Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie [Reprint 2018 ed.] 9783111670959, 9783111286259

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Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie [Reprint 2018 ed.]
 9783111670959, 9783111286259

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Die

Heilung des Orest in

Goethes Iphigenie. Von

Dr. Hans Laehr, dirigirendem Arzte der Heilanstalt Schweizerhof zu Zehlendorf.

B e r l i n .

Druck und Verlag von Georg Reimer. 1902.

Meinem Vater, Geh. Sanitätsrath Prof. Dr. Heinrich Laehr zum 82. Geburtstage.

1*

Kunstwerke spiegeln sich in der Seele der einzelnen Betrachter verschieden. Jeder bringt besondere Lebenserfahrungen mit und knüpft an sie die neuen Eindrücke an, Will er nun gar diese Eindrücke verstandesmässig zergliedern und das Ergebniss Ändern klarlegen, so wird seine Darstellung um so mehr von der Andrer abweichen, je mehr er den Eindruck des Kunstwerks mit den ihm von früher her lebendigen Gedanken in Einklang zu bringen sucht. Wollte aber Jemand aus solcher Verschiedenheit der Erklärungen die Folgerung ziehen, die Schuld müsse in einem Mangel des Kunstwerks liegen, so würde er die Sachlage völlig verkennen. In einem Aufsatze „über die Heilung des O r e s t " 1 ) verfällt der bekannte Nervenarzt Prof. P. J. M o e b i u s in Leipzig jenem Trugschlüsse. Er weist nach, dass mehrere Erklärer den Sinn der Goethe'schen Dichtung nicht getroffen haben können, er selbst findet keinen eigenen Weg, sich die Heilung des Orest in der „Iphigenie auf Tauris" verständlich zu machen, und so folgert er denn: „Eigentlich beweist schon der Streit der Ausleger, dass Goethe's Darstellung unklar ist. Ich bin der Ueberzeugung, dass Goethe sich selbst die Sache nicht klar gemacht hat, dass deshalb alle Versuche, aus seinen Worten etwas Befriedigendes herauszufinden, vergeblich sind." Hätte M o e b i u s die Goethe'sche Darstellung vom Standpunkt des Arztes unklar gefunden, der den „Wahnsinn" des Orest und seine Heilung mit den uns bekannten Formen der Geistesstörung !) P. J. M o e b i u s , Leipzig 1901.

Stachyologie.

Weitere vermischte Aufsätze. —

zusammenstellen will, dann würde man ihm völlig Recht geben müssen. Goethe heilt seinen Helden durch unmittelbare psychische Beeinflussung, was bei einem Geisteskranken in dieser Weise nicht möglich ist. Shakespeare weicht in dieser Hinsicht wesentlich von unsrem grossen Dichter ab und schliesst sich enger an wirklich zu beobachtende Fälle von Geistesstörung an. Daraus ist natürlich nicht zu folgern, dass Shakespeare sich auf richtigem, Goethe auf unrichtigem Wege befunden habe, wohl aber wird dadurch die Ansicht gestärkt, dass der Wahnsinn des Orest kein Wahnsinn im gewöhnlichen Sinne sein soll, sondern symbolische Bedeutung hat. Im Faust hat Goethe die Verwirrtheit Gretchens, freilich in deutlicher Anlehnung an Shakespeares Ophelia, in einer Weise geschildert, die einer wirklichen Geistesstörung viel näher kommt. In der Iphigenie macht er durch die den Muttermörder verfolgenden Furien den auf dem Verbrecher lastenden Fluch, zunächst also die lähmende Gewalt des Schuldbewusstseins anschaulich. Aber dies fasst auch M o e b i u s so auf. Nur findet er selbst von diesem Standpunkte aus die Heilung des Orest unverständlich. Und er erklärt sich den Vorgang in der Seele des Dichters, der diesen zu solcher Verirrung veranlasste, auf folgende Weise: „Schon ehe Goethe die Iphigenie schrieb, hatte er sich selbst mit dem Orest, seine Verstimmungen, leidenschaftlichen Erregungen, Gewissensbisse mit den Qualen des von den Erinyen Verfolgten verglichen. Er hatte an sich die Erfahrung gemacht, dass die Gegenwart und der Zuspruch eines geschätzten Weibes ihn am besten beruhigten. Insbesondere hatte er gegen Alles, was ihn quälte, Beruhigung bei Frau von Stein gefunden. Er glaubte, dass „ihre reine Menschlichkeit" die Kraft habe, die bösen Geister zu vertreiben. Als er nun die Iphigenie schrieb, wurden ihm unter den Händen Orest und Iphigenie zu Goethe und Frau von Stein. Wie Goethe Abends des Tages Noth bei der Freundin vergass, so schwindet die Qual des Orest, als er die Schwester gefunden hat. Nun behaupte ich, dass Goethe mit dieser Substitution die Sache verdorben habe." Mit dieser Behauptung würde M o e b i u s vielleicht Recht haben,

wenn es sich in der Iphigenie nur darum handelte, dass Orest durch den geistigen Verkehr mit Iphigenie, durch deren Zureden und sein eigenes Sichaussprechen Beruhigung von seinen Gewissensbissen fände. Man wird gern zugeben, dass „dem verzweifelnden Muttermörder kein weiblicher Zauber zu helfen vermag", und dass es gewagt wäre, „den in seinem Jammer Verkommenden auf die reine Menschlichkeit eines anderen Individuums zu verweisen". Aber von Iphigenien geht ja gar nicht ein gewöhnlicher Zauber etwa gar sinnlicher Natur aus, der von den Gewissensbissen ablenken könnte, Iphigenie ist Orests Schwester, und weit entfernt, dass hierdurch die Sache verdorben wäre, gewinnt sie gerade dadurch psychologische Begründung. Dies hoffe ich im Folgenden nachzuweisen, indem ich meine Auffassung der Heilung des Orest des Näheren darlege und begründe. Die Anschauungen anderer Erklärer berücksichtige ich nur dort, wo ich hierdurch meinen Standpunkt klarer herausstellen kann, oder wo sie mir bequeme Gelegenheit zu weiteren Ausführungen bieten. I. Orest fühlt sich in den Fluch des Tantalidenhauses verstrickt und hält denselben für unabwendbar. Die Götter haben es auf Tantals Haus gerichtet, Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll Nicht ehrenvoll vergehn.

Aber nicht Haus —

von

aussen

richten

sie

das Verderben

auf

Tantals

Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen, Bekämpfend die verwandte Brut, verschlingen, Zerstört sich selbst das wüthende Geschlecht.

Zügellose Leidenschaft, die gerade kräftige Naturen zu Frevelthaten fortreisst, ist die ererbte Anlage der Tantaliden vom Ahnherrn h e r : Zwar die gewalt'ge Brust und der Titanen Kraftvolles Mark war seiner Söhn' und Enkel Gewisses Erbtheil; doch es schmiedete Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band.



«



Rath, Mässigung und Weisheit und Geduld Verbarg er ihrem scheuen, düstem Blick; Zur Wuth ward ihnen jegliche Begier, Und grenzenlos drang ihre Wuth umher. Einen R e s t dieses Mangels an

b e s o n n e n e r Klarheit, d e r zu leiden-

schaftlicher F r e v e l t h a t die i n n e r e Möglichkeit giebt, h a t a u c h Orest geerbt und in noch höherem Masse die äussere V e r a n l a s s u n g Wohl glaubte

auch

er

sich

einmal

dem F l u c h e

entrückt,

dazu. als er,

v e r g e s s e n d seiner Noth, fern dem unseligen Mycen, mit P y l a d e s In rascher Jugend hingerissen schwärmte. Damals sah er g r o s s e Thaten v o r sich. die vermeintliche Verpflichtung z u r g e l e n k t , u n d so wuchs in

A b e r dieser Blick w a r d durch Blutrache in

falsche Richtung

Orest

Die brennende Begier, des Königs Tod Z u rächen. Diese B e g i e r

findet

gehend nur

bringt

keine g e g e n w i r k e n d e K r a f t ihn i h m . sie der Anblick

Elektras Einfluss g e n ü g t , Stirn

zu

seinem

schmieden, Blick

zu

das

Rath,

der

eherne

Band

Mässigung

verbergen.

Mutter

Sobald

VorüberSchweigen;

von Neuem

und aber

zum

Weisheit der

um

und

Mord

seine Geduld

geschehen,

k o m m e n sofort die G e w i s s e n s q u a l e n , die Furien mit ihren Gelehrten, dem Z w e i f e l und der Reue. lähmt alle T h a t k r a f t , und

betäubt

a b e r erst,

den

Die e w i g e B e t r a c h t u n g des Geschehnen

eine Götterhand

Sinn.

Heilung

als Orest in Tauris

ergriffen

sondern gewissen

Tod v o r sich sieht,

stiller.

ist ihm

Qual

Der T o d

drückt

wird

willkommen,

das Herz

von

Apollo

wird

und

wird weil

nicht

seine S e e l e dann

zusammen

versprochen, Heilung,

allmählich

w e n i g s t e n s die

endet: dort bindet alle dann Ein gleich Geschick in ew'ge matte Nacht.

W o h l w ü n s c h t er die R e t t u n g des

Pylades:

dein Leben oder Tod Giebt mir allein noch Hoffnung oder Furcht, a b e r z u dieser R e t t u n g thalkräftig mitzuhelfen, fehlt ihm die F ä h i g -

keit. Denn er trägt einmal in sich das Bewustsein, dass durch seine Gegenwart nur Unheil gebracht hat und bringt:

er

Das ist das Aengstliche von meinem Schicksal, Dass ich, wie ein verpesteter Vertriebner, Geheimen Schmerz und Tod im Busen trage; Dass, wo ich den gesundsten Ort betrete, Gar bald um mich die blühenden Gesichter Den Schmerzenszug langsamen Tods verrathen;

und zudem kann er nicht besonnen handeln: Bin ich bestimmt, zu leben und zu handeln, So nehm' ein Gott von meiner schweren Stirn Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen, Mit Mutterblut besprengten Pfade fort Mich zu den Todten r e i s s t . . . .

Also auch jetzt liegt noch das eherne Band um seine Stirn und verbirgt ihm jede besonnene Würdigung der Lage. Sein Blick ist in leidenschaftlicher Betrachtung nur auf die unselige Vergangenheit gebannt, und ebenso widerstandslos steht er dieser gegenüber wie vor dem Muttermord der brennenden Begier, des Königs Tod zu rächen. Die Götter haben ihn einmal zum Mörder auserkoren, ihr Wille ist's, der ihn und Pylades verderbt. Pylades sucht vergebens eine andere Lebensauffassung und die Thatkraft in Orest zu wecken. Was der treue und von Orest doch wahrlich hochgeschätzte Freund nicht vermag, leistet Iphigenie. Wodurch? Zunächst steht sie der That des Orest ganz anders gegenüber als Pylades. Auch in diesem war ja „die brennende Begier gewachsen, des Königs Tod zu rächen"; Iphigenie hat auch in Gedanken keinen Theil daran. Schon deshalb muss ihr Unheil und ihre Liebe auf Orest stärker wirken, vorausgesetzt, dass er sie sittlich gleich hoch schätzt und ihr die gleiche Liebe entgegenbringt. Dazu kommt, dass sie als „edle F r a u " zwar nicht nach griechischer, aber nach Goethescher Anschauung in sittlichen Fragen feinfühliger ist, und dass ihre hohe, echt priesterliche Gesinnung überall deutlich sich zeigt. Dass Iphigenie den Muttennord auch in Orests Falle als schwere Schuld ansieht, halte ich mit der



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Mehrzahl der Erklärer für ausgemacht, obwohl dies von anderer Seite 1 ) bestritten worden ist. Nicht nur fragt sie nach Orests Erzählung, ob sie nur deshalb von Menschen fern mit göttlichem Dienste beauftragt worden sei, um ihres Hauses Greuel später und tiefer zu fühlen, und nennt nachher im Gespräche mit Thoas Orest einen des Mutterblutes Schuldigen, sondern sie weiss auch, dass vergossnen Mutterblutes Stimme Zur Holl' hinab mit dumpfen Tönen ruft.

Wie wäre es auch anders möglich bei ihrer ganzen Gefühlsart, die sie trotz schwerwiegender Veranlassung selbst die Nothliige als unannehmbar empfinden lässt? Dass die Verurtheilung des Muttermordes nicht stärker hervortritt, liegt daran, dass der Thäter seine Schuld fühlt und von der Erinnerung ruhelos umhergetrieben wird, so dass ihm gegenüber nur Mitleid berechtigt ist. Wer seine That selbst so verabscheut, wie Orest vor Iphigenie, wem „die Glut ewig auf der Seele marternd brennt", der bedarf nicht der Schärfung des Gewissens, sondern der Hülfe. Würde nun aber Iphigenie, die reine, hoheitsvolle Priesterin, dem verzweifelnden Muttermörder den Glauben, dass seine Schuld anders als durch den Tod sühnbar sei, geben und ihn aufrichten können, wenn nicht etwas Weiteres hinzukäme, was jene Eigenschaften erst recht wirksam macht, nämlich die gleiche Abkunft? Im Leben vielleicht, im Drama, das eine rasche Wandlung fordert, gewiss nicht. Die mächtige einmalige Erschütterung, welche die Umwandlung, die „Heilung" hervorbringt, erfolgt dadurch, dass die schuldlose, in ihrer reinen Hoheit verehrungswürdige und mit liebevollem Mitleid den Verbrecher umfassende Jungfrau von ihm als Schwester erkannt wird. Sie, die ihm „gleich einer Himmlischen begegnet", die „grosse Seele", der er nicht in falschem, milderndem Lichte erscheinen will, die „Himmlische", deren Gegenwart die ] ) P r i m e r , Die Heilung des Orest (Jahresbericht des Kaiser-FriedrichsGymnasiums zu Frankfurt a. M. Ostern 1894) S. 17: „Orest hat nach ihrer (Iphigeniens) Ansicht recht gehandelt", weil nämlich zur Blutrache verpflichtet. Vergi, hierüber Abschnitt IV meiner Darstellung.



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Furien seitwärts drängt, sie entstammt dem fluchbeladenen Tantalidenhause, aber das eherne Band um die Stirn fehlt, besonnen liebevoll verehrt sie die Götter und neigt sich zum Sünder, schon bevor sie ihn als Bruder erkennt. Der Fluch des Geschlechts hat ihre reine Seele nicht befleckt. Selbst wenn sie zum Brudermord gezwungen wird, kann Orest ihr zurufen: „Weine nichtl Du hast nicht Schuld." Es kann also auch ein Tantalidenspross innerlich rein bleiben, und sogar in der Stunde, wo eine Greuelthat ihm aufgedrungen werden soll, für den schuldigen Bruder „hülfreiche Götter vom Olympus rufen". Und die Götter sind wirklich hülfreich gewesen. Sagte Orest schon vor der Erkennung: die ältste nahm Ihr gilt Geschick, das uns so schrecklich schien, Beizeiten aus dem Elend unsres Hauses,

so hört er alsdann: Vom Altar Riss mich die Göttin weg und rettete Hierher mich in ihr eigen Heiligthum.

Durch Göttermacht ist also Iphigenie dem Tode und zugleich dem äusseren Anlass zu Greueln entrückt, im Dienste der Göttin konnte sie reinen Sinn bewahren und stärken. Muss das nicht an der Vorstellung rütteln, dass die Götter „es auf Tantals Haus gerichtet" haben, so dass der Letzte nicht schuldlos vergehen soll? Aber neben dieser Gedankenreihe erhebt sich eine zweite. Wohl kann ein Abkömmling des Tantalus die seelische Reinheit bewahren und hierin hülfreiche Götter finden, allein die andere Seite des Fluches wirkt um so grässlicher. Wo die „brennende Begier" zum Frevel fehlt, ist die äussere Nöthigung dazu um so furchtbarer: Nicht Hass und Rache schärfen ihren Dolch; Die liebevolle Schwester wird zur That Gezwungen.

So wird dieser vorausgesehene Brudermord das letzte, grässlichste Schauspie), das die Furien bereiten, grässlicher als Orests eigene That.



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Und doch, diese grässliche That, vor der ihn schaudert, erfüllt zugleich sein Sehnen nach Ruhe: Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht, Zerreisse diesen Busen und eröffne Den Strömen, die hier sieden, einen Weg.

Im Tode nur vermag Tantals Stamm Frieden zu finden, und so kann Orest auch Elektras und Iphigeniens Tod herbeiwünschen: Ist nicht Elektra hier? Damit auch sie Mit uns zu Grunde gehe, nicht ihr Leben Zu schwererem Geschick und Leiden friste . . . . ich danke, Götter, Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten Beschlossen habt. Und lass dir rathen, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!

So winkt hinter dem Grässlichen, zu dem Tantals Haus bestimmt ist, die Befreiung von aller Qual, die willkommene Ruhe und die Möglichkeit, „in ew'ger matter Nacht", aber doch friedlich mit den Geschwistern vereinigt zu werden. Beide Vorstellungsgruppen, die durch die Erkennung der Iphigenie angeregt werden, sind von lebhaften Gefühlen getragen. Der ersten, in deren Mittelpunkt das Bild der schuldlosen und doch in stärkster, innigster Freude den wiedergefundenen schuldigen Bruder umfassenden Schwester steht, entspricht aufwallende Liebe zu dieser: Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.

In der zweiten, die sich um das bevorstehende grässlichste Schauspiel ordnet, klingt neben allem Entsetzen doch leise ein Lustgefühl an, dass nun bald alle Not vorüber sein wird, dass das Schauspiel nicht nur das grässlichste, sondern auch das letzte ist. Aber auch jenes Entsetzen ist ein anderes, als Orest bisher gefühlt; es geht nicht auf seine eigene That, sondern auf die der Schwester, nicht auf eine Schuld, sondern auf einen Zwang, nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft.

— Was

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m u s s nun die W i r k u n g b e i d e r V o r s t e l l u n g s g r u p p e n

d e r sie begleitenden G e f ü h l e s e i n ? eigenen



That und

der

Zunächst:

Verzweiflung

und

Ablenkung von

darüber.

Nicht mehr

der

alles-

beherrschend wälzet sich Die ewige Betrachtung des Oeschehnea Verwirrend um des Schuld'gen Haupt umher, s o n d e r n d e r S c h m e r z , d e n Orest fühlt, gilt der geliebten S c h w e s t e r , v o r deren künftiger T h a t in

weiterem

welchem

Umkreis

sein

seine

dem

eigene an S c h r e c k e n verliert,

Elend

seines

ganzen

b e s o n d e r e s L o o s untertaucht.

gilt

Geschlechts,

in

Es erscheint mir für

die H e i l u n g des Orest v o n grösster W i c h t i g k e i t ,

dass seine e i g e n e

P e r s o n u n d seine e i g e n e T h a t in den Hintergrund seines B e w u s s t seins tritt, und dass in d e n Mittelpunkt desselben die b e v o r s t e h e n d e T h a t der geliebten dies

dadurch,

unschuldigen Schwester rückt.

dass in seine Seele etwas Neues,

Möglich

w o r f e n w a r d , das stärker ist als der bisherige Inhalt. die L i e b e zur S c h w e s t e r ,

die er in sich w a c h s e n

wurde

Unerwartetes Wie

ge-

gegen

fühlt, selbst die

L i e b e z u P y l a d e s klein e r s c h e i n t ,

so ist ihm das S c h a u s p i e l ,

das

d u r c h die T h a t dieser S c h w e s t e r

den F u r i e n bereitet w e r d e n

soll,

grässlicher macht

als sein

aber,

eigenes Verbrechen.

besonders

P e r s o n betrifft,

wenn

das

Ein

drohender

Schicksal

einer

von Natur nicht z u leidendem A b w a r t e n ,

z u thätiger Hülfe geneigt. nicht e i n t r e t e n ,

er

Diese natürliche F o l g e kann

weil das l ä h m e n d e B e w u s s t s e i n ,

Schmerz geliebten sondern zunächst

dem F l u c h e v e r -

fallen zu sein u n d daher n u r Unheil zu verbreiten, n o c h z u stark auf dem Neuen lastet. Verschiebung die

zum

A b e r der Grund der Heilung, die geschilderte

der V o r s t e l l u n g e n

Handeln

T a u r i s des Dramas,

reizen,

und das E r w a c h e n v o n

ist jetzt g e l e g t .

Wären

wir

Gefühlen, nicht

im

s o n d e r n unter g e w ö h n l i c h e n B e d i n g u n g e n ,

so

w ü r d e die weitere E n t w i c k l u n g voraussichtlich l a n g s a m e r , a b e r d o c h i n gleicher R i c h t u n g erfolgen.

Der Anfall des Orest, den die S a g e

d e m Dichter bot, dient diesem dazu, den F o r t g a n g der Heilung in k ü r z e s t e r Frist vor sich g e h e n z u lassen. W i e k o m m t der A n f a l l zu dieser B e d e u t u n g ?

Moebius

sagt:

— „ D e r Anfall,

den

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Orest in Iphigeniens

Gegenwart b e k o m m t ,

ist

einfach sein altes U e b e l ; hat es ihn früher nicht entsühnt, so kann es

auch

altes

jetzt

Uebel,

nichts

aber

dazu

müssen

thun."

Gewiss ist der Anfall Orests

die Wirkungen

dieses Uebels auf

das

GemUth des Leidenden jedesmal die gleichen sein? Pylades erzählt von den Anfallen: es wird gar leicht Durch Freud' und Schmerz und durch Erinnerung Sein Innerstes ergriffen und zerrüttet Ein fieberhafter Wahnsinn fällt ihn an, Und seine schöne, freie Seele wird Den Furien zum Raube hingegeben. Und vorher: Um der Blutschuld willen treibt Die Furie gewaltig ihn umher. Damit ist Alles gethan, um die Furien als dichterische Verkörperung des Fluches erscheinen zu lassen, dessen Bewusstsein den Unglücklichen anfallsweise besonders heftig ergreift, so dass er die seiner Phantasie und

hört.

bekommt,

gegenwärtigen Wir erleben

Gestalten

in sinnlicher Deutlichkeit sieht

nur den Anfall,

den er v o r

Iphigenien

und den er selbst nachträglich mit folgenden Worten

schildert: in deinen Armen fasste Das Uebel mich mit allen seinen Klauen Zum letztenmal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen. Dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle. Will man hier, entsprechend der Schilderung in der Tragödie des Euripides, an einen Krampfanfall denken, so erlaubt dies allenfalls der Ausdruck, aber er zwingt nicht dazu.

Dagegen beweist diese

Stelle, dass die Sinnestäuschungen, welche dem Erwachen aus der „Ermattung" folgen, in Iphigeniens Armen,

nicht zum „ A n f a l l " gehören;

dieser beginnt

ihn deuten die Worte Orests vor der

mattung" an: Die Mutter fiel! — Tritt auf, unwill'ger Geist! Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien, Und wohnet dem willkommnen Schauspiel b e i . . . .

„Er-

— Den Geist der Mutter und

15 —

die Furien siebt er n a h e n ,

um seiner

Ermordung durch die liebevolle Schwester beizuwohnen, wältigt ihn

das G r a u e n ,

setzlich zusammen,

das Uebel

und

schüttelt

da Über-

das Mark ihm

„ e r sinkt in E r m a t t u n g " .

ent-

Dieser Anfall

scheint nach Orests Worten ein besonders heftiger, wie denn auch die Veranlassung in besonderer Stärke gewirkt hatte: Durch Freud' und Schmerz und durch Erinnerung war

ja

sein Innerstes mehr wie j e ergriffen worden.

Die „ Er-

m a t t u n g " mit Bewusstseinsverlust erklärt sich demnach, auch wenn wir sie den früheren Anfällen nicht zuschreiben. dass das,

was für die psychologische

gleichgültig ist,

Wir sehen überall,

Zeichnung und Entwicklung

vom Dichter bei Seite gelassen ist.

Nur für den

letzten Anfall war der Bewusstseinsverlust nöthig, hier ist er v o r handen

und

hinreichend

gerechtfertigt.

Er

ist aber hier

not-

wendig, weil nur durch ihn sich zwanglos der Inhalt der Phantasien ergiebt,

die dem Erwachen folgen.

So bildet der Anfall,

obwohl

„einfach Orests altes U e b e l " , durch den Inhalt der beängstigenden Vorstellungen,

die auf seinen Opfertod zielen,

und durch die Er-

mattung, die ihm als Tod gilt und die Vorstellung des Erwachens in der Unterwelt ermöglicht,

ein nothwendiges Glied in der Kette

der Begebenheiten, die die Heilung herbeiführen. er diese Bedeutung

Freilich gewinnt

nur infolge der vorangehenden

Verschiebung

in Orests Innerem. Beim Erwachen Ermattung an. sehen,

um

letzten

Worten

seiner Ermordung

geben sollte. der

die

also

an

die Vorstellungen

vor

der

beizuwohnen,

Erleichterung

angedeutet,

er

hatte mit seinen die

der Tod

ihm

Ganz ungezwungen entspringt hieraus beim Erwachen

erste Gedanke,

liegt

knüpft Orest

Er hatte die Mutter und die Furien herankommen

hinter

dass

ihm.

er nun in der Unterwelt sei.

Die Qual

Diese Vorstellung wird durch das Gefühl

der Ruhe verstärkt, das schon rein physisch durch die Ermattung nach heftigster Erregung sich eingestellt hat, aber auch psychisch durch die Aenderung in seinem Bewusstsein angebahnt war. Orests und

eigene That

war

die

nicht

Möglichkeit

mehr solcher

den Gipfel des Grässlichen entsetzlichen That

auch

Stellte dar, ohne



16

-

persönliche Verschuldung des Thäters gegeben, so musste das eigene Bewusstsein auch von dieser Seite eine Verminderung des Drucks ertahren, indem die Stärke des Erbfluchs im Tantalidenhause grell beleuchtet und die Schuld des einzelnen Enkels verdunkelt wurde. Zudem wirkt in gleichem Sinne der starke Eindruck nach, den der Ausbruch reinster Freude Iphigeniens Uber das Wiedersehen mit ihm in seiner Seele hinterlassen hatte. Ihre Liebe, die er durch alle Verzweifelung hindurch gespürt und mit erwachender Bruderliebe erwidert hatte, hallt jetzt unbewusst in ihm wieder und ruft freundliche Träume, Bilder des Friedens und der Versöhnung hervor. Orest fühlt also in der Unterwelt die erwartete Ruhe. Da können alle jene friedlichen Folgerungen aus den letzten Erlebnissen sich einstellen, nicht gestört durch die Erwartung kommenden Unheils. Aber gemäss dem Dämmerzustande, in dem Orest sich befindet, stellen sie sich ein nicht in logischer Entwicklung, sondern in anschaulichen Bildern. Nicht nur Orest, sondern das ganze Tantalidenhaus, soweit es unter der Wirkung des Erbfluchs gefrevelt, hat die ersehnte Ruhe gefunden, die Feindschaft hat aufgehört. Und wie oben auf der Erde Bruder und Schwester, so findet sich jetzt das ganze Geschlecht zusammen; oben war es zum Morde, hier unten zur Versöhnung und Freude. Auch Orest darf als Sohn zu seiner Mutter treten, deren Geist er vor der Ermattung noch hatte unwillig auf sich zuschreiten sehen. Seine Schuld war ein Ergebniss des Erbfluchs, und dieser hat durch den Tod sein Schwergewicht verloren, da er nicht zu neuen Freveln führen kann und die Erinnerung an das vergangene Leben ihre Pein verloren hat: Was ihr gesät, hat er geerntet: Mit Fluch beladen, stieg er herab. Doch leichter trägt sich hier jede Bürde . . . Auf Erden war in unserm Hause Der Gruss des Mordes gewisse Losung, Und das Geschlecht des alten Tantalus Hat seine Freuden jenseits der Nacht.



17



Einzig

der Ahnherr

haben

die Götter „ g r a u s a m e Qualen mit e h e r n e n Ketten fest auf-

geschmiedet". dass

ist von diesen F r e u d e n ausgeschlossen,

Steht

nicht

ihm

gerade dieser Zug in Einklang damit,

in Orests Seele die persönliche Schuld ihre S c h w e r e an den

Erbfluch abgegeben h a t ?

Alle sind versöhnt u n d d ü r f e n nach dem

Erdenleid sich freuen, die vom Erbfluch getroffen gefrevelt haben, Tantalus a b e r , das t h e u r e , vielverehrte Haupt, das mit den Göttern zu R a t h e

sass,

handelte nicht u n t e r der W i r k u n g des Erbfluchs,

er frevelte allein durch

eigne S c h u l d ;

er ist von der allgemeinen

Erlösung seines Geschlechts a u s g e n o m m e n . Vorstellung Orests auch Parzenlied

Gewiss mag zu dieser

die E r i n n e r u n g an die Sage,

wie sie im

sich darstellt, beigetragen h a b e n ; j e n e r von mir hervor-

g e h o b e n e Z u s a m m e n h a n g besteht deshalb doch. Von

dieser

der Iphigenie

schmerzlichen Betrachtung

und

des Pylades

ab.

Orest

lenkt das Erscheinen freut

sich,

dass

die

schuldlose Schwester auch herabgekotnmen ist, u n d wünscht Elektren bald

das

gleiche Loos,

während

er Pylades,

nicht verfallen ist, mit B e d a u e r n erblickt. halb

im T r a u m e ,

ist

doch Orest

der

dem Erbfluch

Aber wenn auch noch

frei von den

Gewissensqualen;

zum ersten Male seit Klytämnestras E r m o r d u n g ist das eherne Band von seiner Stirn gefallen, Mutter W u n d e n unmöglich

ist die Quelle getrocknet,

ihm e n t g e g e n s p r u d e l n d ,

gemacht

hatte.

Bilder

der

die,

aus der

ihm L e b e n und

Handeln

Freude

und

Versöhnung

erfüllen seine Seele statt der fürchterlichen Vorstellungen, bis

dahin

lichkeit

gepeinigt.

abgelöst.

Nun werden

Iphigenie

das w a c h e Leben zurück. die

und Pylades

rufen

den T r ä u m e r

in

Ist es d e n k b a r , dass die Umstiuimung,

in F o r m reger Phantasiethätigkeit h e r v o r g e r u f e n ist,

w a c h e n Stand

die ihn

die P h a n t a s i e n von der Wirk-

dem E r -

hält?

F ü r die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, dass die Umstimmung die

schon

Eindrücke

jetzt

vor der E r m a t t u n g in

gleichem

begonnen

Sinne

wirken.

hat,

u n d dass

Die Liebe

zur

Schwester war als ein n e u e s Gefühl in Orests Seele getreten, u n d die

b e v o r s t e h e n d e Hinschlachtung des Bruders d u r c h die liebende

Schwester

hatte

den Muttermord

L a e h r , Heilang des Orest.

aus

dem Mittelpunkt 2

der Vor-



Stellungen v e r d r ä n g t



und ihn noch mehr wie sonst als Folge des

Erbfluchs a n s e h e n lassen.

Beides zusammen hatte auf dem Boden

der quälenden Vorstellung, nächst

18

dass d e r Fluch u n a b w e n d b a r sei,

lebhafte Phantasiethätigkeit

Vorstellungen schluss

schwelgte,

aber

angeregt,

diese

zu-

die in g r a u e n h a f t e n

enthielten zugleich den Ab-

der Qual und liessen die schreckliche Vergangenheit ver-

blassen gegen eine Zukunft,

die nicht für Orest,

geliebte Schwester schrecklich w a r . sich in ruhige,

s o n d e r n f ü r die

Nachdem dann die Verzweiflung

friedvolle S t i m m u n g gewandelt hat

u n d statt des

Fluches V e r s ö h n u n g die Seele erfüllt, kann die Wirklichkeit, deren Kunde ihm mild aus dem Munde der Schwester, eindringlicher aus dem des F r e u n d e s entgegentönt, düsteren F a r b e n

erscheinen.

die Vergangenheit g e b u n d e n , nisse

vor

lebnisse Dass

ihm nicht mehr in den früheren

Denn

sein Sinn

diese hat durch

d e r E r m a t t u n g und durch

ist nicht mehr an die

letzten

Erleb-

die Weiterbildung j e n e r Er-

mittels der Phantasie ihr erschlaffendes Grauen verloren.

diese

Weiterbildung

nicht

anschaulichen Bildern erfolgt ist, nur erhöhen;

wesentlich ist,

verstandesmässig,

sondern

in

kann ihre Wirksamkeit zunächst

dass sie eine natürliche, w e n n auch

beschleunigte Folge wirklicher E i n d r ü c k e ist, die jetzt mit frischer Stärke dem Orest vor Augen treten. vor sich,

er hört,

Er sieht die liebende Schwester

dass Gefahr droht, aber jetzt erklingt ihm aus

Iphigeniens Munde vernehmlich

die Möglichkeit der Rettung,

stärkt durch die Mahnung des Pylades zur Eile. Verzweiflung nicht

schien

abzuwenden,

ruhiger,

ver-

Auf dem Boden der

die

d r o h e n d e grässliche That der Schwester

jetzt

trifft d e r Aufruf zum Handeln Orest in

befreiter Stimmung, u n d nun, da statt der Vergangenheit

die Zukunft Macht gewinnt, kann er „leben und h a n d e l n " , f ü r die Geliebten h a n d e l n : Die Erde dampft erquickenden Geruch U n d ladet mich auf ihren Flächen ein, Nach Lebensfreud' und grosser That zu jagen.

Er sieht eine Aufgabe vor sich, die seine Kräfte lebhaft beschäftigt, u n d Liebe treibt ihn, sie zu lösen.

So eilt er z u r That,



19



sein volles Auge glühte Von Muth und Hoffnung, und sein freies Herz Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust, Dich, seine Retterin, und mich zu retten. Nun

ist

Heilung

uns

auch,

falls

nicht bange:

Selbstvertrauen

die U m s t ä n d e

durch

gestärkt,

günstig

bleiben,

u m die

k r ä f t i g e u n d g u t e T h a t wird

und

gangenheit wird nicht m e h r lähmend, sondern anspornend denn Orest gerichtet

sieht

g n ä d i g e Götter,

haben,

sondern

Segen auflösen.

Orests

die B e t r a c h t u n g d e r unseligen die

d e r Menschen

Wie sagte vorahnend

Ver-

wirken,

es nicht auf T a n t a l s H a u s grausendes Erwarten

in

Pylades?

Was ist des Menschen Klugheit, wenn sie nicht Auf jener Willen droben achtend lauscht? Zu einer schweren That beruft ein Gott Den edlen Mann, der viel verbrach, und legt Ihm auf, was uns unmöglich scheint, zu enden. Es siegt der Held, und büssend dienet er Den Göttern und der Welt, die ihn verehrt. Ich

fasse

das E r g e b n i s s

kurz

zusammen:

die „ H e i l u n g "

des Orest

wusstseins

der vergangenen Greuelthat

an

besteht darin,

die U m w a n d l u n g ,

d a s s d a s Haften des B e durch neue

Regungen

im G e f ü h l s - u n d Vorstellungsleben ü b e r w u n d e n u n d die b e f r e i e n d e Aussicht auf g u t e T h a t e r ö f f n e t w i r d .

Jene neuen Regungen werden

d a d u r c h h e r v o r g e r u f e n , dass Orest in d e r r e i n e n u n d edlen P r i e s t e r i n , die

ihn

ihre

opfern

befreiende

soll,

seine

Kraft

erst

Schwester dann

erkennt;

äussern,

als

sie k ö n n e n Orest

durch

aber das

P h a n t a s i e e r l e b n i s s des v e r s ö h n e n d e n T o d e s d a s l ä h m e n d e B e w u s s t sein, für

dass

d e r Erbfluch

auch

weiterhin

d e n Augenblick h i n t e r sich gelassen

w i r k s a m sei, hat

und

wenigstens

in d e r

dadurch

b e w i r k t e n S t i m m u n g r u h i g e r F r e u d e z u d e r T h a t g e r u f e n w i r d , zu der jene Regungen

hindrängen.

W e n n also M ö b i u s b e h a u p t e t , dass G o e t h e m i t der S u b s t i t u t i o n der Schwester so

ziehe

ich

an Stelle d e r Geliebten die S a c h e v e r d o r b e n aus

m e i n e n A u s f ü h r u n g e n d e n Schluss,

diese S u b s t i t u t i o n die H e i l u n g im D r a m a v e r s t ä n d l i c h m a c h t ; 2*

hahe,

d a s s allein und

— w e n n er meint,

20



d a s s d e r Anfall, d e n O r e s t in I p h i g e n i e n s

Gegen-

w a r t b e k o m m t , zu seiner E n t s ü h n u n g n i c h t s t h u n k ö n n e , so ich

dies

dahin

die

Schnelligkeit

einschränken, der

muss

d a s s z w a r nicht die Heilung,

Heilung

gerade

durch

d e n Anfall

aber

ermög-

licht w i r d . II. Das W o r t „ E n t s ü h n u n g " e r s e t z t e ich s o e b e n

durch

„Heilung",

da dieser A u s d r u c k , auf die U m w a n d l u n g Orests a n g e w e n d e t , kein Missverständniss zulässt, s o b a l d w i r von d e r e n g e r e n medicinischen Bedeutung

absehen.

Aber i m D r a m a

m e h r , als u m O r e s t s Heilung.

h a n d e l t es sich freilich u m

I p h i g e n i e h a t gehofft,

Dereinst mit, reiner Hand und reinem Herzen Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen, u n d fleht T h o a s mit fast d e n s e l b e n W o r t e n

an:

Lass mich mit reinem Herzen, reiner Hand Hinübergehn und unser Haus entsühnen. Auch Orest b i t t e t : 0 König! Hindre nicht, dass sie die Weihe Des väterlichen Hauses nun vollbringe, Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das Haupt die alte Krone drücke! Mit Orests H e i l u n g

ist also I p h i g e n i e n s A u f g a b e n i c h t erfüllt.

soll a u c h d a s v ä t e r l i c h e H a u s e n t s ü h n e n . Fluche.

W a s b e d e u t e t dies a b e r

Sie

Man e n t s ü h n t v o n einem

hier?

Halten w i r mit j e n e n Stellen die W o r t e des O r a k e l s z u s a m m e n , das

d e m Orest

auf

seine Bitte u m R a t h u n d u m B e f r e i u n g vom

Geleit d e r F u r i e n g e w o r d e n

war:

Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer Im Heiligthume wider Willen bleibt, Nach Griechenland, so löset sich der Fluch. Dass

diese L ö s u n g

des F l u c h e s

mit

d e r E n t s ü h n u n g des H a u s e s

z u s a m m e n f ä l l t , ist h i e r n a c h w a h r s c h e i n l i c h u n d wird es n o c h m e h r , wenn stützt.

wir Zur

sehen,

dass Orest

vollen Gewissheit

s e i n e Bitte e b e n

auf j e n e s

führt folgende Ueberlegung:

Orakel Wäre



21



die vom Gotte verheissene Lösung des Fluches s c h o n damit gegeben, dass Orest sich geheilt fühlt, so würde der Erfolg eingetreten sein, bevor

die Bedingung

erfüllt ist 1 ).

Iphigenie soll nach Griechen-

land gebracht werden, dann der Fluch sich lösen.

Orest ist aber

nicht nur nach eigener, sondern auch nach Iphigeniens und Pylades' Ueberzeugung geheilt, während Iphigenie noch in Tauris weilt und ihre Heimkehr Orakelforderung

keineswegs noch

gesichert,

ja der eigentliche Sinn

gar nicht erkannt ist.

der

Demnach kann die

Heilung nicht die Lösung des Fluchs bedeuten. Andrerseits sagt Orest am Ende des 3. Aufzuges: Es löset sich der Flucb, mir sagt's das Herz. Die Eumeniden ziehn, ich höre sie, Zum Tartarus u n d schlagen hinter sich Die ehrnen Thore fernabdonnernd zu. Die Erde dampft erquickenden Geruch . . . . J

) Freilich scheint dies die allgemeine Ansicht der Ausleger zu sein. Ihre beste Begründung lese ich in A. K o b e r s t e i n s Aufsatz: „Inwiefern darf Goethe's Iphigenie als ein sowohl dem Geist und der ganzen innern Behandlung als der äussern Form nach durchaus deutsches Kunstwerk angesehen werden? (Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik. Leipzig 1858 S. 158). „Dass Apollo, als er den Orest nach dem Lande der Taurier wies, etwas anderes mit der Schwester gemeint haben müsse, als was dieser und Pylades darunter verstanden haben, kann nur dann von Orest erkannt werden, wenn er das Versprechen des Gottes vollständig erfüllt sieht, bevor er noch selbst das ausgeführt hat, was er als die die Erfüllung bedingende That so lange angesehen hat. Dies geschieht nun wirklich; Orest fühlt sich ganz frei vom Wahnsinn und selbst von jeder Schwermuth, ohne dass er das Bild der Schwester Apollos geraubt und nach Griechenland hinübergeführt h a t : der Gott hat also Iphigenien mit der Schwester gemeint." Hiergegen habe ich zu sagen: Nach dem Wiederfinden der Schwester k o n n t e Orest auf diese Lösung kommen und k a m auf sie, weil s e i n e B i t t e um Befreiung vom Geleit der Furien erfüllt war, ehe er die gestellte Bedingung erfüllt hatte. Aber das O r a k e l umfasst eben mehr als die Erfüllung seiner Bitte; das V e r s p r e c h e n d e s G o t t e s ist mit der Heilung des Orest noch nicht „vollständig erfüllt", sondern wird erst erfüllt werden, wenn die Bedingung ausgeführt ist. Das Orakel hat nicht nur Orest's Bitte „ u m B e f r e i u n g vom G e l e i t d e r F u r i e n " beantwortet, sondern auch seine Bitte „um R a t h " .

— Und ebenso

fleht



Iphigenie k u r z v o r h e r die Götter a n ,

den Banden jenes Fluchs, lösen.

22

nemlich

Orest von

d e r Nacht des W a h n s i n n s ,

in d e r T h a t das, w a s s o n s t Orests H e i l u n g g e n a n n t Hieraus folgt, müssen,

einen

dass wir einen

ererbten

letztangeführten

Stellen

Wenn

dagegen

Iphigenie

und ist die

doppelten Fluch

einen

der

wird. unterscheiden

selbsterworbenen.

von

Orest

Entsühnung

In

erworbene

der

schwer

den

gemeint. befleckten

W o h n u n g v o r n e h m e n will, so h a t sie d e n v o n d e n A h n h e r r e n erbten

im

Auge.

Dieser S t a m m e s f l u c h

ist d e r G r u n d ,

Orests T h a t u n d d e r an sie sich a n s c h l i e s s e n d e ist.

zu

Hier v e r s t e h e n die Geschwister u n t e r d e r L ö s u n g d e s F l u c h s

Ist d e r zweite,

so d a u e r t doch

der

der

aus

erdem

Fluch

entsprossen

e r w o r b e n e Fluch von Orest

genommen,

ererbte Fluch

fort und

soll

sich erst lösen,

w e n n Iphigenie n a c h G r i e c h e n l a n d g e b r a c h t ist, u m d o r t , wie wir den a n d e r n oben g e n a n n t e n Versen

entnehmen,

das H a u s zu ent-

s ü h n e n u n d auf Orests H a u p t die alte K r o n e zu d r ü c k e n . W i r k ö n n e n zwei W i r k u n g e n d e s S t a m m e s f l u c h e s u n t e r s c h e i d e n , eine i n n e r e , die in d e r e r e r b t e n zügellosen L e i d e n s c h a f t l i c h k e i t d e r Tantaliden b e s t e h t , w o d u r c h sie d e r V e r s u c h u n g u n t e r l i e g e n , eine

äussere,

w e l c h e die

durch

v e r g a n g e n e Frevel

und

geschaffenen

Verhältnisse u n d d a m i t die V e r s u c h u n g zu n e u e m F r e v e l u m s c h l i e s s t . Die

schlimme

Anlage

ist

bei

dem

Sohne

und

den

T a n t a l u s im Z u n e h m e n ; A t r e u s u n d T h v e s t b e z e i c h n e n Höhepunkt. fluches

Von da

nach.

an

Enkeln

des

hierin d e n

lässt die i n n e r e W i r k u n g des S t a m m e s -

In Agamemnon

h a t s e i n e T o c h t e r seit i h r e r e r s t e n

Zeit Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn. A b e r dass Diana ihm z ü r n t u n d i h n , die T o c h t e r f o r d e r n d , ängstigt, zeigt, dass a u c h e r

v o n Frevel

n i c h t rein

war.

Der G r u n d

Z o r n s wird im Drama nicht n ä h e r a u s g e f ü h r t , allein bei d e r Vorstellung, hat,

die I p h i g e n i e v o n d e n Göttern u n d g e r a d e von Diana

ist es k l a r ,

zürnt. können,

des

hohen

dass die Göttin

nicht

ohne zureichenden

Grund

Und dass A g a m e m n o n , um d a s Heer n a c h T r o j a f ü h r e n zu die T o c h t e r

ins L a g e r

lockt

und

der

erzürnten

Göttin

o p f e r t , n e n n t z w a r n i c h t Iphigenie, a b e r P y l a d e s eine s c h w e r e T h a t ,

— die,

wenn

Entschuldigung

schuldigte.

23

des



Mordes w ä r e ,

Klytämnestra selbst ist zwar

Klytämnestra

ent-

im Drama

nicht

auch

als Spross des Tantalidenhauses bezeichnet, da sie aber dem Orest in den Visionen nach der E r m a t t u n g zwischen den A h n h e r r e n seines Hauses

erscheint und

dem „Geschlecht des alten

Tantalus",

das

seine F r e u d e n jenseits der Nacht hat, zugerechnet wird, darf auch sie in

dieser Reihe a n g e f ü h r t

werden.

schwerwiegende äussere Veranlassung ebenso a b e r

tritt

Dass erfolgt,

ihre Mordthat ist

bereits

auf

gesagt;

ungezügelte Leidenschaftlichkeit gerade bei ihr

deutlich hervor. In der nächsten Generation ist sichtlich die innere W i r k u n g des Fluchs noch m e h r abgeschwächt.

Iphigenie, die ihr g u t Geschick

bei Zeiten aus dem Elend ihres Hauses n a h m , hat im steten Dienst der Göttin die erbliche Anlage soweit Uberwunden, dass sie schwerer Versuchung widersteht u n d

sich

die Reinheit der Seele b e w a h r t .

Dagegen wirken

die äusseren Verhältnisse

stark auf Elektra

Orest.

von

unvorsichtig",

Elektra,

Natur

„rasch

und

hat

und die

Schmach d e r Mutter und die E r m o r d u n g des Vaters bewusst erlebt, ein „knechtisch elend d u r c h g e b r a c h t e s L e b e n " h a t Hass und Rachegefühl um so nachhaltiger in ihr a u f l o d e r n lassen, u n d so d r ä n g t sie dem Bruder, als dieser schwankt, den alten Dolch auf, der schon in Tantals Hause grimmig wüthete. In

ihr h a t

sich

die

innere W i r k u n g des Erbfluchs,

die Leiden-

schaftlichkeit ohne Gegengewicht, u n g e h e m m t ausbilden k ö n n e n . Anders Orest.

Er hat durch die mit Pylades verlebte J u g e n d -

zeit ein reines, freudiges Fühlen und Streben kennen gelernt,

ehe

nach seiner und seines F r e u n d e s Meinung die unglückseligen Verhältnisse seines Hauses ihm den Muttermord als Pflicht auferlegen. Die Mutter,

der er als Kind schon ein s t u m m e r Vorwurf gewesen

war, ist seinem Herzen e n t f r e m d e t und gilt ihm vor allem Andren als Mörderin seines Vaters.

So ergreift

Pflicht der Blutrache mit „ b r e n n e n d e r

er

die rings

Begier".

anerkannte

Als diese Begier

vor dem Angesicht der Mutter erlischt, weiss Elektra sie von Neuem so mächtig anzufachen, dass der Muttermord geschieht. kommt

der

Frevel

ihm voll

zum

Bewusstsein.

Dann erst

Gewissensbisse,

— Zweifel

und Reue ergreifen

Gewissensbisse,

Zweifel

24

ihn



und treiben ihn ruhelos

und R e u e ?

Davon war

umher.

bei seinen Vor-

fahren und auch bei Elektra nicht die Rede gewesen.

Sicher hatten

diese

nicht

Regungen

sie

nicht

lähmender Verzweiflung

so stark

erfüllt.

ergriffen,

In Orest war

handen, was der Frevelthat widerstrebte, wenn war,

die brennende

zu widerstehen.

Begier

zügeln

zu

das in der

Gattenmordes

eben

so

etwas

und Elektras

Feuerzunge aber die

Dies natürliche Gefühl

älteren Elektra

mit vor-

es auch zu schwach

Die Mutter war ihm nicht die geliebte,

trotz Allem verehrte Mutter gewesen. Verehrung,

sie

unter

dem Eindruck

und später unter dem „Uebermulh

der des

der glücklichen

V e r r ä t h e r " erstickt ist, ward durch die Abwesenheit von Hause in Orest erhalten und kann jetzt,

da die Begier

nicht mehr brennt,

sich freier regen und durch den Widerspruch mit der vollbrachten That die Seelenpein hervorrufen. schmäht

und den schätzt,

Zwiespalt im Innern

Er,

der List und Klugheit ver-

der tapfer ist und grad\ kann

am Wenigsten ertragen.

Grosse,

diesen

frohe That

halte er mit ganzem Herzen ersehnt, jetzt fühlt er sich zwiespältig und

schuldbeladen.

Eine von

der Sitte geforderte

hat er erfüllt und damit gegen die Natur gefrevelt.

Verpflichtung Diesen Wider-

spruch vermag er nur so zu erklären, dass er die vermeinte sittliche Verpflichtung

als Gölterwink auffasst und folgert:

die Götter

haben es auf Tantals Haus gerichtet, und er, der Letzte, soll nicht schuldlos,

nicht ehrenvoll

nicht gnädige, sondern

vergehen.

Dann

ist fruchtlos für den, den sie verfolgen. sein Inneres spaltet und ihm Gefühl Widerspruch zeigt, und

sich

auch

in

So spiegelt der Riss, der

und That in

unvereinbarem

seiner Weltanschauung

wieder,

aus Allem folgt gänzliche Lähmung der Thatkraft. W i r sehen den Unterschied zwischen

nach Agamemnon. ohne

aber sind die Götter

rachgierige Mächte, und alles edle Streben

entsprechende

den Tantaliden vor und

Bei denen vor ihm treibt zügellose Leidenschaft äussere

Veranlassung

Orest ist die äussere Veranlassung

zu

Frevelthaten.

Sitte verlangt unter den obwaltenden Verhältnissen Gemäss seiner

ererbten

Bei

von schwerstem Gewicht;

Leidenschaftlichkeit

die

die Frevelthat.

ergreift Orest

diesen



25



W i n k mit b r e n n e n d e r Begier, blind f ü r das w i d e r s t r e b e n d e G e f ü h l , d a s in

ihm v o r h a n d e n ist u n d ,

gleichfalls

Sitte, ihn die Mutter e h r e n heisst.

im E i n k l a n g

dies G e f ü h l mit gleich l e i d e n s c h a f t l i c h e r Gewalt ihn ein. und grad',

ist er u n f ä h i g ,

Innern hinwegzusetzen.

sich

mit

Nach v o l l b r a c h t e r T h a t über

den

Zwiespalt

der

nimmt

Wahrhaft in

seinem

Von a u s s e n m u s s ihm Hülfe k o m m e n .

Die L i e b e zu Iphigenien u n d d e r Drang, i h r d e n S e e l e n f r i e d e n zu b e w a h r e n , steigern z u n ä c h s t im Gefühl d e r O h n m a c h t die Verz w e i f l u n g a u f s Höchste, g e t r e t e n ist

und

lassen

aber

die V e r g a n g e n h e i t

dann, sich

nachdem Ruhe

in v e r s ö h n e n d e m

einLichte

darstellt, die alte L u s t zu f r o h e r T h a t z u r G e l t u n g k o m m e n . Fluch,

den Orest durch

den Muttermord

auf sich

Der

herabgezogen,

wirkt nicht länger. Wie aber, Kraft und Iphigenie

wenn

Muth

nun

fühlt,

das Unternehmen,

misslingt?

bei d e m V e r s u c h ,

Denken

zu wir

sie zu b e f r e i e n ,

neu

erwachten

mit d e r V e r g a n g e n h e i t die S c h w e s t e r

an.

Liebe und ist

giebt

das

ward

Geschick

er

Orest dass

kommt.

Noch b e r u h t diese

Thatenlust.

Die

bisher Stimmungssache

Von i h r b e r ü h r t ,

B e r ü h r u n g jetzt a u f ,

Fall,

ums Leben

W U r d e a u c h d a n n die Heilung Bestand h a b e n ? auf d e r

welchem den

Versöhnung

und knüpft an

geheilt.

anscheinend

H ö r t die den

kaum

v e r l a s s e n e n V o r s t e l l u n g e n R e c h t , dass Orest U n g l ü c k v e r b r e i t e t , u n d d a s s die G ö t t e r es auf T a n t a l s H a u s a b g e s e h e n h a b e n , w a s d a n n ? 1 ) Wir eherne

wollen

Thür

mit Orest a n n e h m e n ,

des T a r t a r u s

dass

die E u m e n i d e n

h i n t e r sich z u g e s c h l a g e n

haben,

die dass

die V e r z w e i f l u n g ü b e r die eigene T h a t n i c h t w i e d e r in d e r f r ü h e r e n Dies scheint mir B i e l s c h o w s k y (Goethe, sein Leben und seine Werke. I. — München 1898. S. 434) nicht beachtet zu haben, denn er findet im Beginn des vierten Aufzugs eine „lockere Stelle" der Handlung darin, dass wir „mit den agirenden Charakteren glauben sollen, dass die Heilung nur eine zeitweilige sei, und dass sie dauernd erst durch den Raub und die Ueberführung des Dianenbildes nach Delphi werden könne". Er fährt dann fort: „Da wir das nicht können, sondern schon jetzt von der endgültigen Heilung ganz überzeugt sind, so erfüllt es uns mit einiger Unlust, dass Iphigenie nebst Orest und Pylades sich noch um den Raub



Stärke e r w a c h e n

wird.

26



Um so grössere Gewalt

Gedanke an den Stammesflach gewinnen,

muss

dann

uns ja den Anschlag misslungen — von Neuem f u r c h t b a r hat.

Ein Leben und Handeln,

der

der sich — wir denken erwiesen

wie Orest es wünscht, wäre damit

unmöglich. Also a u c h , hat,

ist

recht,

n a c h d e m der Fluch des Muttermordes sich gelöst

der Stammesfluch

noch

nicht getilgt.

Orest

hat

zwar

dass schon in Tauris der Fluch sich löst, aber das Orakel

h a t auch recht,

wenn es verlangt, dass Orest die Schwester nach

Griechenland bringt, damit der Fluch sich löse. Und noch etwas kommt dazu. des Fluches

ledig

zu

lein,

Wir sahen,

dem Orest auf

dass das Gefühl,

dem Wege

anschau-

licher Bilder gekommen war u n d damit f ü r den Augenblick grosse Macht

gewonnen

hatte.

Wird

dieser

Einfluss

dauern,

wenn

später a n d r e Bilder auf ihn wirken, wenn er in Mycen die Spuren vergossnen

Bluts

erblickt

und

die

ganze

Umgebung

bildungskraft in den Bann der Vergangenheit zieht? schaftlichkeit, den

Blick

die

auf

alle Seelenkräfte in

Andres

verdunkelt,

eine Richtung

erwies

Iphigenien a u s g e h e n d e n Zauber als heilsam.

sich

die

Ein-

Die Leiden-

unter

lenkt

und

dem

von

Wird sie nach a n d r e r

Richtung geweckt, dann kann sie ebenso verderblich wirken.

Das

Erreichte muss erst befestigt, die neu gewonnene Anschauung auf eigenen Grund gestellt und von ihr

aus feste Verbindungen

allen Richtungen des Bewusstseins geschlagen w e r d e n ,

nach

damit

der

Erfolg d a u e r n k a n n .

Die Ansichten Andrer können das Maass für

Orest nicht a b g e b e n ;

auch

des Tempelbildes abquälen".

die althergebrachte Sitte hat sich als

Ich habe von jener Unlust nie etwas gespürt

und sehe den Grund zu Bielschowskys Missvergnügen nur darin, dass auch er die Heilung des Orest im 3. Acte o h n e W e i t e r e s als dauernd ansieht, wozu das Stück durch die Art der Heilung gewiss keine Veranlassung giebt. Falls

wir also nicht annehmen,

Raub

und

dass die Dauer der Heilung durch den

die Ueberführung des

Dianenbildes

gewährleistet

werde,

so

werden wir am Anfang des 4. Actes um so gespannter sein, ob und wie nun wird,

gemäss auf

dem

Orakel

die

völlige

Entsühnung

deren Zustandekommen wir hoffen.

herbeigeführt

werden

— untauglich erwiesen, Unrechten Weg worfen.

27

gerade sie hat seine Leidenschaftlichkeit

gelockt und

ge-

Nur eine der sonstigen Sitte überlegene Sittlichkeit,

die

eindringt und

kann in seiner Lage frommen. nur in Iphigenie zu Iphigeniens und

noch

den

finden,

lange,

sondern

darin zur Herrschaft

damit

so bedarf Orest

erst

der Berührung

er nicht in leidenschaftlicher

in Ruhe und stetiger Arbeit

Dann

gelangt,

Diese neue Sittlichkeit ist zunächst

und

festen Grund finde,

widersteht. beseitigt,

auf

ihm den Zwiespalt in die Seele

ganz in sein Wesen

wegung,



der

ein Andrer

den Wogen

ist die Wirkung

der

Be-

werde

Leidenschaft

des Erbfluchs

auf Orest

wenn auf die geschilderte Weise die ererbte Anlage ge-

zügelt und dem Guten nutzbar gemacht ist, und wenn damit zugleich die äusseren Anlässe ihre gefährliche Macht ist Iphigeniens

fernere Nähe auch

von

verloren

diesem

haben.

So

Gesichtspunkt

aus

nöthig, damit Orest das ihm durch seine Abkunft gebührende Amt recht verwalten wandeln Will

und

auch

für Mycen

den

Fluch

in Segen

ver-

kann. aber Iphigenie

noch Elektras zu

das väterliche Haus

gedenken.

Geschwister sich erstrecken,

Auch

entsühnen,

so

ist

auf sie muss der Einfluss der

damit endlich

das

ganze

Geschlecht

von den Wirkungen einer unseligen Vergangenheit frei wird. erinnern uns,

dass Goethe den Plan einer

erwog, in der Elektra die nach

Griechenland

heimkehrende

genie für die Mörderin Orests hielt und sie getödtet nicht im letzten wenn

Augenblick

alle Geschwister in

die Erkennung

neuem,

reinem

erfolgte.

Streben

hat Tantals Frevelthat fortzuwirken aufgehört, Qualen,

die nach

Orests Vision

die

Iphi-

hätte, wenn Dann

erst,

vereinigt

sind,

und die grausamen

Uebermächt'gen

der

brust des Ahnherrn mit ehrnen Ketten fest aufgeschmiedet werden die Träume des Enkels nicht mehr

Wir

„Iphigenie in Delphi"

Heldenhaben,

beunruhigen.

Also auch nach der Heilung hat Orests Bitte guten S i n n : O König, hindre nicht, dass sie die W e i h e Des väterlichen Hauses nun vollbringe, Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das H a u p t die alte Krone drücke!



28



und die Entsühnung der schwer befleckten Wohnung, die Iphigenie nur

mit

reinem

Herzen

und

reiner Hand vollbringen kann,

keine leere Förmlichkeit;

in

nach

das Haus vom

altem

Herkommen

der Kulthandlung

weiht, liegt tiefere symbolische Macht man s o , Unterschied zwischen

ist

der Priesterin, die

Fluche

reinigt und

neu

Bedeutung.

durchaus im Anschluss erworbenem und

an das Drama,

ererbtem Fluch,

so

den fallen

eine Reihe von Bedenken weg, die manchem Erklärer aufgestossen sind.

Es braucht statt der Bedingung, die das Orakel stellt, und

die zur Zeit der Heilung Orests noch nicht erfüllt ist, kein gleichwerthiger Ersatz

gesucht zu werden,

durch

Fluches vorzeitig herbeigeführt worden sei.

den

die Lösung

des

Doch dies scheint mir

durch meine Ausführungen genügend geklärt, so dass ich nur auf eine hierher gehörige Verwechslung

Mündts1)

eingehen

Derselbe

fasst

zusammen:

„Die geistige E r -

krankung

des

seine Ansicht dahin Orest hat ihren

von der Wirksamkeit

Hauptgrund in seiner

möchte.

Vorstellung

des Fluches, d. h. des Zerfallenseins

seines

Geschlechts mit den Göttern, das Gefühl einer persönlichen Schuld tritt demgegenüber zurück; er wird geheilt durch die Berichtigung j e n e r Vorstellung, und diese Berichtigung intuitive Erkenntniss, sind, der Fluch

dass

durch

gebrochen i s t . "

noch ist es im Sinne

des Dramas

die Götter versöhnt sind.

wird bewirkt durch die

Iphigenien Zunächst

die Götter erkennt

richtig, dass

versöhnt

weder

durch

Orest,

Iphigenien

Orest erkennt, dass die Götter ihm gnädig

waren und sind, dass sie durch die Berührung mit der Schwester und den dadurch wohlthätigen

hervorgerufenen

Folgen

den

Bann

Verzweiflungsanfall der

letzten

mit

seinen

J a h r e von ihm

ge-

nommen haben, aber er nimmt nicht erst eine jetzt erfolgte Versöhnung der Götter an.

Sein Vergleich

mit einem Gewitter zeigt

dies deutlich: Ihr Götter, die mit

flammender

Gewalt

Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt Und gnädig-ernst den lang erflehten R e g e n

') M ü n d t , Die Heilung des Orest.

Preussische Jahrbücher, J u n i 1 9 0 1 .



29



Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen In wilden Strömen auf die Erde schüttet; Doch bald der Menschen grausendes Erwarten In Segen auflöst und das bange Staunen In Freudeblick und lauten Dank verwandelt, Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt, Und Iris freundlich-bunt mit leichter Hand Den grauen Flor der letzten Wolken t r e n n t . . . . Gnädig-ernst haben

die Götter

durch

das reinigende

Gewitter

in

seinem I n n e r n die s c h w e r e n W o l k e n a u f g e z e h r t , u n d rail Dank u n d H o f f n u n g f ü h l t er F r e u d e schon

vorher

gnädig

und

waren

Thatenlust. und

Und

nicht

erst

wie

die

versöhnt

Götter werden

m u s s t e n , s o w a r a u c h i h r e G n a d e u n a b h ä n g i g von Iphigenien d u r c h sie ist n u r d e m O r e s t Doch dies n e b e n b e i . stellung von Vorstellung

W i c h t i g e r ist, dass

der Wirksamkeit

dieser V o r s t e l l u n g von

die E r k e n n t n i s s

nicht der

den

Kernpunkt

Unsühnbarkeit

n u r als

erklärende

Erweiterung

worbenen

Fluches,

banntsein

der Gedanken

von

grossen

den er in

Thaten

Mündt

des Fluches des

T a n t a l s H a u s d e m V e r d e r b e n weiht,

davon

mit Orests Vor-

und

der

Berichtigung

d e r H e i l u n g trifft.

Die

Geschlechtsfluches,

der

ist f ü r O r e s t

des

durch

den

von

Bedeutung

Muttermord

seiner Verzweiflung u n d

deutlich

schwärmte,

da;

aufgegangen.

empfindet.

dem

Als e r mit

hinderte

der

erGe-

Pylades

Geschlechtsfluch

diese n i c h t ; erst die G e w i s s e n s q u a l e n n a c h d e m M u t t e r m o r d liessen jene Vorstellung lebendig w e r d e n . volle H a f t e n a n d e r V e r g a n g e n h e i t fühl —

die Liebe

bundenen stehende

zur

Gedanken That

Schwester

an

ein

Wird

ihm

d u r c h ein —

und

zukünftiges

der Schwester —

das

verzweiflungs-

k r ä f t i g e s n e u e s Ge-

durch

die

damit

Ereigniss —

beseitigt,

so

besteht

Aussicht, d a s s diese n e u e n R e g u n g e n , i n d e m sie sich

ver-

die b e v o r wohl

die

durchringen

u n d z u m H a n d e l n f ü h r e n , a u c h die V o r s t e l l u n g v o m f o r t w i r k e n d e n Erbfluche

zurückdrängen

werden.

In d e r

Unterwelt

ist

ferner

von v e r s ö h n t e n G ö t t e r n n o c h g a r nicht die R e d e , d e n n P l u t o , d e n Orest b e g r ü s s e n will, ist d e r Gott d e r e w ' g e n N a c h t u n d h a t mit den T a g e s l c i d e n s c h a f t e n u n d V o r g ä n g e n

nichts zu t h u n .

Nur die



30



Versöhnung i n n e r h a l b des Tantalidengeschlechts u n d vor Allem die des Orest mit seiner Mutter ist die Vorstellung, welche die WeiterDer e r w o r b e n e Fluch ist

entwickelung im I n n e r n Orests bezeichnet. zunächst

d u r c h d e n T o d seiner W i r k u n g b e r a u b t , u n d

dadurch

Friede innerhalb des Geschlechts hergestellt, soweit die Nachkommen des Tantalus in Betracht k o m m e n . von

den

Uebermächt'gen

Dem Ahnherrn sind auch dort

grausame

Qualen

fest

aufgeschmiedet.

F ü h r t man dies mit dem Parzenliede darauf zurück, dass Tantalus wider die Götter gefrevelt hat, so folgt, dass Unterwelt

nicht

zur Versöhnung

geneigt

diese a u c h

sind.

Legt

in der

man

aber

darauf grösseres Gewicht, dass Tantalus o h n e den mildernden Umstand des Erbfluchs gesündigt hat, so tritt das Fortwirken des Erbfluchs

auch in den T r a u m v o r s t e l l u n g e n Orests klar h e r v o r .

Weil

Orest an die Macht des Erbfluchs glaubt u n d seine Unthat als eine W i r k u n g desselben auffasst, kann der

Unterwelt

er ohne inneren Widerstreit in

die Lust des Seelenfriedens fühlen.

B e r u h t e aber

seine Heilung auf der Erkenntniss, dass die Götter d u r c h den Tod versöhnt sind, so müssten zu

sein,

die

mit dem Bewusstsein,

Erinyen

wiederkehren.

Orest aus dem T r a u m

geweckt wird

Das und

nicht

geschieht

gestorben nicht.

Als

die A u f f o r d e r u n g

zum

Handeln erhält, zum Handeln im Sinne der seiner seelischen Verä n d e r u n g zu Grunde liegenden R e g u n g e n , da fühlt er in der noch f o r t d a u e r n d e n ruhig-freudigen S t i m m u n g sich zur That fähig und blickt hoffnungsvoll in die Z u k u n f t . dass die Götter

gnädig sind,

Und damit weiss er n u n auch,

denn

sie

haben

j a die

Wolken in ihm aufgezehrt, den d u r c h den Muttermord Fluch

von

seiner Seele

genommen.

Die

Heilung

schweren

erworbenen

ist

nicht

die

Folge der Erkenntniss, dass der Fluch gebrochen, die Götter versöhnt sind, s o n d e r n diese E r k e n n t n i s s ist die Folge d e r Aber es h a n d e l t sich Fluch. des

hier

überhaupt

nur

um

den

Heilung.

erworbenen

Dieser ist gebrochen, u n d damit tritt f ü r Orest die

Erbfluchs zunächst wieder

zurück.

m e h r als ewig von ihm a n g e n o m m e n ihm a u s g e s p r o c h e n e W u n s c h ,

Dass a u c h

dieser

wird, zeigt der später

Frage nicht von

Iphigenie m ö g e das väterliche Haus

weihen u n d ihn der entsühnten Halle wiedergeben.

Der Erbfluch

— besteht

also

noch

31

fort, und



die L a g e ist, von

diesem

p u n k t e a n g e s e h e n , f ü r Orest dieselbe wie z u r Z e i t , n e n d e Begier, des Königs T o d wachsen war. Hintergrunde

zu r ä c h e n ,

noch

Gesichts-

als die b r e n -

n i c h t in ihm g e -

E r k a n n f r e u d i g a n g r o s s e T h a t e n d e n k e n , a b e r im steht

drohend

die

Vergangenheit

des

Geschlechts.

A g a m e m n o n w a r der T o c h t e r als Muster des v o l l k o m m n e n M a n n e s in E r i n n e r u n g , Gelegenheit

a b e r in s e i n e r

geweckt,

Rath,

Brust schlief e t w a s , das, von d e r

Mässigung

und Weisheit

und

Geduld

seinem Blick v e r b a r g u n d ihn so in Götterzorn verstrickte. Erbschaft

muss

unwirksam

werden,

b e s s e r e m Geschick e n t g e g e n g e h e .

damit

Tantals

Diese

Geschlecht

Noch n a c h O r e s t s Heilung f r a g t

Iphigenie, als s i e s i c h zu e i n e m sittlichen F e h l t r i t t g e n ö t h i g t g l a u b t : Soll dieser Fluch denn ewig walten?

Soll

Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen Sich wieder heben? Der E r b f l u c h ist also nicht, wenn

wir

diese

im

wie M ü n d t will, mit Orests Heilung,

gebräuchlichen

Sinne

nehmen,

gebrochen,

s o n d e r n er soll erst in Z u k u n f t e n d e n , i n d e m die s c h w e r b e f l e c k t e W o h n u n g d u r c h Iphigenie e n t s ü h n t w i r d . III. G o e t h e s c h r i e b 1 8 2 7 d e m S c h a u s p i e l e r K r ü g e r „ n a c h d e r trefflichen D a r s t e l l u n g des Orest in ein P r a c h t e x e m p l a r d e r die f o l g e n d e n v i e l g e d e u t e t e n

Iphigenie"

Verse:

Was der Dichter diesem Bande Glaubend, hoffend anvertraut, Werd' im Kreise deutscher Lande Durch des Künstlers Wirken laut. So im Handeln, so im Sprechen Liebevoll verkünd' es weit: Alle menschliche Gebrechen Sühnet reine Menschlichkeit. Diese W o r t e s i n d Auflassung

geWissermassen

d e r Iphigenie

auf

der Probirstein,

ihre Echtheit

zu

an dem

jede

p r ü f e n ist.

Das

D r a m a soll v e r k ü n d e n , dass r e i n e Menschlichkeit alle m e n s c h l i c h e n Gebrechen sühnt.

W a s heisst

das?



32



Ein Verbrechen sühnen bedeutet dessen schädliche Folgen für den Thäter und die Gemeinschaft aufheben »).

Goethe braucht aber

Sühnen wird sonst wohl mit „ausgleichen, einen Ausgleich treffen, schadlos halten" umschrieben. So im deutschen Wörterbuch von Moritz Heyne. Kin Verbrechen sühnen hiesse danach einen Ausgleich treffen zwischen Verbrecher und Geschädigtem, wobei unter letzterem gewiss nicht nur der zu verstehen wäre, welchem durch das Verbrechen unmittelbar Verlust zugefügt ist, sondern auch die Gemeinschaft, deren sittliches Bewusstsein und deren Sicherheitsgefühl darunter gelitten haben kann. Bei uns und im Zeitalter der Humanität hat die staatliche Gemeinschaft den Schutz gegen Verbrechen dem Einzelnen ab- und damit die Verpflichtung auf sich genommen, ein trotzdem vorgekommenes Verbrechen zu bestrafen, also äusserliche Sühne zu veranlassen, und zum Schutze der Uebrigen den Verbrecher, soweit dies möglich, zu einem brauchbaren Mitglied der menschlichen Gesellschaft oder wenigstens unschädlich zu machen. Nur von dieser Beziehung zur Gemeinschaft ist die Rede, wenn der Verbrecher seine That durch die Strafe oder durch ein ferneres fleckenloses Leben „sühnt". Auch wenn etwa ein Dieb zum Ersatz des Gestohlenen verurtheilt wird, so liegt die Sühne nicht in der Entschädigung des Bestohlenen, sondern in der Abbüssung der Strafe, von der jener Ersatz nur ein Theil ist, und diese — äusserliche — „Sühne" ist auch dann da, wenn eine Entschädigung des Bestohlenen nicht möglich war oder nicht angeordnet wurde. Durch die Sühne werden somit nicht für den unmittelbar Geschädigten die üblen Folgen des Verbrechens aufgehoben, sondern dies geschieht nur soweit, als ihre Aufhebung bedingt ist durch die Aufhebung der üblen Folgen für die Gemeinschaft oder den Thäter. Denn auch für den Thäter wird, wenn die Sühne nicht nur äusserlich ist, die Entschädigung des von ihm Geschädigten, falls sie möglich, zu seiner „Entsühnung" gehören. Die Sühne, äusserlich gefasst, besteht also darin, dass die üblen Folgen des Verbrechens für die Gemeinschaft und — äusserlich — den Verbrecher aufgehoben werden; die Sühne, innerlich gefasst, darin, dass die üblen Folgen im Innern des Verbrechers aufgehoben werden. Dass ich in meiner Umschreibung die s c h ä d l i c h e n Folgen heraushebe, liegt darin, dass das Verbrechen, wenn es zur Sühnung kommt, auch gute Folgen haben kann: ich denke vor Allem an die sittliche Läuterung der inneren Sühne. Die Umschreibung „ausgleichen, schadlos halten" vermeide ich, weil man auch dann von voller — äusserer oder innerer — Sühne spricht, wenn ein A u s g l e i c h mit dem unmittelbar Geschädigten, an den man dabei zunächst denkt, oder eine Schadloshaltung desselben nicht stattfindet.

— statt

des anscheinend Menschen



nächstliegenden Wortes „ V e r b r e c h e n "

Ausdruck „ G e b r e c h e n " . was dem

33

den

Also nicht eine Handlung, s o n d e r n etwas,

gebricht,

was ihm fehlt,

ist Gegenstand

der

S ü h n u n g , und zwar zeigt der Z u s a m m e n h a n g , dass das Gebrechen ein geistiges

ist und

das Handeln beeinflusst.

ganz im Allgemeinen s a g e n ,

Nun

dass das Handeln

können

wir

des Menschen

in

gegebener Lage von seinem Charakter und von seiner Auffassung der Lage abhängt, wenn wir u n t e r Charakter das a n g e b o r e n e

und

durch das Leben a b g e ä n d e r t e geistige Gepräge des Menschen verstehen.

Eine That, die der S ü h n e bedarf, kann somit aus einem

Mangel des Charakters oder aus einem Mangel der Auffassung entspringen.

Ein Mangel der A u f f a s s u n g einer Lage kann

zu S t a n d e k o m m e n , Kräfte nicht

dass der Mensch

genügend

Richtung a n w e n d e t .

anwendet,

die ihm hierzu

oder

dass

dadurch

gegebenen

er sie in

falscher

Jener Fall wird dann eintreten, wenn er nicht

den nöthigen Antheil an der Angelegenheit nimmt, um die es sich handelt, dieser, wenn Leidenschaft seinen Blick t r ü b t . des C h a r a k t e r s Vorstellungen,

Ein Mangel

in obigem Sinne wird darin bestehen,

welche das Verhältniss

des Menschen

dass die

zur Aussen-

welt bestimmen, nicht die richtigen sind, oder dass die sie tragenden Gefühle zu schwach sind, u m stellungen zu lenken, sei es n u n , Wettstreit mit rakters kann Vorstellungen,

anderen

den Willen nach

zu schwach sind.

somit d a d u r c h

welche das Verhältniss des Menschen zur Aussen-

den Gefühle gestärkt w e r d e n . rechte Autheil

stellen

und

im

Dem Mangel des Cha-

entgegengearbeitet w e r d e n , dass die

welt bestimmen, geklärt u n d berichtigt, und der

j e n e n Vor-

dass sie an sich oder n u r

an

den

dass die sie t r a g e n -

Geschieht dies, so wird einzelnen Angelegenheiten

leidenschaftlichen

Erregungen

ein

zugleich sich

ein-

Widerstand

er-

wachsen, d e m n a c h die richtige Auffassung der Lage, soweit sie von der gegenwärtigen Thätigkeit des Menschen abhängt, sich ergeben. Dies

soll

also

die reine Menschlichkeit leisten.

diesem Ausdruck zu verstehen i s t , die Humanitätsidee Fassung,

in

sich

des

18. J a h r h u n d e r t s ,

aufgenommen

l.,&ehr, Heilung- des Orest.

Was

wird Niemand verkennen, hat.

zumal in

unter der

Herderscher

Menschlichkeit 3

ist

das,



34



w a s d e n M e n s c h e n von a n d r e n W e s e n u n t e r s c h e i d e t u n d ihn z u m Menschen m a c h t , nicht das T r e n n e n d e in Religion, Volk u n d S t a n d , sondern

das G e m e i n s a m e ,

was

u n s im Menschen d e n B r u d e r e r -

k e n n e n l ä s s t : L i e b e nicht n u r z u d e n N ä c h s t s t e h e n d e n , s o n d e r n zu allen Menschen,

Liebe z u r a l l u m f a s s e n d e n , a l l e r h a l t e n d e n

Liebe zur Natur,

und

t h ä t i g e n d e Liebe.

Die Anlage d a z u

Ausbildung

und

z w a r sich im E r k e n n e n

Bethätigung

bringt

macht

ihn

und Handeln

d e r Mensch zum

Gottheit,

wahren

mit,

beihre

Menschen.

Menschlichkeit ist also zugleich u n t e r s c h e i d e n d e s G e p r ä g e u n d Bestimmung des Menschen1).

Dass ich die Liebe v o r a n s t e l l t e ,

i m E i n k l a n g mit den W o r t e n : liebevoll

verkünd'

es

„ S o im H a n d e l n ,

(nämlich

s o im

das Drama) weit" jene

A b e r die L i e b e ist f r u c h t l o s , w e n n sie sich n i c h t im r e c h t e n , lichen

Handeln

Erkenntniss,

offenbart,

und

dies

kann

sie n u r

steht

Sprechen

durch

die allein d u r c h liebevolles E i n g e h e n e r w o r b e n

Lehre. nützrechte wird.

') Herder (Briefe zur Beförderung der Humanität): „Humanität ist der C h a r a k t e r u n s e r e s G e s c h l e c h t s ; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unserer Uebungen, unser W e r t h sein; denn eine A n g e l i t ä t im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das G ö t t l i c h e in unsrem Geschlecht ist also B i l d u n g z u r H u m a n i t ä t ; alle grossen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die K u n s t u n s r e s G e s c h l e c h t e s . Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur B r u t a l i t ä t zurück" (24. Brief). „Ohne ein Newton zu sein, wusste ich (in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit) den Charakter unsres Geschlechts, seine Anlagen und Kräfte, seine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hinieden bestimmt ist, in kein simpleres Wort zu fassen, als H u m a n i t ä t , M e n s c h h e i t . (Anm. zum 49 Brief).



35



W e m Menschlichkeit i n n e w o h n t , ist d e r edle Mensch des G ö t h e s c h e n G e d i c h t s , der h ü l f r e i c h u n d g u t i s t : Denn das allein Unterscheidet ihn — den Menschen — Von allen Wesen, Die wir kennen, ist also

das,

w a s ihm

das

menschliche

K e n n z e i c h e n des e d l e n M e n s c h e n ,

Gepräge aufdrückt.

Als

d e r h ü l f r e i c h u n d g u t ist, setzt

d e r Dichter a m S c h l ü s s e z u s a m m e n f a s s e n d : Unermüdet schaff' er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen. An diesen S c h l u s s e r i n n e r t ein Gedicht d e r z a h m e n X e n i e n : Halte dich im Stillen rein Und lass es um dich wettern; Je mehr du fühlst, ein Mensch zu sein, Desto ähnlicher bist du den Göttern. W a s d e n Göttern ähnlich m a c h t , ist liebevolle E r k e n n t n i s s , die das Grösste

und

Kleinste

wahr

zu

umfassen sucht,

und

liebevolles

W a l t e n , d a s d e m Grössten u n d Kleinsten g e r e c h t w i r d . vollem F o r s c h e n

u n d Handeln

g u t e n Muth

f ü h l t sich als Mensch.

und

findet

In liebe-

d e r Mensch festen S i n n u n d Bewahren

aber kann er

diese Menschlichkeit n u r , w e n n e r sich n i c h t d u r c h das l a u t e u n d l e i d e n s c h a f t l i c h e Treiben u m ihn von seinem

menschlichen

Stand-

p u n k t e a b u n d in eine f a l s c h e A u f f a s s u n g d e r L a g e h i n e i n d r ä n g e n , w e n n er es u m sich w e t t e r n lässt u n d sich im Stillen R e i n e M e n s c h l i c h k e i t ist also

eine

solche,

die,

durch

urtheilt

Dass d e r A u s d r u c k „ r e i n " hier so zu v e r s t e h e n ist,

giebt sich a u c h , w e n n wir f r a g e n , machen kann, den

hält.

nicht

l e i d e n s c h a f t l i c h e R e g u n g e n b e i r r t , klar u n d b e s o n n e n handelt.

rein

ü e b e r ihr steht

angezogenen

Stellen

w a s die Menschlichkeit

nach Herder

Göthescher

die

er-

unrein

die „ A n g e l i t ä t " ,

Gedichte

und

in

Göttlichkeit.

Diese k a n n n i c h t die Menschlichkeit u n r e i n m a c h e n , d e n n j e m e h r du f ü h l s t , ein Mensch zu sein, d e s t o ä h n l i c h e r bist d u d e n G ö t t e r n . 3*



36



U n t e r der Menschlichkeit steht die Thierheit, die sich d a d u r c h von jener

unterscheidet,

Vernunft,

ihre

dass Gefühle und Triebe,

Gewalt

üben.

Menschen im Widerspruch

Bestimmen

unbeeinflusst von

sie

das

Handeln

mit seiner „Menschlichkeit",

diese von der Thierheit befleckt.

so

des wird

Rein ist also die Menschlichkeit

nur, wenn sie von der Art des Thieres frei ist

und

die Gefühle

und Triebe sich nicht leidenschaftlich, d. h. im Widerstreit mit der Vernunft bethätigen. Reine Menschlichkeit und menschliches Gebrechen Gegensatz

zu

einander.

jeder schlechten,

Menschliches Gebrechen

unbesonnenen

liebevollem, besonnenem Handeln.

That1),

stehen

ist

die

Menschlichkeit

im

Quelle

führt

zu

Beides zusammen k a n n im selben

Menschen zwar v o r h a n d e n sein, aber sich nicht zugleich bethätigen. Wohl aber k a n n eins das a n d e r e wirkungslos m a c h e n .

Damit das

soll diese rein

Gebrechen nicht der Menschlichkeit Abbruch t h u e ,

sein; wie aber kann reine Menschlichkeit dem Gebrechen Abbruch thun?

Ist die Menschlichkeit rein, so kann das Gebrechen sich ja

nicht äussern, u n d wird das Gebrechen o f f e n b a r , so besteht eben keine reine Menschlichkeit. Alle menschliche Gebrechen Sühnet reine Menschlichkeit

Herder (Briefe zur Beförd. etc.):

W o Böses ist,

ist die Ursache

des Bösen U n a r t unsres Geschlechts, nicht seine Natur und Art. Trägheit, Vermessenheit,

Stolz,

Irrthum,

Hartsinn,

Erziehung, böse Gewohnheit; lauter Uebel,

Leichtsinn, die

Vorurtheile,

vermeidlich

oder

böse heilbar

sind, wenn n e u e s Leben, Munterkeit zum Guten, Vernunft, Bescheidenheit, Billigkeit,

Wahrheit,

eine bessere Erziehung,

Jugend auf, einzeln und allgemein einkehren.

bessere Die

Gewohnheiten

Menschheit

ruft

von und

seufzet, dass dies geschehe, da offenbar jede Untugend und Untauglichkeit sich selbst straft, indem Menge Uebel auf

sich

wir dazu da sind, für uns

thun kann

Unglücks,

sie

keinen wahren Genuss

und auf Andere häufet.

und

eine

Offenbar sehen wir,

gewähret

dass

dies Reich der Nacht zu zerstören, und

sondern unsere

Werk e i n g e r i c h t e t ;

es

soll.

Nicht

Natur

ist

nur tragen zu diesem

wir

indem niemand es die

Last

unsres

und zu keinem anderen

ist Z w e c k unsres Geschlechts,

der

unsrer Bestimmung, uns dieser U n a r t zu entladen (67. Brief).

Endpunkt

— k a n n also,

w e n n w i r allein

37



die Vorgänge

im

einzelnen

Menschen

ins A u g e f a s s e n , n u r b e s a g e n , d a s s die A u s b i l d u n g d e r A n l a g e z u r r e i n e n M e n s c h l i c h k e i t die W i r k u n g j e d e s m e n s c h l i c h e n G e b r e c h e n s , j e d e s s c h l e c h t e , u n b e s o n n e n e H a n d e l n beseitigt u n d die s c h ä d l i c h e n Folgen

früherer derartiger

Handlungen

für

den Thäter

und

die

Gemeinschaft aufhebt. W e n d e n wir a b e r d e n S p r u c h n i c h t auf d e n e i n z e l n e n M e n s c h e n , s o n d e r n auf die M e n s c h h e i t , auf ein Volk,

auf ein G e s c h l e c h t

an,

so b r a u c h t die r e i n e M e n s c h l i c h k e i t u n d d a s m e n s c h l i c h e G e b r e c h e n n i c h t m e h r in e i n e r P e r s o n s i c h zu v e r e i n e n . Menschlichkeit sühnen?

des E i n e n

K a n n n u n die r e i n e

das menschliche Gebrechen

des

Andern

M o e b i u s h ä l t d i e s f ü r e i n e P h r a s e , bei d e r e r sich

nichts denken kann.

gar

U n d wirklich w ä r e d a b e i g a r n i c h t s zu d e n k e n ,

w e n n nicht die Möglichkeit b e s t ä n d e , d a s s d i e r e i n e M e n s c h l i c h k e i t des E i n e n sich auf d e n A n d e r n ü b e r t r ä g t u n d in i h m das

menschliche

Gebrechen

aufkeimend

Wirkung

beraubt.

Geschieht

dies, so w e r d e n a u c h die s c h ä d l i c h e n F o l g e n

früherer

Verbrechen

für den Gebrechlichen

seiner

beseitigt,

denn

thätigc Liebe

verscheucht

den n u t z l o s e n Rückblick auf die V e r g a n g e n h e i t u n d lässt Reue n u r den antreibenden

Bestandtheil ü b r i g :

von

der

b ü s s e n d dient

der

S c h u l d i g e d e n G ö t t e r n u n d d e r W e l t u n d h e b t so die F o l g e n s e i n e s Verbrechens zwar nicht i m m e r

für

den

unmittelbar

Geschädigten,

a b e r f ü r die G e m e i n s c h a f t a u f . Soll die r e i n e M e n s c h l i c h k e i t auf den G e b r e c h l i c h e n ü b e r t r a g e n w e r d e n , so m u s s sie in d i e s e m

den Boden

bereitet

finden.

Der

G e b r e c h l i c h e m u s s sich s e i n e s G e b r e c h e n s b e w u s s t sein u n d d a m i t d e n W u n s c h h a b e n , ein A n d e r e r

zu

Schuldigen

nach Sühnung

muss

der Sühnung

dann

d i e Möglichkeit

bestehen,

wird

lichkeit,

werden;

im

weiteren

Wachsthum,

Unsrem

D r a m a h a t d e r Dichter an

von

ist,

MenschWurzeln

Leidenschaftlichkeit

beseitigt.

glaubend

In I p h i g e n i e s e h e n w i r

Menschlichkeit ohne Anlehnung

Als-

vorhanden

sich

r e i n i g e n d , die W i r k u n g d e s G e b r e c h e n s Lehre anvertraut.

des

vorangehen.

d a s s d e r Keim d e r

d e r a u c h in d e m G e b r e c h l i c h e n

treibt und

das Verlangen

und

hoffend

die E n t w i c k l u n g

die r e i n e Menschlichkeit

diese reiner eines



38



Andern, in den T a u r i e r n das Bewusstwerden der lichkeit

und

damit

Menschlichkeit, schuldig

die E n t s t e h u n g

in

Orest

gewordenen

Iphigenie

ist

die

und

durch

Uebertragung

nach

Göttermacht

entgegenkamen,

Zeit e r w a c h s e n , gewährt w a r ,

wo

derselben

den

Greueln

reinerer auf

dem Hause T a n t a l s

ihres

Hauses und

gewaltet.

die

lang

lebhafte Erinnerung

den

Menschen.

die ihr mit E h r f u r c h t

des Tempeldienstes

hat sie eine

Gebrech-

nach

SUhnung verlangenden

entrückt und h a t unter F r e m d e n , Neigung

eignen

des W u n s c h e s

mit

In

einer

e n t b e h r t e Rast

an

ihren

hohen

Vater, den göttergleichen A g a m e m n o n , und an das glückliche F a m i l i e n leben mit sich h i n ü b e r g e n o m m e n , sie riss.

Ein f r e m d e r

Fluch,

an der T h a t ihres V a t e r s , sich

herabgezogen

hatte.

fremder

Fluch"

denn Iphigenie h a t k e i n e n

Antheil

durch

aus die

Wohl

dem

„ein

derselbe Dianens Zorn

aber

muss

dieser F l u c h ,

dessen F o l g e n sie ihr L e b e n fern der Heimat v e r t r a u e r t ,

auf unter

ihre

danken i m m e r wieder auf den E i b f l u c h ihres Hauses l e n k e n . fühlt sich als „ v e r w ü n s c h t e s H a u p t " ,

vor

dem

auch

ein

Herz Entsetzen mit seltenem S c h a u e r anfassen k a n n . durch

eignes Erlebniss

erfahren,

dass

das

Opfer

GeSie

grosses

Aber sie hat eines

fremden,

nicht s e l b s t e r w o r b e n e n F l u c h e s n a c h dem Willen der Gottheit nicht sterben, sondern

der Gottheit dienen soll.

S o weiss

sie:

Der missversteht die Himmlischen, der sie Blutgierig wähnt; er dichtet ihnen nur Die eignen grausamen Begierden an. Und m e h r als

dies:

Die Unsterblichen lieben der Menschen Weit verbreitete gute Geschlechter. Vergessen ist das alte Parzenlied

von

dem

grausamen

die Götter mit den Menschen t r e i b e n ,

und von

Enkel

Aber

sich

erstreckenden

Rachsucht.

heisst in ihrem S i n n e handeln. des

Opfertodes

Heil

Iphigenie

und R ü c k k e h r

der

hat

zubereitet,

Spiel,

i h r e r bis auf Gottheit

die

dienen

den F r e m d e n dem

das

König

statt und

seinem Volke mildere Sitten eingeflösst und lieb g e m a c h t und Allen das L e b e n Gnade

nicht

erleichtert.

Soll

auch G r ö s s e r e s ,

sie

da

ihr

näher Liegendes

im

Vertrauen

auf

götllichc

still

erhoffen,



39



E n t s ü h n u n g des eigenen G e s c h l e c h t s ?

So h a t sie d u r c h g u t e s u n d

segensvolles Thun und d u r c h muthiges Zutrauen ererbte

Gebrechen

der

Leidenschaftlichkeit

Hülfreich

war

ihr

z u r Gottheit

immer

dabei

mehr

ihre

das

seiner

Wirkung

beraubt.

Priesterin

u n t e r F r e m d e n , a n d e r e n Geschick sie w o h l liebevollen

Stellung

Antheil n a h m , d e n e n sie a b e r doch innerlich f e r n s t a n d , ein l e i d e n s c h a f t s l o s e s , b e s o n n e n e s

Handeln

und zur Gewohnheit werden konnte.

leichter

als

so d a s s

möglich

war

Denn s e h r richtig s a g t P y l a d e s :

So hast du dich im Tempel wohl bewahrt; Das Leben lehrt uns, weniger mit uns Und Andern strenge sein So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet, So vielfach ist's verschlungen und verknüpft, Dass Keiner in sich selbst, noch mit den Andern Sich rein und unverworren halten kann. Weil Iphigenie n i c h t in d a s L e b e n u m sie h i n e i n g e z o g e n , n i c h t m i t d e m t a u r i s c h e n Geschlecht v e r s c h l u n g e n u n d v e r k n ü p f t w a r , r e i n e Menschlichkeit in i h r ist

geschehen,

zweiten

als

Tode",

Iphigenie

in

abgeschlagen

entwickeln

aus

die Verbindung

Geschlecht z u r ü c k t r i t t . jetzt

sich

dem Leben mit

nach

Wohl

Retterin,

zwar dankbar

Widerwillen.

Aber im D r a n g e

in d e r S o r g e

um

den

und

zum

Bruder

ist

ein

und

thätigen

mit

kann.

ja

Gefühl

sie dient

ergeben,

und

trotz

mit

frei

zum W o h l e

ebensowenig

vermag

stillem

Heimkehr

von

Heimat

verblendender mit

reinem

i h r e s Geschlechts der

und

den König

Denn i h r e Liebe z u r

aller S t ä r k e

der trotz

d e r Göttin,

jedoch

kaum wiedergefundenen Bruder

r e i n e r Hand Und

ihrem

s c h e i n t ihr

L e i d e n s c h a f t , u n d sie w e i s s , dass sie diese L i e b e n u r Herzen

„dem

und

starkes

unnütz

n a c h Freiheit

zu b e t r ü g e n , das ist i h r u n m ö g l i c h . und

Dies

in T a u r i s ,

i h r e m Volk

zieht

Griechenland,

aller E r f o l g e das L e b e n in d e r F r e m d e , ihrer

konnte

befestigen.

Da n a h e n s c h w e r e V e r s u c h u n g e n , die a b e r

werden.

S e h n s u c h t sie heim

und

Widerwille

T i t a n e n g e g e n die Götter i h r e B r u s t zu e r f a s s e n a u c h d a , t a u b e Not ein d o p p e l t L a s t e r i h r aufzulegen s c h e i n t ;

beder

w o die

Besonnenheit

u n d V e r t r a u e n zu den Göttern ist s t ä r k e r , als d e r leidenschaftliche Trieb

zur

Anklage

gegen

das

Geschick.

Reine

Menschlichkeit,



40



d u r c h L e i d e n s c h a f t n i c h t g e t r ü b t e Liebe setzt ererbte Gebrechen ausser Wirkung. d e m Mangel

des C h a r a k t e r s

war

somit

Wir können

durch

bei

ihr

das

demnach

sagen:

das G e g e n g e w i c h t

reiner

Menschlichkeit a b g e h o l f e n w o r d e n , u n d d e r Mangel d e r A u f f a s s u n g d e r z u n ä c h s t b e i m Eintritt in das Leben sich g e l t e n d m a c h t , wird ü b e r w u n d e n , als mit dem Z w a n g e zu h a n d e l n j e n e s a u c h hier z u r vollen W i r k u n g

Gegengewicht

kommt.

Dei den T a u r i e r n h a n d e l t es sich u m m e n s c h l i c h e s Gebrechen, dessen W i r k u n g e n

erst

durch

Iphigeniens

Einfluss

als

unheilvoll

e r k a n n t w e r d e n . I n d e m die F r e m d e , d e r e n geheimnissvolle A n k u n f t im T e m p e l sie als g ö t t e r g e s a n d t b e g l a u b i g t e , die F r e m d e n o p f e r von J a h r zu J a h r mit s a n f t e r ü e b e r r e d u n g

aufhielt

Einfluss auf den König m i l d e r e G e w o h n h e i t e n u n d in d a s V e r h ä l t n i s s

von H e r r s c h e r

und auch

durch

ihren

in

das Volk

und Unterthanen

einführte,

h a t sie die Augen der Menschlichkeit geöffnet.

Und n i c h t n u r die

A u g e n , s o n d e r n a u c h die H e r z e n , seitdem die s e g e n s r e i c h e n Folgen dieser Menschlichkeit Furcht

zerstreuten,

früheren grausamen

sich die

fühlbar machten Gottheit

Gebräuche

möchte zürnen.

und wegen

Die

die

anfängliche

Abstellung

Taurier

der

haben

in

i h r e n r o h e n u n d u n m e n s c h l i c h e n H a n d l u n g e n nicht, wie Orest, ein widerstrebendes

natürliches

Zweifel u n d R e u e sind i h n e n

Gefühl daher

unterdrückt;

Gewissensbisse,

nicht gekommen,

und

noch

w e n i g e r k a n n die Verzweiflung i h n e n die H o f f n u n g auf A e n d e r u n g nehmen.

So ist die U m s t i m m u n g l e i c h t e r ,

n a c h Menschlichkeit einmal g e g e b e n

nachdem

der

Wunsch

ist,

Denn nirgends baut die Milde, die herab In menschlicher Gestalt vom Himmel kommt, Ein Reich sich schneller, als wo trüb' und wild Ein neues Volk, voll Leben, Muth und Kraft, Sich selbst und banger Ahnung überlassen, Des Menschenlebens schwere Bürden trägt. Noch freilich k a n n die j u n g e S a a t d e r Menschlichkeit von j e d e m U n w e t t e r leiden, u n d n u r d a d u r c h e r w ä c h s t die Aussicht auf f e r n e r e s Gedeihen, dass Iphigeniens r e i n e Menschlichkeit den h e r a u f z i e h e n d e n S t u r m b e s c h w ö r t u n d g e r a d e die Art i h r e s S c h e i d e n s erwärmend und stärkend nachwirken muss.

-

41



Beim schuldigen und nach S ü h n u n g

v e r l a n g e n d e n Orest

ist

das Mittel zur Rettung Liebe z u r Schwester und der Drang, ihr zu helfen. Aber n u r , weil ihm in der Geschlechtsgenossin Iphigenie reine Menschlichkeit entgegentritt, kann jene Liebe und j e n e r Drang das U n f r u c h t b a r e der Reue nach s t a r k e r E r s c h ü t t e r u n g rasch überwinden und die b e f r e i e n d e Hoffnung auf gute That zeitigen.

Was jedoch

nicht langsam gereift, sondern in mächtigem inneren Streite hervorgebrochen ist, kann sich zwar

unter

glücklichen Umständen

be-

währen, Sicherheit der Dauer im leidenschaftlichen Menschen wird ihm aber erst beschieden, wenn dessen ganzes Wesen zur Menschlichkeit, zur b e s o n n e n e n Liebe sich Iphigeniens weiterer Einfluss ist auch zu liebevollem Handeln

allmählich

dem

e r w a c h t e n Orest

zur „Menschlichkeit",

nöthig,

damit

allmählich sich festigende Besonnenheit Gewähr gegen kungen des Gebrechens geben k a n n .

reinen

entwickelt. die

nur

neue Wir-

Bei Orest ist zunächst

der

Mangel der Auffassung der Lage beseitigt, der Mangel des Charakters kann erst durch

stets

erneutes

rechtes

Auffassen

und

Handeln

ausgeglichen werden, und da das Leben diesen Ausgleich erschwert, ist Iphigeniens Einfluss als Gegengewicht auch ferner

erforderlich.

Dass Göthe von der S ü h n u n g des Gebrechens statt

des Ver-

b r e c h e n s spricht, hat also tiefen Sinn, gerade im Hinblick auf das Drama. dann

Handelte es sich n u r um die S ü h n u n g des Muttermordes, genügte

die

Gewinnung

der

„Menschlichkeit".

Aber

es

handelt sich um die S ü h n u n g des ererbten G e b r e c h e n s , da muss „reine Menschlichkeit" die W i e d e r k e h r leidenschaftlicher That künftig verhüten. Das Götterorakel, das z u n ä c h s t zu ist n u n in seiner Bedeutung klar. Rath

und

um Befreiung

viel

Orest

vom Geleit

giebt m e h r ; er will nicht n u r L ö s u n g

zu

bittet

fordern freilich

der Furien, des

aber

erworbenen,

scheint, nur

um

der Gott sondern

auch des e r e r b t e n Fluchs und verlangt deshalb, dass die Schwester nach Griechenland gebracht wird.

Er

b r e c h e n , s o n d e r n auf das Gebrechen,

sieht

nicht

auf

das Ver-

und nicht n u r auf das Ge-

brechen Orests, sondern auf das des ganzen

Tantalidenhauses.

Hiernach beantwortet sich auch die F r a g e , ob im Drama die

— reine

Menschlichkeit

42

lphigeniens

— Sühnende

sei.

Die reine Menschlichkeit ist z u n ä c h s t in Iphigenien v o r h a n d e n

oder

Orests

das

und

w i r d d u r c h i h r e B e r ü h r u n g auf Orest ü b e r t r a g e n . Menschlichkeit ist a u c h in Iphigenien

nur

A b e r die r e i n e

mit göttlichem

Beistand

e r w a c h s e n , d e r sie bei Zeiten a u s dem Elend i h r e s H a u s e s damit sie d a s s e l b e s p ä t e r e n t s ü h n e . nichts,

was

der

Mensch

Die

selbständig

nahm,

reine Menschlichkeit

aus

sich

allein

ist

entwickelt,

s o n d e r n d a m i t sie in einem M e n s c h e n sich ausbilde, b e d a r f d e r s e l b e n e b e n d e r g e g e b e n e n Anlage u n d i h r e r B e t h ä t i g u n g a u c h des E i n flusses

alles d e s s e n , w a s von a u s s e n auf den M e n s c h e n w i r k t u n d

v o m f r o m m e n G e m ü t h als g ö t t l i c h e F ü g u n g begriffen w i r d . IV. Der Wille d e r Götter stellt sich auf v e r s c h i e d e n e n S t u f e n d e r Sittlichkeit v e r s c h i e d e n d a r .

T a u r i s Ufer

schreckt die Fremden: das Gesetz Gebietet's und die Noth. So wird es d e n n „ h e i l i g e r G e b r a u c h " u n d Götterwille, j e d e n F r e m d e n am Altar

zu

in G r i e c h e n l a n d

über-

wunden,

a b e r d e r Hellene s c h a u t f r e m d auf den B a r b a r e n

herab,

und

Dieser Z u s t a n d

ist

die Pflicht d e r B l u t r a c h e b e s t e h t n o c h e b e n s o wie in T a u r i s ,

dessen König kann,

als

fern

Sittlichkeit glaubend

erst

dann

sein S o h n

Griechenland ist,

opfern.

von

b e f r i e d i g t in seine W o h n u n g

„gerochen"

ist.

So m ö g e n

die Götter z u m M u t t e r m o r d den Verwicklungen

gereift, hoffte.

In

die

Sittlichkeit,

ihr hat auch

winken.

des L e b e n s , auf

deren

heimkehren

denn

eine

In

auch

in

Iphigenien

neue,

Kommen

reine Goethe

die R a c h e i h r R e c h t v e r l o r e n .

Denn die R a c h e setzt eine s c h ä d i g e n d e T h a t als B e w e g g r u n d v o r a u s und

kann

d o r t k e i n e n Boden

finden,

w o nicht die T h a t u n d

der

d u r c h sie e r l i t t e n e Verlust, s o n d e r n die p s y c h o l o g i s c h e u n d sittliche W ü r d i g u n g d e s T h ä t e r s in d e n Mittelpunkt d e r B e t r a c h t u n g wo

das G e b r e c h e n

wird.

als W u r z e l

rückt,

d e s V e r b r e c h e n s ins A u g e gefasst

Freilich k ö n n t e Goethe die A n s c h a u u n g ,

a u s s p r i c h t , im D r a m a nicht d u r c h g e f ü h r t h a b e n .

die e r im

Gedicht

Und in d e r T h a t

m e i n e n Manche, dass die V e r t r e t e r i n r e i n e r Sittlichkeit, d a s s Iphigenie



43



die V e r p f l i c h t u n g des Orest z u r B l u t r a c h e a n e r k e n n t . sich auf Iphigeniens

Sie s t ü t z e n

Frage:

Wie ist des grossen Stammes letzter Sohn, Das holde Kind, bestimmt, des Vaters Rächer Dereinst zu sein, wie ist Orest dem Tage Des Bluts entgangen? Man k ö n n t e v e r s u c h t sein, „ d e s Vaters R ä c h e r " n i c h t

auf

Klytä-

m n e s t r a , s o n d e r n n u r auf Aegisth zu beziehen, d e r ja in d e r T h a t den T o d e s s t r e i c h

auf A g a m e m n o n

führte.

Dann

fiele

die R a c h e -

pflicht w e n i g s t e n s in Bezug auf K l y t ä m n e s t r a fort, freilich n u r nahen Verwandtschaft wegen.

der

Damit s t ä n d e im E i n k l a n g die Gleich-

gültigkeit, die Iphigenie g e g e n das f e r n e r e Loos i h r e r Mutter zeigt. Sie f r o h l o c k t , da sie h ö r t , d a s s Orest u n d E l e k t r a l e b e n , u n d O r e s t m u s s i h r r a t h e n , i h r Herz zu b ä n d i g e n ,

Iphigenie: Orest: Iphigenie: Orest: Iphigenie: Dies

wäre

Denn unerträglich muss dem Fröhlichen Ein jäher Rückfall in die Schmerzen sein. Du weisst nur, merk' ich, Agamemnons Tod. Hab' ich an dieser Nachricht nicht genug? Du hast des Greuels Hälfte nur erfahren. Was furcht ich noch? Orest, Elektra leben. Und fürchtest Du für Klytämnestren nichts? Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht. erklärlich,

wenn

n a c h Iphigeniens Meinung Orest den

Mord d e s Vaters n u r an Aegisth zu r ä c h e n h ä t t e u n d d e r Muttermord in

g a r nicht in F r a g e k ä m e .

der

allgemein

Aber m u s s n i c h t Iphigenie,

die

griechischen Auffassung der Rachepflicht aufge-

w a c h s e n ist, u n d d e r e n j e t z i g e sittliche A n s c h a u u n g e n sich erst in T a u r i s e n t w i c k e l t h a b e n , m u s s sie nicht wissen, d a s s die B l u t r a c h e a u c h K l y t ä m n e s t r a nicht v e r s c h o n e n k o n n t e , m u s s i h r nicht m i n d e s t e n s nach

Orests W o r t e n ,

dass

sie

des Greuels Hälfte

erst

erfahren

h a b e , diese Möglichkeit deutlich v o r Augen s t e h e n , w e n n U b e r h a u p t Orest n a c h i h r e m G e f ü h l b e s t i m m t w a r , des Vaters R ä c h e r zu s e i n ? Mir

liegt d a h e r eine a n d e r e A u f f a s s u n g n ä h e r .

griechischer Anschauung

b e s t i m m t ist,

Weil Orest

des Vaters R ä c h e r

nach

dereinst

zu sein, d e s h a l b m ü s s e n Aegisth u n d K l y t ä m n e s t r a , die A g a m e m o n tödten,

zu

ihrer

eigenen S i c h e r h e i t

a u c h Orest

dem Vater n a c h -

— Althaus1)

senden.

44



zieht h i e r f ü r mit Recht die f r ü h e r e Fassung

der Stelle h e r a n : „ d e n Mordgesinnten ein a u f k e i m e n d e r gefährlicher Rächer".

Freilich mag man zweifeln,

ob Iphigenie n u r im Sinne

der Mörder u n d der griechischen Sitte spricht, oder ob sie zugleich die

Rachethat

Orests

in

dieser S t u n d e ,

gleich

nach

der

über-

wältigenden K u n d e von Agamemnons E r m o r d u n g , f ü r eine u n v e r meidliche Folge des ererbten F l u c h s ansieht, gesprochen.

Ich möchte glauben,

von dem sie soeben

dass sie in diesem Augenblick

selbst nicht d a r ü b e r klar ist, s o n d e r n zunächst n u r die dringende Gefahr f ü r Orest fürchtet, ohne daran zu denken, ob derselbe jene Bestimmung wird a u s f ü h r e n müssen, Aegisths Augen hat. verloren, rächen,

aber nicht etwa, sondern

die er in Klytämnestras u n d

Iphigenie glaubt freilich Klytämnestra u n r e t t b a r

weil

unerträglich scheint.

ihr

weil Orest bestimmt ist, den Vater zu ein Weiterleben nach solchen

Freveln

Als sie hört, dass die Mutter aus dem L a n d e

der Hoffnung geschieden sei, ist ihr erster Gedanke der an Selbstmord. hat,

Obwohl sie weiss, dass sie des Greuels Hälfte n u r erfahren fürchtet

sie

nichts

für

den

zum Rächer bestimmten Orest,

weil sie ja auf eine S ü h n u n g des Fluches hofft. die Verpflichtung Orests

Dies zeigt,

zur Rache Iphigeniens Gefühl

nicht

dass ent-

spricht, u n d dass sie dieselbe n u r als Beweggrund f ü r Aegisth u n d Klytämnestra, nicht aber auf ihre A u s f ü h r u n g hin ins Auge gefasst hat.

Es

geht ihr auch hier nach den Worten,

die sie später an

Pylades richtet: Ich untersuche nicht, ich fühle nur.

Sie

sieht

deutlich die Gefahr,

die dem „ h o l d e n K i n d e " in Folge

seiner Bestimmung droht, weil sie sich um dasselbe ängstigt, aber weiter zu u n t e r s u c h e n , ob Orest jene Bestimmung auch aufgreifen werde,

liegt ihr zunächst fern,

weil ihr Gefühl nicht zur Rache

drängt. ') Althaus, Der Wissensch. Beilage realschule zu Berlin. durch

den

nestren gilt.

Plural

zweite

und

dritte

zum Jahresbericht

Aufzug von Goethes

Iphigenie.

der Friedrichs-Werderscben

Ober-

Ostern 1896. — Die angeführte Stelle zeigt zugleich „den Mordgesinnten",

dass die Rache auch

Klytäm-

— Dass

in

finden kann,

45



der Gesinnung Iphigeniens die Rache keinen Boden dass nach diesem Maassstabe also auch Orest w e d e r

zur E r m o r d u n g Klytämnestras

noch Aegisths

wäre, lässt sich auch sonst zeigen.

aus a n d e r e m Beweggrunde begangen hätte, der Unglückliche

sein.

verpflichtet gewesen

Selbst wenn Orest den Mord w ü r d e er für sie n u r

Glaubt sie doch nach der Erzählung des

Pylades wirklich, dass der angebliche L a o d a m a s nicht aus Rachepflicht,

sondern

im

Streit

um

Reich

und

Erbe

seinen

Bruder

erschlagen habe, und doch redet sie ihn a n : Unglücklicher, ich löse deine Bande Zum Zeichen eines schmerzlichem Geschicks Noch Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen, Dass ihr verloren seid Unseliger, du bist in gleichem Fall Und fühlst, was er, der arme Flüchtling, leidet!

Auch Klytämnestra und Aegisth erfahren keine Verurtheilung, grässlich ihre That war. Ermordung

wie

Iphigenie lässt sich von Orest Agamemnons

bestätigen: O sage mir, er

fiel,

sein Haus betretend,

Durch seiner Frauen und Aegisthens Tücke? Orest: Iphigenie:

Du sagst's. W e h dir, u n s e l i g e s Mycen! So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch Mit vollen wilden Händen ausgesät Und, gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüttelnd Und tausendfält'gen Samen um sich streuend, Den Kindeskindern nahverwandte Mörder Zur ew'gen Wechselwuth gezeugt!

Also

selbst

diese „ t ü c k i s c h e " That weckt in ihr nicht die Verur-

theilung der Personen, s o n d e r n wird z u r ü c k g e f ü h r t auf den Fluch, den Tantals Enkel

ausgestreut

haben,

und

der n u n gleich

U n k r a u t aufgegangen u n d in Samen geschossen ist. liegt rettet

eine

Verurtheilung

der Klytämnestra

weder Hoffnung weder Furcht",

in den W o r t e n :

sondern

dem

Ebensowenig „sie

die schmerzliche



46



Ueberzeugung, dass hier der Fluch zu tief gewirkt hat, als dass eine Lösung möglich schiene. Aber eine andere Frage erhebt sich hier. Woher kommt Iphigenien, die doch für den des Mutterblutes schuldigen Bruder „hülfreiche Götter vom Olympus rufen" kann, die Ansicht, dass Rettung für die Mutter ausgeschlossen sei? Steht dies nicht im Widerspruch mit Goethes Worten: „ a l l e menschliche Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit"? Der Widerspruch bestände, wenn Iphigenie eine Moralphilosophin wäre, die nach fest ausgearbeitetem Systeme entschiede; er besteht aber nicht, da Iphigenie nicht untersucht, sondern fühlt und daher wohl, wenn es zu handeln gilt, der zarten Stimme ihres Herzens folgt,, aber vorher auch irrt und nach augenblicklichen Gefühlen urtheilt. Man denke an ihr Verhalten zu der List des Pylades. Nur an den Bruder denkend, willigt sie in den Betrug: Meinen Bruder Ergriff das Herz mit einziger Gewalt: Ich horchte nur auf seines Freundes Rath; Nur sie zu retten, drang die Seele vorwärts. Und wie den Klippen einer wüsten Insel Der Schiffer gern den Rücken wendet: so Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt, Dass ich auch Menschen hier verlasse, mich Erinnert. Doppelt wird mir der Betrug Verhasst.

Trotzdem glaubt sie auch jetzt den doppelt gehassten Betrug begehen zu müssen, den die Noth entschuldige. Die zarte Stimme des Herzens wird zwar durch den Sturm der Leidenschaft nicht mehr Uberbraust, aber doch noch in ihrer Wirkung beeinträchtigt. Erst als die That drängt, steigert sich das warnende Gefühl zu siegreicher Macht. Wie hier die Liebe zum Bruder und die Angst, ihn zu verderben, zunächst das Urtheil Iphigeniens trübt, so dort der Abscheu vor dem Gattenmorde, der nicht nur durch Rachegefühl, sondern auch durch Ehebruch veranlasst war. Dieser Umstand, dass zur Schandthat eine böse Lust getrieben, musste in Iphigenien besonders stark wirken. „Wie den Klippen einer wüsten



47



Insel d e r Schiffer gern d e n R ü c k e n w e n d e t " , s o liegt K l y t ä m n e s t r a h i n t e r ihr, u n d die Seele d r i n g t n u r v o r w ä r t s , v o n Orests R e t t u n g zu h ö r e n .

F ä n d e a b e r Iphigenie die Mutter n o c h l e b e n d in G r i e c h e n -

l a n d a n u n d t r ä t e ihr g e g e n ü b e r , schauung,

so w ü r d e sie zweifellos die An-

dass K l y t ä m n e s t r a u n r e t t b a r v e r l o r e n sei, a u f g e b e n u n d

die S ü h n e

d e s väterlichen H a u s e s im S i n n e r e i n e r

a u c h an ihr zu v o l l b r i n g e n Hat a b e r

Menschlichkeit

streben.

die R a c h e k e i n e B e r e c h t i g u n g in d e r sittlichen

An-

s c h a u u n g Goethes, die in Iphigenie i h r e Vertreterin geschaffen h a t , so

muss

sich

dies

auch

in d e r Götterwelt d e s D r a m a s s p i e g e l n .

Z u m a l k a n n Orest die G r e u e l t h a t des M u t t e r m o r d e s n i c h t auf Geheiss o d e r Antrieb

d e r Gottheit

vollbracht

haben.

Ich

h a b e d a h e r im

zweiten A b s c h n i t t gesagt, d a s s Orest eine v e r m e i n t e sittliche Pflicht als

Götterwink

auffasst,

während

die

allgemeine

Ansicht

der

A u s l e g e r — soweit ich s e h e , m a c h t n u r K o b e r s t e i n eine A u s n a h m e , aber

ohne

Apollos

den „ W i n k "

annimmt.

In

zu

der

erwähnen That

hat

— bei

ein

wirkliches

Euripides

Gebot

Apollo

den

M u t t e r m o r d g e b o t e n , u n d d a s s e l b e lässt sich im G o e t h e ' s c h e n D r a m a allenfalls a u s Orests W o r t e n

herleiten:

Mich haben sie zum Schlächter auserkoren, Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter, Und, eine Schandthat schändlich rächend, mich Durch ihren W i n k zu Grund gerichtet. Glaube, Sie haben es auf Tantals Haus gerichtet, Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll Nicht ehrenvoll vergehn. Eine Milderung der a l l g e m e i n e n A u f f a s s u n g des „ W i n k s " Gneisse1) Orakel,

versucht,

sondern

nur

der eine

nicht

ein den

allgemeine

Mutlermord Aufforderung

hat

befehlendes zur

Rache

') Karl Gneisse, Wie wird Orest in Goethes Iphigenie geheilt? — Zeitschr. für den deutschen Unterricht, 11. Jahrg., 1897. Dagegen scheint Matthias (Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie, Düsseldorf, 1887, s. S. 9—12) meine Ansicht zu theilen, spricht sich aber nicht deutlich aus, ja, macht es S. 18 sogar recht zweifelhaft, ob er den „Wink" gleich mir in übertragener Bedeutung auffasst.

— annimmt.

Er

Aegisthos

zu

meint: tödten,

„Die

48



Götter,

würden

mit

die

Orest

den

sittlichen

aufforderten,

den

Anschauungen

Iphigeniens in U e b e r e i n s t i r n m u n g s e i n ; f o r d e r t e n sie a u c h

Klytäm-

n e s t r a s T ö d t u n g d u r c h Orest, so w ü r d e dies in a u f f a l l e n d e m G e g e n satze zu

der

Muttermord Deutung zu.

Ansicht

Iphigeniens

ein s c h w e r e s

und

Vergehen

Orests

sei."

d e r s c h l i m m s t e Anstoss v e r m i e d e n

Aber

Deutungen,

wir

entgehen

wenn

wir

allen in

solchen

dem

Wink

Prägung desselben Gedankens sehen, die W o r t e

stehen,

Dass wird,

doch die

Gneisses

gebe

nur

der

dass

durch

ich g e r n

gezwungenen

sinnlich-anschauliche

d e n P y l a d e s k u r z v o r h e r in

kleidet: o Jüngling, danke du den Göttern, Dass sie so früh d u r c h d i c h so viel gethan.

G e g e n diese W o r t e w e n d e t sich ja Orest, i n d e m er a u s f ü h r t , dass zu solchem Dank n u r Diejenigen V e r a n l a s s u n g h a b e n , d e n e n die Götter i,frohe That bescheren", erkoren" und haben.

d e n sie

n i c h t a b e r er, den sie z u m M ö r d e r „durch

ihren

Wink

zu G r u n d

Dieser W i n k ist also d a s s e l b e , w a s v o r h e r b e s c h e r e n

auserkiesen

hiess.

ist,

a u c h Orests E r z ä h l u n g

ergiebt

Dass d e r W i n k n u r in

diesem S i n n e

vor Iphigenien:

T o d zu r ä c h e n " ,

noch

k l a r e r in d e r P r o s a a u s g a b e :

b e i d e n a u f g e w a c h s e n w a r e n , b r a n n t e i h n e n die Seele, zu r ä c h e n . "

Wem

dies nicht g e n ü g t ,

und

gemeint

„ u n d wie sie

w u c h s e n , w u c h s in i h r e r Seele die b r e n n e n d e Begier,

Tod

„aus-

gerichtet"

des Königs „ u n d da die d e s Königs

weil Orest in diesem

Auftritt die eigne S c h u l d n i c h t d u r c h B e r u f u n g

auf das

göttliche

Gebot s c h m ä l e r n , s o n d e r n sie ganz auf sich n e h m e n wolle, da a u c h o h n e b e s o n d r e n Befehl Sitte u n d

e i g e n e Begier ihn zu j e n e r

That

g e f ü h r t h a b e n w ü r d e n , m a c h t d a m i t das Eingreifen des Gottes ganz überflüssig u n d

kann

zudem jenen

Grund

nicht f ü r P y l a d e s

an-

f ü h r e n , d e r Orest im ersten A u f z u g auf alle Weise zu t r ö s t e n s u c h t , und

dem

es h i e r b e i z u n ä c h s t g e l e g e n

hätte,

auf Apollo zu

ver-

weisen, w e n n dieser die Rache an K l y t ä m n e s t r a — d e u t l i c h o d e r doch in dieser Weise d e u t b a r — fehlt d e r „ W i n k " .

befohlen

hätte.

In d e r

Prosaausgabe

Hätte Goethe bei d e r U m a r b e i t u n g d a s Orakel

einzufügen beabsichtigt,

so

hätte

er w o h l einen e i n d e u t i g e n

Aus-

druck gewählt, sein,

a n d r e r Stellen,

übertragener



um diese Aenderung h e r v o r z u h e b e n ,

man freilich nicht sähe. zu

49

deren Zweck

Bedarf aber Jemand, um ganz überzeugt in denen

das Wort

Bedeutung g e b r a u c h t ist,

so

„ W i n k " ähnlich in

erinnere

ich

an zwei

Stellen im T a s s o : Ach, dass wir doch, dem reinen, stillen W i n k Des Herzens nachzugehn, so sehr verlernen! G a n z l e i s e s p r i c h t e i n G o t t in u n s r e r B r u s t , Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, Was zu ergreifen ist, und was zu fliehn (III, 2) u n d die a n d r e : Und hob mein Geist sich da zu schnell empor, Und liess ich allzu rasch in meinem Busen Der Flamme Luft, die mich nun selbst verzehrt, So kann mich's nicht gereun, und wäre selbst Auf ewig das Geschick des Lebens hin. Ich widmete mich ihr, und folgte froh Dem W i n k e , der mich ins Verderben rief (IV, 1). Ferner gehört hieher aus der Iphigenie das Wort des Pylades: Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand Der Noth gebietet, und ihr ernster W i n k Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht Des ew'gen Schicksal unberathne Schwester. Was sie dir auferlegt, das trage; thu, Was sie gebeut (IV, 4). Noch Uberzeugender sind folgende W o r t e des T h o a s : Die Göttin übergab dich meinen Händen; Wie du ihr heilig warst, so warst du's mir. Auch sei ihr W i n k noch künftig mein Gesetz: Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst, So Sprech' ich dich von aller Fordrung los (I, 3). Vielleicht w ä r e auch das ähnliche Bild des Fingerzeigs der anzuführen: Iphigenie: Ich hab' es in der Götter Hand gelegt. Arkas: Sie pflegen Menschen menschlich zu erretten. Iphigenie: Auf ihren Fingerzeig kommt Alles an (IV, 2). Laehr, Heilung- des Orest. 4

Götter

— Ich

habe

meine

50



Abweichung

fassung s o ausführlich begründet,

von

der

herkömmlichen

weil Götter,

Auf-

die zu Rache und

Muttermord auffordern, mir nicht in das Drama zu gehören scheinen, dem Goethe sein Glauben und Hoffen anvertraut hat 1 ).

Dagegen

ist Alles im schönsten Einklang, w e n n Orest die hergebrachte Sitte, die

Beistimmung

des Freundes

und

die

eigenen Seele als Götterwink betrachtet.

brennende

Begier

der

Was sonst von göttlichem

Walten berichtet wird, stimmt mit Iphigeniens Auffassung überein. Wohl

richten

die Götter

streng

das

menschliche

Vergehen

des

Tantalus, wie die Sage es verlangt, aber ungerecht ist ihr Spruch nicht, und wenn Iphigenie mildernd

hinzusetzt:

D i c h t e r s i n g e n : Uebermuth ü n d Untreu stürzten ihn von Jovis Tisch Zur Schmach des alten Tartarus hinab, s o soll damit zunächst zwar das Vergehen des Tantalus vor s a g e n haften Uebertreibungen in Schutz g e n o m m e n werden, zugleich aber legt sich

doch

auch

um den Sturz

in die Schmach

Tartarus die lindernde Hülle dichterischer Anschauung.

des

alten

Die Prosa-

Wie das Gefühl davon, dass die herrschende Auffassung unmöglich richtig sein könne, zu gewaltsamen Deutungen jenes „Winks" getrieben hat, zeigt anschaulich der Aufsatz von Fr. Fraedrich: „Hat Goethes Orest die Ermordung des Vaters auf besondren göttlichen Befehl an der Mutter gerächt?" Ztschr. f. d. deutschen Unterricht, 11. Jahrg. 1897. Fraedrich hält den „Wink" für den Orakelspruch, der dem von Rachegeistern Verfolgten Hülfe und Rettung auf Tauris versprochen hat, ihm jedoch daselbst den Tod zu bringen scheint. Aber Orest sehnt sich ja nach dem Tode und klagt die Götter weniger deshalb an, weil er „vergehn soll", als weil er n i c h t s c h u l d l o s , n i c h t e h r e n v o l l vergehn soll. Seit seiner Mordthat ist er nicht mehr schuldlos und ehrenvoll. Zu Grunde gerichtet ist er, seit ihm „eine Götterhand das Herz zusammendrückt, den Sinn betäubt", seit der Schwindel „auf dem schlüpfrigen, mit Mutterblut besprengten Pfade fort ihn zu den Todten reisst". Dagegen wird es ihm leicht, „dem schönen Licht der Sonne zu entsagen", da alle Noth mit seinem Leben völlig enden soll, und er findet es besser, hier vor dem Altar zu sterben, „als im verworfnen Winkel, wo die Netze der nahverwandte Meuchelmörder stellt." Die Fahrt nach Tauris kann nicht ihn zu Grunde richten, sondern höchstens Pylades.



51



a u s g e b e s a g t : „Menschlich w a r sein V e r g e h e n , s t r e n g ihr G e r i c h t ; und ihre Priester sagen:

U e b e r m u t h u n d U n t r e u s t ü r z t e n ihn von

Jovis Tisch z u r S c h m a c h des T a r t a r u s " .

Dies klingt,

Götter von i h r e n P r i e s t e r n vor Vorwurf

gewahrt werden

als w e n n

die

müssten.

Die A e n d e r u n g meidet sorglich d e n Schein göttlicher U n g e r e c h t i g k e i t u n d Härte.

W e n n d a n n f e r n e r das g a n z e G e s c h l e c h t den Hass d e r

Götter t r ä g t , und

so

zeigt sich dieser Hass

dem

daraus

entspringenden

mittelbar

greifen

die

Götter

nur

Schicksal

ein.

Diana

fordert

durch

doch

Geschick

n u r in

der Anlage

der Tantaliden.

zweimal

in

Kalchas'

das

Un-

menschliche

Mund

des

Königs

älteste T o c h t e r u n d e n t f ü h r t diese d a n n in einer W o l k e , so dass die F o r d e r u n g des Kindesopfers Tantalidengeschlechts

d u r c h sein O r a k e l ein, nach

Griechenland

Parzenliedes

n u r d a z u dient,

vorzubereiten.

Und

d a s den O r e s t

bringen

heisst.

die E n t s ü h n u n g

zweitens

greift

die S c h w e s t e r

Damit

ist

die

des

Apollo

von T a u r i s

Meinung

des

widerlegt: Es wenden die Herrscher Ihr segnendes Auge Yon ganzen Geschlechtern.

Das Gegentheil erweist sich als r i c h t i g : w o m e n s c h l i c h e G e b r e c h e n Fluch

verbreiteten,

da

führen

die Götter R e t t u n g h e r b e i .

Orest

s p r i c h t diese E r k e n n t n i s s so a u s : Schön und herrlich zeigt sich mir Der Göttin Rath. Gleich einem heil'gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist, Nahm sie dich weg, die Schützerin des Hauses, Bewahrte dich in einer heil'gen Stille Zum Segen deines Bruders und der Deinen. Da alle Rettung auf der weiten Erde Verloren schien, giebst da uns Alles wieder. W a r u m a b e r Hess die Gottheit, w e n n sie die Macht h a t t e zu helfen, all die Greuel in T a n t a l s H a u s e zu, o h n e f r ü h e r e i n z u g r e i f e n ?

Ist

es ein Gebot d e r N o t h w e n d i g k e i t , d e r e n W i n k e n a c h P y l a d e s Götter selbst sich u n t e r w e r f e n m ü s s e n ,

dass das V e r g e h e n des A h n h e r r n

erst in d e n N a c h k o m m e n die s c h l i m m s t e n F r e v e l n a c h sich 4*

ziehen

— muss,

ehe

52

eine A b s c h w S c h u n g

des Erbfehlers und

Möglichkeit d e r S ü h n u n g e i n t r i t t ? das Drama

zu

weiterhin

W i r wissen es nicht, u n d

will diese F r a g e n i c h t lösen.

t r a u e n giebt Iphigenie, rechte



Aber in g l ä u b i g e m

den Göttern b e t e n d ,

auch

hierauf

die auch Verdie

Antwort: Ihr allein wisst, was uns frommen kann, Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich, Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhülle Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung Euch kindisch bittet; aber eure Hand Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte, Und wehe dem, der, ungeduldig sie Ertrotzend, saure Speise sich zum Tod Geniesst.

So e n t s p r i c h t Iphigeniens A n s c h a u u n g v o m W a l t e n d e r Götter d u r c h a u s i h r e r r e i n e r e n Sittlichkeit. ander

greift,

zeigt

freilich n u r k u r z ,

sich zu

darin,

wanken

droht,

dein s c h w e r e n sittlichen Conflict wie u m g e k e h r t

U n d wie s e h r Beides in ein-

dass ihr findet,

Vertrauen

d e r i h r e Seele

in Orest die A u f f a s s u n g ,

Tantals H a u s g e r i c h t e t h a b e n ,

der

war

Gottheit,

dass

aus

erschüttert,

die Götter

besseren Erkenntniss

Güte weicht, als er sich vom F l u c h e b e f r e i t fühlt. in die Götter

zur

als sie k e i n e n A u s w e g es

auf

göttlicher

Das Misstrauen

die Folge m e n s c h l i c h e n G e b r e c h e n s ;

die r e i n e

Menschlichkeit schliesst liebendes V e r t r a u e n z u r göttlichen L e n k u n g ein, u n d dies l i e b e n d e V e r t r a u e n w i r d d u r c h den G a n g d e r H a n d l u n g im D r a m a gerechtfertigt. V. Hier

knüpft

gleichsam

von

selbst

die

u n s e r Drama christliche Z ü g e a u f w e i s e , ob Orests u n d d i e E n t s ü h n u n g des

Frage

an,

inwieweit

n a m e n t l i c h die Heilung

Tantalidenhauses

auf

christlichen

Anschauungen fusse. „Die religiösen Z ü g e u n s e r e r Dichtung lassen sich auf

einen

G r u n d z u g z u r ü c k f ü h r e n , a u s d e m sie s t a m m e n , u n d d e r d a s j e n i g e E l e m e n t d e r s e l b e n a u s m a c h t , w e l c h e s m a n wohl ihren

christlichen

— Charakter

genannt hat."

53

— F i s c h e r 1 ) und

So sagt K u n o

j e n e n G r u n d z u g in dem „ s t e l l v e r t r e t e n d e n L e i d e n " .

findet

W i e er diesen

A u s d r u c k v e r s i e h t , lasse ich mit seinen W o r t e n f o l g e n : „ I n j e d e m , d e r eine wirkliche, e r n s t h a f t e L ä u t e r u n g

in sich erlebt, ist es d e r

s c h o n g e b e s s e r t e u n d n e u e Mensch, d e r das S c h u l d g e f ü h l t r ä g t u n d leidet f ü r d e n alten, noch u n g e b e s s e r t e n u n d s c h u l d i g e n : statt seiner oder

an s e i n e r Stelle.

Seele,

die k e i n e

eigene S c h u l d

Derer,

welche

sie

S c h u l d entlasten möchte.

liebt,

und

hat,

von

fühlt u n d

ihrem

zu e i n e m

W e n n die a n d e r e n ,

er leidet

Eine völlig l a u t e r e u n d Elende

neuen

leidet

befreien,

von

g e l ä u t e r t e n Leben

die sie liebt,

reine

die S c h u l d ihrer führen

die g a n z e Menschheit

sind, s o b e s t e h t in diesem s t e l l v e r t r e t e n d e n u n d e r l ö s e n d e n Leiden die

Christusthat." Dass

hier

unter

Christusthat

L e i d e n e t w a s ganz A n d e r e s

und

verstanden

unter

stellvertretendem

w i r d , als was j e n e

sonst bezeichnen,

befremdet zwar anfangs,

kann

aber

führen.

sagt ja

damit

meint.

Fischer

genau,

was e r

spruch aber muss zunächst hervorrufen, Leiden

in

diesem

Sinne

eine

einmal d a s k a n n ich z u g e b e n , selbst alle

schuldlos, die

Anderen

Entsühnung sei.

Denn

des hierzu

das

schuldbeladene berufen

gehört vor

nicht

soll.

deshalb, liebt

auch

Nicht

weil sie, und

und leidet",

und

sich

dazu

dass sie im V e r t r a u e n hält.

auch

keine

hiervon

abgesehen

ist

d a s Leiden

sondern nur die

den Wunsch

Entsühnung

des

nach Erlösung

Geschlechts

D r a m a d e u t l i c h : auf I p h i g e n i e n s

Iphigeniens es k a n n

nicht ist,

auf That,

erlösen, Worauf

zeigt

das

Seite ist v o r Allem Reinheit, Be-

s o n n e n h e i t , V e r t r a u e n auf die göttliche L e n k u n g ,

Zuversicht,

d e r F l u c h sich lösen k a n n ,

aber

und

zur

Aber

hervorbringen.

zurückzuführen

„für

berufen

die G n a d e d e r Gottheit die E n t s ü h n u n g f ü r m ö g l i c h s o n d e r n k a n n diese h ö c h s t e n s v e r a n l a s s e n ;

irre

Wider-

stellvertretende

sein

Geschlecht trägt

fühle

Allem,

das

That

dass Iphigenie

das Schuldgefühl Hauses

dass

erlösende

Worte

Liebe w i r k s a m ,

auch

dass diese

') Goethes Iphigenie, Festvortrag von Kuno Fischer. 3. Aufl. Heidelberg 1900. S. 45.

-

54



e r l a n g e n i h r e K r a f t bei d e r H e i l u n g Orests erst d a d u r c h , das d e r s e l b e i h r e T r ä g e r i n als seine S c h w e s t e r F e r n e r a b e r ist I p h i g e n i e n s

erkennt.

Leiden

g a r nicht

stellvertretend,

w e n n wir u n s a n K. F i s c h e r s E r k l ä r u n g h a l t e n .

W e n i g s t e n s gilt

diese S t e l l v e r t r e t u n g g e r a d e f ü r O r e s t nicht, dessen „ E r l ö s u n g " sie doch e r m ö g l i c h e n an

seiner

Fluche

des

sollte.

Stelle.

Er

I p h i g e n i e leidet nicht s t a t t Orests

leidet

unter

Tantalidengeschlechts

seiner

viel

That

stärker,

und weil

oder

unter

dein

hoffnungslos,

u n d z w a r l a n g e Zeit, b e v o r er Iphigenien erblickt, j a e r h a t u n t e r d e m F l u c h e s c h w e r gelitten s c h o n s c h a f t mit P y l a d e s ihn Leiden

I p h i g e n i e n s um

ereilt hat, hilft ihm

als Knabe,

bevor

andren Gefühlen zugänglich

die

Freund-

machte.

Das

den F l u c h d e s Geschlechts, d e r a u c h ihn der Theilnahme

der

völlig l a u t e r e n u n d reinen Seele b e r ü h r t wird, die Möglichkeit

der

Entsühnung

wird

nichts; ihm

so s e h r

durch

ihr

er von

Leiden

nicht

nähergebracht.

W i c h t i g e r als i h r Leid ist i h r e F r e u d e ü b e r den

wiedergefundenen

B r u d e r , den sie e b e n n i c h t als einen Verlorenen

a n s i e h t , f ü r den

sie im Gegentheil h ü l f i e i c h e G ö t t e r v o m O l y m p u s r u f e n k a n n .

Dass

sein K o m m e n d e r S c h w e s t e r den „ A u g e n b l i c k der h ö c h s t e n F r e u d e " bereitet, d a s s sie n i c h t mit i h m im tiefsten Leiden erliegt, in W o n n e ü b e r viel s t ä r k e r

den Ersehnten

nach.

auljubelt,

Liebe zu d e r R e i n e n , Mulhigen, in

l i c h e r Liebe den G e q u ä l t e n

Umfassenden

sondern

hallt in s e i n e m r e g t sich

Innern

schwester-

in ihm,

wenn

e r a u c h selbst n o c h an solcher L i e b e f ä h i g k e i t z w e i f e l t : Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester. Und e r s c h e i n t z u n ä c h s t die G e f a h r , dass diese g e l i e b t e S c h w e s t e r , selbst

schuldlos,

durch

den

Fluch

des

Geschlechts z u m

Bruder-

m o r d g e z w u n g e n w e r d e , ihm u n a b w e n d b a r , so ist doch d e r G r u n d gelegt

zur

j e n e Liebe

Abkehr und

der

von

der Vorstellung

Drang, der

des

Geschlechlsfluches:

Geliebten zu

helfen, w e r d e n die

T h a t k r a f t w e c k e n , wie einst die F r e u n d s c h a f t es b e w i r k t e , dass d e r Knabe,

vergessend

Jugend hingerissen

seiner

Noth,

schwärmte.

mit

dem

Freunde

in

rascher



55



Aber ist auch Iphigeniens Leid um kein

„stellvertretendes",

und

ist

P u n k t , von dem die Einwirkung

es

den Fluch ihres

auch nicht der

auf Orest ausgeht, so bleibt so

viel doch unbestritten, dass es vorhanden des Dramas wesentlich ist.

und

f ü r die

aber

es

spielt

Uberall

Handlung

Es ist nirgends der einzige oder auch

nur der hauptsächlichste B e w e g g r u n d f ü r Iphigeniens t r e i b e n d e Kraft n u r

Hauses

springende

mit

hinein.

dadurch,

Freilich

dass mit

ihm

Handlungen,

erlangt

es

diese

ein Hoffen auf

Ab-

w e n d u n g des Fluchs v e r b u n d e n ist, ein Hoffen, das gestärkt wird durch

das Wiederfinden

Heilung.

des

Bruders

Und deshalb möchte ich

und

dann

durch

auch nicht, wie K.

dessen

Fischer,

jenes Leiden, s o n d e r n vielmehr diese erst leise, dann stärker a n schwellende Hoffnung, die sich zuletzt zur Zuversicht erhebt,

als

das Bedeutungsvollere und f ü r die E n t s ü h n u n g Wichtigere betonen. Sie ist auf das Innigste v e r b u n d e n mit dem Glauben

an

göttliche

Macht u n d Gnade, deren Wohlthat Iphigenie im eigenen Leben e r der

Göttin,

s o n d e r n auch das, was ihr dies Leben jetzt erst werthvoll

fahren hat.

Denn

nicht

nur

ihr

Leben

dankt

sie

macht,

das reine Herz und die reine Hand, die allein „ d i e schwer befleckte W o h n u n g zu e n t s ü h n e n "

vermögen.

Will man also mit K. F i s c h e r die E n t s ü h n u n g des Tantalidenh a u s e s durch Iphigenien und Christus

zusammenhalten,

Punkte

finden.

Der

die Erlösung der Menschheit

so kann m a n

durch

auf das ganze Geschlecht

den

Fehltritt

das

Vergehen

durch

gemeinsame

des

herabgezogene

n ä c h s t unter den N a c h k o m m e n Schlechtigkeit

folgende

Ahnherrn

Fluch, der

zu F r e v e l n

des A h n h e r r n

zu-

f ü h r t , die an weit

hinter

sich l a s s e n , w i r d g e t i l g t d u r c h ein Glied d e s G e s c h l e c h t s , welches

auf

wund e r b a r e Weise

sich

Verhältnisses zur Gottheit bewusst Gott

zugewandtem

zeugung

von

der

Sinn

die ihm

Möglichkeit

den Seinen übermittelt.

eines

wird

besonderen

u n d in

innewohnende

der

Tilgung

des

reinem, UeberFluches

D i e s e M ö g l i c h k e i t l i e g t in e i n e r

inneren Umwandlung

der Fluchbetroffenen, welche durch

die E i n w i r k u n g

entsühnenden

der

Persönlichkeit

ver-

— anlasst liches

wird und

und

in

der

religiöses

auf die A n d r e n

56



Richtung

Leben

von

verläuft, jener

dass

sitt-

Persönlichkeit

Ubergeht.

Ich h a b e diesen Vergleich d u r c h g e f ü h r t , nicht weil ich meinte, dass Goethe eine solche Anlehnung beabsichtigt h a b e , s o n d e r n weil ich allerdings glaube, dass hier eine, wenn auch unbewusste, Einwirkung

christlicher

s ü h n u n g eines Geschlechts

Anschauungen stattgefunden

fluchbeladenen

war

Geschlechts durch

der Vorwurf

seiner

hat.

Dichtung.

ganz n a t ü r l i c h , w e n n die Art der E n t s ü h n u n g

Die

Ist es sich

dieses

da

ihm

Das besondere Verhältniss Iphigeniens zur Gottheit h a t Iphigenien

gerettet und

zu

ihrer

nicht

ähnlich

der Auffassung gestaltete, die das Christenthum ausgebildet Diana

Ent-

ein Glied

hatte?

bot die S a g e :

Priesterin

gemacht.

Darauf g r ü n d e t Goethe ihre sittliche und religiöse Entwicklung zu innerlichem

Priesterthum.1)

Das eigene Leid wendet Iphigeniens

Seele auf den Fluch des Geschlechts, aber nicht in d e r trostlosen Weise, wie dies bei Orest geschieht, s o n d e r n in Hoffnung auf Ents ü h n u n g , entsprechend der persönlichen L e b e n s e r f a h r u n g göttlicher Güte.

Dass sie zu dieser E n t s ü h n u n g berufen sei, wird

Die Bedeutung des Opfers in Aulis der W i r k u n g auf Iphigenie,

zunächst

liegt also für mich nur

nicht etwa darin,

dass diese,

in

als ganz reine

Persönlichkeit, damals sündenfrei ihr Leben für Andre gleichsam hingegeben habe.

Bielschowsky meint:

opfern, dieses Aulis,

Sterben

das andere Mal

„Bei Iphigenie

zweimal durch

erfolgt, das

war symbolisch

dieses

Hin-

das eine Mal am Opferaltar

Verbanntsein

in

Tauris.

Und

in

ohne

Murren, in freier Liebe und in vollkommenem Gehorsam g e g e n den Rathschluss der Götter hatte sie das Opfer gebracht.

Dadurch war

sie

nicht

bloss selbst geheiligt, sondern auch fähig geworden, Andere, die sich von ihrer Heiligkeit

innerlich

berühren

Hessen,

zu

nicht Goethes Ansicht war, ergiebt sich daraus,

entsühnen."

Dass

dies

das in seinem Drama gar

nichs davon steht, ob Iphigenie ohne Murren, in freier Liebe und in vollkommenem Gehorsam g e g e n A u l i s gebracht hat. des Euripides.

den

Rathschluss

der Götter

das

Das weiss Bielschowsky aus der Iphigenie

Opfer in

in

Aulis

Gewiss trauen wir es auch der Goetheschen Iphigenie zu.

Aber Goethe hätte

es sicher hervorgehoben,

wenn er darauf

Befähigung zur Entsühnung begründet glaubte.

Iphigeniens



57



Iphigeniens stille Hoffnung, dass diese E n t s ü h n u n g n u r mit reiner Hand

und

reinem

Ueberzeugung. füllung ihres

Herzen vollbracht werden k a n n ,

In Orests Kommen Höffens.

Wie

ihre

lautere

sieht sie den Anfang der Er-

die Erfüllung weiter v o r sich

gehen

werde, sucht sie nicht zu e r g r ü n d e n , denn die Götter wissen allein, was

uns f r o m m e n mag, und s c h a u e n

Reich. legt

Aber gerade d a d u r c h , dass

und

sondern Weise

ihren nur

natürlichen

fühlt,

wirkt

auf Orest und

der Z u k u n f t

sie dies

Regungen

sie

in von

übermittelt

folgt, ihr

ihm

ausgedehntes

in der Götter Hand nicht

untersucht,

selbst nicht

geahnter

die Anschauung,

nicht verloren, s o n d e r n zu Aller Rettung berufen

dass er

sei.

Die Auf-

fassung der Lage ü b e r n i m m t sie dann von Pylades, a b e r bald sagt ihr das innere Gefühl, dass der empfohlene Weg ein Irrweg sei. Unfähig, dies Gefühl mit G r ü n d e n

zu verlheidigen,

zuletzt doch zum Rechten d u r c h .

Was aber giebt i h r e r Scheu vor

ringt sie sich

Lüge und U n d a n k b a r k e i t im entscheidenden Augenblick die siegende Macht? Das Bewusstsein,

n u r mit reinem Herzen u n d mit reiner

Hand ihr Haus entsühnen zu können, und

das Vertrauen auf die

Götter, welche die Wahrheit verherrlichen w e r d e n , lassen sie Unmögliche wagen.

Indem sie a u c h jetzt,

ohne zu

ihrem reinen Gefühl folgt, rettet sie nicht n u r sich der Götter in ihrer Seele, s o n d e r n

das

untersuchen, und das Bild

bewirkt weiter, dass

sittliches

und religiöses Leben von ihr auf Andre übergeht. Nach ganz a n d e r e r Richtung als K. thias

in

der

oben

angeführten

W e l t a n s c h a u u n g in unserem

Drama.

in der Darstellung des Orest. horchend,

aber

mit

') D a g e g e n

Dass

fragt K. Heinemann

dass Orest seine That bereut?

Fischer

verfolgt M a t -

die S p u r e n findet sie

dieser,

die Möglichkeit

„Wo steht in dem

Blutrachc zu seiner That

Er

tiefem Widerwillen

seine u n b e d i n g t e R e u e 1 )

Jahrbuch 1899):

Schrift

die

zwar

christlicher

hauptsächlich der

Mutter

Sitte

tödtet,

der Versöhnung

(Die Heilung des Orest.

Drama auch

nur

gedass

bietet,

Goethe-

ein Wort

davon,

W i e sollte er auch, da ihn das Gesetz der

verpflichtete....

den Tod wünscht er sich,

nicht

weil er bereut, sondern weil er eine so furchtbare That hat begehen müssen,"

— dass sein reuiges

freies, auf k l a r e r Bekenntniss

die

58



Erkenntniss

Heilung

des

einleitet,

Frevels

beruhendes

erinnere

vielfach

christliche G l a u b e n s l e h r e u n d christliches G l a u b e n s l e b e n . Heilung selbst Seelenlebens

sei d e r

geheimnissvolle V o r g a n g

dargestellt, „ d e n

w i r in

m i t dem N a m e n „ G n a d e n w i r k u n g " „Durch

Zuhiilfenahme

der

Lehre

im

der Sprache

zu bezeichnen von

der

an

In Orests

Bereich des

des

Glaubens

gewohnt

sind".

Gnadenwirkung

allein

k ö n n e n wir e i n i g e r m a s s e n v e r s t e h e n u n d n a c h e m p f i n d e n , wie Orest frei wird von bringender

dem

gedrückten

Satzungen,

der Rechtfertigung.

Dieses G e f ü h l d e r

halb schlummert beim Erwachen gebracht durch das

Zustande

unter

dem Joche

u n d wie e r versetzt wird in des

den

Rechtfertigung,

Orest, w i r d

zum

fluch-

Zustand d a s noch Erwachen

Gebet d e r I p h i g e n i e (III, 3), w e l c h e mit P y -

lades z u s a m m e n zu d e m vom S c h l u m m e r

erwachenden

in d e r T r a u m v i s i o n b e f a n g e n e n B r u d e r t r i t t . "

und

noch

M a t t h i a s vergleicht

Heinemann beachtet nicht, dass Orest zwar durch das Gesetz der Blutrache sich zur That verpflichtet glaubte, dass er aber diesem Gesetz nicht als einem sittlichen Zwange folgte, sondern es leidenschaftlich aufgriff. Der Frevel gegen die Natur erschien ihm gesetzlich geboten, aber zugleich trieb ihn „die brennende Begier, des Königs Tod zu rächen", und sie wuchs wohl nicht zum Wenigsten aus der Lust zu grossen Thaten, denn als solche konnte die Rache um so leichter erscheinen, je mehr das natürliche Gefühl widerstrebte. Daher nicht nur der Zweifel, ob er recht gethan, sondern auch die Reue darüber, dass er gegen das natürliche Gefühl gehandelt. Diese Reue klingt aus seinem Bekenntniss vor Iphigenien deutlich heraus, und wenn im vorhergehenden Gespräche mit Pylades stärker die Vorstellung betont wird, von den Göttern zur That erkoren zu sein, so schliesst dies das Gefühl der Reue nicht aus, weil der „Wink" ihm nicht nur von aussen, sondern auch von innen gekommen war und das Bestimmende in seiner eigenen Brust gelegen hatte. Seitdem hat eigene Erfahrung ihn das natürliche Verhältniss zur Mutter anders würdigen gelehrt, und wenn er sich selbst auch die Frage nicht vorlegt, so würde er, in die damalige Lage, aber mit der jetzigen besseren Erkenntniss versetzt, den Ruf zu einer That, die er so gern ins klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht verbergen möchte, kaum als Götterwink deuten. Treibt die innere Wirkung des Erbfluches nicht zur Frevelthat, so ist die äussere erfolglos, weil der schwache Punkt fehlt, an dem sie den Hebel einsetzen kann.



59



den Zustand des Goelheschen Orest nach der T h a t 1 ) dem Sein des w i e d e r g e b o r e n e n Menschen, der zum Ebenbilde Gottes e r n e u e r t ist, und der von der Knechtschaft u n t e r der S ü n d e hiniibergeht in die Freiheit d e r Kinder Gottes (Röm. 6, 1 5 — 2 3 ) . In diesen A u s f ü h r u n g e n liegt gewiss vieles Richtige, wenn ich auch gegen Einzelnes Widerspruch erheben möchte. Vor Allem gegen die Ans c h a u u n g , als könnten solche Ausblicke in die christliche Glaubenslehre u n s Manches verständlicher machen, was auf den ersten Blick bei Goethe dunkel erscheint. Zwar meint M a t t h i a s , dass die U m w a n d l u n g im Innern des Orest uns in a l l e n ihren Einzelheiten ein unerforschliches Geheimniss bleibt, aber kann er sie v e r s t ä n d licher m a c h e n durch Hinweis auf ein doch mindestens ebenso u n erforschliches Geheimniss? Sollte wirklich die christliche Lehre von der W i e d e r g e b u r t Goethe bei der Heilung des Orest vorgeschwebt h a b e n , so hat er eben gezeigt, wie ihm eine E r n e u e r u n g des Menschen o h n e Z u h ü l f e n a h m e aussermenschlicher Kräfte möglich erschien. Er hätte das Geheimniss der W i e d e r g e b u r t unserem Verständniss n ä h e r gerückt, indem er es in einem Einzelfall auf rein menschliche und daher u n s b e k a n n t e r e Kräfte z u r ü c k f ü h r t e , und wir würden an den Spruch der zahmen Xenien e r i n n e r t : W a s war' ein Gott, der nur von aussen stiesse, Im Kreis das All am Finger laufen l i e s s e ! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So dass, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.

Zu

gleichem

Ergebniss

die M a t t h i a s erwähnt.

führt

u n s eine Aeusserung Goethes,

Dieser f ü h r t nämlich an, das Goethe gerade

in der Zeit zwischen der Entstehung der Iphigenie und ihrer Umarbeitung

in Verse

c h r i s t e n " bezeichnete,

sich Lavater g e g e n ü b e r als „decidirten Nichtlässt sich aber d a d u r c h ,

') S. 34 der Matthias'schen Schrift. der Heilung".

Denn wenn auch die Reue

gewiss mit Recht,

Ich würde lieber sagen nach

der That begonnen

„nach hat,

als „wiedergeboren" kann man Orest doch erst nach der Heilung ansehen, als er das Vertrauen auf die Gnade der Götter wiedergefunden hat.



nicht

abhalten,

60

zu u n t e r s u c h e n ,



wie weit

christliche

Denk- und

Gefühlsart, j a selbst christliche L e h r e auf u n s e r Drama eingewirkt hat.

Aber

ich

möchte den möglichen Umkreis j e n e r Wirkungen

bestimmter fassen.

In jenem Briefe an Lavater vom 29. Juli 1 7 8 2

sagt Goethe von sich, christ, also

aber

doch

dass er „ z w a r kein Widerchrist,

ein

decidirter Nichtchrist" sei.

dem Christenthum

christ"),

er

ist

sogar

nicht von

feindlich gegenüber christlicher

kein Un-

Er stellt sich („kein

Wider-

erfüllt

(„kein

Gesittung

U n c h r i s t " ) , aber er lehnt trotzdem entschieden die christliche Lehre ab.

A n d e r s sind die W o r t e wohl nicht zu verstehen.

am Christenthum

abstiess,

desselben J a h r e s a u s 1 ) :

spricht

er

im

Briefe

Was Goethe

vom

9. August

„Du hältst das Evangelium, wie es steht,

f ü r die göttlichste Wahrheit, m i c h w ü r d e eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, Feuer

löscht,

Todter

dass

dass das Wasser b r e n n t und das

ein Weib

aufersteht,

vielmehr

ohne Mann gebiert, halte

ich

dieses

u n d dass ein

für

Lästerungen

gegen den grossen Gott und seine Offenbarung in der Natur. findest

nichts schöner als das Evangelium,

Du

ich finde tausend ge-

schriebene Blätter aller u n d n e u e r von Gott begnadigter Menschen eben

so schön,

und

Und so w e i t e r ! "

Er

der Menschheit nützlich u n d betrachtet

also

unentbehrlich.

die biblischen Schriften als

menschliche Erzeugnisse und lehnt den Glauben an W u n d e r ab als Lästerung Natur.

gegen

den grossen Gott und seine Offenbarung in der

Hieraus folgt, wie mir scheint, dass auch in der Iphigenie

j e d e s W u n d e r , jedes Eingreifen einer übernatürlichen Macht in die seelischen Vorgänge ausgeschlossen ist, und dass f ü r Orests Heilung nicht ein geheimnissvoller Act göttlicher Gnade, eine „ u n m i t t e l b a r e Einwirkung Gottes

auf die Seele des Menschen" in Anspruch ge-

n o m m e n werden darf.

Nur mit rein menschlichen Vorgängen u n d

Einflüssen haben wir es zu t h u n .

Und hier k o m m e n wir auf den

Grundunterschied zwischen der christlichen Lehre und der Humanitätsanschauung.

Dort

hier G e b r e c h e n

heissen und

die

reine

Gegensätze S ü n d e Menschlichkeit.

und

Dort

Gnade, kann

') H. F u n c k , Goethe um! Lavater, Weimar, 1901, S. 211 f.

die

-

61



Rettung n u r von aussen k o m m e n , sei es in der einmaligen Christusthat,

sei

besinnt

es

im

fortlaufenden Wirken

sich gleichsam

Bestimmung, veranlassen,

und

die Mächte,

stammen

des heiligen Geistes,

hier

die Seele der ihr eingeborenen Kraft und die sie zu dieser

Selbstbesinnung

aus der Menschheit selbst.

W e n n wir den

oben angefühl ten Spruch d e r zahmen Xenien a n w e n d e n , so lautet dieser U n t e r s c h i e d :

dort

stösst Gott

von aussen,

hier bewegt er

von innen. Doch auch wenn wir hiervon absehen, besteht ein erheblicher Unterschied zwischen der W i e d e r g e b u r t nach christlicher Lehre und der Heilung des Orest. und

Dort ist die Erleuchtung ü b e r unsere S ü n d e

ü b e r die Gnade Gottes das Umstimmende.

Der

Erleuchtung

ü b e r die S ü n d e entspricht Orests Seelenzustand, als er sein S c h u l d bekenntniss

vor Iphigenien

ablegt:

Anerkennung

seines

Frevels,

tiefe R e u e u n d Verlangen nach Befreiung von der Schuld ist gewiss in ihm v o r h a n d e n . über

Aber n u n schliesst sich nicht die Erleuchtung

die göttliche Gnade an,

dieselbe:

das Bewusstsein

s o n d e r n die Heilung geschieht ohne

göttlicher Gnade

ist

nicht der Grund,

s o n d e r n die Frucht seiner U m w a n d l u n g . Gewiss Hindernisse

können

wir

mit

einiger Gewaltsamkeit

des Vergleichs w e g r ü c k e n .

noch

einige

Wir k ö n n e n Iphigenie als

die Vermittlerin göttlicher G n a d e betrachten und die Verschiedenheit der U m w a n d l u n g wärtig der,

und

welche

der

seiner Bekehrung gewesen,

davon

in Gefahr

so

herleiten, ist.

dass diese Vermittlerin

Wir hätten dann

fränkische Chlodwig ausrief: „ W ä r e

sich

eine Lage

vorstellte,

als er bei

ich mit meinen Franken

hätten sie Christum nicht g e k r e u z i g t ! "

gegenähnlich dabei

Aber besser

ist es, den Unterschied, der nun einmal besteht, nicht zu verwischen und ihn lieber auf den vorher in der G r u n d a n s c h a u u n g nachgewiesenen zurückzuführen:

die

Sünde

ist

seit Adams Fall

dem Menschen

natürlich und die Erlösung n u r durch einen von aussen erfolgenden göttlichen Eingriff gehen

möglich;

des Tantalus

Rückkehr

zur

w a h r e n Natur

Wirkung b e r a u b t .

das G e b r e c h e n ,

seinem Geschlecht

das seit dem Ver-

anhaftet,

des Menschen

wird

seiner

durch die

verderblichen

Wir könnten in H e r d e r ' s Ausdrucksweise s a g e n :



62



die A r t des Menschen wird von der CJnart, also dem,

was nicht

zur Art gehört, gereinigt. Schon in Agamemnon war die „Humanität" zum Theil wieder durchgebrochen, in Iphigenie war sie herrlich aufgeblüht, die echt menschlichen Regungen der Liebe zur Schwester und mit

des Drangs

zu helfen

dieser Heilung

ist

bewirken die Heilung des Orest,

und

auch das dem Menschen als „Anlage und

Bestimmung" gegebene,

aber

von Orest

verlorene Vertrauen

zur

Gottheit ihm wiedergekehrt. Aber

Goethe

schrieb

ja

auch

seine

Iphigenie

„aus

einem

Studium der griechischen S a c h e n " , das er freilich später als unzulänglich

ansah.

Können

wir

nun

die

Anschauung,

dass

reine

Menschlichkeit alle menschlichen Gebrechen sühne, im Griechenthum wiederfinden, da sie im Christenthum vergebens gesucht wird? Da es sich um eine philosophisch-religiöse Frage handelt, werden wir uns am besten an die philosophischen Vertreter der klassischen Zeit Griechenlands

wenden,

zumal

diese auf den deutschen Geist

besonderen Einfluss geübt haben und nicht zum wenigsten gerade im 18. Jahrhundert. Nach Plato ist, wie in der äusseren Natur, so auch im menschlichen Leben ursprünglich Alles harmonisch geordnet; Irrthum,

der

ein

scheinbares Glück

hat diese Ordnung

gestört,

menschlicher

für das wahre Glück nahm,

aber der Mensch besitzt die Fähigkeit

und die Aufgabe, j e n e Harmonie wieder herzustellen und damit das wahre Glück, das nicht in Qual endet, zu erlangen. Gnade

verhilft

Thätigkeit indem

ihm

gelangt

er nicht

dazu,

sondern

in

freier

und

der Tüchtige zu rechter Einsicht und Tugend,

den Anderen,

sondern sich und den Göttern

fallen, nicht gut scheinen, sondern gut sein will. zum Wahren

Nicht göttliche

Entscheidung

und Guten

geschieht

dadurch,

ge-

Diese Wendung

dass die Seele sich

auf ihren ursprünglichen — nach Plato vormenschlichen — Zustand besinnt

und

zu

ihrer

eigentlichen

Natur

zurückkehrt.

Freilich

gelingt dies nur Wenigen, und von grossem Einfluss ist hierbei die Abstammung,

da

die Eigenschaften

der Eltern sich

gern auf die

Kinder vererben. Finden wir so schon bei Plato

die Anschauung von

mensch-

— licher „ A r t " durch

und „Unart"

die A b s t a m m u n g

63

und



von

beeinflusst

der Möglichkeit wird),

ohne

göttliche That sich von j e n e r Unart zu befreien

eine

(die

sogar

besondere

u n d zum wahren

Wesen z u r ü c k z u k e h r e n , so noch viel deutlicher bei Aristoteles, bei dem

wir

noch

seines Volkes

mehr erwarten dürfen,

zu treffen,

weil er vom

verbreitete Anschauungen hohen u n d daher oft ein-

samen Flug Piatos h e r a b l e n k t e z u r Wirklichkeit, wie sie griechischem Auge sich d a r b o t . Gerade

im Sinne

alle Schlechtigkeit

des Aristoteles kann

ein Gebrechen

nennen,

m a n alles Uebel u n d denn es offenbart sich

darin eine Unvollkommenheit: die Form hat den Stoff nicht völlig durchdrungen.

Die

menschliche E i g e n t ü m l i c h k e i t

besteht

darin,

sich nach der Vernunft zu richten, aber diese Richtung der ist

zunächst

n u r als Anlage v o r h a n d e n

werden,

damit

erlangt

werde.

Seele

und m u s s erst entwickelt

die menschliche Art und damit die Glückseligkeit Die Vernunft

giebt

die rechte Richtung f ü r das

Denken u n d Streben an, indem sie das Ziel menschlicher Bethäligung erleuchtet.

Wer

sich

W a h r e n u n d Guten.

ihrer

Leitung

anvertraut,

fühlt Lust

am

Dies ist der naturgemässe Zustand, der a b e r

d a d u r c h gestört werden kann, dass die Leitung d e r Vernunft nicht beachtet wird und an Stelle des Guten Nützliche als Ziel tritt. Lichte

der V e r n u n f t

das A n g e n e h m e oder das

Es gilt also, das Ziel im stets strahlenden

ins Auge zu fassen,

damit die Lust wieder,

wie es i h r e r eigentlichen Natur entspricht, auf das Gute geht u n d ihr

diese Richtung zur Gewohnheit wird.

von aussen, das Ziel

Hierbei hilft kein Gott

wohl aber ist die u n s eingeborene Vernunft, die uns

erleuchtet,

göttlichen Wesens.

Bethätigt

sich die Seele

im Sinne dieser (schaffenden) Vernunft, dann ist u n s e r e Natur u n d Bestimmung erfüllt: die schaffende Form — die V e r n u n f t — und der Stoff — die Seele — sind eins geworden. mangelhaft,

Ist diese Durchdringung

so ist der Zustand einer Krankheit vergleichbar,

wir

haben eben, um mit Goethe zu r e d e n , menschliche Gebrechlichkeit vor u n s . Wir finden also bei Plato wie bei Aristoteles einen Gegensatz, den

man

wohl

mit

den Worten

„menschliches G e b r e c h e n "

und

— „reine

Menschlichkeit"

wahren

menschlichen

64



bezeichnen Art

erfolgt

kann. bei

Der

Plato,

grösseren Kluft zwischen beiden Zuständen,

Uebergang

zur

entsprechend

der

mehr

in

einmaligem

gewaltigen Entschluss, bei Aristoteles mehr in langsamer Entwicklung, aber bei Beiden, ohne dass ein b e s o n d e r e r göttlicher Eingriff S ü n d e und Gnade in christlichem Sinne finden sich

nöthig wäre. nicht,

wohl

aber

ein

hohes Zutrauen

zu

der

nach

Sittlichkeit

strebenden menschlichen Kraft, die freilich n u r bei Wenigen wirksam erscheint. Wenn wir jedoch n u n das griechische Menschheitsideal seinem Inhalt nach betrachten, dann schwindet die Aehnlichkeit mit Goethes „reiner Menschlichkeit". h ö h e r gestellt.

Auf

Zunächst

wird die Erkenntniss dort viel

dem Wissen b e r u h t die Tugend,

und

daher

ist bei Plato der w a h r h a f t t u g e n d h a f t e Mensch der Philosoph,

der

sich

hat.

durch Denken

über

die

sinnlichen Eindrücke

erhoben

Denn die Sinne verdunkeln, n u r reines Denken ergreift die W a h r heit.

Reine Glückseligkeit

und

reine Tugend müssen erst geistig

geschaut w e r d e n , damit sie dem Leben mit Bewusstsein werden k ö n n e n .

eingeprägt

Besteht doch die Wurzel aller T u g e n d ,

die Ge-

rechtigkeit, darin, dass j e d e r Theil das Seine thut und Andere an der Erfüllung

ihrer Aufgaben nicht hindert.

der Erkenntniss, w a s Jedem zukommt.

Sie b e r u h t also auf

Der Philosoph wird daher

n u r u n g e r n dem reinen Denken entsagen, um sich an der Leitung des Staates zu betheiligen; thut er es aber zum Besten der Uebrigen, dann wird er diesen durch jedes Mittel zu helfen s u c h e n diesem Zweck selbst die Unwahrheit nicht z u , s c h e u e n Auch Aristoteles aber

er

malt

Charaktere aus, stehen

als

mit

schätzt das Denken h ö h e r als das Handeln, grosser

Liebe

Piatos sich

und

Anschaulichkeit

gewisse

die dem griechischen Lebensideal offenbar n ä h e r wahrer

Philosoph.

schildert er den „Grossgesinnten", Gesinnung,

und zu

haben.

dieser Grösse

Mit

der,

auch

vollem Recht auf Andere herabsieht.

besonderer

Neigung

gross an Tüchtigkeit und

bewusst ist u n d daher mit Gern ü b t er Wohlthaten aus,

aber solche a n z u n e h m e n schämt er sich und vergilt sie mit grösseren. F r e m d e r Hülfe

bedarf

er

nicht

oder k a u m ,

wohl aber dient er



65



bereitwilligst Änderen. Stolz gegen Höherstehende, Uberhebt er sich nicht gegen gewöhnliche Menschen. Nur um Grosses und Rühmliches regt er sich. Furchtlos zeigt er Hass und Liebe, kUmmert sich mehr um die Wahrheit als um die Meinung, redet und handelt offen, denn er ist freimUthig, weil er Andere verachtet, daher auch wahrhaft, ausser wenn er dem gewöhnlichen Volk seine Ueberlegenheit verbirgt. Er lebt nicht für Andere, als etwa für einen Freund, denn das Gegentheil wSre knechtisch; er neigt nicht zu Bewunderung, denn nichts ist ihm gross. Er trägt nicht nach, denn es ist nicht seine Art, erlittenen Unrechts zu gedenken, sondern lieber zu Ubersehen. Er liebt nicht Gerede Uber die Menschen, weder Uber sich noch über Andere, denn ihm liegt weder an eigenem Lob noch am Tadel Anderer; doch neigt er auch nicht zu deren Lobe. Aus Noth oder um Kleinigkeiten klagt oder bittet er nicht und ist geneigter, Schönes zu erringen, das keinen Nutzen bringt, als Nützliches, denn so geziemt es dem, der sich selbst genügt. Und langsame Bewegung scheint dem Grossgesinnten zuzukommen und tiefe Stimme und ruhige Rede, denn nicht pflegt zu eilen, wer um Weniges sich ereifert, noch, wer nichts gross achtet, in Spannung zu sein; hohe Stimme u n d Behendigkeit aber kommt hierdurch. Wir mUssen gestehen, dass sowohl der Philosoph Piatos als der Grossgesinnte des Aristoteles weitab von dem Ideale der Menschlichkeit stehen, wie es Herder und Goethe vorschwebte. Ich lege geringeren Werth auf Einzelheiten, wie wenn ζ. B. Plato wie Aristoteles das Weib tief unter den Mann stellen, die Sklaverei gerechtfertigt finden und die körperliche gewinnbringende Arbeit als erniedrigend ansehen. Wichtiger ist das Folgende. Dort ist der vollkommene Mensch sich selbst genug und von hingebender Liebe weit entfernt, ja Aristoteles stellt selbst die von ihm so hoch gepriesene wahre Freundschaft zum vollen Glücke nur deshalb als nothwendig hin, weil einmal der rechte Mensch das BedUrfniss hat, Anderen wohlzuthun und es am schönsten ist, Freunden Gutes zu erweisen, und weil ferner der Mensch zum Zusammenleben geboren, dies aber besser ist mit edlen Freunden als mit Beliebigen. La e h r , Heilnng des Orest,

5



Dieser

66

glänzenden Vereinzelung,



in der der Mensch Alles danach

bewerthet, wie viel reicher und vollkommener es sein eigenes Ich macht,

stellt

sich

die Menschlichkeit

Gerechtigkeit die Liebe steht,

gegenüber,

und die nicht,

vollkommen und glückselig zu werden, denken,

in

der neben

der

um selbst gut und

sondern, ohne an sich zu

liebendem Erbarmen Anderen

zu

helfen sucht.

Mag

auch der Grossgesinnte des Aristoteles die Rache verschmähen und der

platonische Philosoph

Wurzel

sogar seinen Feinden Gutes thun,

dieser Freudlichkeit erscheint

doch nicht Liebe,

als

sondern

S o r g e für das eigene Ich. So ergiebt sich denn beim Vergleich der „Menschlichkeit" mit dem klassischen Ideal

der

griechischen

Philosophie

eine grosse

Ver-

schiedenheit des Inhalts, die sich im Wesentlichen daraus ableiten lässt, dass hier der Trieb zur eigenen Vervollkommnung, dort mit ihm zusammen Liebe den Grund bildet, wächst.

aus

dem

das Ganze er-

Und mit der Liebe paart sich in der Priesterin Iphigenie

ein Vertrauen nicht nur auch auf die Güte

auf

die Menschlichkeit Andrer,

der Götter,

gute Geschlechter lieben.

die

der Menschen

In der Götter Hand legt

sie,

am Herzen liegt, zu ihnen betet sie in jeder L a g e , dankend, sie sammelt sich im Gebet und Ruhe.

Das

ist nicht im Sinne

der

findet

sondern

weitverbreitete was

ihr

bittend

und

darin Trost

und

klassischen Philosophen,

die

wohl die Gottheit ehren und ein Hinstreben zu ihr annehmen, aber Verkehr mit ihr nicht kennen und Beistand von ihr nicht erwarten. Und wenn auch das Volk und die griechischen Dichter das Gebet häufig

anwenden,

ein

solch

Gottheit zeigt kein Grieche,

inniges,

kindliches Verhältniss

erst das Christenthum

macht mit der Vorstellung eines väterlichen Gottes.

hat Ernst

zur ge-

Freilich dürfen

wir nicht vergessen, dass — unähnlich griechischen Tragödien, in denen die Götter oft genug persönlich eingreifen — die Hülfe unsrem Drama,

wenn wir von den Ereignissen absehen,

in

die vor

dem Beginn des Stückes liegen, allein durch Menschlichkeit bewirkt und dass in diesen Wirkungen die Gnade der Götter nur von der gläubigen Seele erkannt wird. das für das Verhalten

Auf dem Boden des Christenthums,

der Menschen

unter

einander

das Gesetz



67



aufstellte „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", ist die Humanitätsidee des 18. J a h r h u n d e r t s ihrem Inhalte nach h e r a n gereift; auf christlichem Boden ist vor Allem auch Goethes Iphigenie entstanden, die durch Liebe und gläubige Hoffnung im schuldigen Bruder die Heilung vom Fluche einleitet. Der decidirte Nichtchrist Goethe liess in der Iphigenie nicht durch göttliche Gnade die Sünde vergeben werden, sondern heilte menschliches Gebrechen durch reine Menschlichkeit; aber da er kein Wider- und kein Unchrist war, trägt bei ihm die reine Menschlichkeit christliches Gepräge. VI. Im vorigen Abschnitt ist erwähnt worden, dass Orests „freies, auf klarer Erkenntniss des Frevels beruhendes reuiges Bekenntniss die Heilung einleitet".

Matthias ward durch

christliche Glaubenslehre erinnert.

diesen Zug

hängigkeit des Stückes von christlicher Lehre ablehnen, jenem

reuigen Bekenntniss

der EntsUhnung.

vor Iphigenie

sehen in

Ich habe bisher hierüber geschwiegen,

da

mir

zu liegen

Jetzt aber, nachdem der Einfluss christlicher Anschauung

auf das Drama besprochen ist, scheint es mir Frage in

die

ein wesentliches Glied

die Bedeutung jenes Bekenntnisses in anderer Richtung scheint.

an

Aber auch Andre, die eine Ab-

weiterem Zusammenhang

dabei an die Darstellung W o h l r a b s 1 ) ,

geboten,

einzugehen.

Ich

auf

jene

halte

mich

der wohl der neueste Ver-

treter j e n e r Auffassung ist, in wichtigen Punkten übrigens sehr an Gneisse erinnert. Wohlrab geht davon a u s , dass Iphigenie nicht als die Vertreterin der reinen Menschlichkeit gelten könne, da sie unaufrichtig gegen ihren Wohlthäter Thoas verfahre, und auch, davon abgesehen, noch nicht Uberzeugend nachgewiesen sei, wie ein schuldloser Mensch als solcher einem Andern das Bewusstsein seiner Schuld a b n e h m e n könne. Auch als Priesterin entsühne Iphigenie den ») M. Wohlrab, Die Entsühnung in Goethe's Iphigenie auf Tauris. Neue Jahrbücher für Pädagogik, 2. Jahrgang. 1899. Seite 86—93. 5*

— Bruder nicht.

„Fragt man,

menschlicher Weise

68 wie

gesühnt

— menschliche Gebrechen

werden,

so

darf

in

rein

die Antwort wohl

lauten: man hat offen und unumwunden das Bekenntniss der Schuld abzulegen, man hat aufrichtige R e u e darüber zu hat die entsprechende Sühne zu geben. kann die Schuld als gesühnt g e l t e n . " sühnung seien bei Orest gegeben: hat

der Unterwelt

angehört

man so

Diese Bedingungen der Ent-

„ e r hat seine Schuld

er hat sie bereut, er hat die Qualen er

empfinden,

Ist das Alles erfolgt,

des Todes

und

bekannt,

innerlich

dort Verzeihung

erlebt,

gefunden.

Man könnte fragen, warum der Dichter alles dies so ausführlich behandelt,

wenn es

nicht

die Entsühnung

selbst

darstellen

soll".

„Aus der Betäubung erwacht, kann Orest das Gefühl haben, befreit, entsühnt zu sein. sühnt worden. gegenüber

E r wäre aber ohne

die Schwester

Sie entlockte ihm das Bekenntniss,

fühlte

er

sich

noch

mehr

als

nicht

ent-

ihrer Reinheit

Verbrecher.

Nur

sie

konnte ihm die Vorstellung erwecken, dass er durch sie den Opfertod

zu

werden

erleiden also

habe.

von

Alle

Iphigenie

Voraussetzungen

herbeigeführt,

Zusammenhang auch nur a h n t . " ähnliche Lage wie Orest. der That.

Aber

der

ohne

Entsühnung

dass

sie

den

auch Iphigenie kommt

Nur regt sich in ihr

der Zweifel

„ S o war Iphigenie durch übermächtige Verhältnisse

menschliche Gebrechen

verstrickt

ihren Nöten

gekommen . . .

zu

Hülfe

reine Menschlichkeit in

ihr,

die

worden. allen

Niemand

war

ihr

Schliesslich

war

es

drohenden Gefahren

in vor in in die

zum

Trotz zum Durchbruch kam und sie von dem Gebrechen befreite, das sie ergriffen hatte. —

So kann die reine Menschlichkeit, d. h.

die Summe aller der guten Eigenschaften, auf denen des Menschen Gottähnlichkeit beruht, die ihm verliehene Würde getrübt werden, aber sie hat die Kraft in sich, sich von der tiefsten Erschütterung wieder zu erholen, sich in ihrer Reinheit Ich

verkenne

nicht

das

wiederherzustellen."

Bestechende

dieser

Anschauung.

Gewiss, „dass gerade ein Goethe an einem antiken Stoffe christliche Anschauungen zur Darstellung gebracht haben soll,

hat wohl von

vorn herein wenig Wahrscheinlichkeit", und wenn deshalb Wohlrab die Heilung nicht durch göttliche Gnade, sondern in rein mensch-



69



licher Weise vor sich gehen lässt, so kann ich ihm nur beipflichten. Auch gegen die von ihm aufgestellte Weise der Entsühnung: offenes Bekenntniss, aufrichtige Reue, entsprechende Sühne habe ich nichts einzuwenden, wenn „die entsprechende Sühne geben" abgeändert wird in „die Strafe willig auf sich nehmen" — denn „die S ü h n e " würde für mich in diesem Zusammenhang auch Bekenntniss und Reue umfassen — , und wenn dies Schema nur für manche, nicht für jede Entsühnung gelten soll. Um so mehr Bedenken sind mir aber gegen die Anwendung dieses Schemas auf den Einzelfall des Orest erwachsen. Dass ein Mörder, der nach offenem Bekenntniss und aufrichtiger Reue im Traume oder im Delirium seine Hinrichtung erlebt, sich zunächst als entsühnt fühlt, ist mir sehr glaublich. Wenn er aber erwacht und jene Hinrichtung als Traum oder Phantasieerlebniss erkennt, wird er sich dann durch dasselbe entsühnt glauben? Wenn er es ernst mit der Sühne nimmt, gewiss nicht. Etwas ganz Anderes ist es, wenn jenes Traum- oder Phantasieerlebniss von Anderen oder von ihm selbst dahin gedeutet wird, dass es von Gott oder vom Schicksal ihm an Stelle des Todes gesandt sei, damit er Gelegenheit zu einem neuen, tüchtigen und frommen Leben finde. Dann fasst er aber nicht den vorgetäuschten Tod, sondern das fernere Leben als Sühne auf, und jener war nur ein Mittel, den rechten Weg der Entsühnung zu finden. Noch weniger kann bei Orest die Entsühnung in dem Bekenntniss, der Reue und dem geglaubten Opfertode des 3. Aufzugs gefunden werden. Denn ein Bekenntniss, welches zur Entsühnung gehört, wird nur vor Jemand abgelegt, dem der Reuige die Befugniss zuerkennt, zu strafen oder freizusprechen, also vor dem Richter, wenn es sich um äusserliche Sühne handelt, vor Gott oder vor der eignen Seele oder vor einem Stellvertreter Gottes oder des eignen Ich, wenn innerliche Sühne erstrebt wird. Orests Richterin ist Iphigenie nicht; denn selbst die Anschanung, dass Iphigenie als einzig überlebende Geschlechtsgenossin, die unbetheiligt ist am Morde Klytämnestras, diesen zu rächen oder zu strafen habe, fällt für das B e k e n n t n i s s in sich zusammen, da dasselbe

— Dicht der S c h w e s t e r gilt.

70



Ebenso w e n i g kommt die Stellvertreterin

der Gottheit als solche in Betracht,

denn Orest

Priesterin, sondern zur Unbekannten, lischen

redet

nicht

zur

die ihm gleich einer Himm-

begegnet: Wider meinen Willen Zwingt mich dein holder Mund; allein er darf Auch etwas Schmerzliche fordern und erhält's.

Und er entdeckt seinen Namen, weil er die T ä u s c h u n g Ich kann nicht leiden, dass du, grosse Seele, Mit einem falschen Wort betrogen werdest. Ein lügenhaft Gewebe knüpf ein Fremder Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt, Zur Falle vor die Füsse; zwischen uns Sei Wahrheit! Also beichtet er auch nicht

einer Stellvertreterin

hasst:

des

eignen Ich,

welche, rein und untadelig, unparteiischer als er selbst die Grösse seiner Schuld bemessen und die Gegenleistung bestimmen sondern er mag der V e r e h r u n g s w ü r d i g e n , Liebevollen auf ihre F r a g e nicht verweigern, und er will

nicht

könnte,

die Antwort an

der L ü g e

betheiligt sein, die P y l a d e s sinnreich f ü r die F r e m d e geknüpft hat. Doch wenn auch Orests Erzählung obigem Sinne sein s o l l ,

so könnte

es

nicht

ein Bekenntniss

doch

im

weiteren

in

Verlauf

der Handlung die Wirkung eines solchen haben, indem Orest nachträglich Iphigenien Eingeständnisses könnte Altar."

an

die

ihm

die Worte

Als

Befugniss Strafe

Priesterin

oder

denken:

zuerkannte, Lösung

auf

zu

Grund

seines

verkünden.

Man

„ G u t , Priesterin!

im Auftrag

der Götter

ich

und

folge zugleich

zum als

Schwester und Richterin legte Iphigenie dem Reuigen die sühnende Strafe auf.

A b e r auch diese A u f f a s s u n g w ü r d e dem Vorgang nicht

gerecht, sie haftete am Aeusseren und Sache.

träfe

nicht

den K e r n

der

Denn nachdem Orest seine That berichtet und tiefe R e u e

dabei gezeigt hat, geht in dem Augenblick, da er in Iphigenie die Schwester

erkennt,

erfüllt ihn die R e u e

eine Umwandlung

in

über sein V e r b r e c h e n ,

ihm vor. sondern

das Entsetzen v o r dem Fluche seines Geschlechts.

Nicht ihn

mehr ergreift

Nicht die S ü h n e



71



für seine That, sondern die letzten Greuel des Tatalidenhauses soll die Sonne sehen; Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen, Bekämpfend die verwandte Brut, verschlingen, Zerstört sich selbt das wüthende Geschlecht.

Gewiss, er sehnt sich nach dem Tode, aber er begrtisst diesen nicht als Sühne seiner Schuld, sondern als willkommenes Ende des Stammesfluches, der ihn zu Grunde gerichtet hat. Noch andere Erwägungen verbieten, obige Art der Entsilhnung anzunehmen. Erkenntniss der Schuld und Reue hat Orest auch früher gehabt, ebenso Ergebung in den Tod, ja den Wunsch danach. Dass er nun die Erkenntniss der Schuld und die Reue vor Iphigenien äussert, ist ihm gewiss schwer, aber trägt es mehr zu seiner Sühnung bei als das verschwiegene Durchdenken und Fühlen vorher? Ich verstehe wohl, dass G n e i s s e in der Erzählung vor Iphigenie etwas Besonderes erblickt, weil bei ihm die Vorstellung von der Nothwendigkeit eines B ü r g e n dem Vorgange Bedeutung verleiht. Er führt aus, Orest habe im Bericht über seine Frevelthat, im Bekenntniss zu ihr, endlich in der Bereitschaft zum Tode, während er für Iphigenie und Pylades glückliche Heimkehr erflehe, den Willen bewiesen, das Gute zu thun und das Schmerzlichste zu erleiden. Nur aber müsse das Bewusstsein, dass das, was er leistete für das Verbrechen, die Schuld aufwiege, die Ueberzeugung, dass er seine sittliche Reinheit wiedergewonnen, ihm von aussen bekräftigt werden. Er müsse einen Bürgen haben für die Idee, dass Schuld sühnbar sei, und dieser Bürge werde ihm in Iphigenien gegeben, die sich in herzlicher Liebe zu dem Armen neige. Auf diese Art wird es verständlich, dass die frühere reuevolle Betrachtung und die frühere Todesbereitschaft noch nicht wirksam waren, obgleich der Wille, das Gute zu thun und das Schmerzlichste zu erleiden, auch darin sich bethätigte: es fehlte eben der Bürge. Wenn aber dieser Gedanke ausfällt, wenn man mit W o h l r a b Iphigeniens Antheil an der Heilung Orests darauf beschränkt, dass sie ihm das Bekenntniss entlockt, dass er sich ihrer Reinheit gegenüber noch mehr als Verbrecher fühlt, und dass



72



nur sie ihm die Vorstellung erwecken kann, er habe durch sie den Opfertod zu erleiden, dann ist schwer einzusehen, wie diese Umstände eine so entscheidende Rolle spielen. Wenn die Einsicht in die eigene Verschuldung nicht genügt, kann da die Aeusserung derselben etwas hinzuthun, sie müsste denn ein Bekenntniss im oben festgelegten Sinne vorstellen? Das Erkennen, nicht das B e kennen ist doch wohl die Hauptsache, und letzteres hat nur den Zweck, einem zum Urtheil Berufenen den Thatbestand klarzulegen, wie er sich dem Schuldigen darstellt. Dass Orest sich der Reinheit Iphigeniens gegenüber noch mehr als Verbrecher fühlt, will ich nicht bestreiten; aber seine ganze Erzählung macht doch den Eindruck, als vergesse er dabei immer mehr seine Zuhörerin und spreche nur längst und immer wieder im Stillen Gedachtes und Gefühltes laut aus, von ihr n u r veranlasst, nicht beeinflusst. Eine w e s e n t l i c h e Steigerung seines Abscheus vor der eigenen That vermag ich nicht anzunehmen. Und endlich, gewiss, er glaubt jetzt erst den Todesstreich zu erleiden, aber kann wirklich für Orest der Traum des Todes die Strafe, „die entsprechende Sühne", sein, wenn die Gewissensqualen und das furchtbare Bewusstsein, dem Geschlechtsfluche unrettbar verfallen zu sein, die Ergebung in den Tod und die Sehnsucht nach ihm schon lange hervorgerufen haben? Denn das beachte man wohl, nicht um den Tod selbst handelt es sich hier, sondern um die Ergebung in den vermeintlichen Tod, und diese wird in Orest nicht erst durch die Begegnung mit Iphigenien erzeugt. W o h l r a b wird eben, so entschieden er sich auch gegen das Hineintragen christlicher Gedanken in Goethes Iphigenie ausspricht, noch viel zu sehr von der Vorstellung beeinflusst, auf welcher die Rechtfertigungslehre der christlichen Kirche erwachsen ist. Der Sünder bekennt, bereut und nimmt willig die Strafe auf sich; damit ist er entsühnt. Wird die Strafe von einem Anderen, Unschuldigen erlitten, und vertraut der Sünder, dass dem so sei, und dass er somit durch das stellvertretende Leiden des Anderen von den Folgen der Sünde befreit sei, so haben wir die christliche Rechtfertigungslehre. Wie diese, so ist auch die ihr zu Grunde



73



liegende Anschauung, das W o h l r a b ' s c h e Entsilhnungsschemà, Goethe und seiner Iphigenie fremd. Nicht in der Rechtfertigung, sondern in der Liebe, die zu guten Werken fleissig macht, liegt der Berührungspunkt mit der christlichen Lehre. In der Liebe zu Iphigenien und in dem Verlangen, diese Liebe in einem guten, hülfreichen Werke zu bethätigen, erkenne ich die neu erwachende Kraft, durch welche die Heilung des Orest bewirkt wird, nicht in Bekenntniss, Reue und Strafe. Auch nach meiner Anschauung ist Iphigenie dem Bruder zur Entsiihnung nothwendig, aber nicht im Sinne W o h l r a b s durch Anreiz zur Aeusserung und Bethätigung innerer Vorgänge, auch nicht, wie G n e i s s e will, als Bürge, sondern als Vermittlerin der Liebe, die zu guten Werken tüchtig macht. Nachdem ich so aus der Heilung des Orest als allgemeingültig, als typisch etwas ganz Anderes herausgehoben habe als W o h l r a b , habe ich auf dessen Frage Rede z u s t e h e n : warum hat der Dichter das Bekenntniss, die Reue und das Traumerlebniss in der Unterwelt so ausführlich behandelt, wenn es nicht die Entsiihnung selbst darstellen soll? Meine Antwort lautet in Kürze: weil das Allgemeingültige unter den besonderen Verhältnissen, die Gegenstand der Dichtung sind, eine Gestalt annimmt, in der auch die von W o h l r a b hervorgehobenen Züge — neben anderen — nothwendig sind. Ich will das näher ausführen. Im ersten Theil der Erkennungscene wirkt Iphigenie nur durch den Eindruck himmlischer Reinheit, besonnener Klugheit und liebevoller Güte auf Orest. Sie ist ihm fremd und doch voll inniger Theilnahme für sein Geschlecht und ihn. Schon ehe sie weiss, dass er Orest ist, erkundigt sie sich immer wieder nach diesem, freut sich dankbar Uber seine Rettung und fühlt nach der Erzählung von Klytämnestras Ermordung vorahnend tief das Leid des Thäters mit, den sie nicht als Mörder, sondern als Unglücklichen ansieht. Und als er ihr gesagt hat, dass er selbst Orest ist und nur ihr und dem Freunde Rettung, sich aber den Tod wünscht, ja, dass der Versuch, ihn zu retten, auch ihren Untergang zur Folge haben müsse, da erklärt sie ihm: mein Schicksal ist an Deines fest gebunden. Wir können zusammenfassend sagen:



74

bis hierher tritt ihm die reine Menschlichkeit einer Fremden entgegen, die gerade ihm eine besonders liebevolle Theilnahme widmet. Er fühlt ihren Einfluss auf ihn in wachsendem Masse. Wie sie ihm gleich einer Himmlischen begegnet, so kann er ihr auch Schmerzliches nicht abschlagen; er wünscht ihr Rettung, während er für sich nur den Tod begehrt; er empfindet als wohlthätig ihre Nähe, die die Furien zwar nicht verscheucht, aber doch seitwärts drängt. Den zweiten Theil der Scene nimmt die Erkennung der Iphigenie durch Orest ein. In zuversichtlicher Freude sucht Iphigenie die Erkennung vorzubereiten. Aber wenn auch der Gegensatz der Stimmung zunächst seine Verzweiflung steigert und ihre fragende Theilnahme die Marter in ihm vermehrt, so zeigt diese Wirkung doch, dass ihre Liebe und Hoffnung Eindruck gemacht haben. Als sie zuerst ihren Namen nennt, beachtet er dies nicht und weist ihre Berührung zurück, deren er sich unwürdig fühlt, allein will er den Tod voll Schmach, in sich verschlossen, sterben. Sie bleibt zuversichtlich: „Du wirst nicht untergehn," und immer liebevoller und trotz allem Schmerz zukunftsfreudig naht sie ihm, ihr Herz öffnet sich der Seligkeit des Wiedersehens, ihre Arme umfassen das Liebste, was die Welt noch für sie tragen kann. Diese zärtliche Freude versteht er nicht und nimmt sie für das Rasen einer Bacchantin oder die rasch entbrannte Liebesgluth einer Fremden. Seine Schwester Iphigenie ist ja todt. Als er aber begreift, dass sie diese todtgeglaubte Schwester ist, als sie ihm ihre Rettung durch ein göttliches Wunder berichtet, da steht ihm, durch ihre W o r t e herbeigerufen, sofort die schrecklichste Lage vor Augen: die schuldlose Schwester, gezwungen, den geliebten Bruder zu tödten. Und während die furchtbarsten Vorstellungen in ihm sich drängen, entreisst der Anblick ihrer Thränen ihm das Bekenntniss, dass er nichts so geliebt babe, wie er diese Schwester lieben könnte. Nun frage ich: würde im ersten Theile des Auftritts Iphigeniens reine Menschlichkeit sich Orest so tief einprägen können, wenn er ihr nicht seine That erzählte und deren Folgen auf sein Gemüth schilderte? War dies nicht das gegebene Mittel, ihr das edle und

reuezerrissene Herz zunächst

dem

75



des Erzählers

berichteten

ganz

Vorgang

zu öffnen,

zugewandte

dadurch

ihre

Aufmerksamkeit

immer mehr auch auf ihn zu lenken und ihrer Anfangs rein menschlichen

Theilnahme

noch

eine

besondere W ä r m e

rückwirkend auch ihn beeinflussen musste?

zu

geben,

die

Hätte Orest auf natür-

lichere Weise einen Einblick in Iphigeniens grosse Seele gewinnen können,

die

trotz

der S c h w e r e

des Verbrechens

im bereuenden

Thäter nur den Unglücklichen sieht und tiefstes Erbarmen mit ihm fühlt?

Und

gilt das Gleiche nicht von seinem Geständniss,

er selbst der Muttermörder s e i ? Aufklärung über

die

dass

W ä r e ohne die hierdurch gegebene

Uber das gerade und freimüthige Wesen Orests, reuevolle Verzweiflung,

seiner Schuld

erfüllt,

die

die

und

ihn aus voller Erkenntniss

jubelnde Freude Iphigeniens

über

den

wiedergefundenen Bruder und ihre Zuversicht auf die Zukunft auch nur d e n k b a r ? ja

die

Gerade sein Bekenntniss und seine B e u e geben ihr

innere Bürgschaft,

dass

nicht

er

untergehen

wird,

und

lassen die ungetrübte Lust des Wiedersehens so stürmisch hervorbrechen.

Weil er sich als verloren und

sie im Vertrauen

auf den

edlen Kern

fluchbeladen seiner

jeden inneren Widerstreit die Zuversicht zeigen.

Dies steigert

ansieht, kann

Persönlichkeit ohne

der Rettung hegen

durch den Gegensatz

und

ihrer Hoffnungen

mit

der wirklichen Lage, wie sie ihm mit der Erkenntniss ihrer Herkunft plötzlich klar wird, seine Verzweiflung, aber auch seine Liebe, und so kann der Anblick ihrer Thränen,

der ihm die Wirkung

seines

Wüthens offenbart, ihm auch das Geständniss der Liebe entreissen. Für

mich

liegt

also

die Bedeutung

des Schuld- und R e u e -

bekenntnisses zunächst darin, dass es Iphigenien mit Orests Sinnesart bekannt macht und es ihr dadurch ermöglicht, freudige

und

muthige Liebe

zu beweisen,

die hoffnungs-

die trotz Allem ihren

Eindruck auf Orest nicht verfehlt und auch in seiner qualzerrissenen S e e l e die Liebe des Bruders weckt. Zugleich

geräth

aber

dadurch,

dass

Orest

sich

durch

sein

reuiges Bekenntniss ganz in die Vergangenheit versetzt, sein Inneres in

den

wildesten Aufruhr.

hoffnungslose Verzweiflung

Die nähert

leidenschaftliche Hingabe sich

dem

„fieberhaften

an die Wahn-



76



sinn", der seine Seele den Furien zum Raube giebt. Schon hört er deren grässliches Geiachter aus der Ferne, und die Gegenwart Iphigeniens, der Himmlischen, drängt sie nur seitwärts u n d verscheucht sie nicht. Der „Anfall" zieht also herauf, aber der Einfluss der Unbekannten ist schon so gross, dass jetzt noch die völlige „ Z e r r ü t t u n g " ausbleibt; allein er weiss, dass, wenn er diesen Hain verlässt, aus der mildernden Nähe Iphigeniens scheidet, die Furien von allen Seiten aufsteigen und ihn als Beute vor sich hertreiben werden. Da erfolgt das Unerwartete: die Unbekannte, die er verehren muss und zu lieben beginnt, ist seine Schwester, ihre Berührung ist berechtigt, aber hierdurch eröffnet sich ihm die furchtbare Aussicht auf den Brudermord, die hergebrachte Sitte des alten Stammes. Man beachte, dass vorher, als die Erkennung noch nicht erfolgt war, der Fluch von ihm ausging und sich durch Berührung auf sie Ubertragen k o n n t e : Wie TOE Kreusas Brautkleid zündet sich Ein unauslöschlich Feuer von mir fort Es ist noch dieselbe Anschauung, aus der heraus Orest f r ü h e r „das Aengstliche

von seinem Schicksal"

dem Freunde geschildert hat.

Jetzt, wo er die Schwester erkannt hat, bestimmt der gemeinsame Fluch seine Vorstellungen, und er wünscht sich und den Geschwistern den befreienden Tod. geliebte Schwester Qual

endet

und

Aber der Gedanke, dass die liebevolle u n d

schuldlos ihr Qual

die That auferlegt,

begehen ist

muss,

hatte Iphigeniens Nähe die Furien seitwärts gedrängt, sie

nicht mehr beruhigend,

die seine

zu entsetzlich.

Vorher

jetzt

sondern r u f t die Furien herbei.

wirkt Der

Anfall, die „ Z e r r ü t t u n g " beginnt mit den Gesichtstäuschungen, und bald sinkt Orest in Ermattung. Wie in den früheren Anfällen wird auch in diesem „fieberhaften W a h n s i n n " Orests Seele den Furien zum Raube hingegeben, aber diese treiben ihn jetzt nicht um der Blutschuld willen gewaltig umher, sondern er wird von diesem Umhertreiben durch den Tod befreit; dass trotzdem dies Schauspiel das Grässlichste wird, macht nicht sein, ist

sondern

Iphigeniens Geschick.

die in ihm herrschende Vorstellung:

Ihr Leid,

nicht seins,

die Liebe zur Schwester



77



ist nicht nur in ihm als neues Gefühl vorhanden, sondern hat jetzt auch die frühere Versunkenheit in das eigene Loos besiegt. Also bewirken die Liebe zur Schwester und die Vorstellung der ihr drohenden Gefahr in Orest die Steigerung der Verzweiflung, die aber nicht mehr auf das eigene Verbrechen gerichtet ist, zur Höhe des Anfalls. Als nach der Ermattung die Vorstellung der Gefahr in dem Bewusstsein, gestorben zu sein, versunken ist, spiegelt jene selbe Liebe im Verein mit dem Eindruck der hoffnungsmuthigen Liebe lphigeniens sich in dem ruhig-freudigen Gefühl der Versöhnung mit der Vergangenheit. Und als so die Umstimmung erfolgt ist, kann dieselbe Gefahr, die vorher den Anfall herbeigeführt, jetzt ihre naturgemSsse Wirkung thun und zu hülfreicher That reizen. Denn die verzweiflungsvolle Erregung ist vorüber; nicht mehr sieht Orest die Furien nahen und die Schwester den Mordstahl schwingen, sondern diese steht mit dem Freunde in ruhiger Wirklichkeit vor ihm, und statt der Furien gilt es die Taurier zu bekämpfen. Noch einmal: nicht Bekenntniss, Reue und Traumerlebniss, sondern aufkeimende Liebe zur Schwester und der Drang, dieser zu helfen, bewirken die Entsühnung Orests vom Fluche des Muttermordes. Bekenntniss und Reue tragen in ihren Folgen zum Wachsthum der Liebe bei; das Traumerlebniss ist nicht der wirksamste Zeitraum der Entsühnung, sondern schliesst sich diesem als erste nothwendige Folge an. Mit der Erkennung ist das Schwergewicht von dem eigenen Fluche auf den Stammesfluch und dessen Iphigenien bedrohende Wirkung übergegangen und damit gleichsam in die Fluth des Bewusstseins der Stein geworfen, der zunächst die hohe Woge des Anfalls erregt und dann in weiterem Umkreis die ganze Seele in Mitleidenschaft zieht. Wie die ruhigeren Wellen Uber den Spiegel der Seele hingleiten, Vorstellungen und Gefühle umwandelnd, zeigt das Traumerlebniss; die eingetretene Ruhe drückt der Eintritt des Wachbewusstseins aus, mit dem jene Umwandlung vorläufig beendet ist.

— Dies

ist

78



meine Anschauung von der Heilung des Orest.

Ich

erwarte nicht, dass die übrigen Ausleger, die von anderen Voraussetzungen an das Stück herangetreten sind, mir beistimmen werden. Aber ich hege die leise Hoffnung, dass M o e b i u s , von dessen Ansicht ich ausgegangen stehe,

eher

bin,

sich mit der Entsühnung,

befreunden wird,

Meine Hoffnung

wie ich sie ver-

als mit den früheren Erklärungen.

gründet sich auf seinen Ausspruch:

„Hätte

man

Goethe gefragt, wie kann Entsühnung erreicht werden, so hätte er geantwortet: durch rüstige Thätigkeit, dadurch, dass man die Augen vom Vergangenen weg und auf die Zukunft richtet, durch Thaten, nicht durch W o r t e " .

Dies unterschreibe ich völlig, finde aber im

Gegensatz zu M o e b i u s die hier geforderte Art der Entsühnung in der Umwandlung des Orest dargestellt. bewirkt,

dass

die

Vergangenen weg

Liebe

zur

Die „ H e i l u n g " wird dadurch

Schwester

die Augen

und auf die Zukunft richtet,

der Geliebten zu helfen, zur That spornt.

Orests

vom

dass der Drang,

Durch rüstige Thätigkeit

im Sinne und unter dem fortwirkenden Einfluss der reinen Menschlichkeit Iphigeniens wird auch das menschliche G e b r e c h e n gesühnt werden, auf dessen Grunde die „brennende B e g i e r " zum rächenden Muttermord in Orest erwachsen war. Und auch ein Einzelbedenken, das M o e b i u s aufwirft, wird sich jetzt erledigen lassen. ich geheilt. sie

E r sagt:

„ E s heisst: von dir berührt, w a r

Die Worte stehen da, und keine Auslegerkunst kann

beseitigen."

Beseitigen

möchte auch ich sie nicht,

aber auf

dem Boden meiner Anschauung gehört geringe Auslegerkunst dazu, sie

zu

deuten,

auch

wenn

man

die allgemeine Auffassung der

„ B e r ü h r u n g " als Einwirkung Iphigeniens, weil zu ungenau, abweisen sollte.

Orest sagt gegen Ende des Stückes: Von dir berührt, War ich geheilt; in deinen Armen fasste Das Uebel mich mit allen seinen Klauen Zum letztenmal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle.

Als Iphigenie sich Orest zu erkennen giebt, umfasst sie ihn in der



79 —

Seligkeit des Wiederfindens. Die Berührung drückt also symbolisch die Liebe, die gleichsam durch sie von Iphigenien auf Orest Ubertragen wird, und zugleich die Erkennung aus, also die für Anfall und Heilung entscheidenden Vorgänge. Endlich seien noch zwei andere Fragen berührt, Uber welche ich in meiner Einleitung kurz hinweggegangen bin. Ich nahm die Ansicht auf, dass der „Wahnsinn" des Orest kein gewöhnlicher Wahnsinn sein solle, sondern symbolische Bedeutung habe; in der Verfolgung durch die Furien veranschauliche Goethe zunächst die Gewalt des Schuldbewusstseins. Damit war aber nur gesagt, worin die symbolische Bedeutung der Furien besteht, und was Orests Wahnsinn n i c h t ist, die Frage aber nicht beantwortet, was er nun eigentlich ist. Jetzt, da der Hergang der Heilung mir klargestellt scheint, mag auch die Antwort auf jene Frage versucht werden. C h r . R o l l e r (in der Schrift von Matthias angeführt) findet es überhaupt zweifelhaft, ob wir bei Orest einen pathologischen Geisteszustand anzunehmen haben. „In einem Zustande, den man möglicherweise als geistesgestörten bezeichnen kann, erscheint Orest im Beginn von III, 3. Man könnte hier von Bewusstseinsstörung insofern sprechen, als er sich in der Unterwelt glaubt. Freilich ist es eine in solchem Grade poetisch verklärte TrUbung, dass man sich schwer entschliessen kann, anzunehmen, dass der Dichter einen pathologischen Zustand im Auge gehabt habe. Zudem schliesst sich das momentane Phantasiren Orests an die vorausgegangene Vision an. Solche Visionen aber als pathologische Zustände, wohl gar als Hallucinationen nehmen zu wollen, wUrde in die Poesie zu viel Neuropathologie und Psychiatrie hineintragen Lassen wir indessen zu, dass die Vision einem krankhaft gereizten Gemüthszustande entspringe, dann haben wir eine Störung, die im StUcke den 2. und den Beginn des 3. Auftrittes des 3. Aufzuges umfasst." Dies halte ich nicht für richtig. Der „fieberhafte Wahnsinn", von dem Pylades spricht, ist der Anfall, in welchem Orest „den Furien zum Raube hingegeben" wird. Dieser nimmt im Stück den Schluss von III, 1 ein und endet mit der „Ermattung". Orest sieht Klytämneslra und die Furien nahen, zuletzt Iphigenien den Stahl



80



gegen seine Brust schwingen. Dagegen stimme ich R o l l e r s Bemerkung bei: „Da Pylades von einem ,fieberhaften' Wahnsinn spricht, können wir denken, der Dichter habe auf etwas dem Fieberdelirium Aehnliches hinweisen wollen." Diese Aehnlichkeit finde ich in der Loslösung der Vorstellungen von der Wirklichkeit, nicht in den Sinnestäuschungen. Diese spielen auch ausserhalb des Anfalls bei Orest eine grosse Rolle, sobald er erregt ist, aber der Anfall ist erst da, wenn er ihnen „zum Raube hingegeben" ist, d. h. sein Verhältniss zur Aussenwelt verkennt und durch äussere Eindrücke von dieser Verkennung höchstens fiir Augenblicke abzubringen ist. Ich möchte die Sinnestäuschungen des Orest, das Sehen der Furien, das Hören ihres Gelächters u. s. w. nicht im gewöhnlichen Sinne als krankhaft bezeichnen, sondern mehr denjenigen Sinnestäuschungen anreihen, welche bei reizbaren, zumal klinstierisch veranlagten Naturen nicht so ganz selten sind. Sie treten bei Orest nur bei gemttthlichen Erregungen auf und zeigen sich inhaltlich ganz abhängig vom Vorstellungsablauf, bringen dem Bewusstsein also nichts Neues, sondern werfen nur dessen Inhalt gleichsam nach aussen. Man hat diese Erscheinungen wohl als sinnlicher Kraft" bezeichnet. „Vorstellungen von besonderer Namentlich die Visionen Orests in der Unterwelt erinnern mich an die berühmte „Sinnestäuschung" Goethes nach dem Abschied von Sesenheim, die in „Dichtung und Wahrheit" folgendermassen erzählt wird: „In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedrike noch einmal zu sehen. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fusspfade gegen Drusenheim, und da Uberfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz

— hinweg.

81

Sonderbar ist es jedoch,

— dass ich nach acht Jahren in

dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern als Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedrike

noch einmal zu besuchen.

mit diesen Dingen wie es bild

gab

mir in jenen

ruhigung.

Es mag sich

übrigens

will verhalten, das wunderliche TrugAugenblicken

des Scheidens

einige Be-

Der Schmerz, das herrliche Eisass mit allem, was ich

darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohen, auf einer friedlichen

und

erheiternden

Reise

so

ziemlich

wieder".

Der

Dichter war also, wie Orest, in starker schmerzlicher Erregung gewesen; diese ist im Abklingen, und aus dem Leid der Gegenwart wendet sich das Bewusstsein einer tröstlichen Zukunft zu.

Wird

dieses zugleich durch die gegenwärtige Lage und die in der Tiefe der Seele schlummernde Hoffnung bestimmt,

so entsteht die Vor-

stellung des Wiedersehens.

Diese gewinnt bei Goethe volle sinn-

liche

der Reiter

Kraft, und so

reiten.

sieht

sich wieder zur Geliebten

Weil dies Trugbild nichts Neues enthält, sondern nur eine

Regung der eigenen Seele gewissermassen nach.aussen wirft, sieht Goethe es „nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes", und erscheint

es ihm als „ T r a u m " .

Sobald er sich aus diesem

Traume aufschüttelt, ist die Gestalt ganz hinweg, so wie die Visionen der Unterwelt verschwinden, als Orest durch Iphigenie und Pylades aus dem Traume

aufgeschüttelt wird.

Das

wunderliche

Trugbild beruhigte Goethe, weil es die

im Grunde seiner Seele

aufsteigenden tröstlichen Regungen ihm

anschaulich

herausstellte

und dadurch stärker wirkte, als wenn die blosse Vorstellung, die mit Gegenvorstellungen von viel grösserer Macht zu kämpfen gehabt hätte, wäre.

in den

Mittelpunkt

Ganz wie bei Orest.

seiner

Aufmerksamkeit

getreten

Endlich betrachtet Goethe das Trug-

bild als Ahnung, als Vorbedeutung für die Zukunft.

Auch hierin

kann man eine Aehnlichkeit mit Orests Visionen finden, die

ihm

sein Geschlecht in Frieden und Versöhnung zeigen. Ich sehe diesen Vergleich nicht als leere Spielerei an, sondern glaube aus ihm eine Gewähr für meine Ansicht herleiten zu können, L a e h r , Heilung dos Orest.

6



82

-

dass die Traumbilder Orests in III, 2 nicht krankhafter Art, sondern den „Sinnestäuschungen

der Künstler" gleichzusetzen sind.

Dass

es sich bei Goethe um e i n Bild, bei Orest um eine Reihe von Bildern handelt, macht keinen Unterschied im Wesen aus.

der Sache

Die bei Weitem stärkere vorherige Erregung Orests, die ihr

folgende Ohnmacht und der Glaube an die Unterwelt, der „aufschüttelnde"

Gegenvorstellungen viel sicherer ausschliessen muss,

erklären die Verschiedenheit hinlänglich. Aber auch die übrigen Sinnestäuschungen Orests sind gleicher Art.

In der Erregung

der Gewissensangst entsteigen die Furien

seinem Innern, und ebenso sind die

den Mordstahl schwingende

Schwester und die in Begleitung der Furien herantretende Mutter die sinnliche Gestaltung in ihm hervorgerufener Vorstellungen. Tempelhain, wo der Gedanke des Götterfriedens

Im

oder des nahen

Todes und später die Gegenwart Iphigeniens jenen Vorstellungen entgegen und beruhigend wirkt, fallen die Sinnestäuschungen fort oder äussern sich bei Zunahme der Erregung Art.

doch in milderer

Und wie die Vision des versöhnten Geschlechts in der Unter-

welt viel blosse

grössere

beruhigende

Vorstellung,

so

Kraft

bewirken

hat als die

die

entsprechende

schrecklichen

Bilder

stärkeres Entsetzen, als das blosse Denken vermocht hätte.

weit Eine

„Aufschüttelung" ist aber hier noch schwerer möglich, weil Orest an Furien

glaubt und die Wirklichkeit ihm nichts von

Deutlichkeit bieten kann,

gleicher

was ihre Erscheinung in das Reich der

Einbildung verwiese. So bleibt als

möglicherweise

krankhaft nur die

Aufhebung

des Zusammenhangs mit der Aussenwelt übrig, die den Anfall des „fieberhaften Wahnsinns" kennzeichnet.

Diese tritt bei Orest im

Augenblick der höchsten Steigerung an sich

durchaus

motivirter

Gemüthserregungen auf und schliesst sich damit an Erscheinungen an,

wie

wir

sie

bei

gesunden

Menschen,

geringerem Grade, häufiger antreffen. einem Ausbruch

nur

gewöhnlich

in

Auch ein Gesunder kann in

heftiger Verzweiflung

die Umgebung

vergessen

und sich blind dem Gefühl und den an dasselbe sich knüpfenden Vorstellungen überlassen.

Das, was bei Orest dieser blinden Ver-



83

-

ï w e i f l u n g die u n g e w ö h n l i c h e F ë r b u n g giebt, s i n d e b e n die S i n n e s t ä u s c h u n g e n , die ich n i c h t d e m Gebiet des K r a n k h a f t e n

einreihen

wollte. ' ) Im Gegensatz zu diesen Ausführungen beschränkt eine andere Auffassung den „Wahnsinn" des Orest nicht auf einzelne Anfälle, sondern sieht sein Schuldgefühl als die Krankheit an. Neuerdings wird dieser Standpunkt in gründlicher Weise von Metz (Die HeiluDg des Orestes in Goethes „Iphigenie". Preussische Jahrbücher, October 1900) vertreten, der zu folgender Fragestellung gelangt: „Da die Schuld des Orest nur in seinem Gefühl vorhanden, dieses Schuldgefühl aber seine K r a n k h e i t ist, so darf das Thema der Dichtung nicht in der Form gestellt werden: wie wird seine Schuld gesühnt, sondern es muss lauten: wie wird er von seiner Krankheit geheilt?" Krankheit und Heilung sollen also hier im eigentlichen Sinne genommen werden. Wohin diese Ansicht folgerichtig führt, zeigen folgende Sätze: „Was in Orest für unser Urtheil Krankheit ist, das ist und bleibt für ihn selbst Schuld. Daraus ergiebt sich weiter, dass in seiner Seele die Vorstellung der Schuld nur aufgehoben werden kann, wenn sie durch die Vorstellung der geleisteten Sühne ersetzt wird. Mit anderen Worten: W a s s i c h f ü r d e n o b j e c t i v e n B e u r t h e i l e r a l s H e i l u n g d a r s t e l l t , wird sich f ü r das B e w u s s t s e i n des O r e s t a l s S ü h n u n g d a r s t e l l e n m ü s s e n . " Nun kennen wir gewiss auch krankhaftes Schuldgefühl und krankhafte Schuldvorstellung, aber eine Heilung davon erfolgt dann eben nicht dadurch, dass die Schuldvorstellung durch die der geleisteten Sühne ersetzt wird. Dass übrigens auch die Umwandlung Orests nicht auf diese Weise vorgeht, glaube ich gezeigt zu haben. Die Heilung erfolgt nicht dadurch, dass Orest „den Opfertod in der Einbildung erlebt, indem er die den Opfertod, wenn er wirklich wäre, begleitende Seelenqual innerlich durchmacht" und also freiwillig die Busse erlegt. Denn die Seelenqual Orests bezieht sich j a gar nicht auf seinen Tod, den er ersehnt, sondern auf die grässlichen Begleitumstände, und diese sieht er nicht als Folge seiner Schuld, sondern als Wirkung des Stammesfluches an. Doch dies nebenbei. Für die jetzige Betrachtung ist wichtiger, dass Goethe den „Wahnsinn" Orests nicht in das Schuldgefühl setzt, auch nicht in die Vorstellung, Fluch und Tod wie durch Ansteckung auf die Umgebung zu verbreiten. Dies ergiebt sich schon daraus, dass der „Wahnsinn" nicht als dauernd gedacht ist, dass derselbe vielmehr Orest a n f ä l l t , wenn durch Freud und Schmerz und durch Erinnerung sein Innerstes ergriffen und zerrüttet wird. Der „Wahnsinn" liegt also n i c h t im S c h u l d g e f ü h l , sondern e n t s t e h t a u f d e m B o d e n d e s S c h u l d -



84

-

Zu G r u n d e liegt also sowohl den auffallenden Zügen des Anfalls wie den übrigen Sinnestäuschungen jene b e s o n d e r e keit bestimmt organisirter Menschen, Vorstellungen in Empfindungen

die bei

Reizbar-

E r r e g u n g fähig ist,

umzuwandeln.

Diese Reizbarkeit

der Künstler, die auch Goethe besass, h a t er mit a n d e r e n von sich auf Orest ü b e r t r a g e n .

E r h a t ihre W i r k u n g e n

Zügen gemäss

der verschiedenen Ursache und Höhe der seelischen Qual u n d Err e g u n g bei Orest grossartig gesteigert, ist aber nach meinem Gefühl nicht ü b e r das hinausgegangen, was ein in jenem Sinne reizb a r e r Dichter, wie Goethe, wenn er in gleichem

Vorstellungskreise

wie Orest aufgewachsen wäre, auf gleiche Veranlassung wohl hätte in sich erleben k ö n n e n .

Ich sage mit Vorbedacht „ m e i n e m Gefühl

n a c h " , denn ein Beweis lässt sich n a t u r g e m ä s s nicht geben. In ähnlicher Weise denke ich mir

n u n auch

der Heilung Orests aus Goethes inneren hatte von Gewissensqualen

das

Er

Heilung bei Frau von Stein g e f u n d e n ,

ihm hatte ihre reine Menschlichkeit die Kraft bewiesen, Geister zu vertreiben.

Entstehen

Erlebnissen h e r a u s .

Gewiss,

der

Zauber,

der von

Stein ausging, w a r f ü r Goethe nicht ohne sinnlichen

die bösen Frau

von

Untergrund,

aber er b e r u h t e zugleich auf ihrem instinctiven Verständniss seines W e s e n s , i h r e r stets gleichbleibenden Güte, ihrer stillen, alle Leidenschaft z u r ü c k d r ä n g e n d e n gefühls. seitigung erreicht,

Er verschwindet wird

nicht

wenn wir

Liebe,

die ihm

gerade

1776—80,

also

daher mit dessen Beseitigung, aber diese Be-

„auf p a t h o l o g i s c h e m

unter diesem

nicht

ganz

(psychopathischem) W e g e " klaren Ausdruck den

Weg

der Heilung eines pathologischen (psychopathischen) Zustandes verstehen, wie dies Metz zunächst

thut.

Freilich

erklärt

er gleich darauf,

dass er

mit dem pathologischen (psychopathischen) W e g e die Einwirkungen meine, „die sich in den u n b e w u s s t e n Seelentiefen

mit naturgesetzlicher Noth-

wendigkeit,

Bewusstseins,

ohne

Mitwirkung

des

wollenden

Damit erweitert er den Begriff wesentlich, ja nicht nur im kranken, vor sich.

Ich

Dichtung

solche Wirkung

spricht,

gebe

sondern auch im g e s u n d e n Menschen beständig

daher Metz durchaus

nur kann ich

vollziehen".

denn solche W i r k u n g e n gehen

mit aller

recht,

wenn er sagt,

dass die

wünschenswerthen Deutlichkeit

aus-

deswegen diese Vorgänge nicht als „pathologisch"

im Sinne von „krankhaft" ansehen.



85



zur Zeit der ersten Entstehung des Dramas ( 1 7 7 9 ) , in rein freundschaftlicher, fast geschwisterlicher Art entgegentrat, auf dem ruhigen Vertrauen, das sie ihm in dieser Zeit schenkte, und gewiss nicht zum wenigsten auf dem Bewusstsein, auch ihr nützlich und n o t wendig zu sein und seine Liebe durch die That zu beweisen. Ich habe hier weniger die zahllosen kleinen Dienste, die er ihr leisten konnte, oder seine Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder im Auge, sondern vornehmlich dies, dass er Licht und Wärme in ihr trübes und innerlich einsames Leben brachte und dadurch sie, „die manchmal wähnte, der heilige Geist des Lebens habe sie verlassen", der Heiterkeit und der Freude am Dasein wiedergewann. Alles dieses darf man nicht gering anschlagen, mag auch im Uebrigen Frau von Stein überschätzt worden sein und ihre Briefe gänzlich unbedeutenden Inhalt gehabt haben; vertrauende Liebe auf der Seite der Frau, helfende Liebe auf der Seite des Mannes vermögen diesen aus grossen inneren Nöthen zu befreien. Freilich ist es, objectiv genommen, durchaus richtig: „Goethes Nöthe waren ja nicht so schlimm: ein sitzengelassenes Mädchen oder Mangel an Befriedigung durch die Thätigkeit im Berufe." Wenn man's so nimmt, mag der geistige Verkehr und das Sichaussprechen mit einem geschätzten Weibe zur Erklärung der befreienden Wirkung ausreichen. Aber es kommt doch sehr darauf an, wie der Einzelne für solche Nöthe empfänglich ist. Goethe litt sicher zu Zeiten heftig unter ihnen. B i e l s c h o w s k y führt u. A. folgenden Beleg a n : „In den im ersten Weimarischen Jahre entstandenen „Geschwistern" hat Wilhelm, unter dessen Maske Goethe zu uns spricht, Visionen wie Orest. Er wähnt sich von den Geistern der getäuschten und verlassenen Geliebten umgeben: „Warum stehst Du da? Und Du? Just in dem Augenblicke. — Verzeiht mir. Hab' ich nicht gelitten dafür? . . . Du liegst schwer über mir, vergeltendes Schicksall" Nun mag man mit Recht in Anschlag bringen, dass für ein jedem Eindruck so offenes Gemüth auch die von M o e b i u s herangezogenen Wirkungen eines geschätzten Weibes grösser ausfallen werden, aber man darf deshalb die von mir hervorgehobenen Seiten nicht ausser Acht lassen. Für seine Iphi-



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genie hat Goethe eben nur diese verwerthet geschlossen.

und jene völlig aus-

Sagt also M o e b i u s : „ W i e Goethe Abends des Tages

Noth bei der Freundin vergass, so schwindet die Qual des Orest, als er die Schwester gefunden h a t " , so möchte ich den Vergleich dahin umändern: wie Goethe in der thatkräftigen Liebe, die er der auf seinen sittlichen Kern vertrauenden Rettung aus Gewissensqualen,

Freundin

Zweifel und Reue

entgegenbringt, findet

und

mit

frischem Muth und Hoffnung erfüllt wird, so schwindet die Qual des Orest, als er die liebende und ihm vertrauende Schwester gefunden hat und die in ihm erwachte Liebe

zu ihr in

rettender

That erweisen soll. Mit der „Substitution" in der Art, wie M o e b i u s sie annimmt, hätte Goethe allerdings „ d i e

Sache v e r d o r b e n " .

Da

er aber

die

unter a l l e n Umständen sich bewährenden Erfahrungen aus seinem Verhältnisse zu F r a u von Stein in die Iphigenie herübernahm, bat er jene allgemeingültige Wahrheit

sühnung erreicht, die deutlich aus den besonderen, der eigenthümlichen

Zügen

hervorleuchtet

so

in der Darstellung der Entund

Dichter in die Worte gefasst ist: Âlle menschliche Gebreeben Subnet reine Menschlichkeit.

später

vom

Dichtung greisen