdacht hatte, nicht der allgemeinen Faßlichkeit gnugsam angemessen ausgearbeitet worden, als wozu noch wohl einige Jahre

erforderlich gewesen wären, da ich hingegen ihn in etwa 4 bis 5 Monathen zu Stande brachte .. .“12, Die von anderen beklagte, von Kant selber zugegebene „Dunkelheit“ der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und der ‚Deduktion der Kategorien‘ insbesondere

erklärt sich nach seinen eigenen Äußerungen durch drei Gründe: durch das

Thema, das einen neuartigen Ansatz, einen Weg zu gehen, „der noch ganz unbetreten ist“, verlangte; durch die dadurch bedingte „Neuigkeit der Sprache“, in der er seine Gedanken formulierte, und schließlich durch die überstürz-

te Abfassung der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Während die beiden ersten Gründe durch die Sache selbst bedingt sind, ist der letzte Grund persönlicher Natur. Aber er verweist auf eine Möglichkeit, den beiden ersten Gründen Rechnung zu tragen. Der Abschluß der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ 8 Brief an J. Schultz vom 26. 8. 1783 (AA 10.350). 9 Brief an Garve vom 7. 8. 1783 (AA 10.339 Anm.). 10 A.a.O., 338.

11 Anfangsgründe, Vorrede (AA 4. 475f. Anm.).

12 Brief an Garve, a.a.O., 338; vgl. auch den Brief an Mendelssohn vom 16. 8. 1783 (AA 10.345). Zur Datierung der Niederschrift der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ vgl. Adickes, Über die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft, in: E. Adickes, Kant-Studien,

167 ff. Adickes wendet sich mit guten Gründen gegen Arnoldts Vorschlag, die Abfassung der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ auf das Jahr.1779 zu datieren (E. Arnoldt, Die äußere Entstehung

und

die Abfassungszeit

der ‚Kritik der reinen Vernunft‘,

Gesammelte Schriften IV, hrsg. v. ©. Schöndörffer, Berlin 1908).

in: E. Arnoldt,

10

Einleitung

innerhalb „etwa 4 bis 5 Monathen“ war durch die „Furcht“ begründet,

daß

„bey längerem Aufschube...das Werk vermuthlich ganz unterblieben wäre“"?,

Diese Furcht muß auf dem Hintergrund einer Beschäftigung mit den „Materien,

die ich mehr als 12 Jahre hinter einander sorgfältig durchgedacht hatte“ gesehen werden’*. . . . Weil Kant schon so lange an der Sache saß, kamen ihm Zweifel, ob es ihm überhaupt noch gelingen werde, seine Gedanken zu einem Abschluß zu bringen, und er entschied sich, nicht noch „einige Jahre“ zu warten, die „erforder-

lich gewesen wären“, um eine „der allgemeinen Faßlichkeit gnugsam angemes-

sene“ Darstellung seiner Gedanken zu erreichen. Wir wissen aus der ‚Vorrede‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, daß die ‚Deduktion der Kategorien‘ ihn die „meiste Mühe gekostet“ hat (A XV). Die Ausarbeitung dieser Gedanken wird daher einen wesentlichen Teil der mehr als zwöltjährigen Beschäftigung in Anspruch genommen haben. Eine genauere Betrachtung die-

ser Arbeiten kann aber für ein Verständnis dieser nach Ansatz und Begrifflichkeit neuartigen Gedanken hilfreich sein, da sie ihre Genese in den verschiedenen Stufen ihrer Komplexität und in den einzelnen Phasen der „Veränderung der Denkart“ zu studieren erlaubt. Man darf hoffen, daß die Gedanken ihre „Dun-

kelheit“ verlieren, wenn man ihre sukzessive Entfaltung, die noch nicht unter dem Druck eines baldigen Abschlusses steht, analysiert. Das Studium der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘ eröffnet die Möglichkeit, Explikationen dieser Überlegungen kennenzulernen, die nicht unter Zeitdruck abgefaßt und daher vielleicht nicht - oder nicht in gleicher Weise - von jener viel beklagten „Dunkelheit“ umgeben sind.

Die Beschäftigung mit der Entwicklungsgeschichte von Kants Denken wird auch durch einen anderen Grund nahegelegt, der mit einer weit verbreiteten

Interpretation der ‚Deduktion der Kategorien‘ zusammenhängt. In der Diskussion über die sogenannten „Transzendentalen Argumente“ war es eine selbst-

verständliche Annahme, daß solche Argumente dazu dienen, den Skeptizismus zu widerlegen!?. Bennett etwa gibt die folgende Definition solcher Argumente: „Ltake a ‚transcendental‘ argument to be one which aims to rebut some form of

scepticism by proving something about the necessary conditions for selfknowledge, self-consciousness, or thelike.“!6 Es lag daher nahe, die Deduktion

der Kategorien als ein transzendentales Argument zu verstehen und sie als eine direkte Antwort auf Humes Skeptizismus zu nehmen’!”. Eine solche Deutung

kann sich sogar auf Kants eigene Darstellung seiner intellektuellen Entwicklung berufen. Folgt man ihr, so war es der „scharfsinnige Mann“ namens ‚Hume‘, dem man „den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte“!$, und Kant 13 Brief an Mendelssohn, a.a.O., 345; vgl. Brief an Garve, a.a.O., 338. 14 Brief an Garve, a.a.O,.

15 Vgl. R. Aschenberg, Über transzendentale Argumente, Phil. Jahrbuch 85, 1978, 346 ff. 16 Analytical Transcendental Arguments, in: Bieri, Horstmann, Krüger (eds.), Transcendental Arguments and Science, Dordrecht 1979, 50,

17 Vgl. K. Ameriks, Recent Work on Kant’s Theoretical Philosophy, APQ 19, 1982, 11ff. 18 Prolegomena, Vorwort (AA 4.260).

Einleitung

11

selber versteht sich als ein „Pilot“ des Schiffes, das Hume „auf den Strand (den

Scepticism) setzte ...“!°. Läßt sich Kants eigene Darstellung seiner Entwicklung mit ihrem faktischen Verlauf in Übereinstimmung bringen? Zuerst einmal ist zu bemerken, daß es keineswegs klar ist, ob diese Darstellung die heute so weit verbreitete Auffassung, die Aufgabe der ‚Deduktion der Kategorien‘ sei es, den Skeptizismus zu widerlegen, wirklich zu stützen vermag. Denn es war zwar „die Erinnerung des David Hume ..., was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen

Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Rich-

tung gab“2°, Aber diese Erinnerung bestand in der Einsicht, daß die „Verknüpfung von Ursache und Wirkung“ nicht ein analytischer, sondern ein syntheti-

scher Zusammenhang a priori war?!, und sie führte zu der Einsicht, „daß der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe“??. Es war nicht Humes

Skeptizismus, wenn er denn einen solchen vertreten hat, sondern seine Ein-

sicht, daß das Prinzip der Kausalität nicht analytisch ist, die Kant so wichtig war und ihn in der Folge zu einer Deduktion aller metaphysischen Begriffe der synthetischen Verknüpfung der Dinge a priori führte??. Diese Einsicht hat Kant übernommen; seine Kritik an Hume richtet sich gegen dessen empirische

Erklärung des Prinzips und ihre Konsequenz, daß „es überall keine Metaphysik

gebe und auch keine geben könne“**.

.

In ganz ähnlicher Weise stellt Kant das Verhältnis zu Hume in einer Überlegung dar, die er in der zweiten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ unmittelbar vor der ‚Transcendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ einschob. Sie wird als der Versuch angekündigt, „die menschliche Vernunft

zwischen diesen beiden Klippen glücklich“ durchzubringen, die durch die Positionen von Locke und Hume markiert sind (B 128). Locke hatte nach Kant „reine Begriffe des Verstandes .... von der Erfahrung abgeleitet“ und sie gleichwohl so verwendet, daß sie „weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen“ (B 127). Hume war in der Erklärung des Ursprungs dieser Begriffe Locke gefolgt, hatte aber die Möglichkeit ihrer Anwendung jenseits dieser Grenzen konsequenterweise beschritten. Während Lockes Position zur „Schwärmerei“

in Sachen Erkenntnissen, die jenseits dieser Grenzen liegen, führt, ergibt sich aus Hume ein diesbezüglicher „Scepticism“. Die ‚Deduktion der Kategorien‘ führt zwischen diesen beiden Positionen hindurch, indem sie an dem nicht-em-

pirischen Ursprung der Verstandesbegriffe festhält und ihre Anwendung auf

den Bereich der Erfahrung restringiert. Die ‚Deduktion der Kategorien‘ richtet sich kritisch sowohl gegen Locke als auch gegen Hume, aber sie stimmte mit

19 A.a.O., 262. 20 A.a.O., 260.

21 Vgl. a.a.O., 257. 22 A.a.O., 260.

23 Vgl.a.a.0. 24 A.a.O., 258; vgl. auch Prolegomena, $ 5 (AA 4.277).

a

12

Einleitung

diesem darin überein, daß mit diesen Begriffen nicht „über die Erfahrungsgrenze hinauszugehen“ ist??, Humes „Scepticism“, dem Kant entgegentreten wollte, betraf die Möglich-

keit eines sinnvollen Gebrauchs des reinen Verstandes?® und bestand nicht in der These, alle Erkenntnisse seien „ein bloß subjectives Spiel der Vorstellungskräfte“””. Es ist aber diese These gemeint, deren Widerlegung man als Aufgabe der ‚Deduktion der Kategorien‘ ansieht, wenn man der heute weit verbreiteten Interpretation dieses zentralen Lehrstücks von Kants kritischer Philosophie folgt. Diese Auffassung beruft sich daher zu Unrecht auf dessen eigene Darstellung seiner Beziehung zu Hume. Damit ist noch nicht über die Richtigkeit dieser Auffassung entschieden, sondern nur eine ihrer möglichen Begründungen als irrig abgewiesen. Eine Betrachtung der Entwicklungsgeschichte wird natürlich Aufschluß über die Kant leitenden Intentionen geben können und somit die Voraussetzung schaffen, um eine solche Entscheidung treffen zu

können, wie sieauch ein Licht auf die viel erörterte Frage werfen wird, obundin

welcher Weise Hume Kants Denken beeinflußt hat. Eine Beschäftigung mit der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ eröffnet die Möglichkeit, etwas über den Hintergrund zu erfahren, in dem sein schließlich in großer Eile niedergeschriebener Gedankengang für ihn stand, und bietet die Gelegenheit, globale

Interpretationen zu überprüfen. Eine solche Beschäftigung bemüht sich darum,

die Genese der Fragestellung und die Sequenz von Antworten als die Entfaltung eines Argumentationszusammenhangs zu verstehen, durch den das Beweisziel dieser Überlegungen und die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um es zu erreichen, ermittelt werden können. Auch wenn dieses Vorhaben hier nicht so

weit vorangetrieben wird, daß eine von Kant selbst veröffentlichte Fassung der

‚Deduktion der Kategorien‘ betrachtet wird, so unterscheidet es sich doch

schon im Ansatz von zwei Verfahren der Interpretation dieses zentralen Lehr-

stücks der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, die von zwei gegenwärtigen namhaften

Kant-Interpreten gewählt worden sind. Das erste Verfahren besteht in einer selektiven Interpretation von Kants

„etwas tief angelegter Betrachtung“, wie sie etwa Strawson entwickelt hat. Er zerlegt sie in zwei Teile, - in den Teil, der eine quasi-psychologische Beschrei-

bung und Erklärung des Zustandekommens von Erkenntnis gibt, und in den

Teil, den man als ein Argument verstehen kann, das die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung expliziert. Strawson sieht sich daher vor die interpretatorische Aufgabe gestellt, „to consider the Transcendental Deduction, remembering that we have to see it as two things at once: both as an argument 25 Vgl. Prolegomena, $ 58, wo Kant den „Grundsatze des Hume“ akzeptiert, „den Gebrauch

der Vernunft nicht über das Feld aller möglichen Erfahrung dogmatisch treiben“ (AA 4.360); vgl. auch A 760/B 788; A 767/B 795, 26 Vgl. auch KpV, Dialektik, 2. Hauptstück VII (AA 5.141).

hinaus zu

27 KU, $ 21 (AA 5.238); Patzig bemerkt zu dem o. g. Aufsatz von Bennett zu Recht, „that the

establishment of an objective world against sceptical doubts is not high up on Kant’s philosophical priority list.“ (Bieri et al., a.a.O., 71),

>

Einleitung

13

about the implications of the concept of experience in general, and also as a description of the transcendental workings of the subjective faculties, whereby experience is produced“2®. Strawson ist sich bewußt, daß das, was er die „Beschreibung der transzendentalen Aktivitäten der subjektiven Fähigkeiten“ nennt, ein nicht zu eliminierender Bestandteil der ‚Deduktion der Kategorien‘ ist. Es kann daher nicht darum gehen, die „Beschreibung“ in ein „Argument“ zu verwandeln, sondern nur darum, sie auseinanderzuhalten: „Rather we musttry

to disentangle the two elements, while remaining aware of them both .. .“”. Strawsons Bemühen, Licht in jene „Dunkelheit“ zu bringen, gilt nur dem Teil der ‚Deduktion‘, den er „das Argument“ nennt; der übrige Teil wird dem Schattenreich der „transcendental psychology“ zugewiesen, über dessen Dun-

kelheit sich der Schleier des Vergessens legt. Während Strawson sich darum bemüht, die Licht- und Schattenseiten der

‚Deduktion der Kategorien‘ voneinander zu separieren, geht Henrich von vornherein davon aus, daß ein solcher Text als ein „innovierender Text“ ein

„undeutlicher Text“ ist?®, der erst durch eine solchen Texten angemessene Interpretation seine „Dunkelheit“ verlieren kann. Henrich schreibt: „Ist aber

ein Text seiner eigenen theoretischen Perspektive nicht mächtig und darum auch nicht zu allen nötigen Distinktionen imstande, so können sich daraus Überlagerungen verschiedener Begründungsgänge in ein und derselben Sequenz von Sätzen ergeben. Die Interpretation hätte allererst auszumachen, welcher von ihnen konsistent gemacht werden kann und welcher auch in entfalteter Form defekt bleibt.“! Unsere Hoffnung auf Einsicht und Durchsicht kann nicht durch eine geeignete Selektion des Textes befriedigt werden, denn „Inno-

vationen in der Theorie“ können nie „... zu Beginn schon ... in sich selbst

hinreichend deutlich gemacht werden“32. Vielmehr müssen wir diese Hoffnung

auf eine Interpretation richten, die „den Text zur Transparenz und sein theoreti-

sches Potential zur vollen Geltung“ bringt. Der Text kann den Schatten seiner

Undeutlichkeit, die ihm als „innovierender Text“ wesentlich anhaftet, nicht hinter sich zurücklassen; erst die Interpretation, die „seiner eigenen theore-

tischen Perspektive mächtig ist“, kann die Dunkelheit zum Verschwinden bringen. Die Betrachtung der Entwicklungsgeschichte eröffnete demgegenüber die Möglichkeit eines ganz anderen Verständnisses der ‚Deduktion der Katego-

rien‘, Im Unterschied zu Strawsons selektivem Vorgehen kann eine solche Betrachtung die Einheit von Kants Überlegungen in den Blick bringen, indem sie ihre veröffentlichte Fassung auf dem Hintergrund seiner frühen Entwürfe und als Realisierungen der in ihnen artikulierten Intentionen versteht und daher Zusammenhänge zu erkennen vermag, die diese Fassung nicht oder nur schwer 28 Bounds, 88. 29

A.a.O.,

89.

30 Identität, 10. 31 A.a.O., 11. 32 A.a.O.,9.

33 AaO,1l.

14

Einleitung

erkennbar zum Ausdruck bringt. Im Unterschied zu Henrichs „hermeneutischem“ Vorgehen bemüht sich das hier geplante Vorhaben um ein Verständnis, das nicht die Einsichten des Interpreten, sondern die Einsichten des Verfassers

des zu interpretierenden Textes als die Lichtquelle ansieht, die die von diesem selbst eingeräumten „Dunkelheiten“ zu durchdringen vermag. Damit wird nicht die Losung ‚Zurück zum Text!‘ ausgegeben, die nach zweihundert Jahren kontroverser Exegese naiv erscheinen muß, sondern es geht darum, einen Text im Zusammenhang eines ganzen Konvoluts von Texten so zum Sprechen zu

bringen, daß er als Ausdruck der argumentativen Intentionen seines Verfassers verständlich wird. In einem von mir geplanten Kommentar zur ‚Deduktion der

Kategorien‘ in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ soll dieses

Vorhaben realisiert werden.

Die Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion

der Kategorien‘ zu betrachten, ist zwar im Vergleich zu der nicht enden wollenden Flut von Publikationen zu den veröffentlichten Versionen dieses Lehrstücks fast so etwas wie ein origineller Einfall, aber es ist klar, daß sie nicht zum ersten Male versucht wird. Soweit ich sehe, haben sich überhaupt nur drei Arbeiten mit diesem Thema beschäftigt. Es versteht sich von selbst, daß die Versuche von

Cohen?* und Paulsen’? weitgehend unberücksichtigt bleiben können, weil sie noch vor der erst 1885 vorliegenden Edition der ‚Reflexionen Kants zur kriti-

schen Philosophie‘ von Benno Erdmann geschrieben wurden. Die 1895 erschienenen ‚Beiträge zur Entwicklung der Kantischen Erkenntnistheorie‘ von

Adickes enthalten nur einen „Ausblick“ auf die philosophische Entwicklung nach 1769, der sich auf fünf Seiten beschränkt?®, In der zweiten, 1908 erschienenen Auflage seines Buches ‚Der Philosophische Kritizismus‘ hat Riehl einen kurzen Abschnitt dem ‚Übergang zur Kritik der reinen Vernunft‘ gewidmet, in dem er von dem zuerst von Erdmann publizierten Material Gebrauch macht?”. Aber die Betrachtung bleibt ganz im allgemeinen und beschränkt sich vor allem auf eine Analyse des bekannten Briefs von Kant an Herz vom 21. Februar 1772. Demgegenüber enthält der erste Band von De Vleeschauwers Werk zu ‚La Deduction Transcendentale dans L’CEuvre de Kant‘ eine ausführliche Beschäftigung mit dem von mir behandelten Thema3®. Aber sie unterscheidet sich im

Grundsätzlichen wie im Detail von der hier gewählten Zugangsart. So ist für De Vleeschauwer die ‚Deduktion der Kategorien‘ eine Lösung des Universalien-

Problems, die er mit der von Abelard vergleicht??; und seine Interpretationen zu Kants Überlegungen sind vor allem exegetischer Natur in der Art von Paton. Was die Unterschiede im einzelnen angeht, so werde ich auf sie zu gegebener

Zeit hinweisen. Erst nachdem ich meine eigene Arbeit im wesentlichen abge34 Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften, Marburg 1873, 35 Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie

36 Kant-Studien, 132ff. 37 366 ff.



Leipzig 1875.

38 La Deduction Transcendentale avant La Critique de la Raison Pure, Paris 1934.

39 A.a.O.,75.

Einleitung

15

schlossen hatte, konnte ich Paul Guyers neues Buch ‚Kant and the Claims of Knowledge‘ studieren, dessen erster Teil sich mit der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘ vor 1781 beschäftigt. Das Buch analysiert diese Entwicklung unter dem Gesichtspunkt, Rahmenbedingungen für eine adäquate Deutung der veröffentlichten Fassungen dieses zentralen Lehrstücks der kritischen Philosophie anzugeben, und liefert so einen wesentlichen Beitrag zu einem Verstehen Kants, das sowohl historisch ist als

auch philosophisches Interesse verdient.

I. Die Fragestellung von 1772 In dem bekannten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 berichtet Kant von dem Plan einer „Critick der reinen Vernunft, welche die Natur der theoretischen so wohl als practischen Erkentnis, so fern sie blos intellectual ist, enthält“. Die Arbeit an diesem Projekt war nach seiner Meinung schon so weit fortgeschritten, daß er den „ersten Theil, der die Quellen der Metaphysic, ihre Methode u. Grentzen enthält ... binnen etwa 3 Monathen“ zu publizieren gedachte. Kant mußte seine Terminvorstellungen revidieren, an dem Plan aber hat er festgehalten. Dieser Brief ist ein ganz ungewöhnliches Dokument, das sowohl für die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte von Kants Denken als auch für die Identifikation der Fragen, die durch eine Deduktion der Kategorien beantwortet werden sollen, von grundlegender Bedeutung ist. Paulsen hat diesen Brief als die beste „Einleitung in das historische

Verständniss

der Kritik

der reinen

Vernunft“ bezeichnet!, und Riehl sah in ihm „zum ersten Male das Problem der

Kritik der reinen Vernunft ausgesprochen“?. Aber dieser Brief darf nicht nur in der Perspektive der neun Jahre

später erschienenen ‚Kritik der reinen Vernunft‘

gelesen werden. De Vleeschauwer hat erklärt, daß „la lettre de 1772 est plutöt un bilan que P&bauche d’un programme futur“?. Zutreffender scheint es mir zu sein, ihn sowohl als eine Zusammenfassung früherer Überlegungen als auch als

einen Entwurf seiner späteren Gedanken anzusehen. Indem er beides zugleich ist, besitzt er eine Komplexität, die aus der Kontinuität wie aus den Veränderun-

gen seines Denkens resultiert und im folgenden in ihren einzelnen Momenten vorgestellt werden soll. Kants Brief beginnt mit einer kritischen Betrachtung seiner eigenen Entwicklung seit dem Ende der sechziger Jahre, die zu der Diagnose eines wesentlichen Defizits seiner Überlegungen zur Metaphysik führt. Die Entdeckung dieses Defizits muß auf dem Hintergrund der ‚Dissertatio‘ gesehen werden und führt zu einer Klärung der Frage, die durch eine Deduktion der Kategorien beantwortet werden soll ($ 1). Das Defizit besteht darin, daß die Beziehung der Verstan-

desvorstellungen auf Gegenstände bislang von ihm nicht erklärt worden ist. Um die Aufgabe einer solchen Erklärung richtig zu verstehen, ist es nötig, den besonderen Status dieser Vorstellungen und die ihnen mögliche Beziehung auf Gegenstände zu klären ($ 2). Kant selber betrachtet seine eigenen Überlegungen als einen Beitrag der Aufklärung des „Geheimnisses“ der Metaphysik, und man muß daher den metaphysischen Charakter jener Aufgabenstellung und im 1 Entwicklungsgeschichte, 151. 2 Kritizismus, 371. 3 Deduction, 255.

;

$ 1: Die Entdeckung von 1772

17

Zusammenhang damit das Projekt einer „Critick der reinen Vernunft“ erläutern ($ 3). Sind diese Punkte geklärt, dann kann man die Fragestellung von

1772 so verstehen, daß die Entwicklung von Kants Überlegungen zu einer Deduktion der Kategorien in ihrer argumentativen Struktur durchsichtig wird.

$ 1: Die Entdeckung von 1772 Kant läßt in dem Brief seine eigene philosophische Entwicklung seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Revue passieren und entwickelt das Projekt einer systematischen Darstellung seiner Überlegungen, das den Titel „Die Grentzen

der Sinnlichkeit und der Vernunft“ tragen sollte. Von diesem Projekt hatte Kant bereits im Juni 1771 Herz berichtet und erklärt, daß er „mit dem Plane dazu nur erst kürzlich fertig geworden“ sei!. Im Februar 1772 sieht sich Kant gezwungen, dieses Projekt beiseitezulegen, weil er bemerkt, „daß mir noch etwas wesentli-

ches mangele, welches ich bey meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andre, aus der Acht gelassen hatte und welches in der That den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys., ausmacht“. Die Entdeckung des Defizits führte zu einer grundlegenden Veränderung von Kants Überlegungen zur Metaphysik: an die Stelle des Projekts ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ tritt das Projekt ‚Die Critick der reinen Vernunft‘. Um zu verstehen, wie Kant zu diesem

Projekt kam, ist es nötig, jene Entdeckung des Defizits des früheren Plans , Ener, genauer zu fassen. Dazu ist es erforderlich, auf das ursprüngliche Projekt ‚Die brauoraez, Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ einzugehen. chi ; " Dieses Projekt hatte zwei Teile, „einen theoretischen und pracktischen“”.

Was den ersten Teil angeht, so gliederte er sich in zwei Abschnitte: „1. Die phaenomologie überhaupt. 2. Die Metaphysik, und zwar nur nach ihrer Natur u. Methode.“* Diese Gliederung der theoretischen Philosophie finden wir bereits in einem Brief, den Kant an Lambert anläßlich der Übersendung der ‚Dissertatio‘ am 2. September 1770 schreibt: „Es scheinet eine ganz besondere,

obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor der Meta-

physic vorher gehen zu müssen, darinn denen principien der Sinnlichkeit ihre

Gültigkeit und Schranken bestimmt werden ... .“. In diesem Brief erklärt Kant,

daß er über einen „Abris“ der Metaphysik verfüge, „so ferne er die Natur

derselben, die ersten Quellen aller ihrer Urtheile und die Methode enthält. . .“°.

Man kann daher davon ausgehen, daß die Einteilung der theoretischen Philoso-

18

I. Die Fragestellung von 1772

phie in Phänomenologie und Metaphysik ein wesentlicher Bestandteil jenes „Abris’“ ist. Da wir diese Differenzierung auch in dem theoretischen Teil des Projekts ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ wiederfinden, können wir jenen ‚Abris‘

mit eben

diesem

Projekt identifizieren.

Der Brief an

Lambert ist aber deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil Kant die ‚Dissertatio‘ als einen Beitrag zur Realisierung dieses Projektes vorstellt’. Mit Hilfe dieser Schrift können wir die Grundzüge des Vorhabens genauer umreißen und die Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der Entdeckung von 1772 schaffen. Im ‚$ 8° der ‚Dissertatio‘ heißt es von der Metaphysik: „Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est METAPHYSICA. Scientia

vero illi propaedeutica est, quae discrimen docet sensitivae cognitionis ab intellectuali; cuius in hac nostra dissertatione specimen exhibemus.“® Diese „scientia propaedeutica“ wird in den Briefen an Lambert und Herz als „Phaenomologie“ bezeichnet, in der die „Gültigkeit und Schranken“ der „Principien

der Sinnlichkeit“ bestimmt werden?. Der Geltungsbereich dieser Prinzipien kann aber nur bestimmt werden, indem der Unterschied zwischen sinnlicher

und intellektueller Erkenntnis deutlich gemacht wird. Gegeben die Explikation dieses Unterschiedes, können dann die Grenzen von Sinnlichkeit und Vernunft

gezogen und damit die Voraussetzungen für eine Entwicklung der Metaphysik „nach ihrer Natur und Methode“ geschaffen werden!®. Der Unterschied zwischen den Vorstellungen der Sinne und denen des Verstandes ist für Kant zuerst einmal ein Unterschied zwischen verschiedenen Vermögen, Vorstellungen zu haben oder zu erwerben. Kant behauptet, daß „Vorstellungen wegen ihrer Entstehung sinnlich genannt werden“!!; und dies gilt ebenso für die intellektuellen Vorstellungen. Die Entstehung der Vorstellungen ist aber in dem Vermögen begründet, solche Vorstellungen zu haben oder zu erwerben; und die entsprechenden Vermögen sind Sinnlichkeit und Verstand. Die Sinnlichkeit wird von Kant als die Rezeptivität eines Subjekts bestimmt, „durch die es möglich ist, daß dessen Vorstellungszustand durch die Gegenwart irgendeines Objekts auf bestimmte Weise betroffen wird“!2. Diese

Erklärung geht davon aus, daß Subjekte Wesen sind, die Vorstellungen haben, und sich daher in einem Vorstellungszustand befinden. Es wird weiterhin angenommen, daß einige Vorstellungen dadurch zustandekommen, daß gegebene Objekte den Vorstellungszustand der Subjekte beeinflussen. Solche Vor-

stellungen sind sinnliche Vorstellungen, die Wirkungen eines vom Subjekt verschiedenen Objekts sind. Als Wirkungen, die den Vorstellungszustand des Subjekts modifizieren, sind diese Vorstellungen nicht nur von dem Objekt 7 Vgl. auch Riehl, Kritizismus, 368. 8 AA 2.395. 9 AA 10 AA

10.98. 10.129.

11 Diss, $5 (AA 2.393.31/2). 12 Diss., $3 (AA 2.392.13/4).

$ 1: Die Entdeckung von 1772

19

abhängig, sondern auch von diesem Zustand. Da dieser Zustand von Subjekt zu Subjekt variiert oder variieren kann, können die Vorstellungen, die ein gegebenes Objekt in verschiedenen Subjekten auslöst, jeweils andere sein!?. Das Vermögen der Sinnlichkeit ist demnach ein Vermögen, Vorstellungen zu haben oder zu erwerben,

deren Zustandekommen

kausal erklärt wird. In dieser

Erklärung werden zwei Faktoren als kausale Determinanten von Vorstellungen berücksichtigt, der Vorstellungszustand des Subjekts und das gegebene Objekt. Intellektuelle Vorstellungen haben ihren Ursprung in dem Verstande, der als

„das Vermögen des Subjekts, durch das es imstande ist, dasjenige vorzustellen, was aufgrund seiner Beschaffenheit dessen Sinne nicht begegnen kann“ bezeichnet wird!*. Es fällt auf, daß diese Erläuterung keine Erklärung für das Zustandekommen intellektueller Vorstellungen gibt. Der Verstand wird vielmehr durch die Inhalte der Vorstellungen, die durch ihn erworben werden können, charakterisiert; und diese Inhalte werden nur negativ, als die nicht-sinnlicher Vorstel-

lungen bestimmt. Die Inhalte von Vorstellungen, die wegen ihrer Natur nicht Inhalte sinnlicher Vorstellungen sein können, sind Inhalte solcher Vorstellungen, die entweder gar nicht kausal durch einen Gegenstand hervorgerufen werden oder zumindest nicht in der zuvor beschriebenen Weise zustandekommen. Es wird sich zeigen, daß diese indirekte Charakterisierung intellektueller

Vorstellungen nicht ausreicht, um sie adäquat zu beschreiben. Die Betrachtung der Differenz von sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen unter dem Gesichtspunkt ihres Ursprungs führt zu einer bloß negativen Charakterisierung der letzteren. Zu einemähnlichen Ergebnis führt die Analyse

dieser Differenz unter dem Gesichtspunkt ihrer Inhalte. Der Inhalt einer sinnlichen Vorstellung wird als „sensibile“ oder auch als „Phaenomen“ bezeichnet'?.

Kant behauptet, daß Vorstellungen von Phaenomenen Vorstellungen von Dingen, wie sie erscheinen, sind!%, und begründet dies damit, daß zu den kausalen

Determinanten sinnlicher Vorstellungen der Vorstellungszustand des Subjekts gehört, der bei verschiedenen Subjekten verschieden sein kann. Erscheinungen sind Erscheinungen für jemanden. Für Kant sind sinnliche Vorstellungen aufgrund ihrer Genese von dem Vorstellungszustand des Subjekts abhängig; und

diese genetische Abhängigkeit dient ihm zur Bestimmung des Inhalts solcher Vorstellungen!?. Deswegen wird dieser als Erscheinung oder als Ding, wie es erscheint, bezeichnet. Erscheinungen sind demnach die Inhalte solcher Vorstel-

13 Vgl. Diss., $ 4 (AA 2.392.236). 14 Diss., $3 (AA 2.392.15/6). 15 Diss., $3.

16 Vgl. Diss., $ 4.

.

17 Herz verwechselt die Beschreibung dieser Abhängigkeit mit einer solchen Bestimmung, wenn er behauptet, daß die sinnliche Vorstellung „nur den veränderten Zustand eines

Subjekts zum Vorwurf hat...“ (Betrachtungen, 28). Guyer, Kant, 15, schreibt: „Paradoxically, Kant appears to think that a passive reception of an external stimulus reveals more

about the constitution of the mind than of the object ...“. Richtig ist, daß eine solche

Vorstellung beides tut, und sie gibt nicht deswegen über diesen Zustand Auskunft, weil sie

passiv, d.h. verursacht ist, sondern weil diese Wirkung als Modifikation des Vorstellungs-

zustands des Subjekts gedacht wird.

20

I. Die Fragestellung von 1772

lungen, die durch Objekte verursacht werden, und die als Wirkungen von dem Vorstellungszustand des Subjekts abhängig sind. Die Charakterisierung des Inhalts sinnlicher Vorstellungen beruht also auf einer Verbindung zweier Gesichtspunkte, von denen der eine das Objekt, der andere aber den Vorstellungszustand des Subjekts betrifft. Erscheinungen haben so den komplexen Status, den Locke den „secondary qualities“ zusprach, indem er sie als Qualitäten „which in truth are nothing in the Objects themselves, but Powers to produce various Sensations in us...“ ansah'®.

Wie bei der Darstellung der Genese, so greift Kant auch bei der Bestimmung des Inhalts intellektueller Vorstellungen auf seine Ausführungen zu sinnlichen Vorstellungen zurück. Er behauptet, daß diejenige Vorstellung, „die von sol-

cher subjektiven Bedingung frei ist, nur das Objekt betrifft“, und begründet damit, daß solche Vorstellungen als Vorstellungen von Dingen, wie sie sind, zu

gelten haben!?. Intellektuelle Vorstellungen sind demnach Vorstellungen, deren Zustandekommen nicht von dem Vorstellungszustand des Subjekts abhängt. Auch diese Charakterisierung erinnert an Locke, - an seine Auffassung der „ideas of primary qualities“?°. Im Unterschied zu Locke, der verschiedene Arten einfacher empirischer Vorstellungen unterscheiden wollte, entstehen intellektuelle Vorstellungen nicht empirisch durch „Impuls“ der Objekte auf unseren Vorstellungszustand?!, sondern sie sind durch „die Natur des Verstan-

des selbst gegeben“??. Kant betont mehrfach, daß intellektuelle Vorstellungen auf diese Weise „gegeben“ sind??, und er will damit ihren Ursprung deutlich machen. Diese Vorstellungen werden durch den „realen Gebrauch“ des Ver-

standes gegeben?*, und zwar in der Weise, daß sie „aus den dem Geiste eingepflanzten Gesetzen ... abstrahiert werden“25. Das Modell, das Kant hier vorschwebt, besteht darin, daß der Verstand ein Vermögen ist, dessen korrekte

Ausübung unter gewissen Regeln steht, durch die der Inhalt intellektueller Vorstellungen spezifiziert werden kann. Wenn diese Auffassung von der Genese solcher Vorstellungen für die Erklärung der These, daß sie Vorstellungen von

„Dingen, wie sie sind“ sind, herangezogen wird, so kann das nur bedeuten, daß der korrekte Gebrauch der Vermögen des Verstandes nicht wie der Vorstellungszustand von Subjekt zu Subjekt variieren kann und nicht subjekt-relativ zu charakterisieren ist. Intellektuelle Vorstellungen beziehen sich auf „Dinge, wie

sie sind“, weil ihr Inhalt durch die Bedingungen eines subjekt-invarianten korrekten Gebrauchs des Vermögens des Verstandes gewonnen wird. Daß

dieser Inhalt als „conceptus vel rerum vel respectuum“ bestimmt2® und weiter18 Essay, II. 8.10.

19 Diss., $ 4(AA 2.392.26/9). 20 Vgl. Essay, II. 8.15. 21 Vgl. Essay, II. 8.11.

22 Diss., $6 (AA 2.394.16/7). 23 Diss., $5 (AA 2.393.18), $ 23 (AA 2.411.8); vgl. Paulsen, Entwicklungsgeschichte, 106f.

24 Diss.,$ 5.

25 Diss,,$ 8. 26 Vgl. Diss., $5;$ 6;$ 23.

$ 1: Die Entdeckung von 1772

21

hin als „Möglichkeit, Existenz, Notwendigkeit, Substanz, Ursache, etc.“ spezi-

fiziert wird?”, ist freilich ohne eine Analyse jenes Gebrauchs und seiner Bedingungen kaum zu begründen. In der ‚Dissertatio‘ finden wir dazu keine Überlegungen. Wir haben die Unterschiede zwischen sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen aufgrund ihrer Genese und ihres Inhalts kennengelernt. Aber nicht der Unterschied, sondern „die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ war

das Thema des Projekts, das Kant vor 1772 beschäftigt hatte. Wie lassen sich diese Grenzen aufgrund der Analyse der beiden Arten von Vorstellungen angeben? Betrachten wir zuerst die Grenzen der Sinnlichkeit! Kant schreibt: „Zu einer sinnlichen Vorstellung gehört daher ebenso eine Materie, welches die

Empfindung ist, und deretwegen Vorstellungen ‚sinnlich‘ genannt werden, wie eine Form, deretwegen Vorstellungen ‚sinnenhaft‘ genannt werden, obwohl die Form sich als frei von aller Empfindung erweist.“28 Die Form sinnlicher Vorstellungen wird durch Raum und Zeit gebildet, die als „principium formale“

unserer Anschauung gelten und eine Bedingung dafür sind, daß „irgendetwas ein Gegenstand unserer Sinne sein kann“2?. Die Grenzen sinnlicher Vorstellungen lassen sich mit Hilfe dieser Überlegungen auf folgende Weise bestimmen. Jede solcher Vorstellungen hat eine Form, die in Raum oder Zeit besteht, und nur dasjenige kann durch sie vorgestellt werden, was unter diesen Bedingungen

steht. Die Inhalte sinnlicher Vorstellungen müssen daher die Bedingung erfüllen, daß sie in Raum und Zeit sind. Raum oder Zeit als formales Prinzip sinnlicher

Vorstellungen bestimmen notwendige Bedingungen der Inhalte solcher Vorstellungen, weil diese als Erscheinungen wesentlich als Inhalte einer bestimmten Art von Vorstellungen charakterisiert sind. Die Form dieser Vorstellungen gibt so Bedingungen an, unter denen etwas ihr Inhalt sein kann: die Form ıst ein „dem Geist eingepflanztes Gesetz, die Empfindungen, die auf der Gegenwart

eines Objekts beruhen, für sich zu ordnen“3!. Geht man davon aus, daß nicht alle Dinge in Raum

und Zeit sind, so ergeben sich durch die notwendigen

Bedingungen der Phänomene auch die Grenzen der Sinnlichkeit: nur das kann Inhalt einer sinnlichen Vorstellung sein, was unter den Bedingungen von Raum

und Zeit steht. Betrachten wir nun die Grenzen des Verstandes! Die intellektuellen Vorstellungen sind Vorstellungen von Dingen. Da diese Dinge nicht als Inhalte von Vorstellungen bestimmt sind, die vom Vorstellungszustand eines Subjekts abhängig sind, unterscheidet Kant diese Dinge als „Dinge, wie sie sind“, von den 27 Diss., $8. Guyer, Kant, 17, behauptet, daß „the basic content of intellectual cognition ...18 moral philosophy and rational theology.“ Er verwechselt den Inhalt der intellektuellen Vorstellungen mit den Zwecken ihrer Verwendung zum Behufe einer Erkenntnis. Die von Kant in ‚$ 9° genannte Ontologie wird von ihm nicht berücksichtigt.

28 Diss., $5 (AA 2.393.13/6). 29 Diss., $ 10 (AA 2.396.24/6). 30 Vgl. Diss., $$ 3f.

31 Diss., $4 (AA 2.393.6/7).

22

I. Die Fragestellung von 1772

Erscheinungen als Dinge, für die es wesentlich ist, daß sie einem Subjekt so oder so erscheinen. Aber diese Dinge, wie sie sind, sind nichts anderes als die Dinge

selber, zu denen auch die Dinge, wie sie erscheinen, gehören. Daß die Vorstellungen von Erscheinungen kausal zustandekommen, besagt nicht, daß die Erscheinungen sich zu den Dingen wie die Wirkungen zu ihren Ursachen verhalten. Daher muß die Auffassung von Riehl zurückgewiesen werden, daß „die Welt der Phänomene nur die Wirkungen der Dinge enthält, die Welt der

Noumene die wirkenden Dinge selbst“??, Als nicht-sinnliche Vorstellungen stehen intellektuelle Vorstellungen nicht unter den Bedingungen der Form jener Vorstellungen; ihre Inhalte müssen nicht in Raum oder Zeit sein??. Diese Inhalte sind Dinge und Begriffe oder Relationen, welche von Dingen überhaupt und ohne jede Einschränkung gelten. Die Grenzen der intellektuellen Vorstellungen sind schlicht die Grenzen, die durch den Begriff der Vorstellung von etwas gegeben sind; und die Grenzen ihrer Inhalte fallen zusammen mit den Grenzen der sinnvollen Rede von Dingen und der Anwendung von Begriffen. Das bedeutet aber, daß in der ‚Dissertatio‘ zwar die Grenzen der Sinnlichkeit, aber nicht die Grenzen des

Verstandes bestimmt werden’*. Für diesen bemerkenswerten Sachverhalt sprechen auch einige andere Gründe. Wir hatten gesehen, daß der Begriff der Form der sinnlichen Vorstellung die Grundlage dafür abgibt, die Grenzen der Sinnlichkeit und der Phänomene zu bestimmen. Der entsprechende Begriff der Form der intellektuellen Erkenntnis, der nicht mit dem Begriff des formalen

Gebrauchs des Verstandes verwechselt werden darf, fehlt dagegen in der ‚Dissertatio“°, Es fällt weiterhin auf, daß die von Kant so geschätzte Grundregel,

daß „die eigentümlichen Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis nicht ihre Grenzen überschreiten und die intellektuellen Prinzipien beeinflussen“? sollen, auf der Annahme beruht, daß es Grenzen der Sinnlichkeit gibt. Von solchen des

Verstandes ist nicht die Rede. In Kants Diagnose der metaphysischen Irrtümer beruhen diese daher auf einer Mißachtung der Grenzen der Sinnlichkeit?”. Er hat das Ergebnis seiner Überlegungen daher zutreffend charakterisiert, wenn er in einem Brief vom 16. November 1781 an Bernoulli schreibt: „Im Jahre 1770 konnte ich die Sinnlichkeit unseres Erkenntnisses durch bestimmte Grenzzeichen ganz wohl vom Intellectuellen unterscheiden ...“8. Was Kant aber noch nicht gelungen war, war, eine Bestimmung der Grenzen der Vernunft zu geben; und es ist diese Aufgabe, die Frage nach dem „Ursprung des Intellectuellen von

32 Kritizismus, 349; anders a.a.O., 351.

33 Vgl. Riehl, Kritizismus, 351. 34 Riehl, Kritizismus, 350, spricht davon, daß Kant nach der ‚Dissertatio‘ sich darum bemühte, „statt der Grenzen

der Sinnlichkeit vielmehr die Grenzen

bestimmen“. 35 Herz, Betrachtungen, 32, 44, scheint dies übersehen zu haben.

36 Diss., $ 24. 37 Vgl. 2.2.0. 38 AA 10.277,

der reinen Vernunft zu

en

$ 1: Die Entdeckung von 1772

23

unserem Erkentnis“??, deren Bedeutung er im Jahre 1772 erkannte. In dem bekannten Brief an Herz berichtet er von dieser Erkenntnis. Auch wenn die ‚Dissertatio‘ keine Bestimmung der Grenzen der Vernunft

enthält, so gibt sie doch eine Auskunft zum Anwendungsbereich intellektueller Vorstellungen. Zu diesem gehören auf jeden Fall die Erscheinungen, also die Dinge, die nur unter den Bedingungen von Raum oder Zeit gegeben sind. So heißt es von intellektuellen Begriffen, daß ihre „Beziehung auf das Subjekt des

Urteils, auch wenn es sinnlich gedacht wird, immer ein Merkmal bezeichnet, das dem Ding selbst zukommt“. Erscheinungen sind Dinge, die im Hinblick auf subjektive Bedingungen unseres Erkenntnisvermögens charakterisiert sind; und intellektuelle Begriffe lassen sich von diesen Dingen aussagen, weil sie sich ganz allgemein auf Dinge beziehen. Auf das Verhältnis von intellektuellen Begriffen und Erscheinungen ging Lambert in seiner Antwort auf den Begleitbrief Kants anläßlich der Übersendung der ‚Dissertatio‘ ein: „..... so istes in der

Ontologie nützlich, auch die vom Schein geborgte Begriffe vorzunehmen, weil ihre Theorie zuletzt doch wider bey den Phaenomenis angewandt werden muß, Denn so fängt auch der Astronome beym Phaenomeno an, leitet die Theorie des Weltbaues daraus her, und wendet sie in seinen Ephemeriden wieder auf die Phaenomena und deren Vorherverkündigung an. In der metaphysic, wo die Schwürigkeit vom Schein so viel Wesens macht, wird die Methode des Astronommen wohl die sicherste seyn.“*! Eine Erörterung der intellektuellen Begriffe, die auf Erscheinungen anzuwenden sind, gehört deshalb zu den Aufgaben der Metaphysik oder Ontologie, weil diese Begriffe auch auf Erscheinungen angewandt werden müssen, wie Lambert sagt, und nicht nur, wie Kant gelehrt

hatte, können. Der Hinweis von Lambert mußte diesen zu der grundsätzlichen Frage führen, wie denn die Möglichkeit der Anwendung intellektueller Begriffe überhaupt zu erklären sei - eine Frage, die in der ‚Dissertatio‘ gar nicht aufgeworfen worden war, weil das Thema ‚die Grenzen des Verstandes‘ gar nicht behandelt worden war. Kant selber hat zugegeben, daß der Brief von

Lambert ihn „in eine lange Reihe von Untersuchungen“ verwickelt*? und ihn „auf die Prüfung seiner Lehren“ zurückgeführt hat*”. Wie berechtigt Lamberts Hinweis war, zeigt ein kurzer Blick auf die ‚Dissertatio‘. Sein Vergleich der Metaphysik mit der Astronomie macht deutlich, daß die Begriffe der Metaphysik für die Erkenntnis der Phänomene wichtig sind, daß die Erkenntnis der Phänomene nicht ohne den Gebrauch intellektuelle Begriffe möglich ist. Darüber gibt die ‚Dissertatio‘ keine Auskunft. In ‚$ 12° werden Physik und Psychologie als empirische Wissenschaften von den Phäno39 A.a.O., 278. Kant sagt daher auch, daß der Begriff des „intellectualen . . . blos negativ“ war. (R 5015 - AA 18.60.11f.).

40 Diss., $ 24 (Anm.) - AA 2.412.27/9 -; vgl. dazu den Brief an Schultz vom 26. 8. 1783

(AA 10.351).

41 Brief vom 13. 10. 1770 (AA 10.108); zur Bedeutung dieses Briefs vgl. L. W. Beck, Early German Philosophy, Cambridge/Mass.,

1969, 463.

42 Brief an Herz vom 7. Juni 1771 (AA 10.122).

43 Brief an Herz vom 21. Februar 1772 (AA 10.133).

24

I. Die Fragestellung von 1772

menen und Geometrie, reine Mechanik und Arithmetik als nicht-empirische

Wissenschaften unserer Anschauungsformen erwähnt**. Daß solche Wissenschaften nicht ohne den Gebrauch intellektueller Begriffe wie ‚Notwendigkeit‘,

‚Substanz‘ und ‚Ursache‘ möglich sind, kommt ihm nicht in den Sinn. In diesen Wissenschaften finden wir nur einen logischen, keinen realen Gebrauch des Verstandes*®. Kant steht so sehr im Bann der Gefahr, sinnliche Begriffe für intellektuelle Begriffe zu halten, daß ihm der Gedanke gar nicht in den Sinn kommt, daß eine Verschiedenheit dieser Begriffe auch Raum für die Möglichkeit ihrer funktionalen Zuordnung läßt. Den Fehler, den er Leibniz unterstellte, „die

Erscheinungen zu intellectuieren“, herauszustellen*, war ihm so wichtig, daß er darüber die Gefahr nicht bemerkte, daß die Verstandesbegriffe beziehungslos neben unseren sinnlichen Begriffen zu stehen kommen und gewissermaßen von

unserer Erkenntnis der Phänomene ‚abgekoppelt‘ werden. Hier konnte der

Brief von Lambert wirklich dazu dienen, „den Verfasser auf die Prüfung seiner Lehren zurückzuführen“. Im Jahre 1772 wird die Frage nach den Grenzen des Verstandes durch eine andere, grundsätzlichere abgelöst. Die Aufgabe ist nicht mehr, den Anwendungsbereich intellektueller Vorstellungen zu bestimmen; es geht ihm vielmehr

darum, zu erklären, daß sie überhaupt einen Anwendungsbereich haben. Kant schreibt an Herz: „Ich hatte mich in der dissertation damit begnügt die Natur

der intellectual Vorstellungen blos negativ auszudrüken: daß sie nemlich nicht modificationen der Seele durch den Gegenstand wären. Wie aber denn sonst eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise affıcirt zu seyn möglich überging ich mit Stillschweigen.“* Die Aufgabe, eine Erklärung dafür zu geben, daß und wie sich nicht-sinnliche Vorstellungen auf Gegenstände beziehen, wird von Kant in den Zusammenhang der ganz

allgemeinen Aufgabe gestellt, die durch die Frage formuliert wird: „... auf

welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vor-

stellung nennt, auf den Gegenstand?“*® Das Besondere der intellektuellen

Vorstellung ergibt sich durch ihre Abgrenzung von zwei anderen Arten von Vorstellungen. Es gibt zum einen „passive oder sinnliche Vorstellungen“, deren Beziehung auf einen Gegenstand so beschrieben wird: „Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das subject von dem Gegenstande afficirt wird, so ists leicht

einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sey und wie diese Bestimmung unsres Gemüths etwas vorstellen d.i. einen Gegenstand haben könne.“ Die hier nicht gegebene Erklärung der Beziehung einer Vorstellung aufiihren Gegenstand scheint für Kant aus der Art des Zustandekommens 44 Vgl.$7 (AA 2.395). 45 Vgl. 2.2.0. (AA 2.398.5); vgl. auch die Bestimmung der empirischen Erkenntnis: $ 5 (AA 2.394.2/5). Herz, Betrachtungen, 90, sagt daher, daß in den Wissenschaften von den Phänomena „der Gebrauch der Vernunft dabei ... bloß logisch“ ist; vgl. auch Riehl, Kritizismus, 358, und Guyer, Kant, 16. 46 Vgl. A 271/B 327.

47 AA 10.1306. 48 A.a.O., 130.

|

$ 1: Die Entdeckung von 1772

25

der Vorstellung zu folgen. In einer Reflexion aus der damaligen Zeit heißt es: „Daß eine Vorstellung, welche selbst eine Wirkung des obiects ist, ihm correspondiere, ist wohl zu begreifen.“*? Kant scheint anzunehmen, daß eine kausale Abhängigkeit einer Vorstellung ihre Beziehung auf einen Gegenstand begrün-

det; und zwar soll dieser Gegenstand eben dasjenige sein, was als Ursache der Vorstellung fungiert. Kant ist nicht der erste, der eine kausale Abhängigkeit der Vorstellungen als Begründung für ihre Beziehung auf Gegenstände in Anspruch nimmt; Descartes und Locke haben in diesem Punkte nicht anders gedacht”.

Von „passiven oder sinnlichen Vorstellungen“ sind nun Vorstellungen zu

unterscheiden, die man als aktive Vorstellungen bezeichnen könnte. Von solchen Vorstellungen heißt es: „Eben so: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des objects activ wäre, d.i. wenn dadurch selbst der Gegenstand

hervorgebracht würde, wie man sich die Göttliche Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde

auch die Conformitaet derselben mit den

objecten verstanden werden können.“ Was das Verhältnis von Vorstellung und Gegenstand angeht, so haben wir es hier mit dem zu dem vorigen konversen

Fall zu tun: die Vorstellungen fungieren als Ursachen, deren Wirkungen ihre

Gegenstände sind. Für Kant ist es wichtig hervorzuheben, daß die intellektuellen Vorstellungen sich weder in der einen noch in der anderen Weise, also

überhaupt nicht kausal auf ihren Gegenstand beziehen. Er schreibt: „Es ist also

die möglichkeit so wohl des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als’des intellectus ectypi, der die data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung-der Sachen schöpft, zum wenigsten verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwekken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reine Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der sinne abstrahirt seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben,

aber doch weder in so ferne sie vom Obiect gewirkt werden, noch das obiect selbst hervorbringen.“?! Diese Verstandesbegriffe können nicht, wie empirische Begriffe, durch eine logische Analyse empirischer Daten gewonnen werden, weil sie reine Begriffe sind; ihre Beziehung auf Gegenstände kann daher nicht mit der kausalen Abhängigkeit der Begriffe von den Gegenständen begründet werden, die Anlaß zu diesen Daten geben. Die Verstandesbegriffe sind aber auch keine Begriffe eines produktiven Verstandes, der die Gegenstände zu seinen Begriffen selber setzt; denn unser Verstand ist kein „intellectus archetypi“. Wie aber ist dann das

Verhältnis von reinen Verstandesbegriffen und den Gegenständen zu denken?

Kant räumt in dem Brief ein, daß „diese Frage... immer eine Dunckelheit in

49 R 4473.

50 Vgl. Descartes, Passions de l’äme I, $$ 23f. Locke, Essay II, 1.3.

51

AA

10.130.

26

I. Die Fragestellung von 1772

Ansehung unseres Verstandesvermögens“ hinterläßt’? Aber der Brief zeigt auch, daß es ihm bereits gelungen war, in zwei Punkten etwas Licht in diese

Dunkelheit zu bringen. Der erste Punkt betrifft den Anwendungsbereich der reinen Verstandesbegriffe. Kant schreibt an Herz: „Ich hatte gesagt: die sinnliche Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie sie erscheinen, die intellectuale wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns afficiren . . .«°°. Diese rhetorische Frage legt die Vermutung nahe, daß Kant Lamberts Anregung, die Ontologie müsse sich mit den „vom Schein geborgten Begriffen“ beschäftigen, um die Anwendung der Ontologie auf die Phänomene sicherzustellen, aufgegriffen und sie dahingehend verschärft hat, daß die Begriffe des Verstandes sich nur dann auf Gegenstände beziehen, wenn sie sich auf Erscheinungen beziehen. Die Erklärung der Beziehung intellektueller Vorstellungen auf Gegenstände wird somit zur Erklärung ihrer Beziehung auf Erscheinungen. Diese Restriktion des Anwendungsbereichs der Verstandesbegriffe läßt sich auch durch Reflexionen aus den Jahren

nach 1770 belegen. So heißt es in ‚R 4349°: „Die Erkenntnis ist entweder

sensitiv oder intellectual; die objecten entweder sensibel oder intelligibel. Es kan

uns keine andere Welt als die sensible gegeben werden ....“5*. Daher kritisiert Kant explizit das Konzept von Metaphysik, das er in der ‚Dissertatio‘ vertreten hatte: „Der Gebrauch der metaphysic in Ansehung des theoretischen ist blos negativ; sie eröfnet nicht die Erkenntnis der Dinge und ist nicht dogmatisch; denn wo sollte sie die Erkenntnis der Dinge ohne Sinnen hernehmen.“” In dem Herz-Brief von 1772 finden wir aber nicht nur eine explizite Kritik an

der ‚Dissertatio‘, die zu der Restriktion der Anwendungsbereiche der reinen

Verstandesbegriffe führt. Mit etwas gutem Willen kann man auch Ansätze zu einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen Begriffen und den Erscheinungen bemerken. Dieses Verhältnis, so hatten wir gesehen, kann nur eine nicht-kausale Beziehung sein, die Kant als „Übereinstimmung“ bezeichnet®.

Was ist damit gemeint? Er schreibt: „Allein im Verhältnis der qualitaeten, wie

mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß ...“7. Die Übereinstimmung der intellektuellen Vorstellungen mit den Erscheinungen differenziert sich also in ein Verhältnis der „Einstimmung“ zwischen Begriffen und Gegenständen und in ein solches Verhältnis zwischen

Grundsätzen über die Möglichkeit von Dingen oder Sachen und der Erfahrung.

Was den ersten Fall angeht, so heißt es in ‚R 4473‘: „Es ist die Frage... ., wie es 52 AA

10.131.

53 A.a.O. 54 Vgl. auch R 4347: „Vor uns ist alles apparentz.“ 55 R. 4445, 56 AA 10.131.657. 57 A.a.O., 15/9.

$ 1: Die Entdeckung von 1772

27

zugehe, daß demjenigen, was blos ein Produkt unseres sich isolirenden Gemüths ist, Gegenstände correspondiren ...“°®. Ich bin der Meinung, daß diese Frage den Nachweis betrifft, daß gewisse Begriffe nicht leer sind. Überträgt man dies

auf den Herz-Brief, so ist das erste Verhältnis der „Übereinstimmung“, die

Beziehung der „Einstimmung“ zwischen Begriffen und Gegenständen, nichts anderes als die Beziehung eines Begriffs zu Gegenständen, die unter ihn fallen. die gesuchte Erklärung des Verhältnisses der „Übereinstimmung“ ist dann der Nachweis, daß die reinen Verstandesbegriffe nicht leer sind. Demgegenüber

kann das Verhältnis der „Übereinstimmung“ zwischen den „Grundsätzen über

die Möglichkeit der Dinge“ und der Erfahrung als ein Bedingungsverhältnis verstanden werden. Es geht darum, notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung anzugeben. Sowohl der Nachweis, daß gewisse Begriffe nicht leer sind, als auch die Angabe notwendiger Bedingungen bestimmen keine

kausalen Abhängigkeitsverhältnisse. Kant verfügt zwar noch nicht über das

Konzept ‚Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis“, aber er ist auf dem

Wege, sich von dem Modell zu befreien, das Verhältnis von Vorstellungen und Gegenstand als kausale Abhängigkeit zu denken, und so ein angemessenes Konzept von dem zu entwickeln, was das Beweisziel von Überlegungen ist, die später als „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ bezeichnet werden. Betrachtet man die Entdeckung von 1772 auf dem Hintergrund des Projekts ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘, so läßt sich die veränderte Position Kants dadurch charakterisieren, daß er nun erstens nach einer Erklärung für die bislang vorausgesetzte Beziehung der Verstandesbegriffe auf Objekte fragt6°, und daß er zweitens den Anwendungsbereich dieser Begriffe restringieren will. Zwischen diesen beiden Aufgaben besteht ein Zusammenhang: die grundsätzliche Frage nach einer Erklärung dafür, daß sich diese Begriffe auf Objekte beziehen, stellt sich deswegen, weil die von Kant intendier-

te Restriktion Grenzen des sinnvollen Gebrauchs dieser Begriffe angeben will.

nn

Solche Grenzen anzugeben, ist aber nur dann sinnvoll, wenn sichergestellt ist, : daß es überhaupt einen sinnvollen Gebrauch gibt. Der Zusammenhang der beiden Aufgaben soll im folgenden durch eine Betrachtung der Entwicklung 58 AA 17.564.7/11; vgl. Z. 17/8. 59 Vgl. dazu A 92/3-B 12475. 60 Beck, a.a.O., 464, hat diese Veränderung bestritten und sieht Kant in dem Herz-Brief von

1772 mit einem Projekt beschäftigt, das als Modifikation des Projekts, zu dem die ‚Dissertatio‘ gehört, zu verstehen ist. Aber abgesehen davon, daß Kant den Titel ändert und auf die neue, bislang noch nicht einmal, auch nicht von ihm selber, gestellte Frage hinweist, deren

Antwort in einer „Critick der reinen Vernunft“ gefunden werden soll, zeigt diese Frage selber, daß ihm nun etwas zu einem Problem geworden ist, was er zuvor nicht als ein solches gesehen hatte. Das Problem besteht darin, wie die Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände zu erklären sei, und stellt sich für Kant unter der Voraussetzung, daß eine solche Erklärung ziW”zeigen hat, daß diese Beziehung genau dann vorliegt, wenn „die Erfahrung getreu“ mit diesen Begriffen übereinstimmt. Becks Vermutung, Kant habe damals gemeint, diese Erklärung durch eine Bestimmung der reinen Verstandesbegriffe zu finden, leuchtet nicht ein; und Beck selber betont auch, daß diese Meinungirrigist. Vgl. auch L. W. Beck, Studies in the Philosophy of Kant, Westport 1965, 58/9.

28

I. Die Fragestellung von 1772

von Kants Denken vor 1772 deutlich gemacht werden. Aus ihr wird sich ergeben, daß die Restriktion des Anwendungsbereichs der Verstandesbegriffe durch Überlegungen begründet ist, die eine Beziehung dieser Begriffe zu synthetischen empirischen Erkenntnissen herstellen. Das grundsätzliche Problem,

ob diese Begriffe überhaupt einen Anwendungsbereich haben, stellt sich für Kant aufgrund der Einsicht, daß diese Begriffe als metaphysische Begriffe keine inhaltlichen Bestimmungen von Objekten, sondern subjektive Bedingungen sind, unter denen für uns allein Erkenntnis möglich ist.

$ 2: Die Begriffe des Verstandes Im ‚5 8° der ‚Dissertatio‘ wird die Metaphysik als eine Wissenschaft solcher Begriffe ausgegeben, die „in der Natur selbst des reinen Verstandes zu suchen

sind, - jedoch nicht als Begriffe, die angeboren sind, sondern die von den dem

Geiste eingepflanzten Gesetzen bei Beobachtung seiner Tätigkeiten anläßlich

der Erfahrung abstrahiert und daher erworben werden.“! Diese Erläuterung

gibt eine Auskunft über den Ursprung und über den Erwerb der Begriffe des Verstandes?. Im Hinblick auf den Erwerb behauptet Kant die Priorität der

Erfahrung vor allen Erkenntnissen a priori?; aber diese genetische Priorität sagt

nichts über den Ursprung unserer Erkenntnisse aus. Was nun den Ursprung der Begriffe der Metaphysik angeht, so ist er in der „Natur des reinen Verstandes“ zu suchen; und diese Natur besteht in Handlungen, die unter bestimmten Gesetzen stehen. Kant hatte schon 1763 erklärt, daß „alle Arten von Begriffen

nur auf der innern Thätigkeit unseres Geistes, als auf ihrem Grunde, beru-

hen“*. Für den Ursprung der Begriffe des Verstandes ist es aber offensichtlich

wichtig, daß diese Tätigkeiten unter Gesetzen stehen; denn diese Begriffe sind von diesen Gesetzen abstrahiert>. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, ist es nötig, von Kants Auffassung der Tätigkeiten des Verstandes auszugehen. Im Anschluß an Lockes Kritik der Theorie der „innate ideas“ waren die Tätigkeiten des Verstandes ein zentrales Thema der theoretischen Philosophie des 18. Jahrhunderts geworden. Locke hatte die verschiedenen „Acts of the Mind“ unterschieden, durch die der Verstand Urheber von drei verschiedenen Klassen nicht-einfacher Vorstellungen ist®: das Verbinden verschiedener einfacher Vorstelllungen führt zu kom-

plexen Vorstellungen; durch das Zusammenbringen von Vorstellungen, von Locke auch als ein Vergleichen beschrieben’, gelangen wir zu den Vorstellungen 1 AA 2.395.

2 Zu dieser Unterscheidung vgl. R 4917; vgl. S. 106/7.

3 Vgl. auch R 3930 (AA 17.352.9/14). 4 Versuch, 3. Abschnitt, Anm. (AA 2.199), 5 Vgl. auch R 3930 (AA 17.352.5ff.); Adickes, Kants Systematik, 20.

6 Vgl. Essay, 11.12.1.

7 Vgl. Essay, IL.12.7.

$.2: Die Begriffe des Verstandes

29

von Relationen; und das Trennen der Vorstellungen von sie begleitenden Vor-

stellungen ist die Abstraktion, durch die „general ideas“ gebildet werden. Das

allgemeine Programm, das hinter diesen Überlegungen steht, ist klar: im Unterschied zu den gegebenen einfachen Vorstellungen sind die nicht-einfachen Vorstellungen durch den Verstand hergestellt, und seine Tätigkeiten sollen die grundlegenden Typen solcher Vorstellungen erklären. Diese Tätigkeiten werden als Gründe für sehr unterschiedliche Dinge herangezogen. So soll das Trennen den logischen und semantischen Status gewisser Vorstellungen erklären, während das Vergleichen für den Inhalt bestimmter Vorstellungen verantwortlich ist. Es ist hier nicht meine Aufgabe, die Möglichkeiten und Grenzen von Lockes Theorie nicht-einfacher Vorstellungen zu erörtern. Vielmehr soll dieser Hinweis nur deutlich machen, wie Kants Überlegungen zu den Tätigkeiten des Verstandes an Früheres anschließt und sich davon auch spezifisch unterscheidet.

Auch er kennt die Einteilung dieser Tätigkeiten in Vergleichen, Verbinden und Trennen; aber sie werden an Begriffen ausgeübt, so daß für das Trennen im

Sinne Lockes kein Betätigungsfeld übrigbleibt. Kant unterscheidet daher auch hauptsächlich zwischen Vergleichen und Verbinden, das auch als „Verknüpfen“ bezeichnet wird. Aber wichtiger als diese Differenz ist der Umstand, daß Kant die Tätigkeiten als Handlungen versteht, die unter Gesetzen stehen, und daß diese Gesetze die Basis für seine Begriffe des Verstandes abgeben sollen. Er schreibt: „Zwar können wir nur bey gelegenheit der sinnlichen Empfindungen

diese Thätigkeiten des Verstandes in Bewegung setzen und uns gewisser Begriffe von den allgemeinen Verheltnißen abstrahirter ideen nach Gesetzen des Verstandes bewust werden ...“!°. Die Tätigkeiten des Verstandes betreffen

Begriffe oder „abstrahirte ideen“ und führen dazu, daß die Begriffe in irgendeinem Verhältnis zueinander stehen. Der Zusatz ‚nach Gesetzen des Verstandes‘

bezieht sich m. E. auf die Verhältnisse der Begriffe und soll deutlich machen, daß diese durch die Gesetze des Verstandes bestimmt sind. Die Tätigkeiten des

Verstandes bestehen also darin, Verhältnisse zwischen Begriffen herzustellen; und aus den Gesetzen, unter denen diese Tätigkeiten stehen, ergibt sich, welche Verhältnisse zwischen Begriffen gebildet werden. Den Gesetzen, so scheint es, korrespondieren bestimmte Formen von Verhältnissen zwischen Begriffen. Begriffe, die in der Natur des Verstandes ihren Ursprung haben, die „conceptus intellectus puri“, werden als Begriffe „von den allgemeinen Verheltnißen abstra-

hirter ideen“ gedacht und lassen sich daher als Begriffe der Formen von Begriffs-

Verhältnissen verstehen, sofern diesen Formen Gesetze korrespondieren, unter

denen die Tätigkeiten des Verstandes, solche Verhältnisse herzustellen, stehen.

Um dieses abstrakte Modell zu konkretisieren, ist es sinnvoll, Kants Analyse

solcher Tätigkeiten zu betrachten. In ‚R 3913° lesen wir: „Alle Verbindung ist entweder eine der Verbindung 8 Vgl.R

3930 (AA

17.352.6/7); anders R 3717 (AA

9 Vgl.R 3913; vgl. R 3899, 10

R 3930 (AA

17.352.9/13).

17.260.8).

30

I. Die Fragestellung von 1772

oder der Vergleichung. Jene ist entweder der Einstimmung oder des Wiederstreits.“ Adickes bemerkt zu Recht: „Statt Jene ist zu lesen: Diese.“!! Die durch

Vergleichen hergestellten Verhältnisse zwischen Begriffen lassen sich also in zwei Arten einteilen: die „Einstimmung“ von Begriffen und der „Wiederstreit“ zwischen Begriffen. Was den ersten Fall angeht, so handelt es sich um die Beziehung zwischen

Begriffen, in denen

„das Prädikat als ein Merkmal

des

Subjects bezeichnet“, also der eine Begriff in dem anderen enthalten ist!?. Der zweite Fall besteht demgegenüber darin, daß „das Prädicat als ein dem Subject

entgegen gesetztes Merkmal“ gedacht wird!?. Die Begriffe schließen sich also aus. Aber auch die Negation dieser Verhältnisse liefert ein Verhältnis, das durch Vergleichen zustandekommt: „Das Verhältnis der identitaet und contradiction

negative gedacht, wiederstreitet, ist fügt ausdrücklich Vergleichung.“'?

d.i. da ein Begrif dem andern nicht identisch ist, auch nicht das logische oder formale der bloßen Möglichkeit... .“!*. Kant hinzu: „Das logische der Möglichkeit ist ein Verhältnis der Demnach werden durch das Vergleichen Verhältnisse von

Begriffen gebildet, in denen ein Begriff einen anderen enthält, ihn ausschließt

oder beides nicht gilt, die Begriffe also miteinander kompatibel sind. Die Tätigkeit des Verbindens oder Verknüpfens wird eingeteilt in Subordination und Koordination'®, Als Beispiel für die Subordination werden Grund und Folge!”, aber auch Subjekt und Prädikat genannt!®. Koordination liegt dagegen bei „Gantze und Theile, Zahl und Einheit“ vor!?. Ich will hier keine genaue Analyse dieser Listen geben, sondern vielmehr klären, wie Kant die Unterscheidungen verstanden hat. Dies wird deutlich, wenn man betrachtet, wie er sie mit

anderen Distinktionen verbindet. So wird die Unterscheidung von Subordination und Koordination auch zu einer Einteilung der Synthesis verwendet, die nach Vernunft und Erfahrung differenziert wird: „Die Synthesis der Vernunft

(rational) oder der Erfahrung (empirisch). Die erste ist entweder der coordina-

tion: Gantze und Theile, Zahl und Einheit, oder der subordination: Grund und

Folge. Die zweyte der coordination nach raum und Zeit.“20 Die Tätigkeit des Verstandes, die „Verbinden“ oder „Verknüpfen“ genannt wird, ist also eine

Synthesis, die sowohl bei empirischen als auch bei nicht-empirischen rationalen Erkenntnissen anzutreffen ist. Es liegt daher nahe, das Vergleichen mit den nicht-synthetischen, also den analytischen Erkenntnisen zu verbinden?!. An 11 A.a.O., Anm. z. Z. 6.

12 Spitzfindigkeit, $ 1 (AA 2.47); vgl. Untersuchung, 3. Betr., $ 3 (AA 2.294).

13 Spitzfindigkeit, a.a.O.

14 R 3756 (AA 17.284.6/9). 15 A.a.0., 2.13.

16 Vgl. R 3968. 17 Vgl. R 3935. 18 Vgl. R 4155.

19 R 3935; vgl. R 3941; 4155. 20 R 3935; vgl. R 3717 (AA 17.261.173).

21 Vgl. R 3920; vgl. auch Träume, II. 3: „Denn unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identität und dem Widerspruche.“ (AA 2.370).

$ 2: Die Begriffe des Verstandes

31

diesem Punkte ist es nötig, auf Kants Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen einzugehen. Diese

Unterscheidung,

von

ihm

später als „in Ansehung

der kritik des

menschlichen Verstandes unentbehrlich ... und daher ... classisch“ bezeichnet?2, basiert auf einem Begriff des Urteils, der eine frühere Konzeption ablöst, gemäß der nur analytische Urteile ‚Urteile‘ genannt werden können”. Diese Auffassung scheint Kant noch im Jahre 1766 zu vertreten; die ‚Reflexionen‘, in denen zum ersten Mal zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterschieden wird, werden von Adickes in den Zeitraum 1764/66 datiert. In der

‚Dissertatio‘ wird die Unterscheidung nicht erwähnt. In ,‚R 3738* heißt es: „Alle analytische Urtheile lehren, was in den Begriffen, aber verworren gedacht ist; die synthetische, was mit dem Begriffe soll verbunden gedacht werden. In allen urtheilen ist der begriff vom subjekt etwas (a), das ich an dem Objekte x denke, und das Prädikat wird als ein Merkmal von an den analytischen Urtheilen oder von x in den synthetischen angesehen.“ Kant nennt zwei Gesichtspunkte, unter denen diese Entscheidung getroffen werden kann. Zuerst betrachtet er analytische und synthetische Urteile im Hinblick auf ihren „Inhalt“: Analytische Urteile stellen fest, „wasin den Begrif-

fen, aber verworren gedacht ist“. Was damit gemeint ist, läßt sich im Rückgriff auf die ‚Untersuchung‘ deutlich machen. In der „Weltweisheit“, d.h. in der Philosophie haben wir es mit Begriffen zu tun, die „verworren oder nicht genugsam bestimmt“ sind?*, und die „analytische“ Erklärung solcher Begriffe besteht darin, daß sie in ihre Merkmale zerlegt werden, die nach dem Satz der

Identität oder dem des Widerspruchs aus ihm abgeleitet werden können. Gegeben ein Begriff ‚F‘, so handelt es sich um Urteile der Form ‚F ist G‘, deren

Behauptung aufgrund der logischen und semantischen Regeln wahr und deren Negation falsch ist, bzw. umgekehrt. Analytische Urteile sind demnach Explikationen von Begriffen. Demgegenüber „lehren synthetische Urteile, was mit

dem Begriffe soll verbunden gedacht werden“. Die Unterscheidung zwischen dem, was „in den Begriffen gedacht wird“, und dem, was mit dem Begriff

verbunden wird, soll eine Differenz der Beziehungen zum Ausdruck bringen, die zwischen dem Subjekt-Begriff und dem Prädikat-Begriff bestehen können. In einem analytischen Urteil wird der Begriff des Prädikats ‚in‘ dem Begriff vom Subjekt gedacht; in einem synthetischen Urteil wird er ‚mit‘ diesem Begriff verbunden gedacht. Dies läßt vermuten, daß wir es in diesem Falle mit Begriffen zu tun haben, die unabhängig voneinander sind, und deren Beziehung allein dadurch zustandekommt, daß sie miteinander verbunden werden. Kants zweite

Erläuterung schafft hier größere Klarheit. Er geht von einer Charakterisierung des Subjekt-Begriffs aus, der für beide Arten von Urteilen zutrifft: ein gegebener Begriff ‚a‘ wird „an dem Objekt x“

22 Prol. $3 (AA 4.270). 23

Zu den Gründen dieser Entwicklung vgl. Henrich, Kants Denken 1762/3, in: Studien zu

Kants philosophischer Entwicklung, Hildesheim 1967.

24 1. Betr., $1 (AA 2.276).

32

I. Die Fragestellung von 1772

gedacht. In ,‚R 3128“ heißt es: „Ein iedes Urtheil will so viel sagen: alles, dem die notion des subjects zukommt, dem kommt auch das praedicat zu.“ Die Beziehung des Begriffs ‚a“ zum Objekt ‚x‘ ist die Beziehung, in der der Subjekt-Begriff zu dem steht, dem er „zukommt“, oder auf das er anwendbar ist. Wir würden heute sagen, daß ‚a‘ auf x referiert. Die Differenz zwischen einem analytischen

und einem synthetischen Urteil besteht nun darin, daß der Prädikat-Begriff als ein Merkmal des Subjekt-Begriffs oder als ein Merkmal dessen gedacht wird, worauf dieser Begriff anwendbar ist. Begriffe können demnach sowohl Merkmale von Begriffen als auch von Dingen sein; und für synthetische Urteile ist es charakteristisch, daß der Prädikat-Begriff als Merkmal der Dinge angesehen wird, auf die der Subjekt-Begriff sich bezieht. Es würde hier zu weit führen,

Kants Auffassung vom Merkmal darzustellen?5; der Unterschied, den er hervorheben will, lälßt sich an von ihm gegebenen Beispielen deutlich machen. In ‚R 3127‘ wählt er den Satz ‚ein ieder Körper ist ausgedehnt‘, den er, wie folgt, interpretiert: „Alles x, welchem der Begrif des Korpers (a + b) zukommt, dem

kommt auch die Ausdehnung (b) zu“. Für Kant ist dieser Satz analytisch; denn der Begriff der Ausdehnung wird „in“ dem Begriff des Körpers gedacht, jener

ist ein Merkmal von diesem. Demgegenüber ist der Satz ‚ein Körper hat Anziehung“ synthetisch, weil er so interpretiert wird: „Alles x, welchem der Begriff des Körpers (a + b) zukommt, dem kommt auch die Anziehung (c)

zu“?%. Der Begriff der Anziehung wird nicht ‚in‘ dem Begriff des Körpers gedacht;

er ist nicht sein Merkmal.

Die

Verbindung,

die zwischen

beiden

Begriffen besteht, ergibt sich vielmehr durch ihren Anwendungsbereich: dasjenige, auf das der Begriff des Körpers Anwendung finder, ist auch dasjenige, auf das der Begriff der Anziehung sich anwenden läßt. Der Unterschied zwischen einem analytischen und einem synthetischen Urteil läßt sich daher so beschrei-

ben, daß in dem einen Fall der Prädikat-Begriff in dem

Subjekt-Begriff als

Teilbegriff enthalten ist, während in dem anderen Fall der Prädikat-Begriff auch auf dasjenige zutrifft, auf das der Subjekt-Begriff zutrifft. Während das Urteil in dem ersten Fall eine Beziehung von Begriffen beschreibt, die in dem komplexen Subjekt-Begriff begründet ist, verbindet es in dem zweiten Fall zwei Begriffe aufgrund ihres Anwendungsbereichs. Analytische Urteile explizieren Verhältnisse zwischen Begriffen, die durch einen Begriff gegeben sind; synthetische Urteile formulieren Beziehungen zwischen Begriffen, die sich aufgrund ihres Anwendungsbereichs ergeben. In einer späteren Reflexion hat Kant diese Differenz prägnant so formuliert: „Das Ding, was ich durch den Begriff A denke, ebendasselbe denke ich auch durch den BegrifB. ist ein Urtheil der Verknüpfung. Der Begriff, den ich in A denke, den denke ich auch in B: ist ein Urteil der

Vergleichung.“?” Daher kann er von analytischen Urteilen auch sagen: „Das x fällt weg, denn es soll das obiect bedeuten, was durch a gedacht wird; weil aber b

25 Vgl. dazu Stuhlmann-Laeisz, Logik, 89ff, 26 A.a.O. 27 R 3933,

$ 2: Die Begriffe des Verstandes

33

blos mit dem Begriff a verglichen wird und dadurch schon bestimt ist, so ist das übrige in x gleichgültig .. .“28. Vergleicht man diese Darstellung mit der Beschreibung, die Kant etwa in den ‚Prolegomena‘

von den Unterschieden

zwischen

analytischen und syntheti-

schen Urteilen gegeben hat - Prädikate, die „im Begriff des Subiekts schon wirklich, obgleich nicht so klar... gedacht“ werden, im Unterschied zu Prädikaten, die in diesem Begriff „nicht wirklich gedacht“ werden -”°, so hat die

früheste Formulierung den Vorzug, daß sie synthetische Urteile nicht nur als nicht-analytische Urteile bestimmt und damit die wahre Pointe der Unterscheidung herausbringt, wie er selber bemerkte: „Denn daß etwas außer dem gegebenen Begriffe noch als Substrat hinzukommen müsse, was es möglich macht, mit

meinen Prädicaten über ihn hinaus zu gehen, wird durch den Ausdruck der Synthesis klar angezeigt, mithin die Untersuchung auf die Möglichkeit einer Synthesis der Vorstellungen zum Behuf der Erkenntniß überhaupt gerichtet, welche bald dahin ausschlagen mußte, Anschauung, für das Erkenntniss a priori aber reine Anschauung als die unentbehrlichen Bedingungen derselben anzuerkennen; eine Leitung, die man von der Erklärung synthetischer Urtheile durch

nicht identische nicht erwarten konnte: wie sie denn aus dieser auch niemals erfolgt ist.“?° Die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ist für die Entwicklung von Kants Konzeption der Metaphysik und seiner Auffassung der Verstandesbegriffe von großer Bedeutung gewesen. Denn sie führt dazu, daß die Metaphysik als eine Theorie der Bedingungen synthetischer Erkenntnis konzipiert, und die Rolle dieser Begriffe für die Möglichkeit solcher Erkenntnisse thematisiert wurde. Der unmittelbare Nutzen dieser Unterscheidung bestand vor allem darin, daß die Differenzierung zwischen logischem Grund und Realgrund als eine Unterscheidung von Urteilen angesehen werden konnte, daß der Realgrund nicht „bloß durch einen Begrif ... ausgedrückt werden“

kann?!, und daß der Rekurs auf Erfahrung, den Kant als einzig

mögliche Begründung für das Verhältnis von Ursache und Wirkung zuließ, ın die Form eines Urteils gebracht werden konnte?2. Denn das Konzept „syntheti-

sches Urteil“ erlaubte es, Verhältnisse von Begriffen in einem Urteil zum Ausdruck zu bringen, das nicht durch einen Vergleich nach den Sätzen der Identität und des Widerspruchs entscheidbar ist; er besaß nun ein Konzept des empirischen Urteils. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Kant das syntheti-

sche Urteil mit dem empirischen Urteil identifizierte: „Alle empirischen Sätze sind synthetisch und umgekehrt.“?? nn Analytische Urteile werden dagegen mit rationalen Urteilen identifiziert.

28

R 4674 (AA

17.645.16/8).

29 $ 2a (AA 4.266); vgl. auch B 10f. 30 Entdeckung, 2. Abs. (AA 8.245). 31 Versuch, 3. Abschnitt, Anm. (AA 2.204). 32

Vgl. Träume II, 3. Hauptstück (AA 2.370).

33 R 3744; vgl. R 3738.

34

I. Die Fragestellung von 1772

Hier knüpft Kant an Meier an, der schreibt: „Wenn wir etwas erkennen, so erkennen wir es entweder auf eine deutliche Art aus Gründen, oder nicht. Wenn

das erste ist, so haben wir eine vernünftige Erkenntniss (cognitio rationalis). Zu einer solchen Erkenntniss wird dreierlei erfordert: 1) eine Erkenntniss einer Sache, 2) eine Erkenntniss ihres Grundes, und 3) eine deutliche Erkenntniss des

Zusammenhangs der Sache mit ihrem Grunde.“?* Dies ist das alte, auf Aristoteles zurückgehende Konzept der Erkenntnis als eines Wissens, warum etwas so ist, wie es ist. Als Beispiel für eine „vernünftige Erkenntniss“ führt Meier einen

Zusammenhang von Sache und Grund an, der durch ein deduktives Verhältnis zwischen Aussagen dargestellt wird. Als die ersten oder obersten Gründe der „vernünftigen Erkenntniss“ nennt Kant die „principia formalia“?°, - den Satz der Identität und des Widerspruchs?. Die Erkenntnisse von „Sachen“, die auf

diese Weise begründet werden können, werden durch notwendige wahre Sätze zum Ausdruck gebracht?” und den empirischen Erkenntnissen gegenübergestellt, die Kant als Erkenntnisse „realer“ Zusammenhänge

beschreibt, - als

Erkenntnisse von dem, „was mit oder nach einander gewöhnlicher weise zu

seyn pflegt“?®. Er steht hier am Beginn seiner Theorie empirischer Erkenntnisse: er kennt noch nicht die Möglichkeit von synthetischen Erkenntnissen a priori; synthetische Erkenntnisse sind empirische, analytische Erkenntnisse sind rationale Erkenntnisse, die notwendigerweise wahr sind. Zusammenfassend kann man sagen, daß Kant die beiden Tätigkeiten des Verstandes, das Vergleichen und das Verbinden, mit analytischen und syntheuschen Urteilen korreliert und diese wiederum mit „rationalen“ und empirischen

Erkenntnissen verbindet. Die in der Philosophie des 18. Jahrhundert so beliebten Tätigkeiten des Verstandes werden mit Hilfe semantischer Formen von Urteilen interpretiert und auf zwei Arten von Erkenntnissen bezogen?”. Diese Verbindung von semantischen und epistemologischen Überlegungen ist die Grundlage für Kants Versuche, die Begriffe des Verstandes aufgrund einer

Betrachtung dieser Tätigkeiten zu ermitteln; denn sie bestimmt die eigentümliche Rolle, die diese Begriffe als nicht-empirische Bedingungen der synthetischen Urteile, die empirische Erkenntnisse ausdrücken, haben. Seine verschiedenen Entwürfe zu einer Liste solcher Begriffe lassen den zentralen Gesichtspunkt seiner Überlegungen immer deutlicher hervortreten, daß es sich um die den Verstand betreffenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

handelt. Kant will die Begriffe des Verstandes aufgrund der Gesetze bestimmen, unter denen seine Operationen stehen. Diese Operationen stellen Beziehungen zwi34 Auszug aus der Vernunftlehre, $ 17 (in: AA 16.93). 35 36

R 3746, Vgl.R 3741.

37 Vgl. R 3745.

38 R 3756 (AA 17.284.28/9). 39 Adickes, Kants Systematik, 23, verkennt die besondere Pointe von Kants Theorie der

Tätigkeiten des Verstandes, wenn er sie ganz unabhängig von einer Betrachtung von Urteilen sieht.

$ 2: Die Begriffe des Verstandes

35

schen gegebenen Begriffen her; und die Begriffe des Verstandes sollen daher Begriffe solcher Beziehungen sein*. Wir haben gesehen, daß er diese Operationen mit der semantischen Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen korreliert und auf die Einteilung in rationale und empirische Erkenntnisse bezieht. Die Begriffe des Verstandes müssen daher so bestimmt werden, daß ihnen unterschiedliche Urteile und verschiedenartige Erkenntnisse entsprechen. Ein erster Versuch findet sich in ‚R 3747‘, von Adickes zwischen 1764 und 1766 datiert. Kant schreibt: „Alle principia der menschlichen Erkenntnis sind

vel formalia vel materialia. Jene enthalten blos das Verhaltnis der Begriffe in den Urtheilen: entweder das logische oder metaphysische. Diese der Dinge und sind synthetisch.“ Die „principia formalia“ sind nach ‚R 3741

„principia identi-

tatis vel contradictionis“ und somit „die ersten Gründe analytischer oder rationaler Urtheile“*!. Die „principia materialia“ werden in ‚R 3741‘ als „notiones“ bestimmt,

- also die Begriffe, die zu einem Urteil verbunden werden.

Kant

unterscheidet daher auch zwischen dem „logischen principium der Urtheile“

und dem „realen principium der Begriffe“*, klärt aber nicht die im letzteren Falle einschlägige Rede von „principium“. Die Unterscheidung von formalen und materialen Prinzipien der Erkenntnis läuft daher auf die Differenzierung von Form und Inhalt von Urteilen hinaus. Wie aber läßt sich auf dieser Grundlage die Annahme eines „metaphysischen“ Verhältnisses von Begriffen in Urteilen verständlich machen? Wieso werden sie als „principia formalia“ menschlicher Erkenntnis bezeichnet? Kant hat die Sätze „Jene enthalten bloß das Verhältnis

der Begriffe in den Urtheilen: entweder das logische oder metaphysische. Diese der Dinge und sind synthetisch“ später durchgestrichen und durch eine Bemerkung ersetzt, die Adickes nur ungefähr zwischen

1766 und 1776 zu datieren

vermag: „Entweder der analytischen und heissen logisch und gelten vor ieden

Verstand, sind obiectiv (nur nicht umgekehrt); oder der synthetischen und heißen

reale, und, weil sie ohne

Sinne allgemein ausgesagt werden,

sind sie

entweder grundsätze der Form des Verstandes oder der Sinnlichkeit. . .*. Diese Bemerkung ist mit Sicherheit später als die nach 1764 zu datierende Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen, weil sie bereits zwischen der

Form des Verstandes und der Form der Sinnlichkeit unterscheidet. Die Bemerkung zeigt, daß Kant das „metaphysische Verhaltnis der Begriffe in den Urtheilen“ mit synthetischen Erkenntnissen in Beziehung setzen will, die deswegen ‚reale‘ Erkenntnisse genannt werden, weil sie auf die Verhältnisse der Dinge, auf

den Anwendungsbeeich der Begriffe, bezogen sind. Daß die die Metaphysik betreffenden Grundsätze gleichwohl unter die „principia formalia“ subsumiert werden, ist darin begründet, daß sie auf die „Form des Verstandes“ und somit

auf formale Bedingungen der Ausübung eines Erkenntnisvermögens bezogen 40 Vgl.R 3988: „Wir haben zweyerley Art von Begriffen: solche, die durch die Gegenwart der sache in uns entstehen können; oder diejenige, wodurch der Verstand das Verhaltnis dieser Begriffe zu den Gesetzen seines eignen Denkens sich vorstellt.“ (AA 17.377.15/8). 41 42

R 3746. R3741.

36

I. Die Fragestellung von 1772

werden. Daher fragt Kant: „Haben wir nicht etwa ausser den principiis formali-

bus der rationalen sätze noch formalia der synthetischen und empirischen. Imgleichen hat man nicht eben so principia formalia der realverknüpfungals der logischen.“* Zu formalen Grundsätzen der „realverknüpfung“ heißt es: „Was

den nexum realem anlangt, so sind die principia materialia desselben die erfahrungen, die formale principia sind: alles, was Geschieht, hat einen determinirenden Grund, und zweytens: alles hat einen ersten Grund. Diese principia sind

beyde synthetisch ...“**. Es ist daher nur konsequent, daß Kant den Begriff ‚Form der Erkenntnis‘, anders als in ‚R 3747‘, so differenziert, daß er die logische Form von der metaphysischen unterscheidet: „Die logische Form unserer

Erkenntnisse ist von der metaphysischen zu unterscheiden; die erste ist analysis, die zweyte synthesis.“* Diese Entwicklung von Kants Überlegungen zeigt, daß im Rahmen der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen metaphysische Begriffe oder Prinzipien nur dann von den logischen oder formalen Prinzipien der Urteile abgegrenzt werden können, wenn sich diese Begriffe oder Prinzipien auf synthetische Erkenntnisse beziehen lassen. Es muß Kant aber darum gehen, die Metaphysik von dem Bereich der analytischen Erkenntnisse abzugrenzen, wenn denn ihre Prinzipien sich nicht in den „principia formalia“ erschöpfen sollten; und er konnte die Metaphysik nicht in synthe-

tischen Erkenntnissen aufgehen lassen, wenn denn ihr nicht-empirischer Charakter festgehalten werden sollte. Die Möglichkeit der Metaphysik war weder durch die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen noch

durch die Interpretation dieser Unterscheidung mit Hilfe der Disjunktionen ‚rational/empirisch‘ oder ‚formal/material‘ gegeben. Es ergibt sich daher die Aufgabe, solche Begriffe als metaphysische auszuzeichnen, die als formale nicht empirischer Natur sein können und als Begriffe der Synthesis nicht mit Grundbegriffen der Logik und der aufihr beruhenden analytischen Erkenntnis zusammenfallen dürfen. Kants Lehre des synthetischen Apriori ist die Lösung dieser

Aufgabe. Betrachten wir nun, wie Kant in seiner Bestimmung der Verstandesbegriffe diesen Gesichtspunkten Rechnungträgt! In ‚R 3927° heißt es: „Durch die Natur des Verstandes, nicht abstrahendo, sondern iudicando entstehen Grundbegriffe der synthesis. Daseyn, Möglichkeit, Einheit, substantz, accidens, relation, respectus realis, logicus, Nothwendig, Zufallig. Ganz, ein Theil. Einfach, Zusammengesetzt, Grund, Folge, Kraft, Ursache.“* Eine ähnliche Liste finden wir in ‚R 3930‘ als ein Verzeichnis der „Begriffe des intellectus puri“, zu denen auch Raum und Zeit gerechnet werden. Diese Listen enthalten Grundbegriffe der traditionellen Schulphilosophie, wie wir sie in Baumgartens ‚Metaphysik‘ finden; ein unmittelbarer Zusammenhang dieser Begriffe mit synthetischen Urteilen oder Erkenntnissen ist nicht zu erkennen. Anders verhält es sich mit einer 43 44 45 46

R 3926. R 3928 (AA 17.350.21/5). R 3944, AA 17.349.22/6.

$ 2: Die Begriffe des Verstandes

37

Einteilung metaphysischer Begriffe, die sich an den Verhältnissen von Koordination und Subordination orientiert”; denn diese werden ausdrücklich als

Formen der Synthesis verstanden®®. Allerdings ergänzt Kant diese Einteilung durch Begriffe wie ‚Daseyn‘, ‚Substantz‘ und räumliche und zeitliche Bestimmungen, von denen nicht klar ist, wie sie durch die zuerst genannten Gesichts-

punkte erfaßt werden sollen. Als er im Jahre 1769 zwischen formalen Begriffen der Sinnlichkeit und solchen des Verstandes deutlicher unterscheidet”, hatte dies zur Folge, daß die Liste der metaphysischen Begriffe nicht nur wesentlich kürzer ausfiel, sondern sich auch auf Gesichtspunkte konzentrierte, die bei

einer erneuten Reflexion auf die logischen Formen synthetischer Urteile in einem neuen Lichte erscheinen mußten’. Diesen Weg scheint Kant aber erst nach 1772 gegangen zu sein.

Zusammenfassend kann man also sagen, daß das Programm zwar klar, seine

Ausführung jedoch wenig überzeugend ist. Die Begriffe des Verstandes sollen als metaphysische Begriffe von Begriffen logischer Beziehungen unterschieden und als Begriffe der Synthesis auf synthetische Urteile und empirische Erkenntnisse bezogen werden. Daß diese Begriffe aufgrund der Operationen des Verstandes, die wir in Urteilen vorfinden, gewonnen werden können, ist eine

Möglichkeit, die durch den von Kant angenommenen Zusammenhang dieser Operation mit analytischen und synthetischen Urteilen nahegelegt wird; aber die Ausarbeitung dieser Möglichkeit bleibt doch ganz in den Anfängen stecken. Dieser Aufgabe hat er sich wohl erst nach der ‚Dissertatio‘ zugewandt. Seine Lösungsvorschläge sollen im Rahmen einer Darstellung der Entwicklung der Kategorienlehre besprochen werden. Was ergibt sich aber aus der Betrachtung von Kants Versuchen, die Begriffe des Verstandes aufgrund seiner Tätigkeiten zu bestimmen, für das Verständnis der Entdeckung, von der Kant in dem Brief an Herz vom Februar 1772 berichtet? Die Frage, wie die Beziehung dieser Begriffe auf Gegenstände zu erklären sei, muß auf dem Hintergrund der hier dargestellten Überlegungen als die Frage verstanden werden, wie die Geltung von Begriffen und Prinzipien synthetischer Erkenntnisse zu begründen sei. Ihre Antwort findet diese Frage durch den

Nachweis, daß sie Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis sind. Diese Antwort hat Kant in seinem ersten Entwurf zu einer Deduktion der Kategorien gegeben.

47 48 49 50

Vgl. R 3941. Vgl.R 3925. Vgl. R 3957. Vgl.z.B. R 4155.

38

I. Die Fragestellung von 1772

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik Als Kant im Jahre 1772 entdeckte, daß ihm zur Realisierung seines Projekts ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ „noch etwas wesentliches“ fehlte,

war er davon überzeugt, daß die Behebung dieses Mangels zugleich „den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys:“ liefern würde!. Wie erklärt sich dieser Zusammenhang? Das

Defizit bestand, hält man sich an die Ausarbeitung des Projekts in der ‚Dissertatio‘, vor allem darin, daß Kant es unterlassen hatte, die Grenzen des Verstandes zu bestimmen. Da aber diese Grenzen nur durch eine Betrachtung des Ursprungs oder der Quellen der Verstandeserkenntnis entdeckt werden können, verweist das 1772 bemerkte Defizit auf Unzulänglichkeiten seiner Analyse des Verstandes als des Ursprungs von Erkenntnissen. Die Dringlichkeit einer sol-

chen Analyse stand ihm deutlich vor Augen: er suchte „die Quellen der Intellectualen Erkentnis“2, und es war der „Ursprung des Intellectuellen von unserem Erkentnis“, der ihm „neue und unvorhergesehene Schwierigkeit“ bereitete’. Weshalb aber kann eine solche Analyse Aufschluß über das „Ge-

heimnis“ der Metaphysik geben? In dem Herz-Brief von 1772 sieht man, daß die Erörterung des Ursprungs mit der grundsätzlichen Frage beginnt, wie die Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände zu erklären sei. Nicht die Grenzen ihrer Anwend-

barkeit, sondern die Möglichkeit ihrer Anwendung werden zum Thema; und die Erklärung dieser Möglichkeit wird auch die Grenzen ihrer Anwendbarkeit bestimmen. Diese veränderte, weil radikalere Fragestellung hat dazu geführt, daß Kant das Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ beiseitelegte und sich dem Projekt einer „Critick der reinen Vernunft“ zuwandte. Ich werde im folgenden zu zeigen versuchen, daß diese Veränderung der Fragestellung im Zusammenhang von Kants Auffassung der Metaphysik als Kritik geschen werden muß. Hat man verstanden, weshalb die Entdeckung des Man-

gels seiner Überlegungen ihn dazu bringt, den Schlüssel zu dem Geheimnis der Metaphysik zu finden, dann kann man auch jene Veränderung erklären.

Kant geht in seiner Auffassung von Metaphysik von Baumgartens Überlegungen aus, der in seiner ‚Metaphysica‘, im Anschluß an Wolff, zwischen Metaphysik und Ontologie unterscheidet. Die Metaphysik wird als „scientia primorum in humana cognitione principiorum“ definiert ($ 1), während die Ontologie, als Teil der Metaphysik ($ 2), gleichwohl aber als „metaphysica universalis“ verstanden, seine „scientia praedicatorum entis generaliorum“ sein soll ($ 4). Kant übernimmt Baumgartens epistemologische Charakterisierung

der Metaphysik: „Die Metaphysik ist nichts anders als eine Philosophie über die ersten Gründe unseres Erkenntnisses ... .“*; er identifiziert die Metaphysik aber 1 AA 10.130. 2 AA 10.131.371.

3 Brief an Bernoulli vom 16. November 1781 (AA 10.278.4/6). 4 Deutlichkeit, 2. Betrachtung (AA 2.283); vgl. R 3917.

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

3

ausdrücklich mit der Ontologie: „Die metaphysic enthält nichts als die ontologie, welchefalschlich als eine Wissenschaft von Dingen überhaupt. . . betrachtet wird.“® Wie man sieht, wollte Kant das bei Baumgarten undurchsichtige Verhältnis zwischen „principia prima in humana cognitione“ und „praedicata entis generalia“ nicht dadurch auflösen, daß er diese mit jenen identifiziert; es geht

ihm vielmehr darum, die Grundbegriffe der Ontologie als metaphysische und somit epistomologische Begriffe zu fassen. Die Ontologie ist nichts anderes als Metaphysik, und ihre Begriffe, verstanden als „Begriffe des intellectus puri“, bilden das Thema der Philosophie, die ‚Metaphysik‘ genannt wird®. Um die

Rolle und den Status dieser Begriffe zu verstehen, ist es notwendig, von Kants Konzept der Erkenntnis auszugehen. Dieses Konzept besteht in einer Verbindung von drei fundamentalen Unterscheidungen: in der zwischen reinen und empirischen Erkenntnissen, in der zwischen Form und Materie der Erkenntnis

und in der zwischen intuitiver und rationaler Form. Sie sollen in dieser Reihenfolge expliziert werden. Kant schreibt: „Alle Menschliche Erkentnisse lassen sich in zwey Hauptgat-

tungen eintheilen: 1. die, so aus den Sinnen entspringen und empirisch genant werden; 2. die gar nicht durch die Sinne erworben werden, sondern ihren Grund in der bestandigen natur der Denkenden Kraft der Seele haben, und können reine Vorstellungen genant werden.“ Die Einteilung in empirische und reine Erkenntnisse oder Vorstellungen basiert auf der Unterscheidung zwischen

Quellen oder Ursprüngen dieser Vorstellungen, die als Vermögen verstanden

werden. Da sind zum einen die Sinne, zum anderen die „Denkende Kraft der

Seele“. Jene Einteilung ist also in diesem Rahmen eine Unterscheidung von

Vorstellungen aufgrund ihres Ursprungs und somit aufgrund der Fähigkeiten, deren Ausübung zu dem Erwerb dieser Vorstellungen führt. Der Rekurs auf diese Fähigkeiten dient jedoch auch dazu, eine inhaltliche Bestimmung der Vorstellungen zu geben. Denn die reinen Vorstellungen, die „ihren Grund“ im Verstande haben, sind Vorstellungen „von dem Gesetze des Verstandes, die

abstrahirte Begriffe zu vergleichen, zu verbinden oder zu trennen“. Solche Vorstellungen sind „reine Verstandesbegriffe“, die wir nicht nur allein aufgrund

des Verstandes erwerben können, sondern die auch Vorstellungen von der

Ausübung dieser Fähigkeiten, bzw. der Gesetze, unter denen die Ausübung steht, sind. Die reinen Vorstellungen sind sowohl durch ihren Ursprung als auch durch ihre Inhalte charakterisiert. Gleiches gilt aber auch für die empiri-

schen Vorstellungen, die wir aufgrund unserer Sinne erwerben. Dieser Ur-

sprung besteht in unseren verschiedenen Fähigkeiten, Empfindungen zu haben, die „einzelne Gegenstande ..., in so fern sie die Sinne rühren“ vorstellen?. Im

Hinblick auf die Inhalte der Vorstellungen führt also die Unterscheidung von 5 6 7 8 9

R R R R R

3959; 3930. 3957 3930 3958

vgl. R 3931. (AA 17.364.17/22). (AA 17.352.6/7). (AA 17.366.18/9).

40

I. Die Fragestellung von 1772

empirischen und reinen Vorstellungen zu einer Differenzierung zwischen Vorstellungen einzelner Gegenstände und Vorstellungen von Gesetzen, gemäß denen der Verstand handelt.

Die Unterscheidung zwischen empirischen und reinen Erkenntnissen wird von Kant als eine Einteilung „in zwey Hauptgattungen“ eingeführt!®. Die Termini ‚Materie‘ und ‚Form‘ dienen dagegen nicht dazu, verschiedene Arten von Erkenntnissen voneinander abzugrenzen, sondern charakterisieren ver-

schiedene Momente oder Bedingungen der Erkenntnis und beziehen sich daher auf dieselbe Sache. In diesem Sinne sagt Kant: „Der Unterschied aller unsrer

Erkenntnisse ist der Materie (Inhalt, Obiekt) oder der Form nach.“!! Erkenntnisse können sich daher sowohl aufgrund ihrer Materie als auch aufgrund ihrer Form unterscheiden. Diese Möglichkeit besteht aber nur, wenn Erkenntnisse sowohl eine Form als auch eine Materie besitzen. Wie wir noch sehen werden,

erzwingt diese Differenzierung eine Revision der vorher getroffenen Unterscheidung zwischen empirischen und reinen Erkenntnissen.

Kant schreibt: „Da alle Materialien zum Denken nothwendig durch unsere

Sinne müssen gegeben seyn, so ist die Materie von unserer gesamten Erkentnis empirisch. Eben darum müssen alle reinen Begriffe blos auf die Form der Erkenntnisse gehen.“!2 Da die Materie der Erkenntnis durch das gegeben ist, was wir aufgrund der Sinne zur Kenntnis nehmen, und da alle Erkenntnisse, die diesen Ursprung haben, empirisch sind, ist die Materie unserer Erkenntnis empirisch. Kant teilt in diesem Punkte Lockes Überzeugung,

daß „Our Obser-

vation employ’d either about external, sensible Objects; or about the internal

Operations of our Minds, ....isthat, which supplies our Understanding with all

the materials of thinking.“!* Sofern jede Erkenntnis eine Materie besitzt, hat jede Erkenntnis eine empirische Komponente. Die Möglichkeit der Erkenntnis

steht demnach unter der Bedingung, daß Vorstellungen durch die Sinne gegeben sind. Daß aber deswegen die reinen Vorstellungen „auf die Form der Erkenntnis gehen“, folgt nur dann, wenn angenommen wird, daß die Einteilung der Vorstellungen in reine und empirische vollständig ist, und daß die Unterscheidung zwischen Form und Materie der Erkenntnis ihren Ausdruck in unterschiedlichen Vorstellungen findet. Unter diesen Voraussetzungen muß die Form der Erkenntnis der Inhalt reiner Vorstellungen sein. Da dieser Inhalt als

Begriff von Gesetzen bestimmt wird, unter denen die Operationen des Verstandes stehen, muß die Form der Erkenntnis durch solche Gesetze determiniert sein. Da weiterhin gilt, daß jede Erkenntnis eine Form hat und somit reine Vorstellungen enthält, kann es keine Erkenntnis geben, die nicht auf Operatio-

nen des Verstandes beruht.

Indem Kant die Unterscheidung von Form und Materie der Erkenntnis mit 10 R 3957. 11 R 4675 (AA 12 R 3957 (AA

17.650.25/6). 17.364.22/5).

13 Vgl.R 3850: „... nun aber muß alle Materie der Erkentnis durch Sinne gegeben seyn... .“.

14 Essay IL1.2.

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

41

der Unterscheidung von reinen und empirischen Vorstellungen verbindet, gewinnt er nicht nur einen Begriff von Erkenntnis, der wesentlich komplex istund nur als eine Verbindung von verschiedenartigen Momenten gedacht werden kann;

er schließt

auch

aus,

daß

diese Vorstellungen,

für sich genommen,

überhaupt als Erkenntnisse bezeichnet werden können. Die beiden Klassen von Vorstellungen können nicht mehr als „Hauptgattungen“ von Erkenntnissen fungieren, sondern ihre Elemente stellen nur noch notwendige Bedingungen einer Erkenntnis dar.

Die dritte Unterscheidung, die für Kants Begriff der Erkenntnis um 1769 eine zentrale Rolle spielt, betrifft den Begriff der Form der Erkenntnis. Er schreibt: „Nun haben wir eine zweyfache Form der Erkentnisse: die intuitive und rationa-

le Form. Die erste findet nur in der unmittelbaren Erkentnis einzelner Dinge statt, die zweyte in allgemeinen Vorstellungen; die ersten will ich anschauende,

die zweyte Vernunftbegriffe nennen.“!5 Wie der Zusammenhang deutlich macht, dient die Unterscheidung von intuitiver und rationaler Form dazu, den Begriff

der Form der Erkenntnis zu differenzieren. Dieser Begriff formuliert ein Merk-

mal des Begriffs der Erkenntnis, das, bezieht man es auf die reinen Vorstellungen, die ihren Ursprung im Verstand haben und Vorstellungen der Gesetze

seiner Operationen sind, auf die Komponente des Verstandes in aller Erkenntnis verweist. Aber die so verstandene Form kann nicht in eine intuitive und in eine rationale Form differenziert werden. Wir können diese beiden Formen

aber auch nicht im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen empirischen und reinen Vorstellungen oder Erkenntnissen interpretieren, - etwa als eine Differenzierung der reinen Erkenntnisse. Denn diese waren ja aufgrund ihres Ursprungs und ihrer Inhalte auf den Verstand bezogen. Die Unterscheidung jener beiden Formen verweist vielmehr auf eine Unterscheidung, die mit den bislang

erwähnten in einem Zusammenhang steht, aber aus ihnen nicht abgeleitet werden kann. Es ist die Unterscheidung von Anschauung und Begriff, die Kant

hier als eine Unterscheidung zwischen der „unmittelbaren Erkenntnis einzelner

Dinge“ und „allgemeinen Vorstellungen“ formuliert. Die Unterscheidung ist nicht identisch mit der Unterscheidung von empirischen und reinen Vorstellungen, da diese sich auf die Glieder jener anwenden läßt; sie ist aber auch nicht mit der Unterscheidung von Form und Materie der Erkenntnis identisch, da sie zu einer Modifikation dieser Unterscheidung führt. Denn jetzt muß zwischen der Form der Sinne, durch die die Materie der Erkenntnis gegeben ist, und der Form der Komponente, die dem Verstand zuzuschreiben ist, unterschieden werden.

Die Unterscheidung von Anschauung und Begriff muß im Zusammenhang von Kants Explikation seines Konzepts von Erkenntnis gelesen werden. Sie

besagt, daß jede Erkenntnis eine Verbindung zwischen der Vorstellung einzelner

Dinge und einer allgemeinen Vorstellung ist, oder, anders formuliert, daß jede Erkenntnis darin besteht, daß ein Individuum unter einen Begriff subsumiert

wird. Auch wenn es zweifelhaft ist, ob jede Erkenntnis diese Form hat, so wird

man doch keine Bedenken haben, Erkenntnisse dieser Form als einen funda15 R 3957 (AA 17.364.25/9).

42

l. Die Fragestellung von 1772

mentalen Fall von Erkenntnis anzusehen. Dies trifft zumindest für die empirische Erkenntnis zu. Im Hinblick auf diese Erkenntnis expliziert Kant die drei von mir erläuterten Unterscheidungen in der folgenden Weise: „Nun kann bey allem empirischen erkenntnisse erstlich bloß auf die Materie gesehen werden, und diese besteht in der Empfindung; zweytens auf die Form der Erscheinung; drittens auf die Form der Vernunft in Begriffen. Die Form der Erscheinungen beruhet lediglich

auf Raum und Zeit... .“!%, Die Materie der empirischen Erkenntnis, sofern sie „die unmittelbare Erkenntnis einzelner Dinge“, also die Anschauung betrifft, sind die Empfindungen, die uns durch die Sinne gegeben sind. Die Form dieser

Erkenntnis besteht in Raum und Zeit, von Kant auch als „Form der Erscheinun-

gen“ bezeichnet. Soweit ich sehe, ist dies die früheste terminologische Verwendung von ‚Erscheinung‘. Erscheinungen sind Empfindungen, denen „die form der Anschauung dazugefügt“ ist!”. Da dasjenige, was die Form der Erkenntnis betrifft, rein ist, sind Raum und Zeit reine Begriffe, die „auf der Natur des Gemüths beruhen, nach welchem die verschiedenen Empfindungen unter sol-

chen relationen vorgestellt werden können“!8, Die Materie der empirischen Erkenntnis, sofern sie die „allgemeinen Vorstel-

lungen“ betrifft, die in jeder Erkenntnis als begriffliche Komponente anzutreffen sind, besteht in den „empirischen Vernunftbegriffen“!?. Es sind „Vorstellungen, die durch die Sinne gegeben sind und durch Vernunft allgemein gemacht werden“?°, Wie diese Generalisierung zu verstehen ist, ergibt sich aus Kants Theorie der Begriffsbildung, auf die ich hier nicht eingehen kann. Da die empirischen Vernunftbegriffe „der Materie nach in den Sinnen gegeben“ sind?!, sind sie empirisch. Die Formen dieser Begriffe dagegen sind „notiones purae“,

die „die Form der Vernunft selber“ ausdrücken2. Alsein Beispiel für eine solche Form wird die Relation von Subjekt und Prädikat genannt?3. Im Unterschied zur Form der Anschauung ist diese Form die „rationale Form“, die nicht, wie bei

Raum

und Zeit, in einer „coordination“, sondern in einer „subordination“

empirischer Erkenntnisse besteht?*. Empirische Erkenntnis als eine Verbindung von Anschauung und Begriff wird in einem Urteil zum Ausdruck gebracht, in dem die unmittelbare Vorstellung eines einzelnen Dinges mit einer allgemeinen Vorstellung verknüpft wird. Die Unterscheidung von Form und Materie wird auf beide Arten von Vorstellungen angewandt, so daß wir sowohl zwischen einer rationalen und einer intuitiven Form, als auch zwischen der Materie „der Vernunft in Begriffen“, der

16 17 18 19 20 21

R R R R R R

3957 3955; 3957 3957 3964. 3963.

(AA vgl. (AA (AA

17.364.29/365.4). R 3961; 3974. 17.365.5/7), 17.365.13).

22 A.a.O.

23 Vgl. R 3964. 24

Vgl. z.B. R 3958, 3961.

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

43

„allgemein gemachten Empfindungen und Erscheinungen“?®, und der Materie

der „Erscheinungen“, den Empfindungen selber, zu unterscheiden haben. Ent-

sprechend der Verbindung von Form und Rein und von Materie und Empirisch sind die formalen Komponenten der empirischen Erkenntnis reine Vorstellungen, ihre materialen Komponenten dagegen empirische Vorstellungen. Kants Konzeption der Metaphysik geht von diesem Begriff der empirischen Erkenntnis aus und ist eine Theorie der Form ihrer begrifflichen Komponente. Sie beschäftigt sich nicht mit der Form der Erkenntnis überhaupt und daher auch nicht mit den reinen Vorstellungen oder Bedingungen empirischer Erkenntnis im allgemeinen, sondern nur mit der Form, die durch die Verwendung von Begriffen in jeder solchen Erkenntnis gegeben ist. Es ist zumindest diese Auf-

fasssung von Metaphysik, die sich in den Überlegungen um 1769 durchsetzt,

und die dazu führt, daß die Metaphysik als eine „Critik der reinen Vernunft“

verstanden wird?®. Baumgarten hatte die Metaphysik als „scientia primorum in humana cognitione principiorum“ charakterisiert und hatte daran die Ontologie als „mera-

physica universalis“ angeschlossen, die eine „scientia praedicatorum entis gene-

raliorum“ sein sollte. Kant geht von diesem Konzept der Ontologie aus und verbindet es mit der epistemologischen Orientierung der Metaphysik: die allgemeinen Bestimmungen sind für ihn „die Begriffe des intellectus puri“, und die Philosophie „über“ diese Begriffe ist die Metaphysik?”. Um den besonderen Status dieser Philosophie genauer fassen zu können, ist es nötig, eine Unterscheidung zu betrachten, die Kant zwischen „logischer“ und „metaphysischer“

Philosophie? oder auch zwischen „dogmatischer philosophia pura“ und „Critik“ trifft??. Das Gemeinte läßt sich anhand seiner Abgrenzung der Logik von der Metaphysik deutlich machen. Er schreibt: „Alle reine Philosophie ist entweder logisch oder metaphysisch. Jene enthält nur die unterordnung der Begriffe unter die sphaeram der anderen, entweder unmittelbar: in Urtheilen, oder mittelbar: in schlüssen. Sie läßt aber die Begriffe selbst, die einander subordinirt werden konnen, unbestimmt und macht nicht aus, welche praedicate den Dingen nach Gesetzen der reinen Vernunft zukommen. Daher die ersten praedicate der Dinge durch die reine Vernunft erkennen ist eine Sache der metaphysik, mithin die erste Grundbegriffe, womit wir durch die reine Vernunft urtheilen, zu finden und die Grundsätze.“?? Die Logik beschäftigt sich mit den Relationen zwischen Begriffen überhaupt und betrachtet sie unabhängig davon, woher sie entspringen, und was in ihnen gedacht wird. Sie geht daher „auf alle, so gar empirische“ Erkenntnisse?! Demgegenüber beschäftigt sich die Metaphysik mit den „Erkenntnissen ledig25 26 27 28 29 30 31

R 3957 (AA 17.365.12). Vgl. R 3964. R 3930 (AA 17.352.23/4). R 3946 (AA 17.359.3). R 3951, R 3964. R 3946 (AA 17.359,3/11). A.a.O., 2. 14,

44

I. Die Fragestellung von 1772

lich durch Vernunft“? und ist eine „Wissenschaft von den Grundbegriffen und

Grundsätzen der Menschlichen Vernunft, und nicht überhaupt der Menschlichen Erkenntnis, darin viel empirisches und sinnliches ist.“

Diese Grundbegriffe werden auch als „allgemeine Begriffe der Vernunft“3* und die Grundsätze als „Gesetze der reinen Menschlichen Vernunft“ bezeichnet. Im Unterschied zur Logik, die eine formale Theorie „von dem Verhältnisse allgemeiner Begriffe zu einander“ ist’®, ist die Metaphysik eine Wissenschaft,

die sich mit einer besonderen Klasse von Begriffen beschäftigt, mit Begriffen,

„die aus der Natur der menschlichen Vernunft fließen“?”. Für Kant ergibt sich

das Besondere dieser Begriffe durch ihren Ursprung?®; wir erfahren mehr über

sie, wenn wir ihre Funktion oder Rolle für die Erkenntnis betrachten. Sie sind „die ersten Gründe desienigen, was ein obiect der blos reinen Erkentnis ist, oder

die erste Gründe der Erscheinung“. Durch die Begriffe der Metaphysik

ergeben sich „Regeln, ohne die obiecte von uns gar nicht können erkannt werden““, Diese Begriffe und Regeln sind für Kant „subiectiv“, und daher ist die Metaphysik insgesamt eine subjektive Wissenschaft, die auch als „critisch“

bezeichnet wird und von der „dogmatischen reinen Philosophie“, die „die theoretische Logik, die theoretische Moral und die allgemeine Naturwissenschaft“ enthält, unterschieden wird*!. Für das Konzept der Metaphysik als „Critik“, als einer subjektiven Wissenschaft scheinen zwei Gesichtspunkte bestimmend zu sein. Die Metaphysik ist erstens keine Wissenschaft, die auf analytischen Grundsätzen basiert; sie schließt daher „Logica et Moralis pura“

aus ihrem Gebiete aus*?. Sie beschäftigt sich aber zweitens auch nicht mit dem „allgemeinsten des äußeren und inneren Sinnes“, also Raum

und Zeit als

Grundlagen der Mathematik und einer reinen Naturwissenschaft*?. Welche Begriffe des „intellectus puri“ bleiben dann aber noch für die Metaphysik übrig? Und weshalb sind gerade diese „subiectiv“? Kant gibt ein Beispiel: „Der Begrif des Grundes (der Folge) enthält nicht

allein, daß etwas, was da ist, mit etwas anderem begleitet sey, sondern überdem

daß diese Beziehung allgemein und nothwendig sei; denn, wo eine solche Sache

ist, da ist ein solcher Grund a, und wo eina ist, da ist die folge b. Nun sind alle

Realgründe und auch so gar die Möglichkeit derselben nur a posteriorikennbar; diese aber zeigen wohl eine beständige Begleitung, aber keine allgemeinheit der

32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

A.a.0,2.13. A.a.O., Z. 20/2. A.a.O., Z. 27f. R 3952. R 3946 (AA 17.359.28/9). A.a.O. (AA 17.360.11); vgl. R 3963; R 3964. Vgl.R 3949 (AA 17.361.30/1). R 3947; vgl. R 3946 (AA 17.359.17/8). R 3949 (AA 17.361.27). R 3957 (AA 17.366.8/10). Vgl. R 3952; R 3951. R 3952; vgl. R 3957 (AA 17.366.7/10).

t

$3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

Verknüpfung,

45

Begriff folglich ist der Begrif Grund nicht obiectiv.“* Daß der

des Grundes keine Basis in unserer Erfahrung konstanter Verbindungen von Ereignissen hat, ist ein Gedanke, den Kant mit Hume

teilt, und wie dieser

versucht er eine „subjektive“ Deutung des Begriffs des Grundes“°. Denn jener Gedanke soll nicht beweisen, daß der Begriff des Grundes überflüssig ist oder

keine Bedeutung hat. Vielmehr gilt: „Die Vernunft fühlt die Bedürfnis eines Realgrundes

und

n; kan ihn doch nicht nach ihren eigenen Gesetzen denke

daraus ist zu sehen, daß dieser Begrif nicht obiectiv sey.“' Dieses „Bedürfnis

he von der Vernunft „nöthigt uns, etwas zu setzen“ - als Grund oder Ursac durch nicht der atz, Grunds ein also ist ität Ereignissen‘”, Das Gesetz der Kausal die Beobachtung von Ereignissen, sondern durch die Natur der Vernunft Gesetzes, begründet werden soll. Zur Diskussion steht nicht die Geltung des dung. Begrün m seiner sondern die Frage seines Ursprungs und somit das Proble

Kant nennt als ein weiteres Beispiel für „Allgemeine Begriffe, die durch die

Natur der Vernunft gegeben seyn“, den Begriff der Relation von Subjekt und Prädikat'®, Gemeint ist offensichtlich der Begriff der Substanz, die ein besonderer und ausgezeichneter Fall einer solchen Relation exemplifiziert. In ‚R 4158 lesen wir: „Man kan sich ein subiect nicht anders als durch seine praedicate vorstellen und praedicate nicht anders als in ihrem subiecte. Daher die Noth-

wendigkeit, sich substantzen vorzustellen, welches mehr eine subiective Noth-

wendigkeit der Gesetze unseres Verstandes als eine obiective ist.“ Die Subjekti-

vität des Begriffs der Substanz ergibt sich für Kant nicht nur ganz allgemein e Erkenntdaraus, daß unsere Vernunft genötigtist, einen solchen Begriff aufihr „Inhalt nisse anzuwenden; er war damals auch davon überzeugt, daß der dieses Begriffs nur durch die Vorstellung von uns selbst als denkenden Wesen

erfaßt werden kann: „durch unsere Sinne können sich nur die relationen der

Dinge offenbaren, und wir konnen das absolute oder subiect nur von uns aus vorstellen. Die idee der substantz kommt eigentlich von der repraesentatione

sui ipsius her, so fern wir uns vorstellen, daß etwas von uns unterschieden sey,

und praedicate ohne subiect und ohne letztes subiect nicht gedacht werden konnen ...“#,

der Die Metaphysik beschäftigt sich mit den „allgemeinen Begriffen, die aus

Natur der menschlichen Vernunft fließen“°°. Diese Begriffe sind subjektiv, weil ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung weder durch die Erfahrung selber noch durch die Formen der Anschauungen oder durch die Logik, sondern nur durch den Gebrauch der Vernunft begründet werden kann. Solche Begriffe und die ihnen entsprechenden Grundsätze sind aber notwendige Bedingungen, unter denen wir als vernunftbegabte Wesen Erkenntnisse haben 44

R 3972.

45 Vgl. dazu Stroud, Hume, 68 ff. 46 47 48 49 50

R R R R R

3967. 3975. 3964. 3921 (AA 3946 (AA

17.346.5/10). 17.360,11).

46

I. Die Fragestellung von 1772

können. Sie sind notwendige Bedingungen, - nicht für jede denkbare Möglichkeit von Erkenntnis, jedoch für diejenige, der wir allein einen Sinn geben

können. Daher gilt von den Begriffen des Grundes und der Substanz, daß „ohne diese Verhaltnisse die Dinge insgesammt, obzwar nicht durch unsere Vernunft, können vorgestellt werden“5!. So wird verständlich, daß für Kant die Gesetze der Logik „die besondere Natur der Menschlichen Vernunft unbestimmt lassen und vor jede Vernunft gelten“, während die Metaphysik sich gerade mit den

Begriffen beschäftigt, die „aus der Natur der menschlichen Vernunft flie-

ßen“°?. Diese Begriffe sind „Bedingungen, ohne die wir gewisse Gegenstände

durch Vernunft nicht denken können“53, bzw. „unter denen wir allein durch

unsere Vernunft nach Erfahrungsgesetzen urtheilen können“>*. Gegeben die Natur unserer menschlichen Vernunft, so formulieren die Begriffe der Metaphysik

Bedingungen, unter denen für uns Erkenntnis möglich ist?°; und - hier nimmt

Kant bereits einen späteren Gedanken vorweg - sie gelten auch nur für dasjenige,

was für uns sinnvollerweise Gegenstand der Erkenntnis sein kann: „.. . obiectiv gelten sie nur als Regeln der Erscheinungen, folglich als empirische Urtheile“Ss, Kant verfügt noch nicht über den griffigen Terminus ‚Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung‘, und es bereitet ihm offensichtlich Mühe, die

Geltung solcher Bedingungen für unsere Erkenntnis zu formulieren. Als „Geset-

ze der reinen Menschlichen Vernunft“ beziehen sie sich nicht auf Objekte” und „haben gar keine Gültigkeit von Obiecten“5$, Da Urteile über Objekte entwe-

der wahr oder falsch sind, sind diese Gesetze weder wahr noch falsch?. Andererseits „gelten sie obiectiv nur als Regeln der Erscheinungen“ und fungieren als „Regeln, ohne die obiecte von uns gar nicht können erkannt

werden“®!. Spätere Überlegungen schaffen hier größere Klarheit, aber die bishe-

rigen Ausführungen zum Thema der Metaphysik reichen aus, um zu verstehen, weshalb Kant in dieser Zeit zum ersten Mal die Metaphysik als eine „Critik der

reinen Vernunft“ konzipiert. Als Kritik ist die Metaphysik der „dogmatischen philosophia pura“ gegenübergestellt‘2; sie beschäftigt sich also nicht mit den „allgemein gültigen Regeln des Verstandes und des Willens“®, aber auch nicht mit dem „allgemeinsten des

äußeren und inneren Sinnes“%#, Die Begriffe der Metaphysik sind nicht „reine 51 52 53 54

R R R R

3942; vgl. R 3971; 3978, 3946 (AA 17.360,9/11). 3938, 3954,

56

R 3950.

58

R 3977.

55 Vgl.R 3978,

57 Vgl. R 3954 (AA 17.363.29). 59 Vgl.a.a.O.,R 3954; R 3942, 60 61

R 3950. R 3949,

63 64

R 3952. A.a.0.; R 3957.

62 Vgl. R 3951.

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

47

Begriffe der Anschauung“, sondern sie sind „reine Vernunftbegriffe“‘®;

und ihre

Grundsätze sind nicht analytische, sondern synthetische Prinzipien. Sowohl

der Ursprung ihrer Begriffe als auch ihre Rolle als „Grundbegriffe der synthe-

sis“ muß bedacht werden, wenn die Metaphysik als Kritik von einer „dogmatischen philosophia pura“ abgegrenzt wird. Die metaphysischen Begriffe als

Themen einer „Critik der reinen Vernunft“ müssen demnach sowohl als Ver-

nunftbegriffe als auch in Beziehung auf synthetische Verbindung von Begriffen gedacht

werden.

Betrachtet

man

die Listen,

die Kant

von

metaphysischen

Begriffen zusammenstellt, so wird man feststellen, daß er noch weit davon entfernt ist, diese beiden Gesichtspunkte konsquent zur Anwendung zu bringen”. Sie sind nur eine Aufzählung der ontologischen Grundbegriffe, die er aus Baumgartens ‚Metaphysica‘ entnimmt.

.

Für den Sinn der Metaphysik als „Critik der reinen Vernunft“ ist es entscheidend, daß die metaphysischen Begriffe „subiectiv“ sind. Sie ist „eritisch, mithin subiectiv“, heißt es programmatisch in ‚R 3957°®. Kant hat später der Unterscheidung von subjektiven und objektiven Bedingungen für die Entwicklung seines Denkens eine große Bedeutung beigemessen und ihre Entdeckung als den Beginn seiner kritischen Philosophie bezeichnet‘”. Diese Entdeckung ist die Erkenntnis, daß die Metaphysik als eine „Critik der reinen Vernunft“ zu konzipieren ist. In dieser Form ist sie „eine Wissenschaft von einer erkentnis subiective betrachtet“7°, Die Erkenntnis ist die empirische Erkenntnis, deren

Analyse wir in ihren Grundzügen kennengelernt haben. Die „subiective Be trachtungsweise der empirischen Erkenntnis zielt auf Begriffe und Grundsätze, die wir nicht als objektive Eigenschaften von Gegenständen der Erfahrung oder als ihre logischen und durch Raum und Zeit gegebenen Bedingungen denken können, und die gleichwohl notwendige Bedingungen sind, unter denen für uns

die Möglichkeit von Erkenntnis steht. Kant nennt als Beispiel den Begriff der Substanz und den Grundsatz der Kausalität, die für ihn „aus der Natur der

menschlichen Vernunft fließen“”!. Dies soll besagen, daß sie Bedingungen

angeben, gemäß denen wir unseren Begriff von Erkenntnis denken. Die Recht-

fertigung dieser Bedingungen betrifft nicht die Adäquatheit der Erkenntnis im

Hinblick auf ihren Gegenstand, sondern sie betrifft den für uns möglichen und sinnvollen Begriff der Erkenntnis. Solche Bedingungen sind aus diesem Grunde

65 66 67

R 3955. R 3927. Vgl. R 3927, R 3930, R 3941.

68 AA 17.366.10.

69 R 5015: „Es hat eine geraume Zeit dazu gehöret, ehe die Begriffe sich bey mir so geordnet deutlich hatten, daß ich sie sahe ein gantzes ausmachen und die Grentze der Wissenschft der zeichnen, dieich vor hatte. Vor der disputation hatteich schon die Idee von dem Einflus

subiectiven Bedingungen der Erkenntnisse in die obiective, Nachher von dem unterschiede des sensitiven und intellectualen.“ (AA 18.60.6/11).

70 71

R 3964. R 3946 (AA

17.360,11).

48

I. Die Fragestellung von 1772

subjektiv’?. Die Metaphysik, als „Critik der reinen Vernunft“ und so als Theorie der subjektiven Bedingungen menschlicher Erkenntnis verstanden, steht daher vor der Aufgabe, die Bedingungen und Begriffe der Vernunft zu entwikkeln, unter denen für uns Erkenntnis allein möglich ist. Zum Abschluß ist der Zusammenhang deutlich zu machen, der zwischen Kants Konzeption einer Metaphysik als einer „Critik der reinen Vernunft“ und jener Entdeckung aus dem Jahre 1772 besteht. Es ist erstens zu erklären, weshalb er die Entdeckung des Defizits seiner bisherigen Überlegungen so verstand, daß durch das Beheben dieses Defizits der „Schlüßel zu dem gantzen Geheimniss, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys:“ gefunden werden konnte. Weiterhin muß erklärt werden, weshalb Kant von dem Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ zu dem Plan einer „Critick der

' reinen Vernunft“ übergeht. Ich beginne mit dem ersten Punkt. Wir haben gesehen, daß die Entdeckung, von der Kant Herz im Jahre 1772 berichtete, darin bestand, daß er bislang keine Erklärung dafür gegeben hatte,

daß die Begriffe des Verstandes sich überhaupt auf Gegenstände, insbesondere

aber auf Erscheinungen beziehen. Er konnte eine solche Erklärung nicht geben, weil der Verstand nicht als Quelle oder Ursprung angemessen analysiert worden war, so daß weder die Anwendbarkeit seiner Begriffe begründet, noch die Grenzen dieser Anwendbarkeit bestimmt werden konnten. Die Reflexionen

aus dem Jahre 1769 entwickeln das Konzept einer Metaphysik, die sich mit Begriffen beschäftigt, welche „durch die Natur der Vernunft gegeben“ sind”?

und deswegen ‚subiectiv‘ genannt werden, weil sie nicht als Bestimmungen der

Objekte gedacht werden können’*. Diese Deutung der metaphysischen Begriffe muß im Zusammenhang von Kants Überlegungen zu den Begriffen des

Verstandes gesehen werden, die wir im »$ 2° kennengelernt haben. Wir hatten gesehen, daß er in der Folge der Unterscheidung von analytischen und syntheti-

schen Urteilen sich darum bemühte, die metaphysischen Begriffe als Bedingungen oder Momente synthetischer Erkenntnis von logischen Verhältnissen und

Grundsätzen abzugrenzen. Da synthetische Erkenntnisse in dieser Zeit mit empirischen Erkenntnissen zusammenfallen, müssen metaphysische Begriffe auf empirische Erkenntnis bezogen sein. Im Lichte der Entdeckung von 1772 mußte Kant sich daher die Frage stellen, wie die Beziehung der metaphysischen

Begriffe auf Gegenstände der empirischen Erkenntnis zu erklären sei. Da diese Begriffe subjektive Bedingungen des Denkens sind, läßt sich diese Frage als die Frage verstehen, wie es zu erklären ist, daß die empirische Erkenntnis unter 72 Vgl.R 3954: „... ein Grundsatz ist subiectiv, d.i. er enthält die conditiones, unter denen

wir allein durch unsere Vernunft nach Erfahrungsgesetzen urtheilen können ...“. Am 7. Juni 1771 schreibt Kant an Herz: „Sie wissen welchen großen Einflus die gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen was auf subiectivischen principien der menschlichen Seelenkräfte nicht allein der Sinnlichkeit sondern auch des Verstandes beruht von dem was gerade auf die Gegenstände geht in der gantzen Weltweisheit ja so gar auf die

73 74

wichtigsten Zwecke der Menschen überhaupt habe.“ (AA 10.122).

R 3964. Vgl. R 3954; 3977.

$ 3: Der Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik

49

solchen subjektiven Bedingungen steht. In der ‚Kritik‘ hat Kant diese Frage so formuliert: „... wie nemlich subjective Bedingungen des Denkens sollten objective Gültigkeit haben, d.i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntniß der Gegenstände abgeben.“7? Die Erklärung der objektiven Gültigkeit subjektiver Bedingungen des Denkens ist die Begründung dafür, daß die Begriffe der Metaphysik Bedingungen der empirischen Erkenntnis sind. Sind die Begriffe des Verstandes aber solche Begriffe, so läßt sich das 1772 bemerkte Erklärungsdefizit eben dadurch beheben, daß wir jene Begründung geben. Mit anderen Worten:

wir haben

den

Schlüssel

zu dem

„Geheimnisse“

der Metaphysik

gefunden, indem wir eine Erklärung für die Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände geben. Wie ist es aber nun zu erklären, daß Kant von dem Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ zu dem Plan einer ‚Critick der reinen Vernunft‘ übergeht? In ‚R 3964 heißt es: „Die Wissenschaft von einer erkentnis subiective

betrachtet ist Critik.“ Die subjektive Betrachtung einer Erkenntnis thematisiert die Bedingungen und Momente der Erkenntnis, „unter denen wir allein durch

unsere Vernunft nach Erfahrungsgesetzen urtheilen können“, bzw. die Bedingungen, „ohne die wir gewisse Gegenstände durch Vernunft nicht denken können“77, Eine solche Betrachtung der „reinen Vernunft“ ist die Metaphysik”®, die sich mit den Begriffen beschäftigt, „die aus der Natur der menschlichen

Vernunft fließen“”?. Da Kant die Begriffe des Verstandes als metaphysische Begriffe faßt, und diese als subjektive Bedingungen unserer Vernunft gedacht werden, muß seine Beschäftigung mit der Vernunft zu einer Kritik der reinen Vernunft fortschreiten. Sie ist eine Wissenschaft der subjektiven Bedingungen unserer Erkenntnis, sofern diese in der „Natur der Vernunft“ begründet sind. Das Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ war in der

‚Dissertatio‘ soweit ausgeführt worden, daß die Grenzen der Sinnlichkeit aufgrund der Formen unserer sinnlichen Vorstellungen bestimmt worden waren. Diese Formen erlaubten es, formale Bedingungen der Objekte solcher Vorstellungen, der Erscheinungen, anzugeben. Die Grenzen der Sinnlichkeit führten so

zu Bedingungen möglicher Objekte sinnlicher Vorstellungen. Was die Grenzen des Verstandes angeht, so war, wie wir gesehen hatten, die Durchführung jenes

Projekts weit weniger gelungen. Grenzen des Verstandes waren nicht erkennbar; und dies zeigte den grundsätzlichen Mangel der entwickelten Analyse des Verstandes als eines Vermögens von Erkenntnissen. Diese Analyse konnte die Grenzen des Anwendungsbereichs der Begriffe des Verstandes nicht klären, weil sie die Möglichkeit ihrer Anwendung gar nicht sichergestellt hatte. Diese Möglichkeit war für Kant im Hinblick auf die formalen Bedingungen von Erscheinungen und die Formen unserer Sinnlichkeit nicht problematisch; sie

75 76 77 78 79

A 89/B 122. R 3954. R 3938. Vgl. R 3939. R 3946 (AA 17.360.11).

50

I. Die Fragestellung von 1772

war durch das Faktum sinnlicher Vorstellungen gesichert. Nicht so bei den Begriffen des Verstandes. Im Jahre 1772 stellte Kant die grundsätzliche Frage, wie die Bezichung solcher Vorstellungen auf Gegenstände zu erklären sei. Auf dem Hintergrund seiner Überlegungen zum Zusammenhang metaphysischer Begriffe und synthetischer Erkenntnisse verlangt diese Frage als Antwort den Nachweis, daß die Begriffe des Verstandes Bedingungen empirischer Erkennt-

nisse sind. Bezieht man Kants Überlegungen zur Metaphysik als einer „Critik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1769 mit ein, so muß diese Antwort die objektive Gültigkeit subjektiver Bedingungen unserer Vernunft aufzeigen. Im Unterschied zu dem Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘

werden nicht nur die Grenzen der Sinnlichkeit angegeben, sondern es geht um eine Erklärung der Möglichkeit, daß die Begriffe des Verstandes auf das anzuwenden sind, was innerhalb dieser Grenzen gegeben ist und sein kann. Es soll

nachgewiesen werden, daß es einen Anwendungsbereich für Begriffe gibt, die nicht Bestimmungen von Objekten sind, sondern zu subjektiven Bedingungen unserer Vernunft gehören. An die Stelle des Projekts ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ tritt daher der Plan einer ‚Critick der reinen Vernunft”®®,

$ 4: Eine Frage und verschiedene Antworten Die Fragestellung von 1772 entdeckte Kant im Laufe seiner „langen metaphysischen Untersuchungen“, und ihre Beantwortung sollte den Schlüssel zu dem „gantzen Geheimnisse“ der Metaphysik liefern. Wir müssen die Fragestellung daher im Zusammenhang seiner Interessen an der Metaphysik schen. Diese verbinden eine grundsätzliche Kritik an der Metaphysik mit dem Projekt einer methodisch reflektierten Neubegründung. In den ‚Träumen eines Geisterse-

hers‘ wird diese Verbindung besonders deutlich zum Ausdruck gebracht: „Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen

kann, leistet zweierlei

Vortheile. Der erste ist, den Aufgaben ein Gnüge zu thun, die das forschende Gemüth aufwirft, wenn es verborgenern Eigenschaften der Dinge durch Ver-

nunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang nur gar zu oft die Hoffnung... . Der andre Vortheil ist der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen

und besteht darin: einzuschen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältniß die Frage zu den Erfahrungs80 M. Kuehn, Scottisch Common Sense in Germany, Montreal 1987, glaubt, Gemeinsamkeiten zwischen jenem Projekt und den Intentionen von Beattie entdecken zu können, und vermutet, daß dieser Kant nach 1772 beeinflußt hat (vgl. 178f.). Kuchn scheint den Unterschied nicht bemerkt zu haben, der zwischen dem Projekt und dem Plan einer „Critick der reinen Vernunft“ besteht, und verkennt daher die leitende Fragestellung von Kants Denken um und nach 1772.

$4: Eine Frage und verschiedene Antworten

51

begriffen habe, darauf sich alle unsre Urtheile jederzeit stützen müssen. In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft... .“!. Die Kritik an der Metaphysik führt zu einer „Wissenschaft von den Grenzen

der menschlichen Vernunft“; und das Interesse Kants, jenen ersten „Vortheil“

als eine trügerische und vergebliche Hoffnung zu entlarven, ist in seinem Interesse an der Metaphysik als einer solchen Wissenschaft begründet?: Das Projekt ‚Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft‘ sollte der Realisierung dieses Interesses dienen, hatte aber, ‚wie die ‚Dissertatio‘ zeigt, gravierende Mängel. Denn nicht die Grenzen der Vernunft, sondern die Grenzen der

Sinnlichkeit wurden bestimmt. Im Jahre 1781 schrieb er an Bernoulli: „Im Jahre 1770 konnte ich die Sinnlichkeit unseres Erkenntnisses durch bestimmte Grenzzeichen ganz wohl vom Intellectuellen unterscheiden... .“?. Diese Leistung hatte Kant selber als Aufgabe der „scientia propaedeutica“ angesehen, für die die

‚Dissertatio‘ ein Beispiel sein sollte‘. Welche Folgen hatte die Entdeckung der Fragestellung von 1772 für dieses Projekt? Für Kant stand diese Entdeckung im Zusammenhang einer Untersuchung der „Quellen der Intellectualen Erkentnis“?, die, wie er später schreibt, „neue

und unvorhergesehene Schwierigkeit“ aufwarf‘. In der ‚Dissertatio‘ wird die Metaphysik als die „Philosophie, die die ersten Grundsätze des reinen Verstandes enthält“ bestimmt, und die Begriffe, mit denen sie sich beschäftigt, sollen

durch die „Natur des reinen Verstandes“ gegeben sein’. Wie wir gesehen haben, genügte diese Erklärung des „Ursprungs des Intellectuellen von unserem Er-

kenntnis“ nicht. Denn sie erlaubte es nicht, die von Kant gesuchten „Grentzen der Vernunft“ zu bestimmen; und auch die Erläuterung dieser Begriffe „conceptus vel rerum vel respectuum“S - führte zu keiner inhaltlichen Präzisierung der durch den „realen Gebrauch des Verstandes“ zu erwerbenden metaphysischen Erkenntnisse. Von den Erkenntnissen über solche Begriffe und ihren

Grenzen hören wir nichts. Dies bedeutet aber, daß Kants Konzept der Meta-

physik in der ‚Dissertatio‘ hinter seinen eigenen Erwartungen, die er sowohl 1766 als auch 1772 zum Ausdruck bringt, zurückbleibt. Das Defizit, das er in

dem Brief an Herz vom Februar 1772 konstatiert, betrifft die Unzulänglichkeiten seiner Überlegungen zur Metaphysik und hat nach Kants Diagnose seinen Grund darin, daß er bislang nicht gezeigt hatte, daß Begriffe, die aufgrund ihres Ursprungs Begriffe des reinen Verstandes und gemäß ihrem Inhalt Begriffe von Dingen und Relationen sind, sich überhaupt auf Gegenstände beziehen. Wie Kants Versuche, eine Erklärung für die Beziehung der Verstandesbegrif1 11. 2. Hauptstück (AA 2.367f.).

2 Vgl. den Brief an Mendelssohn vom 8. 4. 1766 (AA 10.70). 3 AA 10.277.

4 $8 (AA 5 Brief an 6 Brief an 788 $ 8 (AA 8 $ $5 (AA

2.395.17£.).

Herz vom 21. 2. 1772 (AA 10.131.37f.). Bernoulli vom 16. 11. 1781 (AA 10.278.4ff.). 2.395). 2.393.18/9); vgl. $ 6 (AA 2.394.16); $ 23 (AA 2.411.6f.).

52

I. Die Fragestellung von 1772

fe auf Gegenstände zu geben, zeigen, hat er die Frage, die ihm 1772 aufging, in verschiedenem Sinne verstanden. Die Orientierung an dem Projekt einer Grenzbestimmung der reinen Vernunft brachte ihn.dazu, sie als eine Frage nach den

Bedingungen anzusehen, die die Verstandesbegriffe erfüllen müssen, damit sie sich auf Gegenstände beziehen. Hier bot sich die in ‚$ 2° besprochene Explikation dieser Begriffe im Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Verstandes als ein geeigneter Ausgangspunkt an. Der Inhalt dieser Begriffe sind die Prinzipien der Verbindung von Begriffen, und diese Verbindungen finden ihren Ausdruck in ‚ synthetischen Urteilen, die in der damaligen Zeit als Formulierung empirischer Erkenntnisse angesehen wurden. Die Verstandesbegriffe enthalten demnach Prinzipien der Verbindung von Begriffen zu empirischen, synthetischen Urteilen; und sie beziehen sich genau dann auf Gegenstände, wenn empirische Erkenntnis unter solchen Prinzipien steht. Ein solches Argument, genauer ausgeführt,

finden wir in dem

frühesten

uns erhaltenen Entwurf zu einer

‚Deduktion der Kategorien‘, der die Frage des Herz-Briefes durch den Nachweis zu beantworten sucht, daß die Begriffe des Verstandes Bedingungen der

Möglichkeit der Erfahrung sind. Diese Überlegungen lassen sich auf das beziehen, was Kant 1781 im ersten Abschnitt der ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ als objektive Deduktion entwickelt hat. Man kommt so zu der gesuch-

ten Grenzbestimmung der reinen Vernunft, indem der „Lehrbegriff ... der formalism der reinen Vernunft“ begründet wird: „Dieser erlaubt nur Grundsät-

ze der Form des Gebrauchs unserer Vernunft a priori inansehung der Erfahrungen.“

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir unsan der Explikation der Begriffe des Verstandes als metaphysischer Begriffe, die subjektive Bedingungen eines

uns möglichen Konzepts von Erkenntnis formulieren, orientieren. Kant hat

später die Aufgabe, die zu lösen ist, darin gesehen, daß zu zeigen ist, daß „subjective Bedingungen des Denkens ... Bedingungen der Möglichkeit aller

Erkenntniß der Gegenstände abgeben“ und erläuternd hinzugefügt: „denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden“!0l Das Besondere dieser Aufgabe wird aus dieser Erläute-

rung deutlich. Es geht darum zu zeigen, daß die Verstandesbegriffe als subjekti-

ve Bedingungen des Denkens auf gegebene Vorstellungen Anwendung finden, so daß wir von Erscheinungen eine Erkenntnis haben können. Um einen

solchen Nachweis

zu erbringen, kann es nicht genügen, die Begriffe des Ver-

standes mit den Bedingungen der Erfahrung zu identifizieren und dadurch ihre

Beziehung auf Gegenstände zubegründen. Denn jetzt muß gezeigt werden, daß wir überhaupt Erkenntnisse haben-Der Nachweis der Möglichkeit der Metaphysik wird zu einem Nachweis der Möglichkeit von Erkenntnis. Die Frage des Herz-Briefes nach dem „Grunde“ der Beziehung der Verstandesbegriffe auf Gegenstände wird als die Frage verstanden, ob sie sich überhaupt auf Gegenstände beziehen. Nicht wie diese Begriffe beschaffen sein müssen, damit sie sich

9 R 4953 (AA 18.40.2/4). 10 A 89/90 / B 122.

$ 4: Eine Frage und verschiedene Antworten

53

auf Gegenstände beziehen, sondern ob sie dies überhaupt tun, ist das Thema,

dessen Erörterung uns in zwei Entwürfen erhalten ist, die in einem direkten Zusammenhang mit den Überlegungen stehen, die Kant 1781 im zweiten und dritten Abschnitt der ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ entwickelt hat. Daß Kant die im Herz-Brief aufgeworfene Frage in zwei verschiedenen Weisen gelesen hat, läßt sich-nicht nur durch Rekurs auf die spätere Entwicklung seiner Gedanken plausibel machen, sondern kann auch durch die Beobachtung einer gewissen Ambiguität seiner Verwendung des Terminus ‚Gegen-

stand‘ in diesem Brief gestützt werden. Auf die ‚Dissertatio‘ zurückblickend, schreibt er: „Wie aber denn sonst eine Vorstellung die sich auf.einen Gegen-

stand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn möglich überging ich mit Stillschweigen. ... Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gege-

ben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns afficiren ...“!!. Vorstellungen, die sich in dieser Weise auf Dinge beziehen, werden später

‚empirische Anschauungen‘ genannt, deren Gegenstände Erscheinungen sind’?. Demnach berrifft die gesuchte Erklärung der Beziehung der Verstandesbegriffe auf Gegenstände eine Begründung dafür, daß diese Begriffe sich auf Erschei-

nungen beziehen. Aber in demselben Brief wird diese Beziehung auch so beschrieben: „Allein im Verhältnisse der qualitaeten, wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß .. “3, Die

Beziehung der Verstandesbegriffe auf Erfahrung ist eine Beziehung auf Gegen-

stände, sofern von diesen gilt: „In jeder Erfahrung ist etwas, wodurch uns ein

Gegenstand gegeben, und etwas, wodürch er Gedacht wird.“!* Die „Sachen“

oder Gegenstände der Erfahrung sind demnach etwas, das sowohl durch eine empirische Anschauung gegeben als auch durch einen Begriff gedacht wird’. Folgt man dieser Deutung, so geht es darum, eine Beziehung zwischen den

Verstandesbegriffen und den Gegenständen der Erfahrung zu begründen. Diese verschiedenen Bestimmungen dessen, womit die Verstandesbegriffe übereinstimmen sollen, führen zu unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was die gesuchte Erklärung zu zeigen hat. Folgt man der ersten Deutung, so muß gezeigt werden, daß diese Begriffe sich auf alle Erscheinungen beziehen müssen, daß also alles, was durch eine sinnliche Anschauung gegeben ist, unter

den Kategorien steht. Hält man sich dagegen an die zweite Deutung, so muß gezeigt werden, daß alles, was durch Erfahrung gegeben ist, unter Kategorien steht. Da dieses nur durch sinnliche Anschauung zugänglich ist, ist der Beweis,

daß alle Erscheinungen unter Kategorien stehen, auch der Nachweis, daß alles

Erfahrbare unter ihnen steht. Aber die Umkehrung gilt nicht: der Nachweis, 11

AA

10.130.36ff.

13 14

AA 10.131.15/9. R 4634 (AA 17.618.17/8).

12 Vgl. A 20/B 34.

15 Zu dem Terminus ‚Sache‘ vgl. R 4276 (AA 17.493.13/7); R 4631; R 4644; R 408.

54

I. Die Fragestellung von 1772,

daß dies so ist, schließt nicht ein, daß alle Erscheinungen unter Kategorien stehen. Denn es könnte ja sein, daß unsere empirischen Anschauungen sich nur teilweise, oder bruchstückhaft oder vielleicht auch gar nicht zur Einheit einer Erfahrung zusammenschließen; und es ist diese Möglichkeit, auf die Kant im Zusammenhang seiner Deutung der Kategorien als subjektiver Bedingungen, unter denen die uns mögliche Erkenntnis steht, hingewiesen hatte!®, und auf die er 1781 in seiner Erörterung der „Principien einer transcendentalen Deduktion

überhaupt“ wiederum aufmerksam macht!?. Die Überlegungen Kants, die eine solche Möglichkeit ausschließen wollen und sich daher das anspruchsvollere Beweisziel setzen, gehen von jener Deutung der reinen Verstandesbegriffe aus.

16 Vgl.R 3942 (AA 17.357.12/6); R 3971 (AA 17.370. 20/2). 17 Vgl. A 89/91-B 122/3.

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung Wir haben gesehen, daß Kant einerseits die reinen Verstandesbegriffe im Zusammenhang der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen als Bedingungen synthetischer, empirischer Erkenntnisse ansah, und daß er andererseits diese Begriffe im Kontext seiner Theorie der Metaphysik als subjektive Bedingungen des Denkens verstand, von denen zu zeigen war, daß sie

objektiv gültig sind. Diese Betrachtungsweisen schließen sich nicht aus, aber sie betonen verschiedene Aspekte, unter denen die Begriffe des Verstandes thematisiert werden können, - ihre Funktion für empirische Erkenntnisse zum einen und ihren Ursprung zu anderen. Wir werden schen, daß sich damit zwei verschiedene Beantwortungen der Frage des Herz-Briefes verbinden lassen. Bevor wir jedoch dazu übergehen, ist es nötig, Kants Deutung der Verstandesbegriffe und ihre Systematik kennenzulernen, die wir in seiner frühesten „Kate-

gorienlehre“ finden. Die Auffassung, daß diese Begriffe Kategorien sind, ist eine

Voraussetzung für die erste Antwort, die Kant auf jene Frage gibt, und bleibt für

alle weiteren Versuche verbindlich.

$ 1: Kategorien

Die Frage nach dem Ursprung der Verstandesbegriffe führte Kant zu einem systematischen Aufriß der Metaphysik, dessen Form und Gliederung hier nicht behandelt werden muß!, der aber eine Deutung dieser Begriffe enthält, die für

das Verständnis der Fragestellung von 1772 wichtig ist. Er berichtet von dem Projekt, „alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen, aber nicht wie Aristoteles, der sie so, wie er sie fand, in

seinen 10 praedicamenten aufs bloße Ungefehr neben einander setzt... stern

so wie sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von selbst in classen eintheilen“?. Die Interpreten haben sich vor allem mit’ der Frage beschäftigt, ob Kant hier bereits den Gedanken des „Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ gefaßt hatte, und dazu kontrovers Stellung genommen. Paulsen vertritt die Meinung, Kant habe diesen Leitfaden bereits 1772 entdeckt. De Vleeschauwer hat dies mit Nachdruck bestritten* und sich der Auffassung von Adickes angeschlossen, „die Grundgesetze des Verstandes“ 1 Vgl. auch den Brief an Herz vom 24. November 1776 (AA 10.199.19/25). 2 AA

10.132.4/8.

3 Vgl. Entwicklungsgeschichte, 152; wesentlich vorsichtiger: Richl, Kritizismus I, 373/7. 4 Vgl. Deduction, 210ff.; vgl. dazu kritisch Reich, Kant-Studien 40, 1935, 311 f.

56

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

seien im Zusammenhang der Tätigkeiten des Verstandes zu sehen, die wir im »$ 2° kennengelernt haben?. Ich will keine Stellung zu dieser Kontroverse bezie„hen, sondern mich mit dem unbezweifelbaren Faktum beschäftigen, daß Kant

die „Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft“ als Kategorien interpretiert. Wie ist diese Deutung zu verstehen? Um zu erfassen, was Kant in der Zeit von 1772 mit dem Terminus ‚Categorie‘ _ gemeint hat, müssen wir auf ‚Reflexionen‘ dieser Zeit zurückgreifen. In,,R 4276‘, -

von Adickes um 1770/1 datiert, heißt es: „Categorien sind die allgemeinen

handlungen der Vernunft, wodurch wir einen Gegenstand überhaupt (zu den Vorstellungen, Erscheinungen) denken.“ Um diese Erläuterung zu verstehen, ist es nötig, den Begriff einer allgemeinen Handlung der Vernunft zu bestimmen und zu klären, was es heißt, einen „Gegenstand überhaupt“ zu

denken. Zu dem ersten findet sich in derselben Reflexion die folgende Bemerkung: „Die Handlungen des Verstandes sind entweder in Ansehung der Begriffe, woher sie auch gegeben werden, in Verhaltnis auf einander durch den ‚ Verstand, wenn gleich die Begriffe und der Grund ihrer Vergleichung_ durch sinne gegeben ist; oder in Anschung der Sachen, da ich der Verstand einen Gegenstand überhaupt gedenkt und die Art, etwas überhaupt und dessen Verhaltnisse zu setzen.“7 Kant unterscheidet demnach zwei Arten von Handlungen, die im Hinblick

auf ihr Thema voneinander differieren. Der erste Typ von Handlungen betrifft

Begriffe, „woher sie auch gegeben werden“, und führt zur Angabe von Verhält-

‚nissen zwischen ihnen, die.wir in Anlehnung an die Ausführungen zum „usus

logicus“ als analytische Beziehungen zwischen Begriffen denken können’. Es ist

der zweite Typ von Handlung, der für den Begriff der Kategorie wichtig ist und

als Denken eines ‚Gegenstandes überhaupt‘ bezeichnet wird. Den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Handlungen sieht Kant darin, daß „in den

ersten die Vorstellungen, in den andern durch die Vorstellungen die Sachen gesetzt werden“?. Wie aber geschieht dies? Wir müssen von dem Unterschied zwischen Sache oder Gegenstand einerseits und den Vorstellungen andererseits

ausgehen. In’,R 4285%heißt es: „Obiekt wird nur genant, was eine logische qualitaet hat. e.8. subiectum nicht relativisch auf andere Begriffe, sondern an sich selbst. Diese Gegenstande sind von den Erscheinungen unterschieden, welche wohl in, logische Verhaltnisse können gebracht werden, aber denen diese logische qualıtaet nicht absolut zukommt. *'° Erscheinungen oder Vorstellungen können in logischen Verhältnissen zueinander stehen, und dies ist der Fall, :

sofern sie in einem Urteil vorkommen. Wenn sie oder ihre Ausdrücke in. einem

Urteil vorkommen, haben sie eine „logische qualitaet“; aber diese Eigenschaft 5 Vgl. Kants Systematik, 23. 6, AA 17.492.24/6. 7 AA 17.493.9/15.

8 Diss. $5 (AA 2.393); vgl. R 4631.

9 R 4276 (AA 17.493.15/7). 10 AA 17.496.4/8.

$ 1: Kategorien

57

kommt ihnen nur relativ zu dem Urteil zu, in dem sie oder ihre Ausdrücke als

grammatisches Subjekt oder als Antecedens eines hypothetischen Urteils vorkommen. Demgegenüber haben Gegenstände eine logische Qualität in einem absoluten Sinn: sie, bzw. ihre Ausdrücke, können in einem Urteil nur in einer bestimmten Weise oder nur an einer bestimmten Stelle vorkommen. Was

als Grund oder Ursache gedacht wird, fungiert als Antecedens eines hypothetischen Urteils; was Substanz ist, muß als Subjekt eines kategorischen Urteils formuliert und kann nicht als Prädikat von anderen ausgesagt werden. Der thematisch bestimmte Unterschied zwischen den Handlungen des Verstandes, die in dem Herstellen analytischer Beziehungen zwischen gegebenen Begriffen besteht, und den Handlungen, durch die ein Gegenstand „gedacht“

oder eine Sache „gesetzt“ wird, muß mit der Differenz korreliert werden, die

zwischen den beiden Arten, in denen Vorstellungen oder Ausdrücke eine logische Qualität besitzen, gegeben ist. Einen Gegenstand denken wir, indem wir etwas denken, dem eine logische Qualität „absolut zukommt“; und wir „setzen durch die Vorstellungen die Sache“, indem wir Urteile bilden, in denen gewisse Ausdrücke nur in einer bestimmten Weise vorkommen können. Die

Kategorien als allgemeine „handlungen der Vernunft, wodurch wir einen Gegenstand überhaupt (zu den Vorstellungen, Erscheinungen) denken“, müssen demnach im Zusammenhang solcher Urteile gesehen werden. Dieses Denken vollzieht sich in Urteilen und zwar genauer in solchen Urteilen, die Ausdrücke

enthalten, die eine logische Qualität in absoluter Weise besitzen. Kategorien auf Erscheinungen anzuwenden, bedeutet demnach, daß ihre Ausdrücke in einer

und nur einer bestimmten Weise in einem Urteil vorkommen. Diese Auszeichnung besteht für Kant darin, daß die von ihnen bezeichneten Vorstellungen eine „reale Funktion“ besitzen.

In der Zeit um 1772 kennt er drei Arten von Funktionen von Vorstellungen: ihre sensitive, ihre logische und ihre reale Funktion. Die „sensitive Function“ ergibt sich dadurch, daß „unsre Empfindungen eine bestimmte Stelle im Raume und der Zeit bekommen ...; die Stelle aber im Raume und in der Zeit ist

bestimmt durch die Nachbarschaft anderer Empfindungen in denselben“!". Demnach können Empfindungen keine bestimmte Stelle in Raum oder Zeit einnehmen,

ohne eine Funktion zu besitzen. Was aber heißt es, daß sie eine

solche Stelle haben? Kant betont, daß diese keine „willkührliche“ ist!?, und gibt zu erkennen, daß es ihm gerade auf die Bestimmtheit der Stelle ankommt. Es

scheint, daß er den Begriff der Stelle aus Baumgartens ‚Metaphysica‘ übernimmt. Dort lesen wir: „Respectus entis ex coniunctione eius cum aliis determi-

natus est positus.“ ($ 85) Da für Baumgarten die Bestimmung einer Beziehung

nur aufgrund von Gesetzen möglich ist ($ 84), fügt er hinzu: „Ubi ergo positus,

ibi leges.“ Demnach kann etwas nur dann eine Stelle haben, wenn es nach Gesetzen bestimmt ist. Da diese Stelle die Beziehung von etwas zu anderem ist, müssen diese Gesetze eine bestimmte Ordnung dieser Beziehungen festlegen. 11 R 4629 (AA 17.614.17/20). 12 A.a.O., Z. 27.

58

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

Überträgt man diese Überlegung auf Kant, so muß die bestimmte Stelle einer Empfindung in ihren Beziehungen zu anderen Empfindungen bestehen, die durch Gesetze festgelegt sind. In diesem Sinne heißt es auch: „... auf den Zustand meiner Empfindungen, die mit den vorigen etwas gemein haben, folgt der andere; die empfindung eines wiederstandes ist zugleich in demselben raume mit der Schwere verbunden“!3, Daß die Empfindungen in geordneten Verhältnissen zueinander stehen und so eine bestimmte Stelle besitzen, ist für ihn jedoch nicht dadurch begründet, daß die Beziehungen der Empfindungen

untereinander unter Gesetzen stehen, sondern ergibt sich für ihn durch die „Funktionen“. Das Besondere der hier betrachteten sensitiven Funktion besteht darin, daß es sich um eine „function unter den Erscheinungen“ handelt!*. Der

allgemeine Begriff der Funktion wird deutlich, wenn wir Kants Ausführungen zu den logischen Funktionen von Vorstellungen betrachten. In,R 4629 heißt es: „Durch die Bestimmung der logischen stelle bekommt

die Vorstellung eine Function unter den Begriffen, e.g. Antecedens, consequens.“ Die logische Stelle einer Vorstellung ergibt sich durch die Artund Weise, in der sie in einem Urteil vorkommt. Wie das Beispiel zeigt, können diese

Urteile aussagenlogisch komplexe Urteile sein; aber es kommen natürlich auch Urteile der Subjekt-Prädikat-Form in Betracht. Die Vorstellungen, deren logi-

sche Stelle in einem Urteil angegeben wird, können sowohl Begriffe als auch

Urteile sein. Wie das Beispiel weiterhin deutlich macht, sind die logischen Funktionen die Rollen, die Vorstellungen in einem Urteil übernehmen, sofern sie an einer durch seine logische Form markierten Position vorkommen. Diese

Form definiert die logischen Funktionen, die Vorstellungen übernehmen können, welche diese Form inhaltlich spezifizieren; und die durch die Form bestimmten logischen Funktionen sind die Rollen, die Vorstellungen relativ zu

anderen Vorstellungen haben, die zu einer solchen Spezifikation beitragen.

Demnach erhalten Vorstellungen eine logische Stelle, indem sie in einem Urteil vorkommen, und ihre logische Funktion ergibt sich durch die Form dieses Urteils!®. Logische Stellen können Vorstellungen daher nur dann haben, wenn sie eine logische Funktion besitzen. Während für Baumgarten die Stelle von etwas auf Gesetzen begründet war, die die Beziehungen von diesem zu anderem

festlegen, ergibt sich für Kant die logische Stelle von Vorstellungen aufgrund ‘von Urteilsformen. nn

Kant bestimmt Urteile ganz. allgemein als „logische Handlungen ..., wor durch wir die data zu Vorstellungen der Dinge respective gegen einander setzen

und ordnen“!7, Diese ‚data‘ sind Empfindungen oder gegebene Vorstellungen,

die, sofern sie als Bestandteile von Urteilen fungieren, als „Vorstellungen der ‘

13 A.a.O., Z. 20/3. 14 A.a.O., Z. 18f.

15 A.a.O., Z. 24f.

16 Vgl. R 4672: „Was vor eine logische Function also eigentlich von einer Erscheinung in Ansehung der andern gültig sey, ob die der größe oder des subiects, also welche function der

Urtheile.“ (AA 17.636.173). 17 R 4631 (AA 17.615.6/7).

!

$ 1: Kategorien

59

Dinge“ genommen werden. Urteilen ist das Verbinden gegebener Vorstellungen zu Vorstellungen von Dingen. Solche Vorstellungen müssen komplexe, zu einem Urteil verbundene Vorstellungen sein. Gegebene Vorstellungen, für sich genommen, können keine Vorstellungen von Dingen sein. Sofern gegebene Vorstellungen zu Vorstellungen von Dingen in einem Urteil verbunden werden,

erhalten sie erstens eine logische Funktion, die durch die Form des Urteils

gegeben ist und an der „logischen stelle“ ablesbar ist, an der sie im Urteil

vorkommen. Sie gewinnen zweitens auch eine „reale function“. Dazu schreibt

Kant: „Diereale function besteht in der Art, wie wir eine Vorstellung an und vor sich selbst setzen: also ist es eine Handlung (a priori), welche ieglichem dato (a posteriori) correspondirt und wodurch dieses zum Begriffe wird.“'® Das Konzept der realen Funktion gibt eine Explikation des Verhältnisses von Kategorien

und Erscheinungen und bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen die Frage des Herz-Briefes geschen werden muß. Wir müssen von der Frage ausgehen, was es heißt, eine Vorstellung „an und vor sich selbst“ zu setzen. In ‚R 4287° lesen wir: „Logisch ist, was in der. Vergleichung besteht; real, was an-sich selbst gesetzt wird“. Demnach sind

Kants Vorstellungen, die „an und vor sich selbst“ lungen oder Vorstellungen von etwas Realem. „Dasjenige an der vorstellung, wodurch sie ihre stellet das Obiect vor (reale function) .. .“1%. Daß

gesetzt werden, reale VorstelIn ‚R 4635“ heißt es dazu: eigenthümliche function hat, eine Vorstellung die Vorstel-

lung eines Objektes ist, ergibt sich durch die Beziehung, die die Vorstellung auf das Objekt hat; und diese Beziehung beruht auf der „eigenthümlichen function“, die die Vorstellung hat. Kant nennt diese Funktion „die reale function“, die

„auf das geht, was in der Vorstellung liegt“?°. Sofern Vorstellungen „an und vor sich selbst gesetzt werden“, werden sie als Vorstellungen genommen, die auf das

bezogen werden, was in ihnen „liegt“; und dies ist dann der Fall, wenn sie ihre „eigenthümliche“, „reale“ Funktion haben. Den Zusammenhang von Objekt-

Beziehung und realer Funktion von Vorstellungen gewinnt Kant durch eine. Analyse des Begriffs ‚Vorstellung von Objekten‘. In ‚R 4672° schreibt Kant: „Ich werde um deswillen in der Erscheinung nicht, was ich will, als subiect ansehen oder, wie ich will, entweder als subiect oder

praedicat, sondern es ist bestimmt als subiect respective als Grund. Was vor eine

logische Function also eigentlich von einer Erscheinung in Anschung der andern gültig sey, ob die der größe oder des subjects, also welche function der

Urtheile. Denn sonst können wir nach Belieben logische functionen brauchen,

ohne auszumachen, auch ohne wahrzunehmen, daß das obiect einer mehr als

der andern angemessen sey.“2?! Die logische Funktion der Vorstellungen be-

stimmt sich durch die Form der Urteile, in denen sie vorkommen, und ist relativ

zu ihrer „logischen Stelle“, an der sie in einem gegebenen Urteil vorkommen. 18 A.a.O0., Z. 8/11. 19 AA 17.619.17/9.

20 A.a.O., Z. 21f. 21 AA

17.635.19/636.6. Diese Reflexion ist nach November 1773 zu datieren.

60

U. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

Dieselbe Vorstellung kann in verschiedenen Urteilen unterschiedliche „logische Stellen“ besetzen und daher verschiedene logische Funktionen besitzen. Gegen diese logische Variabilität der Vorstellungen setzt Kant den Gedanken der sachlichen Angemessenheit. Vorstellungen sind aufgrund der von ihnen vorgestellten Sache oder aufgrund der Objekte, auf die sie bezogen werden, dahingehend festgelegt, daß sie in bestimmter Weise, also an einer bestimmten „logischen Stelle“ in einem Urteil vorkommen.

Sie haben daher nicht beliebige

logische Funktionen, sondern eine ihnen eigentümliche Funktion; und diese reale Funktion bestimmt sich nach dem Objekt, auf das sie bezogen sind. Durch diese Beziehung ergibt sich eine bestimmte logische Funktion; und Vorstellungen haben die Beziehung auf ein Objekt, indem sie eine ihnen eigentümliche

logische Funktion, ihre reale Funktion, besitzen. Die reale Funktion von Vor-

stellungen ist demnach .eine logische Funktion, die deswegen ‚real‘ genannt wird, weil sie im Hinblick auf die von ihr vorgestellte Sache bestimmt wird; und sie kann daher nicht irgendeine beliebige logische Funktion, sondern nur eine

ganz bestimmte sein. Die Unterscheidung zwischen logischen und realen Funk-

tionen von Vorstellungen ist daher keine Einteilung in verschiedenartige Funktionen, sondern soll’ die Auszeichnung deutlich machen, die wir im Hinblick auf die Menge möglicher logischer Funktionen von Vorstellungen vornehmen, wenn wir ihnen aufgrund ihrer Beziehung auf Objekte eine und nur eine

logische Funktion zuordnen. Diese Beziehung besteht nur, sofern die Vorstellungen eine „logische Stelle“ in einem Urteil haben; aber sie verlangt auch, daß

sie eine ganz bestimmte, ihnen eigentümliche Stelle einnehmen. Die Möglichkeit, Vorstellungen als Vorstellungen von Objekten anzusehen, ist begründet in der Möglichkeit, unter ihren möglichen logischen Funktionen eine als ihre „reale“ auszuzeichnen. Vorstellungen sind Vorstellungen von Objekten, wenn

sie eine reale Funktion besitzen.

Es ist zu betonen, daß Kant diesen Zusammenhang im Hinblick auf „data“,

also auf Empfindungen oder gegebene Vorstellungen, behauptet und durch die Annahme dieses Zusammenhangs erklären will, wie solche Vorstellungen zu

“ Vorstellungen von Objekten werden. In.,‚R 4631 schreibt er: „In der Natur

können uns keine data vorkommen, als daß, wenn man Gesetze darin warnimt, die den allgemeinen arten correspondiren, wornach wir etwas setzen,

weil sonsten keine gesetze würden bemerkt werden oder überhaupt kein Obiect, sondern nur verworr ene innere Veranderungen, Da wir also obiecte nur durch

unsre Veränderüngen Vorstellen können, so fern sie etwas unsern Regeln zu setzen und aufzuheben gemäßes an sich haben, so sind die realfunktionen der’ Grund der Moglichkeit der Vorstellung der Sachen .. .“22, Die „allgemeinen

arten ..., wornach wir etwas setzen“, sind die realen Funktionen, die Vorstel-

lungen haben, sofern sie in Urteilen vorkommen und als Vorstellungen von Sachen „gesetzt“ werden. Ihnen entsprechen Regeln für die Handlungen, in

22 AA

17.615.14/21.

$ 1: Kategorien

61

denen „durch die Vorstellungen die Sachen gesetzt werden“??. Kant versucht

auf diese Weise, einen Zusammenhang zwischen der Vorstellung von Objekten und der Annahme, daß die Erscheinungen unter Gesetzen stehen, herzustellen.

Die Regeln sind als „realfunctionen“ Bedingungen der Möglichkeit der Vorstellung von Sachen und leisten eben das, was durch die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen gesichert werden soll. In einer ‚Reflexion‘, dienach dem 18. November 1773 geschrieben ist, beschreibt Kant diesen Zusammenhang so: „Damit die Erscheinungen gewissen Regeln eigen oder darnach bestimmt vorgestellt werden, gehoret, daß sie als unter eine oder andre function derselben gehorig vorgestellt werden. Dadurch werden sie auf bestimmte Weise obiecten der Gedanken ... .“2*. Um gegebene Vorstellungen als Vorstellungen von Objekten zu denken, müssen diese Vorstellungen eine „reale function“ bekommen.

Dies ist aber nur möglich, wenn sie eine „logische Stelle“ in einem Urteil einnehmen und somit eine logische Funktion besitzen, und wenn sie als Be-

standteil eines Urteils eine ihnen spezifisch logische Funktion haben, wenn also ihre logische Funktion ihre reale Funktion ist.

' Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen können wir nun Kants Auffassung der Kategorien um 1772 genauer bestimmen. Halten wir uns noch einmal seine Fragestellung im Herz-Brief vor AugenYEr sucht eine Erklärung dafür, daß sich die Begriffe des Verstandes auf Gegenstände beziehen,/Er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß diese Beziehung kein kausaler Zusammenhang sein kann, und präzisiert das Ziel dahingehend, daß die Gegenstände, die in Betracht kommen, Erscheinungen sind, und daß die fragliche Beziehung eine

notwendige Übereinstimmung mit den Begriffen des Verstandes sein soll. Auf dem

Wege

zu einer solchen

Erklärung

thematisiert Kant

die „Quellen

der

Intellectualen Erkentnis“2 und gelangt so zu der „transcendental-philosophie“, die darin besteht, „alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen“?°. Die „reine Verstandesbegriffe“,

auch „intellectual Vorstellungen“ genannt, werden also als Kategorien gefaßt,

und es stellt sich die Frage, wie diese Interpretation in eine Beziehung zu der gesuchten Erklärung zu setzen ist. Bevor ich mich der Beantwortung dieser Frage zuwende, will ich die wesentlichen Punkte der Explikation des Begriffs ‚Verstandesbegriff‘ als Kategorien herausstellen.

In ‚R 4276‘ werden die Kategorien als „die allgemeinen handlungen der Vernunft“ bestimmt, „wodurch wir einen Gegenstand überhaupt (zu den Vor23 R 4276 (AA 17.493.16f.); zum Zusammenhang von Sache und Setzen vgl. R 4287; R 4631

(AA 17.615.9£.).

24 R 4672 (AA 17.636.9/12). Guyer, Kant, 31, behauptet, daß die Kategorien oder „Titel des Denkens“ „something other than the merely logical functions of judgement themselves“ sein müßten. Das ist falsch, weil es Kant nicht darum geht, daß gegebene Vorstellungen nicht nur eine logische Funktion besitzen, sondern darum, daß sie genau eine besitzen. 25 AA 26 AA

10.131.371. 10.132,4f.; ich bin nicht der Meinung von Hinske, Kants Weg, 36, daß Kant unter

„Transcendentalphilosophie“ nur das versteht, was er später ‚Transcendentale Logik‘ nannte. Vgl. z.B. R 4276.

62

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

stellungen, Erscheinungen) denken.“ Wie Kant an der Stelle sagt, besteht dieses Denken darin, daß „durch die Vorstellungen die Sachen gesetzt werden“. Die

Vorstellungen auf Sachen zu beziehen bedeutet, daß die Vorstellungen eine reale Funktion besitzen. Solche Vorstellungen sind Vorstellungen, die eine „logische Stelle“ in einem Urteil einnehmen und daher eine logische Funktion besitzen, Vorstellungen können verschiedene logischen Funktionen besitzen, aber nur

die logische Funktion ist auch ihre reale Funktion, aufgrund deren eine Vorstellung an einer und nur einer logischen Stelle in einem Urteil vorkommen kann,

Indem wir unter den möglichen logischen Funktionen einer Vorstellung eine als ihre reale auszeichnen, setzen wir zu ihr eine Sache, die in einem Urteil nur auf

eine ganz bestimmte Weise zum Ausdruck kommen kann. Auf solche Weise wird ein Gegenstand gedacht. . Die Kategorien werden im Rahmen dieses Konzepts als Bedingungen eines solchen Denkens verstanden. In ‚R 462% heißt es: „Die Vorstellung, wodurch

wir einem obiect seine eigenthümliche logische Stelle anweisen, ist der reale Verstandesbegrif ... .“?7. Diese Stelle bestimmt die reale Funktion der Vorstellung, welche genau dann als Vorstellung eines Objekts angesehen wird, wenn ihr eine solche Funktion zugeordnet wird. Die Kategorien ergeben sich durch die logischen Stellen, an denen ‚Vorstellungen in einem Urteil vorkommen

können, sofern sie eine reale Funktion haben; die Kategorien sind mögliche Typen von Vorstellungen von Objekten. Daher spricht Kant von ihnen als Begriffen, „denen kein gegenstand gegeben ist, welche aber doch die Arten, Gegenstande überhaupt zu denken, ausdrücken sollen“2®. Diese, an der Tafel „logischer Functionen in allen möglichen Urtheilen“ sich wie an einem „Leitfaden“ orientierende Bestimmung des Begriffs der Kategorie faßt Kant in der Bemerkung’ zusammen, daß „die bestimte logische Function einer Vorstellung überhaupt der reine Verstandesbegriff ist“2°, In der schon öfters herangezoge-

nen, nach November 1773 geschriebenen ‚Reflexion‘ R 4672 werden die Kategorien als „Titel des Denkens“ bezeichnet, „worunter Erscheinungen an sich:

selbst gebracht werden: z.E. ob sie als Größe oder als subiect oder als Grund oder als Ganzes oder blos als realitaet angesehen werden ...“?°. Wir denken

gegebene Vorstellungen oder Erscheinungen, indem diese Vorstellungen in

Urteilen vorkommen; und wir denken einen Gegenstand „zu den Vorstellungen, Erscheinungen“!, indem diese Vorstellungen eine reale Funktion erhalten, also unter „Titel des Denkens“ gebracht werden.

Gegeben diese Erläuterung des Begriffs der Kategorien, so sicht man, wie die von Kant im Herz-Brief genannte „transcendentalphilosophie, nemlich alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu

bringen“, einen Weg zur Beantwortung der zentralen Frage dieses Briefes

27

AA

17.614.12/4.

28 R 4638 (AA 17.620.18f.). 29 A.a.O.,Z. 25f. 30

AA

17.635.16/9.

31 R 4276 (AA 17.492.25). 32 AA 10.132.3/5.

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

63

eröffnet. Kategorien sind als „Titel des Denkens“ notwendige Bedingungen des "Denkens von Objekten. Sofern sie also auf Objekte bezogen sind, ist diese Beziehung kein Verhältnis kausaler Abhängigkeit. Die Restriktion des Anwendungsbereichs der Kategorien auf Erscheinungen ergibt sich dadurch, daß die Kategorien

als „bestimmte

logische Function“

einer gegebenen

Vorstellung,

sofern sie in einem Urteil vorkommt, gedacht werden. Nur gegebene Vorstellungen, Erscheinungen können eine reale Funktion besitzen, und nur sie kön-

nen auf eine Sache, ein Objekt bezogen sein. Die Auszeichnung der realen Funktion von Vorstellungen innerhalb ihrer möglichen logischen Funktionen ist auf dem Hintergrund der in der ‚Dissertatio‘ getroffenen Unterscheidung von realem und logischem Gebrauch des Verstandes zu schen./Der. reale Verstandesgebrauch besteht nun darin, daß gegebe-

nen Vorstellungen reale Funktionen zugeordnet werden, so daß sie eineund nur eine bestimmte logische Funktion besitzen. Die Begriffe.des Verstandes, die „conceptus rerum et relationum primitivi“ der ‚Dissertatio“°, sind als Kategorien nicht für sich genommen Vorstellungen von Objekten, sondern fungieren als „Titel des Denkens“, unter die gegebene Vorstellungen „an sich selbst gebracht werden“*, Die Begriffe des Verstandes, als Kategorien interpretiert, sind die Formen von Vorstellungen von Objekten, die.erst durch gegebene Vorstellungen einen Inhalt bekommen.

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung Die Auffassung, daß die Verstandesbegriffe Kategorien sind, ist eine konse-

quente Durchführung der Einsicht, daß diese Begriffe auf Erscheinungen angewandt werden müssen.

Dadurch gelangt Kant zu einer neuen Konzeption

empirischer Erkenntnis. In der ‚Dissertatio‘ war Erfahrung als das Produkt der logischen Reflexion gegebener Vorstellungen verstanden worden!. Sofern empirische Erkenntnis sich auf Objekte beziehen soll, genügt es nicht, gegebenen Vorstellungen logische Funktionen dadurch zu geben, daß man sie zu Urteilen verbindet; sie müssen vielmehr auch eine reale Funktion besitzen. In ‚R 4473 heißt es: „Erfahrungserkenntnisse sind nicht bloße Eindrücke. Wir müssen selbst etwas bey den Eindrüken denken, damit solche entstehen.“ Dieses

33 $23 (AA 2.411.6/7). 34 R 4672 (AA 17.635.17). 1 Vgl. $ 5: „In sensualibus autem

et phaenomenis

id, quod

antecedit usum intellectus

logicum, dieitur apparentia, quae autem apparentiis pluribus per intellectum comparatis oritur cognitio reflexa, vocatur experientia.“ (AA 2.394.2/5). Riehl schreibt dazu zutreffend: „So geht der Weg von der Erscheinung zur Erfahrung durch die Reflexion, gemäss dem logischen Gebrauch des Verstandes. In diesem wesentlichen Punkte vertritt die ‚Kritik‘ eine andere, ja die entgegengesetzte Auffassung.“ (Kritizismus, 358) Diese „andere“ Auffassung vertritt Kant bereits um 1772.

2 AA

17.565.2/3.

64

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

,

Denken geschieht dadurch, daß „Erscheinungen unter gewisse Titel des Den-

kens an sich selbst gebracht werden“. Erfahrung ist demnach eine Erkenntnis, die auf gegebenen Vorstellungen gründet und durch Anwendung der Kategorien zu Vorstellungen einer Sache gemacht wird. Die im Jahre 1769 gewonnene Einsicht in den subjektiven Charakter der metaphysischen Begriffe läßt sich nun mit der Deutung der Begriffe des Ver-

standes als Kategorien so verbinden, daß die Möglichkeit empirischer Erkenntnis von „subjektiven Bedingungen abhängig gemacht wird: „Daraus entspringen alle Erkenntnisse, wie wir nemlich data fassen und uns selbst etwas, was Erkentnis heißt, formiren können.“* Die Art und Weise, wie wir gegebene Vorstellungen als empirische Erkenntnisse „formiren“, bestimmt sich durch die

Kategorien und ihre Anwendung auf solche Vorstellungen. Kant schreibt: „In der Natur können uns keine data vorkommen, als daß, wenn man Gesetze darin warnimt, sie den allgemeinen arten correspondiren, wornach wir etwas setzen,

weil sonsten keine gesetze würden bemerkt werden oder überhaupt kein Obiect, sondern nur verworrene innere Veranderungen. Da wir also obiecte nur durch unsre Veränderungen Vorstellen können, so fern sie etwas unsern Regeln zu setzen und aufzuheben gemäßes an sich haben, so sind die realfunctionen der Grund der Moglichkeit der Vorstellung der Sachen .. .“5. Demnach genügt es für die Möglichkeit empirischer Erkenntnis nicht, daß wir gegebene Vorstellungen („data“) haben; diese müssen vielmehr unter bestimmten Regeln stehen, damit sie als Vorstellungen von Objekten und somit als Erkenntnisse fungieren können. Daß gegebene Vorstellungen unter Regeln stehen, ist für Kant eine

notwendige Bedingung dafür, daß wir sie als Erkenntnisse und nicht als „verworrene innere Veranderungen“ ansehen können. Diese Bedingung gehört zu den Bedingungen, unter denen Erkenntnis aufgrund gegebener Vorstellungen deswegen steht, weil wir sonst nicht in der.Lage wären, unseren Begriff von Erkenntnis auf solche Vorstellungen anzuwenden. Es ist also der uns mögliche Begriff von Erkenntnis, durch den solche Bedingungen festgelegt sind. Kants Betrachtung folgt einer Maxime kritischer Philosophie, die er so formuliert: „In den Wissenschaften der reinen Vernunft ist die philosophie jetziger Zeit mehr critisch als dogmatisch, eine Untersuchung des subiects und dadurch der mog-

lichkeit, sich ein obiect zu denken.“ Dieser subjektiven Wende in der Analyse des Begriffs der Erkenntnis entspricht eine wesentliche epistemologische Charakterisierung des Gegenstands der Erkenntnis: „Wir kennen einen jeden Ge-

genstand nur durch prädikate, die wir von ihm sagen oder gedenken. Vorher ist das, was von Vorstellungen in uns angetroffen wird, nur zu Materialien, aber nicht zum Erkenntnis zu zählen. Daher ist ein Gegenstand nur ein Etwas überhaupt, was wir durch gewisse praedikate, die seinen Begriff ausmachen,

3 R 4672 (AA 17.635.16/7). 4 R 4631 (AA 17.615.12/4).

5 A.a.O., Z. 14/21; zum Zusammenhang von Vorstellungen, die unter Gesetzen stehen, und ihrer Beziehung auf Objekte vgl. auch R 4642. 6 R 4465 (AA 17.562).

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

65

uns gedenken.“ Der Gegenstand der Erkenntnis muß daher als Referenz von zu Urteilen verknüpften Prädikaten verstanden werden, und von einer Analyse solcher Urteile geht Kant daher aus, um eine erste Antwort auf die Frage des Herz-Briefes zu finden. Bereits in der ‚Dissertatio‘ hatte er am Beispiel von Raum und Zeit eine Analyse entwickelt, die diese als subjektive Prinzipien, die in den Gesetzen

unseres Vorstellungsvermögens ihren Ursprung haben, versteht®. Raum und Zeit gelten deswegen für alle Erscheinungen, weil sie subjektive Bedingungen unserer Sinnlichkeit sind, und Erscheinungen nichts anderes sind als dasjenige, worauf

sich eine

„cognitio

sensitiva“

beziehen

kann?.

Der

Nachweis,

daß

Erscheinungen nur unter den Bedingungen von Zeit oder Raum gegeben sein können, hängt von dieser Restriktion ab. In Analogie zu dieser Überlegung bemüht sich Kant um den Nachweis, daß auch die Begriffe des Verstandes subjektive Prinzipien sind, die Bedingungen für alles, was ‚Gegenstand einer Erkenntnis‘ genannt werden kann, angeben. In ‚R 4629“ heißt es: „Die logische Form ist eben das vor die Verstandes Vorstellungen von einem Dinge, was raum und Zeit vor die Erscheinungen derselben sind: nemlich iene enthalten die stellen, sie zu ordnen. Die Vorstellung, wodurch wir einem obiect seine eigen-

thümliche logische Stelle anweisen, ist der reale Verstandesbegrif und rein .. .“!?. Es wird sich zeigen, daß die angenommene Entsprechung zwischen den formalen Bedingungen sinnlicher Vorstellungen und den ‚Verstandesbegriffen später von Kant entschieden bestritten wird, für seinen ersten Versuch, die Frage des Herz-Briefes zu beantworten, aber unverzichtbar ist. In einer ‚Reflexion‘, die Adickes um 1772 datiert, kommt er auf diese Frage

zu sprechen: „Die erste Frage ist: wie in uns Begriffe entstehen können, die uns durch keine Erscheinung der Dinge selbst bekannt geworden, oder Sätze, die uns keine Erfahrung gelehrt hat.“'! Aber nicht die Möglichkeit von Begriffen a priori überhaupt, sondern die Möglichkeit, daß solche Begriffe sich auf Gegenstände beziehen, zu erklären, ist das Thema, das durch die Frage des HerzBriefes aufgeworfen worden war. Kant rekapituliert diese Frage daher präziser: „Es ist die Frage, wie wir Dinge vollig a priori, d.i. unabhängig von aller Erfahrung (auch implicite)-uns vorstellen können und wie wir Grundsatze, die aus keiner Erfahrung entlehnt sind, folglich a priori, fassen können; wie es zugehe, daß demjenigen, was blos ein Produkt unseres sich isolirenden Ge-

müths ist, Gegenstände correspondiren und diese Gegenstände denen Gesetzen unterworfen sind, die wir ihnen Vorschreiben.“!2Es geht also darum zu erklären, wie sich Begriffe und Grundsätze a priori auf Gegenstände beziehen, die

durch Erfahrung gegeben sind. Ähnlich wie im Brief von 1772 ist es die 7 8 9 10 11 12

R 4634 (AA 17.616.20/4). Vgl.$$ 4, 13, (AA 2.393; 398). Vgl.$3 (AA 2.392). AA 17.614.10/4; vgl. R 4974 (AA 18.46). R 4479 (AA 17.563). R 4473 (AA 17.564.7/12).

66

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

Apriorität, die der Erklärung einer solchen Beziehung besondere Schwierigkeiten zu bereiten scheint. „Daß eine Vorstellung, welche selbst eine Wirkung des

obiects ist, ihm correspondiere, ist wohl zu begreifen. Daß aber etwas, was blos eine Geburth meines gehirns ist, sich auf ein obiect als Vorstellung beziche, ist

nicht so klar.“!? Im Unterschied zu jenem Brief stellt Kant nun die Frage in den Vordergrund, wie eine Verknüpfung a priori von Begriffen, also synthetische Urteile a priori zu rechtfertigen sind: „Daß wir aber aus uns selbst mit den

vorgestellten Gegenständen Eigenschaften und praedicate (gültig) verknüpfen können, obgleich keine Erfahrung uns solche verknüpft gewiesen, hat, ist schweer einzusehen.“ !*

Die Lösung, die Kant vorschwebt, um diese Schwierigkeit zu meistern, wird programmatisch so vorgestellt: „Es muß in der Natur der Erkenntnisse über-

haupt gesucht werden, wie eine Beziehung und verknüpfung Moglich sey ... .“’, Die Beschreibung dessen, was dort zu finden ist, bleibt aber vage und unbestimmt: „Erfahrungserkenntnisse sind nicht bloß Eindrücke. Wir müssen selbst etwas bey den Eindrüken denken, damit solche entstehen. Also müssen doch handlungen der Erkenntnis seyn, die vor der Erfahrung vorausgehen und wodurch dieselbe moglich ist.“!° Daß empirische Erkenntnisse eine Verbindung gegebener Vorstellungen und der Tätigkeit des Denkens

sind, ist ein

Konzept, das es erlaubt, Bedingungen solcher Erkenntnisse anzugeben, das aber die Apriorität dieser Bedingungen nicht zu begründen vermag. Die Möglichkeit von Begriffen und Grundsätzen a priori ergibt sich nicht allein daraus,

daß es Bedingungen der Erfahrung gibt. Denn diese Bedingungen können selber empirischer Natur sein oder nur im Rahmen der Erfahrung erfüllt sein. Insbesondere aber trägt dieses Konzept nicht dem Umstand Rechnung, daß der Begriff der empirischen Erkenntnis sich seit der ‚Dissertatio‘ geändert hat. Erfahrung ist nicht nur eine logische Analyse gegebener Vorstellungen, sondern erfordert, daß diese Vorstellungen reale Funktionen besitzen und somit unter

Kategorien subsumiert werden. Daß und wie sich diese Begriffe auf Gegenstände der Erfahrung beziehen, bleibt nach dem Gesagten ganz offen. Hier führen andere Überlegungen aus der Zeit weiter. In ‚R 4633° kommt Kant wiederum auf die Möglichkeit von Erkenntnissen a priori zu sprechen: „Wie können in uns Erkenntnisse erzeugt werden, wovon

sich uns die Gegenstande noch nicht dargestellet haben. Da sich die obiecte nicht nach unseren Erkenntnissen, sondern diese nach den obiecten richten müssen, so scheint es, sie müsten uns wenigstens ihren Grundstücken (nach)

vorher Gegeben seyn, ehe sie können gedacht werden.“!7 Die Erkenntnisse, deren Möglichkeit es zu erklären gilt, sind demnach als theoretische Erkennt-

nisse von den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, abhängig, und als 13 14 15 16 17

A.a.O., Z. 15/8. A.a.O., Z. 2175. A.a.O., Z. 27/8. A.a.O., 565.2/5. AA 17.615.28ff.

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

67

Erkenntnisse a priori sind sie Erkenntnisse, deren Gegenstände „noch nicht“

gegeben sind, „ohne von den Gegenständen selbst geschopft zu seyn.“!® Es sollen Erkenntnisse gegebener Gegenstände scin, ohne daß diese selber gegeben sind. Die Aufgabe, eine Erklärung für die Möglichkeit solcher Erkenntnisse zu geben, stellt sich Kant im Rahmen der Voraussetzungen, unter denen er in dem

Brief an Herz aus dem Jahre 1772 die Frage nach der Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände aufgeworfen hatte. Er betont daher die Bedeutung dieser Frage: „Es ist also die Moglichkeit einer jeden Erkenntnis a priori, welche vor sich beständig ist, ohne von den Gegenständen selbst geschopft zu seyn, welche unsere erste und wichtigste Frage ausmacht. Eine Frage, welche auch nur aufgeworfen und wohl verstanden zu haben schon einiges Verdienst an sich hat, namlich in einem Theile der philosophie, welcher der Erfahrung und den Sinnen nichts zu danken hat.“!? Kant hat später von der „Hauptfrage . . .: was

und wie viel kann der Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen?“ gesprochen, deren Antwort durch die sogenannte „objective Deduction“ gegeben werden sollte??. Diese Frage wird hier als zentrale Frage der theoreti-

schen Philosophie präsentiert, und die Antwort, die er nach 1772 und vor 1775 anbietet, ist eine erste Fassung einer solchen Deduktion der Kategorien.

Um eine Erklärung der Möglichkeit von Erkenntnissen a priori zu geben, geht Kant von dem Begriff des Gegenstandes der Erkenntnis aus. Er muß als Korrelat der Verbindung von Begriffen in Urteilen verstanden werden. Im

Anschluß an die schon besprochene Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen, kommt er auf das Problem einer Erklärung von synthetischen Urteilen a priori zu sprechen: „Es giebt aber doch Urtheile, deren

Gültigkeit a priori festzustehen scheint, die Gleichwohl synthetisch seyn, z.E. Alles Veränderliche hat eine Ursache; woher kommt man zu diesen Urteilen? woher nehmen wir es, einem Begriffe einen andern von eben demselben Gegen-

stande hinzuzugesellen, den keine Beobachtung und Erfahrung darin zeigt.“?' Die Betrachtung der „Erkenntnisquellen a priori“2? konzentriert sich also auf

die Frage nach der Rechtfertigung synthetischer Urteile a priori; und auch die Antwort, die Kant auf diese Frage gibt, ist dem Leser der kritischen Schriften

vertraut. In ihr spielt das Konzept ‚Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung‘ eine Schlüsselrolle.

- Kant betrachtet die Annahme, daß „gewisse Begriffe in uns nichts anders ent-

halten, als das, wodurch alle Erfahrungen von unsrer Seite möglich sind . . .“*°.

Um solche Begriffe angeben zu können, muß man von dem ausgehen, was Er-

fahrung ist. Verstehen wir sie als eine Erkenntnisleistung, die an die Ausübung

bestimmter Fähigkeiten gebunden ist, dann liegt es nahe, solche Fähigkeiten

18 19 20 21 22 23

A.a.O., A.a.O., AXVII. R 4634 R 4633 R 4634

616.3. 616.178. (AA 17.617.12/7). (AA 17.616.15/6). (AA 17.618.1/2).

68

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

als dasjenige anzuschen, was „alle Erfahrungen von unsrer Seite“ ermöglicht. Welche Fähigkeiten dies sind, ergibt sich aus der Analyse des Begriffs der

Erfahrung. Kant schreibt: „In jeder Erfahrung ist etwas, wodurch uns ein Gegenstand gegeben, und etwas, wodurch er Gedacht wird. Nehmen wir die Bedingungen, die in den Thatigkeiten des gemüths liegen, wödurch er allein gegeben werden kann, so kann man

etwas von den objecten a priori er-

kennen. Nehmen wir das, wodurch er allein gedacht werden kann, so kann man auch von allen möglichen Gegenständen etwas a priori erkennen. “?* Erfahrung ist also eine Erkenntnis, die komplex charakterisiert werden muß: sie

ist das Denken eines Gegenstandes, der gegeben ist. Als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind daher zwei verschiedene Arten von Bedingungen in Betracht zu ziehen: die Bedingungen, die sich auf die Umstände bezie-

hen, unter denen ein Gegenstand gegeben wird, und solche, die sich darauf beziehen, daß der Gegenstand gedacht wird. Jede dieser Bedingungen ist eine „Tätigkeit des Gemüths“ oder läßt sich mit einer solchen Tätigkeit verbinden;

und jede dieser Tätigkeiten ist jeweils eine notwendige Bedingung für Erfahrungen, zusammen sind sie auch eine hinreichende Bedingung dafür. Kant betont, daß diese Bedingungen auch die einzigen Bedingungen für Erfahrung sind. Die Bedingungen insgesamt sind daher Bedingungen, von denen gilt, daß allein sie hinreichend für Erfahrung sind. Wenn demnach ein Begriff eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung angibt, dann muß von ihm folgendes

gelten: er muß erstens eine Tätigkeit des Gemüts bestimmen; von dieser Tätigkeit muß zweitens gelten, daß sie eine notwendige Bedingung von Erfahrung ist; und schließlich müssen sich diese Bedingungen zu einer Menge von Bedingungen zusammenschließen, die insgesamt die einzig hinreichenden Bedingungen für die Möglichkeit von Erfahrung sind.

Von Begriffen, die in diesem Sinne eine Bedingung der Möglichkeit der

Erfahrung „enthalten“, behauptet Kant, daß sie „vor der Erfahrung und doch mit volliger Gültigkeit vor alles, was uns jemals vorkommen mag, a priori gesagt werden“ können. Daß solche Begriffe „vor der Erfahrung“ und somit a priori

gelten, ergibt sich dadurch, daß sie als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht daraus entspringen können, was erst durch ihre Erfüllung ermög-

licht wird. Es sind Begriffe, die „nothwendig vor aller Erfahrung vorhergehen müssen und durch welche diese nur moglich ist ...“26. Die Apriorität der Begriffe, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung enthalten, ergibt sich also dadurch, daß sie Voraussetzungen dieser sind und daher nicht durch sie zustandekommen können. Wie steht es aber damit, daß diese Begriffe „vor

alles, was uns jemals vorkommen mag“ gelten? Was kann uns denn „vorkom-

men“? Kant unterscheidet zwischen den „Dingen überhaupt“ und demjenigen, „was

24 A.a.O., 618.17/23. 25 A.a.0., Z. 3/4, 26 A.a.O., Z. 13/5.

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

69

uns jemals durch erfahrung kann gegeben werden“?”. Dies ist keine ontologische Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Entitäten, sondern eine Einteilung von Dingen unter dem epistemologischen Gesichtspunkt ihrer möglichen Erfahrung. Auch das, was ein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ist ein Ding, aber ein solches, für das es wesentlich ist, daß wir von ihm durch Erfahrung Kenntnis haben können. Solche Dinge können nicht unabhängig

von der Möglichkeit ihrer Erfahrung gedacht werden. Dinge, die diese Bedingung erfüllen, sind Dinge, die „vor uns“ etwas sind und somit wesentlich darauf

bezogen sind, daß sie in einer möglichen Erfahrung gegeben sind, während dies für „Dinge überhaupt“ gerade nicht gilt. Kant schränkt die Geltung der Begriffe, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung enthalten, ausdrücklich auf die Dinge „vor uns“ ein: „Sie gelten alsdenn zwar nicht von den Dingen überhaupt, aber doch von allem, was uns

jemals durch erfahrung kann gegeben werden, weil sie die Bedingungen enthalten, wodurch diese Erfahrungen möglich sind. Solche Satze werden also die Bedingung der Moglichkeit nicht der Dinge, sondern der Erfahrung enthal-

ten.“2? Die Geltung jener Begriffe beruht auf dieser Einschränkung. Da die Dinge „vor uns“ nicht unabhängig von der Möglichkeit ihrer Erfahrung gedacht werden, müssen sie die Bedingungen erfüllen, unter denen Erfahrung steht.

Kants epistemologisches Konzept „Gegenstand möglicher Erfahrung“ sichert die notwendige und apriorische Geltung von Begriffen, die solche Bedingungen

angeben, dadurch, daß die Gegenstände, für die diese Begriffe gelten sollen, nicht unabhängig davon gedacht werden können, daß sie diese Bedingungen . erfüllen. Die Begriffe beziehen sich daher notwendig auf solche Gegenstände, vorausgesetzt, es gibt Erfahrung und somit Gegenstände der Erfahrung. Kants Überlegungen zu Begriffen, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung angeben, müssen auf dem Hintergrund der Frage gesehen werden, wie synthetische Urteile a priori zu rechtfertigen sind. Diese Frage steht im Zusammenhang der allgemeinen Frage nach der „Moglichkeit einer jeden Erkenntnis a priori, welche vor sich beständig ist, ohne von den Gegenständen selbst geschopft zu seyn, welche unsere erste und wichtigste Frage ausmacht.“?? Gesucht wird eine Erklärung dafür, daß solche Erkenntnisse sowohl unabhän-

gig von Erfahrung sind als auch für alles gelten, was durch Erfahrung gegeben werden kann; und die Erklärung, die Kant vorschlägt, besteht darin, daß diese

Erkenntnisse Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, und daß die Gegenstände, für die sie a priori gelten, Dinge sind, die „vor uns“ etwas sind,

d.h. nicht unabhängig von der Möglichkeit, in einer Erfahrung gegeben zu werden, gedacht werden können. Diese Erklärung beruht auf einer funktiona-

len Charakterisierung apriorischer Erkenntnisse und einer epistemologischen Deutung des Begriffs des Gegenstands. 27 A.a.O., Z. 5/6. 28

A.a.O.,Z. 10.

29 A.a.O., Z. 4/9, vgl. Guyer, Kant, 29. 30

R 4633 (AA

17.616.1/4).

70

II. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

Wie Kants Formulierung und Bewertung der Frage, auf die die Erklärung eine Antwort gibt, schon deutlich machen, soll damit eine Antwort auf die

bekannte Frage gefunden sein, die er in dem Brief an Herz vom Februar 1772 aufgeworfen hatte. Diese Frage betraf nicht „jede Erkenntnisse a priori“, son-

dern die „reinen Verstandesbegriffe“, und es ist jetzt darzustellen, wie die

gegebene Erklärung Licht in die „Dunckelheit in Ansehung unseres Verstandesvermögens“ bringt. Das Besondere dieser Erklärung läßt sich an zwei Punkten festmachen: die Verstandesbegriffe, als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung bestimmt, beziehen sich in derselben Weise auf Gegenstände möglicher

Erfahrung wie Raum

und Zeit; und ihre Geltung a priori steht unter der

Voraussetzung, daß es überhaupt Erfahrung und Gegenstände der Erfahrung

gibt. Was den ersten Punkt angeht, so unterscheidet sich die Auffassung der Verstandesbegriffe als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in bemer-

kenswerter Weise von der in der ‚Dissertatio‘ vertretenen Position. Dort waren

sie als „conceptus... elegibus menti insitis.. . . abstracti“ bezeichnet worden?!,

die sich auf Dinge beziehen, die unabhängig von ihrer Gegebenheit in einer

möglichen Erfahrung gedacht werden. Diese Auffassung kann Kant jetzt deswegen nicht mehr vertreten, weil sie. keinen Zusammenhang zwischen den Verstandesbegriffen und der Möglichkeit der Erfahrung sichtbar macht, und weil sie die grundsätzliche Differenz zwischen den formalen Prinzipien sinnlicher Anschauung und den Verstandesbegriffen hervorhebt. Demgegenüber werden diese Begriffe, als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gedeu-

tet, nun in direkter Analogie zu Raum

und Zeit beschrieben:

„Die logische

Form ist eben das vor die Verstandes Vorstellungen von einem Dinge, was

raum und Zeit vor die Erscheinungen derselben sind: nemlich iene enthalten die stellen, sie zu ordnen. Die Vorstellung, wodurch wir mit einem object seine

eigenthümliche logische Stelle anweisen, ist der reale Verstandesbegrif und rein: z.E. Etwas, was ich jederzeit nur als subject brauchen kann; Etwas, wovon ich

hypothetisch auf ein consequens schließen muß etc.“32 Das Gemeinsame von logischer Form einerseits und Raum und Zeit anderer-

seits besteht darin, daß sie „Stellen enthalten, sie zu ordnen.“ In ‚R 4634‘ wird

die Form der Erscheinungen bestimmt als ein ‚in unserm Subject liegender

Grund,

wodurch

wir entweder die Eindrücke

selbst oder das, was ihnen

correspondirt, ordnen und iedem theile derselben seine stelle geben“. Raum und Zeit sind subjektive Bedingungen der Anschauung, aufgrund deren jeder Eindruck so geordnet wird, daß ihm eine bestimmte Stelle zukommt. Die ‚Zuweisung einer solchen Stelle setzt ein System voraus, in dem Stellen nach Regeln bestimmt werden können’. Wir können so Raum und Zeit als ein

31 $8 (AA 2.395). 32

R 4629 (AA

17.614.10/6).

33 R 4634 (AA 17.619.1/4).

34 Vgl. Schulthess, Relation, 234ff., der auf Baumgarten, Metaphysica, $ 85, hinweist: „Respectus entis ex coniunctione eius cum alliis determinatus est Positus. Ubi ergo positus, ibi

leges.“

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

71

solches System verstehen, in dem die Lokalisierung und Datierung von Erscheinungen das Angeben einer solchen Stelle ist. Wie läßt sich dies nun auf die logische Form übertragen? Die logische Form ist die Form, in der ein Gegenstand gedacht wird, und sie soll sich zu den „Verstandes Vorstellungen von einem Dinge“ verhalten wie die Formen Raum und Zeit zu den lokalisierten und datierten Erscheinungen. Das Verhältnis besteht darin, daß diese eine bestimmte Stelle in einem System einnehmen. Auch jene Vorstellungen, also das Denken dieses oder jenes Gegenstandes, haben ihre „eigenthümliche logische Stelle“, die ihnen durch die „logische Form“ zugewiesen wird. Diese logische Stelle ist die Stellung, die die

Vorstellung eines Gegenstandes in einem Urteil einnimmt; und Vorstellungen, die eine solche Stellung haben, sind für Kant Begriffe. In ‚R 1690 heißt .

es: „Ordnung durch Stellen unter den Begriffen. (1. Subject und praedikat; 2. Grund und Folge; 3. Ganzes und Eintheilung. Das sind Bestimmungen der Begriffe)“. Durch die Angabe der logischen Stelle einer Vorstellung ordnen wir diese in einem System, das in den „Bestimmungen der Begriffe“, d.h. in den

verschiedenen Stellungen von Vorstellungen in Urteilen der angegebenen Art besteht. Die logische Form ist nichts anderes als das System solcher Stellungen in diesen Urteilen. Daß das Denken eines Dinges eine „eigenthümliche logische Stellung“ erhält, besagt demnach, daß dieses Denken die Form eines Begriffes annimmt und

somit eine bestimmte Stellung in einem Urteil hat. Da jedes Denken eines

Dinges ein Denken gemäß der logischen Form ist, realisiert sich dieses Denken

in Begriffen, d.h. darin, daß man Vorstellungen hat, die in bestimmter Weise in einem Urteil vorkommen. Die logische Form des Denkens ist ein System solcher Vorkommensweisen. Welche Rolle spielen in diesen Überlegungen nun die reinen Verstandesbegriffe? Sie werden von Kant als dasjenige eingeführt, „wodurch wir einem Obiect seine eigentümliche logische Stelle anweisen.“ Dies bedeutet, daß die reinen Verstandesbegriffe Zuordnungen von Vorstellungen von Dingen zu logischen Stellen sind. Sie drücken „actus der Gemüthskräfte“

aus (R 4642), i. e. die „logischen Handlungen .. ., wodurch wir die data zu Vor-

stellungen der Dinge respective gegen einander setzen und ordnen“ (R 4631). Dieses Setzen und Ordnen geschieht, indem wir den „data“ bestimmte logische

Stellen zuweisen, indem wir also die Vorstellungen als Begriffe und somit als Bestandteile von Urteilen ansehen. Die Verstandesbegriffe sind demnach Begriffe, durch die die Zuordnung von Vorstellungen zü Stellen in einem Urteil

festgelegt ist. So ist der Begriff der Substanz der Begriff von etwas, „was ich jederzeit nur als subjekt brauchen kann“, der Begriff der Ursache der Begriff von etwas, „wovon ich hypothetisch auf ein consequens schließen muß“. Solche Begriffe geben den Vorstellungen eine logische Stelle in einem Urteil; ihre Anwendung auf Vorstellungen bestimmt eine besondere Weise ihres Vorkommens in einem Urteil. Es ist nun leicht einzusehen, daß die reinen Verstandesbegriffe Begriffe sind, 35 R 4629 (AA 17.614.14/6).

72°

IL. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

die nach der oben gegebenen Erläuterung Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bestimmen. Sie beziehen sich auf „Tätigkeiten des Gemüts“, denn sie charakterisieren verschiedene Arten der Zuweisung von Vorstellungen auf „logische Stellen“ in einem Urteil. Solche Zuweisungen sind aber notwendige Bedingungen von Erfahrung, weil jede Erfahrung eine Erkenntnis darstellt, und weil alle Erkenntnis in Urteilen besteht’. Da aber Vorstellungen in Urteilen nur als Begriffe vorkommen können, und jeder Begriff eine bestimmte „logische Stelle“ besitzt, ist eine solche Zuweisung eine notwendige Bedingung jeder

Erfahrung, die als Erkenntnis angesehen werden können soll. Begriffe, die derartige Zuweisungen angeben, „drücken die Arten, Gegenstände überhaupt

zu denken, aus“ und „enthalten dasjenige in sich, was in den Urtheilen relativ von

zwey Begriffen auf einander gedacht wird“. Daß schließlich die Verstandesbegriffe zu einer Menge von Begriffen gehören, die insgesamt hinreichende Bedingungen für die Möglichkeit von Erfahrung sind, ist dann gesichert, wenn Kants „Zergliederung von Erfahrung überhaupt“ richtig ist”, gemäß der die Möglich-

keit der Erfahrung dann erklärt ist, wenn die Bedingungen bezüglich dessen,

„wodurch uns ein Gegenstand gegeben“, und die Bedingungen von dem, „wodurch er gedacht wird“, erfaßt worden sind. Ich komme nun auf den zweiten Punkt zu sprechen, der für die nach 1772 gegebene erste Antwort auf die Frage des Herz-Briefes charakteristisch ist. Er hängt mit dem zusammen, was als epistemologische Bestimmung des Begriffs des Gegenstands der Erkenntnis bezeichnet wurde, Wie die Begriffe, die Bedin-

gungen der Möglichkeit der Erfahrung angeben, funktional auf eine bestimmte Form der Erkenntnis bezogen werden, so werden die Dinge, die „vor uns“

etwas sind, wesentlich mit der Möglichkeit verbunden, daß sie in der Erfahrung

gegeben sind. Daß solche Dinge notwendigerweise unter jenen Begriffen stehen, ergibt sich eben daraus, daß sie nicht unabhängig von dieser Möglichkeit zu denken sind; und weil dies so ist, besitzt das Verstandesvermögen jene „Ein-

stimmung mit den Dingen selbst“, die im Herz-Brief als erklärungsbedürftig angesehen wurde. Die Begriffe des Verstandes sind notwendigerweise auf Gegenstände bezogen, weil sie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, und weil diese Gegenstände nicht unabhängig davon zu denken sind, daß sie diese Bedingungen erfüllen. Diese Beantwortung der Frage des Herz-Briefes begründet eine Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände allerdings nur unter der Voraussetzung, daß es Gegenstände der Erfahrung und somit Erfahrung gibt. Die These, daß diese Begriffe genau dann auf Gegenstände bezogen sind, wenn sie Bedingungen der Erfahrung angeben, und wenn die Gegenstände nicht unabhängig

davon gedacht werden können, daß sie diese Bedingungen erfüllen, beweist, für

sich genommen, nicht, daß jene Begriffe auf Gegenstände bezogen sind. Kant hat diese These später durch die griffige Formel ‚Die Bedingungen der Möglich-

36 Vgl. R 4638 (AA 17.620.15).

37 A.a.O., Z. 19/21. 38 R 4634 (AA 17.618.16f£.).

$ 2: Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

73

keit der Erfahrung sind Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung‘ zum Ausdruck gebracht. Diese Formel zeigt deutlich, daß sie eine Erklärung der Beziehung der Begriffe des Verstandes auf Gegenstände nur dann gibt, wenn zusätzlich behauptet wird, daß die Bedingungen erfüllt sind, daß also die genannte Voraussetzung besteht. Nur wenn diese Voraussetzung gemacht wird, ist die erste von Kant gegebene Antwort auf die Frage des Herz-Briefes eine Erklärung, wie er sie 1772 suchte.

III. Kategorien und Apperzeption um 1775 Am 24. November 1776 schreibt Kant an Marcus Herz: „Ich empfange von allen Seiten vorwürfe, wegen der Unthatigkeit, darinn ich seit langer Zeit zu seyn

scheine und bin doch wirklich niemals systematischer und anhaltender beschäftigt gewesen, als seit denen Jahren, da Sie mich nicht gesehen haben. Die Materien, durch deren Ausfertigung ich wohl hoffen könte einen vorübergehenden Beyfall zu erlangen, häufen sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbaren Principien habhaft geworden, Aber sie werden ins gesammt durch einen Hauptgegenstand, wie durch einen

Damm, zurückgehalten, an welchem ich hoffe ein dauerhaftes Verdienst zu

erwerben, in dessen Besitz ich auch wirklich schon zu seyn glaube und wozu nunmehro nicht so wohl nöthigiist, esauszudenken, sondern nur auszufertigen. Nach Verrichtung dieser Arbeit, welche ich allererst ietzt antrete, nachdem ich die letzte Hindernisse nur den Vergangenen Sommer überstiegen habe, mache ich mir ein freyes Feld, dessen Bearbeitung vor mich nur Belustigung seyn wird.“! Aus dem Jahre 1775 haben sich Zeugnisse erhalten, die Kants Bemühungen, die „letzten Hindernisse“ aus dem Wege zu räumen, belegen, - die

Reflexionen aus dem sogenannten ‚Duisburg’schen Nachlaß“. Es handelt sich um sehr ausführliche Überlegungen, die nach Handschrift und Inhalt viele Gemeinsamkeiten zeigen, und für deren Datierung ‚R 4675‘ ausschlaggebend ist. Diese Reflexion ist auf einem an Kant adressierten Brief vom 20. Mai 1775 geschrieben. Wenn Adickes mit seiner Behauptung recht hat, daß es „Kants Gewohnheit war, an ihn gerichtete Briefe und Zettel, wenn er sie überhaupt zu Niederschriften benutzte, bald nach Empfang zu beschreiben“*, dann stammen

die Reflexionen aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘ in’etwa aus der Zeit, auf die

Kant in dem zitierten Brief an Herz verweist. Auch wenn sich seine Hoffnung nicht erfüllte, die „letzten Hindernisse“ ausgeräumt zu haben, so enthalten diese Reflexionen doch Überlegungen, die eine deutliche Abwendung von dem Projekt einer „objektiven“ Deduktion der Kategorien nach 1772 zeigen und zugleich eine Fülle von neuen und für die weitere Entwicklung der theoretischen Philosophie Kants maßgeblichen Gedanken enthalten. Die Reflexionen gehören zu den wichtigsten Quellen für eine Entwicklungsgeschichte der Deduktion der Kategorien in den siebziger Jahren. Nachdem Reicke die Texte zum ersten Male 1887 veröffentlicht hatte, wur-

1 AA 10.1988. 2 Zur Überlieferungsgeschichte dieser Reflexionen s. R. Reicke, Lose Blätter aus Kants Nachlaß, Altpreussische Monatsschrift 24, 1887, 312/4. 3 Vgl. Haering, Nachlaß 3. 4 AA 18.269. Anm.

$ 1: Die Exposition der Erscheinungen

75

den sie 1910 von Haering erneut ediert und ausführlich kommentiert. Sonst hat

sich nur noch De Vleeschauwer im ersten Band seines Buches ‚La Döduction Transcendentale dans !’CEuvre de Kant‘, erschienen 1934, mit diesen Aufzeich-

nungen beschäftigt. Im Unterschied zu Hacring soll hier keine vollständige Interpretation der ‚Losen Blätter‘ entwickelt werden; ich werde mich vielmehr auf die Begriffe und Theorien Kants konzentrieren, die für die Beantwortung der 1772 erstmals gestellten Fragen wichtig sind. Ich werde dabei zu Ergebnissen kommen, die erheblich von den Deutungen Haerings und des von ihm abhängigen de Vleeschauwer abweichen.

$ 1: Die Exposition der Erscheinungen

Das Projekt einer Exposition der Erscheinungen wird in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gelegentlich im Zusammenhang mit dem Programm der ‚Transzendentalen Analytik‘ erwähnt!. Unter einer Exposition versteht Kant eine be-

stimmte Art der Erklärung: „Die deutsche Sprache hat für die Ausdrücke der

Exposition, Explication, Declaration und Definition nichts mehr als das eine Wort

Erklärung...“ (A 730/B 758). Kant übersetzt „expositio“ als „Erörterung“, die

als „deutliche (wenn gleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört“, bestimmt wird (B 38). In den Logik-Reflexionen wird eine solche Erörterung von einer Definition dadurch abgegrenzt, daß jene einen

„gegebenen Begriff deutlich“ macht, während diese „einen deutlichen Begriff

complet und praecis“ macht?. Expositionen sind also Erklärungen, die einen

Begriff zwar deutlich machen, ohne daß dies vollständig und präzise sein muß.

Wichtig ist, daß es sich um gegebene Begriffe handelt: „Bey gegebenen Begriffen geschieht alles durch exposition . ..“”. Die Deutlichkeit, die ein Begriff durch seine Exposition erhält, kann auf zwei

Weisen gewonnen werden: „Deutlichkeit durch analytische Merkmale, also a

priori von dem, was im Begriffliegt. Deutlichkeit durch synthetische durch das, was über den Begriff hinzu kommt, also in der Anschauung als Merkmal

gegeben ist (der reinen oder empirischen). Nicht alle Deutlichkeit beruht auf

Zergliederung eines gegebenen Begrifs.“* Daher unterscheidet Kant auch zwischen analytischer und synthetischer Exposition: „Die exposition ist bey Vernunftbegriffen analytisch (von dem, was schon darin wirklich, implicite, gedacht wird, nicht blos gedacht werden kan), von empirischen Begriffen nur synthetisch .. .“. Unter Exposition versteht Kant demnach die Erklärung eines gegebenen Begriffs, die ihn deutlich macht; und dies geschieht bei Begriffen, die 1 Vgl. A 247/B 303; A 250; vgl. auch A 437/B 465. 2 R 2925; vgl. R 2931. 3 R 2947; vgl. R 2937. 4 R 2363. 5 R 2932.

76

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

a priori gegeben sind, durch Analysis, bei Begriffen, die empirisch gegeben sind, durch Synthesis. Es wird zu prüfen sein, ob diese „logischen“ Erläuterungen des Ausdrucks ‚Exposition‘ auch für Kants Projekt einer Exposition der Er-

scheinungen einschlägig sind.

.

Erscheinungen sind empirische Anschauungen, bzw. dasjenige, worauf sich

solche Vorstellungen beziehen; und die Exposition der Erscheinungen ist daher eine Exposition von dem, „was gegeben worden“. Diese Exposition beruht

nach Kant auf „dem Grunde aller relation und der Verkettung der Vorstellun-

gen (Empfindungen)“’. Dieser Grund wird als eine „innere Handlung des Gemüths, Vorstellungen zu verknüpfen“ beschrieben®. Die Exposition der

Erscheinungen

beruht also auf einer Handlung;

sie ist das Ergebnis einer

solchen Handlung, das Kant so beschreibt: „Hie ist also Einheit, nicht vermöge

desienigen: worin, sondern: wodurch das Manigfaltige in eines gebracht wird,

mithin allgemeingültigkeit.“” Wie kommt es zu dieser Einheit, und wie ist sie zu verstehen? Die Einheit, zu der es durch die Exposition der Erscheinungen kommt, wird als eine Einheit bestimmt, „wodurch das Manigfaltige in eines gebracht wird“, und von einer Einheit abgegrenzt, die ein Mannigfaltiges „vermöge desjenigen:

worin“ aufweist. Was damit gemeint ist, wird an anderer Stelle deutlicher

gesagt: „Wenn ich das entstehen specifice in der Zeit bestimme, d.i. eine realitaet in der Reihe der Zeit, so ist die Zeit zwar die Bedingung, in welcher, aber die Regel die Bedingung, durch welche.“!0 Die Zeit ist die Bedingung gegebener Vorstellungen, insofern sie alle in der Zeit sind; die dadurch gegebene Einheit der Vorstellungen ist eine Einheit aufgrund der Form, in der sie gegeben sind:

„...

die Vorstellungen

sind wohl

zusammengestellt,

aber nicht ver-

knüpft .. .“!!, Demgegenüber führt die Verknüpfung einer Folge von Erscheinungen zu einer Einheit, die unter der Bedingung einer Regel steht, gemäß der die Erscheinungen verbunden werden. Diese Einheit ergibt sich nicht durch die Form, in der Erscheinungen gegeben sind, sondern stellt sich aufgrund des Verbindens gegebener Vorstellungen gemäß einer Regel ein. Hier ist die Regel oder das Verfahren nach einer Regel - „die Bedingung, durch welche“ eine Einheit in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen gebildet wird. Es ist also eine Einheit - „vermöge desienigen ... wodurch das Manigfaltige in eines gebracht wird“!?. Da die Exposition der Erscheinungen eine Verbindung gegebener Vorstellungen ist, die durch eine „reine Handlung des Gemüths“ zustande-

kommt, beruht die sich dadurch ergebende Einheit der Erscheinungen nicht auf der Form, in der sie gegeben sind, sondern ist in den Regeln begründet, nach

6 R 4674 (AA 17.643.8). 7 8 9 10

A.a.O., A.a.0., A.a.O., R 4678

Z. 10/2. Z. 15. Z. 17/9. (AA 17.662.20/2).

11 R 4681 (AA 17.668.9f.). Vgl. auch R 5221: „Durch die Zeit werden Dinge nicht verknüpft, sondern in der Zeit durch das allgemeine ihrer Bestimmungen.“ (AA 18.123.8/10).

12 R 4674 (AA 17.643.17.).

$ 1: Die Exposition der Erscheinungen

77

denen die Handlung des Verbindens verfährt. In Kants Worten: „Daher sind es

nicht formen, sondern functionen, worauf die relationes der Erscheinungen beruhen.“ Damit sind die Gesichtspunkte genannt, von denen Kant in seinen Überlegungen zur Exposition der Erscheinungen ausgeht. Prinzipien der Erscheinungen sind nicht Prinzipien ihrer Exposition: die ersten betreffen ihre Form und sind die „reinen Grundbegriffe der Anschauung“*, während die zweiten sich auf die Verbindung gegebener Vorstellungen beziehen und die „relationes der Erscheinungen“ erklären sollen. Diese Prinzipien müssen im Zusammenhang mit der „Handlung des Gemüths, Vorstellungen zu verknüpfen“ gesehen werden, - ein Zusammenhang, den Kant durch den „allgemeinen Begriff eines sinnlichen dati“ zu explizieren versucht. Er ist „die Handlung, einen Gegen-

stand nach solchen (scil. sinnlichen) Bedingungen sinnlich zu bestimmen“, eine Handlung, die als Anwendung von Regeln interpretiert wird. Kant orientiert sich an synthetischen Urteilen, deren logische und semantische Form im Rahmen der ‚x-a-b‘-Notation beschrieben wird. Es geht hier aber nicht um eine

Bestimmung der Form dieser Urteile, wie es Haering zu glauben scheint, wenn er von dem Versuch spricht, „von einer andern Seite (dem allgemeinen Begriff einer Regel) aus dieselben Faktoren a b x, wie vorher im Urteil . .., zu gewinnen und

so seinem systematischen Drange genug zu tun... .“!6. Kant will vielmehr eine

Erklärung der Möglichkeit von synthetischen Urteilen über Erscheinungen geben, indem er die „relationes der Erscheinungen“ auf eine „innere Handlung

des Gemüths“ zurückführt, die in einer Anwendung von Regeln besteht. In ‚R 4676° heißt es: „Zu Entstehung einer Regel werden drey Stücke

Erfodert: 1. x. als das datum zu einer Regel (object der Sinnlichkeit oder vielmehr sinnliche reale Vorstellung). 2. a. die aptitudo der Regel oder die Bedingung, dadurch sie überhaupt auf eine Regel bezogen wird. 3 b. der exponent der Regel.“!7 Die ‚x-a-b‘-Notation wird hier verwendet, um verschiedene Momente der Anwendung einer Regel zu bestimmen. Das x ist das Objekt der Sinnlichkeit, bzw. die sinnliche reale Vorstellung; an anderer Stelle wird es mit der Erscheinung identifiziert!®. In ‚R 4678‘ wird es als „die Bedingung des

obiects, d.i. unter der etwas als obiect zu denken gegeben ist“, bezeichnet'”. Wie diese verschiedenen Formulierungen zeigen, versucht Kant, „das Datum 13 A.a.O., Z. 19f, 14 Vgl. R 4674 (AA 17.643.5/8); R 3976 (AA 17.372,24).

15 R 4674 (643.25/6); vgl. Haering, Nachlaß, 83f. 16 A.a.O., 69; an anderer Stelle spricht er von einer „Parallelisierung“ von „Arten des Urteilens“ und „Arten derreinen Verstandesbegriffe“:- „Man kann sagen: die grammatisch-

logischen Bestandteile eines Urteils werden mit den erkenntnistheoretisch-abstrakten Elementen des objektiven Erkenntnisvorgangs parallelisiert, ja eigentlich gleichgestellt“ (66f.; vgl. 139f.; 152). Aber Kants Pointe besteht nicht darin, diese Elemente mit jenen Bestandteilen zu identifizieren, sondern darin, daß er eine bestimmte Art von Erkenntnis anhand von Urteilen einer bestimmten logisch-semantischen Form thematisiert. 17 AA

17.656.8/12.

19 AA

17.661.10f.

18 Vgl. R 4680 (AA 17.665.5).

na

78

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

zu einer Regel“ unter Berücksichtigung von zwei Gesichtspunk ten zu charakterisieren: es ist durch die Anschauung gegeben, und es fungier t als eine Voraussetzun g dafür, daß wir „etwas als Objekt zu denken“ imstande

schon deutlich, daß es Kant nicht darum geht, eine neue sind. Hier wird Bestimmung des synthetischen Urteils zu geben, sondern daß er die Möglichkeit einer bestimmten Art von Erkenntnis verständlich machen will. Als zweites Moment wird die Bedingung genannt, unter der „die sinnlichereale Vorstellung... . überhaupt auf eine Regel bezogen wird“. Diese Bedingung ist

durch den Begriff a gegeben, „durch den ich x denke“20. Dieser

Begriff „referiert“ auf x, und indem x unter a fällt, ist gesichert, daß sich x auf eine Regel beziehen läßt. Die Beziehung von a zu x ermöglicht also die Anwendung der Regel auf x. Wie das gemeint ist, wird deutlicher, wenn wir das dritte Moment betrachten, den „Exponenten der Regel“. Reich hat darauf hingewiesen, daß Kant sich hier an den von ihm sehr geschätzten Mathematiker Kästner anlehnt?!. Exponent ist das Verhältnis zwischen aufein ander folgenden Gliedern einer Zahlenreihe, die nach einem Gesetz gebildet ist. Die allgemeine Bestimmung des Exponenten für eine solche Reihe ist nichts anderes als die Funktion, durch die der Exponent für beliebige Glieder der Reihe festgelegt ist. Aufgrund des Exponenten können wir daher das Verhältnis eines jeden Glieds der Reihe zu jedem nachfolgenden bestimmen. Für Kant ist b eine „allgemeine function“? bzw.

die „Funktion einer Regel“. Wenn diese nun der Exponent der Regel sein soll, deren Anwendung auf x unter der Bedingung steht, die durch a angege ben wird, so scheint das Verhältnis vona zu bals eine Beziehung der Exempl ifikation oder Spezifikation verstanden zu werden. Der Exponent b formuliert durch die Beziehung zwischen a und x erfüllt die Funktion einer Regel, die wird. Diese Beziehung ist ein besonderer Fall eines Verhältnisses, das ganz allgemein durch b bestimmt wird.

In diesem Sinne schreibt Kant: „Alles, was geschieht,

wird um der Bestimmung seines Begrifs willen unter den Erscheinungen, d.i. in Absicht auf die Möglichkeit der Erfahrung, vorgestellt als enthalten unter einer regel, wovon das verhältnis durch einen Verstandesbegrif ausged rückt wird. In der Erscheinung x also, worin a ein Begrif ist, müßen außer dem, was durch a gedacht wird, Bedingungen seiner specification enthalten seyn, welche eine Regel nothwendig machen, deren function durch b ausgedrückt wird. akan nicht anders specifisch determinirt werden in der Zeit, wenn es geschieht, als vermittelst einer Regel.“?* Der Verstandesbegriff ist der Exponent b, der durch die Beziehung vonazux erfüllt wird. Anders gewendet: jede Anwendung des Begriffs a auf die Erscheinung x ist zugleich die Realisierung oder Erfüllung eines allgemeinen Verhältnisses, das in b gedacht wird. 20 Vgl. R 4676 (AA 17.656.9/11); R 4674 (AA 17.645.28),

21 Vgl. Vollständigkeit, 67f.; vgl. Schulthess, Relation, 238 ff.

22 R 4676 (AA 17.655.18). 23 R 4680 (AA 17.665.8). 24 A.a.O., Z. 2/10; vgl. Guyer, Kant, 34,

$ 1: Die Exposition der Erscheinungen

79

Gegeben dieser Begriff der Exposition, läßt sich der Unterschied deutlich angeben, der zwischen den Formen der Anschauungen einerseits und den Kategorien andererseits im Hinblick auf ihre Beziehungen zu dem, was in der Anschauung gegeben ist, besteht. Kant schreibt: „ Wir müssen Begriffe exponiren, wenn wir sie nicht construiren können.“ Die Differenz von Konstruktion

und Exposition wird so erläutert: „Durch die construction x des Begriffes a (Triangel) ist zugleich im Triangel die gleichheit 3er Winkel etc. bestimmt.

Durch die specification x von dem Begriffe a ist zugleich in diesem a die relation b bestimmt. Wenn ich das entstehen specifice in der Zeit bestimme, d.i. eine realitaet in der Reihe der Zeit, so ist die Zeit zwar die Bedingung, in welcher,

aber die Regel die Bedingung, durch welche. Wenn x die sinliche Bedingung ist, unter der a specifisch determinirt wird, so ist b die allgemeine Function, dadurch es darin determinirt wird.“ Die Spezifikation wird hier der Konstruktion gegenübergestellt; an ihr wird das Besondere der Exposition von Begriffen sichtbar. Gemeinsam ist Spezifikation und Konstruktion, daß es sich um Verfahren handelt, einen Begriff auf eine gegebene Anschauung zu beziehen. Bei der Konstruktion wird dieser Begriff auf den „Gegenstand des reinen

Anschauens“ bezogen??; bei der Spezifikation dagegen wird der Begriff auf den Gegenstand der empirischen Anschauung, auf eine Erscheinung bezogen®®.

Dies ist nur möglich, sofern zwei verschiedenartige Bedingungen erfüllt sind. Die Zeit ist eine Bedingung jeder Erscheinung und damit auch der Anwendung von Begriffen auf diese, sofern „in ihr“ jede Erscheinung gegeben ist. Die Anwendung des Begriffs ‚a aufx besagt daher, daß ain x bestimmt wird, bzw.in

x ist??, Diese Bedingung erfüllt also a, sofern es aufx bezogen wird. Es gibt aber auch eine Bedingung, „durch welche“ diese Anwendung bestimmt ist. Dies soll

b, die „Regel“ oder „allgemeine Funktion“ sein. Diese Bedingung betrifft a

insofern, als jede seiner Anwendungen die Exemplifikation einer allgemeinen Funktion ist. Der Begriff a steht also unter gewissen Bedingungen, die er in jeder seiner Anwendungen auf eine Erscheinung x gewissermaßen ‚mit einbringt“. Sofern er sich anwenden läßt, muß nicht nur die sinnliche Bedingung erfüllt

sein, unter der seine Beziehung auf Erscheinungen steht, sondern es müssen auch die Bedingungen erfüllt sein, unter denen a steht. Diese Bedingungen

betreffen a, sofern es für ihn eine Regel oder Funktion gibt. Indem a auf x angewandt wird, wird daher sowohl a „in“ x bestimmt, als auch x aufgrund der

Bedingung vona „durch“ eine Regel oder Funktion bestimmt wird: die Anwendung von a auf x liefert sowohl eine Bestimmung von a in x, als sie auch eine

25 R 4678

(AA

17.660.26f.);

vgl. Haering,

Nachlaß,

31f. Guyer,

Kant, 36f., hat diese

Unterscheidung übersehen und verwendet den Terminus ‚construiren‘ für eine jede Art von synthetischer Verbindung von Begriffen.

26 A.a.O., (AA 17.662.16/24).

27 Vgl. R 4674 (AA 17.644.29). 28 Vgl.R 4678: „Erscheinungen können wir nicht construiren, obzwar Anschauungen.“ (AA 17.660.27f.).

29 Vgl. a.a.0., (AA 17.662.14f.); R 4680 (AA 17.665.6f.).

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

80

Realisierung oder Exemplifikation einer allgemeinen Regel oder Funktion ist. In Kants Worten: „Aber in synthetischen Sätzen ist das x dasienige, worinaund

durch die Bedingung von a b bestimt wird.“

Auf diese Weise kommt es zu einer neuen Bestimmung der Differenz, die

zwischen der Beziehung der Formen der Anschauung auf Erscheinungen und der Beziehung der Kategorien auf diese besteht. Während die Formen der

Anschauungen Bedingungen der Erscheinungen selber und somit notwendige

Bedingungen dieser sind, fungieren die Kategorien als Bedingungen der Erkennbarkeit der Erscheinungen. Es lassen sich daher zwei Klassen von Erkennt-

nissen a priori unterscheiden, - solche, die „auf die Bedingung geht, wodurch Obiect gegeben ist“, und solche, „wenn sie auf Erscheinung, so fern sie die

Bedingungen enthält, sich einen Begriff von ihr zu machen“?!. Erkenntnisse der ersten Art spielen für die Konstruktion von Begriffen in der Anschauung eine

Rolle; Erkenntnisse der zweiten Art betreffen die Exposition der Erscheinungen, also die Anwendung von Begriffen auf etwas, das gegeben ist. Diese Differenz muß beachtet werden, wenn es darum geht nachzuweisen, daß wir

solche Erkenntnisse besitzen. In dem ersten Falle genügt es, Objekte mit Hilfe

der formalen Bedingungen der Erscheinungen, Raum oder Zeit, zu konstruie-

ren??. In dem zweiten Falle müssen Erscheinungen „unter titel des Denkens gebracht werden können“??. Das hat zur Folge, daß Kant nun nicht mehr den

Nachweis der Geltung der Kategorien in direkter Entsprechung zu dem Nach-

weis, daß die Erscheinungen unter den Bedingungen von Raum oder Zeit

stehen, führen kann. Um Erscheinungen zu „exponieren“, ist es erforderlich, daß ein Zusammenhang zwischen einem „sinnlichen Datum“ x, einem Begriff

‚a und einem Exponenten ‚b‘ besteht. Damit ein solcher Exponent auf ein

„sinnliches Datum“ bezogen ist, muß dieses nicht nur die Bedingungen, unter denen esin einer Anschauung gegeben ist, sondern auch die Bedingungen seiner

Erkennbarkeit erfüllen. Der Nachweis, daß Exponenten oder Kategorien sich auf Erscheinungen beziehen, ist der Nachweis, daß wir Erkenntnisse von Erscheinungen besitzen. Indem Kant diese ‚regeltheoretische‘ Deutung der ‚x-a-b‘-Notation entwikkelt, gibt er keine Beschreibung der logisch-semantischen Form synthetischer Urteile, sondern er interpretiert diese Form als eine Beziehung zwischen Erscheinungen, Begriffen und Kategorien. Dies bedeutet aber, daß diese Bezie-

hung nur dann gegeben sein kann, wenn wir uns in der Form synthetischer

Urteile auf Erscheinungen beziehen. Die Erkenntnis von Erscheinungen wird

durch solche Urteile zum Ausdruck gebracht. Das Verhältnis zwischen x als

‚datum zu einer Regel‘ und a als „aptitudo zur Regel“ ist eine Beziehung, deren Exponent b ist. Die Exponenten sind Funktionen, die das Verhältnis beliebiger Glieder einer Reihe definieren. In der Logik hat Kant den Exponenten mit der 30 R 4678 (AA 17.662.14f.). 31 A.a.O,, (AA 17.661.19/22).

32 Vgl. a.a.O., Z. 18/20. 33 A.a.O., Z. 27f.

$ 1: Die Exposition der Erscheinungen

81

Form des Urteils identifiziert: „Die materie des Urtheils: termini. Die Form

oder das Verhaltnis exponirt copula. Wenn entweder oder-“’*. Demnach ist das Verhältnis von x zu a als eine Beziehung zu verstehen, die als Urteil gedacht werden muß. Indem wir den Begriff ‚a‘ auf das sinnliche Datum ‚x‘ anwenden, urteilen wir; und der Begriff ‚a‘, „durch den ich x denke“, führt zu einem Urteil, in dem der Begriff auf x angewendet wird. Das Verhältnis, in dem x zu b steht,

ergibt sich dadurch, daß a auf x angewendet wird. Dies geschieht durch ein Urteil. Die Kategorien werden als „Regel der Erscheinung“ oder auch als ‚Titel

der Erscheinungen‘ bezeichnet”. Die Erscheinungen stehen unter solchen Titeln, wenn wir uns auf sie durch Anwendung von Begriffen in einem Urteil beziehen können; und die Kategorien sind solche Titel, wenn sie als Regeln

interpretiert werden können, die in jeder Anwendung von Begriffen auf Erscheinungen, also in jedem empirischen Urteil in dem Sinne vorausgesetzt sind,

wie eine Instanz ihr Schema voraussetzt. Kants Konzeption der Exposition der Erscheinungen übernimmt also aus den Erläuterungen des Begriffs der Exposition, die wir in den ‚Reflexionen‘ zur Logik finden, zwei Gesichtspunkte. Wir hatten gesehen, daß es gegebene Begriffe sind, die exponiert werden; dem entspricht, daß die Exposition der Erscheinungen und ihre Prinzipien sich auf etwas beziehen, das „gegeben“ ist.

Der Begriff der Exposition wird weiterhin so eingeschränkt, daß eine Exposition der Erscheinungen nur dann vorliegt, wenn die Anwendung von Begriffen auf Erscheinungen zu synthetischen Urteilen führt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß bei einer solchen Exposition nur empirische Begriffe eine Rolle spielen. Ein Zusammenhang von empirischen Begriffen und synthetischer Exposition besteht also nicht. Betrachten wir dieses Ergebnis von Kants Theorie der Exposition der Erscheinungen im Lichte der Fragestellungen von 1772! Ist damit eine Erklärung dafür gefunden worden, daß sich die Kategorien auf Erscheinungen beziehen? Sofern wir Erscheinungen als ein „datum zu einer Regel“ ansehen und somit als etwas, auf das ein Begriff in einem Urteil angewandt wird, ist eine solche

Erklärung dann gegeben, wenn die Kategorien als Exponenten von Verhältnissen oder als Formen von Urteilen verstanden werden können. Wir haben in ‚II. $ 1° gesehen, daß Kant die Kategorien in dieser Weise deutet. Der Nachweis ihrer Beziehung auf Erscheinungen beruht also auf der Annahme, daß Erscheinungen ein „datum zu einer Regel“ sind. Dies bedeutet aber nichts anderes, als

daß wir synthetische Urteile über Erscheinungen fällen können. Die Antwort, die Kant auf die Frage „Wie sind solche syntheses möglich?“ gibt?®, setzt also voraus, daß wir Begriffe auf Erscheinungen anwenden und uns in synthetischen Urteilen auf Erscheinungen beziehen können. Die Theorie der Exposition der

34 R 3039; vgl. R 3063. 35 R 4681 (AA 17.666.23/667.5). 36 R 4676 (AA 17.654.29).

82

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

Erscheinungen erklärt also, wie Kategorien sich auf Erscheinungen beziehen. Der Nachweis, daß sie dies tun, ist bislang nicht erbracht worden?”. Für die Lösung dieser Aufgabe sind nun Überlegungen aus dem ‚Duis-

burg’schen Nachlaß‘ von großer Bedeutung, die von Kants Konzept der Apperzeption ausgehen. Dieser Ansatz ist völlig neu und eröffnet Möglichkeiten, eine Antwort auf die Fragen von 1772 zu finden, welche Kant zuvor nicht zur Verfügung standen, nach 1775 aber im Zentrum seiner theoretischen Philoso-

phie stehen. Ich verzichte hier darauf, die Überlegungen zu explizieren, in denen er das Konzept der Exposition der Erscheinungen mit dem apperzeptionstheoretischen Ansatz in Verbindung bringt. Dies geschieht dadurch, daß er den Exponenten b als eine „allgemeine function des Gemüths“?® oder auch als

„actus der apperception“?? deutet. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, den ich nicht verfolge, weil es mir sinnvoll erscheint, das Besondere des apperzeptionstheoretischen Ansatzes für sich und nicht in der komplizierten und auch wenig ausgearbeiteten Version einer Akkommodation an die Theorie der Exposition der Erscheinungen vorzustellen®".

$ 2: Vorstellungen von Objekten

Die ‚Losen Blätter‘ aus dem Duisburg’schen Nachlaß enthalten Überlegungen, die zeigen sollen, daß die Mannigfaltigkeit unserer gegebenen Vorstellungen notwendigerweise unter bestimmten Regeln steht, die Kant mit Rekurs auf die Einheit der Apperzeption zu spezifizieren und in ihrer Geltung zu begründen versucht. Die Einheit der Apperzeption wird so die Grundlage für den Nachweis, daß wir unsere Vorstellungen zu der Einheit der Erfahrung organisieren müssen. Wie die Einheit der Apperzeption diese Grundlage abgeben kann, ist von Kant zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gesehen worden; aber daß sie diese Basis bereitstellt, ist seine Überzeugung, die seine Überlegungen zu einer Deduktion der Kategorien von 1775 bis über 1787 hinaus wie ein roter 37 Ich kann daher nicht die Meinung von De Vleeschauwer teilen, der das Projekt einer „Ex-

position der Erscheinungen“ für das Programm einer transzendentalen Deduktion hält („C’estle terme normal [scil. ’exposition des phenomenes] dans ces notes pour parler dela deduction.“ - Deduction I, 179), deren Problem „semble parfaitement r&solu, du moins en

principe“ (a.a.O.; vgl. 282). Guyer, Kant, 38, stellt die Frage: „Why should the mere variety of sensations that will be given in the experience of empirical objects be insufficient to make determinate which objects or events are being experienced where and when?“ Diese Frage wird durch Kants Begriff des Objektes beantwortet (vgl. $ 2) und ist nicht die Frage, die durch seine Theorie der Exposition der Erscheinungen unbeantwortet bleibt.

38 R 4676 (AA 17.655.18f.).

39 A.a.O. (AA 17.656.20). 40 Haering, Nachlaß, 66, spricht kritisch von „Kants architektonisch-systematischen Liebhabereien“ und ist der Meinung, daß es „prinzipiell falsch“ ist, „in den Bestandteilen eines

Urteils... die durch Abstraktion erkenntnistheoretisch eruierten Faktoren eines objektiven Erkenntnisvorgangs ... finden zu wollen.“ (67).

$ 2: Vorstellungen von Objekten

83

Faden durchzieht. Hält man diesen Ausgangspunkt für ein wesentliches Element einer solchen Deduktion,

dann kann man

erst nach

1775 von einer

Deduktion der Kategorien bei Kant sprechen. Ich beginne mit einer Explikation des Begriffs der Vorstellung eines Objekts. Ich werde dann Kants Konzept der Einheit der Apperzeption entwickeln; und ich werde schließlich seine Überlegungen diskutieren, die einen Zusammenhang zwischen der Einheit der Apperzeption und der Notwendigkeit der Erfahrung aufzeigen sollen. Eine kritische Betrachtung der Mängel dieser Überlegungen ermöglicht eine angemessene Einschätzung der weiteren Entwicklung von Kants Gedanken zu einer Deduktion der Kategorien, die ihren ersten definitiven Abschluß in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gefunden hat. In ‚R 4677° heißt es: „Nur dadurch, daß das Verhältnis, was nach den

Bedingungen der Anschauung gesetzt wird, als nach einer Regel bestimmbar angenommen wird, bezieht sich die Erscheinung auf ein obiect; sonst ist es nur eine innere affection des Gemüths.“! Das Verhältnis, was nach den Bedingungen der Anschauung gesetzt wird, ist das Verhältnis einer Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen und ihrer Gegenstände, von Kant ‚Erscheinung‘ genannt, die unter den Bedingungen der Zeit oder des Raumes stehen. Eine solche

Mannigfaltigkeit ist eine Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten, von Affektionen des Gemüts. Kant behauptet, daß diese Mannigfaltigkeit die Eigenschaft besitzen kann, sich auf ein Objekt zu beziehen, und zwar dann, wenn sie „als

nach einer Regel bestimmbar“ gedacht wird. Die Eigenschaft, nach einer Regel bestimmbar zu sein, kommt sowohl der gegebenen Vorstellung als auch ihren Gegenständen zu. Vorstellungen von Objekten sind die gegebenen Vorstellungen, die nach einer Regel bestimmbar sind; und dasjenige, worauf sich solche Vorstellungen beziehen, wird als ein Objekt gedacht, wenn es durch eine Regel

bestimmbar ist. Diese Korrelation von Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung wird häufig als eine vermeidbare und aufzulösende Ambiguität von Kants Verwendung des Terminus ‚Vorstellung‘ angesehen?; aber es ist gerade seine Intention, von einer bestimmten Charakterisierung der Vorstellungen zu einer entsprechenden Charakterisierung dessen, was vorgestellt wird, überzugehen. Diese Intention hat ihren bekanntesten Ausdruck in der Formel ‚die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung‘ gefunden. Indem Kant die Vorstellung mit dem, was vorgestellt wird, die Erfahrung mit dem Gegenstand der Erfahrung korreliert, stellt er einen Zusammenhang zwischen der Beantwortung von zwei Fragen her, die sehr abstrakt und allgemein so formuliert werden können: 1 AA 17.657.25/8; vgl. R 4631 (AA 17.615.17/8); Haering, Nachlaß, 122ff., unterscheidet drei verschiedene Versionen der Abgrenzung von Subjektiv und Objektiv, ohne jedoch das Besondere der Gegenüberstellung von „nur eine innere affection des Gemüths“ und „bezogen auf ein obiect“ hervorzuheben. Es ist dieser Unterschied, der für das Verständnis des

Beweisziels der Deduktion von entscheidender Bedeutung ist. 2 Auf die Ambiguität weist er gelegentlich selber hin; vgl. z.B. R 4677 (AA 17.659.14/5).

84

II. Kategorien und Apperzeption um 1775

Welche Eigenschaften muß eine Erfahrung aufweisen, damit wir sie als die Erfahrung einer bestimmten Welt verstehen können? Und welche Eigenschaften muß die Welt besitzen, damit wir von ihr eine bestimmte Erfahrung haben können? Kant war der Meinung, daß im Hinblick auf gewisse Eigenschaften diese Fragen nicht unabhängig voneinander erfolgen können; denn wir können

eine bestimmte Erfahrung nicht haben, ohne daß die Welt in bestimmter Weise beschaffen ist; und wir können uns keinen Begriff von dieser Welt machen, die

völlig unabhängig von ihrer Erfahrbarkeit gedacht wird. Dieses - vielleicht ‚idealistisch‘ oder ‚epistemologisch‘ zu nennende - Konzept des Zusammenhangs von Erfahrung und Welt, von Vorstellung und ihrem Gegenstand hat zur

Folge, daß die Abgrenzung gegebener Vorstellungen, die sich auf ein Objekt beziehen, von Affektionen des Gemüts nicht nur auf eine bestimmte Art der

Erfahrung, sondern auch auf eine bestimmte Welt, die durch eine solche Erfahrung zugänglich ist, zielt und sie von bloßen Empfindungen und einer Mannig-

faltigkeit unverbundener Sinnesdaten unterscheidet. Der Gesichtspunkt der Unterscheidung ist die Bestimmbarkeit nach einer Regel. Wie das gemeint ist, ergibt sich aus Beispielen, die wir in ‚R 4675‘ finden: „Etwas wird außer uns nur gesetzt, sofern dessen Vorstellung bestandigkeit und einen besondern Beziehungspunkt ausmacht.“ Am Beispiel der Vorstellung eines äußeren Gegenstandes erläutert Kant das Besondere der Vorstellungen von Objekten überhaupt. Was als außer mir vorgestellt wird, wird als etwas Beständiges und als ein „besonderer Beziehungspunkt“ gedacht. Wie das zu verstehen ist, ergibt sich aus den unmittelbar folgenden Ausführungen: „Wenn meine Vorstellung worauf folgt, so würde der Gegenstand derselben noch nicht darauf folgen, wenn dessen vorstellung nicht wodurch als eine Folge determinirt wäre, welches niemals anders als nach einem allgemeinen Gesetze geschehen kann. Oder es muß ein allgemein gesetze seyn, daß alle folge durch etwas vorhergehendes determinirt sey, sonst würde ich zu der Folge der Vorstellungen keine folge der Gegenstande setzen. Denn meinen Vorstellungen Gegenstände zu setzen, dazu gehört immer, daß die Vorstellung nach einem allgemeinen Gesetze determinirt sey, denn in dem allgemeingültigen Punkte besteht eben der Gegenstand.“* Daß wir eine Sequenz von Vorstellungen auf einen Gegenstand beziehen, verlangt, daß diese Sequenz eine Ordnung hat, deren Glieder in einer bestimmten Weise aufeinander folgen. Für Kant besagt dies, daß die Sequenz „nach einem allgemeinen Gesetz determinirt“ ist. Für ihn ist also eine Ordnung der Sequenz von Vorstellungen mit der Regelmäßigkeit ihres Auftretens verbun-

den. Das „allgemeine Gesetz“

spezifiziert eine bestimmte Ordnung und be-

hauptet, daß sie unter gegebenen Bedingungen regelmäßig auftritt. Daß eine Sequenz von Vorstellungen gesetzmäßig determiniert ist, hat seine Entsprechung in dem Bereich dessen, wovon die Vorstellungen Vorstellungen sind: ich „setze“ zu der Folge der Vorstellungen eine Folge der Gegenstände’. Die 3 AA 17.648.6/8. 4 A.a.O., zZ. 9/17. 5 Vgl. A 191/3-B 236/8.

$ 2: Vorstellungen von Objekten

85

Gegenstände der Vorstellungen bilden eine Folge von Ereignissen, die durch ein Gesetz beschrieben werden kann. Der Begriff des Gesetzes bildet die Grundlage für Kants Konzept der Vorstellung von Objekten und des Objekts selbst. Die „Beständigkeit“ und der „besondere Beziehungspunkt“ solcher Vorstellungen ergibt sich durch die Regelmäßigkeit und die bestimmte Ordnung, die eine

Sequenz von Vorstellungen, sofern sie durch ein Gesetz determiniert ist, aufweist; und dies gilt entsprechend auch von dem, worauf sich diese Vorstellun-

gen beziehen. Kant bezeichnet Gesetze auch als Regeln und kann daher sagen, daß die Folge von Erscheinungen nur dann als eine Folge von Objekten angesehen werden kann oder sich „auf ein obiect bezieht“, wenn eine Folge „nach einer

Regel bestimmbar“ gedacht wird®. . Der Begriff der Vorstellung eines Objekts wird nun als der Begriff der Erfahrung bestimmt. Dabei ist von dem Begriff der Erscheinung auszugehen. In ‚R 4679° heißt es: „empirische Anschauung

ist Erscheinung. Erscheinung,

deren man sich bewußt ist, ist Warnehmung“”. Empirische Anschauungen und Wahrnehmungen sind Arten von Vorstellungen, die sich auf Erscheinungen beziehen; diese sind der Gegenstand, das intentionale Korrelat dieser Vorstel-

lungen. Kant stellt Anschauungen nun eine Klasse von Vorstellungen gegenüber, die er ‚Begriff‘ nennt: „Der Unterschied aller unsrer Erkenntnisse ist der

Materie (Inhalt, Obiekt) oder der Form nach. Was die letzte betrift, so ist sie Anschauung oder Begrif. Jene ist von dem Gegenstande, so fern er gegeben ist, diese: so fern er gedacht wird. Das Vermogen der Anschauung ist sinnlichkeit, des Denkens ist Verstand ...“8. Anschauung und Begriff sind jeweils Vorstel-

lungen, die aufeinen Gegenstand bezogen sind; sie unterscheiden sich dadurch, daß die Anschauung die Vorstellung des Gegenstandes, „sofern er gegeben ist

der Begriff aber die Vorstellung des Gegenstandes, „sofern er gedacht wird‘ ‚ist. Dies sind zwei Weisen, sich auf den Gegenstand zu beziehen, die weder unabhängig voneinander sind noch selbständig nebeneinander stehen, sondern

vielmehr miteinander verbunden werden müssen, damit so etwas wie Erfah-

rung zustandekommt. Erst durch diese Verknüpfung entstehen Vorstellungen von Objekten.

Kant beschreibt diese Verbindung als einen Zusammenhang von Wahr nehmung und ‚Titel des Verstandes‘: „Jede Warnehmung muß unter einen Titel des

Verstandes gebracht werden, weil sie sonst gar keinen Begrif giebt und nichts dabey gedacht wird. Vermittelst dieser Begriffe bedienen wir uns der Erscheinungen, oder vielmehr die Begriffe zeigen die Art an, wie wir uns der Erscheinungen als der Materie zum Denken bedienen.“ Die Titel des Verstandes sind nicht Vorstellungen des Gegenstandes, „so fern er gedacht wird“, sondern charakterisieren mögliche Arten solcher Vorstellungen; sie bestimmen, wie die

Gegenstände empirischer Anschauungen Gegenstände sein können, auf die

6 .7 8 9

R 4677 (AA 17.657.26/8). AA 17.663.32f. R 4675 (AA 17.650.25/651.2). R 4679 (AA 17.664.2/6).

s

IIL. Kategorien und Apperzeption um 1775

86

sich Begriffe beziehen. Kant schreibt: „Wir sagen: der Stein wiegt, das Holz fällt (der Körper bewegt sich), d.i. es handelt, mithin ist es Substanz. der Acker ist zubereitet, die Wiese ausgetrocknet, das Glas zerbrochen: dieses sind Wirkun-

gen, die sich auf eine Ursache beziehen. Die Mauer ıst fest, das Wachs weich, das

Gold dicht: dieses sind Verknüpfungen im Zusammengesetzten. Ohne dergleichen Begriffe würden die Erscheinungen insgesamt getrennt seyn und nicht zu

einander gehören.“!° Diese empirischen Urteile sind für Kant Verbindungen von Begriffen, die in Verbindung mit empirischer Anschauung sich auf Erschei-

nungen beziehen. Als „Titel des Verstandes“ werden Substanz und Ursache erwähnt, die ein Verhältnis von Begriffen angeben, die sich auf einen in der

Anschauung gegebenen Gegenstand, „so fern er gedacht wird“, beziehen. Der Zusammenhang von Anschauung und Begriff in einer empirischen Erkenntnis ‚ist also ein Zusammenhang, der durch solche Verhältnisse spezifiziert wird. Erfahrung in diesem Sinne ist „verstandene Wahrnehmung“: „Wir verstehen sie aber, wenn wir sie unter Titel des Verstandes uns vorstellen. Erfahrung ist eine

specification der Verstandesbegriffe durch gegebene Erscheinungen. “!! Erfahrung ist für Kant die Verbindung einer empirischen Anschauung mit einem Begriff. Erst durch diese Verbindung werden empirische Anschauungen und die entsprechenden Begriffe zu Vorstellungen von einem Gegenstand, der sowohl gegeben ist als auch gedacht wird, und nur als solche Vorstellungen und somit nur in einer solchen Verbindung - sind sie Vorstellungen von Objekten. Diese Verbindungen gliedern sich in bestimmte Verhältnisse, die als „Litel des Verstandes“, als Kategorien bezeichnet werden. Daher sagt Kant: „Erfahrungen sind also nur dadurch möglich, daß vorausgesetzt wird, alle

Erscheinungen gehören unter Verstandestitel ...“!2. Diese Verstandestitel geben die Form jener Regeln an, nach denen gegebene Vorstellungen bestimmbar sein müssen, wenn sie Vorstellungen von Objekten sein sollen. Der Nachweis, daß die uns gegebenen Vorstellungen Vorstellungen von Objekten sind und sein müssen, hat also zu zeigen, daß sie unter „Verstandestiteln“ stehen und stehen

müssen. Es ist die Aufgabe einer Deduktion der Kategorien im Sinne einer „subjektiven Deduktion“, einen solchen Nachweis zu erbringen. Ein erster Entwurf findet sich in den ‚Losen Blättern‘ aus dem Duisburg’schen Nachlaß, indem der Versuch gemacht wird, die „Titel des Verstandes“ als „Titel der

10 A.a.0., Z. 8/14. 11 A.a.O,., Z. 18/20.

12 A.a.O., Z. 22/3. Guyer, Kant, 35, schreibt: „Experience itself is nothing other than the determination of the temporal position of the realities which are indeterminately given in mere appearance.“ Diese „realities“ werden als Zeitpunkte verstanden (37), und die Möglichkeit, sie als Vorstellungen von Objekten anzusehen, soll davon abhängen, daß „time-determination requires rules for the understanding“ (36). Diese „emerging theory of determination“ istm.E. schon deswegen nicht die Grundlage für die ‚Deduktion‘ um 1775 (37), weil Erscheinungen zwar in der Zeit sind und nur aufgrund der Verstandes-Begriffe („analogien der Erscheinung“ - vgl. R 4682, AA nicht schlicht „points of time“ sind,

17.669.3/5) eine „Stelle“ besitzen, aber

$ 2: Vorstellungen von Objekten

87

Apperzeption“ zu deuten und ihre Geltung für alle Erfahrung aus der Einheit der Apperzeption zu erklären. Guyer hat ein anderes Bild von Kants Überlegungen entworfen. Mit Berufung auf ‚R 4679 schreibt er: „Here, Kant offers a clear pattern for his basic

argument for the central categories as „titles“ for understanding objects and then suggests a relation between such rules for thinking of objects and further rules for representing the unity of the mind, or apperception, which clearly

makes the former primary and the latter analogical.“!? Das sogenannte „basic

argument“ geht von der Prämisse aus, daß wir Erfahrung haben!*, und versucht

zu zeigen, daß die Kategorien Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. Im Unterschied zu Guyer bin ich der Meinung, daß der von Kant angenommene Zusam-

menhang zwischen „Regeln für das Denken von Objekten“ und „Regeln für die

Vorstellung der Einheit des Geistes“ nicht nur eine zusätzliche Vermutung zu

diesem „clear pattern for his basic argument“ darstellt, auf die dieser sich bedauerlicherweise immer mehr kapriziert, sondern vielmehr ein ganz anderes Argument,

das im Zentrum

seiner Überlegungen

um

1775 steht, ist. Guyer

spricht von einem »shifting of ground“!3 und beschreibt das „neue“ Argument dahingehend, „that though the application of the rules is to objects, the source of the rules is the self.“!°

Dieses Argument liefert nach seiner Meinung „an alternative account of the

need for these rules“!7, wobei die Notwendigkeit der Regeln darin besteht, daß wir ohne sie keine Vorstellung von Objekten haben. Aber diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem bloßen Begriff einer solchen Vorstellung und soll durch

keines der von Guyer erwähnten Argumente begründet werden. Vielmehr geht es in beiden Argumenten darum nachzuweisen, daß diese Regeln auch wirklich anzuwenden sind. Dies wird in dem ersten Argument freilich, wie Guyer selber hervorhebt, nur unter der Voraussetzung gezeigt, daß wir Erfahrung und somit Vorstellungen von Objekten haben'®. Dies gilt für das zweite von ihm ins Auge gefaßte Argument nicht; und es ist daher kein bloßes Anhängsel zu dem ersten

Argument, wie auch dieses keinen Anspruch darauf erheben kann, als „basic

argument“ angesehen werden zu können. Bevor ich mich nun diesem zweiten

Argument zuwende, will ich zuerst Kants Konzept der Einheit der Apperzep-

tion erläutern.

13 Kant, 43,

14 Vgl. a.a.0.; vgl. 41, 44. 15 A.a.O., 46. 16 A.a.O., 47.

17 A.a.O.

18 A.a.O., 44: „... beginning with the assumption that we know objects through the titles of

understanding might seem to beg the very problem of objective validity raised in the letter to Marcus Herz.“ Der Vorwurf „begging the question of 1772“ (47) gilt freilich nur bei einer von zwei möglichen Deutungen dieser Frage (vgl. 1.$ 4).

III.

88

Kategorien und Apperzeption

1775

um

$3: Die Einheit der Apperzeption

Der Gegenstand einer empirischen Anschauung wir { Ma Kant ‚Erscheinung‘ bewußt ist, ist Warnehgenannt. Er fährt fort: „Erscheinung, deren man sich mung.“! Die Wahrnehmung ist eine bewußte Vorstellung; und eine solche Vorstellung zu haben, schließt ein Bewußtsein von dem ein, wovon die Vorstellung eine Vorstellung ist. Das Besondere bewußter Vorstellungen erläutert Kant am Beispiel der Wahrnehmung: „Wir nehmen etwasnur wahr dadurch, daß wir

uns unsrer apprehension bewust seyn, folglich des Daseyns in unserm innern Sinne ...“2. Apprehension ist für Kant eine Art von Vorstellung, die er im Hinblick auf das, was in ihr vorgestellt wird, als etwas charakterisiert, was „passiv“ oder „gegeben ist“, und deren Beziehung zu ihrem Gegenstand als

„unmittelbar“ bezeichnet wird*. Das Bewußtsein der Apprehension ist für Kant

ein Bewußtsein „des Daseyns ın unserem innern Sinne“. Was aber wird durch

den inneren Sinn zugänglich? Für Kant ist es eın Zusammenhang von Apprehension und Apperzeption, den er programmatisch in der These zum Aus-

druck bringt: „Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der

apperception aufgenommen.“

.

Der innere Sinn ist ein besonderer Fall von Anschauung: „Die Anschauung ist entweder des Gegenstandes (apprehensio) oder unsrer selbst; die letzte (apperceptio) geht auf alle Erkenntnisse, auch die des Verstandes und Ver-

nunft.“6 Diese „Anschauung unserer selbst“, auch als „selbstwarnehmung

bezeichnet”, steht, begriffsgeschichtlich gesehen, in der Tradition des „Sensus internus“®, zu der auch Lockes Konzept der „reflection“ als „that notice which the Mind takes of its own Operations ...“ gehört”. Bei Kant erfährt diese „Anschauung unserer selbst“ eine Deutung, für die es keine Vorlage in der

neuzeitlichen Erkenntnistheorie gibt, und die zu einem zentralen und funda-

mentalen Konzept seiner kritischen Philosophie führt!®. 1 R 4679 (AA 2 R 4681 (AA

17.664.1). 17.667.27/8).

4 R5221 (AA 5 R 4676 (AA

18.123.5). 17.656.2f.).

3 R 5203 (AA 18.116.21f.). .

OVOoN

, . 6 R 4675 (AA 17.651.6/8); an dieser Unterscheidung hält Kant in den ‚Reflexionen‘ aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘ nicht durchgehend fest (vgl. Haering, Nachlaß, 108, 148f.). Haering irrt sich jedoch, wenn er glaubt, die „empirische Apperzeption“ sei ein Thema

dieser Überlegungen. De Vleeschauwer, Deduction I, 280, spricht von einer „confusion terminologique perpetuelle entre Papprehension et l’aperception“, aber ein Schwanken in der Terminologie ist durchaus verträglich mit einer thematischen Identität.

R 4677 (AA

17.658.2).

Baumgarten, Metaphysica, $ 535. Essay, 11.1.4.

.

Darauf weist auch Guyer, Kant, 32, zu Recht hin, aber er versteht den Terminus ‚Anschauung unserer selbst‘ zu wörtlich, wenn er schreibt: „Kant’s definition of apperception in R 4675 suggests that it is not Just a concept of the self but essentially is or involves some intuition of the self; indeed, only because this is so can Kant’s further remark that

$ 3: Die Einheit der Apperzeption

89

Daß Kants Auffassung der Apperzeption zwar in der Tradition des „sensus internus“ steht, aber ganz und gar Neuland beschreitet, macht eine Reflexion zur Anthropologie deutlich, die Adickes um 1783/4 datiert: „Der Sinn ist

entweder innerlich oder äußerlich; innerlich wird nur ein Sinn genannt und dadurch die apperception verstanden. Diese ist aber kein Sinn, sondern wir sind uns dadurch so wohl der Vorstellungen der äußeren als inneren sinne bewußt. Sie ist blos die Beziehung aller Vorstellungen auf ihr gemeinschaftlich Subiect, nicht aufs obiect.“!! Die Apperzeption in Analogie zur Sinneswahrnehmung zu verstehen, ist völlig unangemessen, weil sie als ein Vermögen gedacht wird, das aufgrund seiner Leistungen definiert ist, und weil diese Leistungen nicht im Rahmen dieser Analogie verständlich gemacht werden können. Die Apperzeption „geht auf alle Erkenntnisse“, d.h. sie bezieht sich auf alle Vorstellungen, die bewußte Vorstellungen sind, und somit auch auf alle Vorstellungen, die

Vorstellungen von Gegenständen sind. Was auf diese Gesamtheit bewußter Vorstellungen bezogen ist, ist „ihr gemeinschaftlich Subiect“. In ‚R 4674° wird die Apperzeption als „Wahrnehmung seiner selbst als eines denkenden subiects

überhaupt“ beschrieben; und der besondere Status dieses Subjekts ergibt sich daraus, daß „die Bedingung aller apperception die Einheit des denkenden subiects ist“!*, Die Apperzeption ist also das Bewußtsein einer Einheit des Subjekts bei aller Verschiedenheit dessen, was es denkt, und auch der Arten seines Denkens. Als Thema der Apperzeption ist dieses „einige Subjekt“, wie

Kant sich ausdrückt!°, wesentlich auf eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen

und ihrer Inhalte bezogen; und die Apperzeption selber als ein Bewußtsein eines solchen Subjekts ist das Wissen um eine Identität, die nur im Hinblick auf eine Mannigfaltigkeit gedacht werden kann. Es ist ein Wissen davon, daß, was immer meine Vorstellungen sind, sie Vorstellungen von mir sind, und daß ich für alle diese Vorstellungen ein und derselbe bin. Die Apperzeption ist also ein Wissen um ein Verhältnis, das in einer Beziehung von etwas Identischem zu einem Mannigfaltigen besteht; und nur als ein solches Verhältnis ist die Apper-

zeption als ein Wissen thematisch adäquat bestimmt!®. Die These ‚Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen‘ behauptet aber nicht nur einen Zusammenhang

apperception is relevant „even“ to cognitions of the understanding appear to be synthetic

rather than analytic ...“. Kant verfügt um 1775 noch nicht über die Unterscheidung von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption (vgl. dazu $. 131ff.). 11 R 224, 12 R 4675 (AA 17.651.7); vgl. R 5203 (AA 18.117.5/9). 13 AA 17.647.14f.

14 R 4675 (AA 17.651.13f.).

15 Vgl.R 4673 (AA 17.637.1; 641.17).

16 Haering trägt dieser thematischen Komplexität nicht Rechnung, indem er schreibt: „Danach ist appercipere ... die Aufnahme von etwas in das Bewußtsein und zwar in das Bewußtsein nach seinem besonderen Charakter als einheitlichem Selbstbewußtsein.“ (Nachlaß, 148). Dieser besondere Charakter bestimmt das Thema dessen, was im Bewußtsein

gewußt wird.

II. Kategorien und Apperzeption um 1775

90

von Apprehension und Apperzeption, der Kants besondere Explikation des neuzeitlichen Konzepts der bewußten Vorstellung ist; die These spezifiziert diesen Zusammenhang auch, indem sie den Begriff der Funktion ins Spiel bringt. Eine Erklärung enthält die folgende Bemerkung: „Die Bedingung aller . apperception ist die Einheit des denkenden subiects. Daraus fließt die Verknüpfung (des Manigfaltigen) nach einer Regel und in einem Ganzen ...“'’. Die Verknüpfung der beiden Sätze läßt sich in zwei verschiedenen Weisen deuten, je nachdem, worauf man ‚daraus‘ bezieht. Es kann sich erstens auf den gesamten vorhergehenden Satz beziehen. Kant behauptet demnach, daß die Einheit des Subjekts, sofern sie als Bedingung der Apperzeption fungiert, der Grund dafür ist, daß gegebene Vorstellungen nach einer Regel verknüpft sind. Wegen dieser Bedingung ist die Apperzeption Bewußtsein eines identischen Ich; und es ist

dieses Bewußtsein, das die Verbindung gegebener Vorstellungen nach Regeln begründet. Identitätsbewußtsein impliziert demnach Verbindung gemäß Re-

geln. Ich möchte dies kurz ‚die epistemologische Begründung‘ nennen. Zum anderen ist es möglich, ‚daraus‘ auf die Einheit des Subjekts zu bezie-

hen. Die Verbindung der Vorstellungen nach einer Regel wird dann mit Hilfe der Einheit des Subjekts begründet: eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen wird nach Regeln verbunden, weil sie zu einem Subjekt gehören, das eine bestimmte Einheit aufweist. Ich spreche hier von einer ontologischen Begründung, da die Einheit des Subjekts als Grund für die Verknüpfung der Vorstellungen nach Regeln angeführt wird. Kant liefert keine Argumente für die Stringenz dieser möglichen Begründungen; und es wird an dieser Stelle auch nicht deutlich, welche der beiden Interpretationen seine Intentionen trifft. Diese Frage läßt sich aber beantworten, indem man den Begriff ‚Funktion der Apperzeption“ genauer betrachtet. Die Funktion der Apperzeption, in die Wahrnehmungen

„aufgenommen“

werden, ergibt sich durch das „gemeinschaftliche

Subjekt“, auf das bewußte Vorstellungen bezogen sind. Dieses Subjekt ist auf die Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen nicht in der Weise bezogen, daß sie alle einfach nur seine Vorstellungen, also Vorstellungen desselben Subjekts sind.

Kant behauptet vielmehr, daß die Vorstellungen gemäß gewissen Verhältnissen

geordnet sind. Diese Verhältnisse werden als Exponenten und somit als Schemata verstanden, deren Instanzen bestimmte Beziehungen zwischen Vorstel-

lungen sind: „Die apperception ist das Bewußtseyn

des Denkens, d.i. der

Vorstellungen, so wie sie im Gemüthe gesetzt werden. Hiebey sind drey exponenten: 1. der Verhaltnis zum Subiekt, 2. der Verhaltnis der Folge unter einander, 3. der Zusammennehmung. Die Bestimmung von ain diesen momentis der apperception ist die subsumtion unter einen von diesen actibus des

17 R 4675 (AA 17.651.13/5). Haering, Nachlaß, 108, schreibt: „ ‚Regel und Ganzes‘ sind nur denkbar auf Grund eines einheitlichen verknüpfenden Subjekts.“ Aber es geht nicht um eine Analyse des Begriffs ‚Verknüpfung des Mannigfaltigen nach einer Regel‘, sondern

umgekehrt darum, wie gegebene Vorstellungen gedacht werden müssen, wenn sie unter der Bedingung ihrer Zugehörigkeit zur Apperzeption stehen.

$ 3: Die Einheit der Apperzeption

91

Denkens... .“!8. Das Wissen, das ein denkendes Subjekt von sich mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen hat, ist also ein Bewußtsein,

„der

Vorstellungen, so wie sie im Gemüthe gesetzt werden.“ Wie sie gesetzt sind, bestimmt sich durch die drei Exponenten, die die von Kant favorisierten Kate-

gorien der Relation sind. Bewußte Vorstellungen sind „im Gemüthe“ in bestimmter Weise „gesetzt“,

sie stehen in bestimmten Verhältnissen, sofern sie in die Apperzeption „aufgenommen“ werden. Diese Verhältnisse sind „die drey functionen der apperception, welche bey dem Denken unseres Zustandes überhaupt angetroffen wer-

den“!9, Der Zustand, von dem hier die Rede ist, besteht darin, daß wir Vorstellungen haben. Wenn die drei Funktionen „angetroffen“ werden, wenn wir diesen Zustand denken, dann müssen sie diesen Zustand bestimmen, also Ver-

hältnisse angeben, in denen wir Vorstellungen haben. Die Funktionen der Apper-

zeption, in die bewußte Vorstellungen aufgenommen werden, sind dann die

Verhältnisse, in denen wir Vorstellungen haben; und solche Vorstellungen werden darin aufgenommen, weil sie als bewußte Vorstellungen zu einem Ich gehören, das sie hat und weiß, daß es sie hat. In diesem Sinne spricht Kant auch

von „Verheltnissen der apperception des Selbstbewustseyns, nach dem wir uns unsres eignen Daseyns bewust werden“20. Unser Dasein oder unser Zustand

besteht darin, daß wir Vorstellungen haben; und das Bewußtsein von diesem Dasein ist ein Bewußtsein davon, daß wir in bestimmten Verhältnissen zu

diesen Vorstellungen stehen. Daß die Funktionen der Apperzeption die Beziehungen sind, in denen ein Ich zu seinen Vorstellungen steht, ist aber auch aus dem Kontext ersichtlich, in dem

die These ‚Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen‘ vorkommt. Kant fährt nämlich fort: „Ich bin, ich

denke, Gedanken sind in mir.“2! Dies sind die Funktionen der Apperzeption, die ohne Mühe als die drei Relationskategorien identifiziert werden können. Es

handelt sich um die drei Verhältnisse, in denen das Ich auf seine Vorstellungen

bezogen ist. Der Satz ‚ich bin‘ beschreibt das Verhältnis, in dem das Ich als Substanz zu seinen Vorstellungen als Akzidentien steht??, der Satz ‚ich denke‘

faßt das Ich als Ursache seiner Vorstellungen, und der Satz ‚Gedanken sind in mir“ bestimmt das Verhältnis, in dem das ich als ein ganzes zu den Vorstellungen als seinen Teilen steht. Die Funktionen der Apperzeption sind demnach die Relationen, in denen das Ich zu seinen Vorstellungen steht. Ich hatte zwischen einer epistemologischen und einer ontologischen Deutung von Kants Begründung der „Verknüpfung des Mannigfaltigen nach einer Regel“ unterschieden. Eine solche Verknüpfung kommt dadurch zustande, daß gegebene Vorstellungen in die Funktionen der Apperzeption „aufgenommen“ 18 R 4674 (AA 17.647.16/21). 19 A.a.O. (AA 17.646.29/30).

-

20 R 4677 (AA 17.659.18/20). Ich übernehme den Verbesserungsvorschlag von Adickes. 21 R 4676 (AA 17.656.3). 22 Vgl. Haering, Nachlaß, 68.

92

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

werden. Diese Funktionen sind die Relationen, die zwischen ein und demselben Subjekt und seinen Vorstellungen bestehen. Wenn dadurch eine „Verknüpfung

(des Mannigfaltigen) nach einer Regel“ gegeben ist, dann wird die „Einheit des denkenden subiects“, und nicht das Bewußtsein der Identität dieses Subjekts,

als Grundlage für eine Verbindung der Vorstellungen nach Regeln in Anspruch genommen.

Es ist dabei vorerst ganz offen, wie Kant von jenen Relationen

zwischen dem Subjekt und seinen Vorstellungen zu einer Verknüpfung der Vorstellungen nach Regeln übergehen will; aber es ist klar, daß die Einheit des Subjekts als die Basis für eine solche Verbindung angesehen wird. Kant gibt also

eine ontologische Erklärung für die „Verknüpfung des Mannigfaltigen nach

einer Regel“, - eine Erklärung, die auf der Annahme beruht, daß die „Einheit

des denkenden Subjekts“ die Einheit einer Substanz ist, einer „res cogitans”, ım

Sinne der Rationalen Psychologie. Von der Thematik und dem Problembestand der kritischen Philosophie sind die Überlegungen um 1775 zumindest dadurch getrennt, daß die Paralogismen noch allererst zu entdecken waren. Wie wichtig

dieser bislang nicht bemerkte Umstand ist, sowohl für das Verständnis des Begriffs der Apperzeption, der in den hier besprochenen ‚Reflexionen‘ zum ersten Male eine Rolle in der theoretischen Philosophie Kants spielt, als auch für die Deutung der von ihm skizzierten Deduktion, zeigen gerade die Schwierig-

keiten, in die Guyer bei seiner Interpretation der „Functionen der Apperzeption“ gerät. Er versteht den von mir diskutierten Satz ‚Die Bedingung aller apperception ist die Einheit des denkenden subiects‘ als die Behauptung, „that a

recognition of the unity of the self is the condition of self-consciousness“?? und versteht diese Einheit als „the unity of a determinate and unique ordering of itemns in inner sense, the form of which is temporal“?*, also als eine bestimmte Sequenz von Vorstellungen, die zeitlich geordnet sind. Nicht diese Einheit,

sondern die substantiale Einheit einer „res cogitans“ bildet aber die Einheit des denkenden Subjekts. Weil Guyer dies nicht gesehen hat, kommt er zu einer irrigen Auffassung des Zusammenhangs, den Kant zwischen der Einheit des

Subjekts und den Funktionen der Apperzeption herstellt. Guyer behauptet,

„that subordination and coordination, as well as the rules on which they depend, must have something to do with the temporal ordering of the states of

the self“. Kurz darauf wird dies so verschärft: „Kant’s underlying idea appears

to be that there are three main rules for the organization of representations into self-consciousness - that is, the representation of a unitary subject - and thus three main forms of rules for thinking of the objects of representations as well,

because the temporal structure of consciousness or inner sense requires this. “26 Aber von einer solchen Struktur spricht Kant gar nicht an der Stelle, auf die

Guyer sich bezieht?”; er spricht vielmehr von den Exponenten, gemäß denen

23 Kant, 48. 24 A.a.O.

25 A.a.O., 48f. 26 27

A.a.O., 49. R 4674 (AA

17.647.14/9).

$4: Die Deduktion der Kategorien um 1775

93

Vorstellungen „im Gemüth gesetzt werden“. Diese Exponenten sind die Kate-

gorien der Relation, gemäß denen Vorstellungen in einer Beziehung zu ihrem ‚Träger‘ stehen. Der Grund dafür, daß die Vorstellungen so geordnet sind, besteht eben darin, daß diese Exponenten ‚reale‘ Beziehungen zwischen einem

Ich und seinen Vorstellungen angeben. Weil Guyer nicht gesehen hat, daß die Einheit des Subjekts von Kant als Substanz einer „res cogitans“ bestimmt wurde, kommt es nicht nur zu Mißverständnissen von Kants Gedankengang, sondern auch zu irreführenden Problemstellungen. In ‚R 4675‘ spricht Kant von „subordination als coordination“ von Vorstellungen, welche sich durch „Einheit des denkenden subiects“ ergeben sollen?®, und zu denen Guyer etwas konsterniert „whatever that means“ bemerkt??. Da ihm nicht klar ist, daß Kant hier die drei Relations-Verhältnisse

meint?®, unterscheidet er im folgenden zwischen „purely general rules which can be derived from the realization that apperception is perception of the self in time, und „some other rules“, die für die Ordnung gegebener Vorstellungen einschlägig sein sollen?!. Guyer bemerkt nun: „... it remains unclear precisely what inferences should be drawn from rules for apperception to rules for the objects of experiences“32. Da es für Kant dieselben Regeln oder Relationen sind, glaubt er, daß dieser Zusammenhang gar nicht eigens begründet werden muß. Daß diese Überzeugung freilich auf einem Fehlschluß beruht, wird die folgende Betrachtung seiner ‚Deduktion der Kategorien‘ zeigen.

$ 4: Die Deduktion der Kategorien um 1775 Gegeben der Begriff der Vorstellung eines Objektes und gegeben das Konzept der Einheit der Apperzeption, so läßt sich das Projekt einer Deduktion der Kategorien, wie es Kant um 1775 vorschwebte, so beschreiben: es geht ihm

darum nachzuweisen, daß die Funktionen der Apperzeption mit den Regeln, unter denen Wahrnehmungen stehen, sofern sie Vorstellungen von Objekten sind, so zusammenhängen, daß Vorstellungen, die zur Einheit einer Apperzep-

tion gehören, Vorstellungen von Objekten sein müssen. Kant will also zeigen, daß dasjenige, was „in die function der apperception aufgenommen“ wird!, sich notwendig zu einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, die gemäß den „Titeln des Verstandes“ geordnet sind, also zu der Einheit der Erfahrung verbinden

läßt. Wie erreicht er dieses Ziel? Kant geht davon aus, daß wir Wahrnehmungen haben. Wahrnehmungen sind 28 29 30 31

R 4675 (AA 17.651.13/6). Kant, 48. Vgl.R 3935, 4155; s. auch Guyer, Kant, 53 Kant, 50f.

32 A.a.O., 53; vgl. 51. 1 R 4676 (AA 17.656.2/3).

94 bewußte

III. Kategorien und Apperzeption um 1775 Vorstellungen,

die sich auf Erscheinungen

beziehen.

Als bewußte

Vorstellungen gehören Wahrnehmungen zur Einheit eines denkenden Subjekts und stehen in Beziehungen zu einem wahrnehmenden Ich, die durch die Funktionen der Apperzeption gegeben sind. Was folgt aus dieser Ordnung der Wahrnehmungen für die Organisation der Erscheinungen? Die Ordnung, die Wahrnehmungen als bewußte Vorstellungen ein und desselben wahrnehmenden Ichs aufweisen, besteht in den Beziehungen, in denen die Vorstellung und

das Ich zueinander stehen. Daß Wahrnehmungen als bewußte Vorstellungen eine solche Ordnung haben, begründet aber nicht, daß sie und ihre Gegenstände, die Erscheinungen, untereinander und unabhängig von ihrer Beziehung zu dem Ich in diesen Beziehungen stehen. Denn es ist ja denkbar, daß jede

Wahrnehmung und ihr Korrelat, jede Erscheinung, ohne irgendeine Beziehung zu jeder anderen Wahrnehmung und Erscheinung steht. Die Einheit des Bewußtseins, in der Wahrnehmungen verbunden sind, begründet also keine Ein-

heit der Wahrnehmungen und ihrer Gegenstände, der Erscheinungen. Auch Kant scheint dies gesehen zu haben, wenn er schreibt: „Die drey Verhaltnisse im

Gemüth erfodern also drey analogien der Erscheinung, um die subiectiven functionen des Gemüths in obiective zu verwandeln und sie dadurch zu Verstan-

desbegriffen zu machen, welche den Erscheinungen realitaet geben.“? Man kann also nicht einfach die „subiectiven functionen“ mit den Kategorien identi-

fizieren. Damit die Erscheinungen selber und ihre Wahrnehmung in bestimmten Verhältnissen untereinander stehen, ist es nötig, die „subiectiven functionen in obiective zu verwandeln“; und erst aufgrund dieser „Verwandlung“ fungieren die Funktionen der Apperzeption als Verstandesbegriffe, die unsere bewußten Vorstellungen zu Vorstellungen von Objekten machen. Das Konzept einer solchen „Verwandlung“ zeigt deutlich, daß Kant nicht von einer Ordnung, die Wahrnehmungen als bewußte Vorstellungen ein und desselben Ichs besitzen, auf eine Ordnung der Wahrnehmungen und der Erscheinungen untereinander schließt. Aber dieses Konzept läßt auch erkennen, daß es einen Zusammenhang zwischen den Beziehungen, in denen bewußte Vorstellungen zu ein und demselben Subjekt stehen, und den Beziehungen, die zwischen den Erscheinungen, sofern sie Objekte

sind, bestehen, annimmt.

Auf diese Annahme

ist gleich

zurückzukommen. Das Projekt einer Deduktion der Verstandesbegriffe kann in dem skizzierten Rahmen so formuliert werden, daß es um den Nachweis

geht, daß die Funktionen der Apperzeption als Verstandesbegriffe fungieren können, unter denen Erscheinungen notwendigerweise stehen. Zu zeigen, daß

sie so fungieren können und fungieren, bedeutet zu zeigen, daß jene „Verwand-

lung“ möglich ist und vollzogen wird. In Kants Worten: „Obiektiv wird die Erscheinung gemacht dadurch, daß sie als enthalten unter einen titel der Selb-

warnehmung gebracht wird. und also sind die Ursprüngliche Verhältnisse der

2 R 4675 (AA 17.648.23/7).

$ 4: Die Deduktion der Kategorien um 1775

95

apprehension die Bedingungen der Warnehmung der (realen) Verhältnisse in der Erscheinung ...“°. In ‚R 4678° lesen wir: „Denn alle Erscheinung mit ihrer durchgängigen

Bestimmung muß doch Einheit im Gemüthe haben, folglich solchen Bedingungen unterworfen seyn, wodurch die Einheit der Vorstellungen möglich ist. Nur das, was zu der Einheit der Vorstellungen gefodert wird, gehört zu den obiectiven Bedingungen.“* Erscheinungen sind dasjenige, worauf sich Wahrnehmungen beziehen; Wahrnehmungen aber als bewußte Vorstellungen gehören zur Einheit der Apperzeption eines wahrnehmenden Subjekts und stehen in bestimmten Verhältnissen zu diesem Subjekt. Daß bewußte Vorstellungen in solchen Verhältnissen stehen, war von Kant mit Rekurs auf die Einheit des

denkenden Subjekts begründet worden. Welche Bedingungen müssen aber Erscheinungen erfüllen, sofern ihre Vorstellungen die Bedingungen der „Ein-

heit im Gemüthe“ erfüllen? Kant behauptet, daß diese Bedingungen „die Einheit der Vorstellungen“ ermöglichen. Die durch die „Einheit im Gemüthe“ begründete Einheit der Vorstellungen genügt also, um diese zu Vorstellungen von Objekten zu machen und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu einer unter Regeln stehenden Einheit von Objekten zu organisieren. Dies will Kant zeigen; aber wie zeigt er es? Und zeigt er es so, daß er der von ihm selbst geforderten „Verwandlung“ Rechnung trägt? Es geht ihm darum, die Einheit zu erklären, die Vorstellungen besitzen, sofern sie Vorstellungen von Objekten sind. Diese Einheit, so hatten wir gesehen, ergibt sich dadurch, daß Kant Vorstellungen von Objekten als Vorstellungen von etwas, das gegeben ist, ansieht, sofern diese Vorstellungen unter bestimmten Regeln stehen’. Das Besondere seiner Überlegungen um 1775 besteht nun darin, daß er die Geltung dieser Regeln für gegebene Vorstellungen dadurch zu begründen versucht, daß diese Vorstellungen die Bedingungen der „Einheit im Gemüthe“ erfüllen. Denn diese Einheit soll die Grundlage und Ursache für jede Einheit der Vorstellungen untereinander sein, weil das Gemüt „in sich selbst die allgemeine und zurei-

chende Quelle der synthesis enthält“. Wie das Gemüt als eine solche Quelle fungiert, macht die folgende Überlegung deutlich: „Obiektiv wird die Erscheinung gemacht dadurch, daß sie als enthalten unter einen titel der Selbwarnehmung gebracht wird. und also sind die Ursprüngliche Verhältnisse der appre-

hension die Bedingungen der Warnehmung der (realen) Verhältnisse in der Erscheinung, und eben dadurch, daß man sagt: eine Erscheinung gehört darunter, wird sie aus dem allgemeinen bestimmt und wird obiektiv vorgestellt, d.i. gedacht.“ 3 R 4677 (AA 17.658.4/7) Haering bemerkt dazu: „Von diesen Verhältnissen des Gemüts, der „Selbstwahrnehmung‘“, sind alle anderen Wahrnehmungsverhältnisse sozusagen nur „deri-

nsıauı.n

viert“, „abgeleitet“ ...“ (Nachlaß, 33). Die Deduktion hat zu zeigen, daß eine solche „Ableitung“ zu Recht vorgenommen werden kann. AA

17.660.10/4,

Vgl. R 4681 (AA 17.666.20/667.7).

A.a.0. (AA 17.667.178). R 4677 (AA 17.658.4/9).

96

II. Kategorien und Apperzeption um 1775

Die „Titel der Selbstwahrnehmung“ sind die Funktionen der Apperzeption, durch die bewußte Vorstellungen in bestimmten Verhältnissen zu dem einheitlichen Subjekt stehen. Diese Verhältnisse sind „ursprüngliche Verhältnisse der Apprehension“, weil sie sich unmittelbar aus den Funktionen ergeben, gemäß denen bewußte Vorstellungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Einheit der Apperzeption geordnet sind®. Wenn nun Erscheinungen, verstanden als empirische Anschauungen, dadurch zu Vorstellungen von Objekten werden, daß sie gemäß dieser Verhältnisse gedacht werden, dann müssen bewußte Vorstellungen eo ipso Vorstellungen von Objekten sein. Kant sagt: „Wenn etwas appre-

hendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen“; und dieser Gedanke ist so fortzusetzen: indem es unter Funktionen der Apperzeption steht, ist es die Vorstellung eines Objektes. Die Einheit, die Vorstellungen

von Objekten aufweisen, ist eben die Einheit, die Vorstellungen haben, sofern sie eine „Einheit im Gemüthe“ besitzen. Daher kann Kant sagen „Obiektiv wird

die Erscheinung gemacht dadurch, daß sie als enthalten unter einen titel der Selbwarnehmung gebracht wird“!°. Demnach scheint es doch darauf hinauszulaufen, daß er die Kategorien mit den „subiectiven functionen“ einfach identifiziert, und die oben genannte Forderung der „Verwandlung“ einfach fallen läßt. Wie kommt es zu der Identifikation der „Titel der Selbstwahrnehmung“ mit dem „Titel des Verstandes“? Weshalb sollen die Verhältnisse, in denen bewußte

Vorstellungen zu demjenigen stehen, dessen Vorstellungen sie sind, eben die Verhältnisse sein, die zwischen empirischen Anschauungen vorliegen, sofern sie Vorstellungen von Objekten sind? Eine Antwort auf diese Frage enthält die folgende Überlegung: „.. .in der exposition aber... . können die Bedingungen a priori in dem Subiekt erkannt werden, unter denen a überhaupt sich auf ein Obiect, nemlich ein reales, bezieht. Dieses obiect kann nur nach seinen Verhaltnissen vorgestellt werden und ist nichts anders als die subiective Vorstellung

(des subiects) selbst, aber allgemein gemacht, denn Ich bin das original aller obiecte.“!! Daß die Bedingungen a priori, unter denen gegebene Vorstellungen

sich auf ein Objekt beziehen, „in dem Subiekt“ erkannt werden können, ist ganz wörtlich zu verstehen: diese Bedingungen sind mit dem und durch das Subjekt

gegeben, weil die Vorstellung des Objekts nichts anderes als die Vorstellung des

Subjekts ist. Jene wird durch diese gemacht oder nach ihr modelliert. Das Ich ist

das Original aller Objekte: die Vorstellung des Ich ist der Ursprung und zugleich der paradigmatische Fall aller Vorstellungen von Objekten. Die in ‚R 4675“ getroffene Unterscheidung zwischen „analogien der Erschei-

nung“ und den „subiectiven functionen des Gemüths“ wird im Rahmen dieser

Überlegungen nicht einfach fallengelassen. Der Zusammenhang, zwischen beiden herstellen will, beruht vielmehr auf dem

den Kant

überraschenden

8 Vgl.R 4674: „Das Gemüth ist sich selbst also das Urbild von einer solchen synthesis durch das ursprüngliche und nicht abgeleitete Denken.“ (AA 17.647.3/5).

9 R 4676 (AA 17.656.2/3).

10 R 4677 (AA 17.658.4/5). 11 R 4674 (AA 17.646.7/13).

$4: Die Deduktion der Kategorien um 1775

97

Gedanken, daß Vorstellungen, sofern sie auf ein Subjekt bezogen sind, nicht nur in einer Relation zu einem Objekt, nämlich zu dem als Substanz verstandenen denkenden Subjekt, stehen, sondern aufgrund dieser Bezichung zu Vorstellungen von Objekten werden. Die „Verwandlung“ der „subiectiven functionen des Gemüths in obiective“ ergibt sich dadurch, daß diese „functionen“ als Formen

der Vorstellungen von Objekten interpretiert werden. Diese Deutung beruht auf der Annahme, daß die Vorstellung des Ich sowohl Ursprung als auch paradigmatischer Fallaller Vorstellungen von Objekten ist. Am Beispiel der drei Funktionen der Apperzeption hat er seine Auffassung von „Verwandlung“ folgendermaßen dargestellt: „Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir. Dieses

sind insgesamt Verhaltnisse, welche zwar nicht regeln der Erscheinung geben, aber machen, daß alle Erscheinung als unter Regeln enthalten vorgestellt werde.“!? Es ist zwar völlig unklar, wie das „gemacht“ werden soll; aber es ist deutlich,

was „gemacht“

werden

soll. Diese Überlegung

konnte

Kant aber

nur deswegen überzeugend finden, weil die Vorstellung des Ich für ihn in der Zeit um 1775 die oben erläuterte ausgezeichnete Stellung hatte. Die Rolle, die diese Vorstellung in den ‚Reflexionen‘ des ‚Duisburg’schen

Nachlaß’ spielt, wird nicht adäquat erfaßt, wenn man, wie Guyer, annimmt, Kant verwende den Ausdruck „Einheit des Subjekts“ mehrdeutig („fundamental ambivalence“). Er schreibt: „In some instances Kant seems to have in mind

what we could call the grammatical subject of a judgment - that is, precisely its intended object of reference - and to assume that there must be some fundamental, though extralogical, content built into the notion of an object of judgment. In other cases, Kant seems to consider as the basis of his argument what we

might call the cognitive subject - that is, an agent who makes a judgment - and to assume that there are rules inherent in the structure of the thinker which could also carry over (in a manner that could be described in a variety of ways) to any thought of an object of knowledge.“13 Subjekt und Prädikat sind logische

Rollen von Ausdrücken in einem Satz oder auch von Vorstellungen in einem Urteil. Aber für Kant ist die Vorstellung von Objekten nicht mit dem Konzept der Referenz in prädikativen Sätzen oder Urteilen verknüpft!*. Die von Guyer vermutete Ambiguität beruht auf einer anachronistischen Annahme. Aber selbst wenn sich eine solche Ambiguität feststellen ließe, könnte man sie nicht in der von Guyer beabsichtigten Weise für die Deutung von Kants Überlegungen nutzen. Guyer unterscheidet zwischen der Möglichkeit, mit Rekurs auf den Begriff des Objekts Bedingungen für die Vorstellungen von

12 R 4676 (AA 17.656.3/6). 13 14

Kant, 39. Guyer zitiert aus ‚R 4676° (AA

17.654.23/655.21) und bemerkt: „In the first of these

passages, and in at least the beginning of the second, it is simply not possible to tell whether Kant means to refer to the grammatical subject of a judgment or to the cognitive subject which has or makes the judgment ... .“ (40). An der ersten Stelle ist m. E. eindeutig von dem ‚Thema‘ des Urteils, das nicht das „intended object of reference“ ist, und sicherlich nicht

von dem „cognitive subject“ die Rede. Was Guyer mit „the beginning of the second Passage“ meint, ist mir leider nicht klar. Zu dem Ausdruck ‚transzendentales Subjekt‘ vgl. Haering, Nachlaß, 64.

wu

98

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

Objekten anzugeben, und der Möglichkeit, mit Rekurs auf das „kognitive Subjekt“ Bedingungen solcher Vorstellungen zu formulieren5. Aber die erste Möglichkeit betrifft die Explikation des Begriffs ‚Vorstellung von Objekten‘, während die zweite Möglichkeit eine Erklärung dafür geben soll, weshalb wir Vorstellungen von Objekten haben. Die Annahme des Ich als des „originals

aller obiecte“ soll eine solche Erklärung geben; sie dient nicht zur Erklärung dessen, was Vorstellungen von Objekten sind. Kant hat dies auseinandergehal-

ten, und die ihm von Guyer unterstellte mehrdeutige Verwendung von ‚Sub-

jekt‘ kann nicht zu zwei verschiedenen „Wegen“

der Beantwortung

ein und

derselben Frage führen'‘; denn eine solche Frage gibt es nicht. Welche Erklärung aber gibt Kant dafür, daß die Vorstellungen, die das Ich hat, Vorstellungen von Objekten sind? Da für ihn solche Vorstellungen gegebene Vorstellungen, die eine auf Regeln begründete Einheit aufweisen, sind, kann

das Ich ein „original aller obiecte“ nur dann sein, wenn es eine solche Einheit besitzt. Kant sieht sie vor allem darin, daß das Ich eine Substanz, genauer:

der ausgezeichnete Fall von Substanz überhaupt ist. So heißt es schon in „R 3921‘: „Die idee der substantz kommt eigentlich von der repraesentatione sui ipsius ....“17, Die Einheit, die das Ich als Substanz besitzt, unterscheidet es von der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen, die ihm als Akzidenzien zu-

kommen; aber diese Mannigfaltigkeit hat es nicht in beliebiger Weise, sondern gemäß bestimmten und festen Formen der Beziehung. Das Ich hat nicht irgend-

wie seine Vorstellungen; es gibt vielmehr Funktionen der Apperzeption, durch die die Verhältnisse zwischen den Vorstellungen und dem Ich, das sie hat, festgelegt werden. Deswegen behauptet Kant, daß „das Ich das Substratum zu einer Regel überhaupt ausmacht“!3. Das Ich in den Beziehungen zu seinen Vorstel-

lungen fungiert als ein solches „Substratum“, weil aufgrund der Annahme von

Funktionen der Apperzeption das Verhältnis von Ich und Vorstellungen als eine Beziehung gedacht wird, die gewisse Schemata exemplifiziert. Da aber eine solche Beziehung gegeben ist, sofern wir überhaupt von einem bewußten

Leben, von einem Ich, das Erfahrungen macht, reden können, sagt Kant, daß

„das Gemüth sich selbst das Urbild von einer solchen synthesis ist“!?. Diese Synthesis verbindet das Ich mit seinen Vorstellungen nach gewissen Regeln. Ausgehend davon, daß das Ich als Substanz ein fester Bezugspunkt für die sich wandelnden Vorstellungen als Akzidentien abgibt, und mit Hilfe der Annahme von Funktionen der Apperzeption kommt Kant also zu dem Konzept einer Synthesis von Vorstellungen nach Regeln. Die synthetische „Einheit im Gemüthe“ fungiert als Grundlage und Ursprung einer synthetischen Einheit von Vorstellungen. Gegeben dieser Zusammenhang von Funktionen der Apperzeption und Regeln, unter denen Vorstellungen von Objekten stehen, kann nun die Frage, 15 Vgl. a.a.0., 40. 16 Vgl. a.a.O., 39. 17 AA 17.346.7£.; vgl. R 5294/55; R 5297 (AA 18.145 f.). 18 R 4676 (AA 17.656.6f.). 19 R 4674 (AA 17.647.3£.).

$ 4: Die Deduktion der Kategorien um 1775

99

die Kant im Herz-Brief von 1772 zum ersten Male aufgeworfen hatte, beant-

wortet werden. Sie betraf die Erklärung dafür, daß Erscheinungen notwendig unter

Kategorien

stehen;

und

die Überlegungen

um

1775

geben

dafür die

folgende Begründung, Erscheinungen sind Gegenstände von Wahrnehmungen; und die Bedingungen a priori von Wahrnehmungen sind auch Bedingungen a priori der Gegenstände der Wahrnehmungen. Wahrnehmungen sind bewußte Vorstellungen und gehören daher zur Einheit der Apperzeption. Was aber zur Einheit der Apperzeption gehört, erfüllt die Bedingung a priori, daß es gemäß

den Funktionen der Apperzeption geordnet ist. Diese Funktionen der Apperzeption sind aber identisch mit den Kategorien. Daher stehen Erscheinungen notwendigerweise unter Kategorien.

Dieses Argument beruht auf drei zentralen Voraussetzungen. Da ist erstens der von Kant angenommene Zusammenhang von Erscheinung und Wahrnehmung, welcher im Kontext des neuzeitlichen Vorstellungsbegriffs zu verstehen ist und auf einem epistemologischen Konzept des Gegenstands der Erkenntnis

basiert. Dieser Zusammenhang braucht hier nicht eigens diskutiert zu werden, da er zu den Rahmenbedingungen der theoretischen Philosophie Kants gehört und keine Besonderheit seiner Überlegungen um 1775 darstellt. Demgegenüber

ist die Annahme von Funktionen der Apperzeption ein wichtiger und gegenüber seinen früheren Überlegungen neuer Gedanke, der in seiner Theorie der Apperzeption begründet ist. Bei der Explikation dieser Theorie wurde er bereits kritisch diskutiert. Es ist bemerkenswert, daß bereits die erste Einführung des Konzepts der Apperzeption im Rahmen der theoretischen Philosophie den Gedanken der Einheit der Apperzeption mit der Annahme konstanter Beziehungen

einer bestimmten Ordnung

bewußter Vorstellungen verbindet.

Diese Verbindung ist später modifiziert, aber nie aufgegeben worden. Die bekannteste Version dieser Verbindung findet sich in dem umstrittenen Übergang von der synthetischen zu der objektiven Einheit der Apperzeption in der

zweiten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Schließlich ist für das vorgetragene Argument die direkte Identifikation der Funktionen der Apperzeption mit den Kategorien von entscheidender Bedeutung. Sie ist eine Besonderheit von Kants Überlegungen um 1775; und die richtige Deutung dieses Spezifikums ist unerläßlich, sowohl um seine erste „subjektive“ Deduktion als auch die

Entwicklung seiner Gedanken in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu verstehen. Daß gegebene Vorstellungen unter Regeln stehen und sich daher zu synthetisch verknüpften Vorstellungen von Objekten verbinden müssen, beweist Kant dadurch, daß er diese Vorstellungen als bewußte Vorstellungen versteht,

die

„unter einen Titel der Selbwarnehmung gebracht“ werden??, und diese Titel mit den „Titeln des Verstandes“, den Kategorien, identifiziert. Dieses Argu-

ment kann jedoch aus mehreren Gründen nichtüberzeugen. Zuerst einmal fehlt jede Begründung dafür, daß diese Titel eben die Titel des Verstandes sind. Die Betrachtung der Entwicklung von Kants Theorie der Kategorien hat den Zu20

R 4677 (AA 17.658.5).

100

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

sammenhang von Urteilsformen und Kategorien deutlich gemacht.?!, Da die

Funktionen der Apperzeption aus den realen Verhältnissen gewonnen werden, in denen das Ich zu seinen bewußten Vorstellungen steht, bleibt jener Zusammenhang ganz im Hintergrund; und es ist noch nicht einmal eine begründete Vermutung, sondern cher ein Einfall, daß die Kategorien mit den Funktionen

der Apperzeption identisch sein sollen. Aber selbst wenn

diese Identifikation begründet werden

könnte, würde

daraus nicht folgen, daß gegebene Vorstellungen unter Regeln stehen und synthetische Vorstellungen von Objekten sein müssen. Kant erliegt einem Irrtum, den Haering in seinem Kommentar besonders deutlich macht: „Jeder Akt der Apprehension ... bringt diese Erscheinungen in Beziehung zu dieser Einheit (scil. des Selbstbewußtseins) und dadurch zur Einheit unter sich.“ (68) Der Irrtum besteht darin, daß aus der Einheit der Vorstellungen, sofern sie zur

Einheit der Apperzeption gehören, auf eine Einheit geschlossen wird, die gegebene Vorstellungen untereinander aufweisen. Während jene Einheit in der

Identität des Ichs begründet ist, dem die Vorstellungen in bestimmter Weise zukommen,

betrifft diese Einheit einen Zusammenhang

der Vorstellungen

untereinander, die nicht mit Bezug auf das Ich, sondern mit Bezug auf die nach Regeln verknüpften Inhalte der Vorstellungen zu spezifizieren ist?2. Die erste Einheit kann gegeben sein, ohne daß die zweite Einheit realisiert ist.

Die suggestive Vorstellung von dem Ich als dem „original aller obiecte“ kann allerdings auch so verstanden werden, daß das Ich seine Vorstellungen zu Vorstellungen von Objekten macht. Die „Einheit im Gemüthe“, die Vorstellun-

gen als bewußte Vorstellungen aufweisen, bringt die Einheit der Vorstellungen von Objekten hervor. Dieses konstitutionstheoretische Modell kleidet Vaihinger in eine Metapher, wenn er von dem „Strahl der Einheitssonne unseres Ich“ spricht und behauptet: „... ein Strahl dieser Sonne fällt auf das zerstreute Mannigfaltige der Erscheinung und es konkresziert zum einheitlichen Erfahrungsgegenstand“?°. Daß das Objekt „nur eine Wiederspiegelung der Subjektseinheit“ ist?* oder als „Gegenbild“ zu ihr fungiert?5, darf dann nicht so verstanden werden, daß hier nur ein Abbildungsverhältnis vorliegt; vielmehr projiziert das Ich die Arten der Synthesis seiner bewußten Vorstellungen auf die Inhalte dieser Vorstellungen und schafft so den Gegenstand einer objektiven Vorstellung. Es muß hier nicht entschieden werden, ob Kant um 1775 den von Haering gemachten Fehlschluß begangen oder eine konstitutionstheoretische Position ä la Vaihinger bezogen hat. Denn für das Verständnis der Entwicklung seiner späteren Überlegungen zu einer Deduktion der Kategorien ist es von größter

21 Vgl.

$1.

22 vol, Guyer, Kant, 48: „... why it should be assumed that any rules there might be for the

connection of representations as such must also be constraints on the contents of these representations.“

23 Transzendentale Deduktion, 48. 24 A.a.O., 87. :

25 A.a.O., 48.

$ 4: Die Deduktion der Kategorien um 1775

101

Bedeutung, daß der von ihm konstruierte Zusammenhang zwischen den Funktionen der Apperzeption mit den Titeln des Verstandes dann nicht mehr besteht,

wenn diese Funktionen nicht als reale Relationen aufgefaßt werden, die zwischen einem als Substanz gedachten Subjekt des Denkens und seinen bewußten Vorstellungen bestehen. Diese Auffassung hat Kant aber verabschiedet, als er aufgrund der Entdeckung der Paralogismen den Ich-Begriff der Rationalen Psychologie verwarf. Dieser Begriff gehört nicht nur wesentlich zu Kants Konzeption der Apperzeption um 1775; er ist auch ein essentieller Bestandteil der besprochenen Deduktion, weil er die Voraussetzung dafür ist, die Funktionen der Apperzeption mit den Kategorien zu identifizieren. Da diese Funktionen reale Beziehungen zwischen einer „res cogitans“ im Sinne der Rationalen Psychologie und den Vorstellungen dieses denkenden Subjekts sind, konnte Kant glauben, daß die Einheit, die bewußßte Vorstellungen als Vorstellungen desselben Subjekts aufweisen, bereits eine „Verknüpfung des Mannigfaltigen

nach einer Regel“ begründet. Nach der Entdeckung der Paralogismen konnte eine solche Verknüpfung nicht mehr durch die Einheit des als Substanz verstandenen „denkenden Subjekts“ begründet werden.

Das von uns entworfene Bild von Kants Überlegungen zu einer Deduktion der Kategorien weicht erheblich von der Beurteilung von „Kant um 1775“ ab, die wir bei Haering und de Vleeschauwer, der diesem in allen wesentlichen Punkten folgt, finden. Nach Haering ist „im Prinzip alles Neue der Kritik schon da. Dagegen fehlt noch im ganzen der einheitliche Aufbau, und der formale

Ausbau im einzelnen“2%; und De Vleeschauwer erklärt: “. . .la Critique est faite, du moins dans la partie elementaire comprenant l’Esthetique et d’Analytique“?’. Es ist also von beiden nicht’'bemerkt worden, daß Kant 1775 die

„Paralogismen“ noch gar nicht entdeckt hatte, und daß seine Konzeption von Apperzeption nicht nur verschieden von, sondern inkompatibel mit seiner Position von 1781 ist. Daß beide dies übersehen haben, ist um so erstaunlicher,

als ihnen die Abhandlung ‚Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern‘ von Max Heinze bekannt war?®. Die heutc als ‚Metaphysik L;“bezeichnete Vorlesung entwickelt die dogmatische Rationale Psychologie; da sie mit Sicherheit nach 1775 zu datieren ist2?, konnte man auch unabhängig von den ‚Losen

Blättern‘ erkennen, daß Kant um 1775 die Paralogismen noch nicht entdeckt hatte. Daß dies für eine Deduktion der Kategorien, die auf der Einheit der Apperzeption basiert, wichtige Konsequenzen hat, ist offensichtlich und für

Kants entsprechenden Versuch um 1775 oben gezeigt worden. Haering verkennt aber überhaupt das Besondere dieses Versuches, da er einen Begriff von Deduktion zugrundelegt, der gerade nicht den Überlegungen Rechnung trägt, die wir in den ‚Losen Blättern‘ aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘ finden. Nach seiner Meinung ist der „Sinn der transzendentalen Deduktion der ‚Kritik‘... 26 27

Nachlaß, 152. Deduction I, 282.

28 Abhandlungen Leipzig 1894.

der Sächsischen Gesellschaft d. Wissenschaften, Phil-hist. Classe 14,

29 Vgl. Heinze, a.a.O., 516.

102

III. Kategorien und Apperzeption um 1775

nun aber kurzgesagt der: die Bezichung reiner Begriffe auf Erfahrung ist dann begreiflich, wenn dieselben die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt bilden“?°, Dies hatte Kant im Rahmen einer „objektiven Deduktion“ bereits vor 1775 gezeigt, und es ist gar nicht das Beweisziel einer „subjektiven

Deduktion“, deren erste, freilich unbefriedigende Durchführung wir in den ‚Losen Blättern‘ um 1775 finden. Haering stellt sich die Frage, „... warum es,

da doch das Neue prinzipiell schon da war, noch 6 Jahre bis zur Veröffentlichung der Kritik dauerte“, und findet eine Antwort in der „Überlastung mit

Kollegien“ und einem „ungemein schwankenden Gesundheitszustand“?!. Aber diese Antwort ist nicht nur wenig überzeugend, sondern ihr wesentlicher Mangel besteht darin, daß sie eine Antwort auf eine Frage ist, die sich gar nicht stellt. Auch Guyer teilt die Überzeugung von Haering, daß es einen bruchlosen Zusammenhang zwischen Kants Überlegungen um 1775 und seiner theoretischen Philosophie in den achtziger Jahren gibt. Von den ‚Reflexionen‘ aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß“ heißt es: „These documents provide fundamental insight into both the strategies and the problems of the eventual Critique by

virtue of both their similarities to and their differences from the published work... .“32, Aber im folgenden werden vor allem Ähnlichkeiten herausgestellt: die ‚Reflexionen‘ zeigen dieselbe „Ambivalenz“ der Begründung zentraler Thesen wie die beiden Auflagen der ‚Kritik der reinen Vernunft“; auch der Aus-

druck ‚Einheit des Subjekts‘ soll in den achtziger Jahren ebenso mehrdeutig verwendet worden sein wie um 17753* und damit zu denselben, untereinander

divergierenden Typen von Argumenten geführt haben?. Im Hinblick auf

Guyers Interpretation von Kants Überlegungen um 1775 habe ich versucht, seinen so gerne erhobenen Vorwurf der „Ambivalenz“ zu entkräften; seine Analyse

der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ kann hier nicht diskutiert werden. Ob man die angebliche Kontinuität von Kants Überlegungen zwischen 1775 und 1787 nun eher negativ bewertet, wie man esja wohl im Anschluß an Guyer tun muß, oder ob man sie, wie Haering, der ja von „Kants Kritizismus um 1775“ spricht, es tut, positiv bewertet, - aufjeden Fall müssen die Vertreter der Kontinuitätsthese dem

Faktum Rechnungrragen, daß sich der Begriff der Apperzeption nach 1775 und vor 1781 grundlegend geändert hat. Da sie dies nicht bemerkt haben, haben sie sich auch gar nicht die Aufgabe gestellt, eine Kontinuität von Kants Denken trotz dieser Differenz plausibel zu machen. Seine Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘, soweit sie sich auf diesen Begriff stützen, müssen nach der Entdeckung der Paralogismen anders ausfallen als 1775; und wie sie ausfallen, wird aus einem Entwurf deutlich, den er nach dem 20. Januar 1780 skizzierte. 30 A.a.O., 152. 31 A.a.O., 153. 32 Kant, 25,

33 Vgl. a.a.O., 25f. 34 Vgl. a.2.0., 39. 35 Vgl. a.2.0., 41.

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft Auf der Rückseite eines Briefes des Rektors der Universität Königsberg an Kant vom 20. Januar 1780 findet sich ein Entwurf zu einer Deduktion der Katego-

rien!, der gegenüber den Überlegungen um 1775 eine völlig neue TheorieKonstellation zeigt. Er steht, wie schon mehrfach bemerkt, in einem engen

Zusammenhang mit Gedankengängen aus der Deduktion in ‚A. Dieser Entwurf ist sicherlich nicht nach der endgültigen Niederschrift der Deduktion konzipiert, weil er nur stichwortartige Hinweise auf spätere Teile der Analytik enthält; und er wird auch nicht während dieser Niederschrift abgefaßt sein, weil

er nur eine „rohe... wenig in sich zusammenhängende Skizze“ ist?. Es handelt sich um ein Manuskript, das zum ersten Mal einen neuen Gedanken fixiert und dabei nur die wesentlichen Punkte markiert. Ich werde zuerst die Differenzen kurz skizzieren, die zu dem Entwurf um 1775 bestehen, und dann den systematischen und historischen Hintergrund betrachten, auf dem diese Differenzen zu

sehen sind, um mich dann einer Analyse von ‚B 12° zuzuwenden. In den Reflexionen aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘ verwendet Kant die

schon aus der ‚Dissertatio‘ bekannte Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand als eine Differenzierung zweier Momente, die, anders als 1770, erst zusammen Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes ermöglichen. So heißt es in

„R 4675‘; „Sinnlichkeit Verstand Vernunft Der Verstand verbindet also beyde Außerste dadurch, daß er die data a posteriori mit Bedingungen a priori verknüpft, aber doch nur in concreto, folglich zu einer empirischen Erkenntnis.“* Diese Vermögen werden als Momente eines komplex bestimmten Begriffs von Erkenntnis angesehen, gemäß dem die durch den Verstand gegebenen

1 Reicke, Lose Blätter aus Kants Nachlaß, Altpreussische Monatsschrift 24, 1887, 672: „Ein Blatt 4°. Fragment eines amtlichen Schreibens von Orlovius h.t. Rector an die philosophische Facultät, deren Decan damals Kant war, d.d. Königsberg d. 20. Jan. 1780. Die leere Rückseite ganz u. die Briefseite am Rande, zwischen den Zeilen und unten eng beschrieben.

Hinsichtlich des Inhalts ist hier besonders auf den dritten Abschnitt der Deduction der

reinen Verstandesbegriffe und die summarische Vorstellung am Schlusse desselben in der ersten Ausgabe der Krit. d. rein. Vft. ... zu verweisen.“ Der Brief gehört zu einem Konvolut, das die Aufschrift ‚Zur Critik der reinen Vernunft - Z.(ettel) von R. Motherby 12.

Bl.“ trägt (Reicke, a.a.O., 648). Kants Notizen auf dem Brief werden im folgenden nach Reicke als ‚B 12° bezeichnet; sie sind im 23. Band der Akademie-Ausgabe abgedruckt. 2 Vgl. Adickes, Kant-Studien, 181f., der sich kritisch gegen Arnoldts Datierung der Abfassung der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ in die erste Hälfte des Jahres 1779 wendet. (E. Arnoldt, Gesammelte Schriften IV, hrsg. v. ©. Schöndörffer, Berlin 1908, 121ff.; zu ‚B12’s. 218.)

3 So auch Arnoldt, a.a.O., 219 Anm.; Guyer, Kant, 145, datiert merkwürdigerweise ‚B 12‘

wegen seiner Edition im 23. Band der Akademie-Ausgabe auf die Zeit nach 1781. 4

AA

17.649.17/20.

104

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Begriffe auf die durch die Sinnlichkeit gegebenen Vorstellungen angewendet werden müssen. Diese Begriffe bilden die Form der Erkenntnis, deren Materie diese Vorstellungen sind: „Vermittelst dieser Begriffe bedienen wir uns der Erscheinungen, oder vielmehr die Begriffe zeigen die Art an, wie wir uns der

Erscheinungen als der Materie zum Denken bedienen.“ Verstand und Sinnlichkeit, als Form und Materie der Erkenntnis verstanden, werden nicht eigentlich

als Vermögen angesehen, sondern fungieren als Momente oder Bedingungen von Erkenntnis. Demgegenüber wird in ‚B 12° eine Theorie der Erkenntnisvermögen entwickelt. Kant unterscheidet „drey erste Vermögen“ - Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Apperzeption -, die „nicht zu erklären sind“, von denen vor

allem die Einbildungskraft als produktives und reproduktives Vermögen ausführlich diskutiert wird. Diese Theorie kognitiver Vermögen ist uns aus der ‚A‘-Version der Deduktion vertraut. Daß sie in der ‚B‘-Version und in den ‚Reflexionen‘ aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘ fehlt, ist einer der Gründe, bei diesen Reflexionen die ‚A‘-Version gewissermaßen

direkt auf die ‚B‘-Version zu beziehen.

zu überspringen

und

sie

..

Ein weiterer signifikanter Unterschied zwischen ‚B 12‘ und Kants Überle-

gungen um 1775 betrifft den Begriff der Apperzeption. Zu dieser Zeit hatte er ihre Universalität betont - sie „geht auf alle Erkenntnisse, auch die des Verstandes und Vernunft“” - und siealseine „Anschauung unserer selbst“ und somit als einen direkten Zugang zu einem Ich angesehen, das durch cartesianische Sätze

wie „Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir“ beschrieben wurde und als ein „Substratum zu einer Regel überhaupt“ fungieren sollte®. Im Unterschied

zu

dieser thematischen und funktionalen Charakterisierung wird die Apperzep-

tion in ‚B 12° alsein Vermögen verstanden, das, wiein ‚A‘, neben Sinnlichkeit und Einbildungskraft „aus keinem andern Vermögen des Gemüths abgeleitet werden“ kann (A 94). Kant unterscheidet in ‚B 12° zum ersten Male - soweit ich sehe - zwischen analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption. Von besonderer Bedeutung für uns ist schließlich der Umstand, daß Kant einen Zusammenhang zwischen Einbildungskraft und Kategorien herstellt. Diese waren um 1775 als „Titel des Denkens“ oder auch als „Verstandesbegriffe“ bezeichnet worden?, denen „subiective functionen des Gemüths“ entsprachen!°,

oder die mit diesen identifiziert wurden. In ‚B 12° heißt es dagegen: „Nun sind die Categorien nichts anders als Vorstellungen von Etwas (Erscheinung) über-

haupt so fern es durch transc. Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt wird ...“!!. Daß die Einbildungskraft eine Rolle im Rahmen transzendentaler Überlegungen spielt, ist gegenüber 1775 ganz neu; zugleich ist sie ein charakteristisches Beispiel für die kognitiven Fähigkeiten, die das Interesse von Kants 5 6 7 8 9 10 11

R 4679 (AA 17.664.4/6). AA 23.18.12. R 4675 (AA 17.651.7f.). R 4676 (AA 17.656.3 ff). R 4675 (AA 17.648.206). A.a.O., Z. 24/5. AA 23.19.8/10.

$ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

105

theoretischer Philosophie am Ende der siebziger Jahre - vermutlich aufgrund

der Lektüre der 1777 erschienenen ‚Versuche über die menschliche Natur‘ von

Tetens - maßgeblich bestimmen. Die Rolle, die der Begriff der Einbildungs-

kraft spielt, zeigt diese vermögenstheoretische ‚Wende‘, die dann auch die „A“-Version der Deduktion entscheidend bestimmt hat. Für das Verständnis die-

ser Entwicklung scheint es mir wichtig zu sein, daß Kant das Problem der Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen durch die Annahme eines Zusammenhangs von Kategorien und der Synthesis der Einbildungskraft zu lösen versucht. Ich entnehme daraus, daß sein Interesse an den kognitiven Fähigkeiten, die bei einer empirischen Erkenntnis ins Spiel kommen, mit seinen Bemühungen zusammenhängt, das Problem einer Deduktion der Kategorien zu lösen.

Bevor man sich einer genaueren Betrachtung von Kants Lösung zuwendet, muß man zuerst einmal klären, wie diese Theorie der Erkenntnisvermögen zu verstehen ist, und welche Bedeutung ihr im Kontext der Fragestellung von 1772 zukommt ($ 1). Man muß sich zweitens die Frage vorlegen, weshalb Kant eine solche Theorie nach 1775 für interessant hielt. Welche Vorteile hatte in seinen

Augen der Versuch, das Deduktions-Problem im Rahmen einer Theorie unse-

rer kognitiven Fähigkeiten zu beantworten, und welche Gründe veranlaßten ihn, den ausschließlich auf der Apperzeption basierenden Ansatz von 1775 beiseitezulegen? Diese Fragen sollen in $ 2 dieses Kapitels behandelt werden. Erst dann werde ich zu einer Interpretation und Analyse von ‚B 12° kommen.

$ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

Die Untersuchung der Erkenntnisvermögen ist für Kant eine besondere Art von Betrachtung, die er terminologisch als „Überlegung (reflexio)“ faßt. Ihre

Aufgabe ist es, „die subjectiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen

wir zu Begriffen gelangen können“ (A 260/B 316). Die Wichtigkeit dieser Aufgabe ergibt sich durch das Ergebnis ihrer Lösung. Kennen wir diese Bedingungen, so wissen wir um das Verhältnis „gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen, durch welches allein ihr Verhältnis unterein-

ander richtig bestimmt werden kann“. Eine Betrachtung der Erkenntnisvermögen besteht also erstens darin, daß die Beziehung einer gegebenen Vorstellung

zu ihrer Erkenntnisquelle ermittelt wird; auf der Grundlage dieser Einsicht

führt eine solche Betrachtung dann zweitens zu einer richtigen Bestimmung der Verhältnisse der Vorstellungen untereinander. Was den ersten Punkt angeht, so besteht die gesuchte Beziehung darin, daß das Vermögen anzugeben ist, dessen

Ausübung zu dem Besitz der fraglichen Vorstellung führt. Es soll die „Erkennt-

nißkraft“ identifiziert werden, „wozu die gegebenen Begriffe gehören“ (A 261/ B 317). Daß der Besitz von Begriffen oder Vorstellungen an Fähigkeiten gebunden ist, und daß die Ausübung dieser Fähigkeiten zu einem solchen Besitz führt, ist ein allgemein akzeptiertes Modell der theoretischen Philosophie des

18. Jahrhunderts, das auf Locke und seine Auseinandersetzung mit der An-

106

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

nahme von angeborenen Ideen zurückgeht. Für uns ist es wichtig zu erkennen, welchen Gebrauch Kant von diesem Modell gemacht hat. Darüber gibt der

zweite Punkt Auskunft, - die richtige Bestimmung der Verhältnisse der Vorstellungen untereinander. Gemeint sind Verhältnisse, in denen Vorstellungen stehen, sofern sie in wahren Urteilen vorkommen. Die Betrachtung, ob dieses

Verhältnis vorliegt, bezeichnet Kant als eine „Untersuchung“, d.h. eine „Auf-

merksamkeit auf die Gründe der Wahrheit“. Während die „Überlegung“ sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen zu welchem Erkenntnisvermögen

gehören, thematisiert die „Untersuchung“ die Rechtfertigung bestimmter Ver-

bindungen von Vorstellungen in Urteilen. Die Pointe dieser Unterscheidung ist aber, daß die „Untersuchung“ bestimmter Urteile eine „Überlegung“ erfordert:

„Manches Urtheil wird aus Gewohnheit angenommen oder durch Neigung ge-

knüpft; weilaber keine Überlegung vorhergeht, oder wenigstens kritisch darauf

folgt, so gilt es für ein solches, das im Verstande seinen Ursprung erhalten hat“ (A 260/B 316). In einem solchen Fall muß die „Untersuchung“, also die

Frage nach den Gründen der Wahrheit des Urteils von einer „Überlegung“ ausgehen; und es ist dieser Zusammenhang von Untersuchung und Überlegung, der für Kants Theorie der Erkenntnisvermögen wichtig ist. Die Zuordnung gegebener Vorstellungen zu ihren spezifischen Vermögen ist ein Beitrag zur Be-

stimmung der Gründe für die Wahrheit der Urteile, in denen diese Vorstel-

lungen vorkommen; und das übergeordnete Ziel jener Theorie besteht in einer

Bestimmung von Bedingungen, unter denen solche Urteile wahr sind. Dies bedeutet, daß die Theorie im Kontext der Rechtfertigung von Urteilen gesehen werden muß. Für ihre Interpretation kommt es darauf an, zu klären, für welche

„teile

sie wichtig sein kann, und welchen Beitrag sie zu ihrer Rechtfertigung

eistet. In ‚R 4917‘ lesen wir: „Es ist nicht gnug zu wissen, was die Vorstellungen ın

sich enthalten, noch welchen veranlaßungen und Bedingungen sie ihren Ur-

sprung verdanken, sondern in welchen Vermögen und Fähigkeiten sie ihren Sitz

haben.“ Im Hinblick auf Vorstellungen können demnach drei Fragen gestellt werden. Man kann sich überlegen, wovon die Vorstellungen Vorstellungen sind

und so den Inhalt oder Gegenstand der Vorstellung bestimmen. Man kann zweitens nach den Umständen oder Bedingungen fragen, unter denen Vorstel-

lungen erworben werden, und sich mit den Ursachen beschäftigen, die erklären, daß jemand gewisse Vorstellungen hat. Schließlich kann man zu diesen Vorstel-

lungen die „Vermögen und Fähigkeiten“, die „Quellen“, wie Kant auch sagt, suchen. Diese Fragestellung ist für die Metaphysik von besonderer Bedeutung:

„In Metaphysik muß man subtil seyn. Denn alle diese Erkentnis ist a priori und ohne Ableitung von ihren ersten Quellen unsicher.“! Um die Eigentümlichkeit

einer solchen „Ableitung“ richtig zu verstehen, ist es nötig, den Unterschied

zwischen der Frage nach den Quellen und der Frage nach den Ursachen des Erwerbs von Vorstellungen möglichst deutlich zu machen. Dieser Unterschied definiert für Kant die Differenz zwischen seiner kritischen Philosophie und der 1 R 4947; vgl. R 4892,

$ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

107

„Physiologie“ Lockes - eine Differenz, deren ‚genus proximum“ die Analyse des Subjekts und seiner Erkenntnisvermögen ist: „Das studium des obiects ist

dogmatisch oder sceptisch, also das des Subiects entweder physiologisch oder critisch.“*? Zu dem „physiologischen“ Ansatz bemerkt Kant: „Lock ein physio-

log der Vernunft, ursprung der Begriffe. Er beging den fehler, daß er die Gelegenheit, zu diesen Begriffen zu Gelangen, nemlich die Erfahrung, vor die Quelle hielte.“? Locke fragt also, wie auch Kant, nach den Quellen unserer Vorstellungen, aber er unterscheidet nicht deutlich zwischen dieser Frage und der Frage nach den Ursachen ihres Erwerbs: „Locke hatte das Vorzügliche, daß, da er die intellectualia nicht vor connata erkante, er den Ursprung suchte.“* Worin besteht nun der Unterschied, auf den es Kant gegenüber Locke so ankommt?, Schon um 1769 war Kant davon überzeugt, daß die Ursache des Erwerbs von Vorstellungen in der Erfahrung liegt. In ‚R 3930* heißt es: „Zwar können wir

nur bey gelegenheit der sinnlichen Empfindungen diese Thätigkeiten des Ver-

standes in Bewegung setzen und uns gewisser Begriffe von den allgemeinen Verheltnißen abstrahirter ideen nach Gesetzen des Verstandes bewust werden; und so gilt auch hier Lockens Regel, daß ohne sinnliche Empfindung keine idee in uns klar wird; aber die notiones rationales entspringen wohl vermittelst der Empfindungen und können auch nur in application auf die von ihnen abstrahirten ideen gedacht werden, aber sie liegen nicht in ihnen und sind nicht von ihnen abstrahirt.“ Die Unterscheidung, die Kant hier trifft, ist die bekannte Unter-

scheidung aus der ‚Einleitung‘ zur 2. Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.“ (B 1) Die Erfahrung ist demnach der Grund für den Erwerb aller Vorstellungen, und für einige

Vorstellungen ist sie auch die Quelle. Die Gründe für den Erwerb und die Quelle von Vorstellungen divergieren jedoch voneinander im Falle der „notiones rationales“, wie es 1769 heißt. Sie werden durch Erfahrung erworben, aber

sie sind nicht von ihr „abstrahirt“. Durch eine genauere Betrachtung des Abstrahierens läßt sich eine allgemeine Beschreibung des Verhältnisses einer Vorstellung zu einem Erkenntnisvermögen als ihrer Quelle gewinnen. Denn der Prozeß der Abstraktion gibt über den Ursprung unserer Vorstellungen Aufschluß: „Einige Begriffe sind von den Empfindungen abstrahirt, andere blos von dem Gesetze des Verstandes, die abstrahirte Begriffe zu vergleichen, zu verbinden oder zu trennen. Der letzteren Ursprung ist im Verstande, der ersteren in den Sinnen.“? Um zu verstehen, was Kant mit Abstraktion meint, muß man von einer von

ihm vorgeschlagenen terminologischen Feststellung ausgehen. Er legt großen Wert darauf, daß man nicht etwas, sondern von etwas abstrahiert: „Nempe 2 3 4 5

R R R R

4851. 4866. 4894, 3930.

108

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

proprie dicendum esset: ab aliquibus abstrahere, non aliquid abstrahere.“® Wie

‚R 2869° deutlich macht, wendet er sich damit kritisch gegen Meier, der in seinem ‚Auszug‘ schreibt: „Wir machen einen Begriff durch die logische Ab-

sonderung (conceptus per abstractionem logicam formatus), wenn wir übereinstimmende Begriffe von verschiedenen Dingen gegen einander halten, und die

Merkmale, die sie mit einander gemein haben, allein uns deutlich vorstellen.“

Meier geht davon aus, daß wir „übereinstimmende Begriffe von verschiedenen

Dingen“ haben. Als Beispiele werden die Begriffe ‚vernünftiges Tier“ und

‚unvernünftiges Tier‘ genannt. Die Abstraktion besteht in der Identifikation

gemeinsamer Merkmale von Begriffen, also ihrer invarianter Teil-Begriffe, derentwegen sie „übereinstimmen“,

.

Wenn Kant dazu kritisch bemerkt, daß wir nicht etwas, also das gemeinsame Merkmal, sondern von etwas, also von den verschiedenen, gleichwohl überein-

stimmenden Begriffen abstrahieren, dann versteht er die Abstraktion als eine

Operation, durch die nicht eine Identität von Verschiedenem, also eine Inva-

rianz, sondern die Verschiedenheit von etwas, das mit Bezug auf etwas Identi-

sches invariant ist, hervorgehoben wird. Daher schreibt er: „An einem Begriffe ist: 1. die allgemeingültigkeit einer Vorstellung als Merkmal; 2. die abstraction von der Verschiedenheit der obiecte, an denen dies Merkmal ist.“® Die Opera-

tion der Abstraktion betrifft also dasjenige, was übereinstimmt, nicht dasjenige, worin es übereinstimmt; sie setzt die Feststellung von Invarianzen, von Kant als „reflexio“ bezeichnet?, bereits voraus. Er betont daher auch: „Durch abstraction werden keine Begriffe, sondern durch reflexion .. .“!°, .

Im Lichte dieser Überlegungen muß die Behauptung in ‚R 3930°, daß einige Begriffe von Empfindungen, andere dagegen von den Gesetzen des Verstandes abstrahiert sind, wie folgt verstanden werden: Die Begriffe sind dasjenige, worin verschiedene Empfindungen oder Gesetze des Verstandes übereinstimmen.

Dasjenige, wovon sie abstrahieren, ist dasjenige, denen sie als gemeinsames

Merkmal zukommen, oder was unter diese Begriffe fällt. Zu wissen, wovon eın Begriff abstrahiert, bedeutet also, daß man weiß, wovon er sinnvoll und kor-

rekterweise ausgesagt wird. Dieser Anwendungsbereich ist nun keineswegs die Quelle, denn diese ist ja ein Erkenntnisvermögen, also die Fähigkeit, gewisse

Arten von Vorstellungen zu haben. Als Quellen berücksichtigt Kant die Sinne und den Verstand!!. Die Sinne sind die Vermögen, Empfindungen zu haben, und diese sind eine bestimmte Art von Vorstellungen!?. Entsprechendes gilt auch vom Verstand. Die Abstraktion betrifft nach Kant ein Verhältnis von Vorstellungen zu ihren

Quellen, das wie folgt charakterisiert werden kann. Es ist erstens ein Verhältnis, 6 Dissertatio, $ 6 (AA 2.394).

7 $259 (AA 16.549f.). 8 R 2881.

9 Vgl. R 2876. 10 R 2865.

11 Vgl.R 3930. 12 Vgl. R 3958.

$ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

109

in dem nur die Vorstellungen stehen können, die von etwas abstrahieren. Solche Vorstellungen sind Begriffe. Die Quellen sind zweitens Fähigkeiten, Vorstellungen zu haben, mit Bezug auf die Invarianzen gebildet werden können. Diese Vorstellungen oder ihre Gegenstände bilden den Anwendungsbereich der Begriffe, deren Quelle diese Fähigkeiten sind. Der von Kant gegen Locke erhobene Vorwurf, er verwechsle die „Gelegenheit, zu diesen Begriffen zu Gelangen“ mit ihrer „Quelle“, beruht demnach auf der Unterscheidung zwischen der Genese

der Begriffsbildung und den Fähigkeiten, Vorstellungen zu haben, die eine Invarianz herzustellen erlauben. Die Quellen sind diese Fähigkeiten, die bei der Abstraktion vorausgesetzt werden, weil wir ohne sie keine Vorstellungen hätten. Die Gelegenheiten des Erwerbs von Begriffen sind die empirischen Bedingungen der Entwicklung und Ausübung dieser Fähigkeiten. Eine Verwechslung liegt deswegen vor, weil die Ursachen der Ausübung der Fähigkeiten nicht diese

Fähigkeiten sein können. Kant wirft Locke jedoch in ‚R 4866“ nicht nur diese Verwechslung vor; er lastet ihm auch an, daß er „nicht sicher war, ob er sie (scil. Grundsätze des

empirischen Gebrauchs) auch über die grenze der Erfahrung hinaus brauchen könnte“. Später heißt es von Locke, daß er „so inconsequent verfuhr, daß er

damit Versuche zu Erkenntnissen wagte, die weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen“ (B 127). Da Locke nach Kant als Quelle aller Erkenntnis die Erfahrung ansah, kann eine Inkonsequenz nur dann vorliegen, wenn die Quellen der Erkenntnis auch ihre Grenzen in irgendeiner Weise determinieren. Ein solcher Zusammenhang von Quellen und Grenzen ist jedem Leser Kants bekannt; denn er liegt dem Programm einer Kritik der reinen Vernunft zugrunde, die als „die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen“ der Metaphysik verstanden wird (A XI)". Um diesen Zusammenhang angemessen verstehen zu können, ist es nötig, weitere Überlegungen

Kants zu den Quellen der Erkenntnis heranzuziehen. Für seine theoretische Philosophie ist seit Beginn der siebziger Jahre eine Unterscheidung von fundamentaler Bedeutung, die er selber merkwürdigerweise als eine Erkenntnis nach der ‚Dissertatio‘ datierte, - die Unterscheidung

von „sensitiven“ und „intellectualen“ Vorstellungen!*. Wir finden sie bereits in Überlegungen, die nach Adickes’ Chronologie um 1769 angestellt worden sind.

Die Quellen dieser Vorstellungen sind einerseits die Sinne, andererseits der Verstand. Obwohl diese Unterscheidung von Quellen eine gewisse Ähnlichkeit mit

Lockes

Einteilung

der

„Fountains

of Knowledge“

in „Sensation“

und

„Reflection“ hat, ist sie doch aus zwei Gründen ganz anders zu verstehen. Der Verstand wird bei Kant - und im Unterschied zu Locke - als eine Quelle

nicht-empirischer Vorstellungen angesehen!®; und die eigentliche Pointe dieser 13 Zum Zusammenhang von Bestimmung der Grenzen und Angabe der Quellen vgl. z.B. A 758/B 786; A 238/B 297.

14 Vgl. R 5015.

15 Vgl. Essay II, 1.2./4. 16 Vgl. Krüger, Empirismus, 51ff.

110

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Unterscheidung besteht in einer Differenzierung zweier Momente von Erkenntnis, die funktional aufeinander bezogen werden und nur miteinander verbunden überhaupt Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes ermöglichen. Die Unterscheidung von „sensitiven“ und „intellectualen“ Vorstellungen bei Kant ist unabhängig von der Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung, um die es Locke ging, und läßt sich mit dieser auch nicht zur Deckung bringen. Wie Kant die Vermögen der Sinne und des Verstandes bestimmt hat, ergibt sich aus den mit dieser Unterscheidung korrelierten Unterscheidungen. Die Sinne werden als ein Vermögen der Empfindungen angesehen. Empfindung „stellet einzelne Gegenstande vor, in so fern sie die Sinne rühren, e.g. Roth, schwarz,

süß, hart, warm

etc. ...“?,

Die Beispiele verweisen

auf einfache

Empfindungsdaten, von denen die meisten zu den „secondary qualities“ gehören. Entscheidend ist, daß Empfindungen durch Einwirkung der Gegenstände auf unsere Sinne zustandekommen; sie sind Wirkungen dessen, was wir erfahren oder erleben. Demgegenüber ist der Verstand ein Vermögen von Vorstellun-

gen, die sich auf Tätigkeiten und die Gesetze, unter denen diese Tätigkeiten stehen, beziehen!$. Solche Vorstellungen haben „ihren Grund in der bestandigen natur der Denkenden Kraft der Seele“!1%, Kant meint damit nicht nur einen

besonderen Bereich von Inhalten, der etwa durch „innere Erfahrung“ zugäng-

lich ist, sondern will den Status dessen hervorheben, was durch Vorstellungen des Verstandes vorgestellt wird. Es sind Tätigkeiten des Verstandes und keine Daten; und die Vorstellungen von jenen sind nicht passiv hingenommene Erlebnisse oder Eindrücke als Wirkungen von etwas, das durch äußere oder innere Erfahrung zugänglich ist, sondern beziehen sich auf spontan von uns

ausgeübte Tätigkeiten. Vorstellungen, die nicht den Charakter der Empfindun-

gen haben, sind „reine“ Vorstellungen??; und der Verstand ist daher ein Vermö-

gen reiner Vorstellungen. Die Unterscheidung zwischen den Vermögen der Sinne und den Vermögen des Verstandes führt so zu einer Einteilung der

Vorstellungen in zwei Klassen, - in solche, die „empirisch sind, so fern sie Empfindungen voraussetzen“, und in solche, die „reine“ Vorstellungen sind, „so fern sie keine Empfindungen zum Grunde haben“?!. Diese bloß negative Charakterisierung der Vorstellungen des Verstandes muß durch den Hinweis auf ihre Inhalte, die Tätigkeiten des Denkens und ihre Gesetze, ergänzt werden. Diese Spezifikation verweist aber auf eine weitere Unterscheidung, die mit der Unterscheidung der beiden Vermögen korreliert wird, - die von Materie und

Form der Erkenntnis.

Kant schreibt: „Da alle Materialien zum Denken nothwendig durch unsere Sinne müssen gegeben seyn, so ist die Materie von unserer gesamten Erkentnis 17 R 3958 (AA 17.366.18/9), 18 Vgl. R 3930, 3988.

19 R 3957 (AA 17.364.20f.). 20 A.a.0. 21 R 3955,

61: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

111

empirisch. Eben darum müssen alle reinen Begriffe blos auf die Form der Erkenntnisse gehen.“?? Die Erkenntnisvermögen der Sinne und des Verstandes sind als Fähigkeiten, Vorstellungen zu haben, mit der Unterscheidung von empirischen und reinen oder apriorischen Vorstellungen verbunden; im Hinblick auf die zu erwerbende Erkenntnis aber werden diese Vermögen mit zwei Momenten

der Erkenntnis

korreliert, die Kant als Materie und Form

der

Erkenntnis bezeichnet. Wie er zu dieser Differenzierung kommt, machen Überlegungen deutlich, die er zu Baumgartens beiläufiger Erwähnung dieser Momente angestellt hat. Dieser hatte Form und Materie als „causae“ bestimmt??

und somit als „principia exsistentiae“ angesehen?*. Er folgte darin Wolff, der die Form als „principium actualitatis entis“ verstand, sie gleichwohl aber auch zu den „determinationes essentiales“ gerechnet hatte?, für die das allgemeine Prinzip ‚Per essentiam ens possibile est‘ gilt?”. In diesem Zusammenhang zitiert er den angeblich scholastischen Satz ‚formam dare esse rei‘, den Wolff dahingehend versteht, daß die Form der Grund dafür ist, daß „das Seiende so existiert,

wie es existiert“28, Kant greift die Formel ‚forma dat esse rei‘ in Reflexionen aus dem Jahre 1769 auf; er hat sich aber auch später immer wieder mit ihr beschäftigt??. In ,‚R 3852° heißt es: „Forma dat esse rei. nam per intellectum solummodo

formam cognoscimus.“ Kant will hier offenkundig eine Begründung für diese Formel entwickeln, die aber nicht, wie bei Wolff und Baumgarten, auf der Annahme beruht, daß die Form als „causa formalis“ für das „esse rei“ fungiert.

Denn Kant thematisiert die Frage der Erkennbarkeit der Form und versucht mit Hilfe der These, daß wir durch den Verstand die Form erkennen können, die

Formel zu begründen. Der Rekurs auf Bedingungen, unter denen wir die Form erkennen, kann aber nur dann eine solche Begründung leisten, wenn auch das „esse rei“ unter solchen Bedingungen betrachtet wird. In ‚R 3850‘ heißt es dazu: „forma dat esse rei. Denn das Wesentliche der Sache kan nur durch Vernunft erkannt werden ...“. Die Formel bringt für Kant also eine epistemologische Dependenz zum Ausdruck: das „esse rei“ können wir nur durch Verstand oder

Vernunft erkennen, und diese Erkenntnis geschieht durch die Erkenntnis der Form der Sache. In dieser epistemologischen Lesart der F“ormeli ist das Verhältnis von „forma“ und „esse rei“ keine Beziehung einer „causa“ zu dem durch sie

Bedingten; aber auch der Sinn von ‚esse rei‘ ändert sich. Es ist nicht, wie bei

Wolff und Baumgarten, die Wirklichkeit oder Existenz einer Sache, sondern ihr Wesen gemeint, das mit der Form identifiziert wird. Nicht nur der Sinn der 22 23 24 25 26 27 28

R 3957 (AA 17.364.22/5). Metaphysica, $ 345. Vgl. a.a.0., $ 307. Philosophia Prima sive Ontologia, Frankfurt 1736, $ 947. A.a.O, A.a.0.,$ 153. Vgl.a.a.O.,$ 947: „Refertur forma inter causas, quatenus est principium actualitatisentis, a quo ... pendet, ut ens tale existat ...“. 29 Vgl. Graubner, Form, 37 ff., der eine vorzügliche Darstellung des philosophie-historischen Hintergrundes der Formel und ihrer Deutung durch Kant gibt.

112

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Ausdrücke ändert sich, sondern auch die Relation, um die es geht, ist vollkommen verschieden?®. In ‚R 3850° fährt Kant fort: „nun aber muß alle Materie der Erkentnis durch Sinne gegeben seyn; also ist das Wesen der Sachen, so fern sie durch Vernunft

erkannt werden, die Form.“ Was ist hier mit ‚Materie‘ gemeint? Kant spricht von der Materie der Erkenntnis und scheint die Materie der „Sache“ im Auge zu

haben, die durch die Sinne gegeben sein muß, damit so etwas wie Erkenntnis möglich wird. Da ‚R 3850° sich auf die $$ 344/5 von Baumgartens ‚Metaphysica‘ bezieht, und Materie und Form von diesem als Bestimmungen dessen entwickelt werden, was Kant ‚Sache‘ nennt und dort ‚ens‘ heißt, ist es naheliegend, die Materie als die Materie der Sache zu verstehen. Demnach geht er aus

von einer Unterscheidung von Wesen und Materie dieser Sache und verbindet diese unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis mit den Vermögen, durch die uns die beiden Momente der Sache zugänglich sind. Kant stellt sich nun die Frage, was denn das Wesen der Sache sei, und kommt

zu dem Ergebnis, daß es die Form ist. Daß er sich diese Frage stellt, bedeutet, daß er erstens die Formel ‚forma dat esse rei‘ als einen Identitäts-Satz liest, und

daß er zweitens der Meinung ist, die Pointe des Satzes bestehe in einer Erläuterung oder Identifikation des Wesens einer Sache. Diese Erläuterung geht von der Voraussetzung aus, daß die Disjunktion von Materie und Form vollständig ist, daß also das, was nicht zur Materie einer Sache gehört, zu ihrer Form

gehört; und sie benutzt explizit ein Modell, gemäß dem wesentlich verschiedene Momente der Sache der Erkenntnis mit wesentlich verschiedenen Vermögen, durch die eine Erkenntnis der Sache möglich wird, korreliert werden.

Betrachten wir dieses Modell genauer! Kant unterscheidet die Sache und ihre Erkenntnis. Da die Sache sowohl ein Wesen besitzt als auch eine Materie hat, muß eine Erkenntnis der Sache ihr Wesen und ihre Materie erfassen. Da der Zugang zu diesen Momenten jeweils

ein anderer ist und nur aufgrund verschiedener Erkenntnisvermögen möglich ist, kann eine solche Erkenntnis nur alseine Verbindung dieser Vermögen, bzw.

ihrer Ausübung zustande kommen. Der Komplexität der Sache entspricht die Verknüpfung der Vermögen zu einer Erkenntnis; und wie eine Sache nicht nur in ihrem Wesen oder nur in ihrer Materie bestehen kann, so können wir auch keine Erkenntnis der Sache allein durch den Verstand oder durch die Sinne gewinnen. Die Sache und ihre Erkenntnis sind nur als Verbindung von Ver-

schiedenem möglich. Daher sind die Vermögen der Sinne und des Verstandes zwar verschieden voneinander, aber im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis nicht unabhängig voneinander. Denn die korrekte Ausübung dieser

Vermögen ist eine jeweils notwendige und zusammen hinreichende Bedingung für Erkenntnis. Entsprechend gilt für den Gegenstand der Erkenntnis der Sache, daß Form und Materie verschiedene Momente der Sache sind, die aber als Momente nicht unabhängig voneinander existieren.

Im Rahmen des Konzepts, das die Erkenntnis und ihren Gegenstand, die 30 Vgl. auch Graubner, a.a.0., 43.

$ 1: Der Begriff des Erkenntnisvermögens

113

Sache, zusammenhängend und in ihren Momenten korrelativ aufeinander bezogen expliziert, betrifft die Unterscheidung von Form und Materie die Sache. Wie kommt Kant dazu, sie auch auf die Erkenntnis anzuwenden? Erkenntnis

beruht auf der Ausübung der Vermögen der Sinne und des Vermögens des Verstandes. Sinnliche Vorstellungen sind Vorstellungen der Materie der Sache; die Vorstellungen des Verstandes beziehen sich auf ihre Form. Die Anwendung der Unterscheidung von Form und Materie auf die Erkenntnis führt dazu, daß jene Vorstellungen als die Materie der Erkenntnis bestimmt werden, während

diese Vorstellungen als Form der Erkenntnis angesehen werden. Wie das zu verstehen ist, wird aus ‚R 3957° deutlich: „Da alle Materialien zum Denken

nothwendig durch unsere Sinne müssen gegeben seyn, so ist die Materie von unserer gesamten Erkentnis empirisch. Eben darum müssen alle reinen Begriffe blos auf die Form der Erkenntnisse gehen.“?! Die ‚Materialien zum Denken‘ sind dasjenige an einer Sache, was durch

sinnliche Vorstellungen vorgestellt wird, - also ihre Materie. Solche Vorstellungen beruhen auf Empfindungen und werden daher als empirisch bezeichnet. Daß die „Materialien zum Denken“ durch sinnliche Vorstellungen vorgestellt werden, impliziert für Kant, daß „die Materie von unserer gesamten Erkentnis“

empirisch ist. Der Ausdruck ‚empirisch‘ bezeichnet eine Eigenschaft von Vorstellungen;

also muß

die Materie unserer Erkenntnis

eine Vorstellung oder

Vorstellungen sein. Es sind die Vorstellungen, die sich auf die Materie der Sache

beziehen. Die Materie der Erkenntnis besteht demnach in den Vorstellungen, die zu einer Erkenntnis der Sache gehören und sich auf ihre Materie beziehen. Solche Vorstellungen werden ‚Materie der Erkenntnis‘ genannt, weil sie Vor-

stellungen der Materie des Gegenstandes der Erkenntnis sind. Entsprechend gilt für die Form der Erkenntnis, daß es sich um die Vorstellungen handelt, die auf die Form des Gegenstandes der Erkenntnis bezogen sind. Da diese Vorstellungen Vorstellungen des Verstandes sind, und da Kant in ‚R 3957‘ davon ausgeht, daß die Einteilung der Vorstellungen in empirische und reine vollständig ist, müssen die Vorstellungen, die die Form der Erkenntnis ausmachen,

reine Vorstellungen sein. Die Anwendung der Unterscheidung von Form und Materie auf Erkenntnis beruht auf den Annahmen, daß der Gegenstand der Erkenntnis eine Form und eine Materie besitzt, und daß diese durch verschiedenartige Vorstellungen

vorgestellt werden, deren korrekte Verbindung eine Erkenntnis ausmacht. Die Form und die Materie einer Erkenntnis bilden die Vorstellungen, die sich auf die Form und die Materie des Gegenstandes der Erkenntnis, die Sache, beziehen.

Daß diese Vorstellungen als Vorstellungen des Verstandes und als sinnliche Vorstellungen bestimmt werden, folgt aus Kants Konzept, den Gegenstand der

Erkenntnis und seine Momente in Korrelation zu der Erkenntnis und den Vermögen, auf denen sie beruht, zu verstehen. Überblickt man Kants Theorie der Erkenntnisvermögen, soweit sie bislang entwickelt worden ist, so sind die folgenden Punkte hervorzuheben. Durch 31

AA

17.364.22/5.

114

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

diese Vermögen wollte er den Ursprung oder die Quellen der Erkenntnis bestimmen und dadurch Bedingungen von ihr ermitteln, die von den Bedingungen ihrer Genese zu unterscheiden sind. Obwohl er Lockes These zustimmt,

daß wir ohne Erfahrung keine Erkenntnisse erwerben können, ist für Kant die Erfahrung nicht die Quelle aller Erkenntnis. Mit Hilfe seines Konzepts der Abstraktion versucht er zu zeigen, daß die Vermögen der Sinne und des Verstandes zu zwei verschiedenen Arten von Vorstellungen führen, bezüglich deren Begriffe als Invarianzen fungieren können. Die Ausübung dieser Vermögen konstituiert den Anwendungsbereich solcher Begriffe. Für Kants Theorie der Erkenntnisvermögen ist nun weiterhin charakteristisch, daß er eine grund-

sätzliche Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Vermögen vornimmt: das Vermögen der Sinne und das Vermögen des Verstandes. Diese Vermögen sind Fähigkeiten, Vorstellungen zu haben, die sich nicht nur aufgrund ihrer Inhalte, sondern auch durch die Art und Weise voneinander unterscheiden, wie sie zustandekommen. Während sinnliche Vorstellungen durch

Affektion und somit als Wirkungen dessen, was wir erfahren, gebildet werden, sind intellektuelle Vorstellungen nicht Eindrücke von etwas, das auf uns einwirkt. Daher bezeichnet Kant sinnliche Vorstellungen als empirische Vorstellungen und stellt sie den intellektuellen ‚Vorstellungen als reinen Vorstellungen

gegenüber. Schließlich führt seine Theorie der Erkenntnisvermögen zu der Bestimmung zweier Momente von Erkenntnis, die als Materie und Form der Erkenntnis voneinander unterschieden werden. Die Erkenntnisvermögen spezifizieren unterschiedliche Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erkenntnis vorliegt.

Diese drei Punkte charakterisieren die Rolle und die Kern-Bedeutung von Kants Theorie der Erkenntnisvermögen. Die Theorie ermöglicht es ihm, Lockes Kritik an den angeborenen Ideen zu übernehmen und seine These von der Erfahrungaals Anfang aller Erkenntnis zu akzeptieren, ohne die Möglichkeit

einer Erkenntnis a priori auszuschließen. Durch die Unterscheidung der Vermögen der Sinne und der Vermögen des Verstandes formuliert er die Verschiedenheit von zwei Klassen von Vorstellungen, die sich nicht nur dem Inhalt,

sondern auch der Art und Weise nach, wie sie sich auf ihre Inhalte beziehen,

voneinander unterscheiden. Die Vorstellungen der Sinne sind Empfindungen, also empirische Vorstellungen, und die Vermögen der Sinne sind rezeptive Fähigkeiten; die Vorstellungen des Verstandes sind reine Vorstellungen, und der Verstand ist eine spontane Fähigkeit. Indem Kant diese Unterscheidung von Vorstellungen mit der Unterscheidung von Materie und Form der Erkenntnis

verbindet, expliziert seine Theorie der Erkenntnisvermögen Bedingungen der

Erkenntnis. Auf dem Hintergrund dieser komplexen Theorie der Erkenntnisvermögen wird der Zusammenhang verständlich, den Kant zwischen der Be-

stimmung der Grenzen der Erkenntnis und der Reflexion auf die Quellen herstellt. Indem die Betrachtung der Quellen zu einer Bestimmung der Bedingungen von Erkenntnis führt, kann sie ihre Grenzen festlegen.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

115

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes $ 2.1: Kants Position um 1780

Daß Kant seine Theorie der Erkenntnis in der Terminologie einer Theorie der Erkenntnisvermögen formuliert hat, istim Rahmen der maßgeblich durch Locke bestimmten theoretischen Philosphie des 18. Jahrhunderts nicht erstaunlich; es wäre merkwürdig, hätte er es nicht getan. Schon Hegel hat darauf hingewiesen, daß man Lockes Programm „to take a Survey of our own Understandings,

examine our own Powers, and to see to what Things they are adapted“! auch „ebenso in der Einleitung zur Kantischen Philosophie lesen könnte“?. Daß aber Kants Theorie der Erkenntniswege nicht schon deswegen nur eine „Erweiterung des Lockeanismus, welcher die Begriffe und Formen durchs Objekt gegeben werden läßt“ ist 3, habe ich im vorhergehenden zu zeigen versucht. Daß jedoch eine Deduktion der Kategorien im Rahmen einer Theorie der Erkenntnisvermögen entwickelt wird, bedarf schon deswegen einer eigenen Erklärung,

weil er weder 1775 noch 1787 die Deduktion in dieser Form vorgetragen hat. Für die „vermögenstheoretische Wende“, die sich in Kants Entwürfen zu einer Deduktion der Kategorien nach 1775 feststellen läßt und die die erste Auflage geprägt hat, gibt es wenigstens zwei Gründe. Der erste Grund liegt in Kants Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Tetens; der zweite Grund hängt

mit einer wesentlichen Veränderung des Begriffs der Apperzeption zusammen. Im Jahre 1777 erschien der erste Band der ‚Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung‘ von Tetens. Wir wissen aus verschiedenen Quellen, daß Kant sich mit ihm ausführlich beschäftigt hat. In seinem Exemplar der ‚Philosophischen Versuche‘ haben sich handschriftliche Aufzeichnungen erhalten*. In einem Brief vom 17. Mai 1779 schreibt Hamann an Herder den oft zitierten Satz: „K. arbeitet frisch drauf los an seiner Moral der (ges.) reinen Vernunft und Tetens liegt immer vor ihm.“° Am 11. Mai 1781 schreibt Kant an Herz: „Daß Herr Mendelssohn mein Buch zur Seite gelegt

habe ist mir sehr unangenehm aber ich hoffe daß es nicht auf immer geschehen seyn werde. Er ist unter Allen die die Welt in diesem Punkte aufklären könten der wichtigste Mann, und auf Ihn, Herrn Tetens und Sie, mein Werthester, habe

ich unter allen am meisten gerechnet.“* In einem Brief an Garve schreibt Kant am 7. August 1783: „Garve, Mendelssohn u. Tetens wären wohl die einzige Männer die ich kenne, durch deren Mitwirkung diese Sache in eben nichtlanger

Zeit zu einem Ziele könte gebracht werden, dahin es Jarhunderte nicht haben bringen können; allein diese vortrefliche Männer scheuen die Bearbeitung einer 1 Essay, 11.7.

2 Glaube und Wissen, in: G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke I, Stuttgart 1927, 296. 3 A.a.O., 307.

4 R 4847f.; vgl. auch Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, X. 119. 5 J. G. Hamann, Briefwechsel IV, hrsg. v. A. Henkel, Wiesbaden 1959, 81. 6

AA

10.270,

116

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Sandwüste, die, bey aller auf sie verwandten Mühe, doch immer so undankbar

geblieben ist. Indessen drehen sich die menschliche Bemühungen in einem beständigen Zirkel und kommen wieder auf einen Punct, wo sie schon einmal gewesen seyn; alsdenn können Materialien, die jetzt im Staube liegen, vielleicht zu einem herrlichen Baue verarbeitet werden.“?

Aus diesen Briefen spricht eine deutliche Wertschätzung der Werke Tetens’, die, wie die anderen angeführten Dokumente belegen, aus eigener Beschäftigung mit seinem Hauptwerk

entstanden ist. Es ist daher von besonderer

Wichtigkeit für uns, daß sich zwei Reflexionen erhalten haben - von Adickes zwischen 1776 und 1778 datiert -, die deutlich machen, wie Kant sein Verhältnis zu Tetens gesehen hat. In ‚R 4900° heißt es: „Ich beschaftige mich nicht mit

der Evolution der Begriffe wie Tetens (alle Handlungen, dadurch Begriffe erzeugt werden), nicht mit der analysis wie Lambert, sondern blos mit der

obiectiven Gültigkeit derselben. Ich stehe in keiner Mitbewerbung mit diesen Männern“. Und unmittelbar daran anschließend: „Tetens untersucht die Be-

griffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv. Jene analysis ist empirisch, diese transcendental.“ (R 4901) Die Abgrenzung, die Kant hier gegenüber Tentens vornimmt, wird mit Hilfe von Begriffen formuliert, die man ohne Zögern als die zentralen Konzepte von Kants kritischer Erkenntnistheorie bezeichnen kann. Für die Interpretation seiner Theorie des Erkenntnisvermögens ergibt sich daraus, daß sie nicht als eine „empirische“, sondern als eine „transcendentale analysis“ zu verstehen ist, daß es in ihr nicht um eine „Evolution der Begriffe“, sondern um den Nachweis

ihrer „obiectiven Gültigkeit“ geht. Kant formuliert hier das Ziel, das ihn in seiner Theorie der Erkenntnisvermögen leitet. Es geht ihm um den Nachweis

der „obiectiven Gültigkeit der Begriffe“, und zwar genauer der „Begriffe der

reinen Vernunft“, also der Kategorien; und eine solche Untersuchung wird daher als eine „obiective Untersuchung“ bezeichnet und von einer Beschäfti-

gung mit der „Evolution der Begriffe“ abgegrenzt. Kant nennt seine Betrachtung eine „transcendentale Unternehmung“. Durch diese Charakterisierung wollte er seine Überlegungen von einer Theorie der „Evolution der Begriffe“ äla Tetens abgrenzen. Es ist daher nützlich, diese Theorie zur Interpretation von Kants Theorie der Erkenntnisvermögen heranzuziehen, - um zu erfahren, was er mit ihr nicht beschreiben oder erklären wollte. Auf dem Hintergrund von und in Abgrenzung zu Tetens’ Überlegungen wird es vielleicht möglich sein, das Eigentümliche von Kants „transcendentaler Untersuchung der Begriffe der

reinen Vernunft“ zu erfassen und ihre Relevanz für die Lösung der Probleme

der Deduktion zu erkennen. Ich komme nun zu dem zweiten Grund für Kants Hinwendung zu einer Vermögens-Theorie; ich sollte vielleicht vorsichtiger sagen, daß es sich um eine Vermutung handelt, deren Triftigkeit noch unter Beweis zu stellen ist. Es geht um Kants Entdeckung der Paralogismen und ihre Konsequenzen für den Begriff der Apperzeption. Durch diese Entdeckung mußte dieser Begriff so 7 AA

10.341.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

117

gedacht werden, daß er unabhängig von der Auffassung der Substantialität einer „res cogitans“ war. Um den Zeitpunkt dieser Entdeckung einzugrenzen, ist es nötig, kurz auf Fragen der Datierung einer Metaphysik-Vorlesung Kants aus den siebziger Jahren einzugehen. Poelitz hat im Jahre 1821 „Immanuel Kants Vorlesungen über die Metaphysik zum Drucke befördert“ und dabei zwei von ihm erworbene Manuskripte verwendet. Die von ihm als „älteres“ Manuskript

bezeichnete Vorlage behandelt die Kosmologie, die Psychologie und die rationale Theologie; dieses Manuskript trägt heute die Bezeichnung ‚L;‘. Die Ontologie und die allgemeine Einleitung entnahm Poelitz dagegen einem Manuskript, das er als eine Nachschrift aus dem Jahre 1788 datierte. In einer mustergültigen textkritischen Arbeit mit dem Titel ‚Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern‘ konnte Max Heinze zeigen, daß die von Poelitz als „älteres Manuskript“ bezeichnete Handschrift zu einem Manuskript gehört, das auch eine Ontologie enthielt, die sich in Poelitz’ Nachlaß erhalten hatte, und

daß dieses Manuskript mit zwei anderen Nachschriften, K, und H, übereinstimmt. Heinze gibt gute Gründe für die Annahme an, daß alle drei Handschriften vermutlich Abschriften ein und derselben Nachschrift sind®. K, und H sind

heute ebenso verloren wie die Ontologie von L;; die anderen Teile von L;, die Poelitz zum Abdruck,

brachte, fehlten schon zu Heinzes Zeiten und sind

vermutlich in der Druckerei vernichtet worden. Wir sind also heute auf das Konglomerat, das Poelitz willkürlich zusammenstellte, und auf einige Auszüge,

die Heinze aus H als „Beilagen“ abdruckte, angewiesen. Wozu dieser philologische Aufwand? Das uns heute erhaltene Fragment ‚L,‘ einer Nachschrift einer Metaphysik-Vorlesung Kants ist eines der ganz wenigen Manuskripte, die seinen philosophischen Entwicklungsstand nach 1775 und vor 1781 beleuchten. Zuerst zur Datierung! Sie ist umstritten, aber nicht unentscheidbar. Erdmann wollte sie „nicht vor dem Winter 1773/4“ datieren?; in einem späteren Aufsatz behauptet er, daß das Manuskript „sicher nicht vor

dem Winter 1773/4 und kaum viel später nachgeschrieben ist“!%. An dieser Datierung überzeugt nur die Wahl der Jahreszeit: Kant las nämlich 1771/2 alternierend im Sommersemester Logik, im Wintersemester Metaphysik!!. Das

Wintersemester 1773/4 kommt aber nicht in Frage, weil Kant in der Vorlesung von Crusius als jemandem spricht, der bereits verstorben ist!?. Crusius war am 18. Oktober 1775 gestorben. Weiterhin findet sich der Zusammenhang von Kategorie und Einbildungskraft nicht in den sicher datierten Reflexionen um

1775. An einer eher versteckten Stelle heißt es: „... .aber eine Entdeckung wird 8 Vgl. a.a.O., 497 ff.; B. Erdmann, Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kanr’s., Philos. Monatshefte 19, 1883, 135, glaubte, daßL, undK, „Nachschriften

derselben Vorlesung Kant’s” entstammen. 9 A.a.O., 140.

10 Mitteilungen über Kant’s metaphysischen Standpunkt in der Zeit um 1774, Philos. Monatshefte 20, 1884, 65.

11 Vgl. E. Arnoldt, Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen ..., in: Gesammelte Schriften V, Berlin 1909, 174. 12 Vgl. AA 28.233; vgl. Heinze, a.a.O., 516.

118

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

man hier doch zu erwarten haben, die viele Mühe gekostet hat, und die noch Wenige wissen: nämlich die Schranken der Vernunft und der Philosophie zu erkennen und einzusehen, wie weit die Vernunft hier gehen kann.“ Die Bemerkung, daß diese Entdeckung „viele Mühe gekostet hat“, läßt vermuten,

daß sie bereits geschehen ist; und es ist klar, daß Kant auf die Ergebnisse der

ersten ‚Kritik‘ anspielt. Paul Menzer hat daher die Vorlesung unmittelbar vor 1781, in das Wintersemester 1778/9 oder in das Wintersemester 1779/80

datiert!*. Wir wissen freilich aus den Briefen, daß Kant seit 1772 häufig von

Entdeckungen und Vollendungen zu berichten weiß, ohne daß es zu dem

regelmäßig binnen Jahresfrist versprochenen Erscheinen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gekommen ist. Seine diesbezüglichen Äußerungen sind von einem Wunschdenken bestimmt und daher für eine Datierung mit Vorsicht zu benutzen. Arnoldt schlug eine Datierung zwischen Wintersemester 1778/9 und

Wintersemester 1784/5 vor, weil er aufgrund einer Erwähnung von Sulzer

schloß, das Kant von ihm als einem Verstorbenen spreche". Sulzer starb am

25. oder 27. Februar 1779, Wie Heinze durch Vergleich mitH undK, feststellen

konnte, ist diese Stelle leider korrupt, und die Lesart von Arnoldt nicht gesi-

chert!®. Heinze stellt abschließend fest: „So ist denn als Spielraum für die

Ansetzung der Vorlesungen die Zeit vom Winter 1775/76 bis Winter 1779/80 gelassen.“!? Da, wie ich noch zeigen werde, viel dafür spricht, daß die in den Vorlesungen entwickelte Theorie der Einbildungskraft von Tetens’ 1777 erschienen ‚Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung‘ abhängig ist, schlage ich als ‚terminus post quem‘ Wintersemester 1777/8 vor. Was soll dieses Gefeilsche um einige Jahre? Die Bedeutung einer genauen Datierung ergibt sich dadurch, daß Kant in dieser Vorlesung zwar die aus der „A‘-Auflage bekannte Hinwendung zu einer Theorie der kognitiven Fähigkeiten vollzogen hat, daß er aber noch nicht die sogenannten „Paralogismen der reinen Vernunft“ entdeckt hat. Er entwickelt vielmehr innerhalb der Rationalen Psychologie die Lehre von der Substantiali-

tät, Simplizität und Freiheit der Seele!®, Dieser ‚Dogmatismus‘ Kants war einer der Gründe, die Erdmann zu seiner verfehlten frühen Datierung um

1774

bewogen hatten. Wir müssen daraus umgekehrt schließen, wie ‚dogmatisch‘ Kant noch bis kurz vor 1781 gewesen sein muß. Zwei wichtige Konsequenzen sind hervorzuheben. Die Metaphysik-Vorlesung ‚L,‘, die nicht vor dem Wintersemester 1777/8 und nicht nach dem Wintersemester 1779/80 gehalten worden sein kann!?, 13 AA 28.274.26/30,.

14 Vgl. Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760-1785, Kant-Studien 3, 1899, 65.

15 Vgl. Allgemeiner Charakter der Kantschen Kollegta und sein metaphysisches Kolleg im besonderen, in: Gesammelte Schriften V, a.2.0.,57£.

16 Vgl. a.a.0,, 515f. 17 A.a.O., 516.

18 Vgl. AA 28.265. 19 Vgl. auch Lehmann, in: AA 28.1345f,

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

119

enthält noch keinen Hinweis auf die Paralogismen??; sie entwickelt aber einen Zusammenhang von Verstand und „dichtender Kraft“, den wir in ‚B 12° als

Lehre von der „transcendentalen Einbildungskraft“ wiederfinden. Die Kategorien werden als „Bedingungen und Handlungen der bildenden Kraft in abstracto genommen“ bezeichnet?!. Obwohl das Problem einer Deduktion der Katego-

rien in dem uns erhaltenen Teil der Vorlesung nicht explizit angesprochen wird, kann man aus dem Zusammenhang, den Kant zwischen Kategorien und Einbildungskraft herstellt, entnehmen, daß er dieses Problem im Rahmen seiner

Theorie der Erkenntnisvermögen lösen wollte. Das Interesse an einer solchen Theorie belegt, für sich genommen, nicht, daß Kant bereits die Paralogismen entdeckt hatte??. Aber die Ausarbeitung dieser Theorie in ‚B 12° zeigt, wie Kant einen Zusammenhang von Apperzeption und Kategorien verständlich machen will, der nicht mehr auf der Einheit eines als Substanz verstandenen denkenden Subjekts beruht. In ‚B 12° unterscheidet Kant zum ersten Mal zwischen analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption; es gibt keinen Hinweis darauf, daß diese Einheit mit dem Ich-Begriff der Rationalen Psychologie in Verbindung steht. Am Ende von ‚B 12° finden wir das Stichwort „paralogism der Urtheils-

kraft“. Der Kontext nötigt einen nicht, dies auf das zu beziehen, was 1781 als Paralogismen bezeichnet wird??, aber in Aufzeichnungen aus der Zeit von ‚Ly‘ oder ‚B 12° finden wir zum Thema ‚Paralogism‘ Überlegungen Kants?*, die die allgemeine Struktur eines Paralogismus’ am Beispiel des Ich-Begriffs der Rationalen Psychologie deutlich machen. Aufgrund der Datierung deser ‚Reflexionen‘ und des Vorkommens des Ausdrucks ‚Paralogism‘ in ‚B 12° liegt die Annahme nahe, daß Kant bei der Abfassung dieser Überlegungen die Paralogis-

men schon entdeckt hatte. Hat diese Entdeckung zu der gegenüber 1775 modifizierten Theorie der Apperzeption geführt? Eine Antwort wird sich geben lassen, wenn man diese Modifikation genauer betrachtet. $ 2.2: Kant und Tetens

In einem Brief an Marcus Herz schreibt Kant Anfang April 1778: „Die Ursachen der Verzögerung einer Schrift die an Bogenzahl nicht viel austragen wird werden Sie dereinst aus der Natur der Sache und des Vorhabens selbst wie ich hoffe als gegründet gelten lassen. Tetens, in seinem weitläuftigen Werke über die menschl. Natur, hat viel scharfsinniges gesagt; aber er hat ohne Zweifel so wie er

20 Vgl. Heinze, a.a.O., 543/5. 21

AA

28,239,

22 Es ist daher nicht verwunderlich, daß etwa Tetens, in seiner Entgegnung auf Humes Kritik des Ich-Begriffs, einen „Begriff von unserem Ich als einem Dinge” zugrundelegt (Ver-

suche, 377f.). 23 Vgl. Adickes, Kant-Studien, 183f.

24 Vgl.R 55521, 25 Vgl.R 5553 (AA 18.223.27#f.).

\

120

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

schrieb es auch drucken zum wenigsten stehen lassen.“! Kant hat also die ‚Philosophischen Versuche‘ nicht nur bald nach ihrem Erscheinen zur Kennt-

nis genommen; sein Lob zeigt auch, daß er in diesem „weitläuftigen“ Werk

Anregungen für sein eigenes Denken fand. Dies belegen ja auch die schon erwähnten Hinweise auf Tetens als einen der möglichen Bundesgenossen für die

„Veränderung der Denkart“, die durch die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zustandegebracht werden sollte?. In ‚R 4901‘ finden diese Anregungen in einer Ab-

grenzung ihren Ausdruck: „Tetens untersucht die Begriffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv.“ Um diese Abgrenzung und

Kants eigenes Vorhaben besser verstehen zu können, ist es nötig, die beiden

Arten der Untersuchung „der Begriffe der reinen Vernunft“ in einer Skizze und

in Beschränkung auf Grundsätzliches einander gegenüberzustellen und miteinander zu vergleichen. Dabei ist es sinnvoll, für die Bestimmung von Kants Ansatz einen Text zugrundezulegen, der über seine Gedanken in der Zeit der Beschäftigung mit Tetens Aufschluß gibt. Hier bietet sich ein von Heinze als Exzerpt mitgeteiltes Stück aus der Ontologie der Metaphysikvorlesung ‚L,‘ an, die m.E. nach dem Erscheinen der ‚Philosophischen Versuche‘, sicherlich aber

vor 1780 gehalten worden ist?. In diesem kurzen Text finden sich die wesentli-

chen und charakteristischen Eigenheiten einer „objektiven“ Untersuchung.

Heinze hatte die Nachschriften dieser Vorlesung noch vollständig vor Augen und berichtet, daß der von ihm ausgezogene Text aus dem Kapitel ‚Vom obersten Principio der menschlichen Erkenntnis‘ stammt, in dem es - in Heinzes Worten - um „das oberste Principium der Synthesis“ geht. Um dies zu

ermitteln, stellt Kant eine grundsätzliche Betrachtung zum Begriff der Erkennt-

nisan: „Alle Gegenstände der Erkenntniss sind Gegenstände der Erfahrung, und

was kein Gegenstand der Erfahrung ist, was uns nicht durch die Sinne gegeben ist, das ist auch kein Gegenstand für uns. Die Erfahrung ist also der Inbegriff

aller unserer Gegenstände.“* Der Auszeichnung der Erfahrung als der einzigen Art der Erkenntnis entspricht die Einschränkung der Gegenstände der Er-

kenntnis auf die Gegenstände der Erfahrung, die ihren Grund in einer epistemologischen Konzeption des Begriffs des Gegenstandes, wie sie in dem Terminus ‚Gegenstand für uns‘ zum Ausdruck kommt, hat. Diese Konzeption - so Kants Überzeugung - ermöglicht es, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Er-

kenntnis zu korrelieren. In einem zweiten Schritt wird nun der Begriff der Erfahrung als der Begriff

einer komplexen Erkenntnis in seine Momente analysiert und nach den „allge-

meinen Bedingungen“ von Anschauung des Gegenstandes und seinem Begriff 1 AA 10.232; vgl. auch W. Uebele, Tetens, Berlin 1911, 184 ff.

2 Vgl. S. 15/6.

3 AA 28.185ff.; De Vleeschauwer, Deduction 1, 299, spricht von einer „heterogeneite fondamentale entre les essais de Tetens et la future Critique“, unterläßt es aber, die wesentli chen Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen herauszuarbeiten.

4 AA

28.187.10/3.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

121

gefragt. Sie bestehen in Raum und Zeit einerseits und in den Relationskategorien andererseits. Diese Bedingungen sind „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung“, weil sie allgemeine Bedingungen sind, unter denen die beiden Momente von Erfahrung stehen. Kant schließt seine Überlegung mit einer Erläuterung des Status’ dieser Bedingungen ab: es handelt sich um Bedingungen a priori, weil sie sich aus einer Reflexion über Bedigungen einer bestimmten Art von Erkenntnis, sofern diese durch „uns“, durch das „menschliche Gemüth“

gegeben sind, ergeben; und es sind „objective“ Bedingungen, weil sie aufgrund der erwähnten Korrelation Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis sind. Versucht man das Eigentümliche dieses Gedankengangs zu charakterisieren, so wird man zumindest die folgenden Punkte hervorheben. Kant geht es erstens um eine bestimmte Art von Erkenntnis, die er ‚Erfahrung‘ nennt. Er verbindet zweitens die Erkenntnis mit dem Gegenstand der Erkenntnis in der Weise, daß die Bedingungen jener mit den Bedingungen von diesen korreliert werden können. Diese Bedingungen sind drittens Bedingungen der Möglichkeit, also Bedingungen, die notwendigerweise von etwas erfüllt werden. Kant bestimmt

diese Bedingungen viertens durch eine Reflexion auf die Voraussetzungen, unter denen Erkenntnis als eine kognitive Leistung steht, die durch „uns“, durch Ausübung der Fähigkeiten des „menschlichen Gemüths“ erbracht wird. Um eine solche Argumentation als ein Beispiel für eine „obiective“ Untersuchung der „Begriffe der reinen Vernunft“, wie Kant in ‚R 4901‘ sein Vorgehen beschreibt, verstehen zu können, ist es nötig, einen Blick auf Tetens zu werfen.

Im Kontrast zu dessen Überlegungen wird das Besondere von Kants Untersuchung deutlich. Die - in seinen Worten - Theorie der „Evolution der Begriffe“

finden wir in dem vierten Versuch seiner ‚Philosophischen Versuche über die menschliche Natur‘, der den Titel ‚Über die Denkkraft und über das Denken‘ trägt. Es handelt sich um Tetens’ Analyse jener „allgemeinen Bedingungen,

unter denen wir nur allein von Gegenständen einen Begriff haben können“. Das übergeordnete Ziel dieser Analyse ist es, „den Umfang und die Grenzen des menschlichen Verstandes aus einem neuen Gesichtspunkt“ zu bestimmen®.

Die Betrachtung der „menschlichen Erkenntnißkraft“ führt zu einer Unter-

scheidung dreier Vermögen oder „Elementar-Aktionen“”, die als Gefühl, als Vorstellungskraft und als Denkkraft bezeichnet werden®. Die ersten beiden „einfachen Ingredenzien der menschlichen Erkenntnißkraft“ sind im Zusammenhang von Humes Unterscheidung von „impressions“ und „ideas“ zu sehen und sollen hier nicht weiter betrachtet werden. Die Denkkraft ist für Tetens ein „Vermögen der Seele, womit sie Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen erkennet“?. Die Beziehung zwischen diesem Vermögen und dem Thema, das 5 AA 28.187.20/2. 6 Versuche, 326. 7

A.a.O., 416.

8 Vgl. a.2.0., 290; 415f. 9 A.a.O,, 287.

122

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Erkenntnisse als Leistungen dieses Vermögens haben, - die Verhältnisse zwischen den Dingen - wird kausal verstanden. Die „Wirkungen“ der Denkkraft sind „Verhältnisbegriffe“!%; und die „Verhältnißgedanken sind überhaupt Wirkungen in uns von einer innern Thätigkeit, die wir als den Aktus des Urtheilens ansehen, und der Denkkraft zuschreiben“!!. Das Programm, „den Umfang und die Grenzen des menschlichen Verstandes“ zu bestimmen, führt so - zumindest

was die Analyse der Denkkraft im Rahmen dieses Programms angeht - zu einer Betrachtung der Ursachen, deren Wirkungen Verhältnisbegriffe und Verhältnisgedanken sind!?. Diese Ursachen werden als der „Ursprung der Verhältnisbegriffe“ angesehen?, In der Betrachtung dieses Ursprungs geht Tetens, wie sein Vorbild Locke, von dem nominalistischen ‚Credo‘ aus, daß nur Einzelnes gegeben, das Allgemeine aber „gemacht“ ist. Die Verhältnisbegriffe sind allgemeine Begriffe und

müssen daher in ihrer Genese auf „einzelne individuelle Verhältnisideen“ zurückgeführt werden!*. Als Beispiel dafür nennt er dies: „Die zwey Bücher, die

vor mir liegen, sind verschiedene Bücher. Hier sind einzelne Empfindungsideen

von den beiden Sachen, und zwischen diesen ist eine bestimmte einzelne Verschiedenheit, von der ich eine Vorstellung habe. Ich fasse das Buch mit meiner Hand an, und hebe es in die Höhe. Hier ist eine Ursache und eine

Wirkung, und eine ursachliche Verbindung zwischen ihnen, von der ich eine Vorstellung habe.“!5 Diese Vorstellung ist die Vorstellung einer Beziehung

zwischen Dingen, und eine solche Vorstellung zu haben, ist ein Denken, - eine Außerung oder Wirkung der „Denkkraft“. Wir haben es hier mit einem „Aktus des Denkens“ zu tun, der zu den „ersten ursprünglichen Verhältnißgedanken“

gehört!®. Wie ist diese Auszeichnung zu verstehen? Ist es ein „erstes ursprüngli-

ches Verhältniß“, das hier gedacht wird? Oder handelt es sich um ein „erstes

ursprüngliches“ Denken von Verhältnissen? Auch wenn das von Tetens gewählte Beispiel eine positive Antwort auf die

erste Frage nahelegt, lassen sich seine Überlegungen nur aufeine Beantwortung der zweiten Frage beziehen. Denn die individuelle Besonderheit der Beziehun-

gen begründet nicht, daß diese Beziehungen „erste ursprüngliche Verhältnisse“ sind, sondern bezieht sich auf die Priorität des Denkens einzelner Verhältnisse vor dem abstrakten Denken von Verhältnissen im allgemeinen. Die Auszeichnung der Vorstellungen solcher Verhältnisse als „erste ursprüngliche Verhält-

nißgedanken“ besagt daher, daß das Denken einzelner Beziehungen zwischen einzelnen Dingen als „Ursprung von Verhältnisbegriffen“ bestimmt wird. Einen solchen Ursprung anzugeben besagt nicht, daß man eine Erklärung der

Möglichkeit oder Existenz solcher Begriffe gibt; es bedeutet auch nicht, daß das 10 A.a.O., 295; 299, 333 ,, 337, 11 A.a.O., 460.

12 Vgl. a.2.0., 291. 13 14 15 16

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

293. 294. 294f, 295.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

123

Denken solcher Begriffe auf ein Denken zurückgeführt wird, das sich nicht solcher Begriffe bedient. Es besagt vielmehr, daß das Denken von Verhältnissen zwischen Dingen mit dem Denken einzelner Beziehungen zwischen einzelnen Dingen beginnt. Diesen Ursprung anzugeben ist keine Erklärung des Terminus’ ‚Verhältnis‘, noch wird damit die Möglichkeit des Denkens von Verhältnissen

begründet. Tetens glaubt, daß „die ersten Aktus der Denkkraft sich in jedem Menschenverstande finden, und nach gewissen nothwendigen Gesetzen der Denkvermögen, bey gewissen Umständen und Erfordernissen in den Empfindungen und

Vorstellungen erfolgen“!7. Die intersubjektive Allgemeinheit und Notwendigkeit der „ersten Verhältnißgedanken“ wird von ihm nicht weiter begründet; er

würde sich vermutlich auf die von Locke entlehnte „beobachtende Methode“!®

berufen und auf „die Empfindungen von den ersten Verhältnißgedanken“ verweisen!?. Daß Tetens den Beginn des Denkens von Verhältnissen als den „Ursprung der Verhältnißbegriffe“ ansieht, erklärt sich dadurch, daß Begriffe eine besonder Art von Vorstellungen sind, die erst dann zur Verfügung stehen, wenn wir nicht nur Verhältnisse denken, sondern uns auch bewußt sind, daß

wir sie denken, und dieses bewußte Denken mit Hilfe von Worten sprachlich artikulieren und durch Abstraktion in das Denken allgemeiner Verhältnisbe-

griffe verwandelt haben?0. Die Beschreibung dieses Prozesses braucht uns hier nicht im einzelnen zu interessieren; sie betrifft die Art und Weise, wie wir Verhältnisse denken, und gibt keinen Aufschluß darüber, weshalb wir so denken

und nicht anders denken können. Für Tetens war diese Theorie des „Ursprungs der Verhältnisbegriffe“ eine

Bestätigung und Präzisierung des „Erfahrungssatzes, daß alle Ideen und Begriffe aus Empfindungen entstehen“?!. Die Theorie war eine Bestätigung dieses Satzes, weil sie diesen Ursprung

in den „ersten Verhältnißgedanken“

sah, die als

unmittelbares Denken „in jedem Menschenverstande“ anzutreffen sind??, - als ein instinktives Organisieren der Empfindungen einzelner Dinge. Die Theorie war eine Präzisierung, weil die Genese der Verhältnisbegriffe von Empfindungen ausgeht, die durch Reflexion auf unsere „innern Selbstgefühle“ zugänglich

werden??. Empfindungen sind also für Tetens, der darin ganz und gar Locke

folgt, nicht nur äußere Empfindungen. Jene „ersten Verhältnißgedanken“ sind

faktisch gegebene Empfindungen, die wir als „innere Selbstgefühle“ durch Reflexion beobachten können; und es ist die Verarbeitung solcher Empfin-

dungen, die uns schließlich zu Verhältnisbegriffen führt. In den Worten von Tetens: „Der Aktus des Denkens und des Urtheilens muß in seinen unmittelbaren, leidentlichen, eine Weile daurenden Wirkungen gefühlet und empfunden 17

A.a.O., 301.

18 A.a.O., IIL 19

A.a.0., 301.

20 Vgl. a.a.0., 302f. 21 22 23

A.a.O., 327. A.a.O., 301. A.a.O., 329.

124

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

werden; und diese gefühlte Modifikation hat ihre Nachempfindung, und hinter-

läßt ihre reproducible Spur. Da ist die Vorstellung, und also der Stoff zu der Idee von dem Gedanken, der abgesondert, gewahrgenommen und unterschieden, eine Jdee von dem Verhältnißgedanken, und also ein Verhältnisbegrif wird.“2* Vergleicht man mit dieser Analyse der Denkkraft Kants objektive Untersuchungen der „Begriffe der reinen Vernunft“, wie er sich in ‚„R 4901‘ ausdrückt,

so wird man als eine Gemeinsamkeit festhalten können, daß beide Philosophen eine Theorie des Erkenntnisvermögens entwickeln, um „Umfang und Grenzen“ unserer Erkenntnis bestimmen zu können. Diese Gemeinsamkeit teilen sie

mit den „kritischen“ Bemühungen der Philosophie der Neuzeit. Die Unter-

schiede, die zwischen Tetens und Kant bestehen, betreffen sowohl den Status

der Theorien als auch ihre Themen und ihre wichtigsten Ergebnisse. Kant erörtert das „menschliche Gemüth“, um „allgemeine Bedingungen“ der Er-

kenntnis in den Griff zu bekommen. Diese Bedingungen sollen als notwendige Bedingungen fungieren, ohne die die Möglichkeit der Erkenntnis und ihrer Gegenstände nicht zu denken ist. Demgegenüber betrachtet Tetens die „mensch-

liche Erkenntnißkraft“ unter dem Gesichtspunkt einer kognitiven Psychologie, die sich mit der Entwicklung unseres Denkens beschäftigt. Die von ihm festgestellten „ersten ursprünglichen Verhältnisgedanken“

sind durch die zeitliche

Priorität ihres Erwerbs ausgezeichnet. Kant bezeichnet eine solche Untersuchung mit guten Gründen als eine Theorie der „Evolution der Begriffe“?°, die

deswegen „subjectiv“ ist, weil sie sich mit dem Erwerb und der Ausübung von

Denkfähigkeiten beschäftigt, und Fragen nach dem Status und Probleme der Erklärung dessen, was gedacht wird, gar nicht gestellt werden. Das Denken von Verhältnisgedanken, nicht diese Gedanken selber sind das Thema von Tetens; und die intersubjektive Geltung und Notwendigkeit dieses Denkens und seine

Inhalte werden schlicht vorausgeserzt?7. Kant geht aus von einem bestimmten Begriff von Erkenntnis und thematisiert unsere Erkenntnisfähigkeiten unter dem Gesichtspunkt, daß sie Aufschluß über allgemeine Bedingungen jeder Erkenntnis geben. Tetens dagegen be-

schreibt unsere Erkenntnisfähigkeiten, indem er sie auf „Elementar-Aktionen“ zurückführt, deren Verbindung zu einer Erkenntnis weitgehend unbestimmt bleibt2®. Ihn beschäftigen nicht notwendige Bedingungen der Erkenntnis, son-

dern „erste Wirkungen unserer Denkkraft“; nicht die Geltung gewisser Bedin-

gungen für jede mögliche Erkenntnis, sondern die Genese des Erwerbs und der

Ausübung unserer kognitiven Fähigkeiten und genetische Prioritäten sind sein

Thema. Kant hat seine Beschäftigung mit der „obiectiven Gültigkeit“ von Begriffen oder Bedingungen der Erkenntnis als eine „transcendentale analysis“ 24 A.a.O., 330. 25 Vgl. dazu auch Riehl, Kritizismus, 239f. 26

R 4900.

27 Vgl. Versuche, 301: „Die ersten Aktus der Denkkraft finden sich in jedem Menschenver-

stande, und erfolgen nach gewissen nothwendigen Gesetzen der Denkvermögen ...“.

28 Vgl. z.B. a.a.O., 327 ff,

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

125

bezeichnet und von Tetens’ „empirischer“ Untersuchung abgegrenzt??. In einer Reflexion aus dieser Zeit wird die Transzendentalphilosophie als eine „Wissenschaft“ bezeichnet, „welche den Gebrauch der reinen Vernunft in Ansehungdes

empirischen überhaupt zeigt“?°. „Gebrauchs der reinen Vernunft“ Voraussetzung von Tetens nicht dem Erwerb von Begriffen auch

Da eine transzendentale Untersuchung des voraussetzt, daß es Begriffe a priori gibt, diese gemacht wird und gemäß seiner Frage nach gar nicht angenommen werden kann, ist es

klar, daß dieser keine transzendentale Untersuchung

anstellen konnte und

wollte. Die Frage nach dem „Gebrauch der reinen Vernunft in Ansehung des empirischen überhaupt“ stellte sich für ihn gar nicht. Aber Tetens kann sich diese Frage auch gar nicht stellen, weil er nicht nach den Bedingungen von Erkenntnis

fragt. Denn

es ist dieses Verhältnis, was mit dem

Ausdruck

‚in

Ansehung‘ angezeigt wird: es geht um den Gebrauch der reinen Vernunft, sofern er Bedingung der Möglichkeit des empirischen Gebrauchs ist. Verbindet man die Abgrenzung von empirischer und transzendentaler Untersuchung mit der thematischen Unterscheidung von subjektiver Genese und objektiver Gültigkeit von Begriffen, so läßt sich das Besondere von Kants Überlegungen dadurch charakterisieren, daß er die objektive Gültigkeit reiner Begriffe durch eine transzendentale Untersuchung ermitteln will. Der Nachweis dieser Gültigkeit besteht in dem Nachweis, daß die Begriffe „in Ansehung des empirischen

überhaupt“ von Bedeutung sind. Für die Interpretation von Kants Theorie der Erkenntnisvermögen, sofern diese im Kontext einer transzendentalen Untersuchung zur objektiven Gültigkeit reiner Begriffe steht, folgt daraus, daß es ein Irrtum ist, wenn man sie für eine quasi-empirische psychologische Theorie hält. Sie handelt nicht von einem „imaginary subject of transcendental psychology“?!, sondern thematisiert in

einer vermögenstheoretischen Terminologie Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Eine Theorie, in der Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption als „drei ursprüngliche Quellen“ (A 94) fungieren, ist von Kant nicht als eine wenn auch nur - spekulative psychologische Theorie unseres Erkenntnisvermögens konzipiert, sondern sie ist für ihn eine transzendentale Theorie. Dies ergibt sich nicht nur dadurch, daß er von einer transzendentalen Einbildungs-

kraft und einer transzendentalen Apperzeption spricht, sondern es wird auch durch die Einführung jener „Quellen“ deutlich. Von ihnen heißt es, daß sie „die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten“ (A 94), und sie werden als die „drei subjectiven Erkenntnißquellen, worauf die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt und Erkenntniß der Gegenstände derselben beruht“ (A 115), bezeichnet. Was aber sind solche Erkenntnisquellen, wenn man sie transzendental versteht, oder wenn die Begriffe von ihnen in einer transzendentalen Theorie vorkommen? In ‚B 25° heißt es: „Ich nenne alle Erkenntiß transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart 29 30

R 4901. R 4897,

31

Strawson, Bounds, 97.

126

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ Eine transzendentale Theorie ist demnach eine Theorie, deren Thema nicht durch einen bestimmten Gegenstandsbereich definiert ist, sondern die sich mit „unserer Erkenntnisart“ beschäftigt. Ihr Thema ist die Erkenntnis a priori von

Gegenständen, ihre Aufgabe die Erklärung der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis. Transzendentale Theorien sind also keine deskriptiven, sondern explikative Theorien; und die Begriffe, die in solchen Theorien vorkommen, dienen nicht der Klassifikation und Identifikation irgendwelcher Objekte und

ihrer Beschaffenheiten, sondern geben Bedingungen und Gesichtspunkte für die Erklärung einer bestimmten Art von Erkenntnis an. Kants Theorie von transzendentalen Vermögen darf nicht in einer schwer nachvollziehbaren Analogie zu einer kognitiven Psychologie verstanden werden; die transzendentale Einbildungskraft oder die transzendentale Apperzeption sind eigentlich keine deskriptiv zu erfassenden psychologischen Vermögen, sondern sie fungieren als

Bedingungen und Momente der Analyse und Erklärung einer bestimmen „Er-

kenntnisart“. Eine solche Theorie formuliert in einer vermögenstheoretischen Terminologie notwendige Bedingungen einer Erkenntnis, die als ein Zusammenspiel der spezifischen Leistungen unserer kognitiven Vermögen verstanden wird. Damit ist ein Rahmen skizziert, innerhalb dessen Kants vermögenstheo-

retische Lösung des Problems der Deduktion der Kategorien, die wir in ‚B 12°,

aber auch in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ finden, zu sehen ist.

$ 2.3: Einbildungskraft und Einheit der Apperzeption Nachdem wir Kants Konzept einer transzendentalen Theorie der Erkenntnis-

vermögen kennengelernt und durch einen abgrenzenden Vergleich mit Tetens’ Überlegungen genauer umrissen haben, können wir uns jetzt der in ‚B 12° entwickelten Lehre der kognitiven Fähigkeiten zuwenden. Kant unterscheidet

„drey erste Vermögen“!, dieals „Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Apperception“ bestimmt werden?. Er betont, daß sie „nicht weiter erklärt werden können“. Ist dies der Grund, weshalb sie als „erste Vermögen“ bezeichnet werden? In ‚A‘ heißt es: „Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüths abgeleitet werden können,

nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperception.“* Daß diese drei Vermögen

nicht erklärt werden können, besagt demnach, daß man sie nicht aus anderen Vermögen „ableiten“ kann. Was Kant damit meint, ergibt sich durch einen Vergleich mit dem Verstand, der als die „Einheit der apperception im Verhältnis 1 AA 23.18.12. 2 AA

23.20.3.

3 A.a.O., 3/4.

4 A 94,

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

127

auf das Vermögen der Einbildungskraft“ definiert wird?. Ein Vermögen aus anderen „abzuleiten“, besagt also, den Begriff dieses Vermögens mit Hilfe von Begriffen anderer Vermögen zu erklären oder zu definieren. Die „drey ersten Vermögen“ können nicht erklärt werden, weil die Begriffe dieser Vermögen nicht in dieser Weise zu definieren sind. Daß die Vermögen aber erste Vermögen sind, folgt nicht aus der Systematik einer Vermögenslehre, sondern ist durch

ihre Rolle für die Möglichkeit der Erkenntnis begründet. In ‚A‘ werden die Vermögen als „ursprüngliche Quellen .. ., die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten“ beschrieben®. Weil die Vermögen diese Bedingungen enthalten, sind sie „erste Vermögen“. Die Möglichkeit der Erfahrung muß mit Hilfe dieser Vermögen verständlich gemacht werden. Da diese Möglichkeit eine bestimmte Art von Erkenntnis betrifft, sind diese Vermögen als Momente oder Bedingungen einer solchen Erkenntnis anzusehen; und weil sie nicht aus ande-

ren Vermögen „abgeleitet werden können“, müssen diese Bedingungen irreduzibel sein. Die Erkenntnis, die ‚Erfahrung‘ genannt wird, besteht also in einer

Verbindung von unterschiedlichen und nicht weiter reduzierbaren Momenten. Betrachten wir nun Kants in ‚B 12° vorgetragene Analyse dieser Momente, so fällt sogleich auf, daß er zur Sinnlichkeit keine Ausführungen macht. Das „Lose Blatt“ gehört in einen Kontext, in dem die „Tranzendentale Ästhetik“ bereits

vorliegt und abgeschlossen ist. Es beschäftigt sich allein mit Einbildungskraft und Apperzeption und erörtert ihren Zusammenhang, indem es verschiedene

Arten von Einbildungskraft unterscheidet und mit der Einheit der Apperzeption korreliert. Ich beginne mit Kants Überlegungen zur Einbildungskraft, die ganz allgemein als ein Vermögen der Synthesis gefaßt wird. Wirft man einen Blick auf seine Erörterung des „sinnlichen Erkenntnißvermögens“ in der Metaphysik-

Vorlesung ‚L;‘, so fällt folgendes auf. Dort hatte Kant die Einbildungskraft als einen besonderen Fall der „facultas fingendi“, der „bildenden Kraft“ bezeichnet und als das Vermögen beschrieben, „Bilder aus sich selbst, unabhängig von der

Wirklichkeit der Gegenstände hervor zu bringen, wo die Bilder nicht aus der Erfahrung entlehnt sind“. Im Unterschied zu den Vermögen der Sinne selber, die uns Eindrücke liefern, ist die Einbildungskraft ein Vermögen von Vorstellungen oder Erkenntnissen, die nicht schlicht gegeben, sondern „gemacht“ sind®. Der Terminus ‚Synthesis‘ ist ein allgemeiner Titel für die Aktivitäten, die „gemachten Vorstellungen“ zugrundeliegen; und es scheint mir, daß Kant in ‚B 12° durch eine Differenzierung des allgemeinen Konzepts ‚Synthesis‘ die

Unterscheidungen neu zu formulieren und in systematischer Anordnung zu generieren sich bemüht, die er in jener Vorlesung im Anschluß an die kognitive Psychologie seiner Zeit entwickelt hatte. Die Einbildungskraft tritt so in ‚B 12° an die Stelle des allgemeinen Vermögens der „bildenden Kraft“ aus ‚L,‘, 5 6 7 8

AA 23.18.3f.; vgl. A 98; A 115. A 94; vgl. auch R 5636 (AA 18.267.13/6). AA 28.237. AA 28.230f.

128

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

das all die Vermögen „sinnlicher Erkenntnis“ unter sich faßte, die zwar unter den Bedingungen der Sinne stehen, aber nicht nur darin bestehen, daß man Eindrücke hat. So wird verständlich, daß Kant in ‚B 12° Vermögen wie das der

empirischen Synthesis der Apprehension oder der reproduktiven Einbildungskraft als besondere Arten der Einbildungskraft abhandelt, die in ‚L,‘ als besondere Fälle der „bildenden Kraft“ - „facultas formandi“ und „falcultas imaginandi“ - neben der „Einbildungskraft“ beschrieben wurden. Die Unterschei-

dung des „sinnlichen Erkenntnißvermögens“ in „das Vermögen der Sinne selbst“ und in „die nachgeahmte Erkenntniß der Sinne“, die „aus der Spontaneität des

Gemüths entspringen“®, wird in ‚B 12° durch die Differenzierung von Sinnlichkeit und Einbildungskraft aufgenommen. Die Einbildungskraft, als ein Vermögen der Synthesis sinnlich gegebener Vorstellungen verstanden, wird in eine produktive und reproduktive Einbildungskraft eingeteilt: „Die Einbildungskraft ist ein synthesistheils eine productive theils reporductive. Die erste macht die letzte möglich denn haben wir es nicht vorher in Vorstellung durch die synthesis zu Stande gemacht so können

wir diese auch nicht mit andern in unserm folgenden Zustande verbinden. “!°

Die reproduktive Einbildungskraft ist ein Vermögen, verschiedene Vorstellungen nach dem Gesetz der Assoziation zu verbinden. In ‚L,‘ war dieses Vermö-

gen, sofern es um die Verbindung früherer Vorstellungen mit gegenwärtigen geht, als Vermögen der Imagination bezeichnet und so beschrieben worden:

„Das zweite Vermögen ist das Vermögen der Nachbildung, nach welchem mein Gemüth die Vorstellungen der Sinne aus den vorigen Zeiten herbeizieht, und sie mit den Vorstellungen der gegenwärtigen verknüpft. Ich reproducire die Vorstellungen

der vergangenen

Zeit durch

die Association,

nach

welcher

eine

Vorstellung die andere herbeizieht, weil sie mit ihr in Begleitung war.“!! In der ‚Anthropologie‘ von 1798 wird die Assoziation der Vorstellungen auch auf zukünftige Vorstellungen ausgedehnt!2, und es scheint, daß Kant in ‚B 12° so allgemein von Vorstellungen „in unserem folgenden Zustand“ spricht, daß

beiden Möglichkeiten Rechnung getragen werden kann.

Der Zusammenhang von reproduktiver und produktiver Synthesis der Ein-

bildungskraft wird von Kant am Beispiel des empirischen „Gebrauchs der Einbildungskraft“ aufgezeigt, der „auf der synthesis der Apprehension der empirischen Anschauung“ beruht. Die Apprehension „geht unmittelbar auf Erscheinung“!* und betrifft das, was „ gegeben ist“!5, Sie wird hier als das Haben von Eindrücken angesehen, das durch die Affektion unserer Sinnesorgane zustandekommt. Die empirische Anschauung ist eine Synthesis der Apprehension; sie besteht nicht darin, daß man irgendwelche Eindrücke hat, sondern ist

9 10 11 12 13 14 15

AA28.230. AA 23.18.21/4. AA 28.236. Vgl.$ 34 (AA 7.182). AA 23.18.15f. R 5221. R 5203.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

129

eine organisierte, erfassende Wahrnehmung. In ‚L,‘ hatte Kant das Vermögen einer solchen Wahrnehmung als „facultas formandi“, als „Vermögen der Abbil-

dung“ bezeichnet und dazu bemerkt: „Mein Gemüth ist jederzeit beschäftiget, das Bild des Mannichfaltigen, indem es es durchgeht, sich zu formiren. Z.E. wenn ich eine Stadt sehe, so formirt sich das Gemüth von dem Gegenstande, den es vor sich hat, ein Bild, indem es das Mannichfaltige durchläuft... Es sind

also viele Erscheinungen von einer Sache nach den verschiedenen Seiten und Gesichtspunkten. Aus allen diesen Erscheinungen muß das Gemüth, indem es sie alle zusammen nimmt, sich eine Abbildung machen.“!® Die empirische Anschauung formiert Eindrücke zu Bildern einer Sache und beruht daher auf einer Synthesis der Apprehension. Sofern die Einbildungskraft ganz allgemein eine Synthesis gegebener Vorstellungen ist, versteht man den von Kant heraus-

gestellten Zusammenhang von empirischer Anschauung und Einbildungskraft. Wie aber kommt es zu einer produktiven Synthesis der Einbildungskraft? Kant führt sie anhand

des Beispiels ein, daß eine empirische Anschauung

„nach

analogie“ einer anderen gemacht wird!”. Dies bedeutet, daß die „Synthesis der Apprehension der empirischen Anschauung“ nicht co ipso eine produktive

Synthesis der Einbildungskraft ist. Andererseits behauptet Kant ganz allgemein, daß die „productive Einbildungskraft.. . . empirisch in der apprehension“ ist!®. Der Terminus ‚produktive Einbildungskraft‘ wird also sowohl für den besonderen Fall „analoger Übertragung“ - vielleicht in Anlehnung an die Terminologie von ‚L,‘ - als auch für die allgemeine Gattung des Vermögens der

Synthesis gegebener Vorstellungen, zu deren Arten die produktive empirische Einbildungskraft gehört, verwendet. Was die These, die produktive Synthesis der Einbildungskraft mache ihre reproduktive Syntesis möglich, betrifft, ist wohl das letztere gemeint. Wir assoziieren nicht Eindrücke, sondern zu Abbildern von Sachen organisierte Wahrnehmungen miteinander. Daher beruht die reproduktive Synthesis der Assoziation auf der Synthesis der Apprehension der empirischen Anschauung. Die Betrachtung des Bedingungsverhältnisses, das zwischen produktiver und reproduktiver Synthesis der Einbildungskraft besteht, hat uns bereits zu einer Betrachtung des „empirischen Gebrauchs der Einbildungskraft“ genötigt. Es scheint mir, daß man diesen Gebrauch mit dem identifizieren muß, was Kant

‚die produktive empirische Einbildungskraft‘ nennt. Zu diesem Vermögen gelangt er im Rahmen einer Einteilung, die zwischen empirischer, reiner und transzendentaler Einbildungskraft unterscheidet. Der erste Fall ist nichts anderes als die „Synthesis der apprehension“!?. Die Apprehension ist die Fähigkeit, Eindrücke durch Affektionen unserer Sinnesorgane von Seiten der Gegenstände zu haben. Die Anschauung, die sich durch solche Empfindungen auf ihren Gegenstand bezieht, ist die empirische Anschauung. Die produktive Einbil16 17 18 19

AA AA AA AA

28.235f. 23.18.17. 23.18.25. 23.19.4.

130

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

dungskraft ist demnach dann empirisch, wenn sich ihre Synthesis auf Empfindungen bezieht, wenn sie zu dem Bild eines empirischen Gegenstandes führt. ‚Empirisch‘ heißt die produktive Einbildungskraft, weil sie sich auf Empfin-

dung bezieht. Sie ist das Vermögen einer Synthesis gegebener Eindrücke zu der Abbildung einer Sache, die als Gegenstand einer empirischen Anschauung fungiert.

.

Entsprechend wird die produktive Einbildungskraft ‚rein‘ genannt, wenn sie

„in Ansehung eines Gegenstandes der reinen sinnlichen Anschauung“ ausgeübt

wird?°; sie „bringt nichts als Gestalten hervor“, d.h. Bilder von Konfigurationen der reinen Anschauungen?!. Kant bezieht sich hier auf seine Theorie der Formen der Anschauung und ihre Anwendung auf Mathematik und Geometrie. Diese Einbildungskraft ist „rein aber sinnlich“22, weil sie sich auf die reinen Formen sinnlicher Anschauung, Raum und Zeit, bezieht. Weil diese Formen Bedingungen empirischer Anschauung sind, und weil jede Synthesis von Er-

scheinungen unter den formalen Bedingungen einer solchen Anwendung steht, sieht Kant die „reine productive Einbildungskraft“ als Voraussetzung der emp1rischen an. Ihr Verhältnis zueinander entspricht dem zwischen den Formen der

Anschauung und den Gegenständen empirischer Anschauung; und sie unterscheiden sich aufgrund des Status’ dessen, von dem die produktive Einbildungskraft jeweils ein Bild entwirft. Die transzendentale produktive Einbildungskraft wird als dritter Fall erwähnt: sie ist „transcendental in Ansehung eines Gegenstandes überhaupt“ ??, und ihre „transcendentale Synthesis... geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft“?*, Es ist klar, daß wir diesen Fall und sein Verhältnis zu den vorigen nur dann verstehen können, wenn wir die Beziehung zwischen der Unterscheidung von Empirisch und Rein und dem Begriff des Transzendentalen erfaßt haben. Diese Unterscheidung betrifft eine Einteilung von Erkenntnissen im Hinblick darauf, daß sie durch Erfahrung oder unabhängig von ihr begründet werden können; auf das Vermögen der Einbildungskraft bezogen differenziert diese Unterscheidung zwischen Anwendungen dieses Vermögens in Bereichen von empirischer und reiner Erkenntnis. So wird eine produktive Einbildungskraft ‚rein‘ genannt, weil sie sich auf einen Objekt-Bereich bezieht, über den wir nach Kant reine Erkenntnisse haben. Demgegenüber bezieht sich der Terminus ‚transzendental‘, wie Kant uns immer wieder erinnert, auf eine „Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll“2. ‚Transzendental‘ kann demnach nur das genannt werden, was zur Analyse einer solchen Erkenntnisart beiträgt. Wenn Kant nun von einer ‚transcendentalen Synthesis der

20

AA 23.18.26f.

21 A.a.0.,Z.31. 22 23 24 25

A.a.O., Z. 26. A.a.O., Z. 27f. A.a.O., Z. 31/34. B25.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

131

Einbildungskraft‘ spricht, so kann dies nur dann berechtigt sein, wenn eine solche Synthesis im Rahmen einer solchen Analyse ausgewiesen werden kann. Die drei von Kant unterschiedenen Fälle von produktiver Einbildungskraft stehen daher nicht auf derselben Stufe: die empirische und die reine produktive Einbildungskraft beziehen sich auf die Anwendungen dieses Vermögens im Bereich empirischer und reiner Vorstellungen oder Erkenntnisse, während die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft zur Analyse und Erklärung der Möglichkeit einer Erkenntnisart gehört. Sie ist nicht deswegen transzendental,

weil sie die Anwendung dieses Vermögens im Bereich transzendentaler Erkenntnis hervorheben soll, sondern weil sie die Rolle der Einbildungskraft in der Analyse einer bestimmten Erkenntnisart bezeichnen soll. Was Kant über

diese Einbildungskraft sagt, darf daher nicht im Hinblick auf eine Einteilung und Charakterisierung von Erkenntnissen verstanden werden, sondern muß auf eine Analyse oder Erklärung von Erkenntnissen, genauer: von Erkenntnissen a priori bezogen werden. Ich werde im folgenden von dieser Einschränkung vorerst absehen. Es ist, wie sich noch zeigen wird, in diesem Status der trans-

zendentalen Einbildungskraft begründet, daß sie als Voraussetzung sowohl für die empirische als auch für die reine produktive Einbildungskraft fungiert. Eine genauere Betrachtung dieses Status’ erfordert es, auf den Zusammenhang von Einheit der Apperzeption und transzendentaler Synthesis der Einbildungskraft

einzugehen. \ Um diesen Zusammenhang verstehen zu können, muß man Kants Außerungen zum Verhältnis von Einbildungskraft und Apperzeption im ganzen vor Augen haben. Seine Bemerkungen berühren drei verschiedenen Themenkomplexe. In ‚B 12° wird, soweit ich sehe, zum ersten Male zwischen analytischer

und synthetischer Einheit der Apperzeption unterschieden. Diese Unterscheidung wird mit der Unterscheidung von reproduktiver und produktiver Einbildungskraft korreliert. Zweitens versucht Kant, den Verstand durch ein „Verhältnis“ von Einheit der Apperzeption und Einbildungskraft zu erklären; und schließlich wird drittens das Konzept einer transzendentalen Einbildungskraft

eingeführt, das in Verbindung mit der Einheit der Apperzeption den „Begriff vom Gegenstand überhaupt“ verständlich machen soll. Welcher Zusammen-

hang besteht zwischen diesen Themen? Wie sind sie im einzelnen zu verstehen? Man wird diese Fragen nicht allein auf der Textgrundlage von ‚B 12° beantworten können; denn dieses ‚Lose Blatt‘ ist zu kurz und skizzenhaft. Ich werde daher auch Überlegungen heranziehen, die wir in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ finden, die, in der Fassung der ersten Auflage, in demselben Jahr nieder-

geschrieben wurde. Kant schreibt: „Die Einheit der apperception im Verhältnis auf das Vermögen

der Einbildungskraft ist der Verstand. “2% Was für ein Verhältnis ist gemeint? An anderer Stelle spricht er von der „Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft.“?” Das „Verhältnis“ von 26 AA 23.18.3f. 27 A.a.O., Z. 32/4,

132

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Einheit der Apperzeption und Einbildungskraft besteht zuerst einmal darin,

daß die Synthesis gegebener Vorstellungen durch die Einbildungskraft eine Synthesis ist, „in“ der die Einheit der Apperzeption ist, d.h., die unter der Bedingung dieser Einheit steht. Jene Synthesis betrifft also Vorstellungen, die ein Subjekt hat, das weiß, daß sie es hat, und daß es dasselbe Wesen ist, dem

diese seine Vorstellungen zukommen. Das Konzept der Einheit der Apperzeption verbindet, wie wir aus den Überlegungen um 1775 schon wissen, den Gedanken eines identischen Subjekts für eine Mannigfaltigkeit von Vorstellun-

gen mit der Annahme, daß dieses Subjekt um seine Identität weiß. Der Gedanke der Einheit der Apperzeption „im Verhältnis“ auf die Einbildungskraft ist eine Anwendung dieses Konzepts auf den Fall einer Mannigfaltigkeit der Vorstellungen eines Subjekts, die durch die Synthesis der Einbildungskraft verbunden wird. Diese Synthesis steht unter der Bedingung, gemäß der Vorstellungen überhaupt vorkommen können, - unter der Bedingung der Einheit der Apperzeption. Ich lasse vorerst einmal außer acht, daß Kant die so charakterisierte Synthesis

als den Verstand bestimmt, und wende mich vielmehr der Überlegung zu, daß die schon besprochene Unterscheidung zwischen produktiver und reproduktiver Synthesis der Einbildungskraft mit. einer Differenzierung der Einheit der Apperzeption in eine synthetische und in eine analytische zu korrelieren ist.

Diese Überlegung bleibt formelhaft und vage, da Kant weder eine Erklärung der analytischen noch eine der synthetischen Einheit der Apperzeption gibt. Ich beschränke mich auf den Zusammenhang dieser Einheit mit dem produktiven Vermögen der Einbildungskraft, da er für das Folgende wichtig ist28. Über das „Verhältnis“ der synthetischen Einheit der Apperzeption „auf“ dieses Vermögen gibt diese Bemerkung eine Auskunft: „Das Manigfaltige kan aber nicht

durchgängig zu einer apperception gehören als vermittelst einer durchgängigen synthesis der Einbildungskraft u. den Functionen derselben in einem Bewustseyn.“ Die synthetische Einheit der Apperzeption ist nicht eine besondere Art von Einheit, die ein Subjekt, das Vorstellungen hat, und das weiß, daß es sie hat, aufweisen muß; sie ist vielmehr eine Einheit, die nur aufgrund einer Synthesis von Vorstellungen möglich ist. Diese Einheit erfordert eine Synthesis und deswegen wird sie als synthetische Einheit bezeichnet. In ‚A“ behauptet Kant,

daß aus dem „Grundsatz von der Einheit der Apperzeption in Anschung aller Erkenntnisse, die mir angehören sollen,“ folgt, daß „alle Erscheinungen so ins

Gemüth kommen oder apprehendirt werden, daß sie zur Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, welches ohne synthetische Einheit in ihrer Ver-

knüpfung, die mithin auch objektiv nothwendig ist, unmöglich sein würde.“

(A 122). Es wird demnach durch den genannten Grundsatz ausgeschlossen, daß

eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen oder Erkenntnissen „mir angehören“ 28 Zur analytischen Einheit der Apperzeption vgl. B 133f. Anm.; dazu Reich, Vollständigkeit, $ 3; Stuhlmann-Laeisz, Logik, 83. 29

AA

23.19.21/3.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

133

kann, ohne daß diese Vorstellungen synthetisch miteinander verbunden sind. Die Einheit der Apperzeption im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen eines Subjekts besagt also nicht nur, daß es dasselbe Subjekt ist, das diese Vorstellungen hat, und daß das Subjekt um seine Identität weiß, sondern diese Einheit erfordert auch eine Verbindung der Vorstellungen. Aus ihr ergeben sich nicht nur die Implikationen der Selbstzuschreibung von Vorstellungen, sondern auch eine bestimmte Art ihrer Verbindung, - eine „synthetische Einheit in

ihrer Verknüpfung“. Diese Einheit resultiert aus einer Synthesis, für die in ‚B 12° die Einbildungskraft in Anspruch genommen wird. Auf diese Weise wird deutlich, was Kant mit dem „Verhältnis“ von syntheti-

scher Einheit der Apperzeption und dem produktiven Vermögen der Einbildungskraft gemeint hat. Eine Begründung dieses angenommenen Verhältnisses ist bislang nicht gegeben worden. Es ist also nicht erklärt worden, weshalb die Einheit der Apperzeption eine Synthesis erfordert. Eine solche Begründung findet sich in ‚B 12° auch nicht; und, um sie geben zu können, wäre es nötig,

zentrale Argumente der Deduktion der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zu entwickeln. Aber angenommen, eine stichhaltige Begründung könne gegeben werden, dann stellt sich für die Interpretation von ‚B 12‘ immer noch die Frage, weshalb Kant die synthetische Einheit der Apperzeption mit dem produktiven Vermögen der Einbildungskraft als dem Vermögen verbindet, durch das die durch die Einheit der Apperzeption geforderte Synthesis zustandekommt. Denn die Einbildungskraft ist ja eo ipso ein Vermögen der Synthesis?®. Weshalb ist also eine produktive Synthesis erforderlich? Darauf gibt es zwei Antworten. Diese Synthesis ist erstens die fundamentale Art von Synthesis, da die reproduktive Synthesis der Einbildungskraft ihre produktive Synthesis voraussetzt. Angewandt auf die Unterscheidung von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption, besagt dies, daß Kant schon in ‚B 12° die These vertritt, daß die analytische Einheit der Apperzeption ihre synthetische voraussetzt. Man muß zweitens darauf hinweisen, daß Kants Verwendung von

„produktiver Einbildungskraft“ schillernd ist: der Terminus bezeichnet zum einen den besonderen Fall, den er in ‚L,‘ als Einbildungskraft beschrieben hatte,

zum anderen eine allgemeine Fähigkeit, die in empirische, reine und transzendentale differenziert wird. Der von Kant behauptete Zusammenhang von synthetischer Einheit der Apperzeption und produktiver Einbildungskraft betrifft jene Fähigkeit im allgemeinen, die als ein Vermögen der Synthesis gedacht wird. Obwohl Kants Explikation der synthetischen Einheit der Apperzeption so unvollständig ist und sich in flüchtigen Hinweisen erschöpft, wird eine wesentliche Intention seiner Überlegungen deutlich. Die Einheit der Apperzeption wird nicht, wie 1775, in der Einheit einer Substanz begründet, sondern sie dient dazu, Bedingungen anzugeben, unter denen Vorstellungen stehen, sofern sie „in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können“ (B 132). Die Einheit der Apperzeption ist synthetisch, weil gegebene Vorstellungen nur dann bewußte Vorstellungen sein können, wenn sie synthetisch in einem Be-

30 Vgl. AA 23.18.21f.

134

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

wußtsein verbunden sind. Da die Einheit der Apperzeption ein Bewußtsein der

Identität eines Subjekts mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen ist, müssen die Regeln, unter denen ihre Synthesis steht, von diesem Bewußt-

sein her verständlich gemacht werden und können nicht mehr, wie 1775, durch Rekurs auf die ‚realen‘ Relationen des als Substanz verstandenen Subjekts gewonnen werden, das als ‚Träger‘ seiner Vorstellungen fungiert. Darauf zielt der Versuch Kants, den Verstand durch ein „Verhältnis“ von Apperzeption und Einbildungskraft zu bestimmen. Auf dieses zweite der vorher von mir erwähnten Themen kommt Kant gleich im ersten Satz von ‚B 12° zu sprechen: „Die Einheit der apperception im Verhältnis auf das Vermögen der Einbildungskraft ist der Verstand.“ Da dieses Vermögen entweder das produktive Vermögen ist,

oder dieses dem reproduktiven Vermögen zugrundeliegt, ist diese Einheit entweder die synthetische Einheit der Apperzeption oder setzt diese voraus. Weshalb ist das Verhältnis dieser Einheit zur produktiven Einbildungskraft der

Verstand? Was ist hier überhaupt mit ‚Verstand‘ gemeint?

Daß Kant sich im Rahmen einer transzendentalen Theorie sogenannter „Erkenntnisvermögen“ um eine explizite Definition des Verstandes bemüht und daher diesen nicht zu den „drey ersten.Vermögen“, die „nicht zu erklären sind“?! gerechnet hat, zeigt nicht nur die entsprechende Definition des „reinen Verstandes“ in ‚B 122, sondern ergibt sich auch aus ‚A‘, wo wir eine entsprechende Definition des Verstandes und des reinen Verstandes finden??, und wo

von den „drei subjectiven Erkenntnißquellen“ gesagt wird, daß sie „selbst den Verstand und durch diesen alle Erfahrung als ein empirisches Product des Verstandes möglich machen“. Wie ist diese Erklärung des Verstandes zu deuten? " In der ‚B 12° zeitlich nahestehenden Metaphysik-Vorlesung ‚Lı‘ wird der Verstand als „das obere Erkenntnisvermögen“ bezeichnet. Es heißt dort: „Das obere Erkenntnißvermögen heißt es darum, weil in ihm die Spontaneität betrachtet wird, da in dem untern Erkenntnißvermögen die Passivität war. Das obere Erkenntnißvermögen wird auch der Verstand, im allgemeinen Verstande, genannt. In dieser Bedeutung ist der Verstand das Vermögen der Begriffe, oder auch das Vermögen der Urtheile, aber auch das Vermögen der Regeln. Alle diese drei Definitionen sind einerlei; .. .“35. Der Verstand als oberes Erkennt-

nisvermögen wird als eine Fähigkeit zu bestimmten kognitiven Leistungen beschrieben. Es ist eine „operative“ Bestimmung des Verstandes, -in der Tradition der Theorien unserer kognitiven Fähigkeiten in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In ‚L,‘ findet sich aber noch eine andere Bestimmung des Verstandes; sie lautet: „Der Verstand ist aber das Vermögen, Dinge zu erkennen, so wie sie sind.“ Und es heißt weiter: „Wie kann ich aber Dinge 31 AA 23.18.12.

32 Vgl. a.a.0., Z. 6/8.

33 Vgl.A 119.

34 A 9ITE, 35 AA 28.240,

36 A.a.O., 240f.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

135

erkennen, so wie sie sind? Entweder durch Anschauung oder Begriffe. Der menschliche Verstand ist nur ein Vermögen, Dinge zu erkennen, so wie sie sind,

durch Begriffe und Reflexion, also bloß discursiv. Alle unsere Erkenntnisse sind nur logisch und discursiv, aber nicht ostensiv und intuitiv. Wir können uns aber einen Verstand denken, der die Dinge erkennt, so wie sie sind, aber durch

Anschauung. Ein solcher Verstand ist intuitiv. Es kann einen solchen Verstand geben; nur der menschliche ist es nicht.“?” Der menschliche Verstand ist also ein

Vermögen der Erkenntnis der Dinge durch Begriffe. Diese Bestimmung Verstandes ist eine epistemologische Bestimmung: sie spezifiziert die Art Erkenntnis, die dem Menschen möglich ist. Für Kant war eine Erkenntnis Dinge durch Begriffe nur dann möglich, wenn sich diese Erkenntnis auf

des von der den

Gegenstand durch Anschauung bezieht oder beziehen läßt: „Alle unsere Er-

kenntniß bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen; denn durch diese allein wird ein Gegenstand gegeben.“?® Der Verstand als ein diskursives Vermögen der Erkenntnis der Dinge bedarf daher wesentlich einer Ergänzung:

er muß auf die Anschauung oder auch nur mögliche Anschauung bezogen werden. Erst aufgrund dieser Ergänzung ist er ein Vermögen der Erkenntnis von Dingen.

Im Kontext dieser epistemologischen Bestimmung des Verstandes muß die in ‚B 12° gegebene Erklärung gesehen werden. Der Verstand ist das Vermögen

einer begrifflichen Erkenntnis von Dingen, die anschaulich gegeben sind. Wenn das Vermögen zu solchen Erkenntnissen nun durch das Verhältnis der synthetischen Einheit der Apperzeption zu der produktiven Synthesis der Einbildungskraft erläutert werden soll, so wird diese Erläuterung sowohl den Zusammenhang von Anschauung und Begriff als auch jedes dieser beiden Momente betreffen. Ich verstehe die von Kant intendierte Erklärung des Verstandes dahingehend, daß jener Zusammenhang durch das fragliche Verhältnis von synthetischer Einheit der Apperzeption zur Einbildungskraft erklärt werden soll, und daß die beiden Komponenten jeder Erkenntnis mit Hilfe dieser beiden Relata verständlich gemacht werden sollen. Indem Kant die Komponenten der Erkenntnisse des Verstandes von diesen Relata her begreifen will, wird die begriffliche Komponente einer solchen Erkenntnis in der synthetischen Einheit der Apperzeption begründet, während die Beziehung auf Anschauung dadurch.

hergestellt wird, daß es gegebene Vorstellungen sind, die als bewußte Vorstellungen synthetisch verbunden werden müssen. Die Einheit der Apperzeption

des erkennenden Subjekts und synthetische Verbindungen gegebener Vorstellungen, - diese beiden Momente bilden das Fundament aller Erkenntnis von

anschaulich gegebenen Dingen durch Begriffe. Weil die Momente wechselseitig voneinander abhängig sind, müssen sich begriffliche und anschauliche Komponente zu der Einheit der Erkenntnis verbinden. Orientiert man sich an der Rolle, die Kant den Vermögen der Apperzeption und der Einbildungskraft zuschreibt, so wird man genötigt, diese Vermögen als 37 A.a.0., 241. 38 A 719%B 747; vgl. A 19/B 33.

136

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

Bedingungen zu verstehen, durch die die Möglichkeit der Erkenntnis verständlich gemacht werden soll. Dies bedeutet aber, diese Vermögen als transzendentale Bedingungen oder, wie Kant sich ausdrückt, als transzendentale Vermögen

anzusehen. Dies geschieht - und damit komme ich zu dem dritten der oben erwähnten Themen - im Rahmen seiner Überlegungen zum Verhältnis von

transzendentaler Einbildungskraft und synthetischer Einheit der Apperzeption und der Folgerungen, die er aus diesem Verhältnis für den Verstand und seine Begriffe zieht. Kant schreibt: „Die transcendentale Synthesis der Einbildungskraft geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft.“? Die transzendentale Einbildungskraft war zuvor als ein besonderer Fall der produktiven Einbildungskraft bestimmt worden, die „transcendental in Ansehung eines Gegenstandes überhaupt“ ist‘. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen

der Synthesis gegebener Vorstellungen. Als ein

transzendentales Vermögen verstanden, formuliert dieses Vermögen eine Be-

dingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Welche Bedingung dies ist, ergibt sich durch das, worauf das transzendentale Vermögen

geht, - „die Einheit der

Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbil-

dungskraft“. Wie verhält sich diese Einheit zu einer solchen Synthesis? An anderer Stelle heißt es: „Das Manigfaltige kan aber nicht durchgängig zu einer

apperception gehören als vermittelst einer durchgängigen synthesis der Einbil-

dungskraft u. den Functionen derselben in einem Bewustseyn.“*! Zwischen der Einheit der Apperzeption und der Synthesis der Einbildungskraft besteht also ein Bedingungsverhältnis. Eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen gehört nur dann zur Einheit der Apperzeption, wenn diese Vorstellungen durch eine Synthesis der Einbildungskraft verbunden sind. Wenn Kant von einer Einheit der Apperzeption „in“ der Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft spricht, so ist dieses Bedingungsverhältnis gemeint, das wir unter dem Titel ‚synthetische Einheit der Apperzeption‘ bereits kennengelernt haben. Der Zusammenhang von Einheit der Apperzeption und Synthesis der Einbildungskraft besteht also darin, daß verschiedene Vorstellungen nur dann Vorstellungen eines Subjekts, das weiß, daß es sie hat, und daß es dasselbe ist für alle seine Vorstellungen, sind, wenn diese Mannigfaltigkeit durch die Synthesis der Einbildungskraft verbunden ist. Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft ist eine Synthesis, die als eine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis verstanden wird. Sie ist, transzendental verstanden, eben die Synthesis, die die Zugehörigkeit einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zu einer Apperzeption erfordert. Das Konzept einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft bringt demnach den Zusammenhang von Apperzeption und Synthesis, den wir aus Kants Lehre der synthetischen Einheit der Apperzeption kennen, zum Ausdruck und weist ihm die Rolle zu, daß es sich um eine Bedingung der 39 AA 23.18.31/4. 40 A.a.O., Z. 27f. 41 AA 23.19.2173.

$ 2: Die Transzendentale Untersuchung der Begriffe des reinen Verstandes

137

Möglichkeit von Erkenntnis handelt. Diese Rolle wird jedoch erst aus der Konsequenz deutlich, die er mit jenem Konzept verbindet. Kant schreibt: „Dadurch wird ein Begrif vom

Gegenstande überhaupt ge-

dacht nach den verschiedenen Arten der transcendentalen Synthesis.“*? Wodurch wird ein Begriff des Gegenstandes gedacht? Kurz vorher heißt es: „Die productive Einbildungskraft ist 1. empirisch in der apprehension 2. rein aber sinnlich in Ansehung eines Gegenstandes der reinen sinnlichen Anschauung. 3. transcendental in Ansehung eines Gegenstandes überhaupt... .“®. Das Vermögen der Einbildungskraft, transzendental verstanden, formuliert eine Bedin-

gung der Möglichkeit von Erkenntnis. Durch diese Bedingung ergibt sich etwas

über dasjenige, was als Gegenstand der Erkenntnis anzusehen ist, da die Bedin-

gungen der Möglichkeit der Erkenntnis Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstands der Erkenntnis sind. Wir haben gesehen, daß die transzendentale Einbildungskraft als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis einen Zusammenhang von Synthesis gegebener Vorstellungen und Einheit der Apperzeption formuliert. Dieser Zusammenhang besteht darin, daß die Synthesis der Einbildungskraft eben die Synthesis gegebener Vorstellungen ist, die für ihre Zugehörigkeit zu einer Apperzeption gefordert wird. Wenn durch diesen Zusammenhang ein Begriff vom Gegenstand der Erkenntnis gedacht wird, dann beruht der Begriff auf den Voraussetzungen, die den genannten Zusammenhang ausmachen: Synthesis gegebener Vorstellungen und Einheit der Apperzeption in der oben erläuterten Verknüpfung. Soll aber gemäß diesen Voraussetzungen der Begriff des Gegenstands der Erkenntnis gedacht werden, so muß der Gegenstand der Erkenntnis von dem Zusammenhang von Synthesis gegebener Vorstellungen und Einheit der Apperzeption her verstanden werden. Kant hat versucht, dieses Projekt zu präzisieren und zu realisieren, indem er die transzendentale Einbildungskraft zum Fundament des Verstandes und seiner Begriffe gemacht hat. Der Verstand ist ein Vermögen, anschaulich gegebene Gegenstände durch Begriffe zu erkennen. Die Begriffe des Verstandes, die Kategorien, sind allgemeine Formen solcher begrifflichen Erkenntnis, von denen Kant sagt: „Die transcendentale Synthesis der Einbildungskraft liegt allen unsern Verstandesbegriffen zu Grunde“**. Das besagt nicht nur, daß diese

Begriffe eine solche Synthesis voraussetzen, sondern sie sollen auch nichts anderes sein als die Spezifikation jener Synthesis. Als transzendentale Synthesis der Einbildungskraft verbindet sie die Synthesis gegebener Vorstellungen mit der Einheit der Apperzeption in der Weise, daß die Synthesis als notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit gegebener Vorstellungen zur Einheit der Apperzeption gedacht wird; und die Kategorien spezifizieren die verschiede-

nen Formen einer solchen transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft. Denn der Begriff des Gegenstands einer Erkenntnis wird „nach den verschiede-

42 AA 23.18.34/6. 43 A.a.0., 2 25/8. 44 A.a.0.,Z. 13f.

138

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

nen Arten der transcendentalen Synthesis“ gedacht”; und „die Categorien sind nichts anders als Vorstellungen von Etwas (Erscheinung) überhaupt so fern es durch transc. Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt wird... .“*6. Dies bedeutet, daß die Kategorien Vorstellungen eines Gegestands der Erkenntnis sind, die aufgrund des Zusammenhangs von Synthesis gegebener Vorstellungen und der Einheit der Apperzeption gebildet werden. Anders formuliert: die durch die Einheit der Apperzeption geforderte Synthesis gegebener Vorstellungen, die zu einer Apperzeption gehören, führt zu den allgemeinen Formen begrifflicher Erkenntnis anschaulich gegebener Dinge. Die beiden Momente, die Kant

im Konzept der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft miteinander verbindet, die Synthesis gegebener Vorstellungen und die Einheit der Apperzeption, sind die Grundlage seiner Auffassung von den Kategorien. Die allgemeinen Formen der begrifflichen Erkenntnis anschaulich gegebener Dinge spezifizieren die Verbindung jener beiden Momente; und wann immer wir eine solche Verbindung haben, ist sie von der Art, daß sie diese Formen instanziiert. Gegebene Vorstellungen, die aufgrund einer Synthesis zu einer Apperzeption gehören, müssen eine begriffliche Erkenntnis eines anschaulich gegebenen Dinges sein; und umgekehrt: jede solche Erkenntnis ist ihrer Form nach eine Spezifikation der Synthesis gegebener Vorstellungen, die zu einer Apperzep-

tion gehören.

Dies führt zu einem neuen, gegenüber 1775 veränderten Verständnis der Kategorien. Während sie damals als „Funktionen der Apperzeption“, die sich aus den ‚realen‘ Relationen eines Subjekts zu seinen Vorstellungen ergaben,

gedacht wurden, sind sie jetzt Formen der Synthesis gegebener Vorstellungen.

Als bewußte Vorstellungen müssen sie synthetisch verknüpft sein, und die

Kategorien als Formen solcher Synthesis ergeben sich durch die Notwendigkeit dieser Synthesis. Die beiden transzendentalen Vermögen Einbildungskraft und

Apperzeption werden von Kant als Vermögen der Verbindung gegebener Vor- ,

stellungen gedacht, die im Hinblick auf die Formen der Verbindungen konvergieren sollen*. Die Kategorien fungieren als Schemata der Kooperation dieser Vermögen oder, sofern man sie als Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis versteht, als die Formen, in denen der Zusammenhang solcher unterschiedlichen Bedingungen realisiert wird. Die Kategorien werden von ihrer Rolle her verstanden, die sie für eine Erkenntnis haben, die uns durch das Zusammenspiel dieser Bedingungen möglich wird; sie beschreiben nichtmehr die Formen realer Beziehungen zwischen einem als Substanz gedachten Subjekt und seinen Vor-

stellungen.

45 A.a.O., 2. 35f. 46 AA 23.19.8/10. 47 Vgl. AA 23.18.32.; 19.4f.

$ 3: Die Deduktion der Kategorien in ‚B 12°

139

$3: Die Deduktion der Kategorien ın ‚B 12‘

Das Argument, das in ‚B 12° als eine Deduktion der Kategorien zu bezeichnen ist, findet sich in einem zusammenhängenden Abschnitt, dessen letzter Satz ‚also stehen alle Erscheinungen als Elemente möglicher Erkenntnis (Erfahrung) unter den Categorien‘ ohne Mühe als Konklusio einer Deduktion zu erkennen ist!. Die beiden folgenden Absätze kommentieren wichtige Prämissen des Arguments. Ich werde zuerst die Struktur des Arguments kurz skizzieren und dabei Prämissen und Folgerungen einzeln aufzählen; eine kritische Betrachtung schließt sich an. (1) Alle Erscheinungen, die mich angehen, können in der Apperzeption angetroffen werden.

(2) Alles, was in der Apperzeption angetroffen werden kann, wird durch die Einbildungskraft verbunden.

(3) Die Synthesis der Einbildungskraft stimmt mit der Einheit der Apperzeption überein. (4) Also: alle Erscheinungen, die Elemente einer möglichen Erkenntnis sind, stehen unter der transzendentalen Einheit der Synthesis der Einbildungskraft. (5) Die Kategorien sind Vorstellungen von Erscheinungen, die gemäß der

Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt werden. (6) Also: Alle Erscheinungen, die Elemente einer möglichen Erkenntnis sind, stehen unter den Kategorien.

Für die Interpretation des Arguments ist es sinnvoll, von einer formalen Gliede-

rung auszugehen. Es enthält zwei Folgerungen - die Sätze (4) und (6) - und einen Satz, den man vielleicht ‚Definition‘ nennen könnte, (5). Der Satz (4) soll sich aus (1)-(3) ergeben, während (6) direkt aus (4) folgt, gegeben (5). Kant fügt Bemerkungen hinzu, die als Erläuterungen zu (1), (2) und (5) anzusehen sind. Ich werde im folgenden die Prämissen einzeln und in ihrem Zusammenhang innerhalb des Arguments besprechen. Der Satz (1) lautet ausführlicher so: „Alle Erscheinungen gehen mich nicht in so fern an als sie in den Sinnen sind sondern als sie wenigstens in der appercep-

tion können angetroffen werden.“? Verstehe man Erscheinungen als empirische Vorstellungen, bzw. als dasjenige, wovon sie Vorstellungen sind, so behauptet Kant hier, daß solche Vorstellungen nicht deswegen meine Vorstellungen sind und insofern „mich angehen“, weil sie durch die Sinne gegebene Vorstellungen sind. Diese Gegebenheit kann nicht erklären, daß ich sie als meine Vorstellun-

gen ansehe. Die Möglichkeit der Selbstzuschreibung von Vorstellungen ergibt

sich vielmehr dadurch, daß es sich um bewußte Vorstellungen handelt. In der Erläuterung schreibt Kant: „Alle Anschauungen sind nichts vor uns wenn sie

1 AA 23.19.1/12. 2 A.a.0.,Z.1/3.

140

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

nicht ins Bewußtseyn aufgenommen werden.“ Vorstellungen, die „mich ange-

hen“, müssen bewußte Vorstellungen sein. Wir wissen bereits aus den Überle-

gungen um 1775, daß Kant der erste gewesen ist, der die ich-theoretischen Implikationen des Begriffs der bewußten Vorstellungen gesehen und ihnen durch sein Konzept der Apperzeption Rechnung getragen hat. (1) formuliert

diesen Zusammenhang.

Ich komme nun zu dem in (2) formulierten Zusammenhang von Apperzeption und Einbildungskraft, dem eigentlichen Novum von ‚B 12°. Kant beschreibt diesen Zusammenhang auch mit den folgenden Worten: „Das Manigfaltige kan aber nicht durchgängig zu einer apperception gehören als vermittelst einer durchgängigen synthesis der Einbildungskraft u. den Functionen derselben in einem Bewußtseyn.“* Die „durchgängige“ Synthesis der Einbildungskraft ist

demnach erforderlich, damit das Mannigfaltige „durchgängig“ zu einer Apper-

zeption gehört. Dieses Mannigfaltige ist die Gesamtheit meiner Vorstellungen,

die nicht nur stückweise und mit Lücken, sondern insgesamt und vollständig zur Einheit der Apperzeption gehören sollen. Weshalb verlangt aber eine solche

Fugehörigkeit eine Synthesis, insbesondere eine Synthesis der Einbildungsraft?

Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß Kant in ‚B 12° keine Begründung für die zentrale und gegenüber 1775 ganz neue Behauptung gibt, daß Vorstellung en

nur dann als bewußte Vorstellungen angesehen werden können, wenn sie synthetisch miteinander verbunden sind. Auf seine Argumente, die er in ‚A‘ für

diese Behauptung anführt, soll hier nicht eingegangen werden. Akzeptiert man

diese Behauptung, so ist zu fragen, weshalb die Synthesis als Synthesis der Einbildungskraft bestimmt wird. Die Synthesis betrifft Vorstellungen, die Vor-

stellungen von Erscheinungen sind; es handelt sich um eine Synthesis gegebe-

ner Vorstellungen, und in diesem allgemeinen Sinne ist die Synthesis der Einbildungskraft zu nehmen. Zur Begründung von (2) ist also anzuführen, daß eine Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen einem Subjekt, das diese Vor-

stellungen als seine Vorstellungen hat und sich als etwas Identisches mit Bezug

auf diese weiß, nur in der Weise zukommen kann, daß diese Vorstellungen in

einer synthetischen Einheit der Apperzeption vorkommen; und weiterhin gilt,

daß diese Einheit eine Synthesis der gegebenen Vorstellungen erfordert, die in ‚B 12° als Synthesis der Einbildungskraft bezeichnet wird.

Der Satz (3) ist eine interpretierende Paraphrase von Kants Behauptung, daß

»diese mit der absoluten Einheit der apperception stimmen muß“. Das Pronomen ‚diese‘ kann sich auf ‚Einbildungskraft‘ oder auf ‚Synthesis‘ beziehen. Da er aber in der Conclusio (4) von der „transcendentalen Einheit der synthesis der

Einbildungskraft“ spricht und in der Erläuterung auf die „durchgängige syn-

thesis der Einbildungskraft“ mit „dieser transcendentalen Einheitin der Synthe3 A.a.O., Z. 13/4.

4 A.a.O., Z. 21/3. Es ist mir nicht klar, ob Guyer, und wenn ja, mit welchen Gründen er mit

Berufung auf‚B 12° behauptet, daß die Einheit der Apperzeption „requires a synthesis which

is a priori and independent of the particular empirical syntheses ...“ (Kant, 146).

$ 3: Die Deduktion der Kategorien in ‚B 12°

141

sis der Einbildungskraft“ Bezug nimmt’, habe ich es für richtig gehalten, (3) als eine Behauptung zum Verhältnis von transzendentaler Synthesis der Einbildungskraft und Einheit der Apperzeption zu verstehen. Das Verhältnis ergibt sich dadurch, daß die Einheit der Apperzeption mit Bezug auf eine Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen eine Synthesis verlangt, und daß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft als eine solche Synthesis konzipiert wird. Transzendental ist eine Synthesis dann, wenn die Verbindung gegebener Vorstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis gedacht wird. In diesem Falle geht es nicht um irgendwelche bestimmten Verbindungen, die die Einbildungskraft als ein kognitives Vermögen zustandebringt; vielmehr kommt es jetzt nur darauf an, daß die Verbindung gegebener Vorstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis gedacht wird. Von der Synthesis der Einbildungskraft, in diesem Sinne genommen, sagt Kant: „Die transcendentale Synthesis der Einbildungskraft geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt... .“°. Ich verstehe dies dahingehend, daß als Synthesis gegebener Vorstellungen nur die Synthesis in Betracht kommt, die als notwendige Bedingung dafür gilt, daß gegebene Vorstellungen in der synthetischen Einheit der Apperzeption vorkommen können. Anders formuliert: die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft und die transzendentale Einheit dieser Synthesis müssen von den Bedingungen her verstanden werden, unter denen gegebene Vorstellungen in der synthetischen Einheit der Apperzeption „zusammenstehen“ können. Wir können diese Synthesis und ihre Einheit nicht aus einer empirischen Untersuchung der kognitiven Psychologie entnehmen, sondern müssen sie transzendental verstehen, - als Bedin-

gungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die im Rekurs auf die Bedingungen zu

ermitteln sind, unter denen gegebene Vorstellungen in der synthetischen Einheit der Apperzeption auftreten können. Gegeben diese Erläuterung, so folgt aus (1) bis (3), daß alle Erscheinungen, die „mich angehen“, unter der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft und ihrer Einheit stehen. Kant spricht aber in (4) von allen Erscheinungen als „Elementen einer möglichen Erkentnis“. Wie ist diese Spezifikation zu verstehen? Wie verhalten sich die Erscheinungen, die „mich angehen“, zu den Erscheinungen, die „Elemente einer möglichen Erkentnis sind“? Zwei Deutun-

gen lassen sich geben. Die Erscheinungen, von denen in (4) die Rede ist, sind Erscheinungen, die sowohl zur Einheit der Apperzeption gehören als auch Elemente einer solchen Erkenntnis sind. In diesem Falle hätten wir zwei unabhängige Charakterisierungen der Erscheinungen, und man müßte die Prämissen (1) bis (3) um eine entsprechende Behauptung über Erscheinungen als „Elemente einer möglichen Erkentnis“ erweitern. Die andere Deutung verbindet die beiden Charakterisierungen in der Weise miteinander, daß die Erscheinungen,

die „mich

angehen“,

Erscheinungen

sind, die als „Elemente

einer

möglichen Erkentnis“ fungieren. Diese Deutung wird durch Kants kommen5 AA 23.19.23. 6 AA 23.18.3173.

142

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

tierende Bemerkung nahegelegt. Er schreibt: „Alle Anschauungen sind nichts

vor uns wenn sie nicht ins Bewußtseyn aufgenommen werden. Also ist ihr Verhältnis zur möglichen Erkentnis nichts als das Verhältnis zum Bewußtseyn.“ Der erste Satz kommentiert (1) und formuliert die apperzeptionstheoretische Implikation der Annahme bewußter, sinnlich gegebener Vorstellungen. Der zweite Satz zieht daraus die Folgerung, daß das Verhältnis solcher Vorstellungen zum Bewußtsein mit ihrem „Verhältnis zur möglichen Erkentnis“ zu

identifizieren ist. Geht man davon aus, daß Vorstellungen, die in einem solchen Verhältnis stehen, als „Elemente einer möglichen Erkentnis“ fungieren, dann

besteht für Kant ein Verhältnis der Abhängigkeit zwischen den beiden genann-

ten Charakterisierungen von Erscheinungen: gegebene Vorstellungen sind solche Elemente, weil sie zur Einheit der Apperzeption gehören. Was aber bedeutet es, daß Vorstellungen „Elemente einer möglichen Erkentnis“ sind?

Erkenntnis ist für Kant Erkenntnis von Objekten - eine Charakterisierung, die auf die Wahrheits-Beziehung der Erkenntnis abhebt. Eine solche Erkenntnis wird als eine synthetische Verbindung von Vorstellungen verstanden, von denen wenigstens

eine gegeben sein muß.

Daß

Vorstellungen,

die zu

einer

Apperzeption gehören, Vorstellungen sind, die in solchen wahrheitsfähigen Verbindungen vorkommen können, zeigt Kants programmatischer Anspruch, die Kategorien als allgemeine Formen möglicher Erkenntnisse aufgrund der synthetischen Einheit der Apperzeption entwickeln zu können. Dieser Zusam-

menhang von - wie es dann 1787 heißt - synthetischer und objektiver Einheit

der Apperzeption findet seinen frühen Ausdruck in Bemerkungen wie: „Es (scil. Bewustseyn) wäre nicht Bewustseyn, wenn es Empfindung wäre. In ihm liegt alles Erkentnis .. .“S; und in ‚R 4851‘ wird der Grundsatz aufgestellt, „daß

alle Beziehung der Vorstellungen auf ein obiect und Bestimung des Begrifs desselben nichts anders als die Vorstellung der nothwendigen

Verbindung

derselben in einem Bewustseyn sey“?. Auf dem Hintergrund dieser Überlegun-

gen, die hier zu erwähnen, nicht aber zu explizieren und zu diskutieren sind,

erscheint es gerechtfertigt, zwischen den Sätzen (1) und (2) den Satz (7) einzuschieben: (7) Alle Erscheinungen gehen mich dann und nur dann etwas an, wenn sie Element einer möglichen Erkenntnis sind. Gegeben die Sätze (1) bis (3) und (7), so folgt (4). Gegeben

(4), so stellt sich die Frage, was für eine Synthesis der Einbil-

dungskraft und welche Art von Einheit gegebener Vorstellungen und ihrer Gegenstände, der Erscheinungen, sich in dem angegebenen Rahmen explizieren lassen. Damit kommen wir zur Interpretation von (5). Einen so direkten

Zusammenhang von Kategorien und Einbildungskraft, wie wir ihn in ‚B 12° fin-

den, scheint Kant in ‚A‘ nicht zu vertreten. Denn dort werden die Kategorien 7 AA 23.19.13/5. 8 R 5049, 9 AA 18.9.7/9.

$ 3: Die Deduktion der Kategorien in ‚B 12‘

143

als „reine Erkenntnisse im Verstande“ angesehen, die die „nothwendige Einheit

der reinen Synthesis der Einbildungskraft .. . enthalten.“ (A 119) Daß aber die Annahme eines Zusammenhangs von Kategorien und Einbildungskraft, der nicht durch den Verstand „vermittelt“ wird, nicht nur eine abwegige Besonderheit von ‚B 12° ist, sondern für eine bestimmte Phase der Entwicklung der

theoretischen Philosophie Kants charakteristisch ist, zeigt die nach 1777 zu datierende Metaphysik-Vorlesung ‚L}, wo es heißt: „Die Bedingungen und Handlungen der bildenden Kraft in abstracto genommen, sind reine Verstandesbegriffe und Kategorien des Verstandes.“!° In ‚R 4911 lesen wir: „Es ist ein großer Vortheil, wenn man die wissenschaft technisch machen kann, d.i. unter

Funktionen der Einbildungskraft bringen und Eintheilen kann; e.g. tafel der

Categorien.“!! Adickes datiert diese Reflexion in die Zeit 1776/8, wie auch die

folgende Bemerkung zu Baumgartens „principium rationis“, das lautet: „nihil est sine ratione“!?; „Dieser Satz bedeutet: es geschieht nichts als nach einer

allgemeinen regel der Einbildungskraft.“ (R 5191) Daß Kant in einer gewissen Phase seiner Entwicklung vor 1781 einen Zusammenhang zwischen Kategorien und Einbildungskraft hergestellt hat, ohne auf den Verstand zu rekurrieren, kann nicht bezweifelt werden. Die Frage ist, weshalb er dies getan hat. Vielleicht kann man von der Beobachtung einer Merkwürdigkeit ausgehen. Kant spricht von der „transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft“ im Singular. Wie verträgt sich dies mit einer Mehrzahl von Kategorien? Hier ist freilich zu bemerken, daß er „verschiedene Arten der transcendentalen Synthesis“ erwähnt!? und „Functionen“ der Synthesis der Einbildungskraft kennt!*.

Was spricht dafür, einen Zusammenhang zwischen der transzendentalen Einheit der Synthesis der Einbildungskraft und den Kategorien anzunehmen? Was sind überhaupt Kategorien? In der nur ungefähr zwischen 1778 und 1789 datieren Reflexion ‚R 5562° heißt es: „Die transcendentalen Begriffe gehen

auf die Beziehung einer Menge Vorstellungen auf ein obiect. 1. Einheit des Bewußtseyns von Etwas; 2. Verbindung der Vorstellungen unter einander in einem Bewußtsein; 3. die daraus entspringende Vorstellung des obiects.“ Kant

nennt hier die Gesichtspunkte, die für ihn erklären, daß eine Mannigfaltigkeit

von Vorstellungen sich auf ein Objekt bezichen. Da ist erstens die Einheit des Bewußtseins mit Bezug auf eine Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen, von Kant kurz als ‚Etwas‘ bezeichnet. Zweitens wird die „Verbindung der Vorstel-

lungen unter einander in einem Bewußtseyn“ erwähnt, die durch die syntheti-

sche Einheit der Apperzeption gefordert ist. Schließlich soll sich daraus drittens die Vorstellung eines Objektes ergeben. Transzendentale Begriffe, verstanden als Begriffe der Beziehungen von Vorstellungen, die auf Objekte bezogen sind, sind demnach Begriffe, die auf der Grundlage von drei Gesichtspunkten erklärt 10 AA 28.239. 11 AA 18.26.15/7.

12 Metaphysica, $ 20. 13 AA 23.18.35f. 14 AA 23.19.23.

144

werden:

IV. Kategorien und Transzendentale Einbildungskraft

gegebene Vorstellungen, Einheit der Apperzeption und Synthesis

dieser Vorstellungen. Es sind eben diese Gesichtspunkte, die auch das Kategorien-Konzept von ‚B 12° bestimmen. Kant schreibt: „Nun sind die Categorien nichts anders als Vorstellungen von

Etwas (Erscheinung) überhaupt so fern es durch transc. Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt wird .. .“!5, Kategorien sind Vorstellungen von etwas, das durch den Zusatz ‚Erscheinung‘ erläutert wird. Dies bedeutet nicht, daß

Kategorien sich wie empirische Begriffe oder gar empirische Anschauungen auf Erscheinungen beziehen. Was ‚Erscheinung‘ hier heißen soll, ergibt sich vielmehr durch den Gesichtspunkt, daß es etwas ist, „so fern es durch transc. Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt wird“. Dasjenige, was in dieser Weise

vorgestellt wird, muß also von der Synthesis der Einbildungskraft als einer Bedingung, unter der Erkenntnis erklärt werden kann, her verstanden werden.

Darüber geben (2) und (3) Aufschluß. Das in dieser Weise Vorgestellte ist etwas Gegebenes, dessen Vorstellung in der Einheit der Apperzeption mit anderen Vorstellungen synthetisch verbunden ist. Das Etwas, auf das sich Kategorien beziehen, ist demnach erstens eine Erscheinung, das Korrelat einer gegebenen Vorstellung. Da es durch die Synthesis der Einbildungskraft vorgestellt wird, muß es sich, genau genommen, um das Korrelat verschiedener gegebener

Vorstellungen handeln. Diese gegebenen Vorstellungen sind zweitens synthe-

tisch verbunden; und die Synthesis bestimmt sich drittens durch die Synthesis, die die Einheit der Apperzeption mit Bezug auf gegebene Vorstellungen erfordert. Kategorien sind demnach Vorstellungen von etwas, das erstens gegeben ist, zweitens synthetisch verbunden ist und zwar in der Weise, wie es sich durch

die synthetische Einheit der Apperzeption mit Bezug auf gegebene Vorstellungen ergibt.

Es scheint daher, daß der Begriff der Kategorie uns genau so weit führt, wie es

die transzendentale Deutung der Einbildungskraft mit ihrem Verhältnis von

gegebener Vorstellung und Synthesis solcher Vorstellungen gemäß der synthe-

tischen Einheit der Apperzeption getan hat. Aber der Umstand, daß Kant die Kategorien von der transzendentalen Einheit der Synthesis der Einbildungskraft her versteht, und sie mit den „Functionen“ dieser Synthesis identifiziert!®, wirft Probleme auf, die noch zu erwähnen sein werden. Für die in ‚B 12° gegebene ‚Deduktion der Kategorien‘ ergibt sich, daß (6) aus (4) folgt, wenn man (5) in der hier gegebenen Deutung akzeptiert.

15 AA 23.19.8/10. 16 A.a.0., Z. 23.

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren Hält man sich die Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ im ganzen vor Augen, so wird man auf die Fragestellung des Herz-Briefes vom Februar 1772 zurückverwiesen, von der die Entwicklung ihren Ausgang genommen hat. Ich hatte gezeigt, daß diese Fragestellung auf dem Hintergrund seiner Untersuchungen zur Metaphysik zu sehen ist, die zu zwei unterschiedlichen Interpretationen der reinen Verstandesbegriffe geführt hatte. Sie wurden zum einen als Prinzipien der synthetischen Verbindung von Begriffen zu empirischen Erkenntnissen und somit als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung angesehen; zum anderen galten sie als subjektive Bedingungen, unter denen die für uns mögliche Erkenntnis steht. Man kann diese beiden Auffassungen der reinen Verstandesbegriffe mit den verschiedenen Entwürfen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ vor 1781 korrelieren. Diese unterscheiden sich zuerst einmal dadurch, daß der erste Entwurf die Geltung der Kategorien für die Gegenstände der Erfahrung zu begründen

versucht, ohne auf den Begriff der Apperzeption zu rekurrieren, während dieser Begriff im Zentrum der beiden späteren Entwürfe steht. In jenem ersten Entwurf will Kant zeigen, daß Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, während es in den beiden anderen Entwürfen darum geht, die Geltung der Kategorien als subjektive Bedingungen des Denkens für alle Erscheinungen nachzuweisen. Diese Differenz soll im folgenden durch eine genauere Betrachtung der in der ‚Vorrede‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ getroffenen Unterscheidung zwischen einer „objektiven“ und einer „subjektiven“ Deduktion der Kategorien verdeutlicht werden ($ 2). Wei-

terhin muß auf den Unterschied hingewiesen werden, der zwischen den beiden Entwürfen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘, in denen der Begriff der Apperzeption eine zentrale Rolle spielt, besteht. ($ 3). Bevor ich mich jedoch dieser gewissermaßen internen Betrachtung der Entwicklung von Kants Denken zuwende, muß ich auf ein offenkundiges Defizit

der bisherigen Betrachtung zu sprechen kommen. Wie kann man versuchen, die Entwicklungsgeschichte seiner Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ zu beschreiben, ohne auf Kants Hume-Rezeption einzugehen? Hatte er nicht selber Hume das Verdienst zugesprochen, ihn aus dem „dogmatischen Schlummer“ erweckt zu haben, und in Hume einen „scharfsinnigen Vorgän-

ger“ gerade auf dem Gebiete einer ‚Deduktion der Kategorien‘ gesehen? Daß es möglich ist, jene Entwicklungsgeschichte darzustellen, ohne auf Kants HumeRezeption einzugehen, ist im vorigen, so hoffe ich, gezeigt worden. Um die Fragestellung des Herz-Briefes von 1772 und ihre Hintergründe zu verstehen, ist es so wenig nötig, darauf einzugehen, wie dies erforderlich ist, um Kants

Entwicklung nach 1772 zu erklären. Daß man aber auch gut daran tut, eine

146

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

Darstellung jener Entwicklungsgeschichte nicht mit der Erörterung der Proble-

me von Kants Rezeption von Hume zu belasten, soll im folgenden gezeigt werden ($ 1).

$ 1: Kant über Hume Die Diskussion von Kants Beziehung zu Hume hat bis heute nicht an Attraktivität verloren. Dieses Verhältnis, das sich in fundamentalen Punkten der theore-

tischen und praktischen Philosophie als eine Alternative von Positionen, zwischen denen es anscheinend nichts zu vermitteln gibt, darstellt, gewinnt dadurch eine besondere Brisanz, daß Kant selber der Vernunftkritik Humes eine Schlüs-

selrolle für seine eigene philosophische Entwicklung zugeschrieben und den Anspruch erhoben hat, dessen Bedenken und Einwände nicht nur aufgenommen, sondern auch ausgeräumt zu haben. Die von Kant behauptete Überlegen-

heit der Transzendentalphilosophie gegenüber einem „Naturalismus“ oder gar Skeptizismus im Sinne Humes ist bis heute umstritten. Weder jenes Verhältnis grundsätzlich verschiedener Positionen noch Kants Anspruch sollen hier diskutiert werden; es geht vielmehr um .eine Klärung seiner Sichtweise dieses Verhältnisses. Für Kant war Hume ein Skeptiker. Aber im Hinblick worauf ein Skeptiker? Ich hatte schon anfangs darauf hingewiesen, daß nach Kant Humes Skeptizismus vorzüglich die Metaphysik betraf. In der ‚Methodenlehre‘ der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ wird daher seine Position so beschrieben: „Aus dem Unvermögen unserer Vernunft nun, von diesem Grundsatze (scil. dem der Kausalität)

einen über alle Erfahrung hinausgehenden Gebrauch zu machen, schloß er die Nichtigkeit aller Anmaßungen der Vernunft überhaupt, über das Empirische hinauszugehen.“! Kant spricht daher auch von dem „Grundsatze des Hume, den Gebrauch der Vernunft nicht über das Feld aller möglichen Erfahrung dogmatisch hinaus zu treiben .. .“2, Der begründete Zweifel an jenen „Anma-

Rungen der Vernunft“ wie auch das Akzeptieren dieses Grundsatzes müssen auf dem Hintergrund der Annahme gesehen werden, daß innerhalb des Empirischen ein sinnvoller Gebrauch jenes Prinzips möglich ist und zu wirklichen Erkenntnissen führt. Daher schärft Kant seinem Leser auch ein: „Es war nicht

die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntniß unentbehrlich sei, denn dieses hatte Hume niemals in Zweifel gezogen ... .“?. Der Skeptiker Hume ist daher in Kants Augen jemand, der die Möglichkeit empirischer Erkenntnis behauptet und die metaphysischer

nicht-analytischer Erkenntnis bestreitet‘. Der „allgemeine Empirism“ hatte 1 A 760/B 788.

2 Prolegomena $ 58 (AA 4.360). 3 Prolegomena, Vorwort (AA 4.258). 4 Vgl.KpV, Vorrede (AA 5.13). In einer Anmerkung weist Kant darauf hin, daß, Hume als einen Skeptiker in diesem Sinne zu bezeichnen, genau so eine „Rechtsverdrehung” darstelle, wie ihn selber einen „Idealisten” im Sinne Berkeleys zu nennen, wie es Feder getan hatte.

$1: Kant über Hume

147

aber nach seiner Meinung einen „ächten Scepticism“ zur Folge, den man aber Hume „fälschlich in so unbeschränkter Bedeutung beilegte“°. Wir brauchen hier nicht die Gründe zu betrachten, die Kant für die These, der Empirismus

führe zum

„allgemeinen

Scepticism“ oder zur „Zerstörung

alles Wissens“, angibt; für uns ist nur wichtig, daß es Kant ist, der auf diese Konsequenz aufmerksam macht und daß ein solcher Skeptizismus nicht Hume selber angelastet wird.

Sein Skeptizismus

betrifft vielmehr die „Metaphysik

und ihre polizeilose Dialektik“, und erst später führt diese Kritik an der Metaphysik dazu, „selbst in Erfahrungsgrundsätze einen Zweifel zu setzen“ - eine „Ausdehnung

der Zweifellehre“, die „man nicht füglich für eine ernstliche

Meynung halten“ kann®. Wenn Kant die ‚Deduktion der Kategorien‘ als eine Kritik an Humes Skeptizismus ansieht, so folgt daraus nicht, daß das Beweisziel dieser Deduktion darin besteht, nachzuweisen, es gebe überhaupt Erkenntnis. Die heute weit verbreite-

te Auffassung, es verhalte sich anders und daher sei die ‚Deduktion der Kategorien‘ als ein anti-skeptisches Argument im Sinne Bennetts zu verstehen, kann sich nicht auf Kants Sicht seines Verhältnisses zu Hume berufen. Es genügt aber nicht, eine solche irrige Deutung von Kants Beschreibung seiner Beziehung zu Hume abzuweisen; vielmehr muß eine Betrachtung der Entwicklungsgeschichte seiner Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ die Bedeutung

klären, die Hume für die Entwicklung dieser Überlegungen gehabt hat. An Kants programmatischer Erklärung „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.“” kann keine Betrachtung dieser

Entwicklung vorbeigehen. Sehen wir zuerst einmal von dem vieldiskutierten Problem ab, wann Hume

Kant geweckt habe, und fragen uns, in welche Richtung er dessen Gedanken gelenkt habe! Das Beweisziel der Deduktion, wie Kant es verstand, enthielt, sofern es wirklich erreicht wurde, eine zweifache Kritik an Hume: sie war der

Nachweis des nicht-empirischen Ursprungs der Kategorien und somit eine Widerlegung von Humes

Versuch ihrer empirischen

„Ableitung“; und sie

ermöglichte eine praktische „Erweiterung“ der Vernunft a priori und somit ein

Abweisen seines Angriffs auf die Metaphysik!®. Gleichwohl sah Kant gerade im

Hinblick auf die ‚Deduktion der Kategorien‘ einen Berührungs- oder Anknüpfungspunkt seines Denkens mit dem von Hume: „Diese Deduction, die mei5 A.a.O.; vgl. auch Paulsen, Entwicklungsgeschichte 130: „Es ist also nach der Auffassung Kants die Philosophie Humes in der Absicht des Urhebers keineswegs der Versuch, die Möglichkeit alles Wissens aufzuheben; die Skepsis richtet sich direct nur gegen die Möglichkeit des Wissens von Gegenständen, die nicht in Erfahrung gegeben sind.”

6 KpV, 11.1.2 (AA 5.51f.). 7 8 9 10

Prolegomena, $ 57 (AA 4.351). Preisschrift etc. (AA 20.263). Prolegomena, Vorwort (AA 4.260). Vgl. KpV, Dialektik, 2. Haupt. VII (AA 5.141).

148

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

nem scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, die niemand außer ihm sich auch nur hatte einfallen lassen ...“!!. Kants Meinung, daß die Deduktion seinem „Vorgänger“ unmöglich schien, ist angesichts der genannten kritischen Implikationen ‚unmittelbar verständlich. Weshalb aber glaubt Kant, daß sie Hume überhaupt „eingefallen“ war? Die ‚Deduktion der Kategorien‘ sollte „die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen“!?, und es war die Diskussion dieser Möglichkeit, die durch Humes

„Angriff“ auf die Metaphysik so entscheidend gefördert worden war: „Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntniß, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre

unterhalten und vergrößert worden.“!? Daß Hume die Deduktion „eingefallen“ war, besagt, daß das Problem der Möglichkeit der Metaphysik durch ihn aufgeworfen wurde. Hume war dies durch den Nachweis gelungen, daß das Prinzip der Kausalität nicht „a priori und aus Begriffen“ verständlich gemacht werden kann!*. Für Kant dagegen war dieses Prinzip zwar ein Prinzip : priori,

aber nicht durch Analyse von Begriffen zu erklären. Ihre Differenz betrifft also den apriorischen Status dieses Prinzips; gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, daß es sich um ein synthetisches, nicht durch eine Analyse von Begriffen zu erklärendes Prinzip handelt. In dieser Einsicht sah Kant den wesentlichen Punkt von Humes Beitrag zum Problem der Metaphysik. Aus welchem Schlummer hat Humes „Funkenschlag“ Kant geweckt? Dieser Schlummer kann nicht darin bestanden haben, daß Kant der Meinung anhing,

das Prinzip der Kausalität sei a priori. Es bleibt also nur die Annahme, das Prinzip der Kausalität sei analytisch wahr. Aber schon die Unterscheidung zwischen „ratio antecedenter determinans“ und „ratio consequenter determinans“ ın der ‚Nova Dilucidatio‘ von 1755 grenzt die Erklärungen, die durch Analyse von Begriffen gewonnen werden, von Angaben von Ursachen für das,

was es gibt oder geschieht, ab!°, und die spätere Unterscheidung vom „logischen Grund“ und „Realgrund“ setzt diesen Gedanken fort!*. War Kant wirklich in den „Schlummer gefallen“, den ihm die ‚Prolegomena‘ unterstellen? Und selbst wenn es so gewesen wäre, so hätte es nicht Humes bedurft, um ihn daraus

zu erwecken. Wie Tonelli gezeigt hat, war die Auffassung, daß Kausalverhält-

nisse empirisch erkannt werden können, im 18. Jahrhundert weit verbreitet!?. Auch Kant hatte diese Meinung 1766 mit großem Nachdruck vertreten!3. In 11 Prolegomena, a.a.O. 12 A.a.O. 13 A.a.O., 257.

14 A.a.O. 15 Vgl. Sectio II, Prop. IV (AA 1.391ff.); vgl. Richl, Kritizismus, 317f. o. 16 Vgl. Versuche, 3. Absch., Allg. Anm. (AA 2.202 ff.); vgl. auchL. Robinson, Contributions a Histoire de !’Evolution philosophique de Kant, Rev. de Met. etde Mor. 31, 1924, 280 ff. 17 Vgl. Die Anfänge von Kants Kritik der Kausalbeziehungen und ihre Voraussetzungen im 18. Jahrhundert, Kant-Studien 57, 1966. 18 Vgl. Träume, Zweiter Theil, 3. Hauptstück (AA 2.370f.).

$ 1: Kant über Hume

149

‚R 3749“ heißt es: „Die Begriffe der Ursachen sind synthetisch und also empi-

risch.“!? In ‚R 3975 lesen wir sogar: „Die idee des Grundes (Ursache) entspringt aus Erfahrungen.“?° Aber vielleicht ist dieser Bemerkung kein allzu großes Gewicht beizumessen, denn, wie Riehl zu Recht betont, „hat Kant

weder indem... „Versuch, den Begriff der negativen Größe in der Philosophie einzuführen“ noch in der zwei Jahre später verfaßten Schrift ‚Träume‘ den allgemeinen Kausalsatz erörtert. Wahrscheinlich ist der allgemeine Begriff der Kausalität in der Bedeutung eines Grundbegriffs des reinen Verstandes in seinem Denken erst hervorgetreten, nachdem Raum und Zeit als sinnliche Elementarbegriffe erkannt worden waren.“?! Diese „Erweckung“, wenn sie

denn nötig gewesen ist, konnte Kant nun aber sicherlich nicht Hume anlasten. Folgt man also Kants Beschreibung der Rolle, die Humes Analyse der Kausalität für das durch die ‚Deduktion der Kategorien‘ zu lösende Problem der Möglichkeit der Metaphysik gespielt haben soll, so versteht man nicht, aus dem Schlummer welcher Überzeugungen dieser jenen geweckt haben soll. Es ist jedoch hier nötig, auf die Merkwürdigkeit hinzuweisen, daß Kant in den ‚Prolegomena“ noch eine ganz andere Version des Aufwachens aus dem dogmatischen Schlummer gibt: „Dieses Product der reinen Vernunft in ihrem transcendenten Gebrauch ist das merkwürdigste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen.“2? Gemeint sind die Antinomien, deren Entdeckung von Kant in einem Brief an Christian Garve vom 21. September 1798 ausdrücklich als Ursache für das Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer bezeichnet wird: „Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V.:

„Die Welt hat einen Anfang -: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, - gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in

ihm Naturnothwendigkeit;“ Schlummer zuerst aufweckte das Scandal des scheinbaren heben.“?? War Kant in einen

diese war es welche mich aus dem dogmatischen und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu solchen dogmatischen Tiefschlaf gefallen, daß er

19 Nach Adickes 1764/6. 20 Nach Adickes 1769. 21

Kritizismus, 321.

22 Prolegomena, $ 50 (AA 4.338). 23 AA 12.257f.; dazu bemerkt L. W. Beck, A Prussian Hume and a Scottish Kant, in: L. W. Beck, Essays on Kant and Hume, London 1978, 119, Anm. 23: „This is indeed puzzling.

Can it be due to a lapse of memory? The letter is filled with complaints about Kant’s declining health and mental abilities.“ Abgesehen davon, daß dieses Thema Kant schon immer sehr beschäftigte, hätte ein Blick auf Prol. $ 52b Anm. oder ‚A 560f./B 534f.‘

genügt, um Beck von dieser Deutung abzuhalten. In der späten ‚Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik‘ ist es ausschließlich die Entdeckung der Antinomien, die die „schlummernde Vernunft endlich aufschrecken ... .“ mußte (AA 20.319). Vgl. AA 20.263, 287f.,290f.,319f., 326/9. DazuJ. Schmucker, Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?, Arch. Gesch. Phil. 58, 1976, 399 ff.

150

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

gleich zweimal geweckt werden mußte? Wie auch immer wir über die Folgen denken

mögen,

die „die Erinnerung des David

Hume“

bei Kant

ausgelöst

haben, so bleibt die Merkwürdigkeit, daß dieser für sein Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer zwei ganz verschiedene Begebenheiten seiner philosophischen Entwicklung verantwortlich macht. Man wird Erdmann recht geben müssen, daß eine Klärung der Frage, was denn der Anlaß des Richtungswechsels der „Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie“ gewesen sei?*, nicht ganz unerheblich sein kann, hängt doch von ihr „die Entscheidung über die Frontstellung der Kritik der reinen Vernunft, und damit über den letzten Sinn ihrer leitenden Ideen ...“ ab. Dies läßt sich leicht plausibel machen. Die Entdeckung der Antinomien führt zu dem „Lehrbegriff“ des „transzendentalen Idealismus“, der als „Schlüssel zu Auflösung der kosmologi-

schen Dialektik“ bezeichnet wird (A 490/1-B 518/9); und der „wahre, zwar nicht dogmatische, aber doch kritische und doctrinale Nutzen“ der Antinomien

wird darin gesehen, „die transzendentale Idealität der Erscheinungen dadurch

indirect zu beweisen, wenn jemand etwa an dem directen Beweise in der transcendentalen Ästhetik nicht genug hätte.“ (A 506/B 534) Demgegenüber hat Kant

nach eigenem Bekunden von Hume gelernt, daß „das Stehen und Fallen der Metaphysik“ von der Auflösung der Aufgabe „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ abhängt (B 19); und die Anregungen von Hume führen zu dem

Programm einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe?®. Man sieht, daß Kants unterschiedliche Darstellungen des Beginns seines

kritischen Philosophierens auf verschiedene Lehrstücke der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ verweisen; und es ist zu vermuten, daß die Entscheidung darüber, was es denn nun gewesen ist, was „die Philosophie zu dem schweren Geschäfte

der Kritik der Vernunft selbst“ bewegt har?”, Folgen für die Deutung und Bewertung der Teile des Lehrgebäudes der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ haben

wird. Ob „die Erinnerung des David Hume“ oder die Entdeckung der Antinomien Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ gerissen haben, bestimmt, ob man die Deduktion oder den „Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus“ in das Zentrum der Fragen rückt, die Kant mit der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zu beantworten versuchte. Seine autobiographischen Bemerkungen stellen uns vor eine Alternative, deren Entscheidung dringlich erscheint; und die Bedeutung dieser Entscheidung gibt der Analyse des Verhältnisses von Kant zu Hume ein besonderes Gewicht2®. Denn es betrifft nicht irgendwelche philosophichi-

24 Prolegomena, Vorwort (AA 4.260). 25 B. Erdmann, Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, 2. Bd., Leipzig 1885, XXIV. 26 Vgl. Prolegomena, a.a.O.

27 A.a.0.,$ 50 (AA 4.338).

28 Ich übergehe die Möglichkeit, diebeiden Angaben über den Grund für Kants „Aufwachen“ als „zwei Seiten des einen Erweckungsprozesses zu beschreiben.“ So: Gawlick/Kreimendahl, Hume, 190. Vgl. auch M. Kuehn, Kant’s Conception of „Hume’s Problem“, J. Hist. Phil. 21, 1983, 185ff. Dazu vgl. die Rezension des Verf. von: Gawlick/Kreimen-

dahl, Hume, in: Phil. Rundschau 35, 1988, 207 ff.

$ 1: Kant über Hume

151

storischen Zusammenhänge, sondern das Programm der kritischen Philosophie selbst. Während Kants voneinander divergierende Angaben über die Ursachen seines Erwachens bekannt sind und Anlaß für eine vor allem am Ende des letzten Jahrhunderts kontrovers geführte Debatte waren, an der sich Paulsen, Richl, Vaihinger und Erdmann beteiligten, ist kaum bemerkt worden, daß Kant auch

in seinem Urteil über Hume schwankt und voneinander abweichende Darstellungen des Verhältnisses der kritischen Philosophie zu ihm gibt. Erst in den ‚Prolegomena‘ - und dann, wenn auch deutlich abgeschwächt, in der

2. Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ und in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ - übernimmt Hume die Rolle eines „scharfsinnigen Vorgängers“?, während

Kant in der „Methodenlehre“

der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, die

für die 2. Auflage nicht umgearbeitet wurde, von den „Verirrungen eines so einsehenden und schätzbaren Mannes, die doch auf der Spur der Wahrheit angefangen haben“, spricht (A 764/B 792). Mag man dies auch noch für einen bloßen Unterschied von Betonung oder subjektiver Wertschätzung halten, so belehrt doch eine genauere Betrachtung, daß Kant sein Verhältnis zu Hume nach 1781 neu durchdacht und anders bestimmt hat. In der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ wird Hume als Vertreter des Skeptizismus bezeichnet, - eine philosophische Position, die als Zensur der Vernunft ihrer Kritik gegenübergestellt wird. Die Zensur führt zum Bewußtsein einer „zufälligen Unwissenheit“, während allein die Kritik zu einer „Grenzbestimmung unserer Vernunft“, zu der Einsicht, daß „meine Unwissen-

heit schlechthin notwendig sei“, gelangt (A 758/B 786). Diesen Unterschieden im Ergebnis entsprechen Differenzen im Thema und in den Voraussetzungen, von denen Kritik und Zensur jeweils ausgehen. Während die Zensur sich nur mit „Facta der Vernunft“ beschäftigt, thematisiert die Kritik „die Vernunft selbst nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen“ (A 761f./B 789f. ); und sie geht dabei von Prinzipien oder „Gründen a priori“ aus, während die Zensur sich auf eine „unbestimmte Erkenntniß... .aposteriori“ stützt (A 758/B 786). Humes

„sceptisches Verfahren“ führt zu einem „Ruhe-

platz für die menschliche Vernunft“, indem es die nicht enden wollenden Streitigkeiten der „unkritischen Dogmatik“

nunftfragen“ muß

beschließt; aber ın Sachen „Ver-

dieses Verfahren als „nicht befriedigend, aber doch vor-

übend“ angesehen werden (A 769/B 797). Wie immer diese Bemerkungen im einzelnen zu verstehen sind, so ist auf jeden Fall deutlich, daß Hume nicht als „scharfsinniger Vorgänger“, sondern als Kritiker des Dogmatismus angesehen wird, und daß sein skeptisches Verfahren nicht zu Betrachtungen hätte führen können,

„die denjenigen ähnlich werden müssen, womit wir uns jetzt be-

schäftigen ...“?°. Die kritische Philosophie Kants ist nicht eine Fortsetzung, sondern eine Alternative zu Humes Geographie der „menschlichen Vernunft“

(A 760/B 788).

29 A.a.O., Vorwort (AA 4.260).

30 A.a.0.,$4 (AA 4.273).

152

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahre n

Ganz anders in den Prolegomena! Hier ist Hume derjenige, „dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte“?!, und die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ wird geradezu mit „der Ausführung des Humischen Problems in seiner möglich größten Erweiterung“ identifiziert??. Humes „Angriff“ auf die Metaphysik ist seine Analyse des Begriffs der Kausalität, deren Einsichte n in Kants Konzept von synthetischen Erkenntnissen a priori aufgenommen und deren „übereilte und unrichtige“ Folgerungen?? durch seine Deduktio n der Begriffe, durch die „der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt“, vermieden werden, Kants kritische Philosophie erscheint hier als Fortsetzung von Humes Beschäftigung mit den „reinen Begriffen des Verstandes“ und der Möglichkeit der Metaphysik. Beide stellen dieselben Fragen; ihre Antworten fallen zwar verschieden aus, aber für Kant war seine eigene Antwort

doch nur dadurch zustandegekommen, daß er „von einem gegründet en, ob-

zwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein anderer hinterlassen ....“,

Wie erklärt sich dieser Wandel in Kants Beurteilung des Verhältnisses der

kritischen Philosophie zu Hume? Diese Frage ist, soweit ich sehe, bislang nicht befriedigend beantwortet worden, sie istnoch nicht einmal klar gestellt worden. Erdmann hat zwar in seiner ‚Einleitung‘ zu der von ihm besorgten Ausgabe der ‚Prolegomena‘ die Frage aufgeworfen, „ob diese Auseinandersetzungen Kants über sein Verhältnis zu Hume in irgend einem Punkte von denen der

ersten Auflage abweichen“3%, aber seine Antwort überzeugt nicht: „In den

Zusätzen (scil. der ‚Prolegomena‘) überwiegt, wie wir sahen, die Betonung gleichsam persönlichen Zusammenhangs, der Kant mit seinem Vorgänge r knüpft; der sachliche dagegen, dass nämlich Humes Skepsis die Vorstufe Kritik Kants sei, tritt mehr in den Hintergrund.“?7 Ich verstehe nicht, wie Unterscheidung von »Persönlichem“ und „sachlichem“ Zusammenhang

des verzur die den

Unterschied deutlich machen kann, der zwischen der Deutung von Hume als „scharfsinnigem Vorgänger“ Kants und der Auffassung, Hume sei „der Zucht-

meister des dogmatischen Vernünftlers“, besteht, - ganz abgesehen davon, daß es wenig einleuchtet, Kants Vorhaben, für Humes „auf den Strand gesetztes“ Schiff den „Piloten“ abzugeben?®, nur als eine „persönliche“ Sympathie-Erklärung anzusehen. In einer späteren Arbeit sah Erdmann Anlaß zu einer „Selbstberichtigung“ im Hinblick darauf, „dass ich früher nicht hinreichend auseinandergehalten habe, was Kant über Hume als den typischen Vertreter des hoffnungslosesten Skepticismus gegenüber der Lösung der Antinomien und über ebendenselben als 31 A.a.O., Vorwort (AA 4.260). 32 A.a.O., 261.

33 34

A.a.O., 258. A.a.O., 260.

35 A.a.O. 36 Immanuel Kants Prolegomena, hrsg. v. B. Erdmann, Leipzig 1878, XCVII 37 A.a.O., XCVIII.

38 Prolegomena, Vorwort (AA 4.262).

$ 1: Kant über Hume

153

seinen Vorgänger in der Grenzbestimmung des Verstandes urteilt.“°” Aber erstens war Hume für Kant nicht jemand, der den „hoffnungslosesten Skepticis-

mus“ vertreten hat; zweitens betrifft der Zweifel, den Hume nach Kants Meinung - sowohl in der ‚Methodenlehre‘ der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ als auch

in den ‚Prolegomena‘ - geäußert hat, nicht die Möglichkeit einer Metaphysik in Anbetracht der Tatsache, daß es Antinomien gibt, sondern im Hinblick auf eine nicht-empirische Begründung des Prinzips der Kausalität und die „praktische Erweiterung der reinen Vernunft“; und drittens geht es gar nicht um diesen Unterschied. Denn zu erklären ist doch, weshalb Humes Analyse der Kausalität in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ als „sceptische Verirrungen“ abgetan wird, während sie in den ‚Prolegomena‘ als „gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken“ angesehen wird*. Kant beurteilt Humes Leistungen in Sachen „Grenzbestimmung des Verstandes“ in diesen beiden Schriften jeweils anders; und dies bedarf der Erklärung. Erdmann hat diesen Unterschied durchaus geschen, denn er schreibt: „So entsteht ein auf den ersten Blick unvereinbarer Gegensatz in Kants Beurteilung

desselben (scil. Hume) sowie in der Bestimmung von Humes Verhältnis zum Kriticismus, je nachdem er Hume als den Skeptiker za’ &£oxfjv in Gedanken hat, oder als den Begründer der Deduction der Kategorien.“*! Aber Erdmann

übersieht, daß dieser Gegensatz erst nach 1781 auftritt. Seine Bemerkung: „Kant weiß sich nach dem Allen Hume 1781 näher als 1766“*? möchte man dahingehend umformulieren, daß er sich ihm 1783 mehr verpflichtet fühlte als 1781. Aber die Erklärung, die Erdmann für jenen Gegensatz anbietet, ist wenig

überzeugend: „Kant selbst aber hatte keinen Anlaß zu solcher Trennung, da ja in Humes Lehre selbst, die er im Verhältnis zur seinen als Ganzes charakterisiert,

jener Skepticismus die unmittelbare Consequenz seines Grundansatzes ist. Überdies war für ihn von vornherein klar, was die Geschichtsforschung sich

erstmühsam erarbeiten mußte, dass nämlich seine Entdeckung des transzendentalen Idealismus auf ganz anderem Weg gewonnen war, als die spätere Auffindung und Lösung des Problems der Deduction.“* Es scheint mir vielmehr, daß Kant durchaus Anlaß hatte, jenen Unterschied hervorzuheben, da er zu sehr

unterschiedlichen Beurteilungen der Bedeutung von Humes theoretischer Philosophie für seine Kritik der Vernunft führte. Indem Kant sein Programm der

Kritik Humes Konzept einer „Science of Man“ als Zensur gegenüberstellt, wählt er einen Gesichtspunkt der Unterscheidung und Abgrenzung, der, auch wenn er

kompatibel mit der Position der ‚Prolegomena‘ ist, zu einer völlig anderen

Beurteilung von Hume führt, als es 1783 der Fall ist. Diese Divergenz darf nicht verwechselt werden mit dem Unterschied, den wir bei Kants Angaben zu den Ursachen, die die kritische Philosophie auslösten, antreffen. Denn diese Anga39 40 41 42 43

B. Erdmann, Reflexionen Kants, a.a.O., LVL A 767/B 795; Prolegomena, Vorwort (AA 4.260). A.a.O., LVI. A.a.O.,LIV. A.a.O., LVI.

154

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

ben finden sich in ein und derselben Schrift Kants und betreffen Hume

nur

insofern, als er als „scharfsinniger Vorgänger“ verstanden wird. Ich fasse zusammen. Kant war der Überzeugung, daß die ‚Deduktion der Kategorien‘ sich kritisch gegen Humes „Scepticism“ wandte. Wir haben gesehen, daß dieser Skeptizismus sich gegen die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis und nicht gegen die Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt richtet. Während diese Meinung Kants klar und gut begründet ist, wirft die Darstellung der Rolle, die er diesem für seine philosophische Entwicklung zuschreibt, wenigstens drei Schwierigkeiten auf. Zum einen ist nicht klar, welche Überzeugungen Kant aufgrund von Humes „Erinnerung“ revidiert haben soll, und welche Richtung diese seinen Überlegungen gegeben haben soll. Es ist weiterhin sehr befremdlich, daß Kant das von ihm selber so ernst genommene „Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer“

auch mit Entdeckungen

in

Zusammenhang bringt, die mit Hume nur schwer in Beziehung zu setzen sind. Und schließlich ist zu bemerken, daß das Bild, das Kant von Hume zeichnet, nicht eindeutig ist. Angesichts dieser Lage ist es nicht verwunderlich, daß es bislang nicht gelungen ist, Einigung darüber zu erzielen, wann Kant von Hume geweckt worden sein soll. Da Kant die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ als „das Product des Nachdenkens

von einem Zeitraume von wenigstens zwölf Jahren“ bezeichnet hat**, liegt es

nahe, den Zeitpunkt, zu dem Hume ihn aus dem „dogmatischen Schlummer“

aufgeweckt hat, vor dem Erscheinen der ‚Dissertatio‘, genauer um 1769 herum zu datieren. Zumindest eignet sich dieses Jahr für eine Einteilung der in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Datierung des Zeitpunktes. Riehl war

der Überzeugung, daß der Einfluß Humes auf Kant bereits vor 1769, genauer um 1762, stattgefunden habe und in der Unterscheidungzwischen „Realgrund“

und „logischem Grund“ in der Schrift ‚Versuch den Begriff der negativen

Größen in die Weltweisheit einzuführen‘ faßbar sei*’. Aber schon Erdmann hatte darauf hingewiesen, daß die Vergleichbarkeit ihrer Auffassungen über den empirischen Charakter kausaler Gesetze nicht eine Abhängigkeit des einen von

dem anderen begründet, und auf den unterschiedlichen theoretischen Kontext,

in dem diese Auffassungen jeweils stehen, aufmerksam gemacht“. Durch die Forschungen von Tonelli wissen wir, daß eine solche Auffassung damals weit verbreitet war”. Vor allem war es ja gar nicht der empirische Charakter der Kausalgesetze, sondern der Status des „Begriffs der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“, dessen Erörterung durch Hume Kants „dogmatischen Schlummer“ unterbrochen haben soll. Riehl sah sich daher auch genötigt, eine Zweite Phase der Beeinflussung von Kant durch Hume anzunehmen, in der dieses Thema im Zentrum stand, und die nach 1770 datiert wurde*,. 44 Brief an Mendelssohn vom 16. 8. 1783 (AA 10.345). 45 Vgl. Kritizismus, 309f,

46 Vgl. Kant und Hume um 1762, Arch. Gesch. Phil. I. 1888, 220ff.

47 A.a.O., 417ff.

48 Vgl. a.a.0.,311.

$ 1: Kant über Hume

155

Demgegenüber ist bis heute die Meinung weit verbreitet, daß Kants Erwachen auf das Jahr 1769, das ihm „großes Licht gab“*?, zu datieren ist. Welche

Einsicht ihm damals kam, ist umstritten; aber klar ist, daß es in irgendeiner

Form seinen Niederschlag in der ‚Dissertatio‘ gefunden haben muß. Wie aber sind deren dogmatische

Thesen

zum

„realen Verstandesgebrauch“

mit dem

Einfluß Humes in Einklang zu bringen? Paulsen vertrat die Meinung, daß „die Dissertation die Metaphysik und die Mathematik (scil. gegen den Skeptizismus Humes) rettet“, Was die Metaphysik betrifft, so ist es sicherlich übertrieben, ein paar Thesen zum „realen Gebrauch des Verstandes“ zu einer „Rettung der

Metaphysik“ hochzustilisieren; und was die Mathematik angeht, so war Kant auch später nicht der Meinung, daß Hume einen diesbezüglichen Skeptizismus

vertreten habe. Sie war vielmehr „noch gut weggekommen, weil Hume dafür hielt, daß ihre Sätze alle analytisch wären“, und erst seine Theorie der Geome-

trie „führt Humes Empirism in Grundsätzen auch unvermeidlich auf den Scepticism selbst in Ansehung der Mathematik .. .“°!. Dieser Skeptizismus ist eine von Kant gezogene Folgerung, nicht eine von Hume vertretene Auffassung. Aber vor allem kann Paulsen nicht erklären, worin Kants „dogmatischer

Schlummer“ bestanden haben soll, und was das mit dem Prinzip der Kausalität

zu tun haben soll. Bestand dieser Schlummer etwa darin, daß Kant selber einem

Empirismus anhing, der die Möglichkeit von Mathematik und Metaphysik in Zweifel zog? Diese These hat Adickes, im Anschluß an Paulsen, vertreten. Er schreibt: „Hume hält Kant in einem abschreckenden Beispiel das Ziel vor, auf das seine,

Kant’s, empiristische Entwicklung - ihm selber bisher ungewusst - hinsteuerte. Die Folge ist ein Bruch mit der bisherigen Richtung, Rückwendung zum Ratio-

nalismus, der unter dem Einfluß des Hume’schen Problems eine neue Form und

Grundlage enthält.“5? Adickes sieht sich daher genötigt, das Bild des Auf-

wachens durch ein anderes zu ersetzen: „.. . wie wenn ein Licht plötzlich dem nächtlichen Wanderer den nahen Abgrund zeigt und dadurch seine schleunige Umkehr bewirkt“53. Hume wird daher nicht zu einem „scharfsinnigen Vorgän-

ger“ Kants, sondern zu seinem, „Gegner“5*. Das entspricht sicherlich nicht dem

Bild, das Kant in den ‚Prolegomena‘ von Hume

entwirft. Es muß hier offen

bleiben, ob Kant in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wirklich zu einem

Empirismus, in welcher Form auch immer, tendierte. Aber auch wenn es der

Fall ist, wie konnte er später dies als „dogmatischen Schlummer“ bezeichnen? Adickes’ Trick, diesen so weit zu fassen, daß er in einem Festhalten an rationalistischen wie empiristischen Überzeugungen besteht”, kann ebenso wenig überzeugen, wie er geeignet ist, jene „Umkehr“ adäquat zu beschreiben. Weshalb

49 Vgl. R 5037. 50 Entwicklungsgeschichte, 135.

51 KpV, 1. 1.1.2 (AA 5.52).

52 Kant-Studien, Anhang I: Kant und Hume 1774, 146. 53 A.a.O., 149. 54 A.a.O., 144.

55 Vgl.a.a.O., 140.

156

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

enthält die ‚Dissertatio‘ keinen Hinweis auf den synthetischen Charakter des Prinzips der Kausalität? Wie soll man sich die Entwicklung von Kants Denken zwischen

1770 und 1772 denken, die ihn doch allererst dazu brachte,

die

Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf die Erfahrung zu restringieren — als eine Wiederentdeckung des Empirischen, das er durch das „große Licht“ von 1769 ganz aus den Augen verloren hatte? Diese Fragen zeigen die Schwierigkeiten, die die Datierung eines von Hume verursachten Aufwachens unmittelbar vor der Veröffentlichung der ‚Dissertatio‘ mit sich bringt. Aus ganz anderen Gründen haben jüngst Gawlick und Kreimendahl eine solche Datierung vorgeschlagen. Wie Kuehn schon 1983 herausgestellt hatte56,

erschien im Jahre 1771 in zwei „Beylagen der Königsbergschen gelehrten und

politischen Zeitung“ eine anonyme Übersetzung des letzten Kapitels des ersten Buches des ‚Treatise‘. Sie trägt den Titel ‚Nachtgedanken eines Zweiflers‘ und war nicht als Übersetzung gekennzeichnet; der Übersetzer war Hamann, der

Redakteur der Zeitung war”. Obwohl er selber später darauf hingewiesen hat, daß es sich um eine Übersetzung des genannten Kapitels handelt, scheint dies

lange Zeit nicht bemerkt worden zu sein5®. Gawlick und Kreimendahl haben sich die Aufgabe gesetzt, „Antinomienproblematik und Humesche Erinne-

rung“ als die zwei Seiten des einen Erweckungsprozesses zu beschreiben, die nach ihrer Meinung durch Kants Lektüre der „Nachtgedanken eines Zweiflers“ ausgelöst wurde?. Auf diese Weise würde jene früher erwähnte, irritierende zweifache Bestimmung der Ursache für das Erwachen aus dem „dogmatischen Schlummer“ in den ‚Prolegomena‘ sich dadurch erklären lassen, daß es Hume

war, der sowohl für die Entdeckung der Antinomien als auch für die Einsicht in

den synthetischen Charakter des Kausalitätsprinzips verantwortlich ist. Aus

Gründen, deren Triftigkeit hier nicht diskutiert werden kann®°, datieren Gaw-

lick und Kreimendahl Kants Erwachen auf den „Anfang des Jahres 1768“ 01,

Ich kann hier nicht auf die Frage eingehen, wann Kant die Antinomien entdeckt hat, und will auch nicht die Frage erörtern, ob es sinnvoll ist, diese

Entdeckung mit der Lektüre von Hume in Verbindung zu setzen. Ich begnüge mich vielmehr damit, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die mit einer Datierung einer Beeinflussung Kants durch Hume vor 1770 verbunden sind. Zuerst

einmal sind weder die Unterscheidung von analytischen und synthetischen

Urteilen, über die Kant schon seit einigen Jahren verfügte, noch das Prinzip der Kausalität für die ‚Dissertatio‘ von Belang. Von Hume - das hatten Paulsen und

Adickes richtig gesehen - ist in der ‚Dissertatio‘ nun wirklich nichts zu spüren. Gawlick und Kreimendahl klammern diesen Bereich auch mehr oder weniger 56 Vgl. a.2.0., 185 ff.; Scottish Common

Sense, a.a.0., 179.

57 Abgedruckt in:J. G. Hamann, Sämtliche Werke IV, hrsg. v. J. Nadler, Wien 1952, 364 ff. 58 Vgl. Brief an Herder vom 25. 8. 1782, in: J. G. Hamann, Briefwechsel IV, hrsg. von

A. Henkel, Wiesbaden 1959, 418. Nach Kuehn, a.a.O., 185, hat Swain, Hamann and the

Philosophy of David Hume,J. Hist. Phil. 5, 1967, diese Endeckung gemacht. 59 Vgl. Hume, 190. 60 Vgl. dazu die Rezension vom Verf. in der Phil. Rundschau 35, 1988, 211. 61 A.a.O., 191.

$ 1: Kant über Hume

157

aus und widmen sich mit um so größerer Begeisterung dem Aufspüren von „Dokumenten, die das Aufkommen der Antinomieproblematik bei Kant nach der Mitte der 60er Jahre bekunden und auf Hume als ihren Auslöser hinweisen“°2, Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß diese Dokumente einen solchen Hinweis nicht enthalten. Was gegen eine so frühe Datierung der Entdeckung der Antinomien spricht, ist von Reich klar formuliert worden: „Die Idee also,

daß der reine Verstand oder die reine Vernunft selber ihrer Natur nach dialektisch, d.h. scheinerzeugend seien, oder anders gesagt, daß die reine Vernunft selber einer Kritik bedürfe, ist noch nicht (scil. in der ‚Dissertatio‘) aufge-

taucht“6, Hinske hatte dem entgegengehalten, daß man bei Kant verschiedene Bedeutungen des Terminus ‚Antinomie‘ zu unterscheiden habe®*, gleichwohl

aber eingeräumt, daß die Entdeckung von Antinomien im Sinne eines „Widerstreits der Gesetze der reinen Vernunft“ (A 407/B 434) erst nach 1770 zu datieren ist. An solche Antinomien hatte Reich gedacht, und es ist dieser Sinn von ‚Antinomie‘, der natürlich für die ‚Prolegomena‘ in Anspruch genommen werden muß. Da Gawlick und Kreimendahl diesen Begriff von Antinomie zugrunde legen, versteht man nicht, wie sie glauben können, mit Hilfe von Hinskes Unterscheidung verschiedener Bedeutungen des Ausdrucks ‚Antinomie* Reichs grundsätzlichen Einwand entkräften zu können®”. Sowohl in den

‚Prolegomena‘ als auch bei Reich wird von Antinomien gesprochen, die auch nach Hinske erst nach 1770 von Kant entdeckt wurden®®. Da die ‚Dissertatio‘ die wichtigsten Argumente gegen eine Datierung der Beeinflussung von Kant durch Hume vor 1770 liefert, liegt es nahe, auf einen

späteren Termin auszuweichen. Dies paßt auch gut zu dem von Kant selber herausgestellten Zusammenhang, der zwischen dieser Beeinflussung und der Entdeckung des Deduktions-Gedankens, den wir zum erstenmal in dem bekannten Herz-Brief von 1772 finden, besteht”. Schon Erdmann hatte diesen Zusammenhang in das Zentrum gerückt und Humes Einfluß auf Kant nach diesem Brief datiert”. Da die ‚Deduktion der Kategorien‘ für Erdmann beweist,

daß die reinen Verstandesbegriffe in ihrer Anwendung auf den Bereich möglicher Erfahrung restringiert werden, parallelisiert er dieses „empiristische Er-

62 A.a.O., 195.

63 Einleitung zu: I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Hamburg

1958, X.

64 65 66 67

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kants Weg, 97ff. a.a.O., 107. Hume, 197. a.a.O., 196.

68 Gawlick/Kreimendahl, Hume, 197, berufen sich auf eine Anmerkung von Hinske, Kants Weg, 107.361, in der dieser auf ‚Reflexionen‘ hinweist, die von Adickes um 1769 datiert werden, aber Zweifel an dieser Datierung äußert. Wie sie diese Zweifel ausräumen wollen,

wird so wenig deutlich, wie erkennbar ist, wie sie dem Einwand von Reich begegnen wollen. 69 So wohl auch Reich, a.a.O., XVI.

70 Vgl. I. Kants Prolegomena, a.a.O., XCI.

158

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

gebniss seiner Deduction“’! mit Humes

Grundsatz, „den Gebrauch der Ver-

nunft nicht über das Feld aller möglichen Erfahrung dogmatisch hinaus zu treiben“?? - einen Grundsatz, den Kant erst 1772 akzeptieren konnte. Da aber Erdmann selber hervorhebt, daß die Fragestellung des Herz-Briefes „selbständig gefunden“ ist??, versteht man nun nicht mehr, weshalb es Hume gewesen sein soll, der Kants „dogmatischen Schlummer“ unterbrochen habe. Die Selbständigkeit der Entfaltung von Kants Denken nach 1772 hatte schon Adickes

dazu gebracht, eine Beeinflussung von Kant durch Hume in dieser Zeit auszu-

schließen’*; und die hier vorgelegte Untersuchung zur Entwicklung seiner

Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘ bestätigen diese Überzeugung.

Es ergibt sich also, daß es ebenso schwierig ist zu ermitteln, wann Hume Kant

geweckt haben soll, wie es unklar bleibt, aus dem Schlummer welcher Überzeu-

gungen er geweckt worden sein soll. Vielleicht ist aber der autobiographische Bericht der ‚Prolegomena‘ auch gar keine Darstellung eines historischen Ereig-

nisses, sondern die Analyse einer philosophischen Theoriekonstellation im Ge-

wande eines solchen Berichts’. Dazu würden die anderen von mir erwähnten Unstimmigkeiten des Bildes passen, das Kant von Hume entwirft. Es sind

Konstrukte, die mit anderen Deutungen seiner Philosophie und ihrem Verhältnis

zu anderen philosophischen Positionen kollidieren. Nicht Kants eigene Auße-

rungen zu seiner philosophischen Entwicklung, sondern nur eine Betrachtung dieser Entwicklung selber kann uns in die Lage versetzen, sein Verhältnis zu Hume zu verstehen.

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion Kant hat im Jahre 1781 der „Deduction der reinen Verstandesbegriffe“ eine

Betrachtung zu den Besonderheiten und Beweiszielen einer solchen Argumen-

tation vorausgestellt, die den Titel ‚Von den Principien einer transcendentalen Deduction überhaupt‘ trägt. Orientiert man sich an diesen Ausführungen, so fällt es einem schwer, die erste uns bekannte Beantwortung der Frage aus dem Herz-Brief überhaupt als eine Deduktion der Kategorien anzusehen. Wie wir gesehen hatten, wurde der Nachweis, daß die Kategorien sich a priori auf Gegenstände beziehen, in Anlehnung und direkter Entsprechung zu dem Nachweis, daß Raum und Zeit Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind, entwickelt. Demgegenüber behauptet Kant 1781, daß zwischen beiden Argumenten ein wesentlicher Unterschied besteht: die Aufgabe einer Deduktion stellt sich nur bei den Kategorien mit „unumgänglicher Notwendig71 A.a.0.,LXXXIV.

72 Prolegomena, $ 58 (AA 4.360).

73 B. Erdmann, Reflexionen Kants, a.a.O., LI; LIX.

74 Vgl. Kant-Studien, 140f.

75 Vgl. auch Robinson, a.a.O., 305.

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

159

keit“ und besteht in der Lösung einer „Schwierigkeit, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen“!. Eine solche Differenzierung hatte Kant in dem ersten Entwurf zu einer Deduktion nicht vorgenommen; und sie ist auch im Rahmen einer Argumentationsstrategie, die auf dem Konzept ‚Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung‘ basiert, wenig plausibel. Betrachten wir Kants spätere Überlegungen genauer. Gemeinsam ist Raum und Zeit und den Kategorien, daß sie sich, wenn überhaupt, „völliga priori auf Gegenstände beziehen“; eine Erklärung „der Art,

wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“, wird eine ‚transzendentale Deduktion‘ genannt?. In Hinblick auf eine solche Deduktion vertritt Kant zwei Thesen: Erstens muß eine Deduktion einer Erkenntnis a priori immer eine transzendentale Deduktion sein?. Zweitens verlangen die Kategorien mit „unumgänglicher Notwendigkeit“ eine Deduktion*. Der Unterschied zwischen Raum und Zeit einerseits und den Kategorien andererseits besteht also darin, daß die einen zwar eine Deduktion erlauben, aber nicht verlangen,

während die anderen sie „unumgänglich“ erfordern. Der Grund für diesen Unterschied kann sich nicht durch die apriorische Beziehung auf Gegenstände ergeben; denn dies ist eine gemeinsame Eigenschaft beider. Der Grund muß vielmehr in der. Art und Weise zu suchen sein, wie sich

die Kategorien a priori auf Gegenstände beziehen. Kant gibt einen ersten Hinweis auf die von ihm als wichtig angeschene Differenz, indem er sagt, daß die Kategorien „von Gegenständen nicht durch Prädicate der Anschauung und der Sinnlichkeit, sondern des reinen Denkens a priori reden“, und daß sie daher

„sich auf Gegenstände ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit allgemein beziehen“. Es ist nicht gemeint, daß die Kategorien sich nicht auf die Gegenstände beziehen, auf die sich auch Raum und Zeit beziehen. Es kommt Kant vielmehr

darauf an, daß diese Identität der Referenz nicht selbstverständlich ist. Die Schwierigkeit, die er hıer sıcht, wird deutlich, wenn man cinen Blick auf seine Deduktion von Raum und Zeit wirft und sich klar macht, weshalb eine solche

Deduktion nicht von den Kategorien gegeben werden kann. Kant schreibt: „Wir haben oben an den Begriffen des Raumes und der Zeit

mit leicher Mühe begreiflich machen können, wie diese als Erkenntnisse a priori sich gleichwohl auf Gegenstände nothwendig beziehen müssen; und eine syn-

thetische Erkenntnis derselben unabhängig von aller Erfahrung, möglich machten. Denn da nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinnlichkeit uns ein Gegenstand erscheinen, d.i. ein Objekt der empirischen Anschauung sein kann, so sind Raum und Zeit reine Anschauungen, welche die Bedingung der

Möglichkeit der Gegenstände als Erscheinungen a priori enthalten, und die Synthesis in denselben hat objective Gültigkeit“. Raum und Zeit sind Begriffe,

1 2 3 4 5 6

A 89/B A 85/B Vgl. A Vgl. A A 88/B A 89B

122. 117. 85f,/B 117£. 87f,/B 120f. 120. 12122.

160

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

deren Beziehung a priori auf Gegenstände dadurch gesichert ist, daß sie „reine Formen der Sinnlichkeit“ sind. Was immer uns in der Anschauung gegeben ist, ist etwas, was gemäß diesen Formen gegeben ist. Die Erscheinungen sind ein Objekt empirischer Anschauung und sind demnach gemäß diesen Formen gegeben. Wir können Raum und Zeit als formale Eigenschaften jeder Erscheinung ansehen und behaupten, daß jede Erscheinung diese Eigenschaften aufweisen muß. Sofern es also überhaupt Erscheinungen gibt, beziehen sich die Begriffe von Raum und Zeit mit Notwendigkeit auf diese. Bei den Kategorien verhält es sich anders. Kant sagt von ihnen, daß sie „uns gar nicht die Bedingungen vorstellen, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden“”. Dies ist nicht deswegen wichtig, weil sie nicht Formen der Anschauung sind, sondern weil sie nicht wie die Formen Anschauungen als formale Bedingungen von Erscheinungen fungieren. Für die Kategorien gilt nicht, daß Erscheinungen notwendigerweise ihnen gemäß sind. Diesen Unterschied und das Besondere der Kategorien im Hinblick auf die Begrün-

dung ihrer Beziehung auf Gegenstände bringt Kant mit der Frage zum Ausdruck, „wie nämlich subjective Bedingungen des Denkens sollten objective

Gültigkeit haben“®. Die Berechtigung dieser Frage besteht nicht darin, daß die Kategorien subjektive Bedingungen sind - im Unterschied etwa zu Raum und

Zeit; auch diese sind für Kant subjektive Bedingungen, die in unserem Erkenntnisvermögen begründet sind. Die Frage stellt sich vielmehr deswegen, weil Kategorien Bedingungen des Denkens, und nicht Bedingungen der Möglichkeit von Erscheinungen sind. Kant behauptet nämlich, daß „ohne Functionen des

Verstandes allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden“ können”. Dies bedeutet, daß die Denkbarkeit der Erscheinungen keine notwendige Bedingung dieser selbst ist, während die Möglichkeit, daß sie in einer

Anschauung gegeben sind, eine notwendige Bedingung für sie als „Objekte der ! empirischen Anschauung“ ist. Kant gibt ein Beispiel, durch das das Gemeinte klarer wird: „Ich nehme z.B. den Begriff der Ursache, welcher eine besondere Art der Synthesis bedeutet, da

auf etwas A was ganz verschiedenes B nach einer Regel gesetzt wird. Es ist a

nf

\

/ ler.

“r ur.

8 ‘

‘, „priori nicht klar, warum Erscheinungen etwas dergleichen enthalten sollten,

‚(denn Erfahrungen kann man nicht zum Beweise anführen, weil die objective Gültigkeit dieses Begriffs a priori muß dargethan werden können,) und es ist daher a priori zweifelhaft, ob ein solcher Begriff nicht etwa gar leer sei und überall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe“!°. Das Problem der objektiven Gültigkeit subjektiver Bedingungen des Denkens besteht eben darin, daß ihr Nachweis nicht dadurch erbracht werden kann, daß diese Bedin-

gungen Bedingungen der Möglichkeit von Erscheinungen sind. Auch wenn diese uns gegeben sind und so die Bedingungen erfüllen, unter denen all das 7 A.a.O. 8 A.a.O. 9 A 90/B

10 A.a.O.

122.

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

161

steht, was uns überhaupt gegeben sein kann, ist keineswegs sichergestellt, daß auf diese eine Synthesis nach Regeln Anwendung finden kann. Kant hat diese Möglichkeit als den Fall beschrieben, daß wir zwar „gedankenlose Anschauung,

aber niemals Erkenntniß“ haben, daß „ein Gewühl von Erscheinungen unsere

Seele anfüllte, ohne daß doch daraus jemals Erfahrung werden könnte“ (A111). Die Voraussetzung für die besondere „Schwierigkeit“, die die Erklärung der Beziehung der Kategorien auf Gegenstände aufwirft, ist die bekannte Überzeugung Kants, daß „die Anschauung ... der Functionen des Denkens auf keine

Weise“ bedarf!!. Die Bedeutung, die diese Voraussetzung für das Projekt einer Deduktion der Kategorien besitzt, besteht darin, daß keine Deduktion das von

Kant 1781 gesteckte Ziel erreicht, die eine Erklärung der Beziehungen der Kategorien auf Gegenstände nach dem Vorbild und in Entsprechung zu der

Erklärung dieser Beziehung von Raum und Zeit gibt!?. Dies war, wie wir gesehen hatten, die explizite Intention, die Kant in seinem ersten Entwurf einer

Deduktion der Kategorien verfolgte. In ‚R 4629° heißt es: „Die logische Form ist eben das vor die Verstandes Vorstellungen von einem Dinge, was raum und Zeit vor die Erscheinungen derselben sind: nemlich iene enthalten die stellen, sie zu ordnen“!?. Die Ordnung gegebener Vorstellungen in Raum und Zeit entspricht der Ordnung gedachter Vorstellungen in den logischen Formen der Urteile. Damit ist natürlich nicht eine Identität der Formen oder Strukturen dieser Ordnung gemeint; was Kant meint, ist vielmehr, daß die Beziehung dieser Ordnungen auf unsere Erfahrungen und ihre Gegenstände gleichartig ist. Sofern diese gegeben sind, sind diese Ordnungen erfüllt; und der Nachweis der Geltung der Begriffe, die die Ordnungen artikulieren, ist unter dieser Voraus-

setzung dann erbracht, wenn diese Begriffe als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung verstanden werden. Im Jahre 1781 versteht Kant das Beweisziel einer Deduktion anders, nämlich

radikaler. Es geht ihm nicht mehr darum, die Geltung der Kategorien nur für Erfahrung und ihre Gegenstände zu beweisen, sondern er will die „objektive Gültigkeit“ dieser „subjektiven Bedingungen des Denkens“ nachweisen; und dies erfordert zu zeigen, daß „Erscheinungen“ den Bedingungen der Einheit des Verstandes „gemäß“ sind'*. Erfahrung - im Sinne Kants - setzt dies immer schon voraus; auf sie kann daher nicht rekurriert werden, um einen solchen

Nachweis zu erbringen. Es geht vielmehr darum, die Möglichkeit auszuschließen, daß z.B. der Begriff der Ursache „nicht etwa gar leer sei und überall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe.“!° Es kommt also jetzt darauf an, die Geltung der Kategorien für Erscheinungen zu beweisen, und so die Möglichkeit von Erfahrung verständlich zu machen.

Kant hat diese veränderte Beweislage richtig gesehen. Für die Rechtfertigung 11 A 91/B 123. 12 Vgl. P. Chiodi, La Deduzione nell’ Opera di Kant, Torino 1961, 53 ff. 13 14 15

AA 17.614.10/2, A 90/B 123. A 90/B 122.

162

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

der Beziehung von Raum und Zeit ändert sich nicht viel; denn sie sind formale Bedingungen jeder Erscheinung. Aber die Begründung der Beziehung der Kategorien auf Erscheinungen wirft besondere Schwierigkeiten auf, da die Begriffe des Verstandes wegen der Unabhängigkeit der Anschauung vom Denken nicht als formale Bedingungen von Erscheinungen angesehen werden können. Daher kann die Deduktion dieser Begriffe nicht mehr in Analogie zu

einer Deduktion von Raum und Zeit erfolgen. Während in dem ersten Entwurf der Rekurs auf Erfahrung sowohl die Geltung von Raum und Zeit als auch die Beziehung der Kategorien auf Gegenstände sichert, besteht nun die Möglichkeit, daß die Erscheinungen zwar unter den Bedingungen von Raum und Zeit stehen, aber die Kategorien auf sie nicht anwendbar sind. Um diese Möglichkeit

auszuschließen, genügt es nicht, sie als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu bestimmen; denn es ist ja gerade diese Möglichkeit, die erwiesen

werden soll. Kant muß vielmehr versuchen, die Kategorien als Bedingungen der

Möglichkeit von Erscheinungen auszuweisen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, daß sie nicht wie Raum und Zeit als formale Bedingungen von Erscheinungen gedacht werden können. Dieses Ziel verfolgen diejenigen Entwürfe zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘, in denen der Begriff der Apperzep-

tion eine Schlüsselstellung einnimmt. _ Folgt man Kants Ausführungen zu dem Beweisziel einer ‚Deduktion der

Kategorien‘ im Jahre 1781, so ist die in ‚II. $ 2° besprochene Argumentation

keine Deduktion. Denn sie zeigt nur, daß die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung für alle Gegenstände der Erfahrung gelten müssen, und setzt voraus, daß es Erfahrung gibt; sie zeigt nicht, daß die Gegenstände sinnlicher Anschauung notwendigerweise die „Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf“, erfüllen'°. Die erste uns erhaltene Beantwortung trägt nicht der besonderen „Schwierigkeit“ Rechnung, die aus der Differenz zwischen dem Nachweis, daß formale Bedingungen der Anschauung für alle Erscheinungen gelten, und dem Nachweis resultiert, daß „subjective Bedingungen des Denkens“

objektiv gültig sind. Es ist allerdings

erstaunlich und befremdlich, daß Kant 1781 und auch später Überlegungen, die

jener Beantwortung entsprechen, als eine befriedigende Lösung des Problems

einer Deduktion der Kategorien bezeichnet. Die erste uns bekannte Antwort

auf die Frage des Herz-Briefes scheint eine besondere Anziehungskraft auf ihn

ausgeübt zu haben.

Schon in der ‚Vorrede‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ weist Kant den Leser auf die sachliche Bedeutung und die für die Entwicklung seines Denkens zentrale Rolle der ‚Deduktion der Kategorien‘ hin: „Ich kenne

keine Untersuchungen, die zu Ergründung des Vermögens, welches wir Ver-

stand nennen, und zugleich zu Bestimmung der Regeln und Gränzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich in dem zweiten Hauptstücke der transcendentalen Analytik unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe angestellt habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, 16 A 90/B 123.

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

163

nicht unvergoltene Mühe gekostet“ (A XV]). Diese Untersuchung ist aber nicht in allen ihren Teilen gleichermaßen wichtig; vielmehr bemüht sich Kant darum,

„zwei Seiten“ der „etwas tief angelegten“ Betrachtung zu isolieren, die im Licht verschiedener Fragen unterschiedlich zu bewerten sind. Da ist zum einen die „Hauptfrage ...fwas und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?, ; zum anderen gibt es auch die Frage, „wie 1st das

ermögen zu

denken selbst möglich?“ (A XVII). Betrachten wir die erste Frage

und Kants Bewertung ihrer Beantwortung!

Die Wichtigkeit, die diese Frage „in einem Theile der philosophie, welcher ‘ der Erfahrung und den Sinnen nichts zu danken hat“, besitzt, hatte Kant bereits

bei seinem ersten Versuch, die Frage aus dem Herz-Brief zu beantworten, betont!?. In einer Überlegung, die nach Adickes zwischen 1776 und 1778 zu datieren ist, heißt es: „Meine Absicht ist zu untersuchen, wie viel die Vernunft a

priori Sinne Sinne zeigt

erkennen kan und wie weit sich ihre Abhängigkeit von der Belehrung der erstreke. Welches also die Grentzen sind, über die sie ohne Beyhülfe der nicht hinausgehen kan. Dieser Gegenstand ist wichtig und groß, denn er dem Menschen seine Bestimmung mit der Vernunft“!8, Auf den ersten

Blick sieht es so aus, als ob Kant zwei Themen behandeln wolle - den Umfang

der Erkenntnis a priori und den Umfang der Abhängigkeit der Vernunft von sinnlich gegebenen Vorstellungen. Aber hier besteht ein innerer Zusammenhang, wie aus einer späteren Beschreibung der Ergebnisse der ‚Deduktion der Kategorien‘ deutlich wird. Nun aber, nachdem die Kritik in jener Deduction erstlich bewies, daß sie nicht empirischen Ursprungs sind, sondern a priori im reinen Verstande ihren Sitz und Quelle haben; zweitens auch, daß, da sie auf Ge-

genstände überhaupt, unabhängig von ihrer Anschauung, bezogen werden, sie zwar nur in Anwendung auf empirische Gegenstände theoretisches Erkenntniß zu Stande bringen .. .“!?. Die Untersuchung über den Umfang der Erkenntnisse a priori der Vernunft ist die Einsicht in den Ursprung a priori ihrer Begriffe,

verbunden mit der Erkenntnis, daß diese Begriffe nur in „Abhängigkeit von der Belehrung der Sinne“ zu einer Erkenntnis von Gegenständen benutzt werden können. Diese Abhängigkeit führt also zu einer Restriktion ihrer Anwendung und insofern zu einer Bestimmung von „Grentzen“, über die die Vernunft „ohne Beyhülfe der Sinne nicht hinausgehen kan.“ Die Antwort, die die ‚Deduktion

der Kategorien‘ auf die „Hauptfrage“ gibt, läßt sich demnach dahingehend zusammenfassen, daß die Kategorien ihrem Ursprung nach a priori sind, aber nur im Hinblick auf mögliche Erfahrung für die Erkenntnis von Gegenständen benutzt werden können. Diese Antwort gibt über die „objective Gültigkeit“ der

Begriffe des reinen Verstandes Auskunft (A XVD). Die Bestimmung dieser Gültigkeit ist wesentlich eine Restriktion der Anwendung von Begriffen, die „frei von aller Erfahrung“ sind, auf den Bereich der Erfahrung. Kant erklärt in der ‚Vorrede‘, daß für eine solche Bestimmung „allenfalls“

17 Vgl. 4633 R (AA 17.616.778). 18 R 5013. 19 KpV, Dialektik, 2. Hauptstück, VII, (AA 5.141).

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

dasjenige, was Seite 92 bis 93 gesagt wird, allein hinreichend sein kann“ (AXVI).

zum ersten Male den Versuch machte, die Frage des Herz-Briefes zu beantworten. Raum und Zeit, als formale Bedingungen der Sinnlichkeit, stimmen mit

den Kategorien darin überein, daß sie „Bedingungen, unter denen allein die Erkenntniß eines Gegenstandes möglich ist“, sind??. Die Bedingungen der Sinnlichkeit werden von allen Erscheinungen notwendigerweise erfüllt, weil „sie nur durch dieselbe erscheinen, d.i. empirisch angeschauet und gegeben werden können“, Sofern uns Erscheinungen überhaupt gegeben sind, sind sie es in der Weise, daß sie jene Bedingung erfüllen; und daß sie uns gegeben sind, wird

vorausgesetzt. Entsprechend argumentiert Kant im Hinblick auf die Katego-

rien: die Gegenstände der Erfahrung sind „solchen Begriffen nothwendiger Wei-

se gemäß weil ohne deren Voraussetzung nichts als Object der Erfahrung möglich ist“2, Sofern wir also empirische Erkenntnis von Objekten haben} müssen diese Erkenntnis und ihre Objekte unter den Kategorien stehen; und daß wir

eine solche Erkenntnis haben, wird vorausgesetzt.

Wenn diese Überlegungen Rants Antwort auf die „Hauptfrage ... was und

wieviel Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen?“ ıst, dann ergibt sich daraus erstens, daß die Frage durch eine Restriktion des Anwen-

dungsbereichs der reinen Verstandesbegriffe beantwortet wird. Das Problem

ihrer objektiven

Gültigkeit

kann

eine solche Einschränkung

nur unter

der

Voraussetzung lösen, daß es Erfahrung und Gegenstände der Erfahrung gibt,

für die die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit fungieren. Das hat aber

zweitens zur Folge, daß die Beantwortung der „Hauptfrage“ nicht jene beson-

dere „Schwierigkeit“ aufzulösen vermag, die Kant in seiner Erörterung der Beweisziele einer Deduktion der Kategorien hervorgehoben und als Problem

der objektiven Gültigkeit „subjectiver Bedingungen des Denkens“ bestimmt

hatte. Wir hatten gesehen, daß jene Schwierigkeit eben darauf beruht, daß dieses Problem sich für die Kategorien grundsätzlich anders stellt als für die subjektiven Bedingungen der Anschauung, und daß seine Auflösung nicht voraussetzen kann, daß es so etwas wie Erfahrung gibt. Wenn Kant von der „objectiven Deduction“ behauptet, daß sie die „objective Gültigkeit seiner Begriffe (scil. des

reinen Verstandes) a priori darthun und begreiflich machen“ soll (A XVI), und 20 21 22 23

A A A A

93/B 93/B 92/B 93/B

125. 126. 125. 126.

nun. t,

als Gegenstand überhaupt gedacht wird“ bestimmt?°. Erfahrung, als eine empirische Erkenntnis von Gegenständen, muß diese Bedingungen erfüllen; und die objektive Gültigkeit der Kategorien beruht darauf, daß sie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungen sind: „Denn alsdann beziehen sie sich nothwendiger Weise und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelstihrer überhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann“!. Diese Überlegungen ähneln dem Gedankengang, den Kant entwickelte, als er

t

Pen anna zu mann m mem

Dort werden die Kategorien als „Bedingungen, unter denen allein etwas ...

(

164

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

165

wenn man davon ausgeht, daß diese Deduktion in den Überlegungen von ‚A 92/3° enthalten ist, dann besteht seine Antwort auf die „Hauptfrage“ in einer Bestimmung der Bedingung, unter der die Kategorien objektiv gültig sind nämlich durch die Restriktion ihrer Anwendung auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Die „objective Deduction“ zeigt dann nicht, - und kann es auch nicht zeigen -, daß die Kategorien sich wirklich auf Gegenstände beziehen, wenn wir uns an diese Restriktion halten. Denn dafür muß man nachweisen,

daß die uns gegebenen Vorstellungen die „Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf“, erfüllen. Die in ‚A 92/3‘ gegebene Antwort auf die „Hauptfrage“, die hier als „objective Deduction“ bezeichnet wird, löst nicht das wesentliche Problem einer ‚Deduktion der Kategorien‘.

Wie aber steht es mit der Frage „wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?“ ? Diese Frage betrachtet „den reinen Verstand selbst nach seiner Möglichkeit und den Erkenntnißkräften, auf denen er selbst beruht“, und ihre Beantwortung wird als eine Erörterung des Verstandes „in subjectiver Bezie-

hung“ angesehen (A XVII). Die Bedeutung, die diese Erörterung besitzt - und somit der Sinn der Frage, auf die sie eine Antwort geben will -, wird erst deutlich,

wenn man sich die Überlegungen genauer ansieht, die für eine solche Antwort einschlägig sind. In der Durchführung der ‚Deduktion der Kategorien‘ in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ hat Kant Überlegungen der Art, die hier ‚objektive Deduktion‘ genannt werden, an zwei Stellen ausgeführt und

mit einer Betrachtung verknüpft, die man als ‚subjektive Deduktion‘ bezeichnen kann. Er schreibt: „Diese Begriffe nun, welche a priori das reine Denken bei

jeder Erfahrung enthalten, finden wir an den Kategorien; und es ist schon eine hinreichende Deduction derselben und Rechtfertigung ihrer objectiven Gültigkeit, wenn wir beweisen können, daß vermittelst ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann“ (A 96/7). Dieses Argument entspricht dem Gedanken von ‚A 93/4‘. Bemerkenswert sind die Gründe, die Kant für eine weitergehende Betrachtung anführt: „Weil aber in einem solchen Gedanken mehr als das einzige Vermögen zu denken, nämlich der Verstand, beschäftigt ist, und dieser selbst als ein Erkenntnisvermögen, das sich auf Objecte beziehen soll, eben so

|

wohl einer Erläuterung wegen der Möglichkeit dieser Beziehung bedarf: so müssen wir die subjective Quellen, welche die Grundlage a priori zu der

Möglichkeit der Erfahrung ausmachen, nicht nach ihrer empirischen, sondern

transcendentalen Beschaffenheit zuvor erwägen“ (A 97). Eine Betrachtung der „subjectiven Quellen ... nach ihrer transzendentalen

/

Beschaffenheit“ wird deswegen für nötig gehalten, weil das Denken eines x af... Gegenstandes eine Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit verlangt, und! 2.

weil die Möglichkeit, daß der Verstand sich auf Objekte bezieht, einer Erklärung bedarf. Da die vorhergehende Betrachtung sich nicht mit der „subjectiven Quelle“ beschäftigt, kann man von ihr nicht erwarten, daß sie die Themen und Fragen beantwortet, derentwegen eine solche Betrachtung eigens eingeführt wird. Bezeichnet man in Anlehnung an ‚A XVII‘ die vorhergehende Betrach-

tung als „objective Deduction“, so kann diese keine Erklärung dafür geben, daß der Verstand, bzw. seine Begriffe, die Kategorien, sich überhaupt auf Gegen-

166

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

stände beziehen. Diese Deduktion zeigt also nicht, daß der Verstand sich auf Gegenstände bezieht, sondern nur, daß er dies vermittelst der Kategorien tut,

wenn er es denn überhaupt tut. Zu demselben

|

Ergebnis führt eine Betrachtung der zweiten Stelle, an der

Kant in der Durchführung der ‚Deduktion‘ auf den Gedanken zu sprechen kommt, der für die „objective Deduction“ bestimmend ist: „Nun behaupte ich:

die oben angeführte Kategorien sind nichts anders, als die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung, so wie Raum und Zeit die Bedingungen der Anschauung zu eben derselben enthalten. Also sind jene auch Grundbegriffe, Objecte überhaupt zu den Erscheinungen zu denken und haben also a priori objective Gültigkeit; welches dasjenige war, was wir eigentlich wissen wollten“

(A 111). Dieser Nachweis der „objektiven Gültigkeit“ der Kategorien beruht erstens auf der Annahme, daß diese „Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung“ sind, und setzt zweitens voraus, daß wir Erfahrungen haben, daß wir also „Objekte überhaupt zu den Erscheinungen denken“. Kant fährt fort: „Die Möglichkeit aber, ja sogar die Nothwendigkeit dieser Kategorien beruht auf der Beziehung, welche die gesammte Sinnlichkeit und mit ihr auch alle mögliche Erscheinungen auf die ursprüngliche Apperception haben ...“ (A111). Jeder weiß, daß der Zusammenhang zwischen gegebenen Vorstellungen und der Einheit der Apperzeption im Zentrum der ‚Deduktion der Kategorien‘ steht. Hält man sich an die ‚Vorrede‘, so gehört freilich die Aufklärung dieses Zusammenhangs nicht zur Beantwortung der „Hauptfrage“; denn diese sollte ja durch die in ‚A 92/3‘ gegebene „objektive Deduktion“ ihre Antwort finden.

Betrachtet man aber die Überlegungen, die am ehesten als eine „subjective

Deduction“ anzusehen sind, dann wird man nicht umhin können, die Fr age, zu

der sie als Antwort gehört, als die grundsätzliche und interessante Frage anzuse-

hen. Denn die Frage „wieist das Vermögen zu denken selbst möglich?“ verlangt

eine Erklärung dafür, daß wir überhaupt Erkenntnisse von der Art besitzen, daß gegebene sinnliche Vorstellungen die Bedingungen erfüllen, „deren der

Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf“?*. Demgegenüber ; hatte Kant behauptet: „... und obgleich diese Erörterung in Anschung meines Hauptzwecks von großer Wichtigkeit ist, so gehört sie doch nicht wesentlich zu

demselben ...“ (AXVID). Da die Frage, deren Antwort die „objective Deduk-

tion“ ist, nur deswegen als „Hauptfrage“ ausgezeichnet wird, weil Kant diesen „Hauptzweck“ verfolgt, ist zu klären, was er denn für diesen gehalten hat.

Bedarf es überhaupt einer Deduktion der Kategorien, um ihn zu erreichen? In der bekannten Anmerkung zur ‚Vorrede‘ zu den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ hat er sich dazu klar und deutlich geäußert. Zuerst einige Hinweise auf den historischen Hintergrund, vor dem diese Ausführungen zu sehen sind. Im Jahre 1785 veröffentliche Ulrich ein Buch mit dem Titel ‚Institutiones

Logicae et Metaphysicae‘, dessen Vorwort bereits auf die herausragende Bedeu24 A 90/B 123.

u

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

167

tung von Kants erster ‚Kritik‘ aufmerksam macht??. Da dieser ihm ein Buch,

vermutlich ein Exemplar der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, zugesandt hatte?, fühlte sich Ulrich ermutigt, auch sein Buch Kant zu schicken. In dem begleitenden Brief heißt es: „Ew. Wohlgeb. werden zwar überall in meinem

Buche Beweise finden, daß ich zu Ihren fleisigsten Lesern und Schülern gehöre, aber auch eben so mannigfaltige Proben, wie schwer es mir noch fällt, mich allenthalben so ganz in Ihr System hinein zu dencken; und ich bitte im voraus wegen mancherley Misverständnisse, deren sie mich vielleicht s£huldig finden dürften, um Verzeihung“?”. Der Brief endet mit der Bitte „einer kurzen Anzei-

ge und Beurtheilung meiner Schrift für die hiesige Allgemeine Litteraturzeitung“?®. Am 13. November 1785 schreibt Schütz, der Herausgeber dieser Zeitung: „Noch würden sie mich außerordentlich verbinden, wenn Sie eine

Anzeige von Ulrichs Lehrbuche, das er Ihnen selbst zugesendet beyfügen, und darinn bemerken wollten, was Ihnen zu berichtigen vorgekommen seyn sollte. Ists Ihnen aber nicht möglich so mag es Hr. Hofprediger Schultz übernehmen“??, Schultz hat die Rezension übernommen; sie erschien am 13. Dezember 1785?°, Obwohl der Rezensent Kant sehr verbunden, das rezensierte Buch

diesem ausdrücklich verpflichtet war, und die Rezension in einer Zeitschrift erschien, deren Herausgeber „in der Allg. Lit. Zeitung künftig keine Gelegenheit... immer auf ihre Ideen zurückzukommen“ versäumen wollte?!, enthielt

die Besprechung eine scharfe Kritik an Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘?, Ulrich hatte in seinem Buch die These vertreten, daß die Kategorien nicht nur auf Erscheinungen, sondern auch auf Dinge an sich angewandt werden können ($ 236), und daraus die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori abgeleitet, die nicht auf den Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung restringiert ist ($ 242). Schultz fand diese Thesen nicht unbegründet und räumte ein, daß er die „Zweifel des Herrn Hofraths“ teile. Er war sich bewußt, daß diese Einwände

„das Hauptfundament des ganzen Kantischen Lehrgebäudes treffen“, und gab die folgende Diagnose dieses „Lehrgebäudes“: „Die Hauptsache desselben (seil.

des Kantischen Systems), von welcher die wahre Grenzbestimmung der reinen Vernunft abhängt, beruht vorzüglich auf der Deduction der reinen Verstandesbegriffe, welche die Kritik der reinen Vernunft S. 84-147 liefert. Es ist daher zu bedauren, daß der H. V. nicht vorzüglich diese untersucht hat. Doch vielleicht

hielt ihn hievon blos die Dunkelheit zurück, die eben in diesem Theile der 25 Jena 1785, 2ff.

26 Vgl. AA 13.146. 27 Brief vom 21. 4. 1785 (AA 10.402).

28 A.a.O., 403. 29 AA

10.421.

30 Allg. Lit.-Zeitung 295, Jena 1785, 297/9. 31 Brief vom 20. 9. 1785 (AA 10.408). 32 Hamann schreibt am 9. 4. 1786 an Jacobi: „Hofprediger Schultz, mit deßen Recension des

Ulrichschen Compendii er (scil. Kant) ungemein misvergnügt gewesen, ist ihm zuvorgekommen, und hat ihn neulich besucht. Die Unterredung hat lange gewährt; Kant scheint mit dem Ausgange zufrieden gewesen zu seyn.“ (J. G. Hamann, Briefwechsel, Bd. 6, Hrsg. A. Henkel, Frankfurt 1975, 349).

168

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

Kritik, welcher gerade der helleste seyn müßte, wenn das Kantsche System eine vollkommene Überzeugung gewähren sollte, am allerstärksten herrscht“. Kant hatte im ‚Vorwort‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ die „Hauptfrage“ „... was und wieviel kann Verstand und Vernunft, frei von

aller Erfahrung, erkennen?“

mit der „objektiven Deduktion“

in der Weise

verbunden, daß diese durch den Nachweis und die Erklärung der „objektiven Gültigkeit der Begriffe“?* des reinen Verstandes eine Antwort auf jene Frage liefert. Wir hatten gesehen, daß die Antwort als eine Restriktion des Anwendungsbereiches der Kategorien zu verstehen ist. Daraus ergab sich auch „die

wahre Grenzbestimmung der reinen Vernunft“, wie Schultz betonte, so daß die Durchführung der ‚Deduktion der Kategorien‘ dafür verantwortlich sein mußte, daß die „Zweifel“ von Ulrich nicht ausgeräumt worden waren.

Es ist erstaunlich, daß diese Überlegung des „tiefforschenden Recensenten“

von Kant bestritten wurde. Er faßte sie in der These zusammen, „daß nämlich

ohne eine ganz klare und genugthuende Deduction der Kategorien das System der

Kritik der reinen Vernunft in seinem Fundamente wanke“>. Demgegenüber

behauptet Kant, daß „jenes Hauptfundament auch ohne vollständige Deduc-

tion der Kategorien fest stehe... .„“*, und gibt einen ausführlichen Beweis für die These. Nicht dieser Beweis, sondern Kants Einschätzung der ‚Deduktion der Kategorien‘ ist hier von Interesse. Das „System der Kritik“, so führt er aus, ist „auf dem Satze erbauet.....: daß der ganze speculative Gebrauch unserer Vernunft

niemals weiter als auf Gegenstände möglicher Erfahrung reiche”. Im Hinblick

auf die Begründung dieses Satzes unterscheidet Kant nun zwei Beweisziele, die durch die folgenden Sätze formuliert werden. (A) Es ist zu zeigen, daß die Kategorien keinen anderen Gebrauch als bloß in

Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung haben können.

(B) Es ist zu zeigen, wie die Kategorien die Gegenstände der Erfahrung möglich machen. In derselben Anmerkung wird die zweite Aufgabe auch so beschrieben, daß zu zeigen ist, wie Erfahrung vermittelst jener Kategorien und nur allein durch dieselben möglich ist. Für Kant hängen diese Beweisziele so miteinander zusammen, daß (A) sowohl hinreichend als auch notwendig ist, um das „System

der Kritik“ zu begründen, während (B) dafür nicht notwendig, aber „ver-

dienstlich“ ist. Die verstanden, deren ‚Deduktion‘ ist im Grenzbestimmung

‚Deduktion der Kategorien‘ wird als eine Argumentation Ziel („Absicht“) sowohl (A) als auch (B) sein kann’? Die Hinblick auf den „Hauptzweck des Systems, nämlich der der reinen Vernunft“, schon dann „weit genug geführt“,

33 A.a.O., 298bf. 34 AXVI.

35 Anfangsgründe, Vorrede (AA 4.474.16/8).

36 A.a.0.,Z.41. 37 A.a.O., Z. 23/5.

38 Zu diesem Gebrauch des Ausdrucks ‚Deduktion‘ bemerkt Erdmann, Kriticismus, 141f., „daß Kant den Begriff der Deduktion hier über die ganze Analytik ausdehnt.

$ 2: Objektive vs. Subjektive Deduktion

169

wenn sie (A) plausibel macht, während eine „vollständige Deduction der Kategorien“ erst dann vorliegt, wenn die Absicht (B) verwirklicht ıst. Der „Hauptzweck des Systems“ läßt sich demnach ohne eine „vollständige Deduktion“ er-

reichen.

Zwei Jahre später sah sich Kant genötigt, eine Veranlassung zum „Mißver-

stande“ auszuräumen, die darin bestand, daß er in der besprochenen Anmer-

kung „die Deduction der Kategorien zwar für wichtig, aber nicht für äußerst nothwendig ausgebe, letzteres aber in der Kritik doch geflissentlich behaupte“. Diese Beschreibung ist insofern irreführend, als der Terminus ‚Deduction der

Kategorien‘ in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ nicht so verwandt wird wie in

der besagten Anmerkung. Insbesondere aber ist zu bemerken, daß Kant nun

mit diesem Ausdruck solche Überlegungen, mit denen das Beweisziel (B) verbunden wird, bezeichnet, - also diejenigen, die eine „vollständige Deduktion

der Kategorien“ geben. Denn die Deduktion, die als „keineswegs notwendig,

sondern blos verdienstlich“ angesehen wurde, ist die Deduktion, die zu jenem Beweisziel führen sollte. Daß die ‚Deduktion der Kategorien‘ mit verschiede-

nen Beweiszielen verknüpft werden kann, versteht Kant nun als eine unterschiedliche Betrachtungsweise dieser Argumentation. Sofern sie „nur zu einer

negativen Absicht ... in Betracht gezogen“ wird, ist ihr Beweisziel so zu beschreiben:

(C) Es ist zu zeigen, daß vermittelst der Kategorien allein (ohne sinnliche

Anschauung) gar keine Erkenntnis der Dinge zu Stande kommen kann. Eine andere Betrachtungsweise der ‚Deduktion‘ ergibt sich durch die folgende Überlegung: „Weil wir aber von ihnen (scil. den Kategorien) doch einen Gebrauch machen, darin sie zur Erkenntniß der Objecte (der Erfahrung) wirklich gehören, so mußte nun auch die Möglichkeit einer objectiven Gültigkeit solcher Begriffe a priori in Beziehung aufs Empirische besonders bewiesen werden, damit sie nicht gar ohne Bedeutung, oder auch nicht empirisch entsprungen zu

sein geurtheilt würden; und das war die positive Absicht, in Ansehung deren die

Deduction allerdings unentbehrlich nothwendig ist“. Wird die „Deduction“

in „positiver Absicht“ betrachtet, so ist ihr Beweisziel folgendermaßen an-

zugeben: (D) Es ist zu zeigen, daß die objektive Gültigkeit der Kategorien in Beziehung

aufs Empirische a priori möglich ist. Wie verhalten sich (A) und (C) zueinander? Während (A) von der Annahme ausgeht, daß die Kategorien „in Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung“

gebraucht werden, und die Aufgabe stellt, jeden anderen Gebrauch auszuschlie-

ßen, scheint (C) eine solche Annahme nicht zu machen. (A) impliziert freilich (C). Da Kant (A) zwei Jahre später als (C) interpretiert, kann man davon ausgehen, daß er auch (C) mit jener Annahme verbindet. Dies ist bemerkens39 Gebrauch (AA 8.184). 40 A.a.O.

170

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

wert, weil es eine Voraussetzung deutlich macht, unter der Kants Versuch steht,

den „Hauptzweck des Systems, die Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ zu erreichen. Er geht dabei von der Annahme aus, daß die Kategorien „in Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung“ gebraucht werden. Die Frage nach den Grenzen ihres Gebrauchs stellt sich im Rahmen und unter der Voraussetzung

ihrer faktischen Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung. Demgegenüber

ist die Betrachtung der ‚Deduktion‘ in „positiver Absicht“ die Lösung

der

Aufgabe (D); und hier gilt diese Voraussetzung nicht, und sie kann auch nicht gelten, wenn die Lösung keine ‚petitio principii‘ sein soll. Nimmt man an, daß

Kant sich nicht geirrt hat, wenn er Zwei Jahre später (B) als (D) deutet, dann folgt, daß seine Ausführungen im Jahre 1786 nicht nur „Veranlassung zum

Mißverstande“ gegeben haben, sondern auch geben mußten. Denn die Lösung der Aufgabe (B) ist dann keineswegs „blos verdienstlich“,

um die „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ vorzunehmen, sondern viel-

mehr dazu notwendig. Wenn dieser „Hauptzweck des Systems“ jeden anderen Gebrauch

als den, der sich auf Gegenstände

möglicher Erfahrung erstreckt,

ausschließen will, dann wird bereits vorausgesetzt, daß es einen Gebrauch der

Kategorien mit Bezug auf solche Gegenstände gibt. Die „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ kann nur dann ein sinnvolles Ziel sein, wenn man

diese

Voraussetzung macht. Denn weshalb sollte man sich darum kümmern, die Anwendung der Kategorien zu limitieren, wenn nicht schon klar ist, daß sie überhaupt anzuwenden sind? die Aufgabe (B) zu lösen ist aber nichts anderes als der Nachweis, daß jene Voraussetzung erfüllt ist; und die Aufgabe (A) stellt

sich erst, wenn die Aufgabe (B) gelöst ist. Insofern ist es nicht „blos verdienstlich“, sondern trivialerweise vorausgesetzt, daß die Aufgabe (B) zu lösen ist, wenn man sich die Aufgabe (A) stellt. Daß Kant bestreitet, daß die Beschäftigung mit (B) für die Beschäftigung mit (A) notwendig ist, kann ich mir nur durch die besondere Veranlassung der Anmerkung in der ‚Vorrede‘ zu den „Metaphysischen Anfangsgründen“ erklären. Schultz hatte Ulrichs Absicht zutreffend dahingehend zusammengefaßt: „Daher seyn auch die Categorien nicht bloß auf Erscheinungen, sondern eben sowohl auf Dinge an sich anwendbar, folglich nicht bloß von immanentem, sondern auch von transcendentem, Gebrauch“*!. Der „immanente Gebrauch“ der Kategorien war also nicht strittig zwischen Ulrich und dem mit ihm sympathisierenden Schultz einerseits und Kant andererseits. Diesen Gebrauch zu rechtfertigen, ist aber die Aufgabe, die mit (B) gestellt ist, und deren Lösung freilich in dem genannten Diskussionszusammenhang nicht notwendig war, weil sie auch von Kants Kritikern akzeptiert worden war. Es hat den Anschein, als ob er diese Konstellation mit der logischen Beziehung verwechselt hat, die zwischen der Aufgabe (A) und der

Aufgabe (B) besteht.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die in der ‚Vorrede‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ besonders hervorgehobenen Überlegungen von ‚A 92/3‘ und die durch sie definierte „objektive Deduktion“ gar nicht in das

41 A.a.O., 298b.

$ 3: Die subjektive Deduktion von 1780

171

Zentrum von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ führen. | Die Bedeutung, die er ihnen beimißt, ergibt sich durch sein Interesse an der : „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“. ImJahre 1786 betont er selber gegen- ' über Schultz und Ulrich, daß dies auch ohne eine „vollständige Deduction der Kategorien“ erreicht werden kann. Es ist deutlich geworden, daß Kants Überlegungen zur „Grenzbestimmung“ von der Annahme ausgehen, daß wir empirische Erkenntnisse besitzen und das Ziel haben, den Gebrauch der Kategorien auf die Gegenstände möglicher Erfahrung zu restringieren. Demgegenüber enthält die sogenannte „subjective Deduction“ die Überlegungen,

die Kant 1786 irr-

tümlicherweise als „keineswegs nothwendig, sondern blos verdienstlich“ ange-

sehen hatte. Es sind diese Überlegungen, die jene „Schwierigkeit“ auflösen, derentwegen er die „Mühen“ einer ‚Deduktion der Kategorien‘ auf sich genommen hatte, und deren Bedeutung durch die Klarstellung im Jahre 1788 hervor- . gehoben wird. Während die „objective Deduction“ die schon 1766 geplante „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ realisiert, liefert die „subjective Deduction“ den Nachweis der „objectiven Gültigkeit subjectiver

Bedingungen des Denkens“ und muß als das Kernstück einer ‚Deduktion der Kategorien‘ angesehen werden. Als Entwürfe zu einem solchen Projekt können nur die Überlegungen angesehen werden, in denen der Begriff der Apperzeption eine zentrale Stellung einnimmt.

$ 3: Die subjektive Deduktion von 1780 Kant hat 1781 die Frage, auf die eine „subjektive Deduktion“ eine Antwort zu geben versucht, als die Frage formuliert: „..... wie nemlich subjective Bedingun-

gen des Denkens sollten objective Gültigkeit haben ...“!. Wir können diese Frage bis auf das Jahr 1769 zurückverfolgen, als ihm die Bedeutung der Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen der Erkenntnis klar wurde2, und er zu der Einsicht gelangte, daß die Begriffe der Metaphysik subjektive Bedingungen unserer Erkenntnis sind?. In ‚R 3971° heißt es: „Aber daß etwas ohne Grund

sey, zeigt nur eine subiective bedingung an, und das

obiect könnte auch ohne diese in die Sinne fallen.“ Gegebene Vorstellungen müssen nicht nach Grund und Folge geordnet sein, und hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen Raum und Zeit als formalen Bedingungen solcher Vorstellungen und den subjektiven Bedingungen unserer Erkenntnis. Sofern wir überhaupt gegebene Vorstellungen haben, sind diese formalen Bedingungen erfüllt; aber dadurch ist nicht sichergestellt, daß sich diese Vorstellungen so verbinden lassen, daß wir sie als eine Erkenntnis ansehen können. Dies ist nur

dann der Fall, wenn die gegebenen Vorstellungen auch jene subjektiven Bedin1 A 89/B 122,

2 Vgl. 5015; Brief an Herz vom 7. 6. 1771 (AA 10.122).

3 Vgl.1.3.

172

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

gungen erfüllen, unter denen die für uns mögliche Erkenntnis steht. Daher schreibt Kant: „Allein da die metaphysische Begriffe von Grund, substantz etc. nicht eigentlich vorstellungen der obiecten seyn, indem auch der Vollkomm«,ste Sinn diese an keinem Dinge empfinden kann und ohne diese Verhaltnisse die

Dinge insgesammt, obzwar nicht durch unsere Vernunft, können vorgestellt werden ...“*. Die Möglichkeit, daß sie durch „unsere Vernunft“ vorgesteflt

werden, ist die Möglichkeit, daß wir im Hinblick auf die uns gegebenen Vorste]-

lungen eine „Erkenntnis durch unsere Vernunft“ haben. Der Nachweis, 4,ß die subjektiven Bedingungen unserer Erkenntnis, die, sofern sie den Verstand

oder die Vernunft betreffen, als metaphysische Begriffe bezeichnet werden, objektive Gültigkeit haben, ist demnach der Nachweis, daß wir überhaupt

Erkenntnis haben: „Daraus entspringen alle Erkenntnisse, wie wir nemlich data

fassen und uns selbst etwas, was Erkentnis heißt, formiren können“®. Können

wir dies „formiren“?

\

Die Betrachtung der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zu

einer ‚Deduktion der Kategorien‘ zeigt also, daß die Fragestellung, auf die eine subjektive Deduktion eine Antwort geben will, aber auch die Versuche ihrer

Beantwortung, die von dem Begriff der Apperzeption ausgehen, im Zentrum seiner Überlegungen zur theoretischen Philosophie stehen. Im Gegensatz zu

meiner Einschätzung der Beziehung, die zwischen einer „subjektiven“ und einer „objektiven“ Deduktion besteht, und der darauf gegründeten Bewertun

von Kants Überlegungen um 1775 hat Guyer diese so dargestellt, daß der nach Prämissen und Beweiszielen fundamentale Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Deduktion nicht hervorgehoben wird. Er vertritt die These, daß

Kants Denken durch eine grundlegende „Ambivalenz“ bestimmt wird, die Sich

nicht nur in jenen Überlegungen, sondern auch in der ersten und zweiten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ finder”. Ich beschränke mich hier auf seine Diagnose von Kants Überlegungen vor 1781, von denen Guyer nur die

aus dem Jahre 1775 berücksichtigt. Er schreibt von den ‚Reflexionen‘ aus dem ‚Duisburg’schen Nachlaß‘: „These materials suggest the following conclusions. The fundamental idea of 1774-5 is that certain rules can be shown to be necessary conditions for thinking of objects, as opposed to merely having sensations. But there is an underlying ambivalence on Kant’s part as to how these rules are to be derived which is never really resolved, even in the Critique of 1781. Kant ist not sure

whether these rules should be derived directly from the concept of an object of experience, which by definition stands in contrasttoa merely subjective form of consciousness, or whether there are rules for self-consciousness itself which are

epistemologically prior to rules for objectivity yet which also imply the latter, as rules ofthe medium through which all objects must be represented“®. Wie aber 4 R 3942 (AA 17.357.12/6).

5 R 3978 (AA 17.374.11).

6 R 4631 (AA 17.615.12/4),

7 Vgl. Kant, 25f.; vgl. auch 73 ff. 8 Kant, 25,

$ 3: Die subjektive Deduktion von 1780

173

verhält sich das, was Guyer „the fundamental idea“ nennt, zu Kants ambivalenten Bemühungen? Geht es diesem darum zu bestimmen, welche Regeln notwendige Bedingungen für das Denken von Objekten sind? Oder will er

nachweisen, daß diese Bedingungen erfüllt sind, und wir somit gegebene Vorstellungen so organisieren können, daß wir Objekte denken? Kant versucht, beides zu tun, aber er vermengt diese Anliegen nicht miteinander. Wir haben in ‚II. $ 1° gesehen, wie er den ersten Punkt klärt. Damit ist aber nur eine Voraussetzung für das Projekt einer Deduktion, sei sie objektiver, sei sie subjektiver Art, geschaffen. Was aber den zweiten Punkt angeht, so betrifft er Kants Erklärung für die Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe, und zwar in der Form, die hier ‚subjektive Deduktion‘ genannt wird. Diese Unterscheidung zwischen der Voraussetzung für ein solches Projekt und einer möglichen Form seiner Durchführung macht Guyers Vorwurf einer „underlying ambivalence on Kant’s part“ hinfällig. Demgegenüber besteht der Unterschied zwischen einer „objektiven“

und einer „subjektiven“ Deduktion darin, daß einmal eine Erklärung für die Beziehung reiner Verstandesbegriffe auf Gegenstände gegeben wird, indem diese als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gedeutet werden, während in dem anderen Fall begründet wird, daß die uns gegebenen Vorstellungen notwendigerweisc unter jene Begriffe fallen. Indem Kant die Begriffe des Verstandes als Kategorien bestimmt, gibt er die Regeln an, die für das Denken von Gegenständen notwendig sind. Indem er eine Deduktion dieser Begriffe zu

geben versucht, bemüht er sich um den Nachweis der Gültigkeit dieser Regeln. Wir haben Kants ersten Versuch einer „subjektiven Deduktion“ kennenge-

lernt. Sie besteht im wesentlichen darin, daß die uns gegebenen Vorstellungen als bewußte Vorstellungen in einer Beziehung zu einem als Substanz verstandenen Subjekt der Vorstellungen stehen. Die in Betracht kommenden Beziehungen werden als „titel der Selbstwahrnehmung“ gedeutet und sind die Relatio-

nen, gemäß denen ein als Substanz gedachtes Subjekt von seinen Vorstellungen weiß, daß es sie hat. Diese Antwort ist sachlich unbefriedigend, weil sie auf

einer unbegründeten Identifizierung der realen Relationen zwischen einer denkenden Substanz und ihren Vorstellungen mit den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis von Objekten beruht; und eine solche Antwort konnte von Kant gar

nicht mehr erwogen werden, nachdem er die Paralogismen der Rationalen Psychologie entdeckt hatte. Soweit ich sehe, findet sich der früheste Beleg für diese Entdeckung in ‚R 5553‘: „Der Paralogism der reinen Vernunft ist eigentlich eine transcendentale Subreption, da unser Urtheil über obiecte und die Einheit des Bewußtseyns in demselben vor eine warnehmung der Einheit des Subiects gehalten wird. Der erste Schein ist der, da die Einheit der apperception, welche subiectiv ist, vor die

Einheit des Subiects als eines Dinges genommen wird“?. Adickes datiert diese ‚Reflexion‘ auf das Jahr 1779 oder in die Jahre 1780/83; in einer Anmerkung 9 AA 18.223.27ff.; vgl. A 402: „Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im

Subjekte dieser Gedanken zu halten.“

174

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

sprichter sich dafür aus, „dass wirin demL. Bl. eine Vorarbeit zur Kritik d. rein,

Vern. vor uns haben“!°, In ‚Reflexionen‘, die er zwischen 1776 und 1778 datiert,

ist von einer Entdeckung man seiner Datierung, so wurde. Wir können aber genstheorie nicht direkt

der Paralogismen noch nichts zu bemerken!!. Folgt stammt ‚R 5553‘ aus der Zeit, in der ‚B 12‘ geschrieben die Hinwendung zu einer transzendentalen Vermö= mit der Entdeckung der Paralogismen in Beziehung

setzen; denn wir hatten gesehen, daß die vermutlich nach 1777 zu datierende

Metaphysik-Vorlesung ‚L,‘ schon Hinweise auf eine solche Theorie enthält, aber gleichwohl noch die Auffassung der ‚Rationalen Psychologie‘ vertritt. Es ist gut möglich, daß die transzendentale Theorie der Erkenntnisvermögen durch Kants Lektüre von Tetens’ 1777 erschienenen ‚Philosophische Versuche über die menschliche Natur‘ beeinflußt wurde. Kant hat deutlich gesehen, daß er und Tetens verschiedene Fragen stellten und unterschiedliche Ziele verfolgten!?. Insofern kann der Einfluß nur darin bestanden haben, daß Kant sich genötigt sah, diese Differenzen durch Betonung des transzendentalen Charak-

ters seiner Theorie der Erkenntnisvermögen stärker herauszustellen. Im Zusammenhang mit dem Entwurf zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ von 1775 stellt sich vor allem die Frage, wie eine solche Theorie der Entdeckung der Paralogismen und damit der Preisgabe des dogmatischen Begriffs der Einheit des Subjekts Rechnung trägt. ‚B 12° ist zu skizzenhaft, und die Belege für diese Entdeckung, die sich aus der Zeit vor 1781 erhalten haben, sind zu wenige, als daß man Kants Überlegungen rekonstruieren und so jene Frage beantworten könnte. Ich begnüge mich mit einem Hinweis. In ‚B 12° bemüht sich Kant darum, einen Zusammenhang von Vermögen zu explizieren, und unterscheidet dabei zwei Formen, in denen eine Beziehung

zwischen verschiedenen Vermögen gedacht werden kann. Zum einen können Vermögen in der Weise miteinander verbunden sein, daß ein Vermögen ein

anderes voraussetzt. In diesem Sinne „beruht“ die empirische Einbildungskraft auf der Apprehension der empirischen Anschauung!?; und die produktive

Einbildungskraft ermöglicht die reproduktive!*. Zum anderen kennt Kant eine

Verbindung von Vermögen, die er durch den Ausdruck ‚im Verhältnis auf‘ beschreibt?5, und die nichtin einer Abhängigkeit besteht, sondern eine Koordi-

nation oder Kooperation verschiedener Vermögen darstellt. Es ist diese Form der Verbindung von Vermögen, die nach Kant die Annahme von Regeln

begründet, gemäß denen gegebene Vorstellungen verbunden werden!®. Es ist

demnach nicht die Einheit des denkenden Subjekts, sondern die Einheit ver-

schiedener Erkenntnisvermögen, welche die Grundlage für eine sich nach Regeln vollziehende Synthesis gegebener Vorstellungen bereitstellen soll. An 10 AA 18.224,32, 11 Vgl. R 5451/65.

12 Vgl. R 4900/1; vgl. S. 120ff.

13 Vgl. AA 23.18.15f. 14 Vgl. a.a.0., Z. 22. 15 A.a.0., 2.3; 5; 7.

16 Vgl. a.a.O., Z. 4; 34/36.

$ 3: Die subjektive Deduktion von 1780

175

die Stelle der substanzialen Einheit des Ichs tritt die geordnete Kooperation von Erkenntnisvermögen. Ob dieses Konzept klar genug bestimmt ist und wirklich die Annahme eines dogmatischen Ich-Begriffs vermeidet, kann nur eine Betrachtung des Begriffs der Apperzeption im Zusammenhang mit der Kritik an der Rationalen Psychologie in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ ermitteln. Sie muß wegen der diesem Versuch gesteckten zeitlichen Grenze hier unterbleiben. Ich will die Betrachtung der Entwicklungsgeschichte von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘ zwischen

Hinweis

1772 und 1781 mit einem

auf Fragen abschließen, die durch ‚B 12° aufgeworfen, aber nicht

beantwortet werden. Gegenüber den ‚Reflexionen‘ aus dem Duisburg’schen Nachlaß unterscheidet sich dieser Entwurf erstens dadurch, daß Kant den

Begriff der Apperzeption nicht mehr mit den Annahmen der ‚Rationalen Psychologie‘ zum Ich-Begriff verbindet, und zweitens dadurch, daß er das

Projekt einer Deduktion im Rahmen einer transzendentalen Vermögenstheorie durchführt. Ich vermute, daß diese Unterschiede miteinander zusammenhän-

gen. Die Vermögenstheorie ist nämlich so konzipiert, daß sie einen Zusammenhang von Apperzeption und Kategorien zu denken erlaubt, der nicht mehr auf der Annahme eines als Substanz gedachten einheitlichen Subjekts basiert. In

‚B 12° vertritt Kant zum erstenmal die These von der synthetischen Einheit der Apperzeption, er gibt jedoch keine Begründung für sie an!?. Die These besagt,

daß Vorstellungen als bewußte Vorstellungen nur dann zu der Einheit einer Apperzeption gehören können, wenn sie synthetisch verbunden werden. Zur

Begründung dieser These kann Kant nach der Entdeckung der Paralogismen nicht mehr auf die Struktur eines als Substanz gedachten Subjekts rekurrieren; er kann die These nicht durch die Annahme einer synthetischen Verfassung des

Subjekts selber plausibel machen wollen. Der Weg, den Kant einschlagen will und in der Tat eingeschlagen hat -, wird in der in ‚IV.3‘ dargestellten Argumentation durch die Prämissen (2) und (3) deutlich. Indem er die Synthesis, durch die allein Einheit der Apperzeption mit Bezug auf eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen möglich ist, mit der Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft korreliert, gibt er deutlich zu erkennen, was ihm vorschwebt. Er will die

synthetische Einheit der Apperzeption als einen Zusammenhang zweier transzendentaler Vermögen oder, anders formuliert, als die Erfüllung zweier Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bestimmen. Es kommt dabei nicht auf eine stichhaltige Erklärung dafür an, daß es gerade die Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft sein soll, durch die die synthetische Einheit der Apperzeption realisiert werden soll; denn man kann diese Synthesis, wie in ‚IV $ 2.3° dargelegt, als ein theoretisches Konstrukt verstehen, das die Korrelation der Bedingungen dafür, daß gegebene Vorstellungen verbunden werden, und daß sie als bewußte Vorstellungen zur Einheit der Apperzeption gehören, zum Ausdruck bringen soll. Wichtig ist vielmehr, eine Erklärung dafür zu finden, daß gegebene Vorstellungen als bewußte Vorstellungen synthetisch in

17 Vgl. S. 13173.

176

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

einem Bewußtsein verbunden sein müssen. Solange eine solche Erklärung nicht gegeben worden ist, hängen aber auch die Konsequenzen, die Kant aus dem Zusammenhang von Einheit der Apperzeption und transzendentaler Einbildungskraft ableiten will, gewissermaßen ‚in der Luft‘, Ich komme damit zu dem zweiten Problem, das für den Entwicklungsstand von Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘, wie er aus ,B 12 ablesbar ist, charakteristisch ist. Es ergibt sich durch seinen Versuch, den

Verstand durch den Zusammenhang von Einheit der Apperzeption und transzendentaler Einbildungskraft zu erklären und von diesem Zusammenhang her die Annahme

von „Regeln“ oder „Verstandesbegriffen“ verständlich zu ma-

chen. Wir hatten gesehen, daß der Verstand nicht zu den „drey ersten Vermögen“ gehört. Er ist ein Vermögen der begrifflichen Erkenntnis von dem, was

anschaulich gegeben ist. Die Kategorien sind die allgemeinen Formen einer solchen Erkenntnis. Sofern nun der Verstand durch die Verbindung von Einheit der Apperzeption und transzendentaler Einbildungskraft erklärt werden soll,

muß er als das Erkenntnisvermögen erscheinen, das eine synthetische Verknüpfung gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein realisiert. Selbst wenn Kant begründet hätte, daß das Vorkommen einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in einem Selbstbewußtsein eine Synthesis und eine synthetische Einheit gegebe-

ner Vorstellungen verlangen würde, so wäre damit noch nicht gezeigt, was für eine Synthesis und was für eine Einheit hier in Betracht kommen würde. Wir

wissen bislang bestenfalls, daß eine Synthesis erforderlich ist, wir wissen aber

nicht, welche. Dies gilt notwendigerweise auch für die transzendental verstandene Synthesis der Einbildungskraft und ihre Einheit; denn diese spezifiziert die Synthesis, die durch die synthetische Einheit der Apperzeption gegeben ist, als eine Synthesis gegebener Vorstellungen; und entsprechend ist die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft nur als eine synthetische Einheit gegebener Vorstellungen bestimmt. Welche Arten von Synthesis und welche Arten von Einheit hier in Betracht kommen, ist bislang offen. Aber Kant

sieht die Sache anders. Indem er die Kategorien als Vorstellungen der synthetischen Einheit gegebener Vorstellungen, die durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft hergestellt wird, interpretiert, verfügt er über eine Differenzierung und Gliederung dieser synthetischen Einheit, die jene Synthesis nicht bereitstellt. Denn diese Synthesis ist bislang nur als eine notwendige Bedingung synthetischer Einheit der Apperzeption plausibel gemacht worden; ihr ‚daß‘, nicht ihr ‚was für eine‘ ist erklärt worden. Was hier fehlt, läßt sich freilich klar angeben. Will man an der Identifizierung von Kategorien mit der transzendentalen Einheit der Synthesis der Einbildungskraft festhalten, dann muß die Grundlage dieser letzteren so ausgebaut werden, daß sie eine Spezifizierung von Arten von Synthesis und Arten von Einheiten erlaubt. Diese Grundlage ist die synthetische Einheit der Apperzeption. Es stellt sich daher für Kant die Aufgabe, diese Einheit so zu explizieren, daß die Kategorien sich als Arten synthetischer Einheit gegebener Vorstellungen, die in einem Selbstbewußtsein auftreten kön-

nen, begründen lassen. Kurz und schematisch gesagt: es stellt sich die Aufgabe,

$4: Fazit

177

die Kategorien aus der synthetischen Einheit der Apperzeption mit Bezug auf gegebene Vorstellungen zu entwickeln. Diese Aufgabe, nicht ihre Lösung, wird in der These formuliert, daß „die Categorien die nothwendige Einheit der Apperception“ ausdrücken"®.

$4. Fazit

Der hier unternommene Versuch, die Entwicklung von Kants Denken in den siebziger Jahren zu beschreiben, konzentriert sich ganz und gar auf das Thema ‚Deduktion der Kategorien‘ und erhebt daher nicht den Anspruch, die Entfaltung dieses Denkens in seiner inhaltlichen Breite darzustellen. Diese Beschränkung ist jedoch nicht willkürlich oder nur aus Gründen thematischer Eingren-

zung gewählt worden. Sie folgt vielmehr Kants eigenem Verständnis seiner Entwicklung. In der ‚Vorrede‘ zur ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ schreibt er: „Ich kenne keine Untersuchungen, die zu Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu Bestimmung der Regeln und Gränzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich in

dem zweiten Hauptstücke der transcendentalen Analytik unter dem Titel der Deduction der reinen Verstandesbegriffe angestellt habe; auch haben sie mit die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht unvergoltene Mühe gekostet“ (A XV. Die verschiedenen Texte, die diese Mühe dokumentieren, haben wir kennengelernt. Es geht jetzt darum, die Art dieser Mühe genauer zu charakterisieren. Wir haben gesehen, daß Kants Überlegungen zu einer ‚Deduktion der Katego-

rien‘ von einer Frage ihren Ausgang nahmen, die sich im Hinblick auf seine Theorie des „realen Gebrauchs des Verstandes“ stellte und nur auf diesem Hintergrund verständlich ist. Kant hat auf die thematische Kontinuität seiner Gedanken mehrfach hingewiesen. So schreibt er an Herz anläßlich der Ankündigung der Publikation der ‚Kritik der reinen Vernunft‘: „Dieses Buch enthält

den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, welche wir zusammen, unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligib:, abdisputirten und es ist mir eine wichtige Angelegenheit, demselben einschenden Manne, der es würdig fand meine Ideen zu bearbeiten und so scharfsinnig war, darinn am tiefsten hineinzudringen, diese ganze Summe meiner Bemühungen zur Beurtheilung zu übergeben“!. Die Überzeugung der thematischen Kontinuität seiner Überlegungen hat Kant nicht nur retrospektiv,

nach Abschluß seiner Entwicklung, die zu der Publikation der ‚Kritik der reinen Vernunft‘

führte, vertreten; sie hat ihn auch während

dieser Entwicklung

begleitet. So schreibt er am 25. Oktober 1773 an Nicolai: „Doch meine gegen18 AA 23.19.26f.

1 Brief vom 1. 5. 1781 (AA 10.266); vgl. auch den Brief an Bernoulli vom 16. 11. 1781 (AA 10.277 £.Jund den Brief an Schultz vom 3. 8. 1781 (AA 10.274).

178

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

wärtige Arbeit wird sie (scil. meine dissertation) in einem erweiteren Umfange

und, wie ich hoffe, mit besserem Erfolg in Kurtzem mehr ins Licht stellen.“? Nicht nur die Fragestellung von 1772 entsprang einer gewissermaßen internen Theoriekonstellation, sondern auch seine Versuche, eine Antwort zu finden,

lassen keine externen Beeinflussungen erkennen. Es ist eine eigene Fragestellung, und die Geschichte ihrer Beantwortung wird allein durch die Autonomie des philosophischen Gedankens determiniert. Daher läßt sich die Entwicklungsgeschichte als Entfaltung eines Arguments rekonstruieren. Kant konnte

zu Recht von sich sagen: „Ich habe niemand angeführt, durch dessen Lesung ich etwas gelernet habe. Ich habe Gut gefunden, alles fremde wegzulassen und meiner eignen idee zu folgen.“? Zu dem Bewußtsein der sachlichen Kontinuität seiner Gedanken paßt gut die Konzentration auf ein Thema, die für seine Überlegungen in den siebziger Jahren charakteristisch ist. Schon 1772 schreibt er an Herz: „In einer Gemüthsbeschäftigung von so zärtlicher Art ist nichts hinderlicher, als sich mit Nach-

dencken, das ausser diesem Felde liegt stark zu beschäftigen. Das Gemüth muß in den ruhigen oder auch glücklichen Augenblicken iederzeit und ununterbrochen zu irgend einer zufälligen Bemerkung, die sich darbiethen möchte, offen obzwar nicht immer angestrengt seyn. Die Aufmunterungen u. Zerstreuungen müssen die Kräfte desselben in der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit erhalten, wodurch man in Stand gesetzt wird den Gegenstand immer auf andren Seiten zu erblicken und seinen Gesichtskreis von einer mikroscopischen Beobachtung zu einer allgemeinen Aussicht zu erweitern, damit man alle erdenkliche Standpunkte nehme, die wechselsweise einer das optische Urtheil des andern verificire.“* Am Ende des Jahres 1773 schreibt er wiederum an Herz: „Allein da

ich einmal in meiner Absicht eine so lange von der Hälfte der philosophischen Welt umsonst bearbeitete Wissenschaft umzuschaffen so weit gekommen bin daß ich mich in dem Besitz eines Lehrbegrifs sehe der das bisherige Rätzel völlig aufschließt und das Verfahren der sich selbst isolirenden Vernunft unter sichere und in der Anwendung leichte Regeln bringt so bleibe ich nunmehro halsstarrig bey meinem Vorsatz mich keinen Autorkützel verleiten zu lassen in einem leichteren und beliebteren Felde Ruhm zu suchen. . .“5. Kant sprach daher auch von dem „Hauptgegenstand“, durch den die Ausführungen seiner Gedanken „wie durch einen Damm zurückgehalten werden“ und sah sich in „unermüde-

ter“ Arbeit an einem bestimmten Thema’. Nur weil er der Überzeugung war, daß alle seine Überlegungen auf einen bestimmten Punkt zuliefen, stellte er

immer wieder ein baldiges Erscheinen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ in Aussicht; die Hoffnung, diesen Punkt zu erreichen, verführte ihn dazu, Schwie-

rigkeiten als gelöst anzusehen, die es nicht waren. 2 3 4 5

AA 10.142. R5019, AA 10.132. AA 10.144.

6 Brief an Herz vom 24. 11. 1776 (AA 10.198f.).

7 Vgl. den Brief an Herz vom 28. 8, 1778 (AA 10.241).

$4: Fazit

179

Orientiert man sich an Kants Selbstverständnis, so ist die Entwicklung seines Denkens in den siebziger Jahren durch eine sachliche Kontinuität und eine thematische Konzentration geprägt; und es ist dieses Selbstverständnis, das den

hier unternommenen Versuch, diese Entwicklung anhand seiner Überlegungen zur ‚Deduktion der Kategorien‘ darzustellen, legitimiert, wie dieser Versuch

auch Kants eigenes Verständnis rechtfertigt. Wir haben es mit einem Stück Entwicklungsgeschichte seines Denkens zu tun, das zugleich die Explikation eines argumentativen Zusammenhangs ist. Weil dies so ist, kann eine Betrachtung dieser Entwicklungsgeschichte für das Verständnis der veröffentlichten Fassungen der ‚Deduktion der Kategorien‘ hilfreich sein und eine Alternative zu den anfangs erwähnten reduktiven oder hermeneutischen Ansätzen eröff-

nen. Kants Überlegungen gehen von der Frage aus, die er in dem Herz-Brief von 1772 als Entdeckung eines Defizits seiner „langen metaphysischen Untersuchungen“ präsentiert. Auf dem Hintergrund der ‚Dissertatio‘ läßt sich die Frage als eine Frage nach der Erklärung der Möglichkeit des realen Verstandesgebrauchs verstehen. Der Brief selber zeigt jedoch, daß eine solche Erklärung nur

für den Fall beabsichtigt ist, daß die Gegenstände Gegenstände sinnlicher Vorstellungen sind. Im Lichte der ‚Dissertatio‘ gesehen, besagt diese Restriktion des Anwendungsbereichs

der „Verstandesvorstellungen“

nichts weniger, als

daß es einen realen Verstandesgebrauch gar nicht gibt. Daß aber Kant sich überhaupt diese Frage vorlegt und sich nicht mit dieser negativen These begnügt,

macht deutlich, daß sein Begriff der empirischen Erkenntnis sich geändert hat. Erfahrung wird nun nicht mehr als „cognitio reflexa“, die aus einer logischen

Analyse gegebener Vorstellungen entspringt, verstanden, sondern gilt als eine Erkenntnis von Objekten, die nicht ohne die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen gedacht werden kann. Auf dem Hintergrund dieses neuen. Begriffs der empirischen Erkenntnis kann man die Fragestellung von 1772 auch so verstehen, daß Kant an der These des realen Verstandesgebrauchs festhält, aber ein anderes Kriterium - genauer: überhaupt ein Kriterium - für die Korrektheit dieses Gebrauchs einführt. Ein solcher Gebrauch liegt dann, aber auch nur dann, vor, wenn die Begriffe des Verstandes in „Einstimmung mit den

Dingen“, die durch Erfahrung zugänglich sind, stehen?. Die Fragestellung von 1772 geht von der Annahme aus, daß die Begriffe des Verstandes Begriffe a priori sind; denn nur unter dieser Voraussetzung ist es

sinnvoll, sich zu fragen, ob und wie solche Begriffe sich auf Erscheinungen beziehen. Kant hatte zu Recht gesehen, daß Humes „System des allgemeinen

Empirismus“ diese Annahme bestreitet!®. Die ‚Deduktion der Kategorien‘, als Antwort auf die Frage von 1772 verstanden, setzt daher voraus, daß dieses 8 Vgl. Diss., $5. 9 AA

10.131.22.

10 Vgl. Prolegomena, Vorwort: „Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntniß unentbehrlich sei, denn dieses

hatte Hume niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori, gedacht

180

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

„System“ irrig ist, und bemüht sich zu zeigen, daß Begriffe, die ihren Ursprung

nicht in der Erfahrung haben, gleichwohl notwendige Bedingungen jeder möglichen Erfahrung sind. Das Beweisziel der Deduktion ergibt sich somit als eine Folge dessen, daß Kant Humes

konsequenten Empirismus

bestreitet; und es

würde sich gar nicht stellen, wenn Hume recht hätte!!. Daher ist dieses Projekt selber wie auch die Entwicklungsgeschichte seiner Realisierungen kein geeigneter Rahmen, innerhalb dessen die Alternative von Empirismus und Transzen-

dentalphilosophie zu diskutieren ist. Was aber Kants Überlegungen zu diesem Projekt und ihre Entwicklungsgeschichte zeigen, ist, daß die auf dem Hintergrund von 1770 als neu zu bewertende Konzeption der empirischen Erkenntnis sich mit einer neuen Auffassung der Rolle der Begriffe des Verstandes verbindet, die auf unterschiedliche Weise

bestimmt wird. Wir hatten gesehen, daß diese Begriffe einerseits als formale Prinzipien empirischer Erkenntnis, andererseits als subjektive Bedingungen, unter denen ein für uns möglicher Begriff der Erkenntnis steht, verstanden

werden. Diese beiden Interpretationen führen zu unterschiedlichen Strategien der Beantwortung der Frage von 1772 und verbinden sich, wie wir im ‚$ 2

dieses Kapitels gesehen haben, mit verschiedenen Zielsetzungen von Kants

kritischer Philosophie. Die „objektive“ Deduktion hat als ihr wesentliches Be-

weisziel den Nachweis, daß sich die Begriffe des Verstandes genau dann auf Gegenstände beziehen, wenn sie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Mit diesem Nachweis sind zugleich die Grenzen des Verstandes bestimmt. Die „subjektive“ Deduktion hat demgegenüber das Beweisziel, daß die subjekti-

ven Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben, daß wir also im Hinblick auf die uns gegebenen Vorstellungen in der Lage sind, diese so zu ordnen, daß wir den unsallein möglichen Begriff der Erkenntnis darauf anwenden können. Während jene Deduktion die Frage von 1772 nur dann beantwor-

tet, wenn man davon ausgeht, daß wir Erfahrung haben, macht diese Deduktion eine solche Annahme nicht. Sie ist eine „Ergründung des Vermögens,

welches wir Verstand nennen“ (AXVI), in der der Begriff der Apperzeption eine zentrale Rolle spielt, während das für jene Deduktion nicht gilt. Kant hat von

den „zwei Seiten“ der ‚Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‘ gesprochen

und damit zu erkennen gegeben, daß dieses zentrale Stück der ‚Kritik der reinen

Vernunft‘ in zweierlei Hinsicht gelesen werden kann: als eine Theorie der

Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und als eine Theorie der epistemo-

logisch verstandenen Grundbegriffe der Metaphysik, als eine „Metaphysik von der Metaphysik“, wie er an Herz schreibt!?. Diese beiden Lesarten konvergie-

ren nicht, weder in den Prämissen, von denen Kant ausgeht, noch in den

Conclusiones, die er abzuleiten beabsichtigt. Sie überlagern sich aber in den werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innre Wahrheit und daher auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht blos auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei: hierüber erwartete Hume Eröffnung.“ (AA 4.258f.). 11 Vgl. Henrich, Identität, 16.

12 Brief vom 11.5. 1781 (AA 10,269).

$4: Fazit

181

Deutungen, die er von der ‚Deduktion der Kategorien‘ gibt, können aber durch eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung isoliert und voneinander abgegrenzt werden. Sie zeigt, daß wir diese ‚Deduktion‘ sowohl als einen Beitrag zu einer Theorie der Erfahrung als auch als ein Stück Metaphysik der Erkenntnis lesen können, und ermöglicht es so, in Alternativen festgefahrene Deutungsmuster zu unterlaufen'?, Um diesen programmatischen Thesen eine gewisse Plausibilität zu verleihen, möchte ich noch einmal auf den Unterschied zwischen einer „subjektiven“ und

einer „objektiven“ Deduktion der Kategorien eingehen. Im Hinblick auf ihre Beweisziele läßt sich diese Differenz so bestimmen, daß es in dem ersten Fall

um den Nachweis der objektiven Gültigkeit subjektiver Bedingungen des Denkens geht, während in dem zweiten Fall zu zeigen ist, daß die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Bezieht man diese Beweisziele auf die Fragestellung von 1772, dann gibt eine „subjektive“ Deduktion, sofern

sie denn zu ihrem Ziel gelangt, eine direkte Antwort auf diese Frage, während eine „objektive“ Deduktion sie nur dann beantwortet, wenn man zusätzlich die Annahme macht, daß wir überhaupt Erfahrung haben. Diese Differenz läßt sich

mit einer Unterscheidung korrelieren, die Kant in den ‚Prolegomena‘ im Hinblick auf die Erklärung der Möglichkeit der Metaphysik trifft. Eine solche Erklärung kann erstens auf „analytische“ Weise gegeben werden, indem wir annehmen, daß wir synthetische Erkenntnisse a priori besitzen. Diese Annahme

ist berechtigt, insofern wir uns auf die „Facta“ der reinen

Mathematik und reinen Naturwissenschaft zu Recht berufen können!*. Wir

können die Möglichkeit der Metaphysik aber auch auf „synthetische“ Weise erklären; und dieses Vorgehen finden wir in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘: „Diese Arbeit ist schwer und erfordert einen entschlossenen Leser, sich nach

und nach in ein System hinein zu denken, was noch nichts als gegeben zum Grunde legt außer die Vernunft selbst und also, ohne sich auf irgend ein Factum zu stützen, die Erkenntniß aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht.“!? Die „analytische“ Erklärung der Möglichkeit der Metaphysik teilt mit

der „objektiven“ Deduktion der Kategorien die Gemeinsamkeit, daß jeweils die

Annahme gemacht wird, daß es eine bestimmte Art von Erkenntnis gibt. Demgegenüber stimmt die „synthetische Erklärung“ mit einer „subjektiven“ Deduktion darin überein, daß eine solche Annahme gerade nicht gemacht wird. In dem ‚Vorwort‘ zu den ‚Prolegomena‘ behauptet Kant, auf die ‚Kritik

der reinen Vernunft‘ zurückblickend, daß „die Deduction ... das Schwerste

war, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte ... und... zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll“!®.

13 Vgl. dazu Baum/Horstmann, Metaphysik und Erfahrungstheorie, Phil. Rundschau 26, 1979, 62ff.

14 Vgl. $ 5 (AA 4.279). 15 $4 (AA 4.279). 16 AA 4.260.

182

V. Kants Entwicklung in den siebziger Jahren

Geht man davon aus, daß die Deduktion der Kategorien zu einer Begründung der Metaphysik dienen kann, und hält sich an Kants Überzeugung, daß er in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ bei dieser Begründung

„synthetisch zu

Werke gegangen ist“, dann kann eine solche Begründung nur in der Deduktion gesehen werden, die er als „subjektiv“ bezeichnet. Denn nur diese beweist die objektive Gültigkeit der Kategorien auf nicht-„analytische“ Weise, d.h. ohne Rekurs auf das „Faktum“ einer Art von Erkenntnis. Für einen Zusammenhang zwischen „subjektiver“ Deduktion und „synthetischer“ Begründung der Meta-

physik spricht aber auch, daß diese Begründung „die reine Vernunft selbst“ als Quelle von Erkenntnissen thematisiert!. Schließlich sei daran erinnert, daß die Aufgabenstellung einer „subjektiven“ Deduktion im Zusammenhang von Kants Deutung der metaphysischen Begriffe als subjektiver Bedingungen unseres Denkens entstanden ist. Diese Hinweise lassen die Vermutung plausibel erscheinen, daß die von Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ intendierte Begründung der Metaphysik in einem engen Zusammenhang mit der „subjektiven“ Deduktion der Kategorien steht. Um diesen Zusammenhang genauer zu fassen, wäre es nötig, Kants Konzept der Metaphysik und somit seinen Begriff von Philosophie zu explizieren!$, Dies will ich hier nicht versuchen; aber die von mir gegebenen Hinweise können vielleicht genügen, um die Vermutung plausibel zu machen, daß seine Behauptung, die ‚Kritik der reinen Vernunft‘

enthalte „die Metaphysik von der Metapysik“ nur dann und insofern berechtigt ist, als die „subjektive“ Deduktion der Kategorien als die Deduktion angesehen wird, deren Erfolg für die Rechtfertigung dieses Anspruches unerläßlich ist. In den Augen Kants war diese Deduktion ein Beitrag zu einer metaphysischen Begründung der Erkenntnis oder zu einer Begründung der Metaphysik als Erkenntnis. Nicht die Widerlegung des Skeptizismus, sondern Bedingungen einzulösen, unter denen eine Kritik an empiristischen Begründungen der Erkenntnis steht, war ihr Ziel.

Die Unterscheidung zwischen einer „objektiven“ und einer „subjektiven“

Deduktion der Kategorien, so wie sie hier verstanden wird, entspricht nicht

der Unterscheidung, die Henrich zwischen den Überlegungen, die sich mit „der Beziehung zwischen Urteilseinheit und Objektbegriff“ beschäftigen, und denjenigen getroffen hat, die ihren Ausgang von einer „Analyse des Selbstbewußtseins“ nehmen!?. Denn jene Überlegungen gehören, genau genommen, nicht zur ‚Deduktion der Kategorien‘ selbst, sondern zur Bestimmung des Beweis-

ieles einer solchen Argumentation??. Aber Henrich betont zu Recht, daß nur die zuletzt genannten Überlegungen den Weg eröffnen, um zu dem Ziel zu gelangen, das Kant sich mit einer ‚Deduktion der Kategorien‘ gesetzt hat?!. Auf

dem Hintergrund seiner Entwicklung in den siebziger Jahren wird sehr deut17 Vgl. a...0., $ 4 (AA 4.274); vgl. A XVIE. 18 Vgl. dazu A 836/46-B 864/74, 19 Identität, 16f.; 52f. 20 Anders Baum/Horstmann, a.a.O., 74.

21 Vgl. a.a.O., 53.

$ 4: Fazit

183

lich, weshalb er den von Henrich favorisierten Weg eingeschlagen hat. Guyer hat Henrichs Unterscheidung aufgenommen?? und so differenziert, daß sich vier verschiedene Strategien für die Durchführung einer ‚Deduktion der Kategorien‘ ergeben, die sich auch alle, mehr oder weniger explizit, bei Kant finden lassen sollen??. Wie Guyer selber einräumt, kommen wir so zu einer Variante der alten „patchwork theory“: die ‚Deduktion‘ als ein „patchwork of arguments“?*, Da diese Theorie, in ihrer alten wie in ihrer neuen Form, als Interpretation der von Kant veröffentlichten Fassungen dieses Lehrstücks der kritischen Philosophie konzipiert wurde und wird, kann ich sie hier nicht direkt widerlegen. Versteht man Kants Denken im Zusammenhang seiner Entwicklungin den siebziger Jahren, so wird man aber die Plausibilität dieser Theorie nicht gerade hoch einschätzen. Dies bedeutet nicht, daß man bestreitet, daß Kant verschiedene Wege geht, um eine Antwort auf die Frage von 1772 zu finden. Aber diese Überlegungen münden in die Entwürfe zu einer ‚Deduktion der Kategorien‘, in denen der

Begriff der Apperzeption eine zentrale Rolle spielt, und die schließlich zur „subjektiven“ Deduktion in der ersten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘

geführt haben. Daß Kant überhaupt diesen Begriff in seine theoretische Philoso-

phie einführt, hat seinen Grund darin, daß er die objektive Gültigkeit subjektiver Bedingungen des Denkens beweisen will. Das Besondere dieser Bedingungen ist Kant zum ersten Male klar geworden, als er in der Zeit um 1769 den

Status metaphysischer Begriffe in Abgrenzung zu logischen Grundsätzen zu

bestimmen versuchte; und seit dieser Zeit sind ihm die Schwierigkeiten be-

kannt, die er schließlich durch den Zusammenhang von Apperzeption und Vorstellungen von Objekten zu lösen sich bemühte. Sein erster Versuch, so hatten wir gesehen, basiert auf einem Zusammenhang von Apperzeptionsbegriff und Annahmen der ‚Rationalen Psychologie‘, der später, nach der Entdekkung der Paralogismen, aufgegeben werden mußte. Diejenigen, die, wie Haering und neuerdings Guyer, eine Kontinuität von Kants Auffassungen im Hinblick auf den Begriff der Apperzeption annehmen, haben den Bruch nicht bemerkt, der wegen der späten Entdeckung der Paralogismen zwischen seinen diesbezüglichen Überlegungen um 1775 und denen von 1780 besteht und bestehen muß. Weil dieser Bruch besteht, können wir die transzendentale Theorie der Erkenntnisvermögen, innerhalb derer 1780 der Begriff der Apper-

zeption expliziert wird, als einen Versuch verstehen, diesen Begriff so zu konzipieren, daß er sich nicht mehr auf die Behauptungen der Rationalen Psychologie stützt. Dies, so scheint mir, eröffnet die Möglichkeit, jene Theorie von dem Verdacht des Psychologismus zu befreien und damit einen weit verbreiteten Vorbehalt gegen die erste veröffentlichte Fassung der ‚Deduktion der Kategorien‘ auszuräumen. Auf dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte von Kants Denken erscheint diese Fassung in einem neuen Licht. 22 Vgl. Kant, 86. 23 Vgl. a.a.O., 85f. 24 A.a.O., 432.

Literaturverzeichnis Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert, mit Ausnahme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, die, wie üblich, nach der ersten und der zweiten Auflage zitiert wird. Die wichtigste Literatur wird mit Hilfe eines Kurztitels, der hier durch Kursivdruck hervorgeho ben wird,

genannt:

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Namenregister Adickes, E. 9, 14, 28,30, 31,34, 35, 55f., 65, 74, 89, 91, 103, 109, 116, 119, 143, 149, 155f., 157, 158, 163, 173

Krüger, L. 10, 109 Kuchn, M. 50, 150, 156

Ameriks, K. 10 Aristoteles 34 Arnoldt, E. 9, 103, 117, 118

Lambert,J. H. 17f., 23f., 26 Lehmann, G. 118 Leibniz, G. W. 24

Locke, ]. 11, 20, 25, 28f., 40, 88, 105, 107, 109, 110, 114, 115, 122, 123

Aschenberg, R. 10 Baum, M. 181, 182 Baumgarten, A. G. 36, 38f., 43, 57f.,70, 88, 111f., 143

Beck, L. W. 23, 27, 149 Bennett,J. 10, 12, 147 Berkeley, G. 146 Bernoull,]. 22, 38, 51,177 Bieri, P. 10, 12 Carl, W,

Nadler, J. 156 Nicolai, Chr. F. 177 Paton, H.]J. 14

150, 156

Patzig, G. 12 Paulsen, F. 14, 16, 20, 23, 55, 147, 151, 155, 156

Chiodi, P. 161 Cohen, H. 14 Crusius, Chr. A. 117

Poelitz, C.H. 117

Descartes, R. 25 Erdmann,

B. 14, 117£., 150-4,

Reich, K. 55, 78, 132, 157 157f., 168

Feder, J. G. H. 146 Garve, Chr. 9f., 115, 149 Gawlick, G. 150, 156f. Graubner, H. 111f.

Guyer, P. 15, 19, 21, 24, 61, 69, 78, 79, 82, 86-8, 92f., 97f., 100, 102, 103, 140, 172f., 183

Haering, Th. 74,75, 77,79, 82, 83, 88, 89, 90, 91,95, 97, 100, 101f., 183 Hamann,J. G. 115, 156, 167

Hegel, G. W. F. 115 Heinze, M.

Meter, G. F. 34, 108 Mendelssohn, M. 9, 10, 51, 115, 154 Menzer, P. 118

101, 117-20

Henrich, D. 13, 14, 31, 180, 182f.

Reicke, R. 74, 103

Riehl, A. 14, 16, 18, 22, 24, 55, 63, 124, 148, 149, 151, 154

Robinson, L. 148, 158

Schmucker, J. 149 Schulthess, P. 70, 78

Schultz,]. 8, 9, 23, 167£., 170, 171, 177 Schütz, Chr. G. 167 Strawson, P. F. 12f., 125 Stroud, B. 45 Stuhlmann-Laeisz, R. 32, 132

Sulzer, J. G. 118 Swain, C. W. 156 Tetens, 174

J. N.

105,

Herder,J. G. 115, 156

Tieftrunk,J. H. 8

Herz, M. 8, 14, 16-9, 22-4, 26f., 37f., 48,

Tonelli, G. 148, 154

51-3, 55, 59, 61f., 65, 67, 70, 72-4, 99, 115, 119, 145, 157f., 162-4, 171, 177-80 Hinske, N. 61, 157

Uebele, W. 120

Horstmann, R.-P. 10, 181, 182

Hume, D.7, 10-2,45, 119, 121, 145-58, 179. Jacobi, F. H. 167 Kästner, A. G. 78 Kreimendahl, L. 150, 156f.

115f.,

118,

119-126,

Ulrich,J. A. H. 166-171 Vaihinger, H. 100, 151

De Vleeschauwer, H.]J. 14, 16,55, 75, 82, 88,

101, 120

Warda, A. 115 Wolff, Chr. 38, 111

Stellenregister AA 1 (Nova dilncidatio) 391ff.:

AA 2

148

(Spitzfindigkeit)

47: 30

AA 2 (Versuch) 199: 28 202ff.: 148 204: 33

AA 2

(Dentlichkeit)

276: 283:

31 38

(Träume)

367.

50f.

370£.:

148

370: 30, 33

AA 2 392:

31 151 181f. (85): 11 181 149f. ($ 52b, Anm.): 149 147 12, 146, 158

AA 4 (Metaphysische Anfangsgründe) 474, Anm.:

168-71

475f., Anm.:

294 ($ 3): 30 AA2

270: 273: 274: 277 279: 338: 341 351: 360:

(Dissertatio) 18-20

476, Anm.:

9 8

AA 5 (Kritik der praktischen Vernunft)

13: 7, 146f.

51f.: 147 52: 155 141: 12, 147f., 163

AA 5 (Kritik der Urteilskraft) 238:

12

392 ($ 3): 65 392. ($$ 3f.): 21 392. ($ 4): 19

AA 7 (Anthropologie)

393f. ($ 5): 20, 179

AA 8 (Gebrauch)

393: 18, 20f., 51, 56, 65 394: 20, 24, 51, 63, 107f,

394 ($ 6): 20

395: 18, 20f., 24, 28, 51, 70 396: 398:

21 24

398 ($ 13): 65 410f. ($ 23): 20

182:

184:

128

169

AA 8 (Entdeckung) 245:

33

Kritik der reinen Vernunft

411: 20, 51,63

AXIL:

411f. ($ 24): 22f, 412, Anm.: 23

AXVI£.:

AA 4 (Prolegomena) 257: 11,148 258: 11, 146, 152 258f.: 179f. 260: 10, 11, 147, 148, 150-3, 181 260/2: 7 261: 8, 152 262: 11,152 266: 33

AXVI:

109

7,10, 162-164, 168, 177, 180 182

A XVII: 67, 163-6, 168 B 1: 107 B 10£.: 33 B 19: 150 B 25: 125£., 130 A 19/B 33: 135 A 20/B 34: 53 B38: 75 A 85/B 117: 159 A 87£./B 120f.: 159 A 88/B 120: 159

187

Stellenregister A A A A A A A A A A A A

89/B 121f.: 159. 89/B 122: 49, 158£., 171 89f,/B 122: 52 89/91-B 122f.: 54 90/B 122: 160f. 90/B 123: 161f., 166 91/B 123: 161 92/B 125: 164 92f./B 124f.: 27, 165f., 170 93/B 125: 164 93/B 126: 164 93/4: 165

A 94: 104, 125-7 A 96f.: 165 A 97: 165 A 97£.: 134

A122:

125, 127 134, 143 132

B 128: B 132:

11 133

B 127: 11,109

B 133f,, Anm.:

132

A 191/3-B 236/8: 84 A 238/B 297: 109 A 247/B 303: 75 A250: 75 A 260/B 316: 105f. A 261/B 317: 105 A 271/B 327: 24 A 402; 173 A 407/B 434: 157 A 437/B 465: 75 A 490f./B 518f.: 150 A 506/B 534: 150 A 560f./B 534f.: 149 A 719/B 747: 135 A 730/B 758: 75 A 758/B 786: 109, 151 A 760/B 788: 12, 146, 151 A 761£./B 789£.: 151 A 764/B 792: 151

A 767/B 795:

12, 153

A 769/B 797: 151 A 836/46-B 864/74:

182

AA 10 (Briefe) 70 (an Mendelssohn): 51 97 (an Lambert): 17 98 (an Lambert): 17f. 108 (von Lambert): 23 122 (an Herz): 23, 48, 171 123 (an Herz):

17

17f.

130 (an Herz):

17, 24f., 38,53

131 (an Herz): 132 (an Herz): 133 (an Herz):

25f., 38, 51, 53, 61, 179 16, 55, 61f., 178 23

144 (an Herz):

178

130f. (an Herz): 24

142 (an Nicolai): 177 f.

198. (an Herz): 199 (an Herz): 232 (an Herz): 241 (an Herz): 266 (an Herz): 269 (an Herz): 270 (an Herz):

A 98: 8,9, 127 A111: 161,166 A115: A119:

129 (an Herz):

74, 178 55 1198. 178 177 8, 180 115

274 (an Schultz): 177 277 (an Bernoulli): 22f.,51 277£. (an Bernoulli): 177 278 (an Bernoulli): 22, 38, 51 338 (an Garve): 9. 339, Anm. (an Garve): 9 341 (an Garve): 115f. 345 (an Mendelssohn): 9f., 154 350 (an Schultz): 9 351 (an Schultz): 23 402 (von Ulrich): 167 403 (von Ulrich): 167 408 (von Schütz): 167 421 (von Schütz): 167

AA

12 (Briefe)

220/2 (an Tieftrunk): 8 257f. (an Garve): 149

Reflexionen 224: 89 408: 53 1690: 71 2363: 75 2865: 108 2869: 108 2876: 108 2881: 108 2925: 75 2931: 75 2932: 75 2937: 75 2947: 75 3039: 81 3063: 81 3127: 32 3128: 32 3717: 29. 3738: 31,33 3741: 34f.

188 3744: 3745: 3746: 3747: 3749: 3756: 3850:

3852: 3899: 3913: 3917: 3920:

3921: 3925: 3926: 3927: 3928: 3930:

3931: 3933: 3935: 3938: 3939; 3941:

Stellenregister

33 34

4347: 4349;

35f.

4465:

34,35 149

30, 34 40, 111f. 111 29 29f. 38 30 45,98 37 36 36, 47 36 28f., 36, 39, 43, 47, 107f., 110

4285: 4287:

4470:

4473; 4629: 4631: 4633: 4634: 4635: 4638: 4642: 4644: 4672: 4673: 4674; 4675:

39 4676:

30, 93 46, 49 30, 37,47

3942: 46, 54, 172 3944: 3946: 3947: 3949; 3950: 3951: 3952: 3954; 46, 48, 49 3955; 42, 46, 47, 110 3957: 37, 39-44, 46f., 110, 111, 3958: 39, 42, 108, 110 3959: 38f. 3961: 42 3963: 42,44 3964: 42,43, 44, 45, 47, 48, 49 3967: 45 3968: 30 3971: 46, 54, 171 3972: 44f. 3974: 3975; 3976: 3977: 3978: 3988; 4155: 4158:4 4276:

4445:

53, 56, 61, 62 56 59, 61

113

4677: 4678: 4679; 4680: 4681: 4682: 4847: 4848; 4851: 4866: 4892: 4894: 4897: 4900: 4901: 4911: 4917: 4947: 4953: 4974: 5013: 5015: 5019: 5037: 5049: 5191: 5203: 5221: 5294: 5295: 5297;

25, 26f., 63, 65f. 57f., 62, 65, 70, 71, 161 53, 56, 58-61, 64, 71, 83, 172 66f., 69, 163 53, 64f., 67-69, 70, 72 59 62,72 64,71 53 58f., 61, 62f., 64 89 32f., 76-9, 89, 90f., 92, 96, 98, 100 40, 74, 84f., 88, 89, 90f., 92f., 94, 96f., 103. 77f., 81, 82, 88, 91, 93, 96-8, 104 83, 85, 88, 91, 94f., 96, 99 76, 77,79, 80, 95 85f., 87, 88, 104 77,78,79 76, 81, 88, 95 86 115 115 107, 142 107, 109 106 107 125 116, 124, 174 116, 120f., 124f., 174 143 28, 106 106 52 65 163 23, 47,109, 171 178 155 142 143 88, 89, 128 76, 88, 128 98 98

5451/65: 174 5552: 5553: 5562:

119 119, 173. 143

Stellenregister

5636:

127

6358 Fff.: 8

AA 20 (Preisschri

263: 147, 1 287f.: 149 290f.: 319:

149

149

319f.: 149 326/9: 149

AA 23 (B 12) 18.3: 174 18.3f.: 126£., 131, 134 18.4: 174 18.5: 174 18.6/8: 134 18.7: 174 18.12: 104, 126, 134 18.13£.: 137 18.15f.: 128, 174 18.17: 129 18.21£.: 133 18.21/4: 128 18.22: 174 18.25: 129 18.25/8: 137 18.26: 130 18.26£.: 130 18.27£.: 130, 136 18.31: 130 18.31/3: 141 18.31/4: 130, 136 18.32f.: 138

18.32/4: 131 18.35/6: 137, 174 18.35f.: 137f., 143 19.1/3: 139 19.1/12: 139 19.4: 129, 138 19.5: 140 19.7f.: 140 19.8/10: 104, 138, 144 19.13/4: 1398. 19.13/5: 142 19.21/3: 132, 136, 140 19.23: 143f. 19.23f.: 140f. 19.26f.: 177 20.2: 119 20.3: 126 20.3/4: 126

AA 28 (Met.-Vorl. ‚L,) 185£.: 120 187: 120f. 230: 128 230f.: 127 233: 117 235f.: 129 236: 128 237: 127 239: 119, 143 240: 134 240£f.: 134 241: 134. 265f.: 118 274: 1178.

189

Immanuel Kant - Was ist Aufklärung?

.

Aufsätze zur Geschichte und Philosophie. Herausgeg eben an Nass. . e Auflage Zehbe. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1258). 3-, unverändert 146 Seiten, kartoniert ——

Stephan Körner - Kant

Aus dem Englischen von Elisabeth Serelman-Küchler und Mar

ia Nocken ent

(Kleine Vandenhoeck-Reihe 1252). 2. Auflage 1980. 197 Seiten, kar Grundprobleme der großen Philosophen Philosophie der Neuzeit II

BE

Kant - Fichte — Schelling- Hegel - Feuerbach — Marx. (UTB Uni Taschen

bücher 464). 3., durchgesehene Auflage 1988. 269 Seiten, BO

he

U.a. ein Beitrag von Günther Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetisc

Urteile a priori möglich? Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung Aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck en Precht herausgegeben von Rudolf Vierhaus. Mit Beiträgen von Hans

TIC

Bödeker, Bernhard Fabian, Andreas Kleinert, Christoph Link, Ulrich Muhlack, Peter Hanns Reill, Werner Schneiders, Walter Sparn, Richard Toellner und Rudolf Vierhaus. 1985. 283 Seiten mit 5 Tafeln, Pappband

Zur geistigen Situation der Zeit der Göttinger Universitätsgründung 1737 Eine Vortragsreihe aus Anlaß des 250jährigen Bestehens der Georgia Augusta. Herausgegeben von Jürgen von Stackelberg. Mit Beiträgen von Jörg Baur, Konrad Cramer, Walther Killy, Heinz-Joachim Müllenbrock, Wolfgang Sellert und Jürgen von Stackelberg. (Göttinger Universitätsschriften, Serie A: Schriften, Band 12). 1988. 192 Seiten, Leinen

Karl Löwith - Gott, Mensch und Welt

in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche 1967. 252 Seiten, Leinen

k : Göttingen und Zürich & Ruprecht Vandenhoec

neue hefte für philosophie Herausgegeben von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl

Heft 29: Rousseau und die Folgen. Beiträge von I. Fetscher, G. Figal, J. Starobinski, R.-R. Wuthenow, K. Reich. 1989. 96 Seiten, kart. Heft 27/28:

Subjekt und Person. Bei-

träge von W. Cramer, P. Rohs, H.-P.

Falk, V. Descombes, 1988. 165 Seiten, kart.

H.

Tellenbach.

Heft 26: Argumentation in der Philosophie. Beiträge von J. F. Lyotard, R.

Bubner, St. Toulmin, J. Rosenberg, M. Wolff, H. Radermacher. 1986. 132 Seiten, kart.

Heft 24/25: Kontingenz. Beiträge von

E. Scheibe, A. Heuß, W. Schild, K. O. Hondrich, D. Harth, F. Inciarte, G.

Striker, H.-P. Schütt. 1985, 183 S., kt. Heft 23: Wirkungen Heideggers. Beiträge von R. Rorty, R. Wichl, K. Tsyji-

mura,

E.

Jüngel,

M.

Trowitsch,

U,

Claesges, K. Weimar und C. Jermann. 1984. 157 Seiten, kart.

OÖ. Schwemmer,

Gadamer, A.C. Danto, H. Schnelle, M. Frank, U. Japp, A. Nowak, G. Bochm,L. Dittmann, M. Imdahl. 7980. 177 Seiten mit 6 Abb., kart.

Heft

17:

Recht

und

Moral.

Beiträge

von ©, Höffe, G. Ellscheid, J. Ellul, N. Hoerster, K.R. Dove, R. Bubner. 1979. 125 Seiten, kart.

Heft 15/16: Aktualität der Antike. Beiträge von J. Bollack, C.H. Kahn, H. Wismann, J.M.E. Moravcsik, A.B. Neschke-Hentschke, M. Detel, U. Hölscher. 1979. kart. Heft

14:

Zur

Zukunft

dentalphilosophie. Körner,

Frede, W. 182 Seiten,

der

Beiträge

R. Chisholm,

Krings, L.B. Puntel,

M.S.

Transzen-

von

St.

Gram,

R. Rorty.

H.

1978.

142 Seiten, kart.

Heft 22: Kants Ethik heute. Beiträge

von

Heft 18/19: Anschauung als ästhetische Kategorie. Beiträge von H.-G.

M.

Forschner,

1.

Craemer-Ruegenberg, J. Aul, M. Sommer. 1983. 112 Seiten, kart.

Heft 13: Marx’ Methodologie. Beiträge von E. M. Lange, W. Diederich, H. F. Fulda, L. Nowak,

1978. 91 Seiten, kart.

Heft 21: Politikbegriffe, Beiträge von

J. Freund, K. Hartmann, E. Vollrath, S. Benhabib, H, Ottmann. 1982. 93 S., kt.

Heft 20: Teleologie. Beiträge von N.

Luhmann, K. Düsing, B. Hassenstein, D. v. Engelhardt, G. Schmid Noerr und A. Lorenzer, U. Muhlack, St. Toulmin. 1981. 152 Seiten, kart.

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Gesamtverzeichnis

Philosophie mit der Übersicht NEUE HEFTE FÜR PHILOSOPHIE an.

Vandenhoec & Ruprecht k - Göttingen und Zürich

92. 94.

Hanhart, Robert, Text und Textgeschichte des 1. Esrabuches. 1974. 133 S. Ibn as-Saläh, Zur Kritik der Koordinatenüberlieferung im Sternkatalog des Almagest. Hrsg.

von

Paul

1975.

Kunitzsch.

160 S.

95.

Papsturkunden in Frankreich. Neue Folge Band 7: Nördliche Vermandois. Hrsg. von Dietrich Lohrmann. 1976. XV. 691 5.

96. 97.

Synkretismus im syrisch-persischen Kulturgebiet.

und

Ile-de-France

Hrsg. von Albert Dietrich,

1975.

177.

Hellenismus in Mittelitalien. Kolloquium in Göttingen vom 5.-9. 6. 1974. Hrsg. von Paul Zanker, 1976. Mit zahlreichen Bildtafeln. 2 Teile, zus. 627 S. mit 405 Abb. 98. Akten des VII. Kongresses für Arabistik u. Islamwissenschaft Göttingen, 15. bis 22.8.1974. Hrsg. von Albert Dietrich. 1976. IV. 419 S. 99, Trillmich, Walter, Das Torlonia-Mädchen. Zu Herkunft und Entstehung des kaiserzeitlichen Frauenporträts. 1976. 92 S. und 20 Tafeln. 101. Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters. Hrsg. von H. Jankuhn, R. Schützeichel 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108.

No

109. 110.

113. 114. 115.

und

F. Schwind.

14 Tab..

1977. 535 S.,

117, 118. 119. 120. 121.

14 Tafeln.

und

Dörrics, Hermann, Die Theologie des Makarios/Symeon. 1978. 477 S. Schlacht Ekdahl, Sven, Die „Banderia Prutenorum“ des Jan Diugosz - eine Quelle zur bei Tannenberg 1410. 1976. 327 S., 63 farb. Tafeln, 10 schw.w. Abb. Hartmann, Wilfried, Das Konzil von Worms 868. 1977. 140 S. Wevers, John W., Text History of the Greek Deuteronomy. 1978. Tiefenbach, Heinrich, Althochdeutsche Aratorglossen. 1977. 718.

148 S.

Countries. Ed. by Buddhism in Ceylon and Studies on Religious Syncretism in Buddhist Heinz Bechert. 1978. 341 S. und 26 Tafeln. Hanhart,

Robert, Text- und Textgeschichte

des Buches Judith.

1979.

1118.

Estland. 1978. Sebermann, Otto Alexander, Studien zur volkstümlichen Aufklärung in 10 S. Horn-Oncken, Alste, Ausflug in elysische Gefilde. 1978. 99 S. und 32 Tafeln. und 8 139 S. Stichel, Rainer, Die Namen Noes, seines Bruders und seiner Frau. 1979. Tafeln. und

Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Hrsg. von H.Jankuhn, H. Nelsen

H.Roth. 1978. 243 S. mit 32 Abb. S., I Tafel. Heuß, Alfred, B.G. Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge. 1981. 568 und ihUntersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa S., 76 Abb.

rer Nutzung. Hrsg. von H.Beck, und 24 Tafeln., 7 Tab.

116.

98 Abb.

Buisson, Ludwig, Der Bildstein Ardre VII auf Gotland. 1976. 136 S. und 23 Tafeln.

D. Denecke,

H. Jankuhn.

Teil I: 1979. 442

Mitteleuropa und ihUntersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Tab. 15 und Abb. 29 mit S. 424 1980. Il: Teil rer Nutzung. Bechert. 1980. 193 S. Die Sprache der ältesten buddhistischen Überlieferung. Hrsg. von H. 1979. 78 S. Schrt, Ernst Th., Humor und Historie in Kiplings Puck-Geschichten. Bertau. I. Teil: EinleiFrauenlob (Heinrich von Meissen). Hrsg. von K. Stackmann und K. tungen, Texte. 1981., 578 S., 1 Klapptafel. 2. Teil: KritiFrauenlob (Heinrich von Meissen). Hrsg. von K. Stackmann und K. Bertau. S. 579-1112 VI, 1981. Erläuterungen. sche Apparate, Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter. und K.Stackmann. 1980. 328 S., 12 Abb.

Hrsg.

von J. Fleckenstein

H.Jankuhn, W. Jans. Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil I. Hrsg. von sen,

123. 124. 125. 126.

R. Schmidt-Wiegand,

H. Tiefenbach.

1981. 415

S.

716 8. Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil II. 1983, 1982. 209 S. Rhetorik. chen aristotelis der heorie Enthymemt Die Jürgen, Sprute, Wevers,

John

William,

Text

History

of the Greek

Numbers.

1982.

139 S.

Feceunditas Augustac. Fittschen, Klaus, Die Bildnistypen der Faustina minor und die 1982. 95 S. und 56 Tafeln. Th. Wolpers. 127. Motive und Themen in Erzählungen des späten 19. Jahrhunderts. Hrsg. von 1982. 154 S., 4 Abb. S., 114 128. Steuer, Heiko, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. 1982. 613 Abb. Hrsg. von 129. “Ali ibn Ridwän, Über den Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf. Albert Dietrich. 1982. 74 S. 130. Schützeichel, Rudolf, Codex Pal. lat. 52. 1982. 103 S. Hezilos 131. Berges, Wilhelm, Die älteren Hildesheimer Inschriften bis zum Tode Bischof (+ 1079). 1983. 214 S. mit 35 Tafeln. 1983. 162 S. 132. Bringmann, Klaus, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa. neubearb. Siegling, W. und Sieg E. von Hrsg. I. Teil B. Sprache , Sprachreste e 133. Tocharisch von W. Thomas. 1983. 288 S. 134, Makarios-Symeon. Epistola Magna. Hrsg. von R. Staats. 1984. 196 S. S. 135. Hiestand, Rudolf, Papsturkunden für Templer und Johanniter. Neue Folge. 1984. 340 136. Hiestand, Rudolf, Papsturkunden für Kirchen im Heiligen Lande. 1985. 448 S.

137, 138, 139, 140,

Studien zum Städtischen Bi ldungswese Tsg. vo s und der ‚Oeller, H. n des späten u fr.ühen Neuzeit. Patze, K.St elaners u Ullmann, ackmann. 1983 52 Tafeln. Manfred . u nd D e Sch f lat ge Inischer

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