Die Kathedralen von Lausanne und Genf und ihre Nachfolge: Früh- und hochgotische Architektur in der Westschweiz (1170-1350) [Reprint 2012 ed.] 9783110911305, 9783110181722

The monograph examines Early and High Gothic church architecture in Western Switzerland. The emphasis is placed on exami

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Die Kathedralen von Lausanne und Genf und ihre Nachfolge: Früh- und hochgotische Architektur in der Westschweiz (1170-1350) [Reprint 2012 ed.]
 9783110911305, 9783110181722

Table of contents :
I. Vorwort
II. Einleitung
A. Thematische Eingrenzung und Methode
B. Forschungsstand
C. Historischer Überblick
III. Die grossen Kathedralen und ihre unmittelbare Nachfolge
A. Die Kathedrale von Lausanne
B. Die Kathedrale von Genf
C. Bauten in der Nachfolge der Kathedrale von Genf
D. Die Bedeutung der Kathedralen von Lausanne und Genf für die Verbreitung von übereinander gestellten Laufgängen in Triforium und Obergaden
E. Die Valeria-Kathedrale von Sitten
F. Die Kollegiatskirche von Neuenburg
IV. Lutry und die Lausanner Bettelordensarchitektur
A. Historischer Kontext und Baugeschichte
B. Vergleichende Beschreibung und kunsthistorische Einordnung
V. Der Rechteckchor in der gotischen Niederkirchenarchitektur der Westschweiz. Zisterziensernachfolge oder eigene Tradition?
A. Vorgotische Rechteckchöre
B. Gotische Rechteckchöre flankiert von rechteckigen Seitenkapellen
C. Frühe gotische Rechteckchöre ohne Seitenkapellen
VI. Sakralarchitektur in der Westschweiz um 1300
A. Allgemeine Merkmale
B. Aufwendige Bauten mit Rechteckchor
C. Freiburg zur Zeit der Hochgotik. Ordens- und Pfarrkirchenarchitektur im Kontext einer mittelalterlichen Stadt
D. Privat- und Schlosskapellen
VII. Architektur und Polychromie
VIII. Westschweizerische Gotik oder Gotik in der Westschweiz? Zusammenfassung
IX. Anhang
A. Katalog
B. Bibliografie
C. Register
D. Abbildungen

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Stephan Gasser Die Kathedralen von Lausanne und Genf und ihre Nachfolge

W G DE

Scrinium Friburgense Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz

Herausgegeben von Hugo Oscar Bizzarri Christoph Flüeler Peter Kurmann Eckart Conrad Lutz Aldo Menichetti Hans-Joachim Schmidt Jean-Michel Spieser Tiziana Suarez-Nani

Band 17

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Stephan Gasser

Die Kathedralen von Lausanne und Genf und ihre Nachfolge Früh- und hochgotische Architektur in der Westschweiz (1170-1350)

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018172-X ISSN 1422-4445 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Naäonalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Stephan Gasser Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhaltsverzeichnis

I. V o r w o r t

9

II. Einleitung

n

A. Thematische Eingrenzung und Methode

11

B. Forschungsstand

14

C. Historischer Überblick

16

III. Die grossen Kathedralen und ihre unmittelbare Nachfolge A. Die Kathedrale von Lausanne ι. Historischer Kontext

19 19 19

2. Baugeschichte 21 Forschungsstand zur Baugeschichte und erstes Projekt 21. Romanische Bauetappe 22. Erste gotische Bauetappe 23. Zweite gotische Bauetappe und Vollendung des mittelalterlichen Baus 28. Nachträgliche Veränderungen und Zusammenfassung der Baugeschichte 30 3. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung Chor 32. Querhaus 37. Langhaus 41. Westbau 44. Türme 52. Zusammenfassung 54 B. Die Kathedrale von Genf

32

56

ι. Historischer Kontext

56

i . Baugeschichte

58

3. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung Langhaus 63. Querhaus 69. Chor 72. Zusammenfassung 77

63

C. Bauten in der Nachfolge der Kathedrale von Genf ι. Die Pfarr- und Prioratskirche von Satigny

78 78

Inhaltsverzeichnis

6

2. Die Prioratskirche von Peillonnex D. Die Bedeutung der Kathedralen von Lausanne und Genf für die Verbreitung von übereinander gestellten Laufgängen in Triforium und Obergaden

82

83

ι. Lausanne und die burgundische Architektur des frühen 13. Jahrhunderts

83

2. Die Abteikirche von Abondance

88

3. Die Bauten im oberen französischen Rhonetal

91

4. Das Münster in Bonn

93

E. Die Valeria-Kathedrale von Sitten ι. Historischer Kontext und Baugeschichte 2. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung F. Die Kollegiatskirche von Neuenburg

95 95 103 112

ι. Historischer Kontext und Baugeschichte

112

2. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung

116

I V . Lutry und die Lausanner Bettelordensarchitektur

127

A. Historischer Kontext und Baugeschichte

127

B. Vergleichende Beschreibung und kunsthistorische Einordnung

131

V . Der Rechteckchor in der gotischen Niederkirchenarchitektur der Westschweiz. Zisterziensernachfolge oder eigene Tradition? A. Vorgotische Rechteckchöre

141 142

B. Gotische Rechteckchöre flankiert von rechteckigen Seitenkapellen ... 150 1. Die Pfarrkirche von Villeneuve

152

2. Die ergrabenen Kirchen von Moudon, La Fille-Dieu bei Romont und La Sagne 156 Moudon 1156. La Fille-Dieu 1157. La Sagne 158 3. Die Pfarr- und Prioratskirche von Cossonay

159

4. Die Pfarrkirche von Vevey

162

Inhaltsverzeichnis

7

5. Die Chorerweiterungen der Prioratskirchen von Romainmôtier und Grandson Romainmôtier 169. Grandson 174

168

6. Zusammenfassung

177

C. Frühe gotische Rechteckchöre ohne Seitenkapellen

178

ι. Von der Spätromanik zur Frühgotik. Die einfachen Rechteckchöre von Pruntrut, St-Ursanne, Begnins, Corcelles und Nendaz 178 Pruntrut und St-Ursanne 178. Begnins 181. Corcelles 183. Nendaz 184 2. Anspruchsvollere Rechteckchorvarianten der 1230er und 1240er Jahre in der Genferseeregion. Notre-Dame in Villeneuve und die Kirchen von Savigny und Etoy Notre-Dame in Villeneuve 186. Savigny 188. Etoy 189 V I . Sakralarchitektur in der Westschweiz um 1 3 0 0

185

193

A. Allgemeine Merkmale

194

B. Aufwendige Bauten mit Rechteckchor

203

ι. Der erste Bau der Pfarrkirche von Romont

203

2. Die Pfarrkirche von Páyeme

207

3. Die Burgkapelle von Montagny-les-Monts

212

4. Die Kirche der Zisterzienserinnen von La Fille-Dieu bei Romont

216

5. Die abgegangenen Kirchen von Cugy und Mutten Cugy 218. Murten 220

218

6. Die Bürgerkapelle von Aubonne

222

7. Die Pfarrkirche von Moudon 224 Historischer Kontext und Baugeschichte 225. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung 229 C. Freiburg zur Zeit der Hochgotik. Ordens- und Pfarrkirchenarchitektur im Kontext einer mittelalterlichen Stadt...

240

ι. Historischer Überblick

240

2. Erste Zeugnisse gotischer Architektur in der Stadt Freiburg 242 Die Liebfrauenkirche und ihr Turm 243. Der erste Bau der Franziskanerkirche 247 3. Die Kirche der Zisterzienserinnen in der Magerau

250

Inhaltsverzeichnis

8

4. Die Bettelordenskirchen und ihre unmittelbare Nachfolge 252 Die Kirche der Augustiner-Eremiten 253. Der zweite Bau der Franziskanerkirche 262. Das Langhaus der Pfarrkirche von Payerne und der Chor der ehemaligen Pfarrkirche von Muntelier 269 5. Die Pfarrkirche St. Nikiaus 272 Kirchenrechtlicher Kontext und Baugeschichte 272. Beschreibung und kunsthistorische Einordnung 281 6. Die Erneuerungsarbeiten an der Zisterzienserkirche von Altenryf 290 D. Privat- und Schlosskapellen ι. Die Billens-Kapelle der Franziskanerkirche von Lausanne

293 293

2. Die Cossonay-Kapelle im Turm der Pfarr- und Prioratskirche von Cossonay

296

3. Die Mayor-Kapelle der Pfarr- und Prioratskirche von Lutry

298

4. Die Baulmes-Kapelle im Burgquartier von Lucens

300

5. Die einfachen Schlosskapellen von Surpierre und Yverdon Surpierre 303. Yverdon 303

302

6. Die zweijochigen Schlosskapellen von Chillón und Tourbillon ... 305 Chillón 305. Tourbillon 308 7. Die Schlosskapelle von Champvent. Ein verborgenes Glanzstück der westschweizerischen Baukunst um 1300 V I I . Architektur und Polychromie

310 315

V I I I . Westschweizerische Gotik oder Gotik in der Westschweiz? Zusammenfassung

321

IX. A n h a n g

331

A. Katalog

331

B.Bibliografi e

353

C.Registe r

378

D.Abbildunge n

387

I. Vorwort Überblicksdarstellungen zu wissenschaftlichen Themen bedeuten in einem Zeitalter zunehmender Spezialisierung eine Herausforderung und ein Wagnis. Dieses Unterfangen im Rahmen einer Dissertation in Angriff zu nehmen, könnte gar als Vermessenheit ausgelegt werden, zumal architekturgeschichtliche Untersuchungen ohne die Zusammenarbeit von Bauforschern, Archäologen

und

Kunsthistorikern heute kaum noch zu bewältigen sind. Der früh- und hochgotische Kirchenbau in der westlichen Schweiz ist der internationalen Forschung bestenfalls in Form der Kathedralen von Lausanne und Genf bekannt. Die künstlerische Bedeutung der Architektur einer bestimmten Region erschliesst sich jedoch dem interessierten Publikum nur durch eine möglichst vollständige Kenntnis aller noch fassbaren Phänomene. Diese sind innnerhalb der gotischen Architektur der Romandie von diözesanen M o numentalbauten über mittelgrosse Stadt- und Prioratskirchen bis hin zu kleinen Dorfkirchen und Kapellen in ansehnlicher Zahl erhalten oder erschliessbar. In den letzten Jahren hat zudem die ausgesprochen aktive Lokalforschung nicht nur die grossen Bischofskirchen neu analysiert, sondern in zahlreichen Einzeluntersuchungen die Geschichte selbst unscheinbarster Bauwerke erarbeitet und damit den Grundstein für eine zusammenfassende Darstellung gelegt. Durch diese günstigen Umstände ermutigt, habe ich deshalb den Versuch gewagt, die Sakralarchitektur der Westschweiz vom ausgehenden 12. bis ins mittlere 14. Jahrhundert zu untersuchen und ihre Entwicklung, Wirkungsweise und Motivation in einem Überblick zu resümieren. Ohne die Unterstützung der nachfolgend aufgeführten Personen und Institutionen wäre die vorliegende Arbeit nicht in dieser Form zustande gekommen. Ich danke Prof. Peter Kurmann für die Anregung des Themas und die freundschaftliche Betreuung der Arbeit, Martin Rohde für die geduldige Hilfe bei der technischen Realisierung der Druckvorlage, Elisabeth Schneeberger, Richard Buser und Werner Rutishauser für unermüdliches Lektorieren, Gilles Bourgarel für die aufschlußreichen Gespräche und die vielen Informationen zum aktuellen Forschungsstand der Freiburger Bauten, Jacques Bujard für die Erklärungen zu den archäologischen Ausgrabungen in der Freiburger Franziskanerkirche und seine Hilfeleistungen betreffend der Neuenburger Kollegiatskirche,

Prof.

Gaétan

IO

Vorwort

Cassina für das langfristige Überlassen seiner unpublizierten Dissertation über die Pfarrkirche von M o u d o n , Ciaire H u g u e n i n für Informationen zur Restaurierungsgeschichte von Romainmôtier, Catherine Kulling für die Einwilligung, ihre Archivrecherchen zur Pfarrkirche von Vevey in meine Arbeit zu integrieren, W o l f Heinrich Kulke für die fruchtbare Diskussion über die Kirchenbauten der Zisterzienserinnen im 13. Jahrhundert, Brigitte Pradervand für die Einsicht in ihre unveröffentlichten Berichte zur Bürgerkapelle von A u b o n n e u n d zur Pfarrkirche von Páyeme, Daniel de Raemy für das Uberlassen seiner unpublizierten Untersuchungen zur Prioratskirche von Grandson, Christian Sapin für seine Auskünfte z u m Stand der archäologischen Forschung im Burgund, Nicolas Schätti für die Diskussion über den ehemaligen Standort des Neuenburger Lettners, H e r m a n n Schöpfer vom Kulturgüterdienst Freiburg für die Einsicht in sein Dossier zur ehemaligen Pfarrkirche von Cugy und die wertvollen Auskünfte z u m Freiburger Kunstdenkmälerbestand, M a r c C. Schurr für zahlreiche anregende Gespräche u n d einen Hinweis zur Freiburger Nikiauskirche, Werner Stöckli für die Informationen zur laufenden bauarchäologischen Untersuchung der Kathedrale von Lausanne, Prof. Eliane Vergnolle für die Auskünfte zum romanischen u n d gotischen Kirchenbau in der Freigrafschaft, den Mitgliedern des Forschungskreises Kunst des Mittelalters für den wertvollen Gedanken- und Informationsaustausch sowie den Mitarbeiterinnen u n d Mitarbeitern der Schweizerischen Landesbibliothek u n d des Eidgenössischen Archivs für Denkmalpflege in Bern, des Service des Bâtiments in Lausanne und des Staatsarchivs in Freiburg für ihre Unterstützung bei der Bibliotheks- u n d Archivarbeit. Der grösste D a n k - für alles u n d noch viel mehr - gebührt jedoch Beatrice Anthamatten, der diese Arbeit gewidmet ist. Bern, Ostern 2004

Stephan Gasser

"J'ai visité la Suisse dans le plus grand détail, du saint Gothard au Rhin et de Genève à Constance: à l'exception de cette belle cathédrale de Lausanne, qui serait digne d'être française [...], je n'ai pas rencontré un seul édifice religieux de premier ni même de second ordre."' "Le XlIIème siècle est [...] l'âge d'or de l'architecture en Suisse romande." 1

II. Einleitung

A. Thematische Eingrenzung und Methode Die vorliegende Arbeit untersucht den früh- und hochgotischen Kirchenbau in der westlichen Schweiz. Die Begriffe Früh- und Hochgotik definieren im Bereich der mittelalterlichen Architektur einerseits eine Periode, die der gängigen kunsthistorischen Epocheneinteilung folgend ungefähr die Zeit vom mittleren 12. bis ins fortgeschrittene 14. Jahrhundert umfasst. Andererseits implizieren sie formale Merkmale, die in Nordfrankreich ab etwa 1130 fassbar sind und je nach Gebiet bis weit ins Spätmittelalter verbreitet waren. Diese resultieren aus der konsequenten Nutzung von technischen Errungenschaften der Romanik, die die Verwirklichung neuer ästhetischer Absichten möglich machten. So bilden etwa die Verwendung eines kohärenten Dienst-Rippen-Systems, die Skelettbauweise mit an den Aussenbau verlegtem Stützapparat oder der systematische Einsatz des Spitzbogens die Voraussetzungen für eine starke Reduktion der Mauermasse, eine konsequente Durchleuchtung des Innenraumes oder eine vertikale Ausrichtung des gesamten Baukörpers. Hinzu kommen architektonische Motive wie Masswerk, Wimperg oder bestimmte Pfeiler-, Kapitell- und Profiltypen. D a die frühesten nach diesen Prinzipien errichteten Bauwerke in der Westschweiz erst

Ι

RAMÉ 1 8 5 6 , 4 9 .

2

MORLET 1950, 97.

Einleitung

12

im ausgehenden 12. Jahrhundert fassbar sind, wird der zeitliche Rahmen in der folgenden Analyse im Vergleich zu Untersuchungen der nordfranzösischen Gotik etwas nach vorne verschoben. Nur am Rande berücksichtigt werden zahlreiche Bauwerke, die im hier behandelten Zeitraum entstanden, aber noch deutlich romanischen Traditionen folgen; solche, die mit grosser Verspätung auf die Formen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts zurückgreifen, bleiben ganz ausgeklammert. Dagegen werden neben den typisch früh- und hochgotischen Bauten auch jene aufgenommen, die zwar technisch und formal der Architektur der untersuchten Periode folgen, ästhetisch aber wenig Nutzen aus den neuen Errungenschaften ziehen. Da die politischen und diözesanen Grenzen des Mittelalters für die Entwicklung der gotischen Architektur in der Westschweiz keine ausschlaggebende Rolle spielten, beschränkt sich die folgende Untersuchung örtlich auf die französischsprachigen Landesteile der heutigen Schweiz, das heisst: auf die Romandie. Damit unterwirft sie sich einerseits der fragwürdigen kunsthistorischen Praxis, künstlerische Phänomene im Rahmen aktueller politischer Grenzen abzuhandeln. Andererseits respektiert sie jedoch mit ihrer sprachlichen Eingrenzung die Trennung zweier Kulturlandschaften, die auch für die Entwicklung der gotischen Baukunst innerhalb der heutigen Schweiz von Bedeutung war. Es versteht sich von selbst, dass die kunstgeschichtliche Einordnung der hier betrachteten Bauwerke eine Perspektive erfordert, die bisweilen beträchtlich über die Grenzen des behandelten Gebietes hinausgeht. Obwohl nämlich die früh- und hochgotische Architektur der Romandie durchaus Züge einer eigenständigen Entwicklung aufweist,' partizipierte sie stets an den künstlerischen Strömungen der unmittelbaren Nachbarschaft, vereinzelt gar weit entlegener Gebiete. Bauten, die sich ausserhalb des definierten Gebietes befinden, werden aber nur dann ausführlicher behandelt, wenn sie in ihrer Erscheinungsform unmittelbar mit der westschweizerischen Architektur zusammenhängen. Inhaltliche Schwerpunkte der Untersuchung sind die Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte der behandelten Bauten, die Analyse ihrer künstlerischen Erscheinungs- und Wirkungsform, deren Einordnung in die Entwicklung der lokalen und internationalen Architekturgeschichte 4 sowie die Erörterung des historischen Kontexts. Dabei wechseln monografische Abschnitte zu einzelnen Bauwerken mit Ausführungen zu allgemeinen Problemen ab. Auf ein strikt chronologisches Vorgehen wird zu Gunsten einer entwicklungsgeschichtlich orientierten Darstellungsweise verzichtet. Den Schluss bildet ein Katalog, der die 3 4

Näheres dazu auf S. 321-330. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Stilanalyse als kunsthistorische Methode vgl. S. 37, 201-202.

Thematische Eingrenzung und Methode

13

wichtigsten Ergebnisse zu den einzelnen Bauten stichwortartig zusammenfasst und die wesentliche Literatur auflistet. Ausgangsbasis der vorliegenden Arbeit sind neben eigenen Beobachtungen in erster Linie die Publikationen der bisherigen Forschung. Unveröffentlichte Berichte und laufende Untersuchungen werden mit einbezogen, wann immer sie mir zugänglich waren. Historische Quellen werden soweit möglich im Wortlaut wiedergegeben, ihre bisherige Interpretation kritisch überdacht. Eigene Archivforschungen beschränkten sich auf punktuelle Recherchen, die Antworten auf wichtige Fragen zur Entstehungsgeschichte einzelner Bauten versprachen.

Einleitung

14

Β. Forschungsstand Dem früh- und hochgotischen Kirchenbau in der Romandie wurde bisher nie eine eigene Studie gewidmet. Abgesehen von zahlreichen monografischen Arbeiten war das Thema aber immer wieder Bestandteil von Überblicksdarstellungen. Die frühesten kunsthistorisch motivierten Publikationen zur gotischen Architektur in der Westschweiz stammen vom jungen Jakob Burckhardt, dessen oft feinsinnige "Bemerkungen über schweizerische Kathedralen" aus den Jahren 1837 und 1838 von der kunstgeschichtlichen Forschung bisher kaum rezipiert worden sind.' Im Vergleich mit Burckhardt hatte Jean-Daniel Blavignac, der in seiner 1853 erschienenen "Histoire de l'architecture sacrée du quatrième au dixième siècle dans les anciens évêchés de Genève, Lausanne et Sion" nur auf Grund unhaltbarer Frühdatierungen auf einige gotische Bauten eingeht, eine weit weniger glückliche H a n d / Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Johann Rudolf Rahn -

trotz Alfred Rames vernichtendem Urteil über die

schweizerische Baukunst -

erstmals in wissenschaftlicher Art und Weise mit

dem Thema. Sowohl seine "Statistik schweizerischer Kunstdenkmäler", die in unzähligen Artikeln im Anzeiger für schweizerische Alterthumskunde erschienen, als auch seine monografischen Arbeiten und seine "Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz" aus dem Jahre 1876 zeigen den grossen Sachverstand dieses Pioniers der schweizerischen Kunstgeschichte. Nachdem im ausgehenden 19. Jahrhundert der Forschungsschwerpunkt bei archäologischen Untersuchungen und Restaurierungen gelegen hatte, stand die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz im Zeichen der grossen Monografien. Dabei entstanden Arbeiten, die in vielen Belangen auch heute noch gültig sind, etwa Camille Martins "Saint-Pierre, ancienne cathédrale de Genève" (1910), Hermann Holdereggers "Die Kirche von Valeria bei Sitten" (1930), Alfred Lombards "L'église collégiale de Neuchâtel" (1931), Josef Martin Lussers "Die Baugeschichte der Kathedrale St. Nikiaus zu Freiburg im Uechtland" (1933) oder der Kunstdenkmälerband "La cathédrale de Lausanne" von Eugène Bach, Louis Blondel und Adrien Bovy (1944).' Ambitiöse Überblicksdarstellungen, die viel

5

BURCKHARDT 1946.

6

BLAVIGNAC 1853. RAHN 1870, 20 kritisierte bereits Blavignacs "seltsame Vorliebe für symbolische Spitzfindigkeiten" und seine "Neigung f ü r überfrühe Datirungen, die ihn zu einer Menge von Trugschlüssen verleiten".

7

Vgl. das einleitende Zitat.

8

RAHN 1876.

9

MARTIN 1910; HOLDEREGGER 1930; LOMBARD 1931; LUSSER 1933; BACH/BLONDEL/ BOVY 1944.

Forschungsstand

15

von diesen Monografien profitierten, erschienen erst wieder um die Mitte des Jahrhunderts. Josef Gantner ("Kunstgeschichte der Schweiz", Bd. 2, " D i e gotische Kunst") und Hans Reinhardt ("Die kirchliche Baukunst der Schweiz") behandelten 1947 die gotische Architektur der Westschweiz nach dem Vorbild von Rahns "Geschichte der bildenden Künste" im Rahmen einer schweizerischen Kunstgeschichte.' 0 Jean Morlet beschränkte sich hingegen in seiner unveröffentlicht gebliebenen Dissertation "L'art médiéval en Suisse romande du millieu du X l l e siècle au début du X V I e siècle. Étude sur les influences françaises dans les anciens diocèses de Genève et Lausanne" auf die mittelalterliche Romandie und deren künstlerische Beziehungen zu Frankreich." T r o t z zahlreicher Informationen zu stilgeschichtlichen Phänomenen werden Morlets

Resultate

getrübt durch die oft mangelhafte Kenntnis der aktuellen Literatur und die Überbewertung der Rolle der Zisterzienser bei der Verbreitung gotischer Architekturphänomene in der Westschweiz. Die 110. Sitzung des 'Congrès archéologique de France', die 1952 in der Westschweiz stattfand, begnügte sich mit einer Zusammenstellung der damaligen Forschungsergebnisse. Die Publikation bildete jedoch den Ausgangspunkt für René Tourniers knappe Untersuchung der künstlerischen Beziehungen zwischen der Westschweiz und der Freigrafschaft.' 2 Bis zu jenem Zeitpunkt hatte sich die Forschung in erster Linie mit den grossen und mittleren Bauten beschäftigt. Erst in den letzten Jahren wurde das Bild durch diverse Einzelstudien zu Kleinkirchen und die Arbeiten der archäologischen Forschung abgerundet. Daneben werden seit einiger Zeit die Grossbauten mit H i l f e modernster bauarchäologischer Methoden erneut analysiert. Die Ergebnisse all dieser Untersuchungen fasste Marcel Grandjean, dessen zahllose, minutiös recherchierte Publikationen zu historischen und

kunsthistorischen

T h e m e n der Westschweiz von unschätzbarem Wert sind, bei verschiedenen Gelegenheiten in kurzen Artikeln zusammen.''

10

GANTNER 1 9 4 7 ; REINHARDT 1 9 4 7 .

11

MORLET 1 9 5 0 .

12

TOURNIER 1959.

13

Zuletzt GRANDJEAN 1997.

16

Einleitung

C . Historischer Überblick Die mittelalterliche Geschichte der heutigen Westschweiz ist eng verquickt mit der Geschichte Burgunds.' 4 Als wichtiges Durchgangsland war die Romandie sowohl im ersten als auch im zweiten burgundischen Königreich eine bedeutende Region. Grundherren waren im Hochmittelalter neben den Königen vor allem die Abtei St-Maurice und alsbald auch die Bischöfe der zugehörigen Diözesen. Die Anfänge der künftigen Lokaladelsgeschlechter (Herren von Grandson, Cossonay, Aubonne, Glane, Gruyère, Neuenburg, Montagny, Estavayer usw.) sind nicht geklärt, dürften jedoch oft noch in spätrudolfingischer Zeit liegen. Keines dieser Geschlechter konnte sich allerdings als übergreifende Ordnungsmacht im territorial stark zersplitterten Land zwischen J u r a und Alpen durchsetzen. Die massgebenden Kräfte kamen stets von aussen: von N o r d e n die deutschen Herrscher aus salischem Haus und die Herzöge von Zähringen, von Westen die Grafen von G e n f und von Süden diejenigen von Savoyen. Nach dem T o d e Rudolfs III. (1032), des letzten Burgunderkönigs, beanspruchte der Salier Konrad II. die Herrschaft über das Burgund; das Gebiet gehörte fortan zum Deutschen Reich. Die neuen Landesherren waren allerdings nur selten vor Ort. S o konnte der lokale Adel erstarken, und nach dem Erlöschen der salischen Dynastie meldeten sich die antikaiserlichen Kräfte zu Wort. A u f diese Opposition reagierte König Lothar III. 1127, indem er Herzog Konrad von Zähringen mit der Statthalterschaft im Burgund betraute. Diese Rechte, die die Zähringer nie in vollem U m f a n g durchsetzen konnten, beschränkte Kaiser Friedrich I. Barbarossa gegenüber Herzog Bertold IV. 1156 auf das östliche Burgund, das heisst auf die Gebiete zwischen Alpen und Jura. Als Entschädigung überliess Barbarossa Bertold die imperialen Rechte in den Bistümern G e n f , Sitten und Lausanne. Z u d e m entzog er den Oberhäuptern der betroffenen Diözesen die Reichsunmittelbarkeit. Diese Umstände führten in der Folge zu zahlreichen Spannungen, da sich die Zähringer immer wieder als Herren der Westschweiz zu etablieren versuchten. Seit dem frühen 13. Jahrhundert stiessen die Savoyer, die bereits im 12. Jahrhundert im unteren Wallis Fuss gefasst hatten, unter G r a f T h o m a s I. auf der Nordseite des Genfersees vor und besetzten in den folgenden Jahrzehnten die

14

Zur mittelalterlichen Geschichte der Westschweiz liegt kein zusammenfassender Überblick vor. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf PARAVICINI BAGLIANI 1997 (zahlreiche allg. Informationen und ausfuhrliche Bibliografie); BINZ 1974 (Kt. Genf); GALLAND 1973 (Kt. Waadt); LADNER 1981 (Kt. Freiburg); LIEBESKIND 1971 (Kt. Wallis); QUADRONI/SCHEURER/DE TRIBOLET/ZOSSO 1989 (Kt. Neuenburg). Zur Kirchengeschichte auch die ausführlichen Bände der Reihe "Helvetia sacra" (HS).

Historischer Überblick

17

Region Genf und grosse Teile der Waadt. Da die Herrschaftsrechte der Romandie in dieser Zeit auf zahllose, untereinander kaum organisierte Adelsfamilien aufgeteilt waren, konnten sich die Savoyer fast ohne kriegerische Massnahmen als neue Herren etablieren. Vor allem unter Peter II. wurde die Administration des neuen Herrschaftsgebietes reorganisiert und in der Waadt eine Vogtei eingerichtet. Nördlich des Neuenburgersees hatten die Savoyer kaum Einfluss, denn hier regierten seit dem frühen 12. Jahrhundert die Herren und späteren Grafen von Neuenburg, im Jura schon seit dem 11. Jahrhundert die Bischöfe von Basel. Im Osten leisteten die Kiburger den Savoyern nach dem Aussterben der Zähringer (1218) vorerst wenig Widerstand. Ihre Nachfolger, die Habsburger unter König Rudolf I., erkannten jedoch die Bedeutung der nordöstlichen Romandie im Kampf gegen die savoyische Expansionspolitik und drängten den Gegner ausgehend von Freiburg so weit wie möglich zurück. Kirchenrechtlich partizipierte die Romandie im hier behandelten Zeitraum an fünf Bistümern, die teilweise weit über die heutige Westschweiz und die aktuellen Landesgrenzen hinausgingen. Der grösste Teil des Gebietes gehörte zum Bistum Lausanne, das im Süden durch den Genfersee und die Berner Alpen, im Westen durch den Jura und im Osten durch die Aare begrenzt war. Auf der Nordseite des Genfersees waren allerdings die Gebiete westlich der Aubonne der Diözese Genf zugeordnet, die darüber hinaus weite Teile des nördlichen Savoyen umfasste. Der heutige Kanton Jura gehörte mit Ausnahme der Ajoie, die dem Bistum Besançon unterstand, zur Diözese Basel. Das Bistum Sitten entsprach in etwa dem heutigen Kanton Wallis, wobei der französischsprachige Teil ein eigenes Dekanat bildete. Die Diözesen der Romandie waren verschiedenen Metropolen unterstellt. Lausanne und Basel waren Suffragane des Erzbistums Besançon, Genf unterstand Vienne und Sitten war Moûtiers-en-Tarantaise unterstellt. Die westschweizerischen Bischöfe waren, wie im Mittelalter üblich, nicht nur geistliche Oberhäupter, sondern auch Grundherren. Als solche waren sie Lehensherren und mussten ihren Besitz immer wieder gegen die Angriffe benachbarter Potentaten verteidigen. Dies waren vor allem die Grafen von Genf und Savoyen und die Herzöge von Zähringen, gelegentlich auch der lokale Niederadel. Als Kirchenführer und Grossgrundbesitzer hatten die Bischöfe der Romandie bald politischen Einfluss. Sie stammten meist aus bekannten Adelsfamilien und wirkten oft als Berater von Königen und Kaisern. Im Laufe der Zeit erlangten sie von ihren Souveränen den Grafentitel, die Reichsunmittelbarkeit sowie grosszügige Regalien und transformierten ihre weltlichen Territorien in eine Art Kleinstaaten. Neben den Bischöfen bildeten zahlreiche Klöster und Priorate in der Romandie die zweite klerikale Kraft. Nach den grossen frühmittelalterlichen Grün-

ι8

Einleitung

düngen (St-Maurice, Romainmôtier, Moutier-GrandvaJ usw.) und der Ansiedlung der Cluniazenser im 10. und n. Jahrhundert (Romainmôtier, Payerne, Rougemont usw.), kam es im 2. Viertel des 12. Jahrhunderts zu einer Niederlassungswelle von Reformorden aus dem Westen. Unter diesen waren vor allem die Zisterzienser (Bonmont, Altenryf, Hautcrêt, Montheron) und Prämonstratenser (Lac de Joux, Humilimont, Bellelay, Fontaine-André), in geringerem Masse auch die Kartäuser (Oujon) von Bedeutung. Ihnen folgten im Zuge der nächsten monastischen Reform im zweiten und dritten Drittel des 13. Jahrhunderts die Bettelorden der Franziskaner (Genf, Nyon, Lausanne, Grandson, Freiburg), Dominikaner (Genf, Lausanne) und Augustiner-Eremiten (Freiburg, Vevey), die einerseits vom Burgund, andererseits vom Oberrhein herkamen. Durch Schenkungen und Käufe entwickelten sich auch die niedergelassenen Orden im Laufe der Zeit zu immer einflussreicheren Grundherren. Die Bedeutung der Romandie bestand seit jeher in ihrer Funktion als militärisch und wirtschaftlich wichtigem

Durchgangsland.

Zwei

grosse

Transitachsen

überwanden die natürlichen Barrieren der Alpen und des Jura. Sie kreuzten sich nördlich des Genfersees und machten die Region Vevey-Lausanne-Moudon zu einem internationalen Verkehrsknotenpunkt. Die bis ins ausgehende 13. Jahrhundert wichtigere Achse verband Oberitalien mit dem transjuranischen Burgund. Sie führte durch das Aostatal über den Grossen St. Bernhard nach Lausanne und Orbe, um bei Jougne die Jurahöhen zu überwinden und nach Besançon zu gelangen. Die andere verband das französische Rhonetal mit dem Oberrhein und führte von Lyon durch den Juradurchbruch der Rhone bei Bellegarde nach Genf und Lausanne, um über Avenches und Solothurn durch die Balsthaler Klus Basel zu erreichen. Entlang dieser Routen existierten schon in römischer Zeit Niederlassungen, die als Etappenorte dienten und den Verkehr kontrollierten. Wie wichtig noch im 13. Jahrhundert die Lage an einem dieser Verkehrswege selbst für kleinste Siedlungen sein konnte, zeigt das Beispiel von Villeneuve. Im Zuge der savoyischen Expansion auf der Nordseite des Genfersees erhielt der bis anhin unscheinbare Ort 1214 von Graf Thomas I. das Stadtrecht und erlangte als Zollposten und Stützpunkt der savoyischen Genferseeflotte eine unerwartete wirtschaftliche und politische Bedeutung, die sich umgehend auch in neuen Sakralbauten manifestierte.

III. Die grossen Kathedralen und ihre unmittelbare Nachfolge

A . D i e Kathedrale v o n Lausanne Eine Abhandlung über die früh- und hochgotische Sakralarchitektur in der westlichen Schweiz muss ihren Anfang zwangsläufig in der Kathedrale von Lausanne nehmen, die gleichzeitig Ausgangs- und Höhepunkt der Gotik in der Romandie darstellt. In keinem anderer Bauwerk der Region wurden die gotischen Prinzipien sowohl in ästhetischer als auch in technischer Hinsicht dermassen überzeugend ausgeführt. So überrascht es nicht, dass kein anderes Bauwerk der gotischen Architektur der Westschweiz mehr Anregungen gegeben hat als die Lausanner Bischofskirche. Darüber hinaus ist die waadtländische Kathedrale für diese Zeit von internationaler Bedeutung, war sie doch - was von der bisherigen Forschung meist übersehen wurde - der erste gotische Bau auf Reichsgebiet und einer der frühesten ausserhalb Frankreichs.' ι. Historischer Kontext Der Bau der Kathedrale von Lausanne fiel in eine Zeit, in der das Bistum seine Besitztümer gegen verschiedene Aggressoren verteidigen musste. 1 Nachdem die Lausanner Bischöfe von den Rudolfingern schon im späten 10. Jahrhundert sämtliche Rechte über die Stadt und deren nähere Umgebung erhalten hatten, bekamen sie von ihnen ion die Grafenrechte über das Waadtland. Die wichtigsten Vasallen der Bischöfe waren die Grafen von Genf, gegen deren territoriale Übergriffe sich die Diözese schon bald zur Wehr setzen musste. So hatte etwa Amadeus von Clermont (1145-1159), in dessen Amtszeit wahrscheinlich das erste Neubauprojekt der Kathedrale unternommen wurde, in Lausanne den Abbruch

ι

2

Bisher einzig KLEIN 1998, 103-104; VON WINTERFELD 2004, 139. Zu den frühesten gotischen Bauten auf Reichsgebiet gehört mit Lausanne auch die nach einem Brand von 1185 errichtete, 1794-1827 zerstörte Kathedrale von Lüttich. Zur Bistumsgeschichte MOREROD 2000.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

20

eines Schlosses von G r a f Amadeus von G e n f zu erwirken, der bereits in den 1120er Jahren den bischöflichen Besitz in Lucens und M o u d o n bedroht hatte. Weitere Gefahr drohte von Seiten der Herzöge von Zähringen. Als Gegenleistung für die zurückgenommenen Rektoratsrechte im westlichen

Burgund

überliess nämlich Kaiser Friedrich I. 1156 dem Zähringerherzog Bertold IV. unter anderem die imperialen Verwaltungsrechte und die Investitur der Regalien für das Bistum Lausanne. Gleichzeitig hob der Kaiser die Reichsunmittelbarkeit der Bischöfe auf, die diese seit dem 11. Jahrhundert innegehabt hatten. Obwohl Bertold die Integrität der Diözese vordergründig nicht antastete, schadeten er und sein Nachfolger Bertold V . den bischöflichen Interessen durch verschiedene Stadtgründungen und die Schaffung neuer Verkehrsachsen. So wurden dem Bistum beispielsweise durch die G r ü n d u n g von Freiburg (1157) M a r k t - und Zollregalien entzogen, da der Zähringerherzog seine Stadt mit grosszügigen Rechten ausgestattet hatte. Nachdem sich Bertold I V . mit G r a f Amadeus von G e n f bezüglich der Machtansprüche in G e n f und Lausanne geeinigt hatte, herrschte in der Diözese Lausanne eine friedliche Zeit, die Bischof Landri von D û m e s (gg. 1 1 6 0 - 1 1 7 8 ) zur Befestigung der diözesanen Ländereien nutzte. Kirchenpolitisch wurde sein Episkopat allerdings von den Unruhen des Schismas überschattet. D a der Lausanner Bischofssitz nicht nur dem Papst, sondern auch dem Kaiser unterstellt war, sah sich Landri in diesem Konflikt offensichtlich veranlasst, auf beide Parteien Rücksicht zu nehmen. Dies interpretierte Papst Alexander III. am Ende des Schismas als Untreue. Landri musste deshalb sein A m t Roger von V i c o Pisano (1178-1212), einem Vertrauten des Papstes, überlassen. Roger von V i c o Pisano, dessen Amtszeit von zahlreichen Konflikten geprägt war, forderte 1179 vergeblich von Kaiser Friedrich I. die an Bertold verliehenen Rechte zurück. Er wurde aber vom Kaiser 1186 gegen G r a f Wilhelm I. von G e n f unterstützt, mit dem Roger bis 119 5 in zähe Auseinandersetzungen verwickelt war. Neben einem Kompetenzenkonflikt mit dem Kapitel sowie Kriegen gegen die Grafen von Greyerz begannen bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert die Schwierigkeiten mit G r a f T h o m a s von Savoyen, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts mit der Zerstörung der ' T o u r de Rive 1 in O u c h y einen ersten Höhepunkt errreichten. In der Folge setzten sich die Savoyer im Waadtland gegen die Z ä h ringer durch und stellten vor allem nach dem Vertrag von Burier im Jahre 1219, bei dem Bischof Bertold von Neuenburg (1212-1220) die Lehensrechte über M o u d o n an T h o m a s von Savoyen abtreten musste, bis ins 16. Jahrhundert eine ständige G e f a h r für die bischöflichen Besitzungen dar. Die Savoyer versuchten zudem durch das Bekleiden kirchlicher Amter in die diözesanen Angelegenheiten einzugreifen und so ihre Macht zu konsolidieren. T h o m a s war Mitglied des Lausanner Kapitels, sein Sohn Peter II. von Savoyen übernahm während der

Die Kathedrale von Lausanne

21

Sedesvakanz von 1229 bis 1231 gar die Administration des Bistums. Der von Papst Gregor IX. eingesetzte Bischof Bonifaz von Brüssel (1231-1239) war in der Folge mit den chaotischen Zuständen in der Diözese überfordert. Nach seinem Rücktritt versuchten die Savoyer die instabile Situation auszunutzen und forderten den Bischofssitz für Philipp von Savoyen, einen weiteren Sohn von Thomas. O b w o h l die W a h l Philipps nicht zustande kam, war der an seiner Stelle gewählte Johann von Cossonay (1240-1273) gezwungen, den Savoyern zahlreiche Konzessionen zu machen. Im ausgehenden 13. Jahrhundert stellten sich auch die Bürger von Lausanne gegen den Bischof, den sie bisher mehr oder weniger unterstützt hatten. N a c h dem ihnen J o h a n n von Cossonay kurz vor seinem T o d verschiedene früher gewährte Privilegien wieder entzogen hatte, erhoben sie sich mit der Unterstützung G r a f Philipps von Savoyen gegen Bischof Wilhelm von Champvent ( 1 2 7 3 1301), den Nachfolger Johanns. M i t Hilfe König Rudolfs von Habsburg, des langjährigen Feindes der Savoyer, konnte sich jedoch der Bischof vorläufig gegen die Bürger durchsetzen. 2. B a u g e s c h i c h t e

Forschungsstand zur Baugeschichte und erstes Projekt All diesen Konflikten zum Trotz entstand im ausgehenden 12. und frühen 13. Jahrhundert in Lausanne ein Bauwerk, das für die Verbreitung der gotischen Architektur in der Westschweiz von grosser Bedeutung war. Die

heutigen

Kenntnisse zur Baugeschichte basieren hauptsächlich auf den Untersuchungen von Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, der 1872 als Erster eine Einteilung in Bauetappen vornahm, und Adrien Bovy, der Viollet-le-Ducs Resultate 1944 präzisierte und anhand von Quellen datierte. Diese Ergebnisse wurden von Marcel Grandjean in den 1960er und 70er Jahren überarbeitet und teilweise korrigiert. Z u r Zeit ist unter der Leitung von Werner Stöckli eine umfassende bauarchäologische Untersuchung der Kathedrale im Gange, deren provisorisch publizierte Resultate eine Klärung der relativen Bauchronologie, eine Neudatierung des Baubeginns und den Versuch einer absoluten Feindatierung auf statistischer Basis beinhalten. 3 Im Überblick präsentiert sich die Baugeschichte fol-

3

VIOLLET-LE-DUC 1872; BACH/BLONDEL/BOVY 1944, 393-429; GRANDJEAN 1975/1; STÖCKLI 1998; STÖCKLI 2004. Für einen Abriss der Forschungsgeschichte bis etwa 1990 KLEIN 1993. Die als Arbeitshypothese etablierte jahrgenaue Datierung von STÖCKLI 1998, 18-20 basiert auf Grandjeans Grobdatierung der gotischen Etappen (1190/1192-1235) und auf statistischen Werten wie durchschnittliche Masse des jährlich verbauten Steinmaterials, durchschnittliche Lebensdauer der Steinmetzen usw.

22

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

gendermassen: N a c h einem nur in Ansätzen verwirklichten Projekt errichtete man in einer romanischen Bauetappe die Chorumgangsmauer. In einer ersten gotischen Etappe folgten der Chor, das Querhaus und die ersten beiden D o p peljoche des Langhauses. In einer zweiten gotischen Etappe baute man das dritte Doppeljoch und den Westbau, der allerdings erst nach einer längeren Unterbrechung vollendet wurde. Die frühesten, wahrscheinlich unter Amadeus von Clermont in Angriff genommenen Baumassnahmen sahen für den C h o r einen anderen Grundriss vor. François Maurer-Kuhn interpretierte 1971 die bereits 1909 bis 19x0 ergrabenen, bisher als Stützmauern gedeuteten Fundamente im Bereich der heutigen C h o r umgangsmauer als ein aufgegebenes Projekt, das einen Umgangschor mit ununterbrochenem Kapellenkranz vorsah. 4 Er brachte dieses Projekt mit einer G r u p p e von teils ergrabenen, teils im heutigen C h o r u m g a n g wiederverwendeten Kapitellen in Verbindung und datierte es auf G r u n d des Skulpturenstils in die Mitte des 12. Jahrhunderts. D a die fraglichen Kapitelle laut Eliane Vergnolle vor ihrer heutigen Verwendung niemals verbaut waren, 5 dürfte die Ausführung des ersten Projekts nicht allzu weit über die Fundamente hinaus gekommen sein. Romanische Bauetappe Nach einer längeren Unterbrechung wurden die Arbeiten wieder aufgenommen, wobei der begonnene Bau nicht weitergeführt, sondern bis auf die Fundamente abgerissen wurde, um einen neuen Plan mit einer einzelnen Umgangskapelle in A n g r i f f zu nehmen. Es handelt sich dabei um die erste Bauetappe der heutigen Kathedrale, die die Chorumgangsmauer mit Ausnahme der Anschlussjoche ans Querhaus umfasst und stilistisch noch der Romanik verpflichtet ist. 6 Bis vor kurzem herrschte die Meinung, dass der begonnene Bau 1173 soweit vorangeschritten war, dass man die Reliquien auslagern musste, u m die alte Kathedrale aus der Zeit um 1 0 0 0 abreissen und den N e u b a u fortsetzen zu können. 7 Das D a t u m für die Translation errechnete man aus einem Eintrag im KapitelscharDa diese Resultate nicht mit den urkundlich gesicherten historischen Gegebenheiten, der architekturhistorischen Entwicklung und technischen Fragen wie Bearbei-

4 5 6

7

tungsgrad des Steinmaterials, bautechnische Fortschritte u. ä. konfrontiert wurden, bleiben sie ihrer scheinbaren Genauigkeit zum Trotz approximativen Charakters. MAURER-KUHN 1971, 221-222. Zur älteren Interpretation BACH/BLONDEL/BOVY 1944,10, 47-48. VERGNOLLE 2004,78. Die These von GRANDJEAN 1975/1, 76, die innere Wandschicht inklusive Wandpfeiler sei dem Chorumgang nachträglich vorgelegt worden, hat SALET 1977, 29 mit Recht zurückgewiesen. Erstmals DUPRAZ 1907, 30. Zum Vorgängerbau JATON 1993.

Die Kathedrale von Lausanne

tular des Lausanner Propstes Cono von Estavayer (1202-1243/1244), der 1232 festhielt, die Reliquien seien nach 59 Jahren in die Kathedrale zurückgebracht worden." Stöckli hat dieser Datierung jüngst widersprochen, weil die Chorumgangsmauer der romanischen und die westlichen Vierungspfeiler der ersten gotischen Bauphase ein identisches Steinmetzzeichen aufweisen. Er schloss daraus, die romanische Etappe sei kaum vor 1180 in Angriff genommen worden, denn ein mittelalterlicher Steinmetz habe durchschnittlich nicht länger als zwanzig Jahre gearbeitet. Da man nachweisen konnte, dass Cono beim Verfassen des Chartulars gelegentlich Fehler betreffend der Daten und Zahlen unterlaufen sind,' 0 darf auch das Datum der Reliquientranslation grundsätzlich in Frage gestellt werden. Allerdings ging Stöckli bei der Neudatierung von einem Baubeginn der nachfolgenden Etappe um 1190 aus. D a jedoch diese, wie noch gezeigt werden soll, auch zehn Jahre früher angesetzt haben könnte, ist eine Entstehung der Chorumgangsmauer sowohl um 1170 als auch um 1180 plausibel. Gesichert ist lediglich, dass der Bau unter Landri von Durnes keine grossen Fortschritte machte. Zwar berichtete Cono, Landri habe für die Kirche viel Gutes getan." Man wird dies jedoch nicht als Baueifer im Zusammenhang mit der Kathedrale auszulegen haben," sondern muss darin wohl die zahlreichen Unternehmungen des Diözesanoberhauptes zur Befestigung der bischöflichen Güter sehen. Erste gotische Bauetappe Erst während der Amtszeit Rogers von Vico Pisano scheint der Bau wesentlich vorangekommen zu sein. Ein neuer Architekt bestimmte dabei das Konzept für den Grund- und Aufriss, das bis zur Vollendung der Kathedrale Gültigkeit behalten sollte. Zudem war er für den Wechsel von romanischen zu gotischen Bauformen verantwortlich. Als erstes legte man die Fundamente bis ins dritte Doppeljoch des Langhauses. Ergrabene Grundmauern für einen nicht ausgeführten Strebepfeiler und einen Wandpfeiler im Bereich der heutigen Nordquerhaustüre sowie ein Pfeilerfundament in der Mitte zwischen den beiden Nordquerhausjochen deuten darauf hin, dass man zunächst den Plan hegte, die Kapellen im ersten Geschoss der Querhaustürme in Form einer Empore gegen Westen w e i t e r z u f ü h r e n . N a c h der Fundamentierung setzte man die Arbeiten am aufgehenden Mauerwerk fort und errichtete die westlichen Joche der Chor-

8

ROTH 1948, 643, N r . 804.

9

STÖCKLI 1 9 9 8 , 1 9 .

10

MOREROD/PASCHE 2 0 0 4 , 1 5 .

11

ROTH 1 9 4 8 , 3 9 , N r . i6x.

12

S o BLASER 1 9 1 8 , 1 9 .

13

STÖCKLI 1 9 7 5 , 1 6 .

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

14

umgangsmauer (unter Verwendung von Material aus der romanischen Etappe), den Binnenchor, das Querhaus mit der Vierungslaterne und den Chorflankentürmen sowie die beiden ersten Doppeljoche des Langhauses. M i t Ausnahme des zweiten Doppeljoches, das nur bis zum Fusspunkt des Obergadens hochgezogen wurde, versah man die bestehenden Bauteile bereits mit Gewölben. Das 'Portail Peint', dessen Vorhalle sich an die Südseite des dritten Seitenschiffjochs anschliesst, entstand entgegen bisheriger A n n a h m e nicht am Schluss dieser Bauetappe. Es wurde nachträglich in die bereits bestehende Mauer eingebrochen und ersetzte dort ein kleineres Portal.' 4 Das neue Portal und seine Vorhalle scheinen von einem eigenen Bautrupp errichtet worden zu sein und bilden mit ihrer Bauskulptur das stilistische Bindeglied zwischen den beiden gotischen Etappen.'' Der Beginn der ersten gotischen Bauetappe ist nicht mit Sicherheit zu datieren, dürfte aber in den Jahren zwischen 1180 und 1190 liegen. Die beiden Hauptinspirationsquellen des unbekannten Baumeisters der Ostteile, die Kathedralen von Canterbury und Laon, waren zu Beginn der 1180er Jahre soweit gediehen, dass sie als Vorbilder dienen konnten.' In derselben Zeit erscheinen in der gotischen Architektur auch die Knospenkapitelle, die nun in Lausanne an die Stelle 14 15

STÖCKLI 2004, 50-59. Für die ältere Forschung GRANDJEAN 1975/1,105. Das Bogenprofil der seitlichen Vorhallenarkaden zeigt mit einem dicken Wulst zwischen zwei Rundstäben einen Typus, der erst in der letzten Phase der ersten gotischen Bauetappe auftaucht (Arkaden im Giebel des Südquerhauses). Das Mandelstabprofil kommt nur an den Rippen des Südportals und des Vierungsturms vor. Die lebhaften, naturalistischen Portalkapitelle bilden den Höhepunkt der detailfreudigen Kapitellplastik der Ostteile, die im Westen spröder und summarischer ist. Während am Portal die Astragalform und die gelappte Ausbildung der Kalathoslippe mit den spätesten Kapitellen der ersten gotischen Bauetappe übereinstimmt, zeigen die Deckplatten mit ihrer starken Unterkehlung bereits den Typus der nächsten Phase. Dieser kommt in den Ostteilen abgesehen von wenigen Ausnahmen im Bereich der oberen Querhauskapellen nur dort vor, wo die Deckplatten durch das verkröpfte Gesims gebildet werden. Die seitlichen Arkaden der Vorhalle wurden wahrscheinlich noch im 13. Jh. vermauert und erst um 1880 wieder geöffnet (STÖCKLI 2004,58-59).

16

Z u den Ostteilen von Canterbury DRUFFNER 1994; ergänzend DRAPER 1997: 1175— 1178 Mönchschor, Presbyterium und Teile des östlichen Querhauses, 1179-1184 Vollendung des Querhauses, 'Trinity Chapel', und Rohbau der 'Corona'. Z u Laon CLARK/KING 1983/1987: 1155/1160-1180/1185 Chor, Querhaus und östliche Teile des Langhauses, 1180/1185-1195/1200 Vollendung des Langhauses und Westfassade, 1 2 0 5 1220 Chorneubau. Alain Saint-Denis geht neuerdings davon aus, dass die Kathedrale von Laon um 1180 in ihren wesentlichen Teilen bereits vollendet gewesen sei (SAINTDENIS/PLOUVIER/SOUCHON 2002, 94-102).

Die Kathedrale von Lausanne der romanischen Blatt- und Rankenkapitelle treten. In den Quellen wird der Kirchenbau allerdings erst durch einen Konflikt in den 1190er Jahren fassbar.' 7 Bei dieser Auseinandersetzung handelt es sich um einen

Kompetenzenstreit

zwischen dem Kapitel, das sich zunehmend von der bischöflichen Oberaufsicht befreien wollte, und dem autoritär regierenden Roger, der von Papst Alexander III. nach dem Schisma eigens zur Reorganisation der Diözese eingesetzt worden war. Der Schiedsspruch von 1197 belegt Bauarbeiten an der Kathedrale.

Dem

Bischof wird darin nämlich vorgeworfen, er habe "contra cánones de lapidibus ecclesie et materia sancta" für den Bau eines Privathauses verwendet.' 9 Darüber hinaus werden für den Kathedralbau bestimmte Oblationen und ein Fabrikverwalter erwähnt. D a sich Roger dem Schiedsspruch nicht unterwarf, erfolgten bis 1198 zwei weitere päpstliche Untersuchungen, bevor sich die Lage gegen 1200 wieder beruhigte. N e b e n diesem internen Konflikt werden im Urteil von 1197 auch aussenpolitische Auseinandersetzungen angesprochen. N a c h dem

Tode

Barbarossas im Jahre 1190 wollten die transjuranischen Herren Burgunds Bertold von Zähringen nicht mehr als Rektor anerkennen. Roger von V i c o Pisano stellte sich in diesem Rechtsstreit im Gegensatz zur Stadt Lausanne gegen den Zähringerherzog. Dies führte dazu, dass der Bischof in der Kathedrale zeitweise keine Messen mehr lesen konnte und die Stadt schliesslich verlassen musste, während die Kanoniker die Kathedrale befestigten, weil sie eine kriegerische Auseinandersetzung befürchteten. 1 0 Die Wiederaufnahme der Bautätigkeit um 1180/1190 und das zügige V o r a n kommen der Arbeiten in den nächsten Jahrzehnten dürfte in der Übernahme der Bauherrschaft durch das Kapitel begründet sein. Seit dem mittleren 12. Jahrhundert befreite sich die Kanonikergemeinschaft zusehends von der Herrschaft des Diözesanoberhauptes." Aus dem Schiedsspruch von 1197 geht hervor, dass der Bischof die vollständige Kontrolle über die Kathedralfabrik bereits verloren hatte. E r beklagte nämlich, Henricus Albus, der seit 1180 als Lausanner Kanoniker fassbar ist und als Sakristan das A m t des Fabrikverwalters ('magister operis') innehatte, habe Steinmetzen entlassen. Spätestens im frühen 13. Jahrhundert war das Kapitel, wie es für diese Zeit üblich war, allein für den Kathedralbau verantwortlich. Es besetzte unter anderem das A m t des Bauverwalters und das Fabrik17 18 19 20

21

Zu diesem Konflikt REYMOND 1907. Der Schiedsspruch wurde von MOREROD 2000, 184 entgegen der früheren Forschung nicht mehr gegen Π92, sondern ins Jahr 1197 datiert. Zitiert nach REYMOND 1907,108. MOREROD 2000, 407 ging davon aus, das die erwähnte "incastellatio" der Kathedrale die Errichtung des Westbaus betrifft. Dieser gehört jedoch eindeutig zur zweiten gotischen Bauetappe (vgl. S. 28-29). MOREROD 2 0 0 0 , 4 7 7 - 4 8 1 .

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

26

amt mit v o n ihm gewählten Kanonikern, kümmerte sich um den nötigen Baugrund und organisierte die Finanzierung der Bauarbeiten. 12 W i e

Grandjean

bereits vermutete, dürfte deshalb das Kapitel und nicht der Bischof für die A n stellung des neuen Architekten und damit für den U m s c h w u n g zum eigentlich gotischen Baukonzept verantwortlich gewesen sein.

So erstaunt es nicht, w e n n

im Gegensatz zur Kathedrale von G e n f die Herkunft der Bischöfe für die formale Gestaltung der Kathedrale keine Rolle gespielt hat. Das Ende der ersten und der Beginn der zweiten gotischen Bauetappe sind wegen der komplexen Quellenlage schwierig zu datieren. 14 Ein sicherer 'terminus ante' besteht für das Sanktuarium, da 1212 "ante maius altare" und in den folgenden Jahren sehr häufig "in choro" geaktet wurde. 15 A b 1219 sind auch im Schiff A k t u n g e n nachgewiesen.

Die Kirche war also zu diesem Z e i t p u n k t min-

destens bis und mit dem ersten Doppeljoch eingewölbt. Schwieriger ist die Interpretation von zwei D o k u m e n t e n , die 1204 und 1220 A k t u n g e n "in vestíbulo Lausanensi" belegen. 17 Einerseits wurde der Begriff 'vestibulum' vieldeutig verwendet (Vorhof, Vorhalle, Eingang, gelegentlich Sakristei), andererseits ist unklar, ob er sich überhaupt auf die Kathedrale bezieht. Dass gar 1204 der vorläufig stehen gebliebene ottonische und 1220 der aktuelle Westtrakt gemeint waren, ist aus baugeschichtlichen Gründen auszuschliessen. D e r archäologisch nachgewiesene W e s t b a u der Heinrichskathedrale, der im Bereich des zweiten Doppeljochs stand, musste abgerissen werden, als der erste gotische Baumeister um 1180/1190 bis ins dritte Doppeljoch die Fundamente legte. 1 ' W a s den heutigen Westbau betrifft, entstand dieser erst im fortgeschrittenen Stadium der zweiten

22

SCHÖLLER 1989, 193, 2 1 5 - 2 1 6 , 239, 306, 315; z u m B a u g r u n d a u c h R O T H 1948, 482,

Nr. 576, 4 9 0 , Nr. 588. 23

GRANDJEAN 1963, 2 7 4 - 2 7 5 .

24

Die Angaben Marcel Grandjeans sind in diesem Punkt widersprüchlich. Einerseits nahm er an, das Südportal sei als letztes Element der zweiten Bauetappe zwischen 1216 und 1220 entstanden (GRANDJEAN 1975/1, 105), andererseits hielt er ein Ende dieser Etappe um 1210 für möglich (ibid., 110). Den Beginn der zweiten gotischen Phase hielt er noch um 1220 für möglich (ibid., 76-77), obwohl er das 1216 in den Quellen erwähnte "magnus portale" als das Westportal bzw. die 'Grande Travée' betrachtete (ibid., 105,125), die beide zur zweiten gotischen Bauphase gehören.

25

R O T H 1 9 4 8 , 1 5 0 , N r . 132.

26

R O T H 1 9 4 8 , 3 8 7 - 3 8 8 , N r . 448.

27

R O T H 1 9 4 8 , 1 4 3 , N r . 121; DE GINGINS-LA-SARRAZ/FOREL 1 8 4 6 , 3 1 - 3 2 , N r . 15.

28

S o B A C H / B L O N D E L / B O V Y 1944, 4 2 6 ( f o r 1204); M O R E R O D 2 0 0 0 , 214 ( f o r 1220).

29

Zur Fundamentierung STÖCKLI1998, 17; zum ehem. Westbau BACH/BLONDEL/BOVY 1944, 4 0 - 4 1 .

Die Kathedrale von Lausanne

2-7

gotischen Bauetappe und existierte 1220 bestenfalls in Ansätzen. 3 " Dementsprechend kann es sich auch beim 1216 erwähnten "magnum portale" nicht um das Westportal beziehungsweise die 'Grande Travée' handeln.'' W e n i g deutlich sind zudem die Quellen, die gelegentlich für eine Datierung des Südportals in die Zeit zwischen 1216 und 1220 herbeigezogen wurden.

Die Bezeichnung eines

Portals mit dem Begriff "maius portale" im Jahre 1220 im Unterschied zu "magnum portale" im Jahre 1216 beweist zwar die Existenz von zwei Eingängen." Das heisst jedoch nicht, dass 1216 neben dem genannten grossen Portal keine anderen bestanden haben, denn 1213 wurde bereits "in portali" geaktet. 34 Z u d e m ist mit dem 1220 erwähnten grösseren Portal nicht zwingend der Westeingang im Vergleich zum Südportal gemeint. 1215 und 1216 wird von Werkstätten und Verkaufsständen "iuxta campanile" berichtet, die dort toleriert sind, bis sie auf Geheiss des Kapitels "retro campanilem iuxta murum" transferiert werden müssen.35 Z u d e m erwähnt C o n o 1219 eine Feuersbrunst, bei der "totam villam infra muros et Civitatem usque a monasterium et domum episcopi et campanile et campanas omnes preter tres" brannten. 3 ' D a die zwei Quellen keine präzisen Hinweise zum Standort der genannten T ü r m e geben, stellt sich die Frage, welcher "campanile" gemeint ist, und ob beide Erwähnungen den gleichen T u r m betreffen. Schliesslich muss zur Datierung der zweiten und dritten Bauetappe auch die urkundliche Nennung zweier Baumeister mitberücksichtigt werden. 37 Der erste Baumeister wird nur indirekt genannt, indem das Chartular zwischen 1210 und 1224 fünfmal einen "Johannes filius magistri operis" oder ähnlich verzeichnet. Während die Erwähnungen bis 1217 mit grosser Wahrscheinlichkeit den Sohn eines noch lebenden Baumeisters bezeichnen, könnte der letzte Eintrag aus dem Jahre 1224 den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Meister betreffen. Die Quellen, die zwischen 1227 und 1318 einen "Johannes magister operis lausannensis" oder ähnlich nennen, bezeichnen hingegen bereits einen nächsten Baumeister. Dieser erscheint 'post mortem' einmal mit seinem vollen Namen - Johannes Cotereel - und muss zwischen 1236 und 1268 gestorben sein. Es ist durchaus möglich, dass Cotereel bereits vor seiner ersten Erwähnung Werkmeister der Lausanner Kathedrale war. Bei den fraglichen Dokumenten handelt es sich nämlich stets um Rechtsurkunden, die vom Kathedralbau unab30

STÖCKLI 1998, 20.

31

So GRANDJEAN 1975/1,105; idem 1975/2,194.

32

GRANDJEAN 1 9 7 5 / 1 , 1 0 5 .

33

R O T H 1 9 4 8 , 533, N r . 658, 2 7 7 , N r . 3 1 1 .

34

R O T H 1 9 4 8 , 4 8 0 , N r . 572.

35 36 37

Zitiert nach ROTH 1948, 482, Nr. 576, 490, Nr. 588. Zitiert nach ROTH 1948, 517, Nr. 635. Zu den Baumeistern G R A N D J E A N 1963, 274-284.

28

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

h ä n g i g sind, u n d in denen Cotereel nur zur genaueren Identifizierung als Baumeister bezeichnet w i r d . D a es einerseits w e n i g wahrscheinlich ist, dass der bis mindestens 1217 tätige 'magister operis' der Baumeister der zweiten gotischen Bauphase w a r u n d andererseits 1219 i m Langhaus bereits geaktet w u r d e , ist der U b e r g a n g zwischen den beiden gotischen Bauetappen w o h l zwischen 1217 u n d e t w a 1219 anzusetzen. M i t d e m 1215/1216 g e n a n n t e n G l o c k e n t u r m k a n n deshalb nicht die ' T o u r d u Beffroi' der heutigen Kathedrale gemeint sein, d e n n diese entstand erst a m Schluss der zweiten gotischen Etappe. B e i m mehrfach erwähnten "campanile" muss es sich folglich u m einen der Q u e r h a u s t ü r m e oder u m einen heute nicht m e h r fassbaren G l o c k e n t u r m handeln. D i e erste gotische Bauphase ist also mit grosser W a h r scheinlichkeit zwischen 1180/1190 u n d 1217/1219 z u datieren.

Zweite gotische Bauetappe und Vollendung des mittelalterlichen Baus U n t e r e i n e m neuen A r c h i t e k t e n w u r d e nach 1217/1219 die V o l l e n d u n g der K a thedrale in ihren wesentlichen T e i l e n in A n g r i f f g e n o m m e n . D a b e i erfolgte eine K o n z e p t ä n d e r u n g , deren deutlichstes Indiz der W e c h s e l v o m sechs- z u m vierteiligen G e w ö l b e im Langhaus ist ( A b b . 10). D e r Stützenwechsel, den der Baumeister der vorangegangenen Etappe eingeführt hatte, w u r d e in d e n neuen Plan integriert. D a die bereits konstruierten schwachen Pfeiler des zweiten D o p p e l j o c h s (F/F') durch den W e c h s e l im G e w ö l b e nun nicht m e h r w i e vorgesehen eine einzelne Rippe, sondern zwei Kreuzrippen u n d einen G u r t b o g e n a u f n e h m e n mussten, w u r d e n sie z u m M i t t e l s c h i f f h i n mit je e i n e m dicken D i e n s t verstärkt. D i e s e B a u m a s s n a h m e erforderte die V e r s t ä r k u n g der F u n d a m e n t e d u r c h E i n f ü g e n einer Q u e r m a u e r zwischen den Pfeilern. W e i t e r e K e n n z e i c h e n dieser Etappe sind die m i t H a l b s c h e i b e n dekorierten B o g e n a n f ä n g e r , die eingetieften Dreipässe in den T r i f o r i u m s z w i c k e l n , das A u s e i n a n d e r g e h e n der

Gurtbogen-

profilierung im Bereich der K ä m p f e r , die kräftig artikulierten Birnstäbe, die gelegentlich a u f t a u c h e n d e n runden Dienstbasen u n d die trockenere A u s f ü h r u n g der Kapitelle. A n h a n d dieser M e r k m a l e kann m a n dieser Bauphase die W ö l b u n g des zweiten D o p p e l j o c h s sowie die vollständige E r r i c h t u n g des dritten D o p p e l j o c h s u n d der so genannten ' G r a n d e Travée' zuweisen. Letztere w u r d e dabei d u r c h eine M a u e r v o m dritten D o p p e l j o c h u n d d u r c h G e w ö l b e a u f T r i f o r i u m s h ö h e v o n den Obergeschossen abgetrennt u n d verband so in F o r m eines tunnelartigen D u r c h g a n g s die O b e r s t a d t mit der U n t e r s t a d t . " N i c h t nur die beiden V o r h a l l e n u n d das Westportal, sondern auch die beiden Fassadentürme gehören

38

Für eine ausführliche Beschreibung der Anlage vgl. S. 44-46.

Die Kathedrale von Lausanne

29

entgegen der gelegentlich geäusserten M e i n u n g zu dieser Bauphase." Das G e wölbe in den Erdgeschossen der Türme, 4 " dessen Anfänger mit dem aufgehenden Mauerwerk im Verband sind, weist nämlich die gleichen Rippenprofile auf wie die 'Grande Travée' und die östliche Vorhalle und zeigt neben den typischen Merkmalen auch Steinmetzzeichen der dritten Bauphase. Die jüngsten bauarchäologischen Untersuchungen haben zahlreiche Indizien für einen ursprünglich vorgesehenen T u r m über dem Mittelschiff der 'Grande Travée' zu T a g e gefördert. 4 ' So wurden die Mauern im Bereich der Scheidbögen ab dem dritten Doppeljoch sukzessive verdickt und für die Pfeiler J / J ' und K / K ' , über denen der geplante T u r m zu stehen gekommen wäre, ein Format gewählt, das an Masse selbst die Vierungspfeiler u m ein Mehrfaches übersteigt. Dieses Vorhaben, bei dem ein T u r m von bis zu 1 0 0 Metern projektiert gewesen sein könnte, wurde nach dem Bau des Erdgeschosses zu Gunsten einer Doppelturmfassade aufgegeben. Auch diese Anlage wurde letztlich nur partiell verwirklicht, denn der Nordturm blieb im Ansatz stecken. D i e 1217/1219 unter Johannes Cotereel begonnene zweite gotische Bauetappe muss 1226 zumindest in den unteren Teilen vollendet gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt wurde sowohl die Kathedrale als Ganzes wie auch das Westportal und der nördliche Durchgang der 'Grande Travée' erwähnt. 42 1232 berichtet das Chartular von der Rückführung der "reliquie beate Marie Lausannensis [...] in monasterio suo novo". 4 3 D a 1234 vom Glessen einer grossen Glocke die Rede ist,44 die wohl für die inzwischen fertiggestellte 'Tour du Beffroi' an der Westfassade bestimmt war, muss die Kathedrale in den frühen 1230er Jahren vollendet worden sein. Einzig die Fertigstellung der Westempore blieb vorläufig aus. N a c h Abschluss dieser Bauetappe kam es 1235 zu einem Stadtbrand, über dessen Ausmass an Zerstörungen in der wissenschaftlichen Literatur viel diskutiert wurde. 4 ' Das Chartular berichtet, "tota Civitas et monasterium et tectum plum39 40

BACH/BLONDEL/BOVY 1944, 412-413 und GRANDJEAN 1975/1, 156 postulierten eine Entstehung der Turmerdgeschosse in der ersten Bauetappe. Im Südturm ist das Gewölbe nur noch in Ansätzen fassbar.

41

STÖCKLI 2 0 0 4 , 50.

42

"infra monasterium", "infra maius portale exterius per quod itur ad portam fori", "ab ángulo maioris portalis per quod itur ad sanctum Marium" (zitiert nach ROTH 1948, 587, Nr. 726; zur Situierung der Örtlichkeiten GRANDJEAN 1963, 267).

43

Zitiert nach ROTH 1948, 643, Nr. 804.

44

ROTH 1 9 4 8 , 684, N r . 844.

45

RAHN 1 8 7 6 , 3 6 3 ; GAUTHIER 1 8 9 9 , 1 5 - 1 6 ; MORLET 1950, 291 u n d TOURNIER 1 9 5 9 , 1 5

glaubten, nach dem Brand sei ein integraler oder zumindest partieller Neubau der Kathedrale nötig gewesen.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge



beum et vitree fenestre et pallia et multa alia ornamenta et omnes ecclesie et tota villa" seien verbrannt. 4 ' Die Architektur der Kathedrale dürfte allerdings keine grossen Schäden erlitten haben. Laut Quellen musste nämlich vor allem die Bedachung erneuert werden, während das Mauerwerk zwar einsturzgefährdet war, aber noch aufrecht stand. 47 D a nach 1236 datierende Dokumente zum Kathedralbau selten sind und nur noch den Kreuzgang betreffen, wurden die notwendigen Reparaturen wohl rasch ausgeführt. Erst kurz vor der Weihe, die Papst Gregor X . 1275 in Anwesenheit von Rudolf von Habsburg und zahlreichen kirchlichen und weltlichen Würdenträgern vornahm, 4

dürften schliesslich die letzten Arbeiten an der Kathedrale des

13. Jahrhunderts erledigt worden sein. Der G r u n d für die lange Unterbrechung lag wohl in erster Linie in der liturgischen Nutzbarkeit der Kirche im damaligen Zustand. S o verwendete man die zur V e r f ü g u n g stehenden Gelder für die Ausstattung, die Kapitelsgebäude und den Kreuzgang. Die noch ausstehenden A r beiten an der Kathedrale betrafen lediglich die Westempore, die vorerst nur provisorisch gedeckt worden war. In relativ kurzer Zeit entstanden u m 1 2 7 0 für diese Datierung sprechen der Stil von Masswerken, Kapitellen und Basen, wie noch gezeigt werden soll - die beiden Gewölbe über der heutigen Empore und die Westwand mit ihrem Rayonnantfenster. Nachträgliche Veränderungen und Zusammenfassung der Baugeschichte Zahlreiche Umbauten und Restaurierungen haben das Erscheinungsbild der Kathedrale von Lausanne seit dem 14. Jahrhundert nachhaltig verändert. 4 ' Die wichtigsten Erneuerungen fanden in der Zeit der Bischöfe A i m o (1491-1517) und Sebastian (1517-1560) von Montfalcon statt und betrafen den Westbau. Nachdem man schon 1499 die Zerstörung der Trennmauer zwischen dem dritten Doppeljoch und der 'Grande Travée' geplant hatte, wurde 1505 nördlich des unvollendeten Westturms ein Haus abgerissen, um einen Z u g a n g auf den Platz vor der Westfassade der Kathedrale zu schaffen (Abb. 12). Die 'Grande Travée' wurde also kurz vor 1505 ins Langhaus integriert, indem man die seitlichen Durchgänge schloss und die Mauer zwischem dem Langhaus und dem Grossen J o c h sowie dessen Gewölbe auf Triforiumshöhe des Mittelschiffs entfernte. Gleichzeitig vermauerte man an der Nord- und Südseite der Westvorhalle die Durchgänge zu den Räumen im Erdgeschoss der Westtürme. Zwischen 1515 und

46

Zitiert nach ROTH 1948, 649, Nr. 805.

47

D U P R A Z 1 9 0 6 , 4 8 - 5 1 ; GRANDJEAN 1 9 6 3 , 2 7 0 .

48

Z u r W e i h e MEYLAN 1 9 7 5 .

49

Zu den Umbauten und Restaurierungen seit dem 14. Jh. GRANDJEAN 1975/1, 51-70; zur Erneuerung des Westbaus auch GRANDJEAN 1975/2.

Die Kathedrale von Lausanne

31

1517 begann man, den ehemaligen Westeingang mit einem Figurenportal zu maskieren, das allerdings erst nach der Reformation fertiggestellt und 1892 bis 1909 vollständig erneuert wurde. Unter den zahlreichen Restaurierungen, die die Kathedrale in der Neuzeit erlebte,'" veränderte vor allem die 1873 unter EugèneEmmanuel Viollet-le-Duc begonnene Gesamtrestaurierung das Aussehen des gotischen Baus." Im Z u g e dieser Arbeiten wurden unter anderem der Aufsatz des Vierungsturms und die Architektur des Südportals umgestaltet sowie der Strebebogen zwischen dem Südportal und dem Südquerhaus entfernt. Seit der Zeit Viollet-le-Ducs wurden an der Kathedrale durchgehend, wenn auch mit wechselnder

Intensität,

Instandhaltungs-

und

Restaurierungsarbeiten

ausge-

führt.' 1 Zusammenfassend ergibt sich für die Baugeschichte der Kathedrale folgendes Bild: N a c h einem nur in Ansätzen verwirklichten Projekt aus der Mitte des 12. Jahrhunderts errichtete man um 1170/1180 die Chorumgangsmauer,

der

1180/1190 bis 1217/1219 der Binnenchor, das Querhaus und die ersten beiden Doppeljoche des Langhauses folgten. In einem nächsten Schritt entstanden 1217/1219 bis 1232/1234 das dritte Doppeljoch und der Westbau, der allerdings erst u m 1 2 7 0 vollendet wurde. Während also der Neubau der Kathedrale in den ersten vierzig Jahren nur schleppend vorankam und verschiedenen Planänderungen unterworfen war, wurde der Bau in den nächsten vierzig Jahren in seinen wichtigsten Teilen vollendet. Weitere vierzig Jahre sollten jedoch verstreichen, bis kurz vor der Weihe im Jahre 1275 auch die letzten Arbeiten ausgeführt wurden. Die wichtigsten nachträglichen Veränderungen betrafen den Westbau, den Vierungsturm und das Südportal.

50

1569-1576 'Beffroi' renoviert und dabei die Treppentürme erneuen; 1596-1597 Vierungsturm mit vier Ecktürmchen versehen; 1657 und 1674 nach Bränden Turmhelme des Vierungsturms und des 'Beffroi' umgestaltet; 1747-1749 Innenrestaurierung unter Gabriel Delagrange, der respektvoll die beschädigten Basen, Dienste, Kapitelle usw. erneuerte; 1768-1774 Aussenrestaurierung nach einem Projekt von Oberst Johann Bernhard von Sinner, wobei Strebebögen, Fenster, Südquerhausgiebel, Treppentürmchen, 'Beffroi' und 'Portail peint' restauriert, die Balustrade über dem Westportal neu geschaffen wurden; 1826-1827 unter Henri Perregaux Restaurierung des Vierungsturms, 1827 Entfernung des Lettners und Restaurierung der unteren Teile der betroffenen Pfeiler, u. a. Dienste der Pfeiler D/D' sowie Erneuerung zahlreicher Basen, Kapitelle und Säulchen im Erdgeschoss (GRANDJEAN 1975/1, 59-62).

51 52

Zur Restaurierung Viollet-le-Ducs SLGROS 1979. Zu den jüngeren Restaurierungen zusammenfassend HUGUENIN/GRANDJEAN/CASSINA 2002,13-15.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge 3. B e s c h r e i b u n g u n d k u n s t h i s t o r i s c h e E i n o r d n u n g Die nach Südosten ausgerichtete Kathedrale von Lausanne steht mit ihren knapp 100 Metern Länge quer auf dem Hügelvorsprung der Cité (Abb. i, 2, 4). Der massige Aussenbau wird von einer Vielzahl von T ü r m e n dominiert, unter denen die gedrungene 'Tour du Beffroi' im Westen und der markante Vierungsturm deutlich gegenüber den Querhaustürmen, den Treppentürmchen am Langhaus und dem Dachreiter über dem Südportal hervortreten. Durch einen komplexen Westbau gelangt man in das dreischiffige basilikale Langhaus, an das ein ausladendes zweischiffiges Querhaus und ein polygonaler C h o r mit U m g a n g und Scheitelkapelle schliessen. Trotz bescheidener Dimensionen erscheint das Innere sehr geräumig, was auf die grosszügige Ausdehnung des Schiffs gegenüber Querhaus und C h o r zurückzuführen ist.

Der Chor W i e bereits erwähnt, sah das erste Projekt des Lausanner

Kathedralneubaus

einen Umgangschor mit einem durchgehenden Kranz untiefer Kapellen vor. Während sich die ununterbrochene Reihung von Radialkapellen bereits in der Romanik gelegentlich zeigt, ist sie in Verbindung mit untiefen Kapellen ein typisches Merkmal der Frühgotik im Norden von Paris." Im Gegensatz zum additiven

Raumverständnis

der romanischen Architektur schliesst das neue

System die einzelnen Bauteile zu einem kontinuierlichen Raumgefüge zusammen. O b w o h l weit ab vom Kerngebiet der G o t i k liegend, folgt also das erste Lausanner Projekt im Bautypus unmittelbar den Errungenschaften der neuen Architektur. Die Kapitelle, die man mit diesem Chorkonzept in Z u s a m m e n h a n g bringt, zeigen teils den Stil der nordfranzösischen Frühgotik, teils sind sie in der lokalen Tradition des Rhonetals und des Burgund verankert. 54 Den heutigen Chorumgang brachte man wegen seiner halbrunden Achskapelle seit J o h a n n Rudolf Rahn immer wieder mit den burgundischen Kathedralen von Sens, Langres und Auxerre in Verbindung." O b w o h l bei all diesen Beispielen die Scheitelkapelle heute nicht mehr existiert, hat Jacques Henriet die engsten typologischen Übereinstimmungen mit der spätestens 1160 begonnenen Kathedrale von Langres festgestellt. 5 ' N u r dort ist nämlich der U m g a n g polygo-

53 54 55 56

BONY 1983, 52. Frühgotische Beispiele in Paris (St-Martin), Noyon, St-Germer-deFly, St-Denis usw. VERGNOLLE 2004. RAHN 1876,364. HENRIET 2004, 62-63. Henriets These, die Vorbildhaftigkeit von Langres sei auf die über mehrere Zwischenstufen führenden historischen Verbindungen zwischen dem

Die Kathedrale von Lausanne

33

nal - in dieser Zeit gegenüber dem herkömmlichen R u n d f o r m ein ausserordentlich moderner Z u g - und nur dort besteht die Möglichkeit einer einfachen, halbrunden Achskapelle wie in Lausanne. M i t Langres vergleichbar sind auch die Pilaster, die den Kapelleneingang rahmen und deren Kanneluren mit Pfeifen bestückt sind. Dagegen können die Vorbilder fur die Rundbogenblende und das friesartige Gesims auf G r u n d der weiten Verbreitung dieser Motive in burgundischen - aber auch rhodanischen - Bauten des 12. Jahrhunderts nur allgemein bestimmt werden. Auch die Wandpfeiler mit ihren sieben Diensten sowie deren Kapitelle gehen nicht auf Langres zurück, sondern haben ihre nächsten Verwandten in der frühgotischen Architektur der Île-de-France aus der Zeit zwischen 1150 und 117o.' 7 Während der Chorumgang noch in manchem der romanischen Tradition verbunden ist, tritt im Sanktuarium (Abb. 6) die gotische Ästhetik vollständig zu Tage. U b e r einem querrechteckigen Joch und einem siebenteiligen Polygon zeigt sich ein dreizoniger Aufriss, der von einem mehrfach retardierten, im Obergaden kulminierenden Crescendo vertikalisierender Kräfte geprägt ist. I m Erdgeschoss bewirken die stark gestelzten Lanzetten der Scheidbögen eine prägnante A u f wärtsbewegung. Diese wird jedoch gedrosselt durch die lastende Schwere der kräftig profilierten Unterzüge und durch die Schaftringe, die die Gewölbedienste verankernd nicht am, sondern über dem Kämpferpunkt der Lanzetten liegen. A u c h das horizontale Band des Triforiums drängt mit seinen rundbogigen Arkaden und seiner Lage zwischen zwei verkröpften Gesimsen die energische Vertikaltendenz der Scheidbogenzone zurück. Im Obergaden entwickeln die Fenster mit ihren kaum gespitzten Ö f f n u n g e n die Bogenform des Triforiums weiter, während die Arkaden des Laufgangs die Lanzetten der Scheidbögen wieder aufnehmen. Weil aber die Laufgangarkaden schlanker und in den Profilen feingliedriger sind als die Scheidbögen, wirkt das Obergeschoss insgesamt leichter. Z u d e m lassen die Kapitelle der Arkadensäulchen optisch auch die Ö f f nungen der Obergadenfenster als gestelzte Bögen erscheinen, so dass die Vertikalisierung des Aufrisses in diesem Geschoss ihren Höhepunkt findet. Diese geschickt inszenierte Aufwärtsbewegung wird durch die Lichtführung wesentlich

Bischof von Langres und den Zisterziensergründungen in der Westschweiz zurückzuführen (HENRIET 2004, 63-70), überzeugt allerdings nicht. In diesem Fall hätte man nämlich eher unter Bischof Amadeus von Clermont auf die burgundische Kathedrale zurückgegriffen, denn Amadeus war Mönch bzw. Abt in den Zisterzienserklöstern Clairvaux und Hautecombe und stand Bernhard von Clairvaux nahe. Zu Langres zuletzt VIARD/DECRON/WU 1994. 57

Die ähnlichsten Pfeiler laut HENRIET 2004, 70-71 in Chars und May-en-Mulcien; der Kapitelltypus war allg. verbreitet.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

34

unterstützt. D i e Arkaden im Erdgeschoss sind zwar hoch genug, u m das Licht der Umgangsfenster ins Chorrund strömen zu lassen. Die Rundpfeiler und ihre kräftigen Kapitelle überschneiden allerdings diese Ö f f n u n g e n und hemmen den Lichteinfall. Das Triforium bildet seinerseits ein schmales Schattenband, bei dem die dunklen T ü r ö f f n u n g e n in der Rückwand ein negatives Pendant zu den darunter und darüber liegenden Fenstern bilden. U m s o freier entfaltet sich das Licht im Obergaden, dessen Ö f f n u n g e n die Mauermasse fast vollständig verdrängen. Der Obergaden zeichnet sich jedoch nicht nur als Blickfang des Aufrisses aus. Im Z u s a m m e n h a n g mit Lausanne hat Jean Morlet bisher als einziger auf die Wichtigkeit dieses Geschosses im statischen G e f ü g e der Kathedrale hingewiesen." Der zweischalige A u f b a u erlaubt es nämlich, den Gewölbeschub nicht allein auf die Aussenmauer zu lenken, sondern auch auf die Arkatur, die den Laufgang zum Innenraum hin begrenzt. Dabei werden die Rippendienste im Innern und die Strebepfeiler am Aussenbau lediglich durch die Zungenmauern im Laufgang miteinander verbunden. Der so entstandene doppelte Stützapparat ist statisch wesendich leistungsfähiger als eine einfache, durch Streben stabilisierte W a n d . Der Umstand, dass der Obergadenlaufgang nicht mit Platten gedeckt ist, sondern von kurzen, quer gestellten Spitztonnen überwölbt wird, begünstigt die Statik zusätzlich. Die Schübe der Gewölbekappen werden so teilweise auf die Zungenmauern abgeleitet und von dort auf das zweibeinige Stützensystem übertragen. Den Zungenmauern k o m m t dabei die Funktion von eingezogenen Strebepfeilern zu, die es erlauben, den Stützapparat am Aussenbau zu erleichtern. In diesem Zusammenhang ist ein Phänomen zu untersuchen, das im 13. Jahrhundert ausgehend von der Kathedrale von Lausanne in der Westschweiz weite Verbreitung fand. In Lausanne konstituiert sich der Schildbogen allein durch das unmittelbare Gegeneinanderstossen von W a n d und Gewölbekappen und wird nicht durch ein Profil akzentuiert. Das Fehlen von Schildrippen wird allgemein als Überbleibsel einer romanischen Tradition betrachtet. In der T a t zeigen sich bei vielen romanischen, aber auch bei einigen frühgotischen Bauten Kreuzrippengewölbe ohne Schildrippen." Allerdings fanden letztere bereits bei romanischen Kreuzgratgewölben Verwendung und waren in der entwickelten Frühgotik geradezu kanonisch.

Auch in Lausanne gibt es an einigen Stellen

58

MORLET 1 9 5 0 , 1 1 4 - 1 1 6 , 1 2 7 .

59

Durham, Caen (St-Étienne), Beauvais (St-Étienne), Provins (St-Quiriace), Reims (St-Remi), Orbais usw. Romanik: Speyer, Páyeme, Vézelay, usw. Frühgotik: St-Denis, Laon, Noyon, Soisson usw.

60

Die Kathedrale von Lausanne

35

Schildrippen, nämlich im Chorumgang und in den Seitenschiffen des Querund des Langhauses, das heisst überall dort, w o die Gewölbe nicht an einen Laufgang stossen. Letzterer scheint also die statische Funktion der Schildrippen zu übernehmen, während diese nur dann nötig sind, wenn der Laufgang fehlt. Eine Beobachtung von Bruno Klein bestätigt dies. ' Die Gewölbekappen und die Zwickelfelder der Laufgangarkaden werden durch ihre einheitliche Polychromie optisch zusammengefasst. Farblich endet damit das Gewölbe erst an den Profilen der Obergadenarkatur und nicht dort, wo die Kappen tatsächlich an die W a n d stossen; den Laufgangarkaden kommt so die Rolle der Schildrippen zu. Es wäre deshalb falsch, die gezielt eingesetzten Schildrippen als "liturgical marker" für wichtige Kapellen zu betrachten.

Die Kapellen im ersten Ge-

schoss der Querhaustürme weisen zwar zum Transept hin solche Rippen auf (Abb. 9). Allerdings fehlen sie bereits im Innern dieser Räume, wo zwei übereinander gestellte Laufgänge die Gewölbe im Sinne des Obergadenlaufgangs stabilisieren. Darüber hinaus wurden gerade bei der einzigen Kapelle des Chorumgangs im Gegensatz zu den anderen Umgangsjochen keine Schildrippen verwendet. Dies zeigt, mit welcher Vorsicht eine liturgische Interpretation dieses architektonischen Elements zu geniessen ist. Klein hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die fehlenden Schildrippen in Lausanne ihre Parallele in der englischen Romanik haben und der schweizerischen Kathedrale - wie vieles andere über Canterbury tradiert wurden.' 3 Auch dort tauchen im Übrigen Schildrippen nur dann auf, wenn der Laufgang unter den Gewölben fehlt. Das beschriebene System wirkt sich auch auf die Ästhetik des Innenraumes aus. Dieser erscheint durch den zusätzlichen Laufgang im Obergaden erweitert, ohne dass die Dimensionen des Baus real vergrössert werden. Da das Gewölbe nicht mehr an die Aussenmauer der Obergeschosse stösst, sondern an den inneren Wandschild des Laufgangs, mit dem es zudem farblich verbunden ist, wirkt es wie ein zwischen die dünnen Dienste und über die Laufgangarkaden gespanntes Velum. Außerdem erlaubt die geschickte Verteilung der Schübe eine Reduktion der Pfeilerdicke im Erdgeschoss und der Dienstzahl an der Hochwand. So beginnt sich die Architektur - ganz im Sinne der gotischen Ästhetik von der Behinderung der Mauer zu lösen und erscheint transparenter und leichter. Fragt man nun nach der Herkunft dieser sowohl ästhetisch als auch technisch überzeugenden Aufrisslösung, findet man in der Forschung in erster Linie Hinweise auf die Architektur der Kathedralen von Laon und Canterbury. Während 61 62 63

KLEIN 1993,47. So WILSON 2004, 95. KLEIN 1993,46.

36

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

Alfred R a m é die Parallelen zu Laon schon in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts erkannte, blieben diejenigen zu Canterbury, insbesondere zur dortigen 'Trinity Chapel' bis auf den Hinweis von Hans Reinhardt in der Mitte des 20. Jahrhunderts unbemerkt. 6 " D a der erste Baumeister der Ostteile von Canterbury aus Sens stammte und sich die englische Architektur seit der Eroberung Englands durch die Normannen (1066) in engem Austausch mit der Normandie entwickelt hatte, kamen über die Kathedrale von Canterbury auch zahlreiche Baugewohnheiten aus Sens und der Normandie nach Lausanne/ 5 Im Chorpolygon, das für die übrigen Bauteile massgebend war, dominieren in den grossen Einheiten die Ubereinstimmungen mit Canterbury, während sich die Gemeinsamkeiten mit Laon vor allem in den Details zeigen. Im Gegensatz zum vierzonigen Aufriss, der für Laon und die nordfranzösische Frühgotik typisch ist, übernahm der Lausanner Baumeister das dreiteilige Etagement der 'Trinity Chapel' von Canterbury (Abb. 7). Dabei stimmen auch die Aufrissproportionen überein, bei denen die H ö h e der Scheidbogenzone derjenigen der beiden Obergeschosse entspricht und Triforium und Obergaden etwa im Verhältnis 2:3 zueinander stehen. Beiden Bauten gemeinsam sind zudem die gestelzten Scheidbögen mit ihrem doppelten Unterzug, die von den Pfeilerkapitellen aufsteigenden Einzeldienste, die Zweiteiligkeit des Triforiums, der ursprünglich auf normannische Vorbilder zurückgehende Obergadenlaufgang mit quer gestellter Spitztonnenwölbung und die Polygonwölbung ohne Schildrippen. In denjenigen Punkten, in denen Lausanne von Canterbury abweicht, zeigen sich oft Parallelen zur Kathedrale von Laon (Abb. 8). So stehen die Scheidbögen im Erdgeschoss nicht auf Doppelsäulen mit naturalistischen Knospenkapitellen und quadratischen Deckplatten wie in Canterbury, sondern auf Rundpfeilern mit stilisierten Zungenblattkapitellen und sechsseitigen Deckplatten wie in Laon. Im T r i f o r i u m weicht die englische Vorliebe für üppige Profilierung über doppelter Bogenstellung und die W ö l b u n g mittels kurzer Spitztonnen der sparsameren Profilierung über einfacher Bogenstellung und der

flachen

Steinplattendecke der picardischen Kathedrale. Schliesslich liegt auch der Ansatz der Gewölberippen nicht wie in Canterbury auf Kapitellhöhe der Triforiumsarkaden, sondern wurde im Sinne von Laon an den Fusspunkt des Obergadens 64

65

RAMÉ 1856, 60-61. REINHARDT 1947, 70. Zu den Übereinstimmungen mit der Architektur des Laonnais und Soissonnais zuletzt SANDRON 2004; zu den Parallelen zur englischen Architektur zuletzt WILSON 2004. Zur Baugeschichte von Laon und Canterbury hier S. 24, Anm. 16. Die Parallelen zur Normandie bemerkten schon DEHIO/VON BEZOLD 1901, Bd. 2, 178. Die Linie Sens-Canterbury-Lausanne wurde erst von GRANDJEAN 1975/1, 1 6 0 163 herausgearbeitet. Die von Grandjean gelegentlich vertretene These, Sens sei direktes Vorbild für Lausanne gewesen, ist m. E. nicht haltbar.

Die Kathedrale von Lausanne

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verlegt. Darüber hinaus gehen einige Einzelheiten wie das Aufsteigen der Dienste von einer Auskragung der Kapitelldeckplatten, die Profilierung der Rippen (Kehle zwischen zwei Rundstäben) und Gurtbögen (Band zwischen zwei Rundstäben) oder die über die Plinthe tretenden Basen nicht auf das englische, sondern auf das französische Vorbild zurück. Detailparallelen zwischen Lausanne und Canterbury bestehen lediglich in der Kapitellplastik, wo neben der allgemeinen, in Laon noch nicht vollzogenen Hinwendung zum Knospenkapitell auch zahlreiche Motive übereinstimmen, so etwa die segelartige Verbreiterung der Blätter über dem Ansatz, die Überhöhung der Blattspitzen durch Voluten oder die Akzentuierung der Blattmittelrippe durch Perlen und Klötzchen. Natürlich kommen viele der zum Vergleich herangezogenen Merkmale auch an anderen Bauten dieser Zeit zum Zuge, vornehmlich in der Nachfolge von Laon und Canterbury. Sie in die Diskussion miteinzubeziehen, wäre allerdings bei der erwiesenen Prädominanz der zitierten Vorbilder eine unnötige Strapazierung der stilgeschichtlichen Methode. So ist es beispielsweise irreführend, für den dreizonigen Lausanner Aufriss kleinere Pfarr- und Prioratskirchen aus der Umgebung von Laon heranzuziehen/ 6 Diese reduzieren im Sinne eines Bescheidenheitsgestus die Viergeschossigkeit der nahen Kathedrale/ 7 weshalb ihre Gliederung nicht mit dem bewusst verwendeten dreiteiligen Schema von Canterbury und Lausanne verglichen werden kann. Will man also verhindern, dass die waadtländische Bischofskirche zu einer Collage von Architekturmotiven unterschiedlichster Herkunft verkommt/" tut das Ansetzen des Ockhamschen Rasiermessers dringend Not. Im Sinne dieses spätscholastischen Philosophen soll hier versucht werden, die Erklärungsgründe nicht unnötig zu vermehren, sondern alle Erläuterungen, die für die gestellte Frage nicht wirklich von Relevanz sind, wegzulassen. Der mittelalterliche Baumeister erscheint dabei nicht mehr primär als Handlanger verschiedenster Stilströmungen, sondern als in der Tradition verankerter Handwerker mit einem gewissen Innovationspotential und der Fähigkeit, vorhandene Ideen selbständig weiterzuentwickeln. Das Querhaus Das Querhaus besteht aus einer kräftig artikulierten Vierung mit durchfenstertem T u r m und zweijochigen Armen mit östlichen Seitenschiffen. Uber den äusseren Seitenschiffjochen steigen niedrige Türme auf, die im ersten Geschoss

66

GRANDJEAN 1975/1, 84 und SANDRON 2 0 0 4 , 1 2 6 nannten Laon (St-Vincent), Braine,

St-Michel-en-Thiérache. 67

KIMPEL/SUCKALE 1995, 2 1 0 - 2 1 2 , 2 5 0 - 2 5 2 , 2 6 6 - 2 6 7 .

68

In diesem Sinne kritisierten SALET 1977, 38 und KLEIN 1993, 45 bereits die Stilanalyse v o n GRANDJEAN 1 9 7 5 / 1 .

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

38

Kapellen beherbergen. In der Gestaltung der Fassaden wurde die Südseite mit ihrer Rose, dem aufwendigen Sockel- und Fensterdekor und der raffinierter ausgebildeten Turmkapelle gegenüber der nördlichen deutlich ausgezeichnet (Abb. 9). Offensichtlich wollte man zur Stadt hin eine Prunkfassade aufrichten, die gegen Norden, wo der Kreuzgang und die Kapitelsgebäude lagen, als überflüssig erachtet wurde. Ansonsten führte man im Querhaus den Aufriss des Sanktuariums weiter, wobei die Arkadenzahl im Triforium und im Obergaden erhöht wurde. Während die vierfache Bogenstellung des Mittelgeschosses durch die sukzessive steigende Bogenzahl in den westlichen Polygonseiten und im Chorjoch vorbereitet ist, erscheint die dreifache Aufteilung des Obergadens im Querhaus zum ersten Mal. Der Schildwand angepasst werden hier die Arkaden gestaffelt angeordnet, wobei der mittlere Bogen das Fenster rahmt. Diese Disposition konstituiert zusammen mit einem fünf- beziehungsweise sechsteiligen Triforium

und einem breiteren

Scheidbogen

auch den Aufriss des Vie-

rungsturms und der Langhausjoche. Es ist müßig, die steigende Bogenzahl und die Staffelung der Laufgangarkaden von konkreten französischen Vorbildern abzuleiten, 6 ' denn diese Anordnung ergibt sich automatisch aus den breiter werdenden Jochen und zeigt sich bereits in der 'Trinity Chapel' von Canterbury. Dort versah man allerdings im Obergaden jeden Bogen mit einer eigenen Kurztonne, während der Lausanner Baumeister die Arkaden jochweise unter einem Gewölbe zusammenfasste. Dabei realisierte er durch die Gestaltung der inneren Raumbegrenzung als dreifach perforierten Mauerschild - Robert Branner sprach von einem "bored screen", Jean Bony von einem "two-layer grid in openwork" - eine bis dahin nur im Südquerhaus der Kathedrale von Noyon (um 1170/1180) erreichte Auflösung der Obergadenwand in zwei dünne Mauerschalen und entwickelte die in Canterbury verwendete, romanische Technik des anglonormannischen 'mur épais évidé' im Sinne der gotischen Ästhetik weiter. 70 Die Auflösung der Mauermasse durch Laufgänge war ein beliebtes Motiv des Lausanner Baumeisters. Zwar ersetzte er in den Kapellen im ersten Geschoss der Querhaustürme das Triforium und den Obergaden durch ein Plattenmasswerk aus einer Doppelarkade unter gelängtem Vierpass. An der Süd- und Ostwand der südlichen Kapelle begrenzt dieses Masswerk jedoch einen Mauerlaufgang, der im unteren Bereich im Innern, vor den Vierpässen hingegen am Aussenbau 69

GRANDJEAN 1975/1, 90 und SANDRON 2004, 128 nannten

Reims

(St-Remi),

Châlons-sur-Marne und Soissons (Südquerhaus der Kathedrale und St-Léger). 70

BRANNER I960, 73; BONY 1983, 167. Z u N o y o n SEYMOUR 1975. D e n Begriff des

'mur épais' prägte BONY 1939 im Zusammenhang mit der Bautechnik in der Normandie seit dem mittleren 11. Jh. Da die statisch bedingte Verwendung dicker Mauern eine rein ästhetisch motivierte Aushöhlung ('évidement') der Mauermasse nach sich zog, ist m. E. die Erweiterung des Begriffs zum 'mur épais évidé' gerechtfertigt.

Die Kathedrale von Lausanne

39

erscheint. A n den inneren Querhausfassaden wird die Laufgangarchitektur vor der Rose und vor den Fenstern des Triforiums und des Obergadens im N o r d arm weitergeführt. Während all diese Laufgänge teils noch statisch bedingt sind, kann ihr Erscheinen im Giebel des Südquerhauses, über dem Westportal und im weitesten Sinne auch an den Treppentürmchen am Langhaus und am südlichen Westturm nur noch ästhetisch erklärt werden. W i e beim C h o r gehen auch die stilgeschichtlich erklärungsbedürftigen Teile des Querhauses hauptsächlich auf Canterbury und Laon zurück. A u f f a l l e n d ist zunächst die Existenz eines östlichen Seitenschiffs. O b w o h l dies in der anglonormannischen Architektur weit verbreitet ist, 7 ' dürfte der Lausanner Baumeister zunächst das Querhaus von Laon vor Augen gehabt haben. D i e archäologischen Grabungen der 1970er Jahre haben nämlich gezeigt, dass an der Stirnwand des Lausanner Nordquerhauses zunächst eine Empore vorgesehen war, die die Kapelle im Obergeschoss des Querhausturms gegen Westen fortgeführt hätte. Die V e r m u t u n g von Françis Salet, für die Querhausarme von Lausanne seien ursprünglich nach dem Vorbild von Laon Doppelturmfassaden mit Emporen an den Fronten geplant gewesen, liegt deshalb nahe. 7 ' D e n Z u s a m m e n h a n g mit Laon bestätigen die Existenz von Kapellen in den Obergeschossen der T ü r m e und das übereinander Stellen eines inneren und eines äusseren Mauerlaufgangs in diesen Kapellen. 7 ' D i e Gliederung der Lausanner Südquerhausfassade mit einer Sockelblende, einer Fensterreihe und einer Rose war im Laonnais und Soissonnais seit der Mitte des 12. Jahrhunderts sehr verbreitet 74 und findet sich auch im C h o r der Kathedrale von Laon, der allerdings kaum älter sein dürfte als das Lausanner Beispiel. Während die in Plattenmasswerk gefertigte Rose in technischer H i n sicht mit frühgotischen Exemplaren einhergeht, wie man sie auch in der picardischen Kathedrale findet, folgt ihr Design dem Rundfenster im nördlichen A r m des Ostquerhauses von Canterbury. Dort besteht zwar die Gliederung lediglich aus einem Masswerk imitierenden Eisengitter. Die auf der Kontraktion eines

71 72

Durham, Peterborough, Lincoln, Salisbury usw. SALET 1977, 32-33. Der immer wieder durchgeführte Vergleich der heutigen Lausanner Turmdisposition mit derjenigen von Notre-Dame-en-Vaux und der Kathedrale in Châlons-sur-Marne (zuletzt VON WLNTERFELD 2004,154) wäre in diesem Fall entbehrlich.

73

Der Hinweis von VALLERY-RADOT 1952, 34-36, GRANDJEAN 1975/1, 93, 96 und VON WINTERFELD 2004, 155 auf eine lothringische Tradition überzeugt weniger, da sich dort die Kapellen nicht in Fassaden-, sondern in Chorflankentürmen befinden und nicht nur zum Querhaus, sondern auch zum Chor hin offen sind.

74

HÉLIOT 1972.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

40

rotierenden Quadrates beruhende Komposition stimmt jedoch in ihren G r u n d zügen überein. 7 ' Dagegen folgt das Innere des Vierungsturms wiederum dem Vorbild der Kathedrale von Laon. Übereinstimmend sind der zweizonige A u f bau mit T r i f o r i u m und durchfenstertem Obergeschoss sowie die achtteilige Rippenwölbung, deren Längs- und Querrippen über Dienste bis unter das Triforium verlängert werden und so die Turmseiten in der Vertikalen zweiteilen. D a jedoch der Lausanner Architekt seine Vierung wie ein monumentalisiertes Langhausdoppeljoch gestaltete, erscheint der Laufgang im Obergaden

nicht

aussen, sondern innen, und anstelle der durchlaufenden Dienstbündel zeigen sich von Gesimsen überschnittene Einzeldienste. W i e D a n y Sandron jüngst gezeigt hat, bestehen auch in einigen Details Parallelen zur Architektur von Laon und U m g e b u n g . 7 ' Allgemein kann man die Lausanner Fenster, die ab dem Querhaus eine einheitliche Form annehmen, als Reflex derjenigen von Laon bezeichnen. Die Fensteröffnungen werden innen und aussen von zwei Säulchen flankiert, wobei sich am Aussenbau die Deckplatte der Säulchenkapitelle und teilweise auch der Wasserschlag gesimsartig an der W a n d fortsetzen. Darüber hinaus findet sich im ChorseitenschifF der Kathedrale von Laon die sonst kaum verbreitete Profilierung der Lausanner Erdgeschossfenster, bei der die Ö f f n u n g nicht nur von zwei Säulchen, sondern zusätzlich von einem Rundstab gerahmt wird, der unten rechtwinklig abknickt und sich am Fuss der Sohlbank säulchenbreit fortsetzt. Z u d e m konnte Sandron für die rechteckigen Fenster des Nordquerhaustriforiums und die frei hängenden Zwickel der Laufgangarchitektur Parallelerscheinungen aus der U m g e b u n g von Laon nachweisen. 77 Auch die Lausanner Vierungpfeiler hat man gelegentlich mit Laon in Verbindung gebracht. 7 ' Ein genauer Vergleich zeigt allerdings, dass nur der Querschnitt dieser Pfeiler übereinstimmt, nicht aber die Funktion ihrer Glieder. Während nämlich die schwachen Dienste der Laoner Stützen die Gewölbe- und Schildrippen aufnehmen, tragen diejenigen in Lausanne neben den Gewölberippen die äusseren Unterzüge der Vierungsbögen. Eine identische Disposition

75 76

77

78

1987,87-88. 2004,131-132. St-Léger in Soissons, Konventsbauten von St-Michel-en-Thiérache. Ob Villard de Honnecourt seine Skizze eines "vosure pendant" ( H A H N L O S E R 1972, Abb. 401) nach dem Lausanner Nordquerhaustriforium gezeichnet hat ( G R A N D J E A N 1975/1, 93), oder ob er ein Gewölbe mit hängendem Schlussstein darstellen wollte ( N U S S B A U M / L E P S K Y 1999, 57), ist schwer zu entscheiden. GRANDJEAN

SANDRON

BACH/BLONDEL/BOVY

1944,400.

Die Kathedrale von Lausanne

41

zeigen die Vierungspfeiler der Kathedrale von Genf. 7 9 A u c h die Verwendung des fraglichen Pfeilertypus im Querhaus entspricht der rhodanischen Bischofskirche und hat hier wie dort statische Gründe. 8 0 Darüber hinaus zeigen die G e n f e r Langhausstützen wie diejenigen in Lausanne eine um vier schwache Dienste reduzierte Variante der Vierungspfeiler. D a die ersten Genfer Langhauspfeiler bereits um 1175/1180 entstanden sein dürften, können ihre Pendants in Lausanne als etwas schlankere Variante derselben angesehen werden. Das

Langhaus

W i e bereits angedeutet, wird das im C h o r und im Querhaus festgelegte Aufrisssystem im Langhaus weitergeführt. Die einzige relevante Änderung findet im Bereich der Gewölbe statt. Das erste Doppeljoch ist nämlich nicht mehr viersondern sechsteilig gewölbt, was in der Scheidbogenzone zu einem Wechsel zwischen den bereits beschriebenen Gliederpfeilern und einer Reihe auffallend unterschiedlich gestalteter Rundpfeilerkompositionen führte (Abb. 3, 5). Das erste schwache Stützenpaar ( D / D ' ) besteht aus einem Rundpfeiler, der zum Mittelschiff hin von einem dünnen, freistehenden Dienst begleitet wird. Letzterer ist über einen Schaftring mit der Kapitelldeckplatte des Pfeilers verbunden und nimmt die Querrippe des Gewölbes auf. 8 ' Obwohl die sechsteilige W ö l b u n g im zweiten Doppeljoch zu Gunsten einer vierteiligen aufgegeben wurde, behielt man den bis zu diesem J o c h bereits ausgeführten Stützenwechsel für das gesamte Langhaus bei. D a jedoch die Dienste des als schwache Pfeiler konzipierten Stützenpaares im zweiten Doppeljoch (F/F') nun nicht mehr bloss eine Mittelrippe, sondern den Gurtbogen und die Kreuzrippen aufzunehmen hatten, musste man sie nachträglich durch wesentlich kräftigere Exemplare ersetzen, die ohne U n terbrechung von der Basis bis zum Gewölbeansatz aufsteigen. Dieser äussere Z w a n g führte bei den schwachen Pfeilern zu einer letztlich ästhetisch motivierten Formenvielfalt, die für die sonst so einheitlich konzipierte Kathedrale untypisch ist. Im dritten schwachen Stützenpaar ( H / H ' ) repetierte man nämlich nicht etwa die Disposition des zweiten Doppeljoches, sondern wählte eine Kombination aus zwei 'en-délit'-Diensten und zwei gemauerten Rundpfeilern. Damit entstand ein Stützenystem, dessen starke Pfeiler als immer wiederkehren-

79

GANTNER 1947, 75 bemerkte bereits, dass die Pfeilergrundrisse der beiden Kathedralen einander entsprechen, allerdings ohne den Vergleich genauer auszuführen.

80

Vgl. S. 7 1 - 7 2 .

81

Die Annahme von GRANDJEAN 1975/1, 62-63, der Dienst sei ursprünglich von der Kapitelldeckplatte aufgestiegen und erst nach der Entfernung des Lettners im frühen 19. Jh. bis zum Fussboden verlängert worden, hat sich nicht bestätigt (Mitteilung von Werner Stöckli).

42.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

de, gleichförmige Ruhepunkte in Erscheinung treten, während die ständig wechselnde Gestalt der schwachen Stützen eine reizvolle Auflockerung bewirkt. Diese Disposition entspricht nicht dem Aufreihen gleichförmiger Joche in den so genannt klassischen gotischen Kathedralen Frankreichs, in denen selbst bei sechsteiligen Gewölben der Stützenwechsel oft nur angedeutet oder überhaupt nicht sichtbar gemacht wurde. Der Lausanner Baumeister scheint vielmehr mit einem ästhetischen Konzept der 'varietas' gespielt zu haben, das in der mittelalterlichen Architektur gelegentlich anzutreffen ist. 2 T r o t z betonter Vielfältigkeit erscheinen die schwachen Pfeiler jedoch als einheitliche Gruppe, denn sie bestehen ausschliesslich aus Rundformen, während die Gliederpfeiler neben runden Diensten einen kreuzförmigen Kern und rechteckige Vorlagen aufweisen. Z u dem wurde der statischen Schwere der kompakten Hauptpfeiler in den Nebenstützen eine geradezu ätherische Komposition gegenüber gestellt, deren Einzelteile nur im Bereich der Sockel und Kapitelldeckplatten miteinander verbunden sind. So repräsentieren die schwachen Pfeiler eines der Grundprinzipien gotischer Architektur, das in der grösstmöglichen Auflösung der Mauermasse besteht. M i t ihrer diaphanen Struktur negieren sie ihre eigentliche Funktion als tragende Elemente und werden zu einer Art Antipfeiler. Die beiden Pfeilertypen des Langhauses werden im Südportal, das seit dem frühen 14. Jahrhundert wegen seiner reichen Polychromie als "porta pietà" bezeichnet wird/ 3 um je eine Variante erweitert. Die ursprünglich allseitig offene, einjochige Portalvorhalle ruht auf Mauermassiven, die nach aussen die gestufte, mit eingestellten Säulchen bestückte Form der starken Langhauspfeiler aufnehmen, während sie im Innern hinter den Säulchen und Figuren als abgeschrägte W a n d in Erscheinung treten. Die vier Stützen hingegen, die aussen als dekorativ gestaltete Strebepfeiler den Z u g a n g zur Vorhalle flankieren, bestehen aus einem rechteckigen Kern, der fast vollständig von Dreiviertelsäulen ummantelt wird, zwischen denen ihrerseits vier lose beigestellte Dienste erscheinen. D a der Kern so gut wie unsichtbar ist, paraphrasieren diese Pfeiler mit ihrer Vielzahl runder Elemente, der Kombination von gemauerten Säulen und

'en-délit'-Diensten

und den unterschiedlich grossen, unter gemeinsamer Deckplatte zusammengeschlossenen Kapitellen die schwachen Pfeiler im Innern der Kathedrale. Auch die dreiteilig gestaffelte Arkatur, die als steinerner V o r h a n g die seitlichen Ö f f nungen der Vorhalle vergittert, greift mit der Laufgangarkatur des Langhausobergadens ein M o t i v des Gebäudeinnern auf. Im Langhaus gibt es wiederum zahlreiche Elemente, die an die Kathedralen von Laon und Canterbury erinnern. W i e in Laon sah der erste Bauplan der Kathed82

Zum ästhetischen Konzept der 'varietas' GASSER 2002.

83

GRANDJEAN 1 9 7 5 / 1 , 1 1 8 , A n m . 96, 97.

Die Kathedrale von Lausanne

43

rale von Lausanne in den Querhausarmen vier-, im Vierungsturm acht- und im Langhaus sechsteilige Gewölbe vor. Dieses System, das nochmals die Vorliebe fur die beschriebene Ästhetik des Wechsels demonstriert, wurde erst im zweiten Langhausjoch zugunsten einer vierteiligen W ö l b u n g

über

querrechteckigen

Jochen im Sinne der hochgotischen Kathedralen von Soissons, Chartres, Amiens und so weiter aufgegeben. Dagegen folgen der energische Stützenwechsel und die Vielfältigkeit der Pfeilerformen dem Konzept der 'Trinity Chapel' von Canterbury. Während die v o m Kern detachierten Dienste der schwachen Pfeiler ein Phänomen darstellen, das in der anglonormannischen Frühgotik um 1180 allgemein stark verbreitet ist und auch in Laon in Erscheinung tritt,"4 können die Pfeiler H / H ' konkreter als eine auf die Lausanner Verhältnisse umgedeutete Variante des östlichen schwachen Pfeilerpaares in Canterbury betrachtet werden. Beide Stützenpaare zeigen eine Kombination von zwei gemauerten Rundpfeilern und zwei Monolithsäulchen mit Kapitellen von unterschiedlicher Grösse unter gemeinsamer Deckplatte. Die fur Canterbury typischen Schäfte aus 'purbeck marble' wurden allerdings in Lausanne durch sandsteinerne 'en-délit'-Dienste ersetzt. Z u d e m stehen die vier Pfeilerelemente weniger eng zusammen als in der englischen Kathedrale und werden nicht durch Schaftringe verbunden. Die Deckplatten der Pfeiler D / D ' und F/F', die entsprechend der auftreffenden Profile gestuft sind, gehen wiederum auf Canterbury zurück und haben ausserhalb von England keine Parallelen. Schliesslich kommt auch die runde Form von Abakus und Deckplatte bei den nachträglich angebrachten Diensten der Pfeiler F/F', die typisch für die anglonormannische Architektur ist, bereits in den Kapellen des Ostquerhauses von Canterbury vor. Weniger präzis sind zwei für das westliche Langhaus charakteristische Motive zu lokalisieren. Einerseits folgen die eingetieften Dreipässe in den Zwickeln der Triforiumsarkatur ohne konkretes Vorbild dem typisch anglonormannischen 'horror vacui', der in gotischer Zeit zur Auflösung der Zwickelmauern durch Vielpässe aller Art führte.' 5 Andererseits finden sich die mit Halbscheiben dekorierten Rippen- und Bogenanfänger in der Frühgotik in unzähligen Varianten und k o m m e n in der näheren Umgebung von Lausanne bereits im Erdgeschoss der Apsis von G e n f vor. A u c h die Vorbilder des Südportals, das Klaus Niehr kürzlich umfassend untersucht hat, sind nur sehr allgemein fassbar. 86 M i t seiner trichterförmigen W a n -

84

BONY 1 9 8 3 , 1 6 2 - 1 6 6 .

85

Am Triforium in Caen (St-Étienne), Bayeux, Coutances, Petit-Andelys, Wells, Lincoln, usw.

86

NIEHR 2004.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

44

d u n g greift das Portal einen T y p u s a u f , der seit zirka 1 1 8 0 das r o m a n i s c h e u n d f r ü h g o t i s c h e S t u f e n p o r t a l ablöste. D i e allseitig o f f e n e V o r h a l l e n a r c h i t e k t u r ist ebenfalls kein Einzelfall u n d hat ihre V o r l ä u f e r g e n a u s o i m italienischen 'protiro' w i e in der französischen 'tour porche' u n d i m gotischen V o r h a l l e n p o r t a l . D a s selbe gilt f u r die Platzierung an der Langhausseite anstatt an einer der Fassaden, w a s v o r allem bei a n g l o n o r m a n n i s c h e n B a u t e n verbreitet ist.' 7 A l s G a n z e s ist das 'Portail peint' j e d o c h "ein Solitär unter den F i g u r e n p o r t a l e n des 13. J a h r h u n d e r t s in E u r o p a " . 8 8 Lediglich die Pfeiler, die aussen den Z u g a n g zur V o r h a l l e

flankie-

ren, h a b e n näher b e s t i m m b a r e Parallelen. Ä h n l i c h e Stützen zeigen sich i m S ü d q u e r h a u s v o n L a o n u n d b e i m E i n g a n g in die untere S ü d q u e r h a u s k a p e l l e der K a t h e d r a l e v o n Soissons (um 1180). 8 9 D a s Beispiel in L a o n ist allerdings a s y m metrisch gebildet, u n d bei den E x e m p l a r e n in Soissons stehen die einzelnen E l e m e n t e so n a h e beieinander, dass der K e r n gegenüber d e n D i e n s t e n deutlich in den V o r d e r g r u n d rückt u n d die d i a p h a n e W i r k u n g der L a u s a n n e r Pfeiler ausbleibt. Der

Westbau

E i n völlig neuartiges K o n z e p t liegt d e m W e s t b a u zu G r u n d e . Z u i h m g e h ö r t e n n e b e n d e n beiden F a s s a d e n t ü r m e n u n d d e n dazwischen liegenden

Vorhallen

u n d E m p o r e n ursprünglich auch das letzte L a n g h a u s j o c h - w e g e n seiner grösseren Breite als ' G r a n d e T r a v é e ' bezeichnet - u n d die T r e p p e n t ü r m c h e n a u f der H ö h e der Pfeiler J / J ' . D i e T r i f o r i u m s a r k a t u r , der O b e r g a d e n u n d die W ö l b u n g des L a n g h a u s e s w u r d e n z w a r über d e m ehemaligen D u r c h g a n g weitergezogen. S c h o n hier k ü n d i g e n sich aber d u r c h die A u s w e i t u n g des Z w i s c h e n g e s c h o s s e s zu E m p o r e n über d e n S e i t e n s c h i f f e n der ' G r a n d e T r a v é e ' b e d e u t e n d e V e r ä n d e r u n gen an. D i e s e zeigen sich allgemein i m W e c h s e l der P r o p o r t i o n e n , in einer bisher u n b e k a n n t e n r ä u m l i c h e n K o m m u n i k a t i o n , in neuen Pfeiler- u n d P r o f i l t y pen sowie in zahlreichen Details. W e i l der W e s t b a u i m f r ü h e n 16. J a h r h u n d e r t stark v e r ä n d e r t w u r d e , soll v o r erst a n h a n d einer rekonstruierenden B e s c h r e i b u n g der Z u s t a n d des 13. J a h r h u n derts erklärt w e r d e n . M a r c e l G r a n d j e a n k o n n t e n a c h w e i s e n , dass die ursprüngli-

87

'Protiro' in Modena, Piacenza, Verona (San Zeno) usw.; 'tour porche' in St-Benoîtsur-Loire, St-Loup-de-Naud usw.; Vorhallenportale in Le Mans, Chartres usw.; Platzierung an der Langhausseite in Worchester, Southwell, Fécamp usw.

88 89

NlEHR 2004, 178. Der Hinweis auf Soissons bereits bei GRANDJEAN 1975/1,105. Z u Soissons SANDRON 1998. Den von MORLET 1950, 181 und WILSON 2004, 116 zum Vergleich herangezogenen Stützen im Langhaus von Laon bzw. in Lincoln fehlt der mehrteilige Kern der Lausanner Beispiele.

Die Kathedrale von Lausanne

45

che Disposition dieses Bauteils in erster Linie durch die topografische und städtebauliche Situation auf dem engen Hügel der Cité bedingt war (Abb. 12) Da die gotische Kathedrale im Vergleich zu ihrer Vorgängerin wesentlich breiter und länger werden sollte, konnte die Strasse, die die Oberstadt mit der Unterstadt verband, nicht mehr vor der Westfassade der Kirche durchgeführt werden. Zwischen dieser und der Stadtmauer, vor allem aber zwischen den Häusern am Südwestende der Oberstadt und dem Nordturm blieb nur noch eine schmale Passage übrig, so dass die Verbindung zwischen den beiden Stadtteilen notgedrungen durch die Kathedrale geführt werden musste. Aus diesem Grund schloss man das Langhaus auf der Westseite des dritten Doppeljoches mit einer Mauer, die im Mittelschiff bis zum Fusspunkt des Triforiums reichte und die Seitenschiffe vollständig abtrennte. Die 'Grande Travée' war im Erdgeschoss durchgehend gewölbt, so dass ein breiter, tunnelartiger Durchgang die 'Rue Cité-Devant' bis zum Platz auf der Südseite der Kathedrale verlängerte. Das Obergeschoss hingegen öffnete sich in zwei hintereinander liegenden Westemporen zum Langhaus (Abb. 13). Den Zugang zum Kirchenschiff bildete ein Portal in der Mauer zwischen den Pfeilern J/J'. Gegen Westen öffnete sich die 'Grande Travée' mittels dreier Arkaden zu den Erdgeschossen der Fassadentürme und zur östlichen Vorhalle. Letztere war allseitig offen und kommunizierte auf ihrer Nord- und Südseite ebenfalls mit den Turmerdgeschossen, auf ihrer Westseite mit der westlichen Vorhalle. Diese war ihrerseits durch den grossen Westeingang mit dem kurzen Vorplatz zwischen Kathedrale und Stadtmauer verbunden. Indem weder die beiden Vorhallen noch der grosse Westeingang durch Türen verschlossen waren, ergab sich neben der Nord-Südachse durch die 'Grande Travée' eine West-Ostachse, die vom Markt in der Palud durch die 1226 erstmals genannte 'porta fori' und den Westbau zum Westportal des Langhauses führte. Der grosse Westeingang bildete vor seiner Maskierung durch das 'Portail des Montfalcons' eine Portalarchitektur besonderer Güte. Er öffnete sich in Form von zwei ineinander verschachtelten Riesenarkaden zwischen den Strebepfeilern der Westtürme und wurde überhöht von einem reich ornamentierten Gesims und einem heute noch sichtbaren Mauerlaufgang mit fünfteiliger Arkatur. Während der äussere Bogen des Eingangs keine aussergewöhnliche Form zeigt, wurde der engere innere Bogen durch eine spezielle Pfeilergestaltung ausgezeichnet. Abgesetzt durch ein sehr kurzes Tonnengewölbe ruht er auf je zwei übereinander gestellten Stützen, die mittels einer grossen, u-förmig ausschwingenden Deckplatte voneinander getrennt werden. Dabei tritt die Mauer im unteren Teil kräftig zurück. Diese Stützen bilden mit ihrem runden Kern und den lose da90

GRANDJEAN 1975/2.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

46

rum herum gruppierten Säulchen eine weitere Variante der schwachen Langhauspfeiler. Die monumentale Bogenform und die in der Art übereinander gestellter Säulenordnungen disponierten Pfeiler bilden eine freie Kombination antiker Architekturmotive mit typischen Lausanner Formen und machen aus dem Westeingang in der T a t "eine der entzückendsten Schöpfungen der G o tik'"". Die starke räumliche Kommunikation im Erdgeschoss des Westbaus wird im Obergeschoss fortgesetzt. Dabei stellt eine verglaste Transenna, die die westliche Vorhalle mit der Empore verbindet, den Kontakt zwischen den beiden Etagen her. 91 Über zwei breite Treppen in den äusseren Strebepfeilern der Westfassade erreicht man die Turmobergeschosse, die durch einen Scheidbogen mit der unteren E m p o r e über der Ostvorhalle und der 'Grande Travée' sowie durch eine hochliegende, fensterartige M a u e r ö f f n u n g mit der oberen Empore über der Westvorhalle verbunden sind. Darüber hinaus erstreckte sich der vordere Teil der unteren Empore in die Räume über den Seitenschiffen der 'Grande Travée', die v o m Mittelteil lediglich durch die Arkatur des Triforiums und eine Kolonnade aus Rechteckpfeilerchen geschieden werden. Das Obergeschoss des Westbaus ist zudem v o m Schiff aus über zwei Treppentürmchen auf der H ö h e der Pfeiler J / J ' erreichbar, die auch den Z u g a n g zum Obergadenlaufgang und zu den Dachräumen garantieren. Diese T ü r m e haben ferner eine statische Funktion, da sie durch ihre Masse und die Quermauern, in denen Laufgänge die T ü r m e mit den verschiedenen Geschossen des Mittelschiffs verbinden, das Strebesystem ersetzen. Einige den Westbau betreffende Details konnten bisher nur hypothetisch rekonstruiert werden. So deuten Bogenansätze im N o r d t u r m laut Werner Stöckli darauf hin, dass die Turmerdgeschosse ursprünglich auch gegen Westen und Norden beziehungsweise Süden offen w a r e n . " Für die im frühen 16. Jahrhundert entfernte W ö l b u n g im Mittelschiff der 'Grande Travée' hat Albert N a e f mit einem Kreuzrippengewölbe zwischen zwei quer gestellten, spitzen Kurztonnen die bisher überzeugendste Lösung vorgeschlagen. 94 Neben den heute funktionslosen Wandpfeilern und den von Naef entdeckten Gewölberesten an der Westw a n d der 'Grande Travée' spricht auch die analoge Situation im Bereich der östlichen Vorhalle fur diese Rekonstruktion. Die leeren Basen vor der Triforiumsarkatur des sechsten Jochs interpretierte Eugène Bach als Überreste einer

91

GANTNER 1947, 78.

92 93

Zu dieser Transenna existiert eine vorbereitende Ritzzeichnung (GRANDJEAN 1981, 305). Mitteilung von Werner Stöckli.

94

NAEF 1 9 0 4 , 1 4 4 .

Die Kathedrale von Lausanne

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Balustrade, die einst die Westempore zum Mittelschiff hin begrenzte und sich im T r i f o r i u m gegen Osten fortsetzte." Während die Rekonstruktion des ehemaligen Westbaus bis auf wenige Details als geklärt betrachtet werden kann, bleibt dessen Funktion nach wie vor im Dunkeln. Gesichert ist lediglich, dass die 'Grande Travée' bis ins frühe 16. Jahrhundert eine öffentliche Verkehrsachse war, durch die sogar - wie bei allen grösseren Strassen der Stadt - die Trinkwasserversorgung und die Abwasserentsorgung führten.' 6 Im 15. Jahrhundert wurden die Turmerdgeschosse nachweislich durch Handwerker der Kathedralfabrik genutzt, was auf Gepflogenheiten des 13. Jahrhunderts zurückgehen könnte.' 7 Trotzdem dürfte das Erdgeschoss des Westbaus nicht ein rein profaner Ort gewesen sein. Dies zeigt sich vor allem in der Westvorhalle, die durch ein Skulpturenensemble, spezielle Pfeilerformen und reichere Profilierung ausgezeichnet wurde. Z u d e m charakterisieren

die

seitlichen Konchen, in denen man sich laut Peter Cornelius Claussen Altäre vorzustellen hat,98 und die Transenna, die eine direkte Verbindung zum Innern der Kirche schafft, diese Vorhalle als semisakralen Ort. W i e an andern Orten nachgewiesen, dürften auch in der Lausanner Vorhalle bei Prozessionen, Bussakten, festlichen Einzügen und dergleichen liturgische Handlungen stattgefunden h a b e n . " Diese Durchdringung von sakraler und profaner Welt ist typisch fur das Mittelalter, und Grandjean hat die 'Grande Travée' mit Recht als Kreuzung einer zivilen und einer religiösen "Verkehrsachse" bezeichnet.' 00 Im Obergeschoss des Westbaus erstaunt auf den ersten Blick die Vielzahl der Räume und deren unübersichtliche Anordnung. Die breiten, stark abgenutzten Treppen,' 0 1 aber auch die Tatsache, dass die Aufgänge zu den Freigeschossen der T ü r m e wesentlich enger sind, lassen auf eine rege Nutzung dieser Etage schliessen. D i e scheinbar chaotische Disposition der Räumlichkeiten klärt sich, wenn man die beiden gestaffelten Emporen in der Mitte als liturgisches Zentrum des Westbaus betrachtet. Diese kommunizieren nämlich nicht nur mit dem Langhaus, sondern auch mit den Räumen über den Seitenschiffen der 'Grande T r a vée' und im ersten Geschoss der T ü r m e sowie mit der Westvorhalle. Dabei handelt es sich zum einen um Sichtkontakt, zum andern um eine rein räumliche

95

BACH/BLONDEL/BOVY 1944,150.

96

GRANDJEAN 1975/2, 200-201.

97

GRANDJEAN 1975/1,143.

98

CLAUSSEN 1975,10.

99

Zur liturgischen Funktion mittelalterlicher Vorhallen CLAUSSEN 1975, 9-13.

100 GRANDJEAN 1975/2, 210-211. 101 VON WINTERFELD 2004,159.

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Verbindung über Maueröffnungen, die die Teilnahme am Geschehen in den Zentralräumen durch ein Im-gleichen-Raum-sein ermöglichte. Welcher Art die supponierten liturgischen Handlungen auf der Westempore gewesen sein könnten, ist unklar. Hans Reinhardt und Christopher Wilson vermuteten hier Chorsänger, die am Palmsonntag von der Galerie vor dem grossen Westfenster und durch die kleinen Ö f f n u n g e n in den Räumen über den Seitenschiffen der 'Grande Travée' das 'Gloria, laus et honor' sangen, worauf die durch den Priester angeführten Gläubigen in die Kathedrale als Himmlisches Jerusalem einzogen. Eine ähnliche Praxis ist aus Reims und einigen englischen Kathedralen bekannt.' 01 Diese einmal jährlich stattfindende Liturgie, die zudem nur einen kleinen Teil der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten

bean-

sprucht hätte, erklärt jedoch die aufwendige Gestaltung des Westbaus als Ganzes nicht. O f t wurde auch behauptet, die untere Empore habe der Verehrung der M a rienreliquien gedient, während in der oberen eine Michaelskapelle eingerichtet gewesen sei. 10 ' Allerdings kamen die Reliquien der Kirchenpatronin bei ihrer Rückführung in die neue Kathedrale im Jahre 1232 nicht in den Westbau, sondern auf den Johannesaltar vor der Scheitelkapelle, wo sie zuletzt 1239 nachgewiesen sind.'° 4 Vermutlich schon im 13. Jahrhundert, mit Sicherheit aber vor 1333 wurden die Reliquien in die Marienkapelle im Erdgeschoss des südlichen Querhausturms verlegt. Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass sie jemals auf der Westempore verehrt wurden. A u c h die Situierung eines Michaelsaltars auf der oberen Westempore ist problematisch. Dieser Altar ist dort erst ab 1446 nachgewiesen, und bei seiner Ersterwähnung im Jahre 1210 bestand die obere Westempore, die frühestens um 1270 vollendet wurde, noch nicht. D i e Quellen belegen lediglich, dass der Bischof und das Kapitel 1 2 1 0 neun Kleriker an einem M i chaelsaltar instituierten, der laut Emmanuel Dupraz schon vor diesem Zeitpunkt existiert hatte.' 0 ' Die neu eingesetzten Kleriker könnten somit zu einer bereits bestehenden Kaplanei hinzugekommen sein, die - wie Grandjean vermutete eine Art Kapitel ohne Propstei konstituierten, das unabhängig v o m Kathedralkapitel funktionierte.'

Dieses Kapitel und sein Altar könnten im Westbau ihren

Platz gehabt haben. Die unüblich hohe Zahl von Kaplänen und deren Unab102 REINHARDT 1954, 357; WILSON 2004, 118-119; ähnlich auch VON WINTERFELD 2004,159. 103 BACH/BLONDEL/BOVY 1944, 150, 422-423; REINHARDT 1954, 356-357; GRANDJEAN 1975/1,151-152 usw. 104 GRANDJEAN 1975/1,54. 105 DUPRAZ 1906,158. 106 GRANDJEAN 1975/1, 56. Eine ähnliche Institution bestand für die Kapelle im Bischofspalast.

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hängigkeit v o m Kathedralkapitel erforderte nämlich einen grossen, mehr oder weniger abgeschlossenen Raum mit eigenem Zugang, was nicht nur mit dem ottonischen, sondern auch mit dem gotischen Westbau gegeben war. Auch wenn die genaue Funktion der Obergeschosse letztlich ungeklärt bleibt, lassen die aufgeführten Beobachtungen den Schluss zu, dass der Westbau oft benutzt wurde und verschiedene Aufgaben zu erfüllen hatte. E r repräsentierte mit seiner monumentalen Fassade die Kirche gegen die Stadt, funktionierte durch die beiden beschriebenen Achsen als Drehscheibe im städtischen Verkehr, bildete mit der 'Grande Travée' und den Vorhallen eine Art gedeckten Kirchenvorplatz, schaffte R a u m für die am Kathedralbau beteiligten Handwerker, beherbergte ein bedeutendes liturgisches Zentrum und garantierte den Z u g a n g zum Kathedralbezirk in der Oberstadt mit nachweislich militärischer Funkti107 on. Der stets mit Begeisterung beschriebene Lausanner Westbau ist zweifellos die aufregendste mittelalterliche Raumkomposition in der Romandie und müsste eigentlich bereits ausreichen, um dem gesamten Bau internationale Anerkennung zu verschaffen.' 08 In einmaliger Art wurden hier verschiedenste funktionale Anforderungen in ein überzeugendes ästhetisches Konzept gebracht. U m s o schwieriger gestaltet sich die kunsthistorische Einordnung des Westbaus. Z w a r zeigen sich in den Details zahlreiche Analogien zu den bereits genannten Vergleichsbeispielen, so etwa die Rippenprofile in Lilienform und die runden Kapitelldeckplatten und Basen, die typisch sind fur die anglonormannische Architektur, die übereinander gestellten Pfeiler des Westeingangs, die ebenso in Canterbury vorkommen (östliche Vierungspfeiler), oder das Laufgangmotiv über dem Westeingang, das in erweiterter Form auch an der Westfassade von Laon erscheint. Als Ganzes bleibt jedoch der Lausanner Westbau ein ausgesprochen gelungenes Unikat, das keine eigentlichen Vorläufer hat. Der oft verzweifelt wirkende Versuch, ihn formal von anderen Bauwerken herzuleiten, zeigt denn auch deutlich, dass die Stilgeschichte dort scheitern muss, w o ein Baumeister neben handwerklicher Begabung und architekturhistorischem Bewusstsein über eine gewisse Innovationskraft verfügte.' 09 W u r d e letztere, wie dies in Lausanne der Fall war, durch topografische, städtebauliche oder liturgische Prämissen herausgefordert, konnte ein W e r k entstehen, dem eine rein stilgeschichtliche Betrachtung nicht gerecht zu werden vermag. 107 GRANDJEAN 1 9 7 5 / 1 , 1 2 5 .

108 Dies stellte Theo van Muyden bereits vor über hundert Jahren fest (GAUTHIER 1899,105). 109 GRANDJEAN 1975/1, 125-159 postulierte fur den Westbau unter anderem Einflüsse

aus England und Oberitalien, aus dem Burgund, dem Eisass, der Normandie und den Rheinlanden, wobei er diese im einzelnen noch diversifizierte!

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Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge Trotzdem hat die zuerst von Hans Reinhardt geäusserte These, im Lausanner

Westbau stecke strukturell die Idee des so genannten Westwerks, viel für sich." Letzteres definiert sich durch eine Unterkirche, über der ein turmbekrönter Zentralraum auf drei Seiten von Emporen umfangen wird, die ihrerseits über Treppentürme in den westlichen Winkeln des Baukörpers zugänglich sind. Betrachtet man die westliche Vorhalle mit ihren Apsidiolen als reduzierte Form einer Unterkirche, werden diese Kriterien v o m Lausanner Westbau, für den ja ursprünglich ein grosser Mittelturm geplant war, grundsätzlich erfüllt. A u c h die monumentale Form des Westeingangs mit seinen Reminiszenzen an die antike Architektur und die gegen Westen offene Vorhalle waren den karolingischen und ottonischen Westwerken nicht fremd. D a man in Lausanne im Verlauf der Bautätigkeit auf eine Bekrönung des Zentralraumes verzichtete, wertete man die seitlichen T ü r m e im Sinne einer für diese Zeit typischen Doppelturmfassade auf. Im Gegensatz zu den flankierenden T ü r m e n des Westwerks funktionieren die Lausanner Exemplare denn auch nicht nur als Zugänge zum Obergeschoss, sondern weisen - wie bei Doppelturmfassaden üblich - eigene, nutzbare Räume auf. Die Umsetzung der Westwerkidee und des Strassendurchgangs brachte es jedoch mit sich, dass diese T ü r m e nicht im Sinne einer harmonischen Fassade in die Westfront integriert wurden, sondern als selbständige Massive den Mittelblock flankieren. D a der Lausanner Westbau auf G r u n d seiner speziellen V o r aussetzungen eine völlig eigenständige Lösung erforderte, ist der direkte Vergleich mit einem Westwerk nur bedingt möglich. O f f e n bleibt auch, ob der Westtrakt des ottonischen Vorgängerbaus, der so genannten Heinrichskathedrale aus der Zeit um i o o o , die Kriterien eines Westwerks erfüllte und im weitesten Sinne als Vorbild gedient haben könnte. Die im frühen 20. Jahrhundert ergrabenen Fundamentreste lassen sich zwar als Gebäudekomplex mit zwei seitlichen T ü r m e n interpretieren, über den Mitteltrakt können jedoch keine genaueren Angaben gemacht werden."' A u f jeden Fall entfernt sich der Lausanner Westbau von nordfranzösischen oder anglonormannischen

Lösungen,

um in Anlehnung an das Westwerk auf einen T y p u s zu rekurrieren, der in verschiedenen Varianten charakteristisch für die Architektur des Reichs ist.'"

IIO REINHARDT 1947, 46, 70. Für eine Kurzdefinition des Westwerks BINDING 1987, 49, 255. VON SCHÖNFELD DE REYES 1999 wies jüngst den von Wilhelm Effmann geprägten Westwerkbegriff als untauglich zurück. Obwohl diese radikale Kritik in vielen Punkten nachvollziehbar ist, bleibt der Terminus bei einer etwas weiter gefassten Definition als typologische Bezeichnung nach wie vor brauchbar (vgl. auch OSWALD 2001). M JATON 1993,178. 112 VON WINTERFELD 2004,157-158.

Die Kathedrale von Lausanne

51

D e n Durchgang der 'Grande Travée' hat Grandjean mit städtebaulichen Phänomenen im allgemeinen und der Hospitalarchitektur im besonderen verglichen.'" Tatsächlich verbinden noch heute in vielen Städten mit mittelalterlicher Grundstruktur tunnelartige Passagen zwei parallel verlaufende Gassen. Die oben beschriebene

Kreuzung einer zivilen und

einer religiösen

"Verkehrsachse"

k o m m t ähnlich bei Pilgerhospitälern vor, wie das im mittelwestfranzösischen Pons erhaltene Exemplar zeigt. André Corboz zitierte zudem weitere Beispiele von Kirchenneubauten, bei deren Planung das bestehende öffentliche Strassennetz mitberücksichtigt wurde." 4 In vielen Fällen konnte C o r b o z zeigen, wie die Seitenportale eines Gotteshauses auf eine rechtwinklig zum Schiff verlaufende Hauptverkehrsachse ausgerichtet wurden, damit der kürzeste W e g - zumindest für Fussgänger - quer durch die Kirche führte. Für diese Bauten und für zahlreiche Beispiele, bei denen eine Strasse unter einer Kirche durchgeführt wurde, verwendete Corboz den von Paul H o f e r geprägten Begriff der 'église perforée'. Direkte Vorbilder für die 'Grande Travée' sind allerdings auch hier nicht greifbar. Besondere Aufmerksamkeit verdient schliesslich das grosse Westfenster, das mit seinem Masswerk aus drei gestaffelten, genasten Bahnen unter drei Okuli mit stehenden Fünf- beziehungsweise Dreipässen die Rückwand der oberen Westempore durchbricht (Abb. 14). Ungewöhnlich für ein Fenstermasswerk ist dabei, dass auf eine geschrägte Sohlbank verzichtet wurde, und die Spitzbögen des Couronnements nicht in Stabwerk übergehen, sondern auf Säulchen mit Basis und Kapitell ruhen. Dieses Arrangement, das offensichtlich nicht zur Verglasung vorgesehen war, erinnert an die Arkaden eines Lauf- oder Kreuzgangs. Es wurde wohl für einen anderen baulichen Zusammenhang hergestellt und erst nachträglich am heutigen Standort versetzt. Unmittelbare Vorbilder des Lausanner Westfensters sind schwer zu eruieren." Dreibahnige Masswerke mit ebensovielen Okuli in Superposition finden sich in Nordfrankreich neben den stärker verbreiteteten zwei- und vierteiligen Formen bereits u m 1240 und haben ihre Vorläufer in Plattenmasswerkfenstern der 1220er Jahre."

Ausgehend von der Strassburger Westfassade, w o sich die

dreibahnigen Fenster bereits auf dem Riss A (um 1250/1260) zeigen, erfreute sich 113

GRANDJEAN 1975/2, 210-211.

114

CORBOZ 1995.

115

Beispiele mit vergleichbarem Masswerk sind weit verbreiteter und früher fassbar als GRANDJEAN 1963, 273, Anm. 54 annahm. 116 BRANNER 1965,17-18; LAUTHIER 1995,139-140. Als Plattenmasswerk in Villiers-StPaul; frühe Beispiele mit Stabmasswerk in Essômes, Cambrai, Le Mans, Chaalis, Notre-Dame-du-Lys usw; ausserhalb Nordfrankreichs in Freiburg i. Br.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

5*

dieser Masswerktypus in der deutschen Architektur des ausgehenden 13. und des 14. Jahrhunderts grosser Beliebtheit." 7 Allgemein verbreitet war jedoch nicht nur die Dreiteiligkeit, sondern auch die Art, wie in Lausanne die Mittelbahn so weit über die seitlichen emporsteigt, dass sich die unteren Okuli nicht mehr berühren, sondern den Eindruck herabrollender Kreise erwecken." O b w o h l Beispiele wie diejenigen in den Chorseitenschiffen der Kathedrale von Tournai oder über den Westportalen des Strassburger Münsters dem Lausanner Exemplar besonders nahe stehen, ist auf G r u n d der weiten Verbreitung des Motivs und der Verschiedenartigkeit der Umsetzung eine präzise stilgeschichtliche Ableitung nicht sinnvoll. Wichtiger ist, dass es sich beim Lausanner Fenster um das früheste Masswerk nicht nur der Westschweiz, sondern auch der umliegenden Gebiete Frankreichs handelt, und dass dieses Fenster in der Romandie die zunehmende Verbreitung von Masswerken seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert initiierte. Daraus ergibt sich auch die Datierung, die nicht mit den frühesten Beispielen dieses T y p u s einhergeht, sondern von Grandjean zu Recht in die Zeit kurz vor der Schlussweihe der Kathedrale im Jahre 1275 angesetzt wurde." 9 Die Türme Die Kathedrale von Lausanne zählt im heutigen Zustand f ü n f T ü r m e (Abb. 4), wobei der nördliche Westturm unvollendet blieb und die beiden Querhaustürme ursprünglich wohl höher geführt und von zwei Pendants auf der Westseite des Transepts ergänzt werden sollten." 0 Hinzu kommen zwei Treppentürmchen an der Grenze zur 'Grande Travée' und die turmartige Bekrönung des Südportals. Die ausserordentliche Vorliebe der Lausanner für Turmbauten zeigt sich allerdings nicht nur in der grossen Anzahl, sondern auch in der fein aufeinander abgestimmten Gestaltung. W i e bereits angedeutet, transportieren die Querhaustürme mit ihren Mauerlaufgängen ein beliebtes Lausanner Motiv des Innenraums an den Aussenbau. Dieses wird nicht nur an der südlichen Querhausfassade wieder aufgegriffen, sondern in verschiedenen Varianten auch an den T ü r m e n . Ausgangspunkt bildet dabei das ehemalige Oktogon des Vierungsturms. Während die Laterne mit ihren acht Fenstern und den lisenenartigen Strebepfeilern noch weitgehend dem Originalzustand entspricht, kann das Oktogon heute nur noch anhand von

117

Zur Datierung des Risses A "Les bâtisseurs des cathédrales gothiques", 381 (Roland Recht); zur Verbreitung des dreibahnigen Fensters in Deutschland RECHT 1974, 36-38. 118 Tournai, Amiens, Dijon (St-Bénigne und Notre-Dame), Clermont-Ferrand, Strassburg (Westfassade) usw. 119 GRANDJEAN 1975/1,151. 120 BACH/BLONDEL/BOVY 1944,120. Zu den zusätzlichen Querhaustürmen vgl. S. 39.

Die Kathedrale von Lausanne

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Bilddokumenten des 17. bis 19. Jahrhunderts rekonstruiert werden (Abb. 4).'" Dieses war vor den Arbeiten Viollet-le-Ducs frei sichtbar und wurde von einer Wimpergreihe umfangen, deren Felder von einer gestaffelten Dreierarkade und einem Dreipass durchbrochen wurden. Die Arkatur war nicht im Sinne einer Blende an die Mauer gerückt, sondern bildete einen sehr schmalen, dem Oktogon vorgelegten Laufgang. Diese einzigartige Disposition kommunizierte mit ihren von Dreipässen durchbrochenen Wimpergen und dem oktogonalen A u f satz mit den Giebeln und der Bekrönung der Südportalvorhalle, während die gestaffelte Arkatur den Obergadenlaufgang des Langhauses aufnahm. Auch die ' T o u r de Beffroi' an der Westfassade greift mit ihren Glockengeschossen auf die Laufgangidee zurück. Im Gegensatz zum Vierungsturm dient letztere hier allerdings der Verschleierung des Übergangs vom Quadrat ins O k togon. Während nämlich der Kern des T u r m s in den Freigeschossen ins Achteck wechselt, fuhrt die Laufgangarkatur den rechteckigen Grundriss des massiven Unterbaus weiter. W i e subtil beim Lausanner 'Beffroi' der Grundrisswechsel

-

das architektonische Problem des Turmbaus 'par excellence' - gelöst wurde, zeigen die offenen Gehäuse an der Südseite des T u r m s . Diese folgen in ihrer quadratischen Form dem Unterbau. Indem sie jedoch quer gestellt an den Ecken der Laufgangarkatur aufsteigen, indizieren sie das Achteck des kaum sichtbaren Kerns. Der Übergang vom Quadrat ins Oktogon wird weiter nuanciert, indem an den Ecken der unteren Gehäuse rein ästhetisch motivierte Strebepfeilerchen die massiven Eckstreben der unteren Geschosse verlängern. Erst am bekrönenden H e l m und an den Ecktürmchen der Plattform, die allerdings nicht aus dem 13. Jahrhundert stammen,'" erscheint das Achteck unverhüllt. Insgesamt herrscht deshalb das Quadrat gegenüber dem stark verschleierten Oktogon vor und bewirkt zusammen mit dem wuchtigen, kaum strukturierten Unterbau den untersetzten Gesamteindruck des Turms. Die Treppentürmchen im Osten der 'Grande Travée' vermitteln schliesslich zwischen dem 'Beffroi' und dem Vierungsturm. Der kräftige, quadratische U n terbau und das im unteren Teil durch Arkaden verschleierte Oktogon stellen eine in Form und Dimensionen reduzierte Variante des Westturms dar. Dagegen rezipieren die von Dreipässen perforierten Blendgiebel des oberen Oktogonteils, aber auch die Dreipässe in den Zwickeln des Rhombendachs Motive des Vierungsturms. D i e T ü r m e der Kathedrale von Lausanne werden seit jeher zu Recht mit Laon in Verbindung gebracht.'

Geht man davon aus, dass ursprünglich auch am

121

Zur Baugeschichte und zur ursprünglichen Form des Vierungsturms GRANDJEAN 1969.

122

GRANDJEAN 1 9 7 5 / 1 , 1 4 5 .

123

Erstmals RAMÉ 1856, 6 0 - 6 1 .

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

54

Querhaus je zwei Türme vorgesehen waren, stimmen - die Treppentiirmchen am Langhaus ausgenommen - nicht nur die Zahl, sondern auch die Platzierung der Turmbauten überein. Darüber hinaus gibt es zahlreiche formale Parallelen. Neben den bereits beschriebenen Übereinstimmungen betreffend Vierungs- und Querhaustürmen korrespondieren vor allem die offenen, quer und übereinander gestellten Gehäuse der Westtürme. Sie sind jedoch in Laon nicht mit einer verschleiernden Arkatur verbunden, sondern direkt an die Schrägseiten des Oktogons gestellt. D a zudem die oberen Laoner Gehäuse im Gegensatz zu ihren Pendants in Lausanne achteckig sind, wird das Turmoktogon in der picardischen Kathedrale stärker betont als in der waadtländischen. Zusammenfassung Die hier gegebene Beschreibung hat gezeigt, dass sich viele Besonderheiten der Kathedrale von Lausanne aus dem Bauwerk selbst und aus den Anforderungen, die an dieses gestellt wurden, erklären. Obwohl der Bau in seinen wichtigsten Etappen von zwei verschiedenen Architekten geleitet wurde, besticht er durch grosse Homogenität. Dies ist vor allem das Verdienst von Johannes Cotereel, der sich bei der Vollendung des Langhauses mit wenigen Ausnahmen an das Konzept seines Vorgängers hielt. Zudem entwickelte er im Bereich der Pfeiler, Laufgänge und Türme wichtige Motive des ersten Baumeisters weiter und verklammerte damit die älteren Bauteile formal mit den jüngeren. Die einzige Modernisierung zeigt sich im Verzicht auf das sechsteilige Gewölbe der Früh- zu Gunsten des vierteiligen Gewölbes der Hochgotik. Erst im Westbau, der durch zahlreiche äussere Vorgaben eine von der restlichen Kathedrale unabhängige Lösung erforderte, konnte Cotereel seine Fähigkeiten und seinen Erfindungsgeist unter Beweis stellen und schuf einen originären Architekturkomplex ohne konkrete Vorbilder. Die Homogenität der Lausanner Bischofskirche gründet aber auch darin, dass die Kathedralen von Laon und Canterbury offenbar beiden Baumeistern als Hauptinspirationsquellen dienten. Die These von Christopher Wilson, Johannes Cotereel sei der Sohn des ersten, aus England stammenden Baumeisters gewesen und habe vor seinem Amtsantritt eine Art Studienreise in seine Heimat absolviert, ist deshalb verlockend.' 4 In der Tat erscheint der Sohn des ersten Architekten in den Quellen unter dem Namen Johannes, und der Name Cotereel ist in England seit dem frühen 13. Jahrhundert nachgewiesen, während er auf dem Festland nicht erscheint. Die Frage, auf welchem Wege es in Lausanne zur Anstellung von Baumeistern weit entlegener Gebiete kam, ist allerdings ungeklärt. Die Herkunft der Bischöfe, Pröpste und Kanoniker scheint ohne Relevanz zu 124 WILSON 2004, ^3-124.

Die Kathedrale von Lausanne

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sein. Vielmehr dürften die marktwirtschaftlichen Kontakte zwischen Italien und den berühmten Märkten der Champagne, die kirchlichen Beziehungen zwischen England und R o m sowie die zunehmenden politischen Verbindungen zwischen Savoyen und England die Verbreitung künstlerischer Ideen und die Berufung fremder Baumeister über die grosse Nord-Süd-Verkehrsachse, an der auch Lausanne lag, erleichtert haben.' 2i Neben Cotereel war jedenfalls auch der nordfranzösische Glasmaler Peter von Arras in Lausanne tätig, und Villard von H o n n e court, ebenfalls aus Nordfrankreich stammend, machte in der waadtländischen Bischofsstadt Station.

125 MOREROD/PASCHE 2004. Zu den mittelalterlichen Hauptverkehrsachsen in der Romandie hier S. 18.

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Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

B. Die Kathedrale von Genf Peter Kurmann und Christian Freigang hatten zweifellos recht, die Kathedrale von Lausanne als "véritable pépinière de l'architecture gothique dans nos régions" zu bezeichnen." 4 In den meisten anspruchsvolleren Bauten der Gegend können bis ins 14. Jahrhundert Reminiszenzen an diese Inkunabel gotischer Architektur in der westlichen Schweiz aufgespürt werden. V o r allem an der ehemaligen Kathedrale von G e n f , an der Valeria-Kathedrale von Sitten, an der Kollegiatskirche von Neuenburg und an der Abteikirche von Abondance, aber auch an Kirchen niedereren Ranges wie den Pfarrkirchen von M o u d o n und Freiburg, zeigt sich in verschiedenen Varianten die Vorbildlichkeit Lausannes. Viele dieser Bauten nahmen ihren Ausgangspunkt allerdings nicht in der Lausanner Kathedralarchitektur, sondern in einer von regionalen Gepflogenheiten bestimmten, oft romanischen Bauform. Dabei zeigt sich in der ehemaligen Kathedrale von G e n f - dem ersten und schlagendsten Beispiel in der Nachfolge von Lausanne - , dass technische Aspekte der gotischen Architektur wie die W ö l b u n g mit einem kohärenten Dienst-Rippen-System unabhängig von Lausanne eingeführt und entwickelt wurden.

I. Historischer Kontext Bei der Betrachtung der ehemaligen Kathedrale St-Pierre-ès-Liens in G e n f fällt auf, dass man sich formal in einer ersten Phase vor allem an die rhodanischen Bauten der Erzdiözese Vienne hielt, zu der das Bistum G e n f im Mittelalter gehörte, in einem zweiten Bauabschnitt jedoch an die Kathedrale der benachbarten Diözese Lausanne, die dem Erzbistum Besançon unterstand. Diese Ausrichtung spiegelt sich in der Herkunft der Bischöfe und teilweise auch der Pröpste. Der 1134 in Vienne zum Bischof geweihte Arducius von Faucigny, unter dem der Genfer Kathedralbau begonnen wurde, stammte aus dem Geschlecht der Herren von Faucigny im nördlichen Savoyen.' 1 7 Sein N e f f e Heinrich von Faucigny war zwischen 1168 und 1178 Propst in Genf. Aus der selben Gegend dürfte auch Arducius' Nachfolger Nantelmus gekommen sein, der bereits während mehrerer Jahre Propst des Genfer Kapitels gewesen war, bevor er 1185 zum Bischof gewählt wurde. Seine Abstammung ist zwar unbekannt, er war jedoch vor seiner Bischofszeit als Kartäuserabt in Savoyen tätig. Bernard Chabert, der

126 KURMANN/FREIGANG 1991,35. Die Ansicht von CASSINA 1 9 8 1 , 3 7 , die Kathedrale von

Lausanne habe in der Westschweiz kaum Schule gemacht, ist nicht nachvollziehbar. 127 Zu den Genfer Bischöfen zur Zeit des Kathedralbaus HS I/3, 76-81.

Die Kathedrale von Genf nach dem Rücktritt von Nantelmus im Jahre 1205 das Bistum

57

übernahm,

stammte aus der Dauphiné und wurde kurz vor seinem Abgang 1212/1213 zum Erzbischof von Embrun gewählt. N a c h dieser Reihe rhodanischer und savoyischer Bischöfe wählte das Kapitel mit A i m o von Grandson im frühen 13. Jahrhundert für seine Diözese ein Oberhaupt, das nicht nur aus einem fremden Erzbistum stammte - A i m o war Kanoniker in Besançon sowie Kanoniker, Subdiakon und Kantor in Lausanne - , sondern auch aus einem waadtländischen Herrschergeschlecht.

Der G r u n d

hierfür dürften wohl die veränderten politischen Verhältnisse in der Stadt G e n f und im Waadtland gewesen sein. Die Genfer Bischöfe waren spätestens seit dem frühen 11. Jahrhundert auch Stadtherren von G e n f und besassen zudem in der näheren Umgebung zahlreiche Mensalgüter.' 2 ' Dies führte zu endlosen Auseinandersetzungen mit den Grundbesitzern benachbarter Territorien. Bis ins frühe 13. Jahrhundert mussten sich die Bischöfe vor allem gegen die Machtansprüche der Grafen von G e n f wehren. Dabei unterstützte sie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ihr Souverän Kaiser Friedrich I., indem er die Besitzungen der Genfer Kirche unter seinen Schutz stellte und die Bischöfe zu unmittelbaren Reichsfürsten ernannte. Im frühen 13. Jahrhundert änderte sich die Situation. Die Savoyer hatten am nördlichen Genferseeufer die Zähringer verdrängt und bedrohten zunehmend sowohl die Grafen als auch die Bischöfe von Genf.' 3 0 Der Bistumshauptort wäre für die Savoyer die ideale Metropole ihres Herrschaftsgebietes gewesen, denn sie war zu dieser Zeit die bedeutendste Stadt des savoyischen Einflussgebietes und kontrollierte mit der Rhonebrücke den kürzesten W e g zwischen den Besitzungen im Süden (heutiges Savoyen) und Norden (heutige Waadt). In dieser doppelten Bedrohung durch die Grafen von G e n f und Savoyen muss A i m o von Grandson wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen dem Kapitel als geeigneter M a n n zur Verteidigung der bischöflichen Besitztümer erschienen sein. A i m o dürfte über seine Mutter mit den Grafen von G e n f sowie den Herren von G e x und Faucigny und auf G r u n d der savoyischen Heiratspolitik auch mit den Grafen von Savoyen verwandt gewesen sein.

E r muss deshalb die lokalpolitischen Verhältnisse sehr gut gekannt haben.

128 Zu Aimo von Grandson HS I/3, 80-81; zahlreiche zusätzliche Informationen bei JUNOD 1979.

129 Zur mittelalterlichen Geschichte Genfs BINZ 1974; zur Bistumsgeschichte zudem HS I/3,19-50. 130 Zur Politik der Savoyer in der Genfer Region MALLET 1849. 131 Aimos Mutter Beatrice war höchstwahrscheinlich die Tochter von Graf Amadeus I. von Genf. Dadurch wäre Aimo ein Vetter von Wilhelm und Humbert, Grafen von Genf, gewesen und durch die Heirat von Thomas von Savoyen mit der Schwester der Grafen von Genf überdies ein Vetter von Thomas, sowie ein Grossvetter von

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Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

Bereits 1219 beschloss er im A b k o m m e n von Designy mit den Grafen Wilhelm und Humbert von G e n f die gegenseitige Verteidigung ihrer städtischen Schlösser gegen die Savoyer. Der Bischof nahm seine politischen Aufgaben so ernst, dass er den Kathedralbau vernachlässigte und ihm sogar Gelder entzog, u m die Befestigung der diözesanen Ländereien voranzutreiben. Im Streit gegen die Grafen von Savoyen Hess A i m o 1215 bis 1219 das bischöfliche Château de l'île errichten, das die wichtige Verkehrsader über die Rhonebrücke kontrollierte. Z u d e m sicherte er mit dem Neubau der Schlösser von Jussy, Peney und Thiez die ländlichen Güter des Bistums. Diese militärischen Schutzmassnahmen belasteten die diözesane Kasse beträchtlich und führten betreffend der veruntreuten Gelder zu einer langen Auseinandersetzung mit dem Kapitel." 1 Während A i m o den Savoyern noch erfolgreich die Stirn geboten hatte, leistete sein Nachfolger Bischof Heinrich ( 1 2 6 0 - 1 2 6 7 ) , der ein M ö n c h aus der U m g e b u n g von Basel war und deshalb die politischen Verhältnisse G e n f s längst nicht so gut kannte wie Aimo, den Savoyern nur noch geringen Widerstand. S o gelangte die Stadt seit dem ausgehenden 13. Jahhundert sukzessive unter die Herrschaft der Grafen von Savoyen. 2. B a u g e s c h i c h t e Die verschiedenen Bauphasen der Kathedrale von G e n f , die Camille Martin in seiner wegweisenden Monografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts anhand formaler Kriterien bereits eruiert hatte, wurden durch die jüngsten bauarchäologischen Untersuchungen unter Lise Barde und Théo-Antoine Hermanès bestätigt.'" Begonnen wurde mit dem Bau der Westfassade und der Seitenschiffe inklusive Gewölbe, die man von Westen nach Osten auf den Fundamenten der romanischen Kathedrale errichtete. Beim Bau der Ostteile kam es zu einem Richtungswechsel. W o h l um das Sanktuarium des Vorgängerbaus, das im Bereich der heutigen Vierung stand, so lange wie möglich liturgisch nutzen zu können, baute man von Süden nach Norden nacheinander das Erdgeschoss des Südquerhauses, des Chores und des Nordquerhauses. Der Zusammenschluss mit dem nördlichen Langhausseitenschiff erfolgte jedoch erst, nachdem man im C h o r bereits die untere Fensterzone und das Triforium errichtet hatte. Es folgten das T r i f o r i u m des ersten und ansatzweise des zweiten Langhausjoches, bevor man die oberen Geschosse des Chores und des Querhauses vollendete. Z u m Peter von Savoyen. Schliesslich wäre er auch mit den Herren von Gex und von Faucigny verwandt gewesen, die wegen ihrer Besitzansprüche ebenfalls gelegentlich mit den Bischöfen von Genf im Streit waren. 132 Zu dieser Auseinandersetzung JUNOD 1979. 133

MARTIN 1 9 1 0 , 1 1 5 - 1 2 4 ; BARDE/HERMANÈS 1991.

Die Kathedrale von Genf

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Schluss errichtete man, diesmal von Osten nach Westen fortschreitend, das T r i f o r i u m , den Obergaden und die Gewölbe des Langhauses. O b w o h l die früheste Erwähnung des "opus Gebennensis" erst 1191 erfolgte, 134 setzte die Forschung mit Ausnahme von Carl Schnaase den Baubeginn der Kathedrale bis vor kurzem unumstritten im mittleren 12. Jahrhundert an.'" Belege für diese Datierung glaubte man in der N e n n u n g eines Petrusaltares gegen 1170, 1188 und 1213 zu haben. I J i Aus bautechnischen und entwicklungsgeschichtlichen Gründen haben Peter Kurmann und Christian Freigang den Beginn des N e u baus in die 1180er Jahre verlegt.'' 7 In der Tat ist das fortschrittliche DienstRippen-System, wie noch gezeigt werden soll, in der näheren U m g e b u n g von G e n f erst seit etwa 1 1 7 0 bekannt. Der erwähnte Altar wurde anlässlich der aufgeführten Daten nicht geweiht, wie oft behauptet wurde, sondern war lediglich Schauplatz verschiedener Aktungen. Z u d e m geht sein Standort aus den Quellen nicht hervor. Er kann deshalb, wie Kurmann/Freigang darlegten, noch im frühen 13. Jahrhundert im einstweilen stehen gebliebenen Sanktuarium des V o r gängerbaus gestanden haben."" Erst beim vollständigen Abbruch der alten Kathedrale, was, wie wiederverwendetes Baumaterial belegt, wohl erst kurz vor dem Bau des Nordquerhauses der Fall w a r , ' " musste der Hauptaltar in den Neubau transferiert werden. Allerdings legt der Stil der Kapitelle nahe, den Baubeginn etwas vor 1180 anzusetzen.' 40 Die fast wörtliche Übereinstimmung einiger Tierund Pflanzenkapitelle des Südquerhauses mit den westlichen Langhauskapitellen im burgundischen Til-Chätel und die stilistischen Parallelen zwischen den Genfer Figurenkapitellen im Südquerhaus und im C h o r und der burgundischen Skulptur in Dijon

(Majestastympanon

im Archäologischen

Museum)

und

Châlons-sur-Marne (Skulpturen aus dem ehemaligen Kreuzgang von NotreDame-en-Vaux) sprechen für eine Datierung des Südquerhauses ins letzte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts, wie Barde/Hermanès bereits erkannten.' 4 ' Die Ka-

134 LULLIN/LE FORT 1866,126, Nr. 454. 135 Früheste Datierungen bei DEUBER-PAULI/HERMANÈS 1982, 32 (vor 1150) und implizit bei MAURER-KUHN 1991, 268, der die ältesten Kapitelle um 1145 ansetzte. SCHNAASE 1856,184: E. 12. Jh. 136 LULLIN/LE FORT, 107, Nr. 387,122-124, Nr. 444,147, Nr. 547. 137 KURMANN/FREIGANG 1991, 25, 27,31. 138 KURMANN/FREIGANG 1991, 25. 139 BARDE/HERMANÈS 1991, Equipe Vili, XI. 140 KURMANN/FREIGANG 1991, 33 klammerten die Kapitellskulptur bei ihrer Untersuchung explizit aus. 141 BARDE/HERMANÈS 1991, Equipe IV. Auf die Übereinstimmungen zwischen Genf und Til-Chätel verwies erstmals DLEPEN 1926, 68. Zu den Parallelen der Genfer Querhaus- und Chorkapitelle und der burgundischen Skulptur MAURER 1952, 189-

6o

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

thedrale von Genf dürfte deshalb bereits in den 1170er Jahren begonnen worden sein. Die Überreste der Westfassadenskulptur, die ihre stilistischen Pendants in der um 1160/1170 entstandenen Fassadenskulptur in Romans-sur-Isère, Arles und St-Gilles-du-Gard haben,' 41 und die Bauplastik der ersten Etappe, die Voraussetzung für das Westportal der Zisterzienserkirche von Bonmont (1180/1190) waren,"4i bestätigen diese Datierung. Ein Baubeginn in den 1170er Jahren liesse zudem die Möglichkeit offen, eine Stiftung der Grafen von Genf im Jahre 1178 auf eine Kapelle zu beziehen, die ab 1455 im fünften Joch des nördlichen Seitenschiffs lokalisierbar ist.'44 Für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts vervollständigten Kurmann/Freigang die Quellen der älteren Forschung betreffend der Baufinanzierung. 145 Auch wenn nicht alle zitierten Dokumente den Kirchenbau betreffen,' 46 kann für diesen Zeitabschnitt auf eine intensive Bautätigkeit geschlossen werden. 1208 überliessen Bischof Chabert und das Kapitel der Bauhütte der Kathedrale die jährlichen Einkünfte der frei gewordenen Pfründen bis zur Vollendung des Kirchenbaus.' 47 Dies wurde 1217 von Bischof Aimo von Grandson, 1221 vom apostolischen Legaten Konrad und 1245 von Papst Innozenz IV. bestätigt.'4* Nachdem 1245 die neuen Kanoniker dazu verpflichtet wurden, ihre kirchlichen Einkünfte im ersten Jahr der Fabrik zu überlassen (so genannter 'annus fabrice'), finden sich vorläufig keine weiteren Quellen zur Baufinanzierung mehr. Daraus schlossen Kurmann/Freigang, der Bau sei um 1250 vollendet gewesen und bestätigten damit die Datierung der älteren Forschung.' 49 Die formalen Übereinstimmungen zwischen den Obergeschossen der Genfer Apsis und dem im ausgehenden 12. und

190; DEUBER-PAULI 1988, 36. Die Datierung der französischen Parallelbeispiele ist umstritten. Auch wenn jedoch eine relativ späte Ansetzung vertreten wird, dürften die fraglichen Skulpturen nicht nach 1190 entstanden sein (zu Til-Chätel STRATFORD

1994/1;

zu

Dijon

STRATFORD

1994/2;

zu

Notre-Dame-en-Vaux

PRESSOUYRE 1976). 142

DEUBER-PAULI 1 9 8 8 , 3 4 - 3 5 .

143 Zu den stilistischen und bautechnischen Parallelen BUCHER 1957, 28-50; zur Datierung EGGENBERGER/SARROT 1990, 24.

144 Zur Stiftung SARASIN 1882, 150; zur Lokalisierung der Kapelle BLONDEL 1946, 51, Anm. 2. 145

KURMANN/FREIGANG 1991, 25.

146 1228 und 1244 wurden der Fabrik entgegen der Meinung von KURMANN/FREIGANG keine Pfründen überlassen. 147 "omnes proventus ecclesiarum nostrarum quas vacare contigerit [...] quosque ipsum opus bona fide consummatum fuerit" (zitiert nach LULLIN/LE FORT 1866, Nr. 509). 148

LULLIN/LE FORT 1866,152, N r . 564,158-159, N r . 588; BERNOULLI 1 8 9 1 , 1 5 9 - 1 6 0 , N r . 243.

149 Erstmals explizit MARTIN 1910,120.

Die Kathedrale von Genf

6i

frühen 13. Jahrhundert entstandenen Chorhaupt der Kathedrale von Lausanne' 5 " deuten d a r a u f h i n , dass nach einem Planwechsel im frühen 13. Jahrhundert unter der Leitung des Lausanner Chorbaumeisters die Obergeschosse der Apsis, des Querhauses und des ersten Langhausjoches errichtet wurden. In dieser Zeit erfolgte auch der Zusammenschluss zwischen dem Nordquerhaus und dem nördlichen Seitenschiff des Langhauses. M i t dem postulierten Meisterwechsel koinzidiert die fast vollständige Neubesetzung des Bautrupps, die anhand der Steinmetzzeichen nachgewiesen werden kann.' 5 ' Kurmann/Freigang gingen deshalb wohl zu Recht davon aus, dass die Verbindung zwischen den beiden Bauhütten durch A i m o von Grandson zustande kam, der vor seiner Amtseinsetzung in der Rhonestadt (um 1215) im Kapitel von Lausanne mehrere wichtige Amter innehatte.' 52 Der Beginn der zur Diskussion stehenden Bauetappe kann somit kurz nach 1215 angesetzt werden. Der Lausanner Chorbaumeister ist allerdings bis mindestens 1217 in der waadtländischen Metropole nachgewiesen. Es besteht deshalb die Möglichkeit, dass er vorübergehend zwei Baustellen gleichzeitig betreut hat, wie das auch für andere Architekten des 13. Jahrhunderts nachweisbar ist.'53 Marcel Grandjean hat als erster darauf aufmerksam gemacht, dass die Obergeschosse des Langhauses nach einem erneuten Planwechsel in den ersten Jochen formale Übereinstimmungen mit den westlichen Traveen der Lausanner Kathedrale aus der Zeit um 1220/1230 zeigen.' 54 Die G e n f e r Obergeschosse sind dadurch in die 1230er und 1240er Jahre datierbar. Fraglich bleibt, ob es vor diesen Arbeiten wegen Unstimmigkeiten zwischen A i m o von Grandson und dem Kapitel zu einer Bauunterbrechung gekommen ist, wie vor allem die ältere Forschung behauptete.' 55 In einer von Papst Gregor IX. im Jahre 1227 eingeleiteten Untersuchung gegen den Bischof wurde diesem unter anderem die Schwächung der für den Kathedralbau instituierten St.-Peters-Bruderschaft zu Gunsten profaner Bauunternehmungen vorgeworfen.' 5 ' In einem päpstlichen Schreiben von 1232 wird die Kathedrale als grösstenteils erbaut, aber wegen der verzögerten

150

V g l . S. 7 5 - 7 7 .

151

BARDE/HERMANÈS 1991, Equipe XI.

152

KURMANN/FREIGANG 1 9 9 1 , 3 5 .

153

Etwa für Gautier de Varinfroy (KURMANN/VON WINTERFELD 1977).

154 GRANDJEAN 1975/1,170. Näheres zum Planwechsel hier S. 67-69. 155

Erstmals RAHN 1872, 373.

156 "quod confratria Sancti Petri que erat statua ad opus ecclesie imminuta est per episcopum, fecit enim alia fieri ad opus pontis sui quam magnus diligit" (zitiert nach JUNOD 1 9 7 9 , 1 4 8 ) . Z u r Untersuchung JUNOD 1979.

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Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

Vollendung im Verfallen begriffen bezeichnet.'* 7 Nachdem der Papst dem Bischof bereits 1233 befohlen hatte, den Bau zu vollenden, 1 ' 8 ordnete der Erzbischof von Vienne, Johann von Bernin, 1234 an, die St.-Peters-Bruderschaft müsse retabliert und der Kirchenbau gewissenhaft vorangetrieben werden." 9 D a der Bischof schon 1225 aufgehört hatte, in der Kathedrale die Messe zu lesen,' 60 dürfte der Konflikt zwischen ihm und dem Kapitel bereits in den frühen 1220er Jahren begonnen und somit über ein Jahrzehnt gedauert haben. Es ist unwahrscheinlich, dass der Bau der Kathedrale so lange eingestellt wurde, zumal die Quellen nie ausdrücklich von einer Unterbrechung berichten

und auch die

Analyse der Steinmetzzeichen einen kontinuierlichen Bauverlauf indiziert.' 61 Der Konflikt zwischen Bischof und Kapitel dürfte also höchstens zu einer Verzögerung, nicht aber zu einer Unterbrechung der Bautätigkeit geführt haben. Nachdem verschiedene Brände im späten 13. und im 14. Jahrhundert vor allem die Dächer und die Turmhelme beschädigt hatten, stürzte 1441 -

wahr-

scheinlich wegen einem 1430 verursachten Feuerschaden — die Nordseite des Langhauses ein. Durch diesen Einsturz wurden nicht nur die Obergeschosse des Langhauses, sondern auch die Vierung sowie das T r i f o r i u m und der Obergaden des Chores in Mitleidenschaft gezogen.' 6 ' Bei den anschliessend ausgeführten Reparaturen hielt man sich jedoch formal an die Vorgaben des Ursprungsbaus und verwendete teilweise gar altes Baumaterial wieder.' 64 Dasselbe gilt für den partiellen Abbruch und Wiederaufbau der westlichen Joche bei der Errichtung der klassizistischen Westfassade Benedetto Alfieris in den Jahren 1752 bis 1756, was die Verkürzung des Langhauses um ein halbes Joch mit sich brachte. Dage-

157 "sique dieta ecclesia sit pro maiori jam parte constructa [...] tu indulgentias huiusmodi revocasti pro tue libito voluntatis, propter quod non solum ab operis consumatione cessatur, verum edam quod edificatum est, efficitur ruinosam" (zitiert nach LULLIN/LE FORT 1866, 435, Nr. Ó^SBIS). 158 159 160 161

162 163 164

"jubet Pontifex ut illa ecclesia magno et sumptuoso edificio constructa perficiatur" (zitiert nach LULLIN/LE FORT 1866,176, Nr. 659). "quod confratria operis ecclesie Gebenn. restauretur [...] quod Episcopus diligenter promoveat opus ecclesie" (zitiert nach LULLIN/LE FORT 1866,178-179, Nr. 667). JUNOD 1979, 75,162. "ab operis consummatione cessatur" muss nicht zwingend eine Bauunterbrechung bedeuten, sondern kann auch als Bauverzögerung interpretiert werden. Zudem wurde die St.-Peters-Bruderschaft nicht aufgehoben, wie KURMANN/FREIGANG 1991, 27 meinten, sondern lediglich geschwächt ("imminuta est"). BARDE/HERMANÈS 1991, Equipe XVII. MEYER/EMOND/HERMANÈS 1991,12-13. Dies belegen die vorhandenen Steinmetzzeichen (BARDE/HERMANÈS 19 91, 52-53, Nr. 33. 75. 76).

Die Kathedrale von Genf

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gen ersetzte man bei der grossen Restaurierung im ausgehenden 19. Jahrhundert die Aussenhaut des Bauwerks vollständig und veränderte das Strebesystem. Der Aussenbau der Genfer Kathedrale kann deshalb heute nur noch mit Hilfe alter Fotografien beurteilt werden.' Ss Zusammenfassend ergibt sich für die Baugeschichte folgendes Bild: Zwischen 1175 und 1210/1215 errichtete man das Erdgeschoss des gesamten Baus, ab etwa 1215 die Obergeschosse der Apsis und des Querhauses sowie das Triforium des ersten Langhausjoches und in den 1230er und 1240er Jahren die oberen Teile des Langhauses. Bedeutende Eingriffe in die mittelalterliche Substanz erfolgten durch den Neubau der Westfassade und die Restaurierung des späten 19. Jahrhunderts. 3. B e s c h r e i b u n g u n d k u n s t g e s c h i c h t l i c h e E i n o r d n u n g Langhaus Die Kathedrale von G e n f besteht aus einem dreischiffigen Langhaus, einem kräftig ausladenden Querhaus mit ostseitigen Kapellen und einer kurzen, umgangslosen Apsis (Abb. 16). Das basilikale Langhaus (Abb. 17-18) wird geprägt durch breite Scheidbögen auf stämmigen Kreuzgliederpfeilern und eine verhältnismässig niedrige Hochwand, bestehend aus einem Triforium und einem Obergaden mit Laufgang. Seit Camille Martin hat man die weite Ö f f n u n g der Erdgeschossarkaden und die Schmalheit der Seitenschiffe immer wieder zum Anlass genommen, dem Innern des Langhauses den Charakter eines Einheitsraumes zuzusprechen, in dem der Blick des Betrachters erst an den nackten, nur von kleinen Fenstern durchbrochenen Wänden der Seitenschiffe gestoppt werde.

Dagegen bemerkte bereits Hans Maurer, dass die Langhauspfeiler von

romanischer Mauerhaftigkeit sind, und die Scheidbögen den Blick in die Seitenschiffe nur gehemmt zulassen.'' 7 In Wirklichkeit verhindern die breiten Pfeilermassive, welche etwa einen Viertel der Jochbreite einnehmen, bei einem axialen Blick von Westen nach Osten die Sicht auf die Seitenschiffwände fast vollständig. N u r eine Schrägansicht gestattet Durchblicke in die Abseiten. Z u d e m entsteht im basilikalen System der Eindruck eines Einheitsraumes nur dann, wenn die Obergeschosse dem Blick des Betrachters durch starke Überhöhung der

165 MARTIN 1910 gibt zahlreiche Abbildungen, die den Zustand vor und nach der Restaurierung dokumentieren. 166 MARTIN 1910,46-47. 167

MAURER 1952, 22.

Die grossen Kathedralen und ihre Nachfolge

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Scheidbögen entzogen werden.' 68 Im Genfer Langhaus sind die Scheidbögen im Verhältnis zu den Obergeschossen aussergewöhnlich hoch. Ihre absolute H ö h e ist jedoch moderat, der Mittelschiffaufriss dadurch auf einen Blick fassbar. Z u dem wirken die SeitenschifFjoche auf G r u n d der kuppeligen W ö l b u n g trotz ihrer Schmalheit als eigene Raumzellen, welche dem Mittelschiff in keiner Art und Weise inkorporiert werden (Abb. 18). Seit Carl Schnaase wurde das Genfer Langhaus wiederholt mit Bauten der italienischen G o t i k verglichen.'