Goethes Bild der Landschaft: Untersuchungen zur Landschaftsdarstellung in Goethes Kunstprosa [Reprint 2019 ed.] 9783111654423, 9783111270357

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Goethes Bild der Landschaft: Untersuchungen zur Landschaftsdarstellung in Goethes Kunstprosa [Reprint 2019 ed.]
 9783111654423, 9783111270357

Table of contents :
VORWORT
LITERATUR
ABKÜRZUNGEN
INHALTSÜBERSICHT
DIE ARTEN DER LANDSCHAFTS-DARSTELLUNG
LANDSCHAFT UND ROMANCHARAKTER
LANDSCHAFT ALS SINNLICHE WAHRNEHMUNG
DER SPRACHSTIL DER LANDSCHAFT

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BEITL GOETHES BILD DER LANDSCHAFT

GOETHES BILD DER L A N D S C H A F T UNTERSUCHUNGEN ZUR LANDSCHAFTSDARSTELLUNG IN GOETHES KUNSTPROSA

von

RICHARD BEITL

1929

WALTER DE G R U Y T E R & Co. VORMALS G . J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G — J. G U T T E N T A G , VERLAGSB U C H H A N D L U N G — G E O R G REIMER — K A R L J. T R Ü B N E R — VEIT & C O M P .

BERLIN UND LEIPZIG

Druck von J . J . Augustin in G l ü c k s t a d t und H a m b u r g »

MEINEM VATER

VORWORT. Anfang und Fortführung der vorliegenden Untersuchungen vollzogen sich in engster Verbindung mit Arbeiten im Berliner Germanistischen Seminar von Prof. Julius Petersen. Für wissenschaftliche Lehre und zugleich für eingesetzte Hilfe in Konflikten, die außerhalb der Wissenschaft lagen, fühle ich mich Julius Petersen zu dauernder tiefer Dankbarkeit verpflichtet. Auf seine Anregung hin besonders ging ich an den intensiveren Ausbau des letzten Teiles dieser Untersuchungen, was mir die Freude an manchen neuen Einblicken in die Gesetze des Sprachstils brachte. Unmittelbar in dieser Arbeit förderte mich dann Dr. H. Wahl, der mir die Weimarer Sammlung der fast zweitausend Handzeichnungen Goethes in dankenswertester Weise zugänglich machte. Die Arbeit lag ungefähr in dieser Form bereits 1927 vor. Die ersten drei Bogen sind als Dissertation gedruckt. Die Veröffentlichung des Ganzen wurde mir erst jetzt wirtschaftlich ermöglicht. Das verständnisvolle Entgegenkommen des Verlages sei auch hier dankbar anerkannt. Richard Beiti.

LITERATUR. G o e t h e s W e r k e , Weimarer Ausgabe 1887. D e r j u n g e G o e t h e , hsg. v. M . Morris, Leipzig 1909. G o e t h e s G e s p r ä c h e , hsg. v. W. und F.Biedermann, Leipzig 1909. G o e t h e s H a n d z e i c h n u n g e n , Sammlung des Goethe-NationalMuseums in Weimar. W. D o n a t , Die Landschaft bei Tieck und ihre historischen Voraussetzungen, Diss. Berlin 1925. L . F r a n c k , Statistische Untersuchungen über die Verwendung der Farben in den Dichtungen Goethes, Diss. Gießen 1909. K . G e r s t e n b e r g , Goethe und die italienische Landschaft, Deutsche Vierteljahrschr. f. Literaturw. und Geistesg. I, 4. F . K a m m e r e r , Zur Geschichte des Landschaftsgefühls, Berlin 1909. A. K u t s c h e r , Das Naturgefühl in Goethes Lyrik, Leipzig 1906. W. H. R i e h l , Das landschaftliche Auge, in: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859. H . W a h l , Goethes Schweizerreisen, 1920. W. v. W a s i l i e w s k i , War Goethe am Lago maggiores1 G . J . 9. i 8 3 f f . S. W u k a d i n o v i c , Goethes Novelle, Halle 1909. Für weitere, nicht unmittelbar herangezogene Literatur über die dichterische Landschaftsdarstellung verweise ich auf die ausführlichen Verzeichnisse bei Kammerer und Donat (s. o.).

ABKÜRZUNGEN. Der Zusatz WA (Weimarer Ausgabe) fällt stets fort. Auch die Abteilung (I. Dichtung, I I . Naturwissenschaft, I I I . Tagebücher, IV. Briefe) wird nur angegeben, wo es sich ausnahmsweise um eine andere als die erste handelt. Wenn sich die zahlreichen Wortzitate eines Kapitels (besonders im Stilteil) alle auf denselben Band von W A I beziehen, wird nur die Seitenzahl angegeben. Wenn ein Wort auf mehreren Seiten sich findet, werden die Seitenzahlen durch Komma getrennt, z. B. (45, 88). Punkt bezeichnet immer eine Bandzahl, z. B . (23. 130). Reiseberichte, Briefe und Gespräche werden nach Ort und Datum zitiert, da diese äußeren Angaben im Text erwünscht sind und gegebenenfalls auch das Nachschlagen hinreichend ermöglichen.

INHALTSÜBERSICHT. Seite

Vorwort Literatur Abkürzungen

VII VIII VIII

DIE A R T E N DER L A N D S C H A F T S D A R S T E L L U N G Bildende Kunst Zeichnen Malen 2 / Das Nach-Sehen 3 / Die Staffage 5 / Das „Mahlerische" 6 Wissenschaftliche Beschreibung Dichtkunst Naturstudien; Motivsammlung 11 / Naturforschung; Das Malerische und Poetische; Gegenständlichkeit und Wahrheit; Klarheit 13 / Idee, Motiv, Anschauung 14 Zwischenformen und Übergänge Malgedicht 16 / Lehrgedicht 18 / Naturidylle 19 Übertragungen LANDSCHAFT UND ROMANCHARAKTERE T y p i k des N a t u r g e f ü h l s Naturgefühl, Begriff und Begrenzung 26 / Die drei Typen des Naturgefühls 28 / Ihre Entwicklung und Gestalt in Goethes Kunstprosa 32 W e c h s e l w i r k u n g von G e f ü h l s t y p u s und L a n d s c h a f t s b i l d Werther Erste Wendung 50 / Zweite Wendung; Dritte Wendung 51 / Ossians Landschaft 54 / Vierte Wendung und Schicksalslandschaft 57 Wahlverwandtschaften Beschreibungslandschaft 58 / Entwicklung zur Ichlandschaft 62 / Schicksalhafte Landschaft 64 LANDSCHAFT ALS SINNLICHE WAHRNEHMUNG Farbe Goethes Farbensinn. Berichtigung Selbstzeugnisse 69 / Zeugnis der Werke 70 / Werther und Schweizerreisen 71 / Farbe als wissenschaftliches Phänomen 72 / Italienische Reise und Farbenlehre 73 Hat Goethe gemalt i Juvenilia; Weimar; Italien 75 / Böhmische Skizzenbücher 77 Die Farbe in der Romanlandschaft Gelb Werther; Italienische Reise; Rot und Gelb 78 / Spätere Werke 79 Rotgelb Gelbrot

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IX

Blau Wissenschaftliche Entdeckung des Blauen 1779 81 / Spätere Werke 82 / Farbige Schatten 83 / Dioptrisches Blau; Anachronismen in Dichtung und Wahrheit 85 / Italien 86 / Wahlverwandtschaften 87 Rotblau Blaurot Rot Rot und Licht im Werther; Italien 89 / Spätere Werke 93 Grün Entdeckung des Grünen 1779 92 / Italien; Spätere Werke 93 Weiß Werther; Entdeckung des Weißen 1779; Weiß und Grün 95 Schwarz Grau Braun Das Bunte Entdeckung des Bunten in Italien 99 / Farbenskepsis im Norden 100 / Typisierendes Bunt 101 Physiognomische Farben Werther 102 / Urmeister und Lehrjahre 103 / Wahlverwandtschaften und spätere Werke 104 / Erklärung des Vorrangs der physiognomischen Farben 106 / Das poetische Programm 106 / Die Naturanlage des physiognomischen Sehens 107 / Das menschliche Inkarnat die schönste und höchste Farbe 108 / Die literarische Überlieferung 109 Licht Lichtwahrnehmung ein „angeborener Sinn" Die Lichtträger Sonne

Übergang des sinnlichen Motivs zum Symbol des Lebens 113 / Ordnerin des Dunklen 115 Mond Werther 119 / Landschaft Ossians 120 / Vollmond 121 / Reisen und Zeichnen 121 / Übergang des sinnlichen Motivs zum Symbol des Todes; Leidenschaft und Verwirrung 123 Zwielicht von Sonne und Mond Sterne Atmosphärisches Licht (Nebel, Wolken) Erdenlicht (Irrlicht, Vulkan, Reflex) Plastisches physiognomisches Licht Tageslicht 131 / Mond, Kerzen und Fackeln 132

Seite

81

88 88 88 92 95 97 98 98 99

110 in

118

124 125 127 129 131

Ton Mangel des „angeborenen Sinns" 133 / Quantität und Qualität des Tons 134 / Schweizerreise 134 / Italien 135 / Werther 137 / Ossians Landschaft 138 / Urmeister und spätere Werke 138 Der Vorrang physiognomischer Töne. Tonlehre 141

X

D u f t - und H a u t e m p f i n d u n g Fließen der Motivgrenzen 142 / Werther; Übergang zum Bewegungsmotiv 143 / Lehrjahre und spätere Werke 145

Seite

DER S P R A C H S T I L DER L A N D S C H A F T Die Grundprinzipien des sprachlichen Stils. Das Nominale und das Verbale. Dynamischer und tektonischer Stil 148 Dynamischer Stil Werther 150 Wilhelm Meisters theatralische Sendung 169 Tektonischer Stil Wilhelm Meisters Lehrjahre 175 Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 189 Wahlverwandtschaften 198 Wilhelm Meisters Wanderjahre 218 Novelle 239

XI

DIE ARTEN DER LANDSCHAFTS-DARSTELLUNG. i. B I L D E N D E K U N S T . Zeichnung und Malerei, wissenschaftliche Beschreibung, Dichtung sind die drei Arten der Landschaftsdarstellung, die Goethe geübt oder doch versucht hat, und die grundlegenden überhaupt, wenn man von den entfernteren Ausdrucksmöglichkeiten der Musik und Plastik absieht. Die beiden Zweige der bildenden Kunst erfassen von der Landschaft die sinnlichen Erscheinungen durch die Sehkraft und zwar nach ihren Proportionen in sich und untereinander und nach der Farbe. Ihr Ziel ist die Zusammenfassung zum Bild, der unmittelbare Gegenstand ihrer Wirkung sind die menschlichen Sinne. Da Goethes Z e i c h e n k u n s t nicht den Gegenstand dieser Arbeit, aber häufig einen wichtigen Vergleichspunkt bildet, suchen wir mit einer kurzen und eindringlichen Skizze ihrer besondern Art und Entwicklung die Grundlage für die folgenden, nur der dichterischen Landschaftsdarstellung gewidmeten Untersuchungen zu verbreitern. Goethes erste Bemühungen um das Landschaftszeichnen fallen zusammen mit den dichterischen Anfängen in die Frankfurter Knabenzeit. Ein Lehrmeister, der den lernfreudigen Zögling zu einer eindringlichen und eigentümlichen Anschauung der freien Natur hätte anleiten können, fand sich nicht. Dem Vater und Erzieher lag sehr an einer bis zum quadratischen Bildumriß ausdauernden und gewissenhaften äußeren Fertigstellung des Angefangenen. Die Künstler aber, die in Frankfurt und zum Teil im unmittelbaren Auftrag des väterlichen Bilderkabinetts arbeiteten, hielten mit handwerklicher Treue am überkommenen Rokokogeschmack fest und hatten vom künstlerischen Schaffen einen so bescheidenen Begriff, daß sich drei Maler in Baumschlag, Himmel und Staffage desselben Bildes friedlich zu teilen vermochten. Auch auf strenge Methode kam es nirgends an; nicht um die Ausbildung eines geborenen Malers handelte es sich. Im Ganzen war die Zeichenkunst wie auch das Poetisieren in Alexandrinern eine zeitübliche schöngeistige Ergänzung der praktischen Lehrgegenstände. Ob aber selbst der ursprünglichste und zielsicherste Zeich1 Beiti.

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ner aus dem jungen Dichter noch überdies einen Maler gemacht hätte, bleibt äußerst fraglich. Das entscheidende Urteil Goethes über die Grenzen seiner Begabung entspringt einer Erkenntnis des Alters, die aber nicht rein überlegend erworben, sondern vom Leben abgezogen und an der Erfahrung befestigt, - freilich auch keine ganz freie ist, sofern es ihm schlechthin unmöglich war, nach dem tatsächlichen Mißlingen und der Aufgabe des Zeichnens in Italien noch einmal an ein nur nicht richtig geleitetes und entwickeltes Talent zu glauben. Schon in Dichtung und Wahrheit verneint Goethe, daß ihm „die Natur . . . die Fähigkeit eines Zeichners für's Einzelne" gegeben hätte (I 27. 16). Der Gedanke der künstlichen Erlernung ist zu ergänzen, wenn er später zu Eckermann sagt, daß das Landschaftszeichnen „ k e i n e N a t u r a n l a g e " war (20. 4. 25.). Und die positive Wendung an derselben Stelle: „Eine gewisse Zärtlichkeit gegen die landschaftlichen Umgebungen war mir eigen" deutet auf eine überwundene Selbsttäuschung, der auch Werther verfallt, nämlich im zuversichtlichen Drang der Jugend die warme Empfindung an der Natur schon für Gestaltungsvermögen zu nehmen. — Ein vorzüglicher Beweis seiner natürlichen Dichterbegabung wurde für Goethes spätere Betrachtungsweise der innere Besitz der sogenannten „poetischen Antezipation", der angeborenen Kunde von menschlichen Handlungen und Seelenzuständen, und dieser intuitiven Kraft schreibt er es zu, daß ein so frühes Werk wie der Götz so wahr und wirklich ausfallen konnte. Mit dem Maßstab desselben Grundsatzes mißt er den Entwicklungsgang seiner Zeichenkunst: „Das wirklicheTalent besitzt einen angeborenen Sinn für die Gestalt, die Verhältnisse und die Farbe" (Eck. 16. 4. 29.) und kommt zum entgegengesetzten Schluß. Die Wahrnehmung des Farbigen in der Landschaft fällt weiter unten in den engeren Kreis der Untersuchung. Hier genügt die Bemerkung, daß Goethe viel getuscht, schattiert, laviert und illuminiert, aber nie im künstlerischen Sinne des Wortes gemalt hat. Unter der „Gestalt" und den „Verhältnissen" dürfen wir wohl zunächst das Lineare und Plastische verstehen. Aber besonders mit dem Ausdruck „Gestalt" bezeichnet Goethe auch ein Geistiges, in der Anwendung auf die Landschaft also den äußeren und inneren Aufbau, den eigentümlichen Ausdruck, das Wesen, das nicht den einzelnen Gegenständen nach und mit den Augen allein erfaßt werden kann. Goethe charakterisierte selbst die Zaghaftigkeit, die ihn überkam, wenn der Vordergrund einer Landschaft energische Gestaltung verlangte: „Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen durch die Mittelgründe heran,

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so fürchtete ich immer, dem Vordergrund die gehörige Kraft zu geben" (Eck. 10.4.29.). Er vermißte überhaupt als Zeichner einen „genügsamen Trieb für das Körperliche" (ebenda), und die Abgrenzung der Gestalt, der rahmende Umriß fiel ihm schwer. Er Zeichnete nicht gern in den Raum. Zahlreiche Skizzen wurden erst nachträglich durch Beschneidung oder durch begrenzende Striche zu einem Bild abgeschlossen. Ein Zeugnis der Jugendchronik spricht den Mangel der zeichnerischen Gestaltungskraft noch deutlicher aus als jenes spätere, zusammenfassende Urteil: „welcher Sinn, welches Talent, welche Übung gehört nicht dazu, eine weite und breite Landschaft als Bild zu begreifen! Unmerklich wieder zog es mich jedoch in's Enge, wo ich einige Ausbeute fand" (127.19.). Scheu und mutlos begnügt er sich, ein „verfallenes Schloß", ein „Gemäuer" abzuschildern. Goethes bildnerisches Landschaftssehen war nicht produktiv. Vor dem Schauen des Zeichners ging die Natur nicht die Verwandlungen ein wie vor dem Gefühl des Dichters. Daher der — erst in der Zeit der Theorie und Kritik bewußt gewordene — Rückzug „in's Enge", zu malerischen Ausschnitten, ja zu einzelnen Gegenständen. Wo aber diese Bescheidung nicht geübt wurde und der Blick vor dem Ganzen verweilte, mußte geschehen, was immer geschieht, wenn eine starke technisch-formale Begabung ohne ursprüngliche Kraft der Anschauung am Werk ist: die Form entsteht willig, aber sie füllt sich nicht ebenso schnell und leicht mit verwandeltem Stoff; so wird der Gehalt entlehnt, der eigene Rahmen umschließt gewissermaßen ein fremdes Bild. Auf diese Weise scheint sich mir ein notwendiger Zusammenhang zu ergeben zwischen jenem eingestandenen mangelnden Gestaltungsvermögen und einer hervorstechenden Eigentümlichkeit des Goetheschen Sehens, nämlich menschliche Szenen und Landschaft mit den Augen — richtiger mit dem „Sinn" — eines anderen Künstlers zu erfassen. Es ist auffallend, daß der Dichter selbst nie auf diese Verbindung hinwies. Doch erklärt dies zur Genüge die Tatsache, daß er von vornherein in dieser Fähigkeit, in diesem N a c h - s e h e n , eine besondere „ G a b e " , ein selbständiges geistiges Phänomen erblickte und nie ohne einen gewissen stolzen Nachdruck davon sprach. Durch diese subjektive Einschätzung wurde sein Blick befangen. Bis zur italienischen Reise war die Ausübung eine unbewußte, obwohl Dichtung und Wahrheit ihr erstes Auftreten schon in die Leipziger Zeit verlegt, wo Goethe in der Innenszene einer Schusterwerkstatt ein Bild von Ostade zu sehen vermeinte: „ E s war das erste Mal, daß ich auf einen so hohen Grad die Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Be1*

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wußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen" (I 27. 171). Diese Abhängigkeit des Sehens würde zwar nicht viel besagen gerade für diese Zeit, da auch der Dichter noch nicht durchaus eigen und sicher war und der Ausdruck des Gefühls zuweilen wenig von der anakreontischen Manier von Uz, Götz und Hagedorn abwich. Doch als sich in Straßburg Leidenschaft freie Bahn gebrochen und die verlogenen Rokokoschnörkel und -ranken von der deutschen Lyrik gestreift hatte, trübte das Auge des Zeichners weiter der Nebel fremder Anschauungsweisen. Er begleitete ihn in die Schweiz, nach Italien, in die Campagna. Oft ist das Bild mit dem Namen des Malers gewissermaßen signiert, mit Everdingen, Roos, Dow, Poussin; Z. B. „Einige Mühlen zwischen uralten Fichten über dem schäumenden Strom waren völlige Everdingen" (It. R. 1 1 . 9. 86). Noch öfter bleibt hinter einer allgemeinen Bezeichnung mit „Gruppe", „Bild", „Gemälde" das Schema zu erraten. Es kann sich auch verallgemeinern; so bildet das in Farben der venetianischen Schule gehaltene Lagunenbild geradezu einen Auszug und eine Anwendung der in den dortigen Sammlungen empfangenen Eindrücke: „Als ich bei hohem Sonnenschein durch die Lagunen fuhr, und auf den Gondelrändern die Gondoliere leicht schwebend, buntbekleidet, rudernd, betrachtete, wie sie auf der hellgrünen Fläche sich in der blauen Luft zeichneten, so sah ich das beste, frischeste Bild der Venetianischen Schule" (8.10.86). Sehr bemerkenswert bleibt noch, daß das Bildschema solchen Malern fast ausnahmslos entlehnt wird, die Goethe selbst nach seiner Terminologie im Aufsatz von 1789 „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" zweifellos zu den Manieristen gezählt haben würde, wogegen er die Anschauungsweise der stilvollen Meister und der „Dichter" in der Malerei wie Rubens, Ruisdael, Claude Lorrain in jener schematischen Art zu übertragen nicht versuchte. In der Manier wird die Natur verengt, präzisiert, ihr Verfahren läßt sich mitteilen, — der Stil verallgemeinert die Natur, erhebt sie über sich selbst und ist nicht mitteilbar. In dem Satz über die Wirkung von Michelangelos vatikanischen Deckenfresken : „ich bin in dem Augenblicke so für Michel Angelo eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch nicht mit so großen Augen wie er sehen kann" (Rom 2 . 1 2 . 8 6 ) ist das Leiden unter jener Gabe eines fast zwangsweisen Bildsehens oder vielmehr ihre Begrenzung gegen den manierfreien und unschematischen großen Stil hin scharf gekennzeichnet. Wie die Einengung durch fremde Anschauungsformen ist auch die unkritische Hingabe Goethes, wenigstens in der ersten Lebens-

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hälfte, an den Kunstglauben seiner Zeit in Einzelheiten nur aus dem Mangel des schöpferischen Talents für die bildende Kunst zu erklären. Mit der von der Höhe Claude Lorrains stetig absteigenden Kunst der Landschaftsdarstellung war der Begriff der S t a f f a g e , der Ausstattung des Landschaftlichen mit Lebewesen, immer mehr veräußerlicht. Die rohe Arbeitsteilung der Frankfurter Maler stand nicht allein, und Goethe hat sich daran nicht gestoßen. Selbst noch in der kritischen Periode läßt er den Maler, der in den Wanderjahren Wilhelm in Mignons Heimat begleitet, auf seinen Bergbildern Flecke aussparen, um sie bei guter Gelegenheit und sich bietendem dankbaren Objekt auszufüllen. Goethe hat sich selbst in der Staffage mit wenig Glück und selten versucht, aber doch nur, weil er bald erkannte, daß mit den anatomischen Zeichenübungen in Rom nichts Versäumtes nachzuholen war; auch nicht, wenn Angelika Kauffmann sie förderte und Philipp Hackert sie überwachte, den er und auch Heinrich Meyer für einen Meister passender Staffierung achteten. Viel früher und verhältnismäßig zahlreicher als die anatomischen Figuren- sind die Porträtzeichnungen, die Goethe zur Mitarbeit an Lavaters Physiognomischen Fragmenten geradezu vorbestimmten. Damit ist schon angedeutet, daß die Trübung des Landschaftlichen durch den äußerlich gewordenen Begriff der Staffage deshalb so unbefangen hingenommen wurde, weil sich darin etwas Grundsätzliches über die Rangordnung der Malerei überhaupt verbarg, das der Theoretiker später deutlich aussprach, als er für die Blumenmalerei ein bescheidenes Plätzchen der Berechtigung verteidigte: „Wenn gleich die menschliche Gestalt, und zwar in ihrer Würde und Gesundheitsfülle, das Hauptziel aller bildenden Kunst bleibt, so kann doch keinem Gegenstande . . . das Recht versagt werden gleichfalls dargestellt zu sein" (149. 377). Auch schon in der kommentierten, 1796 veröffentlichten Teilübersetzung von Diderots Essais sur la Peinture ist der Satz von Goethe: „Wer sich zu der Idee von der bedeutenden und schönen menschlichen Form emporgehoben hat, wird alles übrige bedeutend und schön hervorbringen. Was für herrliche Werke entstanden nicht, wenn die großen sogenannten Historienmahler sich herabließen (sie!), Landschaften, Tiere und unorganische Beiwerke zu mahlen!" (I45.297). So war denn für die Weimarer Preisaufgaben, die Goethe zur Hebung der deutschen Malerei ausschrieb, nicht zufällig durchweg menschliches Geschehen, sei es aus dem Stoffkreis Homers, der weltlichen oder biblischen Geschichte, die vorzüglichste Themenquelle.

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Diese Begünstigung der Menschendarstellung hat, wie im Kapitel über die Typen des Naturgefühls noch auszuführen sein wird, ihren letzten Grund im dichterischen Grundplan Goethes. Gleichfalls aus einem unbewußten Herüberwirken von Prinzipien der Dichtkunst erklärt sich die Billigung und praktische Anwendung der Forderung des „ M a h l e r i s c h e n " in der Landschaft. Das Schoßkind des achtzehnten Jahrhunderts, die warme Empfindung, sollte auch in der bildenden Kunst zu ihrem Recht kommen. Werther ist „ganz in mahlerische Empfindung vertieft"; dagegen hat die Natur Wilhelm, dem das Leben nach den ersten Szenen des Urmeisters nur von allen Seiten gewissermaßen vorgelebt wird, bezeichnenderweise auch „kein mahlerisches Auge" verliehen. Dem Bild ist, entgegen Lessings und auch Goethes eigenen Sätzen, eine Wirkung nicht nur auf die Sinne, sondern auch auf die menschliche Einbildungskraft verstattet. Daß man schon damals mit dem Begriff des Malerischen den literarischen Nebensinn des Romantischen verband, beweist der von Goethe angeregte Aufsatz Philipp Hackerts „Über die Landschaftsmahlerei", in dem dieser Liebhabern, die Gärten, Fruchtland und Stadtnähe gemalt sehen möchten, den Satz entgegenhält: „ J e weniger die Gegenden cultivirt sind, je mahlerischer sind sie" (146.360). In der Schule der Antike in Rom kam Goethe zwar das Künstliche und Unkünstlerische dieser Trennung zum Bewußtsein: „Manchmal erinnere ich mich, wie der Künstler im Norden den Strohdächern und verfallenen Schlössern etwas abzugewinnen sucht, wie man sich an Bach und Busch und zerbröckeltem Gestein herumdrückt, um eine malerische Wirkung zu erhaschen" (17. 2. 87); auch hielt es nicht schwer, in der großen und hellen, oft theatralischen, immer bedeutenden südlichen Landschaft das Malerische in allem Natürlichen zu finden. Aber was sich der Dichter im stillen versprach, auch das deutsche Land tiefer und reicher sehen zu lehren, das vermochte Italien nicht. Im Norden tritt jener Begriff geradezu wieder in Gegensatz zum Natürlichen, wenn 1797 der Ausblick vom Obertor in Heidelberg „nicht mahlerisch, aber sehr natürlich schön" gefunden wird. Trotzdem wird ihm die Berechtigung nicht abgesprochen. Nur in den Wahlverwandtschaften fällt auf das Unwahre, Lebensfremde daran fast ein Schimmer von Ironie: „das Ganze hatte einen friedlichen Charakter und die einzelnen Partien, wenn auch nicht zum Mahlen, schienen doch zum Leben vorzüglich geeignet zu sein" (I 20. 185). Von solchen einseitigen Lehrmeinungen in der bildenden Kunst befreite sich Goethe vorübergehend, als er in der Weimarischen Zeit vor Italien das Mißtrauen, das schon Werther in die Kunst6

regeln setzte, zur Tat machte, sich fern von aller Theorie einer liebevollen Nachahmung der Natur ergab und, da ihm mit der Begabung die Beschränkung auf ein spezifisch bildnerisches Sehen versagt war, nun seinem Zeichnen die ganze Fülle der Dichterempfindung einhauchte. Daher stammt die auch heute noch unmittelbare Wirkung mancher Parkbilder, der Zeichnungen der nächtlichen und winterlichen Ilmwiesen am Gartenhaus und der thüringischen Waldtäler. So blieb es, bis in Italien das Gesetzmäßige wieder Gewalt über Goethe bekam, ja die Natur sich — wie auch für die wissenschaftliche Betrachtung — in dieses verwandelte. Das unter dem Regelzwang Hackerts mühsame technische Studium der Pflanzenphysiognomie, der menschlichen Anatomie setzte ein und gedieh gerade soweit, daß der Künstler, der alles dem eng an die Natur sich schmiegenden, warmblütig auf das Kleine gerichteten Dichtersinn verdankte, mit seltsamer Verblendung triumphieren konnte: „wäre nur alles Kleinliche so rein daraus (aus der Seele) weggewaschen als die Kleinheit der Strohdächer aus meinen Zeichenbegriffen" (Sizilien 5.4.87). Und schließlich, im zweiten römischen Aufenthalt brach die Entwicklung ab mit Ungeduld und Resignation. Was später folgt, sind empfindungsarme, experimentierende, tagebuchartige Skizzen von den böhmischen Reisen, einzelne Versuche wie die Serie von 1810, meistens aber Studien zur Farbenlehre, zu Meteorologie, Botanik, Zoologie und Theaterwesen. Auch die Kritiken und Aufsätze zur Theorie der bildenden Kunst sind Anwendungen der in Italien geformten klassischen Grundsätze. Nur die eigene vergangene Produktion bleibt nach mehrerem Überlegen von einer solchen auswählenden Kritik mit bestechlicher, jedoch tief richtig empfindender Nachsicht verschont. Das abschließende Urteil, das Eckermann für den 20.4.25. aufzeichnet, blickt auf die Leistungen der ersten Weimarischen Periode zurück: „Die Reise nach Italien zerstörte dieses praktische Behagen; eine weite Aussicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Tätigkeit ging verloren". In diesen Worten ist eine schmerzliche Empfindung und die Erkenntnis nicht unterdrückt, daß manches Wertvolle und wohl auch Angeborene, Deutsche, zerbrochen werden mußte, ehe der Klassiker Goethe vollendet war.

2. W I S S E N S C H A F T L I C H E B E S C H R E I B U N G . Für die wissenschaftliche Beschreibung ist alles Landschaftliche zunächst bloß neutrales „Phänomen", das sie durch denkende Beobachtung auf Inhalt und Umfang prüft. Ihr Ziel ist die systema-

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tisch geordnete Erklärung, ihr Wirkungsgegenstand der menschliche Verstand. Die wissenschaftliche Beschreibung scheidet (mit Ausnahme etwa weniger, in einem bedingten Sinn „dichterischer" Aufsätze: Der Granit, Eratischer Block; einzelne Abhandlungen zur böhmischen Geologie und zur Meteorologie) als eine dem ästhetischen Gehalt nach völlig indifferente Art der Naturdarstellung für unsere Betrachtung aus. Eine Schilderung ihrer Grundsätze und Entwicklungsstufen fiele mit einer Geschichte von Goethes Naturerforschung zusammen. Des grundsätzlichen Unterschiedes, der zwischen Forscher und Dichter oder Maler hinsichtlich der Organe der Auffassung und Wiedergabe waltet, war sich Goethe völlig bewußt und sprach es in der Vorrede zur Farbenlehre programmatisch aus. Die allmähliche Loslösung der gelehrten aus der dichterischen und bildmäßigen Anschauungsweise können am besten die drei Stufen der Schweizerreisen verdeutlichen. Die Tagebuchaufzeichnungen von 1775 verweilen noch ganz beim ästhetischen Eindruck. Ein Satz aus der ersten Abteilung der Briefe aus der Schweiz: „Da setz' ich mich hin und schreibe und beschreibe" ( 1 1 9 . 197) bleibt ein trügerischer Vorsatz, denn der Beschreiber legt sehr subjektiv und gefühlsmäßig los: „frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen?" Strenge Naturbeobachtung findet sich nicht oder nur eingehüllt in den trüben Dampf der Empfindung. Die später zusammenredigierten Briefe von der zweiten Reise 1779 führen einen sorglos breit beschreibenden Prosastil mit der genauesten Verkörperung der ästhetischen Teilnahmslosigkeit, dem Terminus (Phänomen, Imagination, Disposition, Consistenz, perpendikular, perspektivisch u. s. w.), ein und tragen zum größeren Teil das Gepräge eines erwachten, kraftvoll und weit sich ausbreitenden, aber deshalb noch ordnungslosen wissenschaftlichen Interesses, das dann 1797 entschieden vorherrschend, zugleich abstrakter und systematischer geworden ist. Dazwischen liegt das Werk, das beide Arten der Landschaftsdarstellung am reinsten und vorbildlich verschmilzt, die Beschreibung der italienischen Reise. Schon vor 1797, noch mehr aber später entzieht sich die wissenschaftliche Naturdarstellung in systematischen Werken, Abhandlungen und Fragmenten ganz dem ästhetischen Bereich. Die Auflösung der spezifisch künstlerischen Personalunion, die schon 1779 herbeigerufen wird („auch brauchte es eigentlich immer zwei Menschen, einen der's sähe und einen der's beschriebe" [I 19. 247]) ist vollendet im eigenen Innern. — Die wissenschaftliche Deskription ist für diese Untersuchung von Bedeutung nur in ihrer Abfärbung auf 8

die dichterische Landschaftsdarstellung, wovon bei den Zwischenformen und Übergängen zu handeln sein wird. 3. D I C H T K U N S T . Die Dichtkunst erblickt im Landschaftlichen ein Tun oder Leiden und sucht durch das Gefühl dessen Sinn inne zu werden. Ihr Ziel ist der Mythos, das Ge-dicht, und wirken will sie auf die menschliche Einbildungskraft. Ihre Ausdrucksform spiegelt ein Geschehen und hat außer dem sprachlichen auch das innere Nacheinander. Goethes starke Neigung zur theoretischen, vom ästhetischen Eindruck absehenden Naturbetrachtung mündete aus in Werke strenger Wissenschaftlichkeit. Je vollkommener dies geschah, desto unbefangener und freier von jeder gedanklichen Filtrierung konnte sich der Künstler der reinen Einwirkung der Natur hingeben. Wenn schon der Zeichner, dem die Landschaft immerhin das unmittelbare und fast einzige Objekt darstellte, selten theoretisierend Zu ihrem ästhetischen Wesen vordrang, so finden wir für eine Theorie der Landschaftsdarstellung des Dichters verhältnismäßig noch weniger unmittelbare Zeugnisse, zumal da sie nun der Menschenschilderung als Mittel untergeordnet ist, von dieser Anregung und Beschränkung zugleich erfährt. Die neutrale und vollkommenste Form dichterischer Naturdarstellung ist und bleibt die Lyrik. Darin verdankt Goethe der Natur von den ersten Anfangen an Unendliches, und nur auf die epische, für diese Untersuchung auch allein in Betracht kommende Landschaftsdarstellung im engeren Sinn mag der Satz abgezielt sein: "Ich habe . . . niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet" (Eck. 18. 1. 27). Aber auch dieser Satz erleidet von anderen Zeugnissen einige Einschränkung. Goethe hat zwar nie einer „Bilderjagd" gehuldigt, wie er sie dem Idylliker Kleist in seiner Leipziger Zeit heiter nachsagte, aber doch in großzügigerer Weise an der Landschaft, an ihrer wechselnden Physiognomie oder Stimmung, S t u d i e n gemacht. Allerdings erst 1787, als sich sein Sehen schon etliche Zeit aus der alle Umrisse trübenden Übermacht des Werthergefühls befreit hatte, sehen wir den Dichter in eindeutigem Ausspruch ein bestimmtes landschaftliches Objekt, den Stadtpark von Palermo, in bestimmter poetischer Absicht betreten, nämlich an Hand der homerischen Gesänge sich durch verwandte Anschauung und allgemeine Stimmung eine geplante Nausikaadichtung näherzubringen. Daß es sich um ein beobachtendes Studium handelte, geht schon daraus hervor, daß dieses noch dich9

terische alsbald in ein wissenschaftliches Interesse umschlug und von der — ideellen, aber damals noch immer etwas naiv existent und auffindbar geglaubten — Urpflanze verdrängt wurde: „Gestört war mein guter poetischer Vorsatz, der Garten des Alcinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgetan" (Palermo 17. 4. 87). In Taormina umkreisen die Gedanken noch denselben Stoff und verweben ihn mit den Zügen der sizilischen Insellandschaft im weitestem Sinn: „diese einfache Fabel sollte... besonders durch das Meer- und Inselhafte der eigentlichen Ausführung und des besonderen Tons erfreulich werden" (Taormina 8. 5. 87). Aber weder früher noch später finden wir einen so tiefgehenden Antrieb durch das rein landschaftliche Erlebnis wie ihn der Dichter den zum drittenmal vertieften und befestigten Eindrücken der Schweizerreise 1797 zuschreibt: „diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechslung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen" Alle Anzeichen scheinen dafür zu sprechen, daß diese Dichtung im Falle der Ausführung fast als einzige in Goethes Epik ein Landschaftserlebnis zum Mittelpunkt genommen hätte. Von Menschen ist auch in der Fortsetzung, in die Eckermann eigene poetische Farben immerhin gemischt haben mag, nur entfernt die Rede: „Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glänze der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen, Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille". In der Mitteilung des ganzen Planes an Schiller scheint das Landschaftliche dem Wortlaut nach („in dessen Seele sich meine Landschaft und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten") noch im Vordergrund gestanden zu haben Auffallend bleibt, daß gerade diese beiden Pläne, deren Konzeption so eng mit dem Landschaftserlebnis verknüpft war, nicht ausgeführt wurden. Nur zur Not ist es damit erklärt, daß im einen Fall das griechische Inselmeer, im andern die Schweizer Alpen, also fremde Landschaftstypen zugrunde lagen, gegen die Goethe auch sonst ein zähes Widerstreben an den Tag legt. Das tiefere Hemmnis war wohl der Mangel menschlicher Schicksale, die der Landschaft erst den ganzen symbolischen Gehalt abgefordert oder vielmehr sie mit diesem gefüllt hätten. Die verheißungsvollen Blüten blieben unbefruchtet. In Sizilien ist Goethe keine Nau-

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sikaa begegnet und einen dramatisch gewaltsam handelnden Helden wie Wilhelm Teil darzustellen, war um die Jahrhundertwende nicht mehr Goethes innerer Beruf. In zahlreichen Fällen aber gemildert wird jene Verneinung des poetischen Naturstudiums, wenn l a n d s c h a f t l i c h e E i n z e l z ü g e in Frage kommen. Hier den gelegentlichen Zusammenhang zwischen Motiven in der Dichtung und den mitunter zeitlich und örtlich bestimmbaren Urwahrnehmungen herzustellen, dazu gibt der Dichter selbst die Anregung. Bei der Klarstellung des Begriffes der poetischen Antezipation überliefert Eckermann diese Bemerkung: der Lebenszustand Fausts ist antezipiert, t allein um z. B. zu sagen: Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe Des späten Monds mit feuchter Glut heran — bedurfte es einiger Beobachtung der Natur" (Eck. 26.2. 24). Auch die einleitenden Terzinen zu Faust I I bezeichnet Goethe, weniger unmittelbar, als „Nachhall" der Schweizerreise 1797. Die Vermittlung landschaftlicher Vorstellungen durch Zeichnungen und Gemälde wurde nicht verschmäht, besonders wenn eine Verlebendigung vergangener Eindrücke erwünscht war. Für die Schilderung von Wilhelms Besuch in Mignons Heimat in den Wanderjahren wurden nach dem Bericht des Tagebuchs kolorierte Zeichnungen zurate gezogen. Bei einer späteren Betrachtung von solchen bemerkte Goethe auf die Frage Eckermanns zu den Bildern der Borromäischen Inseln und des Lago Maggiore, „daß dies der See aus seinen Wanderjahren sei" (Eck. 22. 2. 24.). 1 ) Daß uns solche Beziehungen nicht in größerer Zahl überliefert sind, erklärt sich hinreichend aus Goethes heftiger Abneigung gegen eine unwissenschaftliche und nur aus biographischer Neugier hergeleitete Modellschnüffelei, mit der das Publikum schon den Verfasser des Werther zu belästigen begann; als ob das Naturobjekt in seiner bloßen Gegebenheit irgend eine Wichtigkeit für das Kunstwerk besäße: „ D a wollen sie wissen, welche Stadt am Rhein bei meinem „Hermann und Dorothea" gemeint sei. Als ob es nicht besser wäre, sich jede beliebige zu denken" (Eck. 2 7 . 1 2 . 26). Und ob der Dichter sich aus der Entdeckung selbst eines so engen Modellzusammenhangs — den er vielleicht absichtlich nirgends angedeutet hat—wie er nach den Feststellungen von Wukadinovic2) zwischen dem Schauplatz der Novelle und dem eines böhmischen *) Vgl. W. v. Wasiliewski: War Goethe am Lago maggiore< G. J. 9, 183 ff. 2 ) Spiridion Wukadinovig, Goethes Novelle, 1909.

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Adelsitzes obwaltet, eine wesentliche ästhetische Schlußfolgerung versprochen hätte, ist mindestens zweifelhaft. Goethe liebte es, den z e i c h n e r i s c h e n Bemühungen, die an sich in Fruchtlosigkeit und unbefriedigend geendet hatten, und seiner N a t u r f o r s c h u n g einen f ö r d e r n d e n A n t e i l am dichterischen Hauptberuf zuzuschreiben. Besonders eine nachträgliche Rechtfertigung der Zeitopfer um die bildende Kunst mußte dem Rückschauenden, der einem zusammenhanglosen Zufall und dem Experiment keine Rolle in seinem Leben einräumen mochte, willkommen sein. In Dichtung und Wahrheit wird am vergeblichen Versuch, vom Gotthard den „Scheideblick nach Italien" zu zeichnen, die positive entschädigende Seite aufgezeigt: „Indessen ist mir durch diese fruchtlose Bemühung jenes Bild unauslöschlich im Gedächtniß geblieben" (I 29. 128). Im Gespräch mit Eckermann tröstet er sich noch später über den italienischen Mißerfolg und den Verlust der „liebevollen Tätigkeit": „Die Gegenständlichkeit meiner Poesie... bin ich denn doch jener großen Aufmerksamkeit und Übung des Auges schuldig geworden" (20. 4. 25). Wie der Begriff der Gegenständlichkeit in der poetischen Landschaftsdarstellung aus dem Zeichnen, wird jener der Wahrheit mehr aus dem wissenschaftlichen Zweige der Naturbetrachtung hergeleitet: „Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schiller lag dieses Naturbetrachten nicht" (Eck. 18. 1. 27). Während das Trübe und Unwahre des „Mahlerischen" in der bildenden Kunst Goethe offenbar nie ganz zum Bewußtsein kam, entwickelte und klärte sich der in der Dichtung entsprechend gebrauchte Begriff des „ P o e t i s c h e n " früh zur Forderung der „ G e g e n s t ä n d l i c h k e i t " und,»Wahrheit".Das nieaussterbende Mißverständnis, daß das Künstlerische etwas dem Gegenwartsleben Entferntes sei, war in der Empfindsamkeit des achtzehnten Jahrhunderts, da man auf der Suche nach dem Poetischen aus der Kultur in die Natur, aus dem Leben in die oft antikisierende Idylle flüchtete, allgemein. So ist zunächst auch für Werther Wissen um das Wahre Tod der Empfindung, der Poesie: er beneidet Odysseus, der noch „innig, eng und geheimnißvoll", soviel poetischer "von dem ungemeß'nen Meer, und von der unendlichen Erde" sprechen konnte; „was hilft mich's, daß ich jetzt mit jedem Schulknaben

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nachsagen kann, daß sie rund sei?" ( 1 1 9 . 1 1 0 ) . Wie eine Berichtigung, vielmehr eine Verurteilung dieses Satzes lautet eine Reisenotiz aus Sizilien, wo es Goethe in Bezug auf Homer „wie eine Decke von den Augen" fiel: „Die Beschreibungen, die Gleichnisse etc. kommen uns poetisch vor und sind doch unsäglich natürlich". Darauf folgt die Herzählung aller Motive griechischer Inselund Uferlandschaft wie sie das homerische Epos tatsächlich und wahr in der Natur vorfand. Diese Erkenntnis, daß das wirklich Poetische auch das Wahre sein müsse, gab den Maßstab, den Goethe später anwandte, wenn er über Naturdarstellung in der zeitgenössischen Literatur eine Bemerkung zu machen Anlaß nahm. Er verlangte von den Motiven den Ausweis, die Legitimation einer naturgesetzlichen Herkunft. Nach mehrtägiger genauer Beobachtung des Rheinfalls bei Schaffhausen vermerkt er sich über Schillers Taucherballade: „Der Vers legitimirt sich: Es wallet und siedet" (I 34.357). Mit Verwundederung lesen wir die Verteidigung eines eigenwilligen Motivs bei Victor Hugo, der den Helden vom Blitz aus einer Wolke unter ihm treffen läßt: „Das ist schön! Denn das Bild ist wahr; welches man in Gebirgen finden wird" (Eck. 4. 1.27). Aus diesem Grunde konnte Goethe dem Impressionismus Byronscher Naturbilder, die aus der Anschauung englischer und mittelländischer Meereslandschaft Motive unabhängig von der Menschendarstellung und in ihrem ästhetischen Eigenwert benutzen, so vorzüglich gerecht werden, obwohl wir eine solche Ausdrucksform in seinem theoretischen Bewußtsein nicht vorfinden; auch die praktische prosaische Landschaftsdarstellung zielt nirgends auf ähnliche Wirkungen wie er sie in Byrons Dichtung mit ausdrücklicher Anerkennung entdeckt: „seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität... Seestücke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz unschätzbar, so daß man sogar die Wasserluft mit zu empfinden glaubt" (Eck. 5. 7. 27). Auch die noch zu erörternden Urteile über idyllische Naturdichtungen von Voß, Hebel und anderen fallen deshalb so lobend aus, weil sie den Forderungen anschaulicher Klarheit und Naturgesetzlichkeit genügen. Dieser erstere Begriff der K l a r h e i t scheint überhaupt mit zunehmendem Alter als Summe und höhere Synthese aus den Begriffen Gegenständlichkeit und Wahrheit hervorzugehen. Die Landschaftsdarstellung wird mehr und mehr nach dem Maßstab des vollkommenen Schauplatzes, der übersichtlichen Szenerie bemessen. Den sprachlich wenig schönen, aber bezeichnenden Ausdruck „Local", „Localität" gebraucht Goethe nach 1800 mit steigender Häufigkeit. Für das literarische Gesamturteil über Hada13

mars Jägeridylle 1803 und Hebels alemannische Gedichte 1804 ist dieser Gesichtspunkt mitentscheidend: „Lobenswürdig ist übrigens die Darstellung und Benutzung des felsigen Locals mit den Niederungen am Fuße und der bergigen Umgebung" (I40.328). In einer späten Äußerung zu Eckermann über Manzonis Roman Promessi Sposi stellen die „Deutlichkeit und das bewunderungswürdige Detail in Zeichnung der Localität" (21. 7. 27) geradezu das Hauptverdienst „des Werkes" dar. Was hier von einer zu geordneter Periodik neigenden romanischen Syntax begünstigt wird, erreichte der deutsche Dichter in seinen Alterswerken und besonders in der Jagdnovelle durch eine beispiellose Durchbildung des sprachlichenStils. Seine schließlich fast kristallisch erstarrenden Formen stellten das vollkommene Mittel dar zu einer „genauen Zeichnung der Localität" (Eck. 1 8 . 1 . 27), auf die es dem Dichter in diesem letzten Prosastück ausdrücklich und vor allem ankam. Welche Bedeutung die wissenschaftliche Forschung für Goethes ästhetische Naturdarstellung hat, wird aus der Untersuchung der einzelnen Sinneswahrnehmungen mit mehr Deutlichkeit hervorgehen. Es wird sich zeigen, daß mindestens immer solange, als die Darstellung in der dichterischen Sphäre verweilte und nicht zur Beschreibung überging, die Anregung der Natur einer I d e e gleichkam, in dem Sinne, den der Dichter dem Ursprung der „Zueignung" beilegte: „Die Tage sind sehr schön, wie der Nebel fiel, dachte ich an den Anfang meines Gedichts. Die Idee dazu habe ich hier im Thale gefunden" (an Frau von Stein 12. 12. 85). Obwohl hier sicher keine definitive Begriffsbestimmung beabsichtigt ist, fühlen wir doch den Gegensatz und die Überordnung über den Begriff M o t i v , der die zunächst nur sinnlich anregende Einzelerscheinung bezeichnet, während jener eine Mythologisierung, eine Übertragung in menschliche Gedanken und Gefühle vom ersten Anfang des Eindruckes an besagt. So hat Goethes Verneinung einer Naturbeobachtung „poetischer Zwecke wegen" trotz einzelner Beschränkungen im Ganzen ihre Wahrheit. Wie in der Abhängigkeit vom Begriff des Malerischen sahen wir im Zwang zum fremden Anschauungsschema einen ursprünglichen Mangel des Goetheschen Zeichentalents. Daß uns in der Dichtung nichts dem Ähnliches begegnet, zeigt die große Distanz beider Begabungen. Nach der frühen Überwindung der wesensfremden Anakreontik beruhen die Anklänge an Vorbilder in Goethes Lan^schaftsdarstellung fast nur mehr im rein Stilistischen, wie sie beispielsweise für die Lyrik vor 1786 Artur Kut-

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scher 1 ), in vielen Fällen freilich schon mit großer Künstlichkeit, herausgestellt hat. Das ist keineswegs selbstverständlich und um so bewunderungswürdiger, als der Dichter über eine ausgesprochene L e i c h t i g keit der K o p i e verfügte. Die Landschaftsform Ossians lag dem Verfasser des Werther der ganzen Grundstimmung nach und durch seine gleichzeitige Übersetzung ins Deutsche äußerst nahe. Trotzdem fällt er nachweisbar nur einmal und schon deshalb wohl bewußt und mit Freiheit in seine Tonart, wo Homer im Herzen des verwandelten Helden entthront wird (I 19. 124). Aber noch nach fast vier Jahrzehnten, in Dichtung und Wahrheit, bedient er sich seiner Anschauungsform, nun völlig ironisch und spielend, zur Charakterisierung der empfindsamen Zeit: „so hatte uns Ossian bis an's letzte Thüle gelockt, wo wir denn auf grauer unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoos'ten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer bewölkten Himmel über uns erblickten" (128.216). Im ganzen aber ist zu sagen, daß auch dem Literaturkritiker landschaftliche Darstellungsformen fremder Völker und Epochen kaum über die Schwelle des theoretischen Bewußtseins traten. Ein kritischer Vergleich, der neben anderweitiger Ähnlichkeit mit Hermann und Dorothea und mit Richardsons Romanen in der eigentümlichen Naturdarstellung der chinesischen Dichtung ein unterscheidendes Merkmal erblickte, da „bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort" (Eck. 31. 1. 27) — ein solcher Vergleich wird durch seine Einzigkeit zum Beweis, daß Goethe eine historische Darstellung des dichterischen Landschaftsgefühls nie in Erwägung hätte ziehen können. Dagegen waren die Vorgänger und Zeitgenossen in der bildenden Kunst dem Zeichner vertraut und stets gegenwärtig, so daß Plan und erste fragmentarische Skizzen zu einer „Geschichte der Landschaftsmalerei" (Paralipomena 149. 239ff) entstehen konnten.

ZWISCHENFORMEN UND ÜBERGÄNGE. Die Äußerungen des Goetheschen Kunsttriebes waren zu mannigfaltig und zu eng untereinander verknüpft, als daß die strenge theoretische Trennung der Darstellungsgebiete hätte gewahrt bleiben können, die Lessing im Laokoon aufgestellt und der Ver*) Artur Kutscher, Das Naturgefühl in Goethes Lyrik, 1906. 15

fasser der Frankfurter Rensension über Salomon Geßners Idyllen anerkannt, freilich zugleich erweitert und fast überwunden hatte: „Mahlender Dichter! dazu karakterisirt sich in angeführter Stelle Geßner selbst, und wer mit Leßingen der ganzen Gattung ungünstig wäre, würde hier wenig zu loben finden" (J. G. 2. 305). In Goethes eigener Kunsttätigkeit der zweiten Lebenshälfte gingen Zeichnen, Deskription und Dichtung verschiedenartige Verbindungen ein und seine Rezensionen, kritischen Fragmente und Abhandlungen räumen auch solchen Arten der Landschaftsdarstellung Berechtigung ein, die wir als Zwischenformen bezeichnen müssen. Dies gilt von der Forderung des M a l g e d i c h t s , des Dichtens in der Landschaftsmalerei, die Goethe der durchschnittlichen Kunstübung seiner Zeit entgegenhielt. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begannen, gefördert vom englischen Reisefieber, die sogenannten „Veduten" einen breiten Raum in Zeichnung und Malerei einzunehmen. In Deutschland schien Goethe besonders in der Hackertschen „klaren strengen Manier" (149.242) ein äußerster Gegensatz zu Claude Lorrain erreicht zu sein, der „ans Letzte einer freien Kunstäußerung in diesem Fache gelangt" (149.244) war. Aber die weitere Entwicklung der Prospektmalerei lehrte ihn sie bald als einen Niedergang und eine grassierende Verarmung des Begriffes von Landschaftsmalerei überhaupt betrachten. Die Camera obscura, in der man das Landschaftsbild in der Spiegelung mechanisch nachzeichnete, dilettantisch zum Andenken gewissermaßen photographierte, war nur die letzte Folgerung einer veräußerlichten, sklavisch naturgetreuen Darstellungsweise. In den Wahlverwandtschaften hat Goethe nicht ohne leise Ironie einen Engländer mit einer solchen Camera losgelassen. Aber Hackert ließ in dem Aufsatz „Über Landschaftsmalerei" dieses Gerät für den Liebhaber allen Ernstes gelten und bemerkt nur bescheiden „der Künstler aber muß sie nie brauchen" (I 46. 360). So hatte Goethe in der 1817 gedruckten Abhandlung „Neu-deutsche religios-patriotische Kunst" Klage zu erheben, „daß, nach Hackerts lockendem Beispiel, sich die Künstler dieses Faches beinahe insgesammt beflissen, Ansichten der Natur zu mahlen und zu zeichnen, wodurch die freie poetische Erfindung sehr vernachlässigt wurde, und wenn selten etwa noch landschaftliche Gemähide entstanden, welche nicht Prospecte sein sollten, so war doch immer irgend eine Gegend dem Werke zu Grunde gelegt" (149.30). Aber schon in der 1804 veröffentlichten Skizze „Zwei Landschaften von Philipp Hackert", die jene „freie poetische Erfindung" geradezu als ein „Gedicht" bezeichnet, müssen wir aus der deutlichen Rang16

Ordnung von Claude Lorrain und Philipp Hackert dieselbe Forderung herauslesen: „Wenn der Landschaftsmaler im edelsten Sinne sich landschaftlicher Formen mit Freiheit bedient, um sein Gedicht darzustellen,... so unterwirft sich hingegen der Mahler von Aussichten den Bedingungen gewissenhafter Treue" ( I 4 8 . 1 2 6 f ) . Der Aufsatz „Ruisdael als Dichter", 1816 gedruckt, bringt dann eine Besprechung von Bildern, in denen Goethe jene Forderungen in vorbildlicher Weise erfüllt schienen. Das Auffallende ist daran, daß die scheinbare Beschreibung der Bilder in Wahrheit eine Ausdeutung darstellt, in der sich neben den Sinnen, an die allein sich die Malerei richten soll, auch die Einbildungskraft, das Wirkungsobjekt der Dichtkunst, betätigt: „Der Wasserfall" wird über den Bildrahmen hinaus verfolgt und „man denkt sich", daß das Element „ober- und unterhalb durch Mühle und Hammerwerke werde benutzt sein" (I 48. 163); das Lichtbild des „Klosters" wird ganz in dichterisch bewegtes Nacheinander umgesehen und das Bild „Der Kirchhof" regt die Ahnung auf: „Eine freistehende spindelförmige Giebelmauer wird nicht lange mehr halten". Diese Einmischung der Phantasie, überhaupt die Leichtigkeit der Übertragung in die Sprache bestärkt die Vermutung, — die schon die oben ersichtliche Terminologie nahelegte (poetisch, Gedicht!) —, daß es sich hier tatsächlich um eine erheblichere Annäherung der Malerei an die Gesetze der Dichtkunst handelt, als Goethe selbst bewußt war, und die er sich vielleicht versagt hätte, wenn sie ihm nicht die dem Mechanischen verfallende zeitgenössische Richtung abgedrungen hätte. Jedenfalls zeigt die strenge begriffliche Unterscheidung in dem zunächst ungedruckten, 1797 diktierten Aufsatz „Gegenstände der bildenden Kunst", daß er von Verwirrung der Begriffe und Außerachtlassung der Grenzen nur Unheil fürchtete und sich selbst vor Mißverständnissen schützen wollte. Er wendet sich gegen Heinrich Füßli, einen Schweizer Maler aus dem Kreis um Lavater, dessenArbeiten zu sehr ins Mystische abschweiften: „Der bildende Künstler soll dichten, aber nicht poetisiren, das heißt nicht wie der Dichter, der bei seinen Arbeiten die Einbildungskraft rege machen muß, bei sinnlicher Darstellung auch für die Einbildungskraft arbeiten" (I 47. 95); und noch einmal gegen denselben Maler: „Kein ächtes Kunstwerk soll auf Einbildungskraft wirken wollen; das ist die Sache der Poesie" (147.347). Ja, die „mystisch-religiösen Begriffe" in manchen Darstellungen von Caspar David Friedrich ließen Goethe nur zu einem Lob seiner „sauber getuschten Landschaften" und des wohlgetroffenen „Charakters mancher Gegenstände" (I 49. 41 f), aber nicht zu einer weiter2 Beiti.

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blickenden Würdigung der Landschaftsbilder kommen, die die Stagnation in der deutschen Malerei brachen und gerade in Goethes Sinn wieder echte „Gedichte" waren. In der Erfindung, im Malgedicht hat Goethe selbst sich kaum versucht. Die gelegentlichen „erfundenen" Landschaften der italienischen Zeit waren zaghafte Übungen innerhalb der schematischen Schule Hackerts, einige Phantasiezeichnungen nach 1800 unterhaltsame, zum Teil der Wissenschaft zugewandte Experimente. Die nach Eindrücken im Freien zu Hause gefertigten Skizzen (für die Campagne, die böhmischen Tagebücher, die Jenaer Serie von 1810 und sonst bezeugt) sind als Gedächtnisleistungen mit geringer Variation und Umstellung der Motive zu betrachten. Es sind nachahmende Prospektzeichnungen, obwohl „alles auf sehr subjektive Weise nachgebildet" ist, wie der begleitende Text zu den 22 gesammelten Blättern des Sommers 1810 aussagt. Und auch eine zweite Fassung desselben Motivs, z. B. der Nordseite des Grabens zu Jena" hat der Zeichner selbst als „noch willkührlicher oder wenn man will künstlerisch verwegener", aber nicht als Erfindung bezeichnet. Auch die zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und Dichtkunst vermittelnde eigentümliche Darstellungsform, das L e h r g e d i c h t engsten Sinns, hat Goethe gebilligt, aber nicht gepflegt. Zum anmutigen Hexametergedicht „Die Metamorphose der Pflanzen" 1798 gesellen sich fast nur noch „Die Metamorphose der Tiere" (1795?), das meteorologische Lehrgedicht „Howards Ehrengedächtnis" 1821. Wir wissen aber, daß Hallers beschreibende Dichtung „Die Alpen", an dem der Ethnolog, Geograph, Geolog und Botaniker entschieden denselben Anteil hat wie der Dichter, trotz Lessings Kritik sein Gefallen hatte. Noch in der letzten Fassung der Wanderjahre wird Haller in Leonardos Tagebuchbericht neben seinem Landsmann Geßner und dem Verfasser des „Frühlings", Kleist, als Lieblingsdichter der Naturfreunde am Züricher See genannt und als Anreger zu „herzlicher Betrachtung holder und erhabener Naturszenen "gepriesen. Auch dem Zoologen ist eine poetische Darstellung seiner Beobachtungen gestattet. 1807 schickt Goethe einen Auszug der „Philosophie de l'univers" des Franzosen Dupont de Nemours an Frau von Stein und begleitet ihn mit dem anerkennenden Hinweis: „Der Verfasser hat, auf eben diese Weise, die Wölfe, nicht weniger Ameisen und Bienen vermenschlicht, in kleinen Aufsätzen, die man mit Vergnügen liest" (Karlsbad 28. 6. 07). Seiner eigenen Produktion blieb diese in neuerer Dichtung (Löns, Bonseis, Ewers, Koelsch) mehr aus dem Gesichtspunkt des Dichters häufigere Zwischen18

form fremd, denn auf das allegorische Tierepos Reineke Fuchs kann hier natürlich nicht verwiesen werden. Die T i e r w e l t interessierte ihn nur als Forscher, nicht auch als Dichter und Mensch wie das Stein- und Pflanzenreich. Es ist nicht Zufall, daß in die großen Prosadichtungen botanische und mineralogische Exkurse in großer Zahl eingehen, liebevolle Tierdarstellung aber kaum sich findet. Die vollendete Form wissenschaftlicher Naturschilderung schuf nach dem Zeugnis der Wahlverwandtschaften Alexander von Humboldt: „Nur der Naturforscher ist Verehrungswerth, der uns das Fremdeste, Seltsamste, mit seiner Localität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören" (I 20. 292). Auch die Reiseberichte der Forster, Vater und Sohn, die in Deutschland die Reihe der weltreisenden Naturforscher eröffneten, hatten Goethes Beifall. Wenn die Reisebeschreibungen im weiteren Sinn hierher zu zählen wären, hätte er selbst freilich nicht nötig gehabt, das Vorbild außer sich zu suchen. Indes sind diese ihrem Wesen nach mehr eine fortlaufende Ablösung wissenschaftlicher, didaktischer und persönlich dichterischer Gesichtspunkte als eine Zwischenform. Das Lehrgedicht im weiteren, die Dichtung betonenden Verstände wäre die reinste Vermittlungsform von der Dichtkunst zur wissenschaftlichen Beschreibung. Im engeren Rahmen der Landschaftsdarstellung erscheint es in der Form der N a t u r i d y l l e wie sie der Engländer Thomson mit den „Jahreszeiten" neu angeregt und Brockes mit den vielgelesenen, in neun Bänden fortgeführten „Irdischen Vergnügungen in Gott" in Deutschland heimisch gemacht hat. Die „Lyrischen Gedichte" von Johann Heinrich Voß sind wie seine größeren Hexameterepen beschauliche, durch dasselbe Grundgefühl zyklisch verbundene Idyllen. Goethes anerkennende Besprechung des ersten Bandes gleicht sich dieser Ordnung nach dem Kreislauf des Jahres an. In eindeutiger Erläuterung wird zunächst eine Grenze gegen die höhere, lyrisch-dramatische Naturdarstellung hin gezogen. Die mehr auf Beobachtung als Gefühl sich gründende Zuständlichkeit der Bilder wird charakterisiert : „Jeder Busch entwickelt sich im Einzelnen, jede Blüte bricht einzeln in seiner Gegenwart hervor. Wie auf einem ausführlichen Gemähide erblickt man, im Sonnenschein um ihn her, Gras und Kraut so gut als Eichen und Buchen" (140.265 f). Ja, dieser zweite Satz deutet an, daß diese Bilder wohl gar ohne Einbuße ihres Wesens in eine Darstellungsform reinen Nebeneinanders überführt werden könnten. Mehrere Seiten werden einer ähnlichen 2*

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liebevollenKommentierung gewidmet, bis abschließend mit grundsätzlicher Anerkennung, die freilich zugleich einen stummen Vorbehalt und eine Warnung für Dichter mit weniger originalem epischen Talent einschließt, das Schlußurteil formuliert und dem glücklichsten Vertreter dieser Gattung landschaftlicher Darstellung seine berechtigte Stelle angewiesen wird: „wenn er das Gemeine, indem er es betrachtet, dichterisch ausspricht, erhöht, jeden Genuß der Gaben Gottes und der Natur mit würdiger Darstellung schärft: so darf man sagen, daß er seiner Nation eine große Wohltat erzeige" (I40. 268). Eine ebenso eingehende und wiederholte Kritik widerfuhr der verwandten Kunst Peter Hebels, dessen allemannische Gedichte Goethe 1804 vorlagen. Die Art wie Hebel die Natur „verbauert" und in der gleichen Gattung einen äußersten Gegenpol etwa zu den antikisierenden Idyllen Geßners herstellt, findet volles Lob. Immerhin ist auch hier z. B. in der Bezeichnung der „Sonntagsfrühe" als eines Gedichtes, „das zu den besten gehört, die jemals in dieser Art gemacht wurden" (I 40. 300) die Klausel nicht unterdrückt, daß die Hauptform dichterischer Landschaftdarstellung diese nicht sei. Die Anerkennung verwandelt sich denn alsbald in bloße Duldung, wo die äußere Form gestümpert ist wie in dem 1803 gedruckten Versuch eines Pseudonymus Hadamar „der Geburtstag, eine Jägeridylle in vier Gesängen". Die Rezension begnügt sich mit der Aufmunterung des Autors, Metrik zu lernen und dann sein Glück wieder zu versuchen, da die „Darstellung und Benutzung" der umgebenden Landschaft „lobenswürdig "sei. Das „Jagdgedicht", womit der Mann von fünfzig Jahren die schöne Witwe in den Wanderjahren alle Annehmlichkeiten einer Wanderung bequem bei Lampenlicht genießen läßt und das „von der Auerhahnbalz bis zum zweiten Schnepfenstrich und von da bis zur Rabenhütte" (124.309) nichts versäumte, mag eine Erinnerung daran sein. Die Novelle, die Goethe noch in endgültiger Form als „Jagdgedicht" bezeichnet, hätte sich in der ersten Zeit der Konzeption vermutlich an diese Gattung angeschlossen. Schiller riet damals zu einer hexametrischen Strophenform, also auch zu Gesängen. Später trat der menschliche Gehalt dieser Dichtung entschieden in den Vordergrund und der Forderung nach letzter Klarheit der „Localität", zu der sich das landschaftliche Interesse zusammenzog und entsinnlichte, entsprang die Prosa. Dieses Schicksal hätte die geplante Telldichtung wohl gleichfalls geteilt, die nach den mitgeteilten Zeugnissen wenigstens in einem ersten Teil oder Gesang ganz auf eine idyllische Naturdichtung angelegt 20

schien. Außerdem ist freilich nicht zu übersehen, daß diesen Entwürfen so gut wie Hermann und Dorothea oder Amyntas das Lehrhafte doch fehlt, das die zwischen Dichtkunst und wissenschaftlicher Beschreibung vermittelnde Form der Landschaftsdarstellung kennzeichnet.

ÜBERTRAGUNGEN. Während die Zwischenform in der ursprünglichen Darstellungsart verharrt und nur Gesichtspunkte einer benachbarten beachtet und inhaltlich oder formal auf sich wirken läßt, bedeutet die Übertragung einen vollkommenen Wechsel in der Form der Darstellung bei gleichbleibendem Motivgehalt. Jene entspringt aus einem Gefühl für das Fließende jeder ästhetischen Abgrenzung, diese dagegen aus der Anerkennung von grundlegenden Unterschieden der landschaftlichen Darstellungsarten. Weil aber damals diese Unterschiede nach dem energischen Vorgang Lessings erst herauszuarbeiten waren und mittlerweile die Gefahr mißverständlicher und falscher Übertragungen groß blieb, erschien es auch Goethe wichtiger, den Maler wie den Dichter der gemeinsamen Grundquelle, der Natur, wieder zuzuführen, statt durch Vermittlung zwischen den Schwesterkünsten der allgemeinen Verwirrung besonders in der bildenden Kunst Vorschub zu leisten. Aber fremd blieb seiner eigenen Produktion auch die abgeleitete Übertragung, da der sinnliche Eindruck, das problematische Phänomen und das Naturgeschehen dem Zeichner, dem Naturforscher und dem Dichter jedesmal in ihrer völligen Unmittelbarkeit zu Gebote standen. Der handwerklichen Emsigkeit, mit der innerlich unfruchtbare I l l u s t r a t o r e n alsbald seine eigenen Dichtungen zum Vorwurf nahmen, verschloß sich Goethe zunächst zwar keineswegs. Aber vielleicht wäre es doch geschehen, wenn er die Bilderflut, die eine Masse hoffnungsloser Historienmaler des neunzehnten Jahrhunderts auf den Faust und die romantische Harfnergruppe im Wilhelm Meister besonders losließen, hätte ahnen können. (Überwältigend ist der Anblick eines Stübchens im Goethehaus zu Weimar, in dem solche Dinge aufgestapelt stehen. Gottseidank bleibt es stets verschlossen). Immerhin sehen auch schon gelegentliche Äußerungen und der Aufsatz über die Illustrationen zu Götz und Faust darin weniger künstlerische Schöpfungen von Eigenwert, als untergeordnete Beiträge zur Dichtung, und dieser pietätvollen Teilnahme zollt Goethe seine Anerkennung.

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Für dramatische Szenen war die Illustration nicht schwer. Aber wo sich das Thema auf der Schwelle zwischen Figürlichem und Landschaftlichem hielt, wo wie bei der Erlkönigballade eine wörtliche Übersetzung unmöglich, eine wirkliche, eigenschöpferische Übertragung gefordert hat, enthüllte sich die Unsicherheit schon darin, daß sie nach Goethes Zeugnis „sowohl Geschichts- als Landschaftsmahler zum Gegenstand" (I 49. 44) erwählten. Was hier vielleicht nur verschwiegen ist, — daß die Kunst seiner Zeit, die von der Rembrandtschen Radierung keinen lebendigen Begriff mehr hatte, die innere Spannung einer Naturballade überhaupt nicht ausdrücken könne —, ist niedergelegt in einer späteren Warnung, die Ballade „Der Fischer" malen zu wollen. Für eine bildende Kunst, die das Landschaftliche im Prospekt, die menschliche Handlung in der Staffage erstarren ließ, war der Hinweis berechnet, hier sei „bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden" (Eck. 3 . 1 1 . 2 3 ) . Eine reine und gültige Form der Übertragung sah Goethe in den Skizzen zu Castis Fabelgedicht „Die redenden Thiere", da „Everdingens landschaftlichen Compositionen, ihre Staffage mit inbegriffen, zu Licht- und Schattenmassen trefflich gedacht, dem vollkommensten Helldunkel Anlaß" gaben (I 49. 352). Trotz jener einsichtsvollen Warnung war andererseits der Einfluß der Zeitrichtung auf Goethe lebendig genug, um ihm die Sonderstellung der Übertragung, die auf dem Bewußtsein der Unterschiede der Darstellungsarten beruht, wieder undeutlich werden zu lassen. Schon das besprochene Postulat des Dichtens in der Malerei barg eine Gefahr in sich. Und wenn er für einen Wettbewerb eine „Allgemeine Überschwemmung", (148. 75) also eigentlich einen Gegenstand dichterischer Phantasie, als Thema angab, forderte er doch selbst die Übertragung des — für die Mittel der klassizistischen Kunst wenigstens — Unübertragbaren. Noch merkwürdiger ist es, wenn man sich an sein wiederholtes Verbot des „Poetisierens" und der Phantasiebetätigung beim Maler erinnert und dann hört, wie er aus der Vorlesung eines neugriechischen Gedichtes mythologisch dunklen Inhalts, betitelt „Charon", den Anlaß zu einer anderen Preisaufgabe nimmt: „alle Seelen-, Geist- und Gemüthskräfte waren aufgeregt, besonders aber die Einbildungskraft; denn niemand war, der es nicht gemahlt zu sehen verlangt hätte, und ich ertappte mich selbst über diesem Wunsche" (149. 361). Es liegt nicht fern, im Ausdruck der letzten Worte ein Geständnis zu hören, daß hier der kunstkritische Verfasser selbst der Begierde des naiven Menschen, der Gemaltes

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lesen und Dichtung sehen will, verfallen sei. Aber das Thema wurde wirklich ausgeschrieben und sechs Preis-Zeichnungen liefen aus Stuttgart, ein siebentes außer Konkurrenz ein. Eine Übertragung des Bildes oder der Dichtung in die wissenschaftliche Beschreibung ist im eigentlichen Sinn nicht möglich da diese die ästhetische Grundlage der Auffassung und Darstellung gegen eine mehr oder minder rationale vertauscht: das dichterische oder mahlerische Gebilde wird auseinandergeknotet und aufgelöst in die Beschreibung, die nicht mehr auf die Sinnlichkeit oder die Phantasie des Lesers zu wirken sucht. Ihre ästhetische Geltung kann nur die einer klärenden Vermittlungsstufe zwischen bildender Kunst und Dichtung sein. Je weniger ein Übertragungsversuch sich über dieses Zwischenstadium hinaus zu entwickeln vermag, desto geringer ist sein neuer künstlerischer Eigenwert. Das ist der Fall z. B. bei der breiten, als „Urteil eines Kenners" eingeführten Bilderbesprechung in den Wanderjahren (124. 352 ff), die doch sicher nicht nur theoretische Kunstkritik sein will, sondern zugleich eine rasche, summarische Aufrollung des Landschaftsbildes von Mignons Heimat am Lago Maggiore beabsichtigt. Aber die suggestive Wirkung auf die verbindende Phantasie des Lesers bleibt aus, weil die Stufe reiner Beschreibung kaum überschritten und in erster Linie der zergliedernde Verstand zur Teilnahme aufgerufen ist. Dem Anschluß und der Überführung in die dichterische Ausdrucksform nicht viel näher kommen die Betrachtungen von landschaftlichen Zeichnungen in der Novelle. Nur ungern läßt man sich an Hand von alten Bildern aus dem Familienbesitz von einem Fenster aus die Orientierung und Übersicht über den Schauplatz der künftigen Handlung in rascher Exposition aufdrängen. Erst in der unmittelbaren Verwandlung der Jagdgeschichte selbst wird uns die böhmische Wald- und Berglandschaft lebendig. Doch sobald die Übertragung eine direkte war und ihre Wirkungslosigkeit nicht durch Einordnung unter ein größeres poetisches Gebilde verwischt werden konnte, trat für Goethe die Ummöglichkeit der rein beschreibenden Ausdeutung eines landschaftlichen Bildwerks zutage. Schon im erwähnten Aufsatz über Ruisdael sahen wir in die Beschreibung unwillkürlich sich dichterische Gesichtspunkte einmischen. Dort geschah es unbewußt. Aber in aller Klarheit niedergelegt ist die Einsicht in die Schwierigkeit der Beschreibung, der trotzdem gewagte Versuch und die Notwendigder endlichen Überführung in dichterische Darstellungsweise in dem Aufsatz über „Wilhelm Tischbeins Idyllen". Die vierte von

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den besprochenen Idyllen bringt ein Bild: „Abermals aus der vegetabilen Welt, eine seltene, vielleicht einzige Erscheinung; schwer, unmöglich zu beschreiben. Da sich jedoch die wunderlichste Zufälligkeit unserm Freunde so tief eingeprägt hat, daß es den Gegenstand oft wiederholen mochte, so sei auch von unserer Seite der Versuch gewagt" (I 49. 313). Wem es scheinen mag, als ob hier nur die Eigenart eines besonders seltenen Motivs — er handelt sich um eine einsame Eiche inmitten eines Wasserspiegels — dem Dichter dieses Bedenken ins Bewußtsein gerufen hätte, der muß sich erinnern, daß ein allgemeineres Landschaftbild unter keinen anderen Gesetzen der Darstellung steht und nur vielleicht infolge des allgemeinen und gewohnten Inhalts geeigneter ist, über die Bedingungen und Hindernisse einer Übertragung hinwegsehen zu lassen. Darauf folgt die Wiedergabe der Idylle im Stil wissenschaftlicher Deskription: „Inmitten eines von düsteren Bäumen umschatteten Wasserspiegels zeigt sich auf geringer Erderhöhung eine alte Eiche, im Volllichte, ihre zackigen Äste umherverbreitend und niedersenkend, so daß die letzten Blätterbüschel beinahe das Wasser erreichen und sich darin gar freundlich spiegelnd wiederholen. Eben so ist der wenige abgesteilte Erdgrund, worauf der Baum steht, auch Stamm und Äste, insofern es der Raum zuließ, im Abglanz wiederholt". Diese Darstellung wendet sich an den Verstand und läßt ein klares oder eindrucksvolles Bild weder im Auge noch in der Einbildungskraft entstehen. Die Linien und Schattierungen sind verwischt. Das äußere Gefühl ist unbeteiligt. Das innere aber wird nur einmal in dem Anthropomorphismus „gar freundlich" ganz aus der Ferne aufgerufen. Die zerlegende Beschreibung spiegelt sich in der abstrakten Periodik der Sätze, in der Entfärbung des Adjektivs zum Zahlwort, in der Vernichtung des Verbums durch das Partizip. — Dann konzentriert der Beschreiber den Eindruck des Bildwerks in wenig Worte und bereitet ihn auf eine rein dichterische Erfassung vor: „Der alte, in feuchter Einsamkeit erwachsene, ausdauernde Baum, in düsterer Umgebung erleuchtet, in der Wüste sich selbst bespiegelnd, veranlaßte folgenden anthropomorphen Reim." Auf einmal treten Momente des Gefühls vor die der Sinnlichkeit „Einsamkeit, Wüste". Der Baum wird „ausdauernd"; sinnliche Gegensätze wandeln sich um in innere Spannungen, die ein seelisches Geschehenverhüllen: „düsterer; erleuchtet". Da ist es nur noch ein Schritt zur völligen, reinen, ein Kunstwerk von neuem und eigenem Wert schaffenden Übertragung:

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„Mitten in dem Wasserspiegel Hob die Eiche sich empor, Majestätisch Fürstensiegel Solchem grünen Waldesflor; Sieht sich selbst zu ihren Füßen, Schaut den Himmel in der Fluth: So des Lebens zu genießen, Einsamkeit ist höchstes Gut." Der ganze Motivgehalt ist beibehalten; in den Versen ist das ganze Bild, aber übertragen in die Sphäre des menschlichen Gefühls, verwandelt zum Mythos. Echte Übertragungen dieser Art stellen auch die poetischen Begleitsprüche zu den „Radirten Blättern nach Handzeichnungen von Goethe, herausgegeben von Schwerdtgeburth, Weimar 1 8 2 1 " dar. Überall geht der Dichter vom Motivbestand der Zeichnungen aus, aber auch über sie hinaus; er sucht die menschlichen Bezüge, den Sinn, das Gefühlsmäßige und Gedankenhafte aufzudecken, was die Linie und Schattierung nicht unmittelbar aussprechen kann. So ist z. B. in den Versen für die zweite Radierung, den „Hausgarten" „Hier sind wir denn vorerst ganz still zu Haus Von Thür zu Thüre sieht es lieblich aus, Der Künstler froh die stillen Blicke h e g t . . . " aus der Vorlage dem Umfang und Inhalt der Motive nach alles bewahrt, — nichts, sofern die Maß- und Lichtverhältnisse ganz in Bewegungen des menschlichen Gefühls umgesetzt erscheinen.

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LANDSCHAFT UND ROMANCHARAKTER, i. T Y P I K D E S N A T U R G E F Ü H L S . Der Begriff N a t u r g e f ü h l ist im deutschen Sprachgebrauche noch nicht alt. Goethe selbst ist nach Grimm (Wörterbuch 7.448) unter den ersten, die ihn in Aufnahme bringen. Der Wortinhalt schwankt bei ihm noch zwischen den Bedeutungen: Gefühl für Natur, Landschaft, und ungekünsteltes, ganz im allgemeinen Sinn natürliches Gefühl. Späterhin hat sich besonders mit dem Anschwellen der ästhetischen Literatur der Begriff so erweitert und verallgemeinert, daß er eine Quelle des Mißverständnisses für jeden werden mußte, der vernünftigerweise noch am Wortlaut festhält, der ein Gefühl aussagt. Man bezeichnet heute mit diesem selben Namen Goethes Verhältnis zur Landschaft in der ersten Frankfurter und Leipziger, in der Straßburger, in der spätesten Weimarer Zeit; er wird auf Klopstocks und Hölderlins Lyrik ebensogut angewandt wie auf die pietistische Dichtung Brockes', auf die unechte der Anakreontiker, auf die epische und verständige Tiecks und Fontanes. Aber abgesehen davon, daß so alle Abstufungen von völligem Mangel, unselbstständiger Nachahmung, epischer Betrachtung bis zu wirklichem Gefühl und zur ebensowohl gefühlsals verstandesmäßigen höchsten Wesenschau des Weisen unter einen Hut gebracht werden, sehen die Beschreiber der Mystik, der Naturphilosophie der Renaissance und der Romantik überdies von der Existenz eines irgendwie ästhetisch belangvollen Objektes, einer Landschaft, ab und meinen mit Naturgefühl auch ein theologisch-philosophisch-einzelwissenschaftliches Verhältnis zur Natur, die im allgemeinsten Sinn als Schöpfung, als Gegenpol Gottes oder aber in Gott selbst übergehend gedacht wird. Diese zweite Fassung schalten wir ganz aus, so daß also z. B. Goethes wissenschaftliche und naturphilosophische Exkurse um Montan und Makarie in den Wanderjahren nicht in den Betrachtungskreis dieser Untersuchung fallen. Wenn diese Begrenzung und die relative Geltung des Begriffes Naturgefühl im Bewußtsein bliebe, könnte er auch in der ästhetischen Wissenschaft weiterhin angewandt werden. Indessen setzen schon das Buch von Kammerer (1909) 1 ) und die Dissertation von ') Friedrich Kammerer, Zur Geschichte des Landschaftsgefühls, 1909.

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Donat (1925) 1 ) dafür den Terminus „Landschaftsgefühl" und seiner größeren Deutlichkeit ist es zu wünschen, daß er sich einbürgere. In der Geschichte der bildenden Kunst ist es schon lange der Fall, da dort die oben angedeuteten Vermischungen mit Philosophie und Naturwissenschaft von vornherein ausgeschlossen waren. Genau ist freilich auch dieser Ausdruck nicht, da er strenggenommen andere nicht gefühlsmäßige Einstellungen zur Landschaft ausschließt. Es bleibt noch zu bemerken, daß Landschaftsgefühl an sich noch nicht besagt, ob es im Gemüt des Menschen und des Volkes verborgen walte und daraus allenfalls elementar, ungebildet hervortrete oder ob es sich in Werken der Kunst darstelle. Und wenn wir uns, wie in dieser Arbeit, auf das letztere beschränken, bleibt noch offen, ob wir die Darstellungen der Malerei, Zeichnung, Plastik oder der Dichtung oder schließlich auch (z. B. Beethovens Pastoralsymphonie) der Musik ins Auge fassen. Ich erwähne beides deshalb, weil Koberstein, Biese und in kleinerem Maßstabe viele andere es unternahmen, das Naturgefühl von Völkern und Epochen historisch zu beschreiben, ohne die breite Literatur zu berücksichtigen, die unter der Schwelle künstlerischer Darstellung verharrt. Besonders die Bücher von Biese haben noch neue Auflagen, obwohl Kammerer schon lange den richtigen Weg gezeigt hat, indem er in seiner Untersuchung des Landschaftsgefühls des achtzehnten Jahrhunderts neben den Dichtungen Hallers, Hagedorns auch ästhetisch theoretisierende Literatur (Gottsched; die Schweizer) und Chronikales, besonders die aufschlußreichen Brockenbücher mitsprechen läßt. Die Schranken gegen die Schwesterkünste bestehen auch hier noch. Wie notwendig, fruchtbar und aufhellend diese letzte Erweiterung wirkt, zeigt in bemerkenswerten Ansätzen die Dissertation von Donat über die Landschaftsdarstellung Tiecks, die freilich nur zu einem Teil entwicklungsgeschichtlich, zum andern rein monographisch gehalten ist. In Zukunft sollte niemand mehr als G e s c h i c h t e des Naturgefühls ausgeben, was nicht genau wie etwa eine Erforschung des religiösen Gefühls von Kulturkörpern und -perioden die ästhetischen Produktionen der Menschen gleichmäßig und neben diesen kunstvollen auch die kunstlosen Dokumente als Quellen heranzieht und abwägt. Nicht nur die Vollständigkeit nach Tiefe und Weite, auch die Richtigkeit des historischen Bildes hängt davon ab. Diese Erwägungen betreffen die historische Darstellung. Nunmehr wenden wir uns zu den Erfordernissen einer monographiWalter Donat, Die Landschaft bei Tieck und ihre historischen Voraussetzungen, 1935.

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sehen Untersuchung, der es natürlich gestattet sein muß, sich unter Zurücksetzung entwicklungsgeschichtlicher Gesichtspunkte auf die Landschaftsdarstellung eines einzelnen Künstlers und auch hier auf einen innerlich zusammenhängenden, aber doch begrenzten Ausschnitt, in unserem Falle auf Goethes Kunstprosa, zu konzentrieren. Die bildende Kunst gibt nur dargestellte Landschaft, zu der sie allenfalls menschliche Staffage in festumrissene und unveränderliche Beziehung setzt. Dichtkunst stellt, sofern sie nicht sich etwa als reine Naturbeschreibung von ihrem künstlerischen Grundcharakter entfernt, in die Landschaft Menschen, die auch in ihrem Verhältnis zur Natur leben und handeln und, was noch wichtiger ist, durch ihr Leben wechselwirkend auch das Gesicht der Landschaft entscheidend beeinflussen und verwandeln. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, noch vordem objektivenLandschaftsbild seine subjektiven Bedingungen, das Landschaftsgefühl der Romancharaktere, hinter denen sich schließlich der Dichter verbirgt, zu betrachten. Von diesem Gedanken ging ich aus, als ich für das Seminar von Professor Petersen eine Untersuchung der Landschaftsdarstellung Goethes in den drei Gestaltungen des Wilhelm Meister anstellte. Schon damals gewann ich den deutlichen Eindruck, daß sich aus der Reihe der Romancharaktere vom Urmeister bis zu den Wanderjahren zwingend, wenn auch zunächst noch unklar, grundlegende Formen, T y p e n des N a t u r g e f ü h l s herausheben. Ich bezeichnete sie als das Naive, das Sentimentale, die Überwindung, und vermochte auch andere zu überzeugen. Nur die Terminologie war mißverständlich. Mehrfache Überlegung im späteren Gang der Arbeit und der Einschluß der übrigen Prosawerke, besonders des Werther als Anfang, der Wahlverwandtschaften als Mitte und der Novelle als Ende, haben mich im Grundgedanken bestärkt. Ich bemerke das, um von vornherein dem Einwand zu begegnen, daß die folgenden Aufstellungen aus bloßer zeitgenössischer Lust am Konstruieren entsprängen. Daß in der einschlägigen Literatur bisher dieses Bedürfnis nicht nachdrücklicher empfunden wurde, beruht wohl am meisten darauf, daß die Untersuchungen an Dichtern stattfanden, die wie Brockes, Hagedorn, Tieck, Fontane (und mit ihnen die Gestalten der Dichtung) großgeformte innere Wandlungen nicht erblicken lassen und daß man dagegen Goethes Landschaftsdarstellung nur in engen zeitlichen Ausschnitten wie in der vorweimarischen Lyrik (Kutscher), in der Schweiz (Wahl) 1 ), in Italien (Gerstenberg)2) oder nach ein*) H. Wahl, Goethes Schweizerreisen, 1920. 2 ) K . Gerstenberg, Goethe und die italienische Landschaft, Dtsche. Vierteljahrschr. f. Literaturwiss. und Geistesg. I, 4.

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seinen Motiven (Gebirge, Mond, Blumen) eingehender Betrachtung unterzog. Wenn wir den offensichtlichen oder versteckten gemeinsamen Nenner in der Naturanschauung zahlreicher R o m a n c h a r a k t e r e herauszuarbeiten versuchen, enden wir bei drei nicht weiter vereinbaren Grundformen. Das Merkmal der ersten ist eine weitgehende Indifferenz gegen alles Landschaftliche, die unregelmäßig und zufällig eine lebhaftere Teilnahme unterbrechen kann. Der Mangel einer besonderen ,, Einstellung" zur Natur kennzeichnet sie. Ihr Landschaftserlebnis — wenn nicht dieses schon zuviel sagt — ist p r o b l e m l o s . Wenn wir die Symbolik der Menschenalter heranziehen wollen, ist es die Stufe der Kindheit, auf der wir wirkliche Kinder, Lottes Geschwister, Wilhelms Sohn Felix, aber auch erwachsene Menschen, große Kinder, wie Albert im Werther, Werner, Philine, Serlo, den jungen Wilhelm im Urmeister, den Hauptmann und zunächst auch Ottilie in den Wahlverwandtschaften erblicken. Ihr Verhältnis zur Natur begreift sich am besten als N a t u r a n s i c h t . Sie verharren im rein sinnlichen Sehen (Felix), im Gewahrwerden und Sammeln von Eindrücken (Wilhelm), im harmlosen Genießen (Philine) oder in unnachdenklichem, praktischen Bearbeiten und Nützen des Vorhandenen (Hauptmann). Eine intensive Stellungnahme zur Natur charakterisiert den zweiten Typus; zugleich aber seine geringe Umrissenheit. Wir können ihn schwer begrifflich festlegen. Sein Wesen ist antinomisch, polarisierend. Er hat die ruhige Ebene des bloßen Sehens verlassen und sich zum Gefühl erhoben, das der Mangel reiner Erkenntnis notwendig zum Konflikt führen, p r o b l e m a t i s c h werden lassen muß. Es ist die Stufe des Übergangs vom Kindeszum Mannesalter. Im Jüngling verkörpert sich dieser Typus, der aber neben Werther, Wilhelm oder Lucidor und Flavio in den Wanderjahren auch den etwa vierzigjährigen Eduard und den „Mann von fünfzig Jahren" nicht ausschließt. Im Herzen gebärden sie sich als Jünglinge. Ihre Stellung zur Landschaft ist N a t u r g e f ü h l im eigentlichen wörtlichen Sinne, das den ganzen Bezirk von leidenschaftlichstem Ergreifen der Naturdinge bis zu verzweifelter Resignation durchmißt und in allen Phasen sich gleich wahr offenbart. Die Wandlung desMenschen zum problematischen Naturgefühl bewirkt gewöhnlich das Erwachen zur Geschlechtsliebe, zu ihren Leiden, Beglückungen und Verlusten. Es ließe sich aber denken, daß auch entscheidende Schicksalseingriffe anderer Art die Revolutionierung des problemlosen Ichs hervorbringen. So beruht das problematische, im Gefühl verwirrte Wesen Mignons auf einem „Fluch", der die dunkle Empfindung einer natur29

widrigen Abstammung andeutet. Das Naturgefühl Fausts, das sich in der Vollmondnacht vorbereitet und am Ostertag gewaltig hervorbricht, erzeugt fern von aller Liebe ein rein geistiges Erlebnis, die Verzweiflung an der menschlichen Erkenntniskraft: „daß wir nichts wissen können!". In den Grenzen dieses zweiten Typus wird sich die Landschaftsdarstellung des Dichters bewegen, der sich weniger die Zustände als die Übergänge und Wandlungen im Menschenwesen zum Vorwurf nimmt, also des Lyrikers und Dramatikers. Wo der Epiker diesen Typus einführt, wird er notwendig zu lyrischen Mitteln der Darstellung greifen. Wenn der problematische Mensch nicht wie Werther in den Tod geht, wie Aurelie oder Eduard in dumpfer Resignation hinsiecht, wie Werthers Bekannter, der Schreiber oder die ergreifende Gruppe Harfner, Separata und Mignon in Geistesverwirrung und Umnachtung fällt, wenn er wie Wilhelm, Charlotte, Ottilie und die Hauptgestalten der Wanderjahre, die Entsagenden, den Ansturm des Gefühls überdauert, den Segen und die Notwendigkeit des Gesetzmäßigen langsam inne wird und die Kraft hat, es in sich zu errichten, dann entsteht der dritte Typus eines h a r m o n i s c h e n Verhältnisses, um so harmonischer, je weniger krampfhaft und je voller und ungebrochener der Strom des Gefühls in das Bett des Gesetzes einmündet. Nutzung und Genuß der Natur soll nicht verhindert, das Gefühl soll nicht abgetötet, sondern gemäßigt und geordnet werden. Der harmonische Typus ist bestimmt, die beiden anderen im höheren Sinne zusammenzufassen und zu krönen. Gebundenes Sehen und unsicheres Fühlen sollen sich zu geläutertem Erkennen, Naturansicht und Naturgefühl zu N a t u r e i n s i c h t emporschwingen. Das Kind, der Genießende, der mechanisch sammelnde Empiriker und der uferlose Trieb- und Gemütsmensch sollen sich zu sinnvollem Schaffen, zu Liebe, zu Weisheit durchbilden. Der dichterischen Naturdarstellung wird dieser Typus allerdings sowohl Stoff als Gelegenheit langsam entziehen. Nur der Übergang, die Überwindung gibt dazu Anlaß (Charlotte). Um den sich Vollendenden verwandelt sich die sinnlich darstellbare Landschaft immer mehr in ein Gedankenbild (vgl. Goethes Sprüche über Natur und Gott), die einen landschaftlichen Bildgehalt nicht mehr haben. Wenn wir von den G e g e n s t ä n d e n ausgehen, hat es der problemlose Typus mit der o b j e k t i v e n Natur zu tun. Er beläßt die Dinge in ihrer zugeschlossenen Ruhe und besieht sie. Also an dem willkürlich geformten Bild: „Die Wogen schlagen wider die Felsen des Ufers" gewahrt er etwa Farben und Töne, genießt sie behag30

lieh, denkt über mögliche ökonomische Verwertung nach oder notiert und beschreibt es als empirisches Phänomen. Der problematische Charakter reißt die Natur gewaltsam aus ihrer Objektivität, s u b j e k t i v i e r t sie, verleiht ihr eine Seele, mythologisiert sie. Das System der Welt bricht zusammen. Er stellt sie als Du gegen sein Ich oder identifiziert wohl gar beide. Er ist Pygmalion. Die Dinge schlagen die Augen auf und sprechen. Für ihn hat jene Uferbrandung keinen andern Sinn, als die Klage, den Jubel in seinem Herzen widerzutönen. Dagegen sieht der harmonische Typus keine subjektive Natur, aber auch nicht jene objektive schlechthin, sondern eine o b j e k t i v i e r t e . Er erlebt die neue Errichtung der vom Ich erschütterten Welt. Er muß die Naturdinge aus dem Labyrinth seines Gefühls entlassen. In schnellem Fortschreiten wird die Natur wieder ein Entferntes und ruht um einen geheimnisvollen Mittelpunkt, der außerhalb des Menschenherzens und von diesem unabhängig existiert. Aber diese Ferne der Natur ist nicht die frühere, fraglose des Kindes. Sie verhält sich dazu wie Entsagung zu Wunschlosigkeit, Erkenntnis zu Glauben, Sühne zu Unschuld. Wer einmal mit Begehren, Zweifel und Schuld der starren Sphinx der Natur die Lippen aufzwang, für den kann sie nicht mehr verstummen. Jenes Bild der Brandung verkündet zwar nicht länger die menschliche Passion, es wird aber auch das nur bewegte Wasser nicht. Für den Überwindenden behält die Natur einen „Ausdruck", aber nun nicht mehr des Ichs, sondern eines höheren Dritten. Sie wird nicht wieder tot. Sie streift nur langsam die Maske ab, die ihr der Gefühlsmensch aufdrang und feierlich, aus unantastbarer Ferne enthüllt sie dem Reifen die Züge eines ewigen Schicksals, das Macht übt über Dinge u n d Menschen. Wenn wir endlich nicht von der Person, noch von ihrer Landschaft, sondern vom Dichter ausgehen, der beide darstellt, so werden die Landschaftsbilder, die den ersten Typus (auch z. B. den reisenden Dichter in vielen Abschnitten der Schweizer und italienischen Reise) umgeben, unter dem Begriff der B e s c h r e i bungslandschaft zusammenfassen. Das Verhältnis des problemlosen Menschen zur passiven Natur erfaßt der darstellende Dichter durch Beschreibung. Die Umgebung des zweiten Typus bezeichnen wir als Ichlandschaft. Der Dichter beschreibt nicht, sondern belebt, setzt die Dinge in Aktion, läßt sie handelnd sich selbst beschreiben, alles aber im Sinne des zentralen erlebenden Ichs. Die Landschaft des harmonischen Typus vermag der Dichter als Bild nur in ihrem Übergang festzuhalten, seine weniger wechselnden Formen vereinigen wir unter dem Namen S c h i c k s a l s 3i

landschaft. Die Natur ist vom Dichter nicht als Beobachtungsgegenstand, auch nicht in subjektiver Aktion, sondern als Verkündigung einer objektiven Existenz, eines Schicksals dargestellt. Das Darstellungsbild des ersten Typus können wir auch als Ein drucks landschaft bezeichnen (es ist nur tatsächlich, sinnlich impressiv), während das der beiden anderen Typen den Charakter der A u s d r u c k s landschaft gemeinsam hat (es ist geistig, symbolisch expressiv). Ich fasse diese Aufstellung nocheinmal im Schema zusammen: I. problemlos Kindheit ökonomisch genießend Naturansicht II. problematisch Übergang ästhetisch fühlend Naturgefühl III. harmonisch Reife philosophisch verstehend Natureinsicht (I.) objektive Natur Beschreibungslandschaft (II.) subjektivierte Natur Ichlandschaft 1 (III.) objektivierte Natur Schicksalslandschaft J

Eindrucksl. Ausdrucksl

Wenn wir nun daran gehen, das aus dem gesamten Überblick abgeleitete und so dargelegte Schema wieder mit den Beispielen aus Goethes Roman zu füllen, so ist zunächst zuzugeben, daß die drei Typen, wie alles Ideelle in der Wirklichkeit, sich selten rein und vollständig darstellen. Die meisten Personen des Romans sind wie die meisten Menschen Mischungen und Fragmente. Am vollkommensten verkörpert W e r t h e r einen Typus. Da die drei Gruppen selbst wohl klar genug auseinandergesetzt sind, wollen wir nun nicht die Reihe der Typen, sondern die chronologische Folge des Romans zugrunde legen. Dadurch wird es möglich, mit der Betrachtung der Romancharaktere einen zweiten Gesichtspunkt, die Entwicklung in der eigenen Landschaftsbetrachtung des Dichters in großen Zügen zu verknüpfen. Denn zu einem plastischen und richtigen Ergebnis gelangen wir nur dann, wenn wir in jeder Romanfigur eine Gleichung aus der beabsichtigten dichterischen Gestalt und aus der eigenen seelischen Entwicklungsstufe des Dichters erblicken. Anders erklärt sich z. B. nicht der große Unterschied zwischen (der Intention nach übereinstimmenden) Typen wie Albert und Lotte im Werther und dem Hauptmann und Charlotte in den Wahlverwandtschaften oder Werther und Eduard. Die besonders bedeutsame Rolle der Landschaft in diesen beiden Romanen wird weiter unten noch eingehender betrachtet. Als in ihrer Stellung zur Natur problemlose Charaktere wären im W e r t h e r der strebsame Beamte und glückliche Bräutigam Albert, der nüchterne Fürst, der Pfarrer, die Wirtin, deren Kinder und Lottes Geschwister zu bezeichnen. Aber sie sind nirgends 32

bewußt in Landschaftliches gestellt. Den ganzen Naturraum beherrscht der zweite Typus, die Gestalt Werthers. Die Quintessenz dieses Charakters hat Goethe später so zusammengefaßt: eine Wertherzeit findet sich im „Lebensgange jedes einzelnen, der mit angeborenem freiem Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll. Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind nicht Gebrechen einer besondern Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen" (zu Eckermann 2 . 1 . 1824). Werther sind alle Vorbedingungen zum ausgesprochenen Naturgefühl. Ein Talent des Herzens, die warme Empfindung, beherrscht nicht in wohltätiger Ausgeglichenheit mit anderen Gaben, sondern einseitig und gefährlich nicht ruhig, zuständlich, sondern in unausgesetzter, heftigster Polarisation zwischen Extremen sein Wesen. Stärkstes Gefühl ist aktiv in einem passiven Menschen. Es ist nichts, das nicht sein Gegenteil hervorriefe. Er ist mit allen Menschen bekannt, niemand eigentlich fest gesellt. Er sieht in allen Gutes, aber „verzerrte Originale" reizen ihn oft. Seine Liebe umfaßt die ganze Welt und schließt aber alle von Lottes Liebe aus. Er öffnet sich die Herzen der Menschen, selbst aber quält er sich ab und stirbt einsam wie ein Tier in der Höhle. Er ist Sozialist, neigt sich zu Kindern, armen Leuten, Kranken, gefallenen Mädchen und Verbrechern, aber zugleich spiegelt er sich in seiner Popularität, macht das Volk, das wir im Grunde doch nirgends sehen, zur Folie seines Gefühls, nennt seine Leutseligkeit gelegentlich ein Sich-vergessen, ist der Liebling eines Grafen, der Gast eines Fürsten, der Freund einer Baronesse, der weiß, daß die Menschen keineswegs gleich sind. Er ist ein Revolutionär und zieht doch den Freitod einer Durchbrechung der Gesellschaft und ihrer Gesetze vor. Er lobt die künstliche Regel, das Bürgerliche und ist zugleich der Anwalt des Naturgenies. Er stellt seine tiefe Neigung zur Idylle, zur Seßhaftigkeit fest und wird alsbald zum rastlosen Wanderer in dämonischer Landschaft. Er fühlt sich als Maler und vermag keine Skizze niederzulegen, er glaubt die Natur „abzuschreiben" und hat ein regeltreues, modisches Genrebildchen verfertigt. Es drängt ihn zu künstlerischer Betätigung, aber Genießen scheint ihm besser. Bücher und akademisches Wissen lehnt er ab. Sein Herz nur ist kostbar, was er weiß, „kann jeder wissen". Aber die empfindungsarme Witwe beneidet er. Er haßt die „Zwar", das logische „limitieren" und „modifizieren" des Juristen Albert, lehnt die Klarheit der Forderung seines Freundes, sein „Entweder-oder", ab und setzt dafür träumende Resignation, Ahnung, Empfinden. Dabei aber ist Werther 3

Beiti.

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ein hartnäckiger Grübler, hat nicht selten „viel nachgedacht", kommt in scharfer Dialektik zu vollkommener Erkenntnis nicht nur seines Seelenzustandes, sondern auch des Grundes. Er sieht in sich selber, in seinem Herzen den Anstifter der Unruhe, der Polarisation, des Chaos im Menschen- und Naturreich. Oft ist er dem Entschluß zu Verzicht nahe, sucht ein Amt in der Fremde, um dann um so gieriger den Wonnebecher auszuschlürfen. Bald ist sein Ich die Mitte der Welt, bald fühlt er sich in wahnsinniger Flucht um ihr Zentrum gewirbelt. Bald ist die Natur ein liebender Gott, bald ein verzehrendes Ungeheuer. Werther ist Dilettant, Literat, Wanderer, Wohltäter, Freund und Liebhaber. Er ist kein Künstler, Dichter, Gärtner, Naturforscher (das einzige Naturwissenschaftliche im Werther ist das Gleichnis von den Bononischen Steinen), kein Reformator, Pädagoge, Jurist, Bürger. Er will Soldat werden, den Bergbau studieren; beides bleibt Plan. Neben Werther sind die übrigen problematischen Charaktere nur Schatten: der wahnsinnige Schreiber, die beiden Knechte, Frl. v. B., der tote Graf. — Der dritte Typus ist nur angedeutet. Vor Lotte in der Mondscheinszene des ersten Abschieds und vor Werther am Todestag wandelt sich das Gesicht der Landschaft deutlich ins Schicksalhafte, Gesetzverkündende, so daß nur dem weniger aufmerksamen Leser der Sinn des Buches verborgen bleibt, den Goethe in dem „Folge mir nicht nach" der Umarbeitung zu unterstreichen für nötig hielt. Mit der Abfassung dieses Briefromans war für Goethe die A b kehr vom ungeordneten, problematischen Naturgefühl entschieden und ins Werk gesetzt, aber noch keineswegs vollendet. Auf der S c h w e i z e r r e i s e 1775 sieht er die Natur noch im höchsten Maß subjektiv; deshalb geht dem ästhetischen Menschen die Naturwissenschaftnochnichtauf:,,nochhatte mich die zwar höchst löbliche, aber doch den Eindruck der schönen (!) Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes (!) zerstückelnde Geognosie nicht angelockt" (I 2 9 . 1 1 5 ) , und im darauffolgenden Frankfurter Aufenthalt liest er mit Lili zwar nicht mehr Ossian, aber doch den empfindsamen Dichter, den er in der „echt deutschen Idylle" in Wetzlar mit Lotte gemeinsam verehrt hatte, Goldsmith' Landprediger von Wakefield. Der entscheidende Einschnitt ist die Berufung nach Weimar 1775. Zwei Jahre darauf rechnet er in temperamentvollster Weise mit dem Werthergefühl oder vielmehr mit den Menschen, die davon nicht loskommen können, und zugleich mit dem ins Tränenselige abschweifenden Naturkultus ab in der komischen Oper „die Empfindsamen" (12. 9. 77 an Frau von Stein), später satirisch 34

„Triumph der Empfindsamkeit" betitelt. Drei Monate später, am 9 . 1 2 . 7 7 . schreibt er aus Altenau im Harz, daß er jetzt „um und in Bergwerken lebe". Auf einer Reise 1778 wird der Wörlitzer Schloßpark nicht nur ästhetisch oder gerührt genossen, sondern beurteilt, mit dem in Gotha verglichen. Aus Bergbau und Gartenkunst entwickeln sich folgerichtig die Anfänge der Mineralogie und Botanik. Etwas später haben ihn in Jena „Steine und Pflanzen mit Menschen zusammengehängt". Der Garten wird ihm so teuer, daß er ihn nur für einen ganz lieben Menschen zu opfern bereit wäre. Auch was in und an der Natur zu tätiger Hilfe übrig bleibt, z. B. die „Wiesewässerungen" in Kaltennordheim beginnen ihn zu interessieren (1780). Erste anatomische Versuche führen in die Zoologie ein. Goethe ist auf „inn- und ausländische Tiere sehr präpariert" und seziert Ratten (1781). Jedoch all dieses Tun verweilt nicht beim bloßen Nutzen oder registrierten Phänomen. Das Gefühl sinkt nicht wieder zur problemlosen Wahrnehmung, sondern läutert sich zu höherer Anschauung und Einsicht: „ E s ist ein erhabnes, wundervolles Schauspiel wenn ich nun über Berge und Felder reite, da mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche unserer Erde und die Nahrung welche Menschen draus ziehen zu gleicher Zeit deutlich und anschaulich wird" (Meiningen 12. 4. 82 an Frau von Stein). Das größte zusammenhängende Dokument für Goethes Verhältnisse zur Landschaft in dieser Periode ist die Schweizerreise 1779. In diese Zeit fällt die Abfassung des zweiten Romans, W i l h e l m M e i s t e r s t h e a t r a l i s c h e S e n d u n g , oft in engster Verbindung mit den wissenschaftlichen Interessen, z. B . : „Den Elephantenschädel nehm ich mit nach Weimar. (Absatz) Meine Felsen Spekulationen gehen sehr g u t . . . (Absatz) An Wilhelm habe ich nicht weiter geschrieben" (Eisenach 17. 6. 84) oder: „Ich habe wieder einige Capitel an Wilhelm dicktirt, und etwas an meiner Gebürgs Lehre geschrieben" (Ilmenau7.6.85). 1777 fällt Goethes erste Notiz von der Arbeit am neuen Roman. Das Verhältnis der führenden Gestalten zur Natur hat sich vollkommen geändert. Mit der Überwindung des problematischen Typus ist zugleich der Anstoß zu eindringlicher und freier Illustration seines Naturgefühls, mit der Gestalt ihr Schauplatz, die Ichlandschaft, verloren gegangen. Das ist der allererste Grund für die Tatsache, daß in diesem Roman sich ganz selten Landschaftliches neben der menschlichen Handlung durchsetzt. Was Goethe selbst immer stärker und in den Lehrjahren und Wahlverwandtschaften programmatisch betont, daß das eigentliche Interesse des Menschen dem Menschen gelten und dieser daher das Zentrum aller Kunst bilden müsse, sagt dasselbe, 3*

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wenn wir es recht verstehen. Da Goethe den Werthertypus als einen Weg, aber nicht als Ziel betrachtete und in den späteren Romanen überwindende Charaktere in den Mittelpunkt stellte, hätte er, um weiterhin im gleichen Ausmaß wie im Werther Landschaft zu geben, notwendig „deskriptiv" werden müssen. Das lehnte er aber seit Lessings Laokoon (vgl. Goethes Urteil über Geßner in den Frankfurter gelehrten Anzeigen [ J G 2. 305]), aus eigenem Kunstempfinden und noch mehr aus eigener reih dichterischer, nicht deskriptiver Naturanlage ab. Es ist unmöglich, daß Goethe mit jenem Programm die Landschaft überhaupt aus dem Roman verbannen wollte. Wo er in bedeutsamer Abwandlung wie in den Wahlverwandtschaften oder vorübergehend wie in mehreren problematischen Novellencharakteren der Wander jähre zum Typus des Naturgefühls zurückkehrt, wird er mit organischer Notwendigkeit auch zum liebevollen Darsteller der Landschaft. Der Urmeister selbst gibt ein Beispiel dazu. Die Hauptgestalt wird über die zweite Stufe geführt. Freilich ist der seelische Fortschritt W i l h e l m s keineswegs so lückenlos und einheitlich wie der Werthers. Wilhelm ist älter und jünger als Werther. Nicht Klopstock oder die empfindsamen Engländer, sondern Guarinis Pastor fido, also ältere Schäferdichtung im Barockgeschmack löst sein Naturgefühl in der schönen Abendlandschaft im neunten Kapitel des ersten Buches aus. Im zwölften Kapitel erfahren wir, daß er nur das Theater im Kopfe hat, diesen Brennpunkt „alles unnatürlichen Naturgefühls". Und warum? Er ist „In eine Stadt gesperrt, in's bürgerliche Leben gefangen, im Häuslichen gedrückt, ohne Aussicht auf Natur, ohne Freiheit des Herzens... was er etwa auf einem Spaziergange von freier Welt sah, ging nie in ihn hinüber, er war zum Besuch in der herrlichen Natur und sie behandelte ihn als Besuch". Das wäre eine gute Charakteristik des problemlosen Typus, wenn es nicht eben als Klage, als Unleidbares mitgeteilt wäre. So ist der Durchbruch doch vorbereitet, der, durch Liebe angezettelt, gewaltsam vollbracht wird in der Nacht des Ständchens für Mariane. Aber Wilhelm ist ein Liebesheld weniger von Gottes, als von Dichters Gnaden. Er ist Zögling von vornherein. Er wird ins Krankenbett gesteckt: „die Natur, die doch ihren Liebling nicht (wie Werther!) wollte zu Grunde gehen lassen", fiel ihn mit Krankheit an. Der Dichter macht unbewußt einen feinen Unterschied. Werther war der „ S o h n " , „ F r e u n d " und „ G e l i e b t e " der Natur, aber Wilhelm ist ihr „ L i e b l i n g " . Werther ist für „ L e i d e n " bestimmt, Wilhelm hat eine „ S e n d u n g " . Nach dem Krankheitsbericht tritt der Dichter in einem satirischen ad spectatores 36

und mit deutlichem Blick und Anathema auf Werther hervor: „Leider wird dieser Zustand von vielen wohl verstanden werden, die, wie unser Freund, sich für außerordentliche physische und moralische Phänomene halten". Nach der Genesung schreitet aber Wilhelm nicht fort, sondern fällt auf den knabenhaften Zustand zurück. Er baut sich einen philiströsen Dachgarten" zwischen den Schornsteinen", deklamiert der Landschaft seine Alexandriner vor und rezitiert auf der Wanderung durch schematisch gesehenes Mittelgebirge nach Hochdorf, wo er große Landschaft angeblich „zum erstenmal" sieht, Stellen aus seinen Dramen. — Die übrigen Gestalten können wir zusammenfassend bei den Lehrjahren betrachten, da sie größere Umwandlungen nicht erfahren. Noch vor der i t a l i e n i s c h e n R e i s e , die den Urmeister von der Umarbeitung und Weiterführung in den Lehrjahren trennt, gewinnen Goethes naturwissenschaftliche Bestrebungen breitere Basis und konkrete Gestalt. Zu den botanischen und geologischen „Spekulationen" treten meteorologische und astronomische. Die Abhandlung über den Granit wird 1784 diktiert. Im selben Jahre entdeckt Goethe den menschlichen Zwischenkiefer. Nicht nur empirisches Suchen an langen Schädelreihen, auch nicht reine Spekulation, sondern aus dem Empirischen sich befruchtende Ideenschau, das Sinnforschen (Goethe nennt sich ausdrücklich „Sinnforscher" gegenüber dem mechanisierenden Naturforscher und dem spekulativen Philosophen) führt ihn dazu. Die Überwindung der nur gefühlsmäßigen Naturbetrachtung des ästhetischen Menschen wird wiederholt ausgesprochen: „Die Berge und Klüffte versprechen mir viel Unterhaltung, sie sehen mir zwar nicht mehr so mahlerisch und poetisch aus, doch ist's eine andre Art Mahlerey und Poesie womit ich sie jetzt besteige" (Eisenach 7. 6.84). Neue Freuden, Offenbarungen beglücken den Fortschreitenden : „Wie lesbar mir das Buch der Natur wird kann ich dir nicht ausdrücken" (Ilmenau 15. 6. 86); „bald wird es mir gar hell und licht über alles Lebendige" (6. 7. 86); „ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen und das ungeheure Reich simplificirt sich mir in der Seele" (9. 7. 86). In I t a l i e n schmälern kunstgeschichtliche Studien und viele menschliche Bezüge den Anteil, den die Natur in der Schweizerreise hatte. Aber im Engen und Stillen vollzieht sich die Befruchtung. Goethe faßt das „hen kai pan" (6.9.87) der Botanik, die Idee der Urpflanze, die Grundlage des späteren Werkes: Metamorphose der Pflanzen (1790). Der Gedanke einer Farbenlehre erwacht. Die Entfernung von Werther wächst noch immer. Der Dichter setzt sich vor, „sehr diät... sehr ruhig" zu leben, „damit die Gegen37

stände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen" (24. 9. 88). Kaum ein Jahr früher gab ein „Werther-ähnliches Schicksal", die Bekanntschaft mit der schönen Mailänderin Maddalena Riggi Anlaß, sich das psychologische Phänomen des problematischen Naturgefühls mit höchster Klarheit zu vergegenwärtigen: die „Fülle der Körperlichkeit, die uns jene Gegenden in Felsen und Bäumen, Auf- und Abstiegen, stillen Seen, belebten Bächen entgegen bringt, war meinem Auge beinahe fühlbarer als sonst, und ich konnte dem Schmerz nicht feind werden, der mir den innern und äußern Sinn in dem Grade zu schärfen geeignet war" (Castel Gandolfo 10. 87). Maddalena erkrankt, und sofort setzt der für Werther charakteristische Umschlag in die polare Empfindung ein, nun aber mit wachem Bewußtsein, fast wissenschaftlich beobachtet: Goethe fühlt sich die Gegenstände „mit inniger Trauer" betrachten, „Und wie einem heiteren Sinn auch die Ruine wieder zu beleben... gelingt, so entkleidet ein trauriger Sinn das lebendige Daseyn von seinem schönsten Schmuck, und möchte es uns gern als ein nacktes Gerippe aufdringen" (25.12.87). Unmittelbar diesen Gedanken nimmt der kleine Monolog Wilhelms auf im Natureingang des neuen siebten Buches der L e h r j a h r e : „Ein heitrer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn ungerührt ansehen". Welch unermeßlicher Abstand desselben Motivs vom Lenzgewitter, das vor Lotte und Werther niederging! Aber auch in den Lehrjahren ist W i l h e l m s Bild uneinheitlich. Dieser nachdenklichen, wenn auch etwas hausbackenen Natureinsicht entäußert sich Wilhelm alsbald, um recht als „großgeborenes Kind der Schöpfung" vor der Landschaft zu stehen. Bei den Fragen seines Sohnes Felix im Garten zeigt sich, daß „sein Vater nicht viel bekannter mit den Gegenständen" ist. Die Gestalt Wilhelms ist so vollständig auf Menschen projiziert, daß der Dichter für sie Landschaftliches entbehren kann. Wie gefühlsarm und einsichtslos antwortet der Vater dem Kind, das ihm „die schönen Wolken" zeigt: „alle Erscheinungen des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst, sind nichts gegenüber dem Anblick, den ich erwarte". In diesem Charakter, den der Dichter im Notizenbuch von 1793 (Paralipomena zu I 23) als „aesthetisch sittlichen Traum" schematisiert, ist nun bereits das zweite stärker betont. Die übrigen Gestalten, die aus dem Urmeister weiter- oder neu eingeführt werden, sind als Naturgefühlstypen eher noch knapper, aber einheitlicher charakterisiert. Ausgesprochen p r o b l e m l o s e T y p e n lockern die Schwere des Bildungsromans. Von Kindern ist wenig zu sehen. Ihr Seelenleben zu zeichnen, war Goethe und 38

seinem Zeitalter noch nicht bestimmt. Man steckte die Kinder in die Tracht der Großen. Das Kind Felix ist von den Erwachsenen aus gesehen und allzu bewußt auf einige Hauptmerkmale festgelegt. Es ist lüstern nach Beeren und Kirschen, freut sich über „die schönen Wolken, die schönen Farben!", schlägt aber auch — sehr problemlos — Frösche tot und zerrupft Schmetterlinge. Eine kindliche Natur ist Lydie. Auf ihrer traurigsten Fahrt denkt sie wohl ihres Liebsten, aber der volle Mond löst keine schmerzlichen Gefühle aus, sie findet nur „überall Ähnlichkeiten" in dem ungenauen Lichte. Frau Mehna gerät bei einer Wasserfahrt in „Entzücken über die Gegend" und zitiert eine „ähnliche Naturszene". Nur eine zarte Neigung für Wilhelm überhaucht ihr Wesen mit etwas Problematischem. Fröhliche Genießer sind Serlo und Philine. Der Dichter schematisiert letztere als „gegenwärtige Sinnlichkeit Leichtsinn". Sie verspottet einen jungen Mann, der wie ein Werther redivivus „mit einem Buch durch den Wald geschlichen" kommt und wie der zartnervige Prinz im Triumph der Empfindsamkeit „auf das Rieseln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der Vögel aufmerksam" macht. Lachend wünscht sie alle „Naturscenen" zum Teufel; „in ein paar schöne schwarze Augen zu sehen, thut einem paar blauen Augen gar zu wohl. Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte morsche Linden". Vom gleichen Schlage ist ihr Herr Direktor. Er lobt sich nächtlichen Liebesbesuch: „Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen!... Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde und von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp!". Problemlos, aber als reiner Tatsachenmensch und Kaufmann, ist Werner. Er baut sich im Hof einen eigenbrödlerischen Ziergarten aus Bleiglanz, Muscheln und buntem Flitter und folgt im Übrigen der Devise, Kaffeehäuser und Clubs seien für den Mann, Ausflüge und Lustörter für die Frau. Liebenswürdiger ist Laertes, der Wilhelm zeigt, nicht wie man reist, sondern wie man ein Reisetagebuch anlegt, und Therese, die als handfeste ökonomin in Feld und Forst Rat weiß, auf die aber „die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen äußerst empfindlich sind", ebensowenig Wirkung haben wie die „Reize der Kunst". In dieser wechselseitigen Ausschließung liegt ein feiner Hinweis auf die enge Verwandtschaft des problematischen, mit dem ästhetischen Menschen. Sie gesteht Wilhelm: „Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt". 39

Die Mitte des problematischen Typus nimmt schon im Urmeister die H a r f n e r g r u p p e ein. In viel höherem Maße als Wilhelm bedeutet diese Gruppe eine Fortsetzung der Werthergestalt, aber nun in neuer, noch tragischerer Weise innerlich widerlegt. Die Liebenden gehen nicht in den Tod. Sie durchbrechen das Gesetz. Im Werther war das Gesetz ein menschliches, hier scheint es ein göttliches, ein Naturgesetz. Bruder und Schwester zeugen eine Tochter. Das Kind Mignon wird entführt. Sperata sucht sie am Meeresstrand in wohltätigem Wahn. Der Harfner entflieht aus dem Kloster, wo er gefangen war. Werther war unbildsam und gab sich auf, Wilhelm ist bildsam. Dieses Paar ist unbildsam und gibt sich nicht auf. Mignon ist ihr Symbol. Goethe bezeichnet diese im Schema mit „Wahnsinn des Mißverhältnisses". Das Naturbild um den Harfner und Mignon entzieht sich in der poetischen Fassung, in feierlichen Gesängen unserer Betrachtung. Doch wie auf Werther fällt zuletzt auf diese Gehetzte ein Schimmer von Gnade und erlöst sich die verfluchte Ichlandschaft zur Schicksalslandschaft. In den Exequien für die Tote erscheint sie auf einmal in idyllischer, paradiesischer Landschaft. Die Knaben singen: „wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht mehr". Und der Harfner erhält spät das Wort zu seiner Selbstverteidigung, die er im Kloster seinen Häschern entgegengeschleudert hatte: „Begegnet uns unter jenen Cypressen, die ihre ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden, besucht uns an jenen Spalieren, wo. . . die zierliche Myrte uns ihre zarten Blumen darreicht, und dann wagt es, uns mit euren trüben grauen, von Menschen gesponnenen Netzen zu ängstigen!" Und schließlich beruft er in tiefen Gedanken und Bildern, die ihm der naturforschende Dichter in den Mund legt, sich selbst auf die Natur, die nur durch die menschliche Degeneration sich genötigt sieht, die geschwisterliche Inzucht als Frevel zu brandmarken. Er weist auf den Hermaphrodismus der Pflanze: „Seht die Lilien an: entspringt nicht Gatte und Gattin auf einem Stengel?... Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es laut aus." Mignon aber lebt und ist begabt. So sind die drei vor der Menschennatur verurteilt, vor der Gottnatur aber gerechtfertigt. — Das Wesen Aurelies ist nach dem Schema „hartnäckiges Selbstquälendes festhalten". Sie kann den Gegenstand der verlorenen Liebe nicht vergessen. Sie spricht wie Werther: „Zum Licht des Verstandes können wir immer gelangen, aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben". Still verzehrt sie sich wie später Ottilie. Eine wunderbar stetige und vollkommene Entwicklung bis zum 40

harmonischen Typus läßt der Dichter die Hauptgestalt des neuen sechsten Buches, die „ s c h ö n e S e e l e " , durchmachen. Sie lebt in frommer Idylle. Dann tritt der Mann in den Kreis. Die Natur erhebt sich zu subjektivem Ausdruck und schwingt die Bebungen der Seele mit: „Der Frühling kam und Narziß besuchte mich"; Nun war fast ein Jahr. . . verstrichen, und mit ihm war auch unser Frühling dahin. Der Sommer kam und alles wurde ernsthafter und heißer". Aber Frömmigkeit, Geduld und innerste Gewißheit eines Jenseits läßt sie den Konflikt des Gefühls überwinden. Nur die stille Seele ist schön. Ihr Naturbild klingt aus in reine Harmonie eines Gotteskindes: „Wie gerne sah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit solcher Gewißheit im Herzen trug". In diesem Buch sind die Grundzüge der Seele wie der symbolischen Landschaft Ottiliens in den Wahlverwandtschaften vorgebildet, nur ist dort die Versöhnung schwerer, schmerzensreicher. Interessant ist, daß Hausgarten und Park — der eigentliche Naturbezirk auch Ottiliens — hier trotz der erhöhten Gestaltung die modischen, zopfigen Attribute von Gartensaal, Galerien und Pavillons noch nicht abgeschüttelt haben. Nach der italienischen Reise werden die Grenzen der Betätigung immer weiter gesteckt. Seit 1791 ist Goethe Leiter des Weimarer Hoftheaters. Die Freundschaft mit Schiller bringt die Xenien, fördert die Balladen und einen reichen Briefwechsel über literarische Themen. Goethe arbeitet mit an den Hören und gründet selbst die Propyläen. Die zweite Schweizerreise wird redigiert, die Campagne und die vorwiegend kultur- und naturgeschichtlichen Interessen gewidmete dritte Schweizerreise 1797 wird unternommen. Wissenschaftliche Arbeit, besonders an der erst 1810 vollendeten Farbenlehre, nimmt neben kunst- und literaturgeschichtlichen Abhandlungen immer breiteren Raum ein, ohne jedoch die Dichtung zu verdrängen (Lehrjahre; Unterhaltungen; Versepik). Von diesem reichen Tagewerk des Geistes ist es ein weiter Weg zurück zum ästhetischen, nur mit dem empfindsamen Herzen der Welt zugekehrten Naturgefühl Werthers. Auf diesem Grunde erhebt sich der geschlossene Bau eines neuen, etwa in eineinhalb Jahren 1809 vollendeten Romans, die W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n . Das Verhältnis der handelnden Personen zum Naturgeschehen wird weiter unten im Einzelnen verfolgt. Hier sollen die Typen als solche kurz skizziert werden. Im genauen Sinne auf der problematischen Stufe verharrt nur Luciane, die zu wilder, übermütiger Spazierfahrt und Jagd auffordert und zu übertriebenem Zimmerschmuck die Gärten plündert und die Pflanzen schädigt. Der tiefe Schmerz, den der Gärtner 41

darüber empfindet, erhebt ihn schon über die Ebene eines Ökonomen und gewerbsmäßigen Dekorateurs. Nicht auf bloßen Nutzen, sondern irgendwie auf das Schöne und Gute oder ein wissenschaftliches Ziel gerichtet ist auch das Handeln des Hauptmanns, des Architekten, des pädagogischen Gehilfen, des Engländers und seines Begleiters. Fast alle streifen die Sphäre des vom Gefühl bestimmten, problematischen Menschen, aber sie treten nicht in sie ein, so daß sie auch in ihrer ruhigen, zweckbestimmten Tätigkeit nicht eigentlich zu den Entsagenden, Einsichtsvollen zählen. Der Engländer ist „Liebhaber und Kenner" von Gartenanlagen und mit Erfahrung und neuen Gedanken hilfbereit. Sein Begleiter ist mehr okkultistischer Experimentator als Naturforscher. Der Gehilfe ist tüchtig im pädagogischen Fach, ohne jede Begabung für das Sinnliche und will die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur auf die nächste Umgebung eingeschränkt wissen: „das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch!". Der Hauptmann ist Geometer, Architekt, versteht sich auf Wasserregulierung, Straßenbau, Finanzangelegenheiten, auf jede Art praktischer Organisation. Er ist ein strenger, folgerichtiger Charakter mit einem kleinen Stich ins Pedantische. Es ist bemerkenswert, daß er das einzigemal, wo wir ihn mit Charlotte in Ausdruckslandschaft gestellt sehen, daran keinen unmittelbaren Anteil hat. Von diesen Charakteren trennt sich der anfänglich auch gärtnerische Baron E d u a r d bald. Im äußeren Sinn ist er ein zweiter Werther, ohne es für den Roman zu bedeuten; ein Epigone. Er ist ein „verzogenes Kind reicher Eltern", Gartenliebhaber, Schöngeist. Er spielt die Flöte, liest gut und gerne vor. Im Grunde des Herzens ist er selbstherrlich und Aristokrat mit populären Tendenzen wie Werther. Leidenschaft für Ottilie macht ihn haltlos: „Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche". Er zerfällt mit der objektiven Welt und Natur und zieht in den Krieg, wie es Werther beabsichtigte. Aber seine Leidenschaft ist männlicher, heftiger und weniger empfindsam. Sein Egoismus gefährdet das Glück seiner Umgebung und seiner Geliebten nicht nur, sondern zerstört es. Während sich Eduard aus der Subjektivierung der Welt nicht mehr zu retten vermag, wird seine Frau C h a r l o t t e nur einen Augenblick lang in sie verwickelt, nur am Abend des Liebesgeständnisses zwischen ihr und dem Hauptmann. Vorher war sie eine tätige Frau, die auch in der Parkerneuerung nach bestem Können mitwirkt, aber ihre Arbeit wortlos einstellt, da sie die Unzulänglichkeit erkennt. Von vorherein opponiert sie ernst und 42

kräftig gegen das Naturgleichnis von unentrinnbaren „Wahlverwandschaften": „Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht". Sie entsagt als erste der verhängnisvollen Liebe „rein und völlig". Sie beugt sich am schlichtesten unter das Schicksal, ja sie wird dessen Trägerin und heimliche Botin als Mutter des Kindes. Erst spät begleitet und übertrifft ihr weibliches Überwindertum O t t i l i e . Diese Jungfrau, eine der erhabensten Frauengestalten in Goethes Dichtung, eilt als Einzige durch alle drei Grade zum Ziel. Zuerst erscheint sie als Pensionatstochter. Die Natur kennt sie fast nur aus der Küche. Ihre Sinnesweise ist „dem Hause und dem Häuslichen mehr als der Welt, mehr als dem Leben im Freien zugewendet". In der unschuldigen Liebe erwacht sie zum Gefühl für die Natur. Die scheinbare Schuld am Tode des Kindes steigert die Problematik. Schließlich wächst sie in heroischem Verzicht über die Sphäre des Gefühlsmenschen hinaus und erreicht eine überirdische Harmonie, die mit dem schönen, wie der Herbst einer Blume sich nähernden Tod nicht zu teuer erkauft scheint. Die reiche Personencharakteristik an Landschaftlichem oder gar eine durchgeführte Symbolik des Naturgeschehens wird völlig hinfällig im Mosaik der W a n d e r j a h r e , deren Abfassung sich über die Herausgabe des „Ersten Theils" 1821 bis zur letzten Gestalt 1829 über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckt. Ungezwungenerweise als Typen zu bezeichnen haben wir nur einzelne Gestalten der eingefügten Novellen oder der novellistischen Handlungsabschnitte wie die Wallfahrt der Vier in Mignons Heimat. Und wo problematische Charaktere sich deutlich auf Landschaftliches projizieren, kommt die Typisierung einem Schematismus sehr nahe. Noch mehr als Eduard ist L u c i d o r im ersten Buch ein blasser Nachfahre Werthers. Er glaubt sich in der Liebe zu Lucinde getäuscht : „der Park war ihm zu eng, er eilte durchs Feld, nur die Stimme seines Herzens vernehmend, ohne Sinn für die Schönheiten des vollkommenen Abends". Wir vermissen die Wertherische Kraft der Verwandlung. Das Phänomen wird erklärt, weniger dargestellt. Er schweift „nicht immer auf den wegsamsten Pfaden". Der Tag ist ihm „überlang", der Abend beruhigt ihn nicht. Am Morgen sieht er „die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch, sein Inneres aber widersprach". Werther sah die Welt so, wie sein Herz fühlte. Auch F l a v i o , der schließlich doch siegreiche Rivale des Mannes von fünfzig Jahren, fällt der subjektivierten Natur als Beute zu; er kommt „zerfetzten Kleides wie einer, der durch Dorn und Dickicht durchgestürmt, greulich 43

beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewatet". Im Urmeister und in der Wertherumarbeitung hat der Dichter den Leser vor diesen Typen gewarnt, in der italienischen Reise die Subjektivität ihres Naturbildes klar ans Licht gestellt. Jetzt, wo er im gefühlvollen Aufenthalt der Vier, Wilhelms, des Malers, Hilariens und der Witwe, in Mignons Heimat am Lago maggiore noch einmal diesen Typus zeichnet, fällt auf das Schlußbild ein unverkennbarer Zug von Ironie. Nach der Vollmondnacht, die die Vier unter Tränen „in alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden" eingeweiht hat, sind die schönen Damen plötzlich abgereist : „Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandlet;... Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten... gerügt und gescholten haben". Den Mittelpunkt der Wanderjahre aber bildet der harmonische Typus, die Gruppe der E n t s a g e n d e n , die sich in einem Leben der werktätigen Liebe, der Weisheit und der Naturforschung der revolutionären Ichlandschaft und damit der dichterisch darstellbaren Landschaft entziehen. Josef II., den zuerst wohl auch „unendliche Ungeduld, ein unermeßliches Verlangen durch Berg und Tal" treibt, vereinigt ein günstiges Geschick bald mit Maria. Ihre Wohnstätte in den Voralpen, ein alter Klosterhof, ist der „Aufenthalt einer ruhigen Sammlung" wie das Gebirgsleben überhaupt „etwas Menschlicheres als auf dem Lande hat". Mehr als beglückende Selbstbeschränkung findet Montan in der Natur. Der für Shakespeare begeisterte Jarno der Lehrjahre erscheint in den Wanderjahren als gesetzter Naturforscher, auch als solcher seinen Freund Wilhelm mit derbem Verweis und gutem Rat unterstützend. Die mineralischen Bodenschätze, deren unerschlossener Reichtum ihm Amerika anziehend machte, möchte er für alle nutzbringend machen. Und darüber hinaus erkennt er den eigenen und höheren Wert der reinen Weisheitsliebe: „Was nützt, ist nur ein Teil des Bedeutenden. Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen, muß man ihn um sein selbst willen studieren". In den geheimnisvollen, von der zeitgenössischen Naturphilosophie eingegebenen Gestalten der n e u t r a l e n P e r s o n u n d M a k a r i e n s mißt der Dichter nocheinmal den ganzen Bezirk der menschlichen Verhältnisse zur Natur von der größten Gebundenheit bis zur größten Freiheit symbolisch aus. Im vierzehnten Kapitel des dritten Buches werden sie konfrontiert. In der Person 44

steckt selbst ein Stück Natur. Sie ist die Verkörperung des Tellurischen, hat ähnlich wie Ottilie „einen geheimen Bezug auf alles, was man Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen" kann. Sie wechselt ihr Befinden mit dem Boden, hat eine eigene Sprache und neutrales Geschlecht. Die zentripetale Kraft der Erde beherrscht ihr innerstes Wesen. Makarie ist dagegen das reine Geistwesen, der Inbegriff des Siderischen. Ihr ist ein eigenes Verhältnis zum Sonnensystem eingeboren. Ihr Wesen ist Freiheit und ihr Erkennen Intuition als der „Schauenden". Beide aber kehren von den äußersten Grenzen zurück, „vorzüglich auf Tat aufmerksam" gemacht. Und der Astronom in Makariens Diensten ist es, der auch W i l h e l m durch Erkenntnis der Stellung des Menschen zur Welt der Harmonie entgegenführt. Die Gedanken, die der Anblick des nächtlichen Sternhimmels in ihm weckt, sind eine endgültige Beantwortung und Lösung des problematischen Charakters: „Was bin ich denn gegen das All? sprach er zu seinem Geiste: wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervorthut? Und selbst wenn es dir schwer würde diesen Mittelpunct in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt". — Dieser Besuch bei Makarie verhindert aber nicht daß wir Wilhelm später wieder in der Ichlandschaft am Lago maggiore begegnen und in seiner Erzählung aus der Jugend eine empfindsame, ganz in den glühenden Farben des Werther gehaltene Landschaft aufrollen sehen. In der N o v e 11 e ist das Landschaftsbild rein deskriptiv behandelt, ohne daß sich an ihr besondere menschliche Züge oder Typen entwickeln könnten. Eine flüchtige und auch etwas schematische Färbung der Landschaft ins Problematische fällt geradezu auf; die Fürstin hat eben an die Schilderung des Oheims von einem furchtbaren Brande gedacht: „nun schien der heitere morgendliche Gesichtskreis umnebelt, ihre Augen verdüstert, Wald und Wiese hatten einen wunderbar bänglichen Anschein". Das erinnert beinahe an die Bühnenverwandlung am Lago maggiore. Die Liebe Honorios aber bricht erst am Schluß durch und wird sofort in Schranken gehalten. Es ist bemerkenswert, wie die Fürstin auf den melancholischen, die Landschaft subjektivierenden Blick 45

Honorios gar nicht eingeht, sondern statt an die untergehende Sonne an das gen Westen liegende Amerika denkt: „ D u schaust nach Abend, rief die Frau, du thust gut daran, dort gibt's viel zu thun... du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde dich selbst". Lotte sieht Werther hilflos untergehen, reicht ihm die Pistolen, Ottilie opfert sich für Eduard, ohne ihn retten zu können, die Fürstin ruft zur Überwindung durch Tat auf. Die aktive Anerkennung der objektivierten Natur, des erkannten Gesetzes, ist Goethes letztes Wort.

2. W E C H S E L W I R K U N G VON G E F Ü H L S T Y P E N UND LANDSCHAFTSBILD. In der Herauslösung der Typen des Naturgefühls sahen wir bereits ansatzweise, wie sich mit den Veränderungen in der Seele des Helden auch das Gesicht der Landschaft umgestaltet, sofern die Beschränkung der späteren Prosa überhaupt den Blick auf dieser ruhen läßt. Nur im W e r t h e r und in den W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n spielt sich die Romanhandlung von Anfang bis zum Ende wenigstens in den Hauptpunkten in der Landschaft ab und ist zugleich bei fließender Zeit die nötige Einheit der Personen, des Geschehens und auch des landschaftlichen Ortes streng genug gewahrt, daß wir von einem Naturparallelismus sprechen können. Da jedoch in diesen Werken nicht nur dieselbe Richtung verfolgt wird, das Landschaftliche nicht nur orchestral die menschlichen Stimmen begleitet, sondern sich zu ihnen erhebt, sie verwirrt, sich mit ihnen vermischt, ja selbst auf geheimnisvolle Art führende Stimme wird und die Murmelnden und Verstummten bezaubert und erschrickt, ist es zutreffender, diese Erscheinung als innerste Wesensverknüpfung und Gleichheit, als I d e n t i t ä t des Naturgeschehens zu bezeichnen. Dem Begriff des Parallelismus haftet etwas Mathematisch-Mechanisches an, und wir tun gut, ihn für solche Dichtungen zu sparen, wo die Natur, wenn auch bedeutsam und symbolisch, doch in einem mehr äußeren, durchsichtig kompositioneilen, weniger organisch verbundenen Gleichsinn wirksam ist wie etwa in den Natureingängen und -beschlüssen Fontanes und der neueren Romantechnik überhaupt oder wie auch — das nehmen wir vorweg — in den Naturbildern der nur kompositionstechnisch glücklichen Umarbeitung des Werther. Da es uns in diesem Kapitel besonders auf die Einordnung des Naturbildes in die Handlung des Romans ankommt, zitiereich den 46

Werther nach den Briefdaten, die Wahlverwandtschaften nach Kapitel und Jahreszeiten. Um die Reihe vollständig zeigen zu können, lege ich die zweite Fassung des Werther, also W A I 19 zugrunde, merke jedoch die später eingefügten Naturbilder besonders an, so daß ihre abweichende Eigenart nicht übersehen wird. Die Reihe der tagebuchartigen Briefe Werthers an seinen Freund Wilhelm läuft vom 4. 5. 1771 bis Weihnachten 1772.

Werther. Der erste Brief vom 4. Mai, der mit den zwei knappen Eingangssätzen : „Wie froh ich bin, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!" polarisierende Unruhe der Seele und der äußern Umstände als Grundzug im Wesen des Helden, das Herz als seine Hauptkraft und dessen Wunder und Leiden als Thema des Romans hinstellt, läßt auch die Landschaft einsetzen, nicht mit leise anzettelnden Plänkeltönen, auch nicht mit realistischen Details oder einem anschaubaren Bild, sondern mit einem vollen, eindringlichen, aber allgemeinen harmonischen Aufklang: Einsamkeit, Frühling, Jugend, reiche, tiefe, dankbare Empfindung, Empfindsamkeit. Diese letztere Abstufung wird noch gleich unterstrichen durch die Nachricht von einem Garten, dessen Plan „nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz" gezeichnet habe. Dabei übersieht Werther auch schon, daß der Einschlag des neuen, in dieser Zeit in Deutschland zur Geltung kommenden englischen Gartenstils nur bedingt ist und das „verfallene Kabinettchen", in dem er dem weiter nicht bekannten toten Besitzer aus keinem ersichtlichen Grund heiße Tränen nachweint, ein typisches Requisit des französischen, geometrisch kühlen Rokokostils ist. Der nächste B r i e f vom 10. M a i steigert bereits Empfindung und Landschaft auf einen herrlichen Gipfel: „Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße". Ein unbestimmter, aber mächtiger Drang neigt sich mit den Sinnen zur Kleinwelt, schwingt sich mit dem Geist zu Gott. Es ist das Frühlingsbild, aus dem die Hymne Ganymed unmittelbar hervorging. Noch fehlt ein äußerer Reibungs- und Zentralpunkt. Es ist nur das Kreisen der Kraft gezeigt, die aus Nichts eine Welt zu erschaffen vermag und deshalb auch später nicht mit einem kargen Angebot und Kompromiß der Welt vorlieb nehmen kann. Die unheimliche Macht der Ichlandschaft in ihrer Entfesselung kündet sich an. Das klare Sehen schwindet: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen". 47

Die erste Ahnung der Unkraft des passiven Ichs beängstigt: „ich erliege der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen". Dann sinkt der Atem. Der Hymnus löst sich. Aus Gefühl und Gedanken heilsam und harmonisch gemischte Idylle entfaltet sich. Im nächsten Brief vom 12. Mai wirkt ein Brunnen mit seinem Wesen die Erinnerung an das biblisch patriarchalische Königtum. Im vierten Brief aber ist nichts Landschaftliches. Werther lehnt Büchersendungen ab, Homer ist ihm „Wiegengesang". Nun hakt in die kaum begonnene Geschichte mit Entschiedenheit die Kette der Dinge ein, die außer der Landschaft das menschliche Leben einnehmen und umgeben. Von jetzt an haben neben der Natur, die freilich das höchste und reinste Symbol bleibt, auch das Buch, das Kind, das Zeichnen, der Selbstmord, die Verwandtschaft, die Freundschaft, das Beamtentum, also Pädagogik, Literatur, Kunst, Religion, Ethik, Politik usw. symbolischen Anteil am Schicksalswandel des Helden. Das alles müssen wir hier beiseite lassen. Erst der achte Brief vom 26. Mai setzt die Naturidylle fort mit dem neuen, ebenso stillen, friedlichen, scheinbar für immer patriarchalisch gesicherten Bild des Wirtshauses in Wahlheim, wo es bei Wein, Bier, Kaffee unter zwei Linden „so vertraulich, so heimlich" ist und Werther wieder zeichnet. Im Grunde aber ist die Seele in unausgesetzter Vibration und Unruhe, die sich aus sich selbst nährt, denn Werther hat Lotte noch nicht gesehen. Im nächsten Brief vom 27. Mai ist ziemlich unvermittelt ausgesprochen, daß der Held das Idyllische mehr ersehnt als besitzt. Der Brief vom 16. Juni berichtet von der „Bekanntschaft", die Werthers „Herz näher angeht". Sein taumelndes Gefühl hat den Angelpunkt gefunden. Der Nachmittag der Bekanntschaft, des Ausfluges und Tanzes mit Lotte bildet den E i n s c h n i t t , von wo an Werther nicht nur die allgemeine gesteigerte Empfindung eines wertvollen Menschen der Jahrhundertmitte, sondern ein rasch sich gestaltendes persönliches Schicksal in die Landschaft hineinträgt. Alles Frühere ist Einleitung, in der freilich („Ich erliege der Gewalt" 10. 5.; Sehnsucht nach der Idylle 27. 5.) das spätere Gesicht der Natur angedeutet wird, mitunter (in der Idylle am Brunnen) fast im Sinn eines Leitmotivs, das später wieder aufklingt. Die kurze Notiz beim Abholen Lottes: „Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfigen Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien" ist bereits mehr als epische Vorbereitung. Die breite Schilderung des Tanzes mündet aus in

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das Bild des Gewitters, das alle erhöhten und verworrenen Empfindungen verbindet und beschließt und zum erstenmal das Paar Werther und Lotte in der Umschau aus dem Fenster bedenklich isoliert. Für dieses Naturbild, das die eigentliche Romanhandlung erst einleitet, ist es charakteristisch, daß Werther passiv bleibt und Zunächst die Frau das eigentliche Ich der Gefühlslandschaft ist: „ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: Klopstock". Obwohl Klopstock und die empfindsamen Engländer für jene Zeit weit mehr als literarische Reminiszenzen bedeuten, ist es doch dem Manne Werther nie vergönnt, den Ansturm der Gefühle von seiner Seele weg auf ein Drittes abzuleiten; besonders die Lieder Ossians, denen er sich später zuwendet, lösen nicht den Starrkrampf seines Herzens, er liest sie mehr in sich hinein, als daß er sich an ihnen ausweint, und er füllt die eigene Nacht mit tieferer Finsternis. Vom darauffolgenden Morgen berichtet der Brief vom 19. Juni. Auf der Nachhausefahrt trägt die Natur einen vollen Akzent des Triumphes und der Zuversicht: „Es war der herrlichste Sonnenaufgang! Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher!". Dies ist das einzige Sonnenaufgangsbild im Werther, das froh seinen positiven symbolischen Gehalt ergreift. Es steht bedeutungsvoll im hoffenden Anfang der Tragödie, deren Schluß sich ebensowenig zufällig in sonnenlose Morgendämmerung mit Wolken verliert. Der nächste Brief vom 21. Juni senkt den Ton durch das Innewerden der seelischen Polarisation, die Werthers Wesen tiefer beherrscht als selbst die neue Leidenschaft: „ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten. . . und dann wieder über den innern Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben". Dies illustriert ein Erinnerungsbild: „Es ist wunderbar : wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich ringsum a n z o g . . . . Ich eilte hin und kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte". Nachdenken führt Werther zu reiner Erkenntnis, aber zu keiner Tat. Ja, diese melancholische Grübelei, diese Polarisation des Gefühls lebt ganz aus sich selbst und für sich, denn einige Zeilen vorher steht: „Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart". Dahin kehrt denn auch der Briefschluß zurück mit dem idyllischen Bild, wie Werther im Wirtshaus zu Wahlheim Erbsen abfädet und im Homer liest. Bedeutsamerweise reflektiert Werther aber auch schon über diese „Züge patriarchalischen Lebens". Er beruhigt 4

Beiti.

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sich zunächst: ich kann sie „Gott sei Dank! ohne Affektation in meine Lebensart verweben". Die Idylle setzt sich fort im übernächsten Brief vom i. Juli. Werther besucht mit Lotte den alten Pfarrer, dessen Haus von Äckern, Wiesen, einem Garten und einem Hof mit „zwei hohen Nußbäumen" umfriedet ist. Lotte hilft und tröstet, Werther aber läßt eine gefühlvolle Rüge los auf den eifersüchtigen Schmidt, den Liebhaber der Pfarrerstochter. Böser Humor sei ein Laster und Trägheit, dagegen „in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen". Er selbst ergreift dieses Heilmittel nicht. Auch die Szene des folgenden Briefes vom 9. Juli ist sorglos. Lotte und Werther verweilen am Brunnen, wo wir früher ihn allein in einsamer Verzückung fanden. Doch nun ist er „tausendmal werter". In elf kurzen Briefen erscheint keine Landschaft. Nur am 24. Juli verwundert sich Werther, daß er nicht zu zeichnen vermag, obwohl noch nie seine „Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger" war. Das Gefühl erhöht sich, das Sehen, die „vorstellende Kraft" schwindet. A m 3 0 . J u l i erfolgt die erste P e r i p e t i e . W e r t h e r s L e i d e n beginnen. „Albert ist angekommen und ich werde gehen". Auf einmal erhebt sich in seiner Seele etwas Wildes, Fahriges, das ihn in äußersten Gegensatz zur Idylle setzt: „Ich laufe in den Wäldern herum, und wenn ich zu Lotte komme, und Albert bei ihr sitzt im Gärtchen unter der Laube". Die Idylle schließt sich um die Verlobten, Werther ist ausgestoßen. Zum erstenmal gewinnt hier die Landschaft, wenn auch nur flüchtig, jenen negativen Ausdruck, elegisch vor der mittleren, milden und begierdeschwachen Lage des Gefühls, chaotisch vor dem ungebändigten, aufbegehrenden Wunsch und der Kraft des Schmerzes. Das Leben fängt an, aus der Regel zu weichen und eine Last zu werden. Die Rechenschaftslegung vor sich selbst im Tagebuch wird „seit einiger Zeit vernachlässiget" (8 .August). Am 10. August macht Werther mit Albert einen Spaziergang. Dieser erzählt, wie ihm Lotte von der Mutter auf dem Todbette anbefohlen worden sei. Da gibt Werthers gefühlvolles Herz einen Augenblick lang das krampfhaft umschlossene Glück frei: „Ich gehe so neben ihm hin und pflücke Blumen am Wege, füge sie sehr sorgfältig in einen Strauß und werfe sie in den vorüberfließenden Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen". Eine tiefsymbolische Handlung. Am 12. August erzählt Werther, ihn „wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten". Die Natur, in der er in den ersten Frühlingstagen ruhend träumte, fängt er nun an, ziellos zu durchwandern. Mit Alberts Pistolen spielt er lässig. Der innere Abstand zu Albert 5°

vergrößert sich und klafft schon unheilbar. Der übernächste Brief vom 18. A u g u s t macht einen großen Haltepunkt, der die Vergangenheit mit der Gegenwart vergleicht. Die zweite mächtige N a t u r h y m n e hebt an, im Vergleich mit der vom 10. Mai noch bedeutend gesteigert im Gefühl eines Verlustes. Zuerst das Thema: „Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur . . . das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist". Dann das Bild, das verloren ist: „Wenn ich sonst..". In der Natur wehte der „Geist des Ewigschaffenden". In unvermitteltem, polaren Kontrast dazu das verwandelte Jetzt: „Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes". Die Natur ist „ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer." Im übernächsten Brief vom 2 2 . A u g u s t klingt es noch nach: „Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur". Aber dieser Brief bildet zugleich den Vorhalt zu neuer Modulation nach Dur, zur z w e i t e n P e r i p e t i e , zu der Werthers Geburtstag den äußeren Anstoß gibt. Albert und Lotte beschenken ihn. Er küßt die blaßrote Schleife „tausendmal". Idyllische Landschaft schließt den Brief: „Lebewohl! Es ist ein herrlicher Sommer; ich sitze auf den Obstbäumen in Lottens Baumstück mit dem Obstbrecher, der langen Stange, und hole die Birnen aus dem Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab, wenn ich sie hinunterlasse". Das ist jedoch das letzte g l ü c k l i c h e N a t u r b i l d um Werther und Lotte und wenn wir von den späteren, peripherischen und schattenhaften „ländlichen Szenen von ungemischter Glückseligkeit" mit dem Frl. v. B. in der Fremde absehen, die letzte Naturidylle in Werthers Leben überhaupt. Mit dem hastigen Atemstoß des Schicksals, das sich gleich getriebenen Pferden der letzten Höhe vor dem endgültigen Niedergang nähert, erfolgt schon im nächsten Brief vom 30. A u g u s t die d r i t t e W e n d u n g . Werther ist oft und stundenlang bei Lotte. Die Leidenschaft wächst. Er weint sich aus auf ihrer Hand. Unruhe ergreift ihn. Die Natur gestaltet sich gleichfalls leidenschaftlich und wild: „so muß ich fort, muß ich fort, muß hinaus! und schweife dann weit im Felde umher". Der Berg wird „jäh", der Wald „unwegsam", „Dornen" und „Hecken" verwunden den Fuß. Der Leib wird müd und durstig. Kaum tröstet der Vollmond und sänftigt die Landschaft zur Elegie. Die nächste Notiz vom 3. September teilt den Entschluß zur Abreise mit. Dem 10. September geht die Nacht des A b s c h i e d s voraus. Nur Albert ist 4*

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Mitwisser des Entschlusses. Nieder wird wie in der Einleitung ein Garten im Rokokogeschmack mit Terrasse, Allee, Buchenwänden, Boskett, Kabinett, Schauplatz der empfindsamen Gespräche der neuen Generation. Darin zeigt sich die Verwandlungskraft des Werthergefühls. Werther, noch allein, blickt wieder zurück, der Sonne nach: „ S o oft hatte ich hier gestanden". Dann sinkt die Sonne, Albert und Lotte kommen. Man nähert sich dem „düstern Kabinette". Mondlicht leuchtet, man denkt der Toten. Dann ist Werther wieder allein. Lottes Kleid schimmert noch. Mit der weitweisenden, symbolischen Geste (vgl. oben das Blumen pflücken am Bach): „ich streckte meine Arme aus, und es verschwand "schließt der erste Teil des Romans. In der F r e m d e , wo nun Werther im Büro einer Gesandtschaft die von Verwandten und Freunden empfohlene „Aktivität" zu entfalten sucht, e r l i s c h t das L a n d s c h a f t b i l d fast vollständig. Von H e r b s t und W i n t e r sehen wir nichts. Werthers Herz ist wie von Scheintod umfangen. Das neue Jahr zehrt von den Brosamen des alten. Am 20. Jänner berichtet Werther an Lotte seine völlige Teilnahmslosigkeit an der Natur: "Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen, und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube". Diese Stelle ist eine organische und stilgerechte Einfügung der Umarbeitung. Nur ein einziges weibliches Wesen, das Fräulein v. B., findet sich, das mit Lotte Ähnlichkeit hat. Dann ruft sich Werther das Zimmerchen Lottes in Erinnerung und ein knappes Winterbild dient nur zum Kontrast: „Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hinübergezogen, und ich muß mich wieder in meinen Käfig sperren". Diese Stimmung hält an: „Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist es wohltätig... Wenn's nun recht regnet, und stöbert, und fröstelt, und taut, ha! denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer werden, als es draußen ist, oder umgekehrt" (8. Februar). Auch diese Stelle stammt aus der zweiten Fassung. Nicht der innere, nur der sprachliche Stil ist verfehlt, denn diese Häufung nackter Verben ist dem Landschaftsbild des Werther gänzlich fremd. Am 20. Februar schickt Werther neidlos und versöhnt einen verspäteten Glückwunsch zur Hochzeit Lottes mit Albert. Indes, ein neuer Feind zerstört die mühsam errungene Ruhe der Seele. Der Graf von C. liebt ihn, aber eine arrogante Adelsgesellschaft lehnt den Bürgerlichen ab. Er fühlt sich beschimpft. Er fährt nach M., „dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen" und die Heimkehr des Odysseus nachzulesen. Am 24. März hat er seine 52

„Entlassung vom Hofe verlangt". Am 6. Mai reist er ab, ein Jahr und zwei Tage, nachdem er das Tal beschritten hatte, in dem Lotte lebte. Aber kein neuer Frühling blüht auf. Es ist, als ob es dieses J a h r keinen M a i gäbe. Nur zwei kurze und ein längerer Brief sind auf ihn datiert. Am 9. Mai erzählt Werther von seiner Reise, die er über den Geburtsort gehen ließ. Werther ist getrennt von der geliebten Freundin und ohne Beruf, einsamer als je zuvor. Zum erstenmal schließt sich vor seinem E r i n n e r u n g s b l i c k die Landschaft der Kindheit auf. Er läßt den Postillon „An der großen Linde" halten, die „ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze" der Spaziergänge gewesen war. „Wie anders! Damals sehnte ich mich... hinaus —. Jetzt komme ich zurück... mit wieviel zerstörten Plänen!" Er nimmt in der Stadt Wohnung, sieht die alte Schulstube, geht „den Fluß hinab", einen Jugendtummelplatz zu sehen, spinnt sich ein in sehnsüchtige Erinnerung. Dann sucht er einen Fürsten auf in der Absicht, Soldat zu werden. Er zieht jedoch weiter, nun ganz „ein Wanderer, ein Waller auf der Erde!" (16. Juli). Am 18. Juli ist er auf dem Wege zu Bergwerken; „ist aber im Grunde nichts daran, ich will nur Lotten wieder näher". Damit ist Werthers Schicksal entschieden. Er verfällt dem alten Bann und das Märchen seiner Großmutter vom Magnetberg, der den Schiffen Beschlag und Nägel aus den Planken reißt, wird an ihm wahr. Am 4. A u g u s t ist er wieder im Ort. Der Platz vor dem Lindenwirtshaus ist nun ein „ O r t des t r a u r i g e n A n g e d e n k e n s " . Er geht zum Tor hinaus den Weg, den er mit Lotte zum erstenmal fuhr. „Alles, alles, ist vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines damaligen Gefühles" (21. August), damit bezeichnet der Dichter deutlich die Subjektivität der Ichlandschaft. Unbemerkt bleiben diesmal Sommer und Geburtstag. Kurz, schneidend setzt die symbolische Melodie des abwärts jagenden Geschickes ein; am 4. September: „Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen". Ein merkliches Versäumnis der ersten Fassung hat hier der Dichter später nachgeholt. Den Aufstieg begleitet die Landschaft so reich und voll, beim Niedergang bleibt sie fast stumm. Darin hatte Goethe mit einer gewissen Befangenheit, zu sehr aus sich heraus und für sich gedichtet. Ganz glücklich ist diese Ergänzung indessen nicht. Weniger der abrupte, symbolische Einsatz an sich, aber der sprachliche Stil ist zu straff, zu karg und klappend im Parallelismus. Die Metapher „Meine Blätter" zumal ist gezwungen. Andererseits kann man freilich 53

sagen, daß durch diese Monotonie der Ausdruck der Landschaft ins Gesetzliche, Schicksalsmäßige gehoben wird, daß hier die Natur objektiviert, vom Leiden des Subjekts nicht unberührt, aber in einem höheren Sinne unabhängig gezeigt wird. Auf jeden Fall ist diese scheinbare Überwindung des Problematischen, der Gefühlsverwirrung, ist diese harmonische Natureinsicht nicht von Dauer. Denn wenig später, am 12. O k t o b e r , wird ausdrücklich O s s i a n s L a n d s c h a f t zum Symbol erhoben, die aus einem Übermaß des Elegischen, Gefühlvollen fast kraftlos, keineswegs überwindend wirkt: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde,... Wenn ich (den Barden)... sehe, wie er immer neue, schmerzlichglühende Freuden in der kraftlosen Gegenwart der Schatten seiner Abgeschiedenen einsaugt". Die Landschaft Ossians erst bedeutet die völlige Revolutionierung von Werthers Wesen, das hier doppelt gefährdet ist: durch den L y r i s m u s unaufgehaltener, unersättlicher, selbstzerstörender Trauer und durch die E n t f r e m d u n g v o n d e r a n g e s t a m m t e n , mütterlichen, mitteldeutschen W a l d - , W i e s e n - und T a l l a n d s c h a f t . Denn wenn der Schauplatz auch gewahrt und der Bildstil des Dichters selbstständig bleibt, irgendwie ist von jetzt an doch der düstere n o r d i s c h e L a n d s c h a f t s t y p u s mit H e i d e , S c h l u c h t , H ö h l e n , S t r o m , M e e r , und N e b e l n auf Werthers Landschaft übertragen und dieser wird, schon ohne Freundin und Beruf, durch den inneren Verlust der Heimaterde völlig wurzellos. Wie zur Bestätigung ist am 3. November nocheinmal Vergangenes mit Gegenwärtigem verglichen: „Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!". Er sieht die Morgennatur nur mehr mit den Sehnerven; „diese herrliche Natur" steht starr vor ihm „wie ein lackirtes Bildchen" und der ganze Kerl steht vor Gottes Angesicht „wie ein versiegter Brunnen, wie ein verlechzter Eimer!". Immer mehr wächst jetzt neben der L a n d s c h a f t die M u s i k als Ausdruck des seelischen Geschehens empor. Besonders begleitet sie die Augenblicke der atemversetzenden sinnlichen Wollust, die zugleich das klare Schauen trübt. D i e L e i d e n s c h a f t g r ä b t s i c h g l e i c h s a m t i e f e r in die S e e l e , wo L i c h t und F a r b e der L a n d s c h a f t n i c h t n a c h z u d r i n g e n v e r m ö g e n , aber der b e t ä u b e n d e M o h n s a f t der T ö n e d u r c h s i k kert. 2 4 . N o v e m b e r : „Sie nahm ihre Zuflucht zum Klavier und hauchte mit süßer leiser Stimme, harmonische Laute zu ihrem 54

Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so reizend gesehen; es war, als wenn sie sichlechzend öffneten, jene süßen Töne in sichzu schlürfen, die aus dem Instrument hervorquollen, und nun der himmlische Widerschall aus dem reinen Munde zurückklänge". Dieser suggestive sprachliche Stil sinnlichster Verben, gleitender Liquiden und Nasale, tönender Vokale und Diphtonge spricht für sich. Am 30. November leitet Ossianstimmung die Szene des Schreibers ein, der von heimlicher Liebe zu Lotte den Verstand verloren hat. D i e N a t u r w i n t e r t sich e i n , er aber sucht in felsiger Landschaft Frühlingsblumen. Werther, der ihn findet, fühlt Mitleid und — Neid: „ D u gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu pflücken — im Winter". Die Einschaltung „Der Herausgeber an den Leser", die dem Brief vom 6. Dezember folgt, gestattet einige interessante Beobachtungen an zwei Landschaftsbildern, die erst in der zweiten Fassung eingefügt wurden. Auch hier, wie oben bei Werthers Aufenthalt in der Fremde, mochte dem Dichter bewußt werden, daß die Landschaft plötzlich so gut wie nichts mehr beitrage zum symbolischen Ausdruck der Romanhandlung. So wurden knappe Bilder gleichsam als Trittsteine erfunden. „ E s war ein schöner Wintertag, der erste Schnee war stark gefallen und deckte die ganze Gegend. . . . Das kalte Wetter konnte wenig auf sein trübes Gemüt wirken". Dadurch, daß sich hier der Dichter unmittelbar an den Leser wendet, wird der Ichcharakter der Landschaft hinfällig und verwandelt sich in rein epische Beschreibung. Die Identität des Naturgeschehens enthüllt sich als spezifisch lyrische Fiktion und schlägt um in epischen Kontrast (in der Winterszene des wahnsinnigen Schreibers oben ist gewissermaßen Werther der epische Berichterstatter und zerstört die Identität des Landschaftlichen. Für den Irren, das Ich jenes Bildes, ist es Frühling). In der Mitte liegt das nächste Bild und ist deshalb stilistisch weniger glücklich. Der zweite Knecht der Wirtsfrau ist vom ersten aus Eifersucht erschlagen. Er liegt unter den Linden, an dem von Werther „sonst so geliebten Platze". „Liebe und T r e u e . . . hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. Die starken Bäume standen ohne Laub und bereift; die schönen Hecken, die sich über die niedrige Kirchhofmauer wölbten, waren entblättert, und die Grabsteine sahen, mit Schnee bedeckt, durch die Lücken hervor". Hier sucht der Dichter ganz offenkundig, die Identität wiederherzustellen. Aber er überzeugt uns nicht, da das Ich, das in diesem Roman allein das Verwandlungsrecht inne hat, nicht hervortritt mit eigenem Bericht. Außerdem steht dieses Bild durch die Auflösung der rhythmischen Bewegung in feste proportionierende 55

Ordnung mit schweren Substantivkompositionen und betontem Gebrauch des partizipischen Perfekts sprachstilistisch in großem Gegensatz zur ersten Wertherfassung. Zu dieser kehren wir zurück mit dem Brief vom 12. Dezember, dessen Landschaftsbild sich der romantisch balladischen Form Ossians nähert. In Werthers Seele ist das Chaos losgebrochen: „es ist nicht Angst nicht Begier — es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das meine Gurgel zupreßt! Wehe! wehe! Und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit". Wenn über das Ruhende, Kaltstarre, Finstre der Dezembernacht plötzlich Sturm, Hochwasser und hinter jagenden Wolken wechselndes Mondlicht hereinbricht, ist der Ausdruck letzter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit auch im Landschaftlichen erreicht. Während sonst am 18. August, 10. September, am 9. Mai des folgenden Jahres der Rückblick auf Frohes dem traurigen Jetzt voranging, taucht die Vergangenheit diesmal nur spät und bleich hinter der Gewalt des Gegenwärtigen empor: „Und wie ich wehmütig hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotte unter einer Weide geruht". Auch dieses ist von den Fluten zerstört. Am 14. Dezember schreibt Werther: „Und mit mir ist es aus! Meine Sinne verwirren sich,... mir wäre besser ich ginge". Für den 21. Dezember rückt der Dichter den ersten Absatz von Werthers Abschiedsbrief an Lotte ein, der mit einem Bild schließt, das jenes s c h i c k s a l h a f t e H e r b s t m o t i v zur V i s i o n des F r i e d h o f s und S o n n e n u n t e r g a n g s intensiviert. Werther weist scheinbar ruhig und gelassen, aber doch mit einer Gebärde schmerzlicher Resignation darauf hin: „Wenn du hinaufsteigst auf den Berg an einem schönen Sommerabende... dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt. — Ich war ruhig da ich anfing; und nun weine ich wie ein Kind". Am Abend dieses Tages liest Lotte aus Ossian vor. Die Stelle des Innehaltens (vergleichbar dem „hier aber lasen wir nicht weiter" des 5. Gesanges vom Inferno, wo Dante das Liebesschicksal Francesca da Riminis so beginnen läßt) ist gleichfalls ein H e r b s t b i l d mit wehem kontrastierendem Nachklang des Frühlings (vgl. oben die Szene des Schreibers): „Warum weckst du mich, Frühlingsluft?... Aber die Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen,... ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht finden — " . Hier ist das Vorbild jener Metapher „meine Blätter", die in der kurzen Anwendung dort 56

nüchtern wirkte. Aus diesem traurigen Naturbild, das alle Vergessenheit zu gestatten scheint, wo nichts mehr zu hoffen bleibt, löst sich die Schlußszene: „Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den Unglücklichen". Leidenschaftlich umarmt er die Geliebte. Dann spricht Lotte das Urteil — in ähnlichen Worten, aber leider soviel später als Charlotte in den Wahlverwandtschaften — „Das ist das letzte Mal. Werther! Sie sehn mich nicht wieder". Werther entflieht und irrt in einer Landschaft umher, die an die Sturmnacht und besonders an die Felsenszenerie des wahnsinnigen Schreibers erinnert. Allerdings wird davon nur vom Dichter berichtet. Werther kommt ohne Hut und durchnäßt nach Hause: „Man hat nachher den Hut auf einem F e l s e n , der an dem Abhänge des Hügels ins Tal sieht, gefunden, und es ist unbegreiflich, wie er ihn in einer finstern, feuchten N a c h t , ohne zu stürzen, erstiegen hat". Am Morgen schreibt Werther am Brief an Lotte weiter: „Zum letzten Male denn, zum letzten Male schlage ich die Augen auf. Sie sollen, ach! die Sonne nicht mehr sehen; ein trüber, neblichter Tag hält sie bedeckt. So t r a u r e d e n n , N a t u r ! dein Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht sich seinem Ende". Wie man die Fenster der Totenkammer verhüllt, entweicht das Licht. In vielen Landschaftsbildern trug seine Erscheinung den Sinn von Leben und tröstlicher Hoffnung, auch noch im milden, langsamen Verscheiden. Hier zum erstenmal entwickelt sich die Symbolik wie sie später in den Wahlverwandtschaften gilt; Ottilie sagt, am Ort eiaer „ungeheuren Tat" leuchte „das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren". Werther hst sich Alberts Pistolen bringen lassen. Er geht aus, noch einmal treibt ihn polarisierende Unruhe durch die Natur: „Er kam nach Hiuse, ging wieder aus vors Tor, ungeachtet des Regens, in den gräflichen Garten (Motiv des ersten Briefes!), schweifte weiter in der Gegend umher und kam mit anbrechender Nacht zurück und schrieb: „Wilhelm, ich habe zum letzten Male Feld und Wald und den Himmel gesehen. Lebe wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir!" Nicht von ossianisch verwandelter, sondern von schlichter, m i t t e l d e u t s c h e r Landschaft nimmt er gefaßten Abschied. Er denkt an die Lieben und wünscht ihnen Gottes Trost und Segen. Eh wie tiefer Sinn des Schicksalhaften in der Natur aber enthüllt sich, wenn nun die L a n d s c h a f t n o c h ein l e t z t e s M a l s i c h w i n d e l t , nicht etwa aus dem objektivierten Zustand der Sonnenverfinsterung in einen subjektiven leidenschaftlicher Identität. Nein, der vom Ich unabhängige, ihm gebietende Ausdruck der 57

S c h i c k s a l s l a n d s c h a f t bleibt gewahrt, aber die eben noch zu verurteilen schien, winkt jetzt G e w ä h r u n g und Gnade:,»Nach Elfe . . Ich trete an das Fenster, meine Beste! und sehe noch durch die stürmenden, vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels!" Im ganzen Roman erscheinen sonst keine Sterne. Und nun spricht sie Werther feierlich an: „Nein ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und mich. Ich sehe die Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging, wie ich aus deinem Tore trat, stand er gegen mir über". Ganz schwach, vielleicht leitmotivisch, fällt noch ein Streifen Licht auf ein idyllisches Bild: „Auf dem Kirchhofe sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort wünsche ich zu ruhen". Das erinnert an die rührenden Friedhofswünsche Gretchens in der letzten Szene des Faust I. Mit Sternenlicht und diesem idyllischen Motiv, wie die gedankenvolle Musik einer Fuge noch zuletzt in helle Tonart des Dur gelenkt und versöhnt, fällt über die Landschaft der Vorhang, vor den der Tod tritt. Wahlverwandtschaften. Die Handlung des Werther erstreckte sich über annähernd zwei Jahre von Mai bis Weihnachten, die der Wahlverwandtschaften fast übereinstimmend vom April bis zum Herbst des zweiten Jahres. Außerdem sind beide Romane in zwei Hälften getrennt, deren erste je bis zum Spätsommer des ersten Jahres reicht. Schon daraus vermuten wir, daß das planmäßige Arbeiten nach einer durchwaltenden „Idee", das Goethe für diesen Roman zugab, sich nicht nur auf das Gleichnis der chemischen „Wahlverwandschaften" erstreckt. Nur dieses Prosawerk können wir an Reichtum und innerlich bedeutungsvoller Gestaltung der Landschaft mit dem Werther vergleichen. Der ungemeine Abstand, den trotzdem die Entwicklung des Dichters, der die Schwelle des Greisenalters beschritten hat, bedingt, wird uns im Folgenden offenkundig; werden. Wenn wir vom Werk ausgehen, bildet den entscheidenden Unterschied, daß im Werther die intensivste Form der IcherZählung, der Roman in Briefen, gewählt ist, in den Wahlverwandtschaften dagegen weitaus das meiste vom Dichter in der E r f o r m geschildert wird. Dadurch wird es möglich, daß dem objektiven Bild der Natur, der B e s c h r e i b u n g s l a n d s c h a f t , die im Werther so gut wie gar nicht zur Geltung kam, nun vom Dichter als 58

Hilfsmittel der indirekten Personencharakteristik ein breiter Raum zugewiesen wird, andererseits die Form der subjektivierten Natur, die Ichlandschaft oft und leicht den Übergang in eine neue Objektivierung, in die S c h i c k s a l s l a n d s c h a f t findet. Im Werther herrschte das problematische Naturgefühl, in das sich nur am Schluß Züge harmonischer Natureinsicht mischten. In den Wahlverwandtschaften stehen zwar auch die gefühlsmäßigen Szenen im Mittelpunkt, aber an Umfang überwiegen sie Szenen problemloser Naturansicht und -nutzung und an symbolischer Bedeutungsschwere vielleicht die Landschaftsbilder, in denen sich harmonische Natureinsicht ankündigt. Erst im e l f t e n K a p i t e l erhält die Landschaft subjektiven Ausdruck. Bis dahin hat die Beschreibung der landschaftlichen Umgebung des Schlosses nur die Aufgabe, den Schauplatz zu entwickeln und die in ihm auftretenden Personen indirekt zu charakterisieren. Denn indem wir sehen, auf welche Weise die noch ganz problemlos gezeichneten Charaktere die Natur ansehen, sie genießen oder sich mit ihr ökonomisch und ästhetisch beschäftigen, erfahren wir manches über die tieferen Anlagen des Geistes und Gemütes, deren Erwachen die spätere Subjektivierung der Landschaft bedingt. D i e s e B e s c h r e i b u n g s l a n d s c h a f t stellt eine d i c h t e r i s c h e E x e m p l i f i z i e r u n g von Ideen dar, die Goethe im Schema für einen geplanten Aufsatz Über den Dilettantismus 1799 niedergelegt hat. Er prüft die Gartenkunst auf den „ N u t z e n f ü r s S u b j e k t : Ideales im Realen. Streben nach Form in formlosen Massen. Wahl. Schöne Zusammenstellung. Ein Bild aus der Wirklichkeit zu machen, kurz, erster Schritt in die Kunst. N u t z e n f ü r s G a n z e : Eine reinliche und vollends schöne Umgebung wirkt immer wohltätig auf die Gesellschaft S c h a d e n f ü r s S u b j e k t : Reales wird als ein Phantasiewerk behandelt. . . . Die Gartenliebhaberey . . . verkleinert das erhabne der Natur, und hebt es auf, indem sie es nachahmt. Sie verewigt die herrschende Unart der Zeit, im ästhetischen unbedingt und gesetzlos seyn zu wollen... S c h a d e n f ü r s G a n z e . . . zerstören den Begriff solider Baukunst." (I 37. 310). Zu diesem kulturgeschichtlichen Aufriß verhält sich die Beschreibungslandschaft des Romans wie ein Programm und Vorschlag zur Besserung. Dem gesetzlosen Dilettieren des Einzelnen wird gesteuert, was gebaut wird, ist auf wirkliche Nutzbarkeit und Dauer berechnet. Besonders aber ist erstrebt, was Goethe in jenem Schema gleichfalls anführt: „Englischer Geschmack hat die Basis des Nützlichen, welches der französische aufopfern muß. Nach59

geäffter englischer Geschmack hat den Schein des Nützlichen. Chinesischer Geschmack." (I 47. 3 1 1 ) . Von diesem chinesischen Geschmack, der den englischen durch Übertreibung (Befreiung der Natur: Natur um jeden Preis und überall) verdorben und um 1800 ins völlige Gegenteil verkehrt hatte, finden wir in den Wahlverwandtschaften nichts. Im vierten Akt des Melodramas Triumph der Empfindsamkeit sind seine Hauptrequisiten aufgezählt: „Was ich sagen wollte! Zum vollkommnen Park / Wird uns wenig mehr abgehn. / Wir haben Tiefen und Höhn, / Eine Musterkarte von allem Gesträuche, / Krumme Gänge, Wasserfälle, Teiche, / Pagoden, Höhlen, Wieschen, Felsen und Klüfte, / Eine Menge Reseda und andres Gedüfte, / Weimutsfichten, babylonische Weiden, Ruinen, / Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, / Moscheen und Türme mit Kabinetten, / Von Moos sehr unbequeme Betten, / Obelisken, Labyrinthe, Triumphbogen, Arkaden, / Fischerhütten, Pavillons zum Baden, / Chinesisch-gotische Grotten, Kiosken, Tings,/Maurische Tempel und Monumente, / Gräber, ob wir gleich niemand begraben, / Man muß es alles zum Ganzen haben," (I 17. 37 f). Man ist versucht die ganze unsterbliche Satire herzusetzen, mit der Goethe durch den Mund des Askelaphus, des „Hofgärtners in der Hölle", der allgemeinen Geschmacksverirrung seiner Zeit begegnete. Die fruchtbaren Motive aber hat er gereinigt und gehoben. Die Mooshütte in den Wahlverwandtschaften ist ein Ruhe- und Aussichtspunkt, die Kapelle ein Begräbnisort, das Lustgebäude eine Sommerwohnung, die Holzbrücke ein wirkliches Verkehrsmittel. Von einer Identität oder einem Parallelismus des Naturgeschehens kann jedoch vor dem elften Kapitel nicht die Rede sein. Es geschieht nichts in der Landschaft, sondern sie bildet nur das neutrale Substrat der menschlichen Tätigkeiten und höchstens das unerregte Spiegelbild der ersten Schürzungen des dramatischen Knotens. Diese Ansätze suche ich hervorzuheben. Mit A p r i l setzt der Roman ein. Eduard schafft im Baumgarten Dann besucht er Charlotte in der Mooshütte, ihrer Erfindung. Hier wird die Frage der Berufung des Hauptmanns erörtert. Im zweiten Kapitel erscheint Mittler, der alles in die Wege leitet. Im dritten ist der Hauptmann bereits angekommen. Die Mooshütte — leitmotivisch — ist geschmückt. Sie feiern dort ein dreifaches Fest, des Hauptmanns Ankunft, seinen und Eduards Namenstag. Der Gast mißbilligt Charlottes Arbeit am Park als nicht genug planmäßig. Eduard verrät ihr diesen Tadel, den sie auffallend ungekränkt hinnimmt. Im vierten Kapitel wird das naturwissenschaft60

liehe — nicht landschaftliche — Hauptsymbol der chemischen „Wahlverwandtschaften" und „Scheidungen" breit erörtert und so insgeheim, fern von der Natur, die innere Handlung entrollt. Im sechsten Kapitel trifft Ottilie ein und entsteht der Plan, auf der Höhe gegenüber dem Schloß ein „Lustgebäude" aufzuführen. Im siebten zeigt sich, daß Ottilie im „Baum- und Blumengarten", also in Eduards Sonderbereich Bescheid weiß. Der Hauptmann vergißt schon seine „eh. onometrische Sekundenuhr" aufzuziehen, „sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden". Mit der Zeit ist ein Faktor des realen Lebens erschüttert. Aber erst nach dem Schwinden auch der zufällig gegebenen Umgebung, des R a u m e s , kann sich die Natur souverän verwandeln, subjektivieren. Spaziergänge werden unternommen. Eduard und Ottilie bahnen die Wege. Charlotte und der Hauptmann folgen „in bedeutender Unterhaltung". Beim Ausflug zur Mühle gerät Landschaftliches in ganz leise Vibration: „sie fanden sich im dichten Gebüsch zwischen moosigem Gestein verirrt, doch nicht lange". Die Idylle des Imbisses „unter den hohen Bäumen am ländlichen Tische" bleibt gesichert, obgleich sich gerade auch darin ein Vordringen des Empfindungsmäßigen verrät. Auf dem Heimweg genießt man den landschaftlichen Prospekt, die Aussicht". „Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren". Man plant eine Parkbrücke aus den Geldern eines Vorwerkverkaufs, erfindet „Ruhe- und Aussichtsplätze". Eduard freut sich, daß Ottiliens Lageplan für das Lustgebäude angenommen wird. Er bemerkt (achtes Kapitel), daß Ottilie „eigentlich nur aus Gefälligkeit in die Gegend mitging". Deshalb sieht er darauf, daß man von den Spaziergängen vor Sonnenuntergang zurück ist. Sie lesen vor. Wie im Werther teilt auch die Musik mit der Landschaft den symbolischen Ausdruck der inneren Handlung. Im neunten Kapitel ist zu Ottiliens Geburtstag „alles fertig geworden" und der Grundstein des neuen Gebäudes wird gelegt. Im zehnten Kapitel weiß der Graf, der zu Besuch weilt, eine Stellung für den Hauptmann. Bei dieser drohenden Entfernung entdeckt sich plötzlich die Liebe in Charlottens Herzen. Sie eilt zur Mooshütte (das Motiv zum vierten Mal) „und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung". Das ist der erste Ausbruch des Gefühls im Roman. Damit ist die Trägheit der zuletzt nur mehr scheinbar problemlosen Naturansicht aufgehoben. Es ist bezeichnend, daß sich diese Szene noch im naturfremden, immerhin konventionellen „Raum" einer Ere61

mitage abspielt. In zehn Kapiteln erscheint dieses modische Motiv in starker Unterstreichung viermal, in den übrigen sechsundzwanzig nur noch einmal! Nun durchbricht Ausdruckslandschaft den starren Ring objektiver Beschreibungslandschaft und drängt sie immer mehr zurück. Im nächsten Kapitel ist die Natur entwirklicht, geheimnisvolle Trägerin eines Symbols. Die Nacht vereinigt die Gatten zu einem zwiefachen Ehebruch in Gedanken: „Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten". Zugleich wird hier der ganze Abstand vom Werther deutlich. D o r t b l i e b die v e r w a n d e l t e , A u s d r u c k g e w o r d e n e N a t u r dem Z a u b e r e r , dem I c h treu. Die Natur begleitet den ersten Morgen der Liebe mit fröhlichem Sonnenaufgang und ferneres Glück und Leid mit sympathetischer Gebärde. Hier in den W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n w ä c h s t die N a t u r schon im A u g e n b l i c k der V e r w a n d l u n g d u r c h das l e i d e n s c h a f t l i c h e S u b j e k t ü b e r d i e s e s h i n a u s , b l e i b t z w a r A u s d r u c k , aber o b j e k t i v i e r t sich im höheren S i n n , w i r d A u s d r u c k des G e s e t z m ä ß i g e n , des Schicksals und erweckt im irrenden Ich das Gefühl von Schuld. Im zwölften Kapitel wird die Verwandlungskraft des leidenschaftlichen Menschen wie im Werther förmlich ausgesprochen. Ottilie schreibt mit Eduards Handschrift. Er kann sich dieses Wunder nur durch ihre Liebe erklären. „Von diesem Augenblicke an war die Welt für Eduarden umgewendet: er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr was sie gewesen". Wir verkennen nicht, daß hier die epische Darstellungsform von ihrer schwachen Seite erscheint. Sobald die Welt nicht dargestellt, sondern nur ihre Subjektivierung gewissermaßen als psychologisches Phänomen festgestellt wird, sind wir ernüchtert wie von der Ansprache an den Leser im Werther. Die reinste Wirkung dagegen übt die darauffolgende Szene am Teich, wo der Dichter nicht zwischen Landschaft und Ich tritt. Auch dieses eindringliche Bild trägt unverkennbar schon die Züge der wieder sich objektivierenden Natur. Denn als der entscheidende Augenblick des Liebesgeständnisses naht, fühlt Charlotte schon „eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit". Das Bild selbst ist mehr auf Leid als auf Lust, mehr auf Verzicht als auf glühendes Erfassen abgestimmt. Eine andere Entwicklung nimmt das Naturbild um Eduard, der jene erste ernste Mahnung überhört und sich vom vollen Strom der Leidenschaft fortreißen läßt. Die Nachtwache unter Ottiliens Fenster ist — innerhalb der zwingenden Bedingungen des sprach-

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liehen Stilwandels — wirklich eine Wertherszene. Die seelische Polarisation hat eingesetzt: „ E r wandelt durch die Gärten, sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit". „ I m Bild des Morgens ist Triumph und Hoffnung: „bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg". Kein Zug von Schicksalslandschaft schattet herein. Der Gärtner in Eduard, damit der Bezirk der Beschreibungslandschaft, gerät in Verwirrung: „Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr; es soll schon alles fertig sein, und für wen?" Den Hauptmann kränkt dies „leidenschaftliche Treiben". Weder ihn noch Charlotte finden wir noch einmal im Kreis der Ichlandschaft, dafür helfend und im Park vielfach tätig. Im vierzehnten Kapitel tritt der Architekt auf, ein Mann von praktischem Geist wie der Hauptmann und dessen „ehemaliger Zögling". Für Eduard aber gewinnt selbst die objektive Zierlandschaft persönliche Bedeutung. Es stellt sich heraus, daß die Anpflanzung der Platanen am Teich durch seinen Vater auf Jahr und Tag mit Ottiliens Geburt zusammen trifft. Der feierlichen Aufrichtung des Hauses folgt das leidenschaftliche Bild des nächtlichen Feuerwerks, das Eduard schließlich für O t t i l i e ganz allein abbrennt. Sie ist bei ihm, aber wir sehen sie nicht, sie t r i t t nicht in den g e f ä h r l i c h e n R i n g der I c h l a n d s c h a f t . Diesen feinen Zug konnten wir schon oben beobachten bei der Nachtwache, wo Eduard in Ottiliens Nähe und doch allein mit seinem Ungestüm ist. Ottilie ist die Einzige, die im Grunde der Seele ohne Schuld ist. Und unsichtbare Lenkung erwählt diese Heilige zum Sühnopfer für alle, bürdet auf die Unschuldige die unfreiwillige, tragische Schuld, den Tod des aus fremder Verirrung geborenen Kindes. Mit dem Weggang des Hauptmann? crlischt Charlottens Interesse am Parkwesen plötzlich: „Was an Parkanlagen im Gange war, störte sie nicht" (siebzehntes Kapitel). Charlotte selbst fällte an jenem Abend am Teich den Spruch: „Sie müssen scheiden". Aber der Erkenntnis folgt nicht gleich das Gefühl. Die Schicksalslandschaft bleibt eine hohe Forderung. Der Dichter will uns Menschen zeigen, nicht Tugendschemen. Daß Park und Garten nicht verwahrlosen, ist nun die Sorge des Architekten. Auch Eduard entschließt sich zu einer Trennung. Nachdem so die Gefühlsstimmen der Starken eine vorläufige Beruhigung erfahren haben, tritt auf einmal, zum erstenmal, das B i l d der schwächeren Frau, O t t i l i e n s , in die stille v e r l a s s e n e L a n d s c h a f t — nicht eines müden Herbstes — sondern eines unentwegt hoffenden V o r s o m m e r s , des ersten in diesem Roman: „Diese nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute 63

sich über das schöne Gedeihen". Sie plaudert mit dem Gärtner, der dem Baron Eduard nachfragt. „Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen. Was sie zusammen zum Teil gesät, alles gepflanzt hatten, stand nun in völligem Flor"; alles erinnert sie an die geliebte Gestalt, an Eduards Geburtstag, „dessen Feier sie sich manchmal versprach". Es ist wunschvolle, betrügliche Ichlandschaft, ohne Zweifel, aber in einer eigentümlich feinen, frauenhaften Abtönung, die sie weit von der Werthers oder Eduards trennt. Ihr Glück ist nicht vermessen, die Hoffnung ist „nicht immer gleich lebendig". Der Dichter hält es für nötig, ihren Weiterschritt zum Naturgefühl hervorzuheben: „Wie oft eilte das gute Mädchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle ihre Glückseligkeit gefunden hatte, ins Freie hinaus, in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach!" Indessen fühlt sich Charlotte Mutter werden. Eduard zieht in den Krieg. Darüber wird es langsam Herbst. Das erste Kapitel des zweiten T e i l e s zeigt den Architekten betriebsam um Friedhof und Kapelle. Im zweiten zeigt er seine Sammlung von Bildern mittelalterlicher Kunst mit Engeln und Heiligen. „Nach einer solchen Region blickten wohl die meisten wie nach einem verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin. Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu fühlen". Etwas Paradiesisches, Versöhntes und Versöhnliches hat auch alle irdische Landschaft um Ottilie. Nun beginnen die Mitteilungen aus ihrem T a g e b u c h e . Werther gab gerade diese regelmäßige Betätigung mit fortschreitendem Schicksal auf. Im dritten Kapitel malen der Architekt und Ottilie um die Wette in der Kapelle. Sie verbirgt sich aber nicht, daß morgen Eduards Geburtstag ist, den sie im ungewissen Krieg weiß. Ein s c h i c k s a l h a f t e r Z u g kommt in die Landschaft: „Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflückt. Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel; diese Astern sahen noch immer stillbescheiden vor sich hin". Andere Blumen sind zu Kränzen gewunden für die Kapelle, einen Ort, der, „wenn er zu irgendetwas genutzt werden sollte, nur zu einer gemeinsamen Grabstätte geeignet schien". Das Kapitel schließt mit dem eindrucksvollen H e r b s t l i e d : „Das Jahr klingt a b . . . " aus ihrem Tagebuch. Mit wie anderer Kraft als Werther überwindet diese Frau die herbstliche Schwermut! Ihr weckt ferner Taktschlag des Dreschers den Gedanken, „daß in der abgesichelten Ähre so viel Nährendes und Lebendiges verborgen 64

liege". Ihre Seele schreitet zwar auch in den Winter hinein, aber nicht getrieben und passiv. Der W i n t e r (viertes bis achtes Kapitel) ist mit dem Treiben der lebenslustigen Luciane, mit lebenden Bildern und den Gesprächen des pädagogischen Gehilfen ausgefüllt. Die Taufe von Charlottes Kind (achtes Kapitel) vollzieht sich unter verhängnisvollen Zeichen, an denen aber die Landschaft keinen Anteil hat. Die Objektivierung des Naturbildes um Ottilie schreitet stetig fort mit leisem Wechsel von Verzögerung und Beschleunigung. Ichlandschaft klingt retardierend auf im Eingang des neunten Kapitels : „Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als gewöhnlich". Als Erinnerungsträgerin rückt die Landschaft alsbald vom Subjekt ab und wurzelt sich doch zugleich noch tiefer in der Seele fest: „Gerade vor einem Jahr trat sie als Fremdling . . . hier ein . . . Sie war nie so reich und nie so arm gewesen". Sie trägt das schlafende Kind Charlottens „zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst seiner Kindheit so freundlich entgegen lachen sollten". In dieser Stilisierung des Naturbildes (in den insgeheim negativen Ausdrücken: dereinst, sollten) kündigt sich das Geschick des Kindes an. Für Ottilie selbst aber objektiviert sich der Ausdruck der Natur unmittelbar darauf völlig zur klaren, ehernen Forderung: „Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse". Im Schluß des Kapitels ist die Landschaft des Begräbnisses in heiterer Modulation vorweggenommen, nur noch den flüchtigen Leser irreführend. Sogar das zentrale Motiv, der „Sternhimmel" der Astern, klingt schon wörtlich an. Alle Landschaft um Ottilie wird nun mehr und mehr E r i n n e r u n g , Ahnung, Vorbedeutung, O f f e n b a r u n g . In dem Absatz aus ihrem Tagebuch, der diesem Kapitel angeschlossen ist, müssen wir den Ausdruck des Naturbildes nicht mehr symbolisch, sondern in tieferem und ganz in Goethes Sinn mystisch nennen (Symbolisch: Rot-Majestät; „das wahre Verhältnis [drückt] sogleich die Bedeutung aus". Allegorisch: Grün — Hoffnung; „mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen etwas Conventionelles", Mystisch: Rot, Gelb, Blau, Triangel der Farben; „Urverhältnisse..., die sowohl der menschlichen Anschauung als der Natur angehören" (Farbenlehre I I i. 357 f): „ S o wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn. Wir sind nun wieder, Gott sei Dank! an seinem artigsten Kapitel. Veilchen und Maiblumen sind wie Überschriften und Vignetten dazu. Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des 5

Beiti.

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Lebens wieder aufschlagen". Sie setzt ihre Spaziergänge fort und besucht die „Pflanzenzöglinge" des Gärtners. Mit Charlotte und dem Kinde besucht sie, zum letztenmal, die M o o s h ü t t e . Charlotte denkt an eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilie und wagt noch zu hoffen. Dann erscheint als starke Retardation der Handlung der Engländer mit seinem Begleiter. Die neuen Gespräche über'den Park stören Ottiliens Seelenfrieden: „es schien ihr, als wenn alles, was bisher für Haus und Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es nicht genösse". Denn Eduard ist noch im Krieg. Ottilie entschließt sich, die Gatten neu zu vereinigen. Im elften Kapitel färbt sich ihr seltsam inniges, aber nicht ungestümes Verhältnis zu den Naturdingen noch um einen Ton tiefer. Sie ist ein Medium. Beim Überschreiten eines Steinkohlenlagers empfindet sie Schauer und bekommt Kopfweh. Über Metallen bringt sie Pendelschwingungen hervor. Unterdessen ist Eduard heil aus dem Kriege zurückgekehrt und sucht nun, entgegen der Vereinbarung, in Ottiliens Nähe zu dringen. In der Begegnungsszene des dreizehnten Kapitels macht der Dichter zum erstenmal den Versuch, nicht nur den Kern einer H a n d l u n g , sondern jedes einzelne Glied ihres Ablaufs mit einem wechselnden s y m b o l i s c h e n A u s d r u c k des Landschaftsbildes zu begleiten. Eduard sieht die roten Ziegel des neuen Gebäudes „zum erstenmal blinken". Er pirscht sich an den Park heran und sieht den Spiegel der inzwischen vereinigten drei Teiche „zum erstenmal vollkommen und rein". Dann sehen wir Ottilie mit dem Kind, vom „röthlichen Streiflicht der sinkenden Sonne umrahmt und verklärt". Eduard tritt aus dem Gebüsch vor sie hin. Er erblickt das Kind, das mit der Körperbildung des Hauptmanns, mit den Augen Ottiliens, stummer Ankläger eines „doppelten Ehebruches" ist. Ottilie bemerkt, daß über der leidenschaftlichen Aussprache „die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte". Sie bittet Eduard zu gehen. Sie umarmen sich; „Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter" weg. Mit diesem Motiv objektivierter Landschaft bezeichnet der Dichter ihre Liebe als „Wahn". Den Abschied umhüllt schon Grauen der Dämmerung: „sie wechselten zum erstenmale entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich." „Die Sonne war untergegangen und es dämmerte schon und duftete feucht vom See". Während der überhasteten Ruderfahrt, wobei das Kind aus dem Kahn fällt und ertrinkt, herrscht völlige Nacht. Erst auf Ottiliens inbrünstiges Gebet lichtet sie sich barm66

herzig mit hoffnungspendenden „Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen". Die innere Kurve der Handlung ist von sechs Bilderstufen unterstützt: Eduard Ottilie Begegnung Trennung blinkendes Licht Sonnengold Untergang Dämmerung, Duft Katastrophe Nacht

Landung Sternenlicht.

An diesem Leichnam entzweien sich die Geschlechter. Dem Hauptmann scheint ein solches Opfer „nötig zu ihrem allseitigen Glück". Eduard sieht darin das dritte günstige Omen für seine Leidenschaft. Aber Charlotte ist erschüttert und weist den Hauptmann zurück, obwohl sie in die Scheidung willigt. Unselig ist Ottilie: „Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe mein Gesetz gebrochen", spricht sie feierlich. Sie will in den See gehen, wenn Charlotte die Scheidung zuläßt. Charlotte ist für eine Veränderung des Ortes. Die Natur peinigt nun. Sie fühlt „wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen und Baumgruppen nur traurige Empfindungen" wecken (fünfzehntes Kapitel). Ottilie aber summiert ihr Geschick anders: „Ein seltsam unglücklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos wäre, ist auf eine fürchterliche Weise gezeichnet". Sie will sich durch Tat entsühnen, durch Rückkehr zum Pensionat und zu pädagogischer Arbeit. Sie reist ab und will Eduard nicht mehr sehen. Aber er tritt freventlich zwischen sie und ihr Ziel. Sie kehrt zurück. Eduard verlangt die Verbindung Charlottens mit dem Hauptmann; „eine Art von wahnsinnigem Unmut hatte ihn ergriffen". Er ist eine ankerlose, entwurzelte Gestalt wie Werther, zieht aber die Geliebte mit in den Abgrund. Charlotte schlägt für Eduard und den Hauptmann eine Reise vor. Ottilie stimmt nicht zu. Sie schreibt „den Freunden": „Ich bin aus meiner Bahn geschritten und ich soll nicht wieder hinein" (siebzehntes Kapitel). Und nun beginnt das seltsame Beieinanderweilen in mildem Schmerz und sterbender Hoffnung: „Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim Alten sei, war verzeihlich". Die Natur akkordiert mit aufgehellten, entwirklichten E r i n n e r u n g s und W a h n m o t i v e n . Es sind die „herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich", „Der Schmuck an Früchten und Blumen... ließ glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen: denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen 5*

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auch gesäet hatte; nun reiften die Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen". Auch die Kammermusik wird wieder aufgenommen. Mit dem Näherrücken von Eduards Geburtstag, den sie letztes Jahr ungefeiert lassen mußten, „vermehrte sich das Feierliche in Ottiliens Wesen"; „Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern", hielt „sich besonders bei den Astern" auf— die ihren Sarg schmücken sollten. Sie verschmäht die Speise. Die derbe Predigt Mittlers über den Dekalog, besonders über das Ehegesetz, erschüttert sie tief. An ihrem Sarge schließt sich im klaren Ausdruck gnädiger Schicksalslandschaft das lang vorbereitete Motiv: „man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten". Nicht nur Hoffnung der Sterne, zarte Gloriole der Morgensonne begleitet sie aus dem Tor der Welt: „Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloße getragen, und die aufgehende Sonne rötete nochmals das himmlische Gesicht" (achtzehntes Kapitel). Um Eduard erscheint keine Landschaft mehr. Der wahre Werther dieses Romans, die Tochter, die Freundin, die Geliebte der Natur ist die Frau. Mit dem Erdenbild Ottiliens wird auch das treu mitpulsende Herz der vernunftlosen Naturdinge zur Ruhe bestattet.

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LANDSCHAFT ALS SINNLICHE WAHRNEHMUNG, i. FARBE. Für die Farbenwahrnehmung als besondere Fähigkeit sind die durch geographische und klimatische Verhältnisse bedingten geringen Einschränkungen und Variationen viel häufiger als die gänzlichen Ausnahmen durch vollständige und partielle Farbenblindheit oder durch andere physisch-psychische Erkrankungen. Als natürlichem Bedürfnis dagegen schreibt ihr Goethe Allgemeingültigkeit zu: „Die Menschen empfinden im Allgemeinen eine große Freude an der Farbe. Das Auge bedarf ihrer, wie es des Lichtes bedarf. Man erinnre sich der Erquickung, wenn an einem trüben Tage die Sonne auf einen einzelnen Theil der Gegend scheint und die Farbe daselbst sichtbar macht" (II i. 308). In der Bestimmung der Farbenkompositionen und Kontraste ist der stärkeren des Mannes die subtilere Sinnlichkeit, der Geschmack „des schönen Geschlechtes" überlegen, „dessen Auge jedes Verhältniß der Farben so fein beurtheilt" (140. 195). Die Frauen und Künstler insbesondere ruft schon die Ankündigung der Farbenlehre vom 28. 8. 1791 zur Teilnahme auf. Zwar kein entwickeltes Beurteilungsvermögen, aberstarken und instinktiv hervortretenden Farbensinn hat das Kind und der primitive Mensch. Man denke hier beiläufig daran, wie Goethe den irrsinnigen Schreiber im sonst farbenarmen Werther in grüner Joppe „Blumen, gelbe und blaue und rothe" suchen läßt und das Kind Felix neben dem naturfremden Vater Wilhelm in den Lehrjahren jubelnd nach den sonst nie erwähnten Farben der Wolken greifend zeigt. Demgegenüber wird im psychologischen Teil der Farbenlehre festgestellt: „Gebildete Menschen haben einige Abneigung vor Farben" (II 1.334)» wobei die Frage offen bleibt, ob dem eine Schwächung und Verbildung des Organs oder Unsicherheit aus Furcht vor Geschmacklosigkeit zugrunde liege. Obwohl die Farbenarmut besonders der Männerkleidung daraus allein nicht zu erklären ist, wird doch im „trüben nordischen Himmel" eine doppelte Ursache dieser Erscheinung erblickt: insofern er die einmal vorhanden gedachten Farben „nach und nach vertrieben hat" und indem diese Farblosigkeit der Umgebung ihrerseits wieder das noch unverbildete 69

Organ allmählich auch für neu auftretende Farben unempfindlich gemacht hat. Bei der Betrachtung des Bunten wird dazu noch Näheres zu sagen sein. Jene Erklärung einer b e s c h r ä n k t e n F a r b e n e m p f i n d l i c h keit durch die Bedingungen der natürlichen Umgebung hat Goethe für sich mehr als einmal in Anspruch genommen: „ E s ist offenbar, daß sich das Auge nach den Gegenständen bildet, die es von Jugend auf erblickt" (Venedig 9. 10. 86). Hier führte ihn die kritische Betrachtung der Farbengebung in der venetianischen Malerei der Frührenaissance auf diesen Gedanken. Ein anderes Mal ist er der Zuversicht, eine Schulung durch italienische Landschaft könnte auch auf nordischen Gegenständen mehr Farben entdecken lehren. Eckermann überliefert einen Ausspruch gleichen Sinns. Aber außer dieser ganz allgemeinen Einordnung erscheint unter den Beweisen, die Goethe im höchsten Alter für den Mangel eines ursprünglichen Talents für die bildende Kunst anführte, auch die Farbenwahrnehmung überhaupt: „das wirkliche Talent.. besitzt einen angeborenen Sinn für die Gestalt, die Verhältnisse und die Farbe" (Eck. 10.4.29). Nicht viel positiver urteilt aber bereits eine rückschauende Notiz aus Rom: „allerlei Speculationen über Farben gemacht, welche mir sehr anliegen, weil das der Theil ist, von dem ich bisher am wenigsten begriff. Ich sehe daß ich mit einiger Übung und anhaltendem Nachdenken auch diesen schönen Genuß der Weltoberfläche mir werde zueignen können" (1. 3. 88). Dieser Satz ist keineswegs, wie es zunächst scheinen mag, nur auf die Eröffnung der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete zu deuten, sondern bezieht sich ganz allgemein auch auf die ästhetische Wahrnehmung des Farbigen. In einer Epoche, da Dichter und Forscher schon so eng im Innern verbunden waren, daß aller Weltgenuß im Welterkennen beschlossen und nur durch dieses möglich war — Goethe bekennt z. B. vor den Bildwerken der Alten in Rom: „Der Eindruck des Erhabenen, des Schönen, so wohlthätig er auch seyn mag, beunruhigt uns, wir wünschen unsre Gefühle, unsre Anschauung in Worte zu fassen: dazu müßten wir aber erst erkennen" (Bericht 4. 88) — ist für ihn auch Farbenwahrnehmen und—genießen gleichbedeutend mit Farbenbegreifen. Dieses eigene Urteil des Dichters wollen wir im Folgenden an objektiven Tatsachen nachzuprüfen versuchen. Wir werden es nur dann anzuzweifeln wagen, wenn wir es mit gleich starken Beweisen widerlegen können. Wichtig ist dabei, daß wir das Wahrnehmungsvermögen des Farbigen in der Bedeutung einer ästhetischen Begabung, eines „angeborenen Sinns" — so wie wir diesen auch in

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anderen spezifischen Talenten als Vorbedingung der keines Lehrmeisters bedürfenden „poetischen Antezipation" gedacht fanden — festhalten und vom technisch Lernbaren, wissenschaftlich Entwicklungsfähigen genau unterscheiden. Dann wird sich tatsächlich zeigen, daß Goethe eine starke originale und bei gemischten Sinnesempfindungen spontan in Mitwirkung tretende oder gar vorherrschende Gabe der ästhetischen Farbenwahrnehmung nicht besessen hat. Dieser Ankündigung widerspricht das aus der Goetheliteratur einigermaßen traditionell gewordene Urteil, der Farbensinn des Dichters habe eine, wenn auch verspätete, fast plötzliche Auswicklung oder Auferweckung erfahren und zwar in Italien. Das bedarf einer Erläuterung und Berichtigung nach zwei Seiten hin, wenn unsere eigenen Beobachtungen an der Prosalandschaft weiter unten auf einem festen Grund stehen sollen. Erstens fällt der Zeitpunkt dieses Ereignisses wesentlich früher. Für den Werther ist zwar noch, wenn irgend etwas, das Fehlen einer konkreten, realistischen Betätigung der Sinne und insbesondere des Farbensinnes kennzeichnend. Die Dinge werden durch das Gefühl erfaßt in der unbestimmten, aber um so intensiveren Zeitform der „Empfindung". Es ist eine Kraft mehr des Herzens als der Sinne. Dieselbe Gestalt zeigen die Briefe und noch die chaotischen Tagebuchnotizen von der Reise in die S c h w e i z 1 7 7 5 . Ein völlig verwandeltes Bild bieten die Aufzeichnungen der vier Jahre später unternommenen Alpenreise. Die Dinge werden nach den charakteristischen Merkmalen exakt beschrieben. Besonders Farben werden oft mehrere zugleich an einem Objekt gesehen und selbst die Zwischentönungen und Übergänge genau erfaßt. Die lebhafte Schilderung farbiger Motive (Sonnenuntergang, Nebel, Wasserfall, Eisklippen, Felsen, einzelnes Gestein) unterscheidet sich der Intensität und Reichhaltigkeit nach wenig mehr von der Landschaft der italienischen Reisebeschreibung. Der entscheidende Einschnitt fällt also früher und zwar zwischen 1775 und 1779. Wir denken schon hier unwillkürlich an den Beginn der Weimarer Epoche. — Zweitens — und dies ist für das Verständnis der ganzen späteren Entwicklung bedeutsam — fallt dieses ziemlich unvermittelte Auftreten einer gesteigerten Farbenwahrnehmung überhaupt nicht in das Gebiet des Ästhetischen, sondern der nun einsetzenden w i s s e n s c h a f t l i c h e n Landschaftsbetrachtung. Das konnte nur deshalb übersehen bleiben, weil die literarisch-ästhetische Forschung lange Zeit von der wissenschaftlichen Leistung Goethes absah. In der R e i s e von 1 7 7 9 ist es nicht in erster Linie der Mensch, Dichter oder bildende Künstler in Goethe, der 7i

das Farbige genießt, erleidet und schaut, sondern der junge Naturforscher beobachtet exakt ein Phänomen (1779 zuerst wird ein Landschaftsmotiv als „Phänomen" bezeichnet)und registriert es; es wird — die Kürze mag diesen Ausdruck empfehlen — phänomenal gesehen, nicht eigentlich dichterisch oder malerisch; die Betätigung des Farbensinnes entspringt nicht einem natürlichen Bedürfnis und ist nicht spontan, sondern jedesmal eingeleitet durch eine bewußte Konzentration auf eine neue Erfahrung. Nicht Goethes Augensinnlichkeit erwacht in wärmerem Klima, unter hellerem Licht — welche Annahme ja auch nur mit Italien, nicht aber eigentlich mit dem Schweizer Hochgebirge zusammenpaßt — sondern die Entwicklung des wissenschaftlichen Triebes nach 1775 schließt mit der Schwere, Oberfläche und Gestalt der Naturgegenstände ihre Farbe seiner exakten Beobachtung und erst in deren Gefolge auch dem ästhetischen Sinn in weiterem Umfang auf. Auf diese Trennung des wissenschaftlichen vom ästhetischen Farbensehen führen noch unmittelbarer Goethes eigene Feststellungen in den Paralipomena zu einer Skizze seines naturwissenschaftlichen Entwicklungsganges. Er spricht sich für die frühe Zeit vor Weimar die Gabe des konkreten Sehens ab und betont die dichterische Empfindung: „Sehr bald gegen die sichtbare Natur gewendet. Kein eigentlich scharfes Gesicht. Daher die Gabe die Gegenstände anmuthig zu sehen" (II 1 1 . 300). Und nun ist sehr bezeichnend, wie für das Gewahrwerden der ersten großen Farbenerscheinungen nicht etwa eine Steigerung des Dichtergefühls oder der malerisch-zeichnerischen Anschauung, sondern gerade im Gegenteil ein Zurücktreten des künstlerischen Subjektivismus als Ursache erklärt wird, dem zugleich ein Vordringen der spezifisch wissenschaftlichen Einstellung entspricht, der „wachsenden Objectivität. Aufmerksamkeit auf Sonnenuntergang. Die farbig-abklingende Helle. Farbige Schatten. Andere Naturphänomene. Regenbogen" (ebenda). Goethe ist hier auffallend bestrebt, schon den ersten Farbeneindrücken den Stempel des Wissenschaftlichen aufzuprägen und wird sogar unhistorisch wie in der Beschreibung wohl desselben besonders merkwürdig und reich ausgestatteten Regenbogens in Dichtung und Wahrheit (I 28. 30 f), wo in der detaillierten, klar anschaubaren Schilderung entschieden Auge und Hand des Verfassers der Farbenlehre merkbar werden. Aber daß der kritisch rückblickende Forscher sogar noch über den tatsächlichen Bestand hinaus und im Widerspruch mit jener mehr gefühlsmäßigen Notiz aus Rom schon die Anfänge des Farbensehens in den Bereich wissenschaftlicher Forschung rückte, muß doch seinen Grund darin haben, daß die Farbenwahrnehmung für 72

ihn wirklich in jener Zeit der Objektivierung und der „Aufmerksamkeit" ihren Ursprung hatte. Für den durch solche vorbereitenden „Bemühungen" Gerüsteten brachte dann Weimar das „eigentliche Beginnen". Die Notwendigkeit der Unterscheidung des ästhetischen vom wissenschaftlichen Farbensehen bestätigt die ganze folgende Entwicklung, nicht am wenigsten die i t a l i e n i s c h e Reise. Aber schon vorher muß, wer diese Unterscheidung ausschlägt, ratlos werden angesichts der Tatsache, daß in den Briefen an Frau von Stein z. B. nach den Reiseberichten von 1779 die Wahrnehmung des Farbigen in der Landschaft auf das Minimum von vielleicht einem Dutzend Beispielen zusammenschrumpft. 1779 waren es Beobachtungsberichte eines angehenden Naturforschers, nachher sind es wieder zwar gestaltlich lose, aber doch in hohem Maß dichterische Empfindungsberichte. Natürlich erfuhr die farbige Weltansicht des Dichters und Zeichners in Goethe, deren Vorhandensein hier ja nur in der Geltung eines „angeborenen Sinns" bestritten wird, mit der Überschreitung des Alpenwalls eine unerwartete Steigerung. Aber die Anstöße zu den intensivsten und umfangreichsten Farbenempfindungen gehen auch in Italien von einer innerlich objektivierten, wissenschaftlichen, beobachtenden Einstellung aus. Wo diese ganz fehlt und hinter reinem Schauen und Genießen zurücktritt, sinkt die Farbenwahrnehmung. Wie ließe es sich sonst erklären, daß beim ersten Aufenthalt in Venedig einmal an der L a g u n e n l a n d s c h a f t fast nur Farben, und zwar sorgfältig in komponierten Adjektiven differenzierte Farben gesehen werden, eine halbseitenlang beschriebene Aussicht vom C a m p a n i l e aber davon leer bleibt? Oder daß z. B. in Südtirol, in der Gegend um Trient, in der Zahl der aufgezeichneten, doch entschieden farbenreichen Objekte wie Rebhügel, Berge, Sonnenschein, Frau mit Birnen und Pfirsichen, Lauben, Wiesen, Korn nur „blaue Trauben" als einziges Farbige erscheinen. Hier wie auf dem Campanile ist die Einstellung des Reisenden eine sorglos rezeptive, in dem Lagunenbild dagegen wird bewußt beobachtet und gesucht; es gilt das Experiment, die in den städtischen Sammlungen gewahrten Farbenzusammenstellungen der einheimischen Schulen in der wirklichen Natur wiederzufinden. Und in Sizilien, wo die Erregung des Farbensinns eine weder früher noch später je wieder erreichte Höhe erlangt, können schon die zum Teil doch nicht gewöhnlichen, fachmännischen Benennungen der Farbenträger: Linsenbusch, Schmetterlingsblumen, Aloen, Insectenophrys, Alpenröslein, Hyazinthen, Boraß, Alien, Asphodelen beweisen, daß es hier recht eigentlich der Botaniker ist, der in eine 73

Ekstase der Sinnlichkeit gerät, die dann freilich, da es sich um Blumen handelt, auf das ästhetische Empfindungsvermögen übergreift. In Italien lag die S y s t e m a t i k der F a r b e n noch fern. Allmählich aber verselbstständigt sich das wissenschaftliche Interesse, und die F a r b e n l e h r e wird die Verkörperung der vollendeten Trennung des Wissenschaftlichen vom Ästhetischen, des Nützlich-Wahren vom Schönen. Es ist wenigen entgangen, daß die dichterische Produktion um diese Zeit, die Prosa der Lehrjahre, der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der Wahlverwandtschaften, keine Vermehrung der Farbenwahrnehmung im Landschaftsbild aufweist. Aber zeugt es nicht abermals von einer Verkennung des Naturforschers in Goethe, wenn manche ( z . B. Franck 1 ), der die Farbe in Goethes Dichtung monographisch untersuchte) bei der Verwunderung stehen bleiben, daß jene in die Farbenlehre ausmündende intensive Tätigkeit der Dichtung so gar nicht zugute gekommen sei? Die Antwort liegt in der Frage selbst. Eben weil die Farbe seit der italienischen Reise genauer Gegenstand der Forschung wurde, schied sie aus dem ästhetischen Bereich aus. Goethes n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e B e m ü h u n g e n waren ernst und wahrhaft und deshalb a u s s c h l i e ß e n d . Außerdem waren sie kein bloßes empirisches Sammeln, das sich an den gefundenen Einzelerscheinungen erfreut und dabei beruhigt hätte, sondern sie suchten für die Menge des Erfahrbaren stets eine letzte geistige, von der sinnlichen Erscheinung wieder abstrahierende Zusammenfassung, eine ideelle Grundgestalt, die — leider nur von dem Goethe am allerfremdesten Monismus der letzten Jahrzehnte hartnäckig im Sinn der Abstammungstheorien mißverstandene — Urpflanze, das Urtier. Deshalb macht auch die Zoologie den Forscher nicht zum Tierdichter und die Blumen und Pflanzen seiner Romane entstammen weniger der Botanik, als der weitverzweigten praktischen Gartenliebhaberei! Auch dem Leben des Dichters kam von der Farbenlehre kein erheblicher Vorteil, denn jene freudig vorblickende Notiz aus Rom, die sich „mit einiger Übung und anhaltendem Nachdenken auch diesen schönen Genuß der Weltoberfläche" (i. 3. 88) verspricht, findet ihre ganz anders lautende Antwort in dem Geständnis, das die Sammlung der zweiündzwanzig Zeichnungen von 1810 einleitet: „Als ich im April 1810 nach Jena ging, um meine zwey Bände zur Farbenlehre abzuschließen und den Druck zu beendigen, sah ich der Erledigung von einer Last, die soviele Jahre auf mich gedrückt mit Wohlbehagen entgegen; ich hatte mich so lange Zeit mit der *) L . Franck, Statistische Untersuchungen über die Verwendung der Farben in den Dichtungen Goethes. Diss. Gießen 1909.

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F a r b e , aber ohne B e z u g auf G e s t a l t und l e b e n d i g e N a t u r beschäftigt, daß dieser abstrakte, ja abstruse Zustand mir höchst widerwärtig erschien und mich ein wunderliches Verlangen überfiel, das was in mir läge von Zeichnungsfähigkeit der Landschaft noch einmal zu versuchen" (veröffentlicht als Jahresgabe der Goethegesellschaft 1888). Wie gering gegenüber dieser Einbuße der lebensmäßigen und dichterischen Farbensinnlichkeit die direkten Übertragungen von einzelnen wissenschaftlich erkannten Phänomenen ins Ästhetische (Blauerscheinen ferner Berge, Wälder, Horizonte als Wirkung des dioptrischen Lichts; farbige Schatten) ins Gewicht fallen, wird weiter unten noch deutlicher. Da uns daran liegt, gerade von Goethes Stellung zur Farbe im allgemeinen eine möglichst gesicherte Vorstellung zu haben, noch ehe die Anwendung einzelner Ausschnitte des Farbenspektrums im Landschaftsbild der Romane in Betracht gezogen wird, muß noch auf eine Tatsache kurz eingegangen werden, die das oben Gesagte von der negativen Seite her in überraschendem Gleichsinn beleuchtet. Im Vorbeigehen wurde schon die Behauptung gewagt: Goethe hat nie gemalt im künstlerischen Sinne des Wortes. In den Versuchen heranwachsender Jugend überwiegen erfahrungsgemäß, wenn nur die Möglichkeit dazu gegeben ist, durchschnittlich die mit Stift, Aquarell und Tempera gefärbten Objekte die reinen Zeichnungen. Das Kind hat eine natürliche Neigung zur Wiedergabe des Farbigen. Bei den im Goethehaus unter dem Stichwort „ J u v e n i l i a " zusammengelegten Zeichnungen dagegen fand ich zwar schwach angetuschte und Rötelzeichnungen, aber keine kolorierten Blätter. Malunterricht gehabt hat Goethe zwar schon in Frankfurt. Aber offenbar kam er nicht über Lernanfänge hinaus zu rechter eigener Kolorierlust. In Leipzig war das Haus des Malers öser sein vorzüglicher Aufenthaltsort. Daß er etwas später, nach dem Brief an Sophie von La Roche am 20.11.74, den ölpinsel in die Hand nahm, verlief ganz ergebnislos, obwohl mit hohem Ernst von diesem Unternehmen gesprochen wird: „das Schicksal meines Lebens hängt sehr an diesem Augenblick". Es ist bezeichnend, daß die darauffolgende Epoche in W e i m a r , die mehrere, wenn auch kleine, doch echte und unverwelkliche Kunstwerke entstehen ließ, fast ganz im Gebiet des rein Zeichnerischen verlief. Denn verschiedenfarbiges Papier, Kreide, Kohle Sepia und schwarze Tusche haben mit Kolorit noch nichts zu tun. Trotzdem auch von 1786—88 die — vielfach erst von befreundeten Künstlern überfärbten — Zeichnungen und auf schwarzweiße Kontraste eingestellten Bilder die größere Zahl ausmachen, scheint doch die i t a l i e n i s c h e R e i s e eine Invasion der Farbe 75

zu bringen; scheinbar. Denn noch deutlicher als die beschreibende Prosa offenbaren die kolorierten Zeichnungen des italienischen Reisekodex, daß die Farbe der Landschaft viel mehr wach und exakt beobachtet, als ihrem ästhetisch-sinnlichen Gehalt nach erblickt und ausempfunden wird. Ich führe nur wenige Beispiele an. Die beiden Darstellungen der Villa Borghese (Hzz 567, 568 nach der Numerierung der Sammlung in Weimar) ordnen sich in der blassen Tönung ganz der Bleistiftzeichnung, — Rot, Braun und Grün in dem im Weimarer Wittumpalais aufbewahrten, ziemlich stimmungslosen „Molo di Napoli" der Tuschzeichnung unter. Ein bekannteres Bild aus der Campagna (Hz 1283), die Peterskuppel mit landschaftlichem Vordergrund, ist ein derbes, farbenfeindliches Gemisch von kräftigen Tuschstrichen und dünnen Farbtönen. Aber auch die großen, besser abgestimmten Landschaften vom Nemisee (Hz 924), von Capri (Hz 622), von Sizilien (Hz 680) lassen die Linie, mitunter sogar die Schraffierung deutlich durchschimmern, sind gefärbte Zeichnungen, keine Gemälde. Sie entspringen jener leichten „Lust, mit Farben zu spielen", nicht aber einer leidenschaftlichen Entdeckung und Erobrung des Farbigen durch rezeptive Sinnlichkeit und produktive Phantasie. Wo Goethes Hand nachweisbar allein am Werke war, ist die Ausführung temperamentlos und zaghaft wie in der nach versuchsweiser Antupfung mit Braun, Olivengrün und Rot unterbrochenen Darstellung des Vesuvkraters (Hz 574). Kräftiger Auftrag, gewissermaßen ein aus sinnlicher Sicherheit quellendes Bekenntnis erfolgt nirgends. Die Farbtöne bewegen sich blaß zwischen Grau, Lila, Hellgrün und Lichtblau, ganz im Sinne der Ausdrücke, die Goethe häufig für Malen gebraucht: schattiren, laviren, illuminiren. Später einmal in den Wanderjähren, nehmen der Maler und Hilarie die Umrisse der südlichen Mignonlandschaften auf, setzen sie „teils in Licht, Schatten und Farbe" (die Farbe also der Schattierung ganz gleichwertig!) und passen sie durch „Beleuchten und Färben" der geschichtlichen Stimmung an. So verwendet Goethe, der hier deutlich eigene Grundsätze ausspricht, auch in Italien schon die Farbe nicht in ihrem sinnlich vollhaltigen Eigenwert, sondern um die skizzierten Gegenstände zu scheiden und hervorzuheben, körperlich erscheinen zu lassen, also zum selben Zweck, der oft mit Tusche und Sepia allein schon versucht und erreicht wird. Darin kündet sich bedeutsam an, was uns noch begegnen wird: der mit der Bestimmtheit und Häufigkeit eines Gesetzes eintretende Übergang von der Farben- zur Lichtwahrnehmung. Bei allen Bildern ist außerdem stets in Betracht zu ziehen, daß es viel76

fach schwer zu entscheiden, zuweilen aber auch augensichtlich ist, bis zu welchem Grad die Hand befreundeter Künstler in Rom wie Hackert, Kniep, Dies und andere mit- und nachgeholfen hat. Ähnliche, den Charakter der Originalität trübende Mitarbeit haben ja auch später in Weimar Maler wie Kraus und Liebert geleistet.1) Wir dürfen nicht übersehen, daß Goethe selbst die späten zweiundzwanzig Handzeichnungen von 1810 besonders wert und merkwürdig sind, denn er sagt in seinem Vorwort: ich habe „keine fremde Hand wie ich sonst bey Skizzen gerne that, darin walten laßen". Technik und Komposition dieser Zeichnungen können so einen wertvollen Maßstab abgeben für die kritische Sichtung des übrigen Bestandes im Goethehaus. Nach der italienischen Zeit beschränken sich die Zeichnungen wieder völlig auf Umrisse, Schattierung und Lichtkontraste von Tusche auf weißem Papier. Die Farbe findet untergeordnete Verwendung in den Tafelentwürfen für die F a r b e n l e h r e , in meteorologischen (zur Hervorhebung von Form und Schichtung der Wolken) und Theaterskizzen. Die b ö h m i s c h e n S k i z z e n b ü c h e r von 1806 und 1808 verwenden Bleifeder und Tusche, aber keine Farbe. Auch die Sammlung von 1810 gibt nur Umrisse oder sucht „durch Licht und Schatten die Gegenstände zu sondern". Getönte Zeichnungen aber wie Hz 1331 mit Bergen hinter Brückenbogen und Felsen oder Hz 1320, die drei sorgfältig ineinandergeschobene Berggipfel mit Grüngelb, Braun, und Blau charakterisiert, stellen eine gelegentliche praktische Anwendung des in der Farbenlehre über die Lufttrübung Erkannten dar, die auch in der Dichtung einzelne Parallelen hat. Über den Gipfeln sind überdies in ebenso leicht erkennbarer Absicht drei Wolken in den Paradigmenformen der Howardschen Wolkentheorie eingezeichnet. D i e Farbe in der Romanlandschaft. Da wir nun unsere Aufmerksamkeit der einzelnen Farbe und ihrer dichterischen Darstellung zuwenden, muß sich der Blickkreis enger um das Thema, die Landschaft der Romane, schließen. Ausgeschaltet bleiben die lyrische und dramatische Gattung, aber vorläufig auch alle außerlandschaftliche, mehr oder minder direkt um den Menschen gruppierte Farbengebung der Romane, die wir als „physiognomische" zusammenfassen und bezeichnen wollen. Ergänzungs- und vergleichsweise herangezogen werden die Reisebeschreibungen hauptsächlich der Schweiz 1779, Italiens 1786—88, der Campagne 1792, der Schweiz 1797 und der Rheinlande 1814. Damit halten wir zugleich die Verbindung mit Goethes Natur') Hier ist auch auf das neuentdeckte „Reise-Trost- und Hilfsbüchlein" hinzuweisen.

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forschung, dem Gebiet der strengen wissenschaftlichen Deskription, aufrecht. Mit der Beachtung von Briefen, besonders der naturnahen an die Frau von Stein, ist ein Zusammenhang mit dem Biographischen gewahrt. Die Reihenfolge des physikalischen Farbenspektrums nimmt im VI. Teil von Goethes Farbenlehre, wo er nach der psychologischen Wirkung des Farbigen fragt, die anthropomorphe Form einer Minus- und Plusseite an, eines Ansteigens und Absinkens. Gelb strebt zu rot, das den kulminierenden Übergang bildet und dann zu Blau absinkt. Am Grunde liegt das Grün, das „reale Befriedigung" gibt. Auch für unseren Zweck können wir keine sinnvollere Einteilung wählen, da so schon durch die bloße Stellensetzung der einzelnen Farbe ein Streiflicht auf ihre psychologische und symbolische Bedeutung für Goethe fällt. Aus dem gleichen Grunde sollen die knappen, charakterisierenden Sätze aus der Farbenlehre die jedesmalige Einführung bilden. Innerhalb der einzelnen Farben ist die chronologische Folge als Maßstab der Entwicklung geboten. Daß wir aber von der nicht streng naturwissenschaftlichen, jedoch für die Ästhetik zulässigen und fruchtbaren Unterscheidung von Farbe und Licht überhaupt ausgehen, bedarf wohl keiner Begründung. Auch für Goethes Betrachtungsweise war die Farbe gleichmäßig unterschieden von dem Hellen als Licht und dem Dunklen als Nichtlicht. Die Farben der Plusseite „stimmen regsam, lebhaft, strebend" (II i. 309). G e l b steht dem Lichte zunächst und hat eine „heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft" (II 1. 310). In der ersten Fassung des Werther von 1774 erscheint diese Farbe an keinem landschaftlichen Objekt. Bedeutsamerweise führt sie die Schweizerreise in die prosaische Naturdarstellung ein, allerdings erst in einer schwachen Abstufung. Nach dieser Zeit der wachsenden Objektivität schaltet die Umarbeitung des Werther aus der seelischen Herbststimmung des Helden heraus den Satz ein: „Meine Blätter werden gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen." (I 19. 115). Daß diese Farbe, wenn überhaupt, in der Intensivierung des Landschaftssehens in I t a l i e n sich durchsetzen wird, vermuten wir. Zunächst sind es Kompositionen und Abstufungen. Aber wie enthüllt sich die fast naturgesetzliche Entwicklung der Sinnestätigkeit, wenn nun auf dem Höhepunkt der Reise, in der primavera siciliana auf einmal auch Gelb und zwar in der stärksten Intensität aus der Landschaft hervorquillt: „ . . . G e b ü s c h und Staudenmassen, wie unsinnig, von Blüthen glänzt: der Linsenbusch, ganz gelb von Schmetterlingsblumen 78

überdeckt, kein grünes Blatt zu sehen" (19.4. 87). Die Steigerung des „ganz" wird vom Verbum „überdeckt" verstärkt; ja, dadie Position nicht genügt, wird das Grün negiert. Ähnlich, etwas gemildert: „an den Kalkfelsen ein schön gelbes Moos" (28. 4. 87); wieder stärker: „hochgelbes Moos überzieht" (1. 5. 87) die Lava. In diesen zwei letzten Beispielen wie in dem folgenden: „Die gelben Äpfel des Solanum, die rothen Blüthen des Oleanders" (8. 5. 87) tritt, wieder einen tieferen physisch-psychischen Zusammenhang aufdeckend, R o t zu G e l b . Auf diese Verbindung soll vorerst nur hingewiesen werden. — Goethe kehrt nach Rom zurück. Die Sinne haben sich entspannt. Der Lustakzent dieser Farbe wird wie im Werther zurückgedämpft bis zum Herbstlichen: „auch junge Castanien (haben) noch das Laub, wenn gleich gelb" (Rom 15. 12. 87). Der Unterton des Vergilbten, Welken klingt wieder an. Weder der Urmeister, noch die Umarbeitung und die Fortsetzung nach der italienischen Reise haben Gelb im Naturbild. Im Märchen von 1794 verwandelt sich ein Kanarienvogel in „einen schönen Topas" (I 18. 250), ohne daß seine doch augenfällige Farbe genannt würde. Die Überführung in Lichtwahrnehmung, aus der das Märchen förmlich zusammengewoben ist, entzieht der gelben Farbe auch die übrigen Tiere, Steine, Metalle, Pflanzen und Irrlichter. Gelb erscheint wieder in der Reise 1797, aber nun im Gegensatz zu Sizilien in viel genauerer Auslösung aus der farbenwissenschaftlicben Beobachtung, z. B . : „Die untergehende Sonne färbt einen Theil der beweglichen Massen gelb" (134.365). In den Wahlverwandtschaften ist bei allem Blumenflor des Gartens, besonders bei den prallgelben Farbenklecksen der Sonnenblumen die Sinnesempfindung des Dichters untätig. Und sie bleibt es in den Wanderjähren und in der Novelle. Wir müssen demnach sagen: die Landschaft des Romans kennt die gelbe Farbe nahezu gar nicht. Selbst die Stelle im Werther schwächt ein zuständliches Gelb des Laubes durch die Bewegung, durch „Blätter werden gelb" und dies steht, da es vor allem auf die Herbstsymbolik abgesehen ist, auch nur für „Blätter werden welk". Dieses seltene Vorkommen erklärt sich zum Teil daraus, daß die freie Landschaft, zumal die mitteldeutsche, wenig reines Gelb hat. Die unreinen Mischungen und Trübungen sind häufiger. Aber diesen schreibt Goethe eine ausgesprochen unangenehme Wirkung zu. Tatsächlich notiert Abschwächungen nur die subjektiven Empfindungen unzugängliche wissenschaftliche Betrachtung, z. B. 1779: „(Felsen) scheinen innerlich von gelblicher Farbe zu sein" (119.226). Überhaupt ist die Abschwächung mit dem Suffix -lieh 79

der genaue Ausdruck des phänomenalen Sehens. Eine Erscheinung wird vermerkt, aber eine endgültige Rechenschaft kann noch nicht gegeben werden; so „scheint" sie vorläufig und ist „gelb-lich". Ähnlich auch in der italienischen Reise, z. B . : „Obenher ist das junge Laub gelblich" (24. 2. 87). — Auch Zusammensetzungen sind nur in beschreibender Prosa zu finden, z . B . : 1779: „Bäume . . .die meisten braungelb" (I 19. 241). Von Farbenkombinationen mit Gelb findet sich nur eine ziemlich unpersönlichen, fast traditionellen Charakters in der naturalistischen, an Shakespeares Opheliamonolog erinnernden Szene des liebeswahnsinnigen Schreibers; er sucht in unwirscher Felsenlandschaft „Blumen, gelbe und blaue und rothe" (I 19. 134). Sie findet sich schon vor Goethes Werther und kehrt in der romantischen und modernen Dichtung als typische Zusammenfassung der Frühlingsboten unter den Blumen, öfters treten noch „weiße" an die Spitze (z. B. in einem kürzlich gedruckten kleinen Naturbild von Johannes Schlaf), so daß die natürliche zeitliche Aufeinanderfolge der Blüten sich ungefähr wiederspiegelt. R o t g e l b vermittelt ein Gefühl „von Wärme und Wonne, indem es die Farbe der höhern Gluth, so wie den mildern Abglanz der untergehenden Sonne repräsentirt" (II 1. 312). Die Farbe erscheint in Goethes Prosalandschaft weder in diesem Ausdruck, noch als feuerfarben oder dgl. Für die hier eingereihte Farbenwirkung der Abendsonne wird in der Dichtung stets die Annäherung an das Rot gesucht mit „röthlich", „rosenfarben". Dieser Widerspruch von hohem Lob der seelischen Wirkung und seltener praktischer Anwendung erklärt sich daraus, daß hier Goethe in der Ausdeutung tatsächlich zu übersehen scheint, daß der Unterschied zwischen Rotgelb und dem nun folgenden Gelbrot ein in den Übergängen kaum merklicher Akzentwechsel ist und daß somit die erstere Farbe die — wenigstens für seinen eigenen Organismus — negativen Eigenschaften des Gelbrot oder Orange notwendig teilen muß. G e l b r o t . Diese Farbe erfreut vor allem „energische, gesunde, rohe Menschen" (II 1. 313). Zu diesen zählte sich Goethe keineswegs ohne weiteres, im Gegensatz etwa zu der noch nicht ausgerotteten Vorstellung vom herkulischen Götterjüngling und späteren Olympier unerschütterlicher Körperkonstitution. Die Landschaft des Romans verwendet diese Farbe gar nicht. Aber auch in beschreibender Prosa ist sie selten. Es ist bezeichnend, daß Z. B. in der Schweizerreise 1797 erst nach der Schärfung und Intensivierung der Sinneswahrnehmung und nach der energischen Erweiterung der Reizschwelle infolge exakter farbenwissenschaft80

licher Einstellung der Eindruck von Orange zustande kommt: „Grüne Farbe des Wassers mit dem Grünen des durchscheinenden Talkes verglichen. Orangenfarbe des abgehauenen Erlenstocks" (I 34. 400). Nicht zufällig wird wie Rotgelb auch Gelbrot, wo es sich doch aufdrängt, in allgemeineres Gold („Goldorangen") oder mit „glühend" und ähnlichen Wendungen in die Lichtwahrnehmung überführt. Die Farben der Minusseite „stimmen zu einer unruhigen, weichen und sehnenden Empfindung" (II 1. 314). B l a u „macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung" (II 1. 314). Blau scheint zu fliehen und zieht nach sich. „Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen" (II 1. 315). Es ist auffallend, — aber nach dem eingangs über den nicht im ästhetischen Schauen, sondern in wissenschaftlicher Beobachtung liegenden Ursprung von Goethes Farbenwahrnehmung kann es uns eigentlich nicht mehr überraschen — daß in der Landschaft Werthers, dessen Händen alle Dinge entschlüpfen und der an ungestillter Sehnsucht zugrunde geht, kein Blau erscheint, außer in jener episodischen Blumensuche des Knechts. Himmel, Gebirge, Wälder, Meer und Wiesenbach sind ohne Bläue! So enthüllt sich auch in den Jugendlandschaften von Dichtung und Wahrheit das meiste Blau als ein Anachronismus; besonders ein Satz wie „das entferntere Blau der Schweizergebirge übte auch hier sein Recht über uns aus, indem es uns zu sich forderte" (128.80) ist ein treues Beispiel des später in der Farbenlehre Gefundenen und hat in der Empfindung des Straßburger Studenten ohne Zweifel noch keine bewußte Geltung gehabt. In der ersten Abteilung von Werthers Briefen aus der Schweiz findet sich nur einmal Blau am Himmel und zwar in einem rhetorischen Zusammenhang, der den sinnlichen Gehalt der Farbe stark abschwächt : „diese Berghöhen zu erklettern, diese Thäler zu durchirren und diesen blauen Himmel zu sehen" (I 19. 204). Blau fehlt dem Urmeister und den Briefen an die Frau von Stein. Wie das Gelb führt die S c h w e i z e r r e i s e 1 7 7 9 auch diese Farbe ein. Die wissenschaftliche „Aufmerksamkeit gibt wieder den entscheidenden Anstoß und läßt schon gleich Abstufungen oder Zusammensetzungen wie „das Wetter und die Luft verändern die Oberfläche in Graublau" (I 19. 226) wahrnehmen. Das p h ä n o m e n a l e Sehen strebt hier unmittelbar schon zur Ursachenerklärung der farbigen Erscheinung. Auf dieser Reise wird die sinnliche Aufgeschlossenheit gegen eine neue Erfahrung auch im ästhetischen Gebiet bemerkbar, wo sie eine Steigerung, 6

Beiti.

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wohlbeachtet, nicht des Umfangs oder der Schärfe der Nuancierung, sondern der Intensität durch das Hinzutreten der Empfindung bewirkt, ähnlich wie wir es an der Wahrnehmung des Gelben in Sizilien schon beobachtet haben. Nun ist eine Höhle, in die der Eisstrom einmündet, „weit, tief, von dem schönsten Blau" (I 19. 250). Aus den Zacken eines Gletschers glänzen „die blauen Spalten... gar schön hervor" (I 19. 249). In der Bemerkung: „Der Himmel war ganz klar ohne irgend eine Wolke, das Blau viel tiefer als man es in dem platten Lande gewohnt ist" ( 1 1 9 . 302) sehen wir beiläufig einen jener objektiven, in der natürlichen geographischen Bedingung liegenden Grund für die Tatsache, daß der Werther überhaupt kein Blau und auch die späteren Romane fast nur gelegentlich aus der Farbenlehre abgeleitetes haben. Der elsässischen, fränkischen, thüringischen, sächsischen, also im geographischen Sinne mitteldeutschen Landschaft, in die Goethe von allen Reisen nach der Schweiz, Italien, Frankreich und Böhmen wieder zurückkehrte, werden wir noch mehrfach als wesentlich modifizierendem Faktor seines Landschaftssehens begegnen. — Auch in der italienischen Reise fällt der stärkste Akzent auf das Himmelblau : „auf einem tieferen Himmelsblau" (8.9.86); „der herrliche blaue Himmel und die hereinscheinende mächtige Sonne" (6.3.87) usw. Wir wollen aber nicht übersehen, daß sich auf dieser Stufe der Intensität eine Überführung in die L i c h t w a h r n e h m u n g bereits leise ankündigt; auch in dem Bild: „der Himmel ist wie ein hellblauer Tafft von der Sonne beschienen" (19. 2. 87). Es fällt ein starkes Licht auf die geringe Intensität von Goethes Farbensehen im normalen (nicht durch das phänomenale Hinsehen oder durch fremde Landschaft erregten und gesteigerten) Zustand des Gleichgewichts, wenn trotz der Schule Italiens in der Landschaft der Lehrjahre und der Novelle überhaupt kein Blau, in den Unterhaltungen, in denWahlverwandtschaften und Wanderjahren aber zusammen etwa ein halbes Dutzend durchsichtiger A n w e n d u n g e n der F a r b e n l e h r e auftreten. Und dieses Licht verstärkt sich, wenn die naturwissenschaftliche Reise durch Süddeutschland in die Schweiz 1797 und die kulturell interessierte ins Rheinland 1814 auf einmal die Heiterkeit, Klarheit und Bläue besonders des Himmels auch dem ästhetischen Empfinden wieder vorübergehend erschließen und in die Darstellung einfließen lassen. Ein scheinbar so geringer Umstand ist für den Nachdenklichen hinreichend zu zeigen, was für Goethe die Reisen besonders von 1775, 1786, 1797 waren, — Erlösungen aus der Alltägliches, Gewohntes zu Bergen türmenden Dumpfheit mehrjähriger Zu82

stände, Aufschluß verschütteter Quellen, Ostern der Sinne, wirkliche Auf-brüche. Die Erkenntnis der nachsichziehenden, Sehnsucht weckenden psychologischen Wirkung der blauen Farbe finden wir in der Landschaft des Romans nirgends verwertet. Wir werden ihr begegnen im Bereich des Physiognomischen. Es sei hier nur vorerinnert an die Kleidung Mignons in Grau und Blau, an den azurnen Kapellenhimmel der Wahlverwandtschaften, der zuerst das Kind, dann Ottilie und Eduard überwölbt und befriedet. Bisher gab keine Farbe Anlaß, noch vor der Frage nach der psychologischen Wirkung auf Goethes Erklärung ihrer rein physikalischen Entstehungsbedingungen einzugehen. Die Mehrzahl der blau gesehenen Landschaftsobjekte im Roman findet jedoch erst in dieser Beleuchtung das rechte Verständnis. Wenige davon gehören in das Kapitel der farbigen Schatten, die nach dem Gesetz der komplementären Farbenerscheinungen wirksam sind, die übrigen in das der dioptrischen Farben, die zustande kommen, wenn dunkle Objekte (Felsen, Wald, Himmelsraum) durch reichliche Zwischenlagerung an sich farbloser Schichten (Luft, Wasser, Rauch) hindurch gesehen werden. Das Phänomen der f a r b i g e n S c h a t t e n vermerkt Goethe zum erstenmal auf der Reise 1779: „Der Himmel war ganz klar.., die Rücken der Berge, die sich weiß davon abschnitten, theils hell im Sonnenlicht, theils blaulich im Schatten" (I 19. 302). Die Erscheinung ist richtig erfaßt der Sache nach und auch unmißverständlich wiedergegeben. Ungemein interessant ist aber gerade zu beobachten, wie hier das Farbensehvermögen noch hinter dem wissenschaftlichen Bestreben und auch Erkennen zurückbleibt. Goethe sieht den Schatten „blaulich", aber nicht zugleich, daß dann die beleuchtete Seite des Objekts notwendig gelb oder gelblich sein muß, da ja aus dem durch die Bestrahlung der Abendsonne entstehenden Gelb das Blau als Komplementärfarbe erst folgt, gewissermaßen die notwendige optische Funktion zu diesem Gelb darstellt. Goethe sieht diese Tatsache; deshalb „hell". Aber er sieht sie nicht genau, er sieht nicht die Farbe. Ja noch mehr. Im Anfang desselben Satzes befreit sich die Beobachtung erst aus der gänzlich unkritischen Anschauung des naiven Menschen: die Berge schneiden sich „ w e i ß " von dem tief hereinstrahlenden Himmelsblau ab! So sieht nur ein Mensch ohne angeborene Farbensinnlichkeit. Gelb, goldgelb wie Dukaten sind die überschneiten Berge im wolkenlosen Winternachmittag! Goethe sah es nicht unwillkürlich mit den Augen. Er fängt an zu beobachten, da sind die Grate nur noch „hell", — noch exakter, da sind die Schatten 6*

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„blaulich". Wir sehen eine physikalische Tatsache, die ihm noch nicht vertraut und im Bewußtsein gegenwärtig ist, mit wunderbarer Stetigkeit aus sich herausexperimentieren. Um zu ahnen, wieviel Goethes Farbenwahrnehmung auf diesem Wege gelernt hat, brauchen wir nur auf eines der viel präziser gefaßten Beispiele in der Farbenlehre hinzusehen, etwa auf die Beschreibung der auf einer Harzreise im Winter beobachteten farbigen Schatten: „Waren den Tag über, bei dem gelblichen Ton des Schnees (hier ist der gelbliche Ton!), schon leise violette Schatten (genauere Abstufung des Blau!) bemerklich gewesen, so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Theilen widerschien" usw. Die Sonne sinkt noch tiefer; der Schnee wird purpurn, der Schatten smaragdgrün. Nun sind die Gesetze völlig bewußt und die Fähigkeit des Sehens ist ausgebildet. Ist diese Fähigkeit aber auch in der inneren, dichterischen Vorstellung eines Sonnenunterganges jederzeit und mit der Spontaneität eines „angeborenen Sinns" wirksam? Keineswegs. In der deskriptiven Prosa der Reise 1797 werden Beispiele farbiger Schatten festgestellt und mit Virtuosität zerlegt. Der geübte Forscher kann einen beliebigen Einzelfall frei durch alle Bedingungen durchdemonstrieren. Aber dieses anmutige Spiel wird nicht in die Dichtung übertragen. Kaum eine Stelle in der Josephslegende der Wanderjahre kann als Phänomen dieser Art verstanden werden: „die ganze Erscheinung war hinter den blauen Schattenwänden verschwunden" (124.8). Daneben finden wir, um die grüne Farbe gleich vorwegzunehmen, nur noch ein Beispiel in der pilgernden Thörin; es ist „ein schöner Morgen", die frühe Sonne überscheint ein junges Mädchengesicht und setzt dabei wohl eine Gesichtshälfte in den Schatten, so daß es heißt: „er konnte seine Augen nicht von dem schönen Gesicht wegwenden, das von einem grünen Halblichte verschönert war" (I 24. 77). Aber schließlich ist diese Erscheinung schon halb ins Physiognomische gerückt, wobei dann leicht die Anschauung italienischer und auch altdeutscher Gemälde mitgewirkt haben kann. Ob des schattenhaft überschimmernden Grüns im rosigen Gesicht am bekanntesten ist das angebliche Selbstporträt Pinturicchios in der Dresdener Galerie. Das erste Beispiel aber ist deshalb nicht zweifelsfrei, weil es heißt: „Fragt nur nach St. Joseph! erscholl es aus der Tiefe und die ganze Erscheinung war hinter den blauen Schattenwänden verschwunden. Ein frommer mehrstimmiger Gesang tönte verhallend aus der Ferne". Es handelt sich also um eine ziemliche Distanz vom gesehenen Objekt und das Blau kann einfach dioptrisch sein, denn der Schatten an sich hat ja die erforderliche schwarze Farbe. 84

Außerdem fehlt die Angabe des primären gelblichen Farbeneindrucks, den allerdings die Nennung des Sonnenuntergangs auf derselben Seite zur Not ersetzen könnte. Jedenfalls wird hieraus klar: d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e K e n n t n i s u n d W a h r n e h m u n g der f a r b i g e n S c h a t t e n h a t G o e t h e s ä s t h e t i s c h e s F a r b e n s e h e n nicht b e e i n f l u ß t und v e r w a n d e l t , kaum befruchtet. Für das Phänomen der d i o p t r i s c h e n F a r b e n hat Goethe im zweiten, physikalischen Teil der Farbenlehre folgende Kardinalfälle aus der Landschaft angeführt: „Wird die Finsterniß des unendlichen Raums durch atmosphärische vom Tageslicht erleuchtete Dünste hindurch angesehen, so erscheint die blaue Farbe. Auf hohen Gebirgen sieht man am Tage den Himmel königsblau" (II i . 64) und weiter: „Eben so scheinen uns auch die Berge blau: denn indem wir sie in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die Localfarben nicht mehr sehen, und kein Licht von ihrer Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt; so gelten sie als ein reiner, finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischen tretenden trüben Dünste blau erscheint" (II 1. 65). In der Schweizerreise 1779 findet sich, wie bereits zitiert, das Aufmerken auf die tiefere Bläue des Himmels, aber ohne jeden Ansatz zur Erklärung. Dasselbe gilt von Italien und 1797. Die Wahrnehmung dieses Phänomens ist jedem Menschen vertraut und es läßt sich nach erworbener Einsicht des Grundes auch nicht weiter untersuchen oder in wesentlichen Variationen beobachten. Goethes Prosa spielt nicht einmal mit „ T i e f e " oder „Abgrund" des Blauen auf eine wissenschaftliche Kenntnis des Grundes an. Im Gegensatz zum Himmelsblau wird das Erscheinen der dioptrischen Farbe auf fernen Gebirgen, Wäldern usw., zumal in den feineren Schattierungen, nicht von allen Menschen wahrgenommen, setzt vielmehr angeborene Farbenbegabung oder die Goethesche „Aufmerksamkeit" voraus und drängt dann auch zur Frage nach dem Grund. Dichtung und Wahrheit will die ersten Beobachtungen dieses Phänomens in die Straßburger und die darauffolgende Frankfurter Zeit verlegen. Der Wanderer sah „in der Ferne die blaue Reihe der höheren Gebirgsrücken" (I 29. 108). Von den griechischen Autoren wird bildlich gesagt: „die geliebten Alten, die noch immer, wie ferne blaue Berge, deutlich in ihren Umrißen und Massen, aber unkenntlich in ihren Theilen und inneren Beziehungen, den Horizont meiner geistigen Wünsche begränzten" (I 27. 191); noch exakter und vielleicht eben deswegen mit Vernachlässigung der Farbe und Annäherung an die bloße Lichtwahrnehmung : „in immer mehr abduftenden Landschaftsgründen... 85

bis zuletzt die schwäbischen Gebirge schattenweis in den Horizont verfließen" (I 27. 327). Daß die genaue Formulierung und die überaus klare Anwendung jener Metapher aus der Hand des langgeübten Naturforschers stammen, ist wohl ohne weiteres deutlich Aber die Farben dieser Landschaftsbilder überhaupt müssen als Anachronismen bezeichnet werden. Die mehrfachen Gründe aus der allgemeinen Entwicklung von Goethes Farbensehen brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Diese Behauptung würde sich schon daraus rechtfertigen, daß, abgesehen vom Werther, den Tagebüchern und Briefen von 1775, nicht einmal die Reise 1779 dioptrisches Blau mit bewußter Deutlichkeit einführt. Ein Bild aber aus Werthers Briefen aus der Schweiz I. verrät seine Abhängigkeit von literarischen Vorbildern in der etwas modischen Allgemeinheit der Motive und im ganz auffallenden Mangel jeder sinnlichen Anschauung: „wenn der Adler in dunkler blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt" (I 19. 199). Daß Vogelflug selten noch zu erkennen ist, sobald er aus dem freien himmlischen Horizont in den Berg- und Waldhintergrund eintaucht, kann jeder auch in der Ebene beobachten. Und nun gar „in dunkler blauer Tiefe"! Erst in Italien, wo die durchdringendere Kraft und die in Meerblicken ununterbrochene Reichweite des atmosphärischen Lichtes, besonders im Golf von Neapel, auch dieses trübe Phänomen in relativ größerer Reinheit wirkte, wird dioptrisches Blau in Anschauung und Ausdruck unzweideutig vermerkt: „Bei klarer Sonne eine dunstreiche Atmosphäre, daher die beschatteten Felsenwände von Sorrent vom schönsten Blau" (29. 3. 87. Abreise von Neapel) oder: „Ein klarer Duft blaute alle Schatten" (2.4.87 bei Palermo). 1779 wird der „Neuenburger S e e . . . in dem blauen Duft" erblickt. Wieviel präziser wird jetzt in Italien das Blau nicht als Eigenschaft, sondern als Wirkung des medialen „Duftes" erkannt und bezeichnet! Die genaue Beobachtung und Erklärung der Farbe deutet auf das einsetzende Interesse an der Farbenlehre. Die Aufmerksamkeit gerade auf dieses Phänomen und besonders auf das trübende Medium, auf die „Atmosphäre", den „ D u f t " oder „Dunst" zu lenken, war dann die Landschaftskunst Claude Lorrains höchst geeignet, dessen Wertschätzung von seiten des Dichters in Italien ihren Gipfel erreichte. An seinen Bildern schult sich sein äußerer Sinn für die Klarheit, „die Mannichfaltigkeit, duftige Durchsichtigkeit und himmlische Färbung der Landschaft, besonders der Fernen" (18. 8. 87). Aber andererseits, schon früher, leitet Goethe bedeutsamerweise und in Übereinstimmung mit unserer Behauptung vom Primat der wissen86

schaftlichen „Aufmerksamkeit" im Farbensehen seine Annäherung an Claude Lorrain selbst schon von einer erhöhten Beobachtungsgabe ab: „Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken die um die Küsten schwebte... nun versteh' ich erst die Claude Lorrain" (3. 4. 87). Es sei noch darauf hingewiesen, wie sich hier wieder Farben- mit Lichtwahrnehmung mischt („duftige Durchsichtigkeit", „dunstige Klarheit") und in diese übergeht. Es ist interessant, daß dieses Farbenmotiv erst in der Zeit intensivster Beschäftigung mit der Farbenlehre und in einer Prosadichtung auftaucht, wo das Bedürfnis eines stilisierten, unwirklichen landschaftlichen Lokals für die allegorische R e i s e der S ö h n e M e g a p r a z o n s und — wie wohl unzweifelhaft ist — in eben diese Ufer-, Insel-, Kap-, Vulkan- und Kraterlandschaft um den Golf von Neapel führt. Da erscheint in treuer Motiverinnerung eine ferne Insel dioptrisch blau: „Man zeigte ihnen von weitem die Residenz am Horizont als eine große blaue Masse" ( 1 1 8 . 381). In der Reise 1797 ist diese Beobachtung ebenso geläufig wie die der farbigen Schatten, z. B . : „die überrheinischen blauen Gebirge" (I 34. 263) oder sogar in Abstufungen: „die lichtblauen Gebirge" (I 34. 263). Wir denken nun an die erwähnten Handzeichnungen, die experimenthalber verschieden entfernt gedachte Berge mit den entsprechenden Farbtönen charakterisierten, wenn wir dieses Motiv in den späten Prosawerken hin und wieder finden. In den Wahlverwandtschaften werden „die blauen Gipfel eines fernen Gebirgges" (I 20. 102) gesehen. In den Wanderjahren spricht die schöne Witwe von den „blauen Bergen" in der Landschaft, die „fern zum Schluß ein befriedigendes Gemähide bilden" (I 24. 297). Der Maler in Mignons Heimat am Lago Maggiore ist auf ein gegen den blauen Himmel abgestimmtes Violett der Berghöhen und auf „milderndem Duft" (I 24. 366) für die Fernen bedacht. In den Alpenländerm ist das dioptrische Blau am schönsten an klaren Herbsttagen zu beobachten. Aber die Jagdnovelle, die in Nordböhmen und im Herbst spielt, verwendet es nicht, obwohl genug „Fels- und Waldgipfel" und andere Objekte aus der Ferne betrachtet werden. Noch für den 24. 9. 27. jedoch berichtet Eckermann, Goethe habe ihm den Versuch gezeigt, (den wir an jedem Feldstecher wiederholen können), daß das Fernrohr die „Bläue des Dunstes verschwinden" macht. So sehen wir im ganzen also auch den Sinn für diese blaue Farbe an der wissenschaftlichen Objektivierung erwachen, dann allenfalls die ästhetische Wahrnehmung, kaum aber die Landschaftsdarstellung der Kunstprosa bereichern.

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R o t blau. „Sehr verdünnt kennen wir die Farbe unter dem Namen Lila; aber auch so hat sie etwas Lebhaftes ohne Fröhlichkeit" (II i. 316). Diese Farbe begegnet in den Landschaftsbildern der Romane nicht. Da für den psychologisch ausdeutenden Teil der Farbenlehre neben wenigen historischen Goethes eigenes Empfinden die reichste und erste Quelle war, dürfen wir wie bei Gelbrot dieses theoretische Urteil mit der praktischen Enthaltung in einen natürlichen Zusammenhang bringen. Auch das ist nicht bedeutungslos, daß für diese Farbe, wo sie sich in berichtender Prosa doch aufdrängt, ein anderer, schönerer Name gefunden wird, z. B. 1779: „die Berge im Abendroth rosenfarb in's Violette" (I 19. 242) und in Sizilien: „ein schön violettes, fast rosenrotes Sedum" (25. 4. 87). Aus der Nachbarschaft des Violetten geht der Charakter der anderen Farbe als Lila oder Rotblau klar hervor. Nur physiognomisch ist Lila im Roman mehrfach verwertet. B l a u r o t bewirkt „Unruhe" (II 1. 317). Goethe führt heiter den Mantel des Kardinals als Beispiel an, der Unruhe nach dem Papstthron versinnbilde. Häufiger ist dafür der Name Violett. 1779 sieht Goethe „die Berge im Abendroth rosenfarb in's Violette" (I 19. 242). Als ganz selbstständige, sinnlich gesättigte und sogar mit der ästhetischen Steigerung „schön" versehene Farbe verzeichnet sie erst die italienische Reise und zwar nicht zufällig in Sizilien; auf Gips „wachs't häufig ein schön violettes... Sedum" (28. 4. 87). Wir überhören nicht den Mineralogen und Botaniker. Auf der Ätnalava beobachtet er „schöne violette Blumen" (1.5.87). In der Prosadichtung wird diese Farbe gleichfalls nur physiognomisch verwertet. R o t besagt „Ernst und Würde,... Huld und Anmuth" (II 1. 319), hat also einen ziemlich geschlossenen und dabei allgemeinen Kreis positiver Eigenschaften zum Inhalt. Für die anderen beiden Grundfarben ist sie Höhepunkt und Peripetie, zu dem Gelb ansteigt, von der Blau abfällt. Wir vermuten, daß diese Farbe eine besondere Rolle spielen wird für einen psychischen Organismus, der sich keineswegs erst nach einer italienischen Reise, sondern schon bald nach der Überwindung des Sturm- und Drangnaturalismus im Götz und Urfaust sich auf das Typische, Allgemeingültige, Gesetzmäßige, Urbildliche zu richten begann. Tatsächlich stellt Rot neben Grün die am häufigsten verwendete Farbe in Goethes Prosalandschaft dar. Wahrnehmung von Rot muß schon die Frankfurter Knabenzeit mit den Tulpen, Nelken und Rosen des großelterlichen Gartens, mit dem Purpurglanz der Kaiserkrönung nahegelegt haben. Auch in Regenbogen und Sonnenuntergang, von denen als besonderen 88

Phänomenen Dichtung und Wahrheit an früher Stelle berichtet und die Goethe später mit den Anfängen der wissenschaftlichen Betrachtungsweise in Verbindung setzte, fällt der sinnliche Nachdruck auf Rot. Die Farbe selbst überliefern uns zwar die Bilder der Jugendchronik nicht. Doch finden wir sie im Vergleich zu anderen Farben verhältnismäßig früh im Werther im hymnischen Bild eines Abends: „ w e n n . . . die Millionen Mückenschwärme im lezten rothen Strahle der Sonne muthig tanzten" (JG 4.265) und in jener erwähnten Kombination: „Blumen, gelbe und blaue und rothe" (JG 4. 299). In den Briefen und im Tagebuch von 1775 verschwindet diese Farbe wieder. Die eigentliche Intensivierung des ästhetischen Rotsehens erfolgt erst über dem Weg des wissenschaftlichen Aufmerkens 1779 und 1786. Dasselbe Phänomen wie in der Jugendzeit, der Sonnenuntergang, löst in der Vermannigfaltigung und Steigerung des Alpenhimmels und im reinen Abglanz des Gletscherschnees häufiger die Wahrnehmung von Rot aus, z. B.: „die Eisgebirge . . .schienen in einem leichten Feuerdampf aufzuschmelzen; die nächsten standen noch mit wohl bestimmten rothen Seiten gegen uns" (119. 239); „Auf einmal sahen wir den Gipfel einer sehr hohen Klippe, völlig wie geschmolzen Erz im Ofen, glühen und rothen Dampf davon aufsteigen. Dieses sonderbare Phänomen wirkte die Abendsonne" (I 19. 262); „Wie ein gewaltiger Körper von außen gegen das Herz zu abstirbt, so erblaßfei} alje Jarvgsjim^Eyis^eb^r^e^epe^ d^nJVT^in^bljng zy, ^es^e^w^eit/ir Busen noch immer roth herüber glänzte und auch zuletzt uns noch einen röthlichen Schein zu behalten schien" (I 19. 239). Wir beachten, daß jedesmal der Wahrnehmung des Rot die L i c h t w a h r n e h m u n g benachbart ist und z. B. in „rothen Dampf", „roth herüberglänzte", „röthlichen Schein" jene stufenmäßig zu sich herüberzieht. Bei dieser Farbe vollzieht sich der mehrfach angedeutete Übergang besonders häufig und zwar, wie wir noch sehen werden, bereits im Sonnenuntergangsbild des Werther. Der Urmeister und die Briefe an Frau von Stein haben kein landschaftliches Rot. In höchster Intensität, zugleich in Abstufungen und Zusammensetzungen erscheint es in I t a l i e n . Es wird am Himmelsbild, am Mineral und besonders in Sizilien an Blütenpflanzen in charakteristischer Paarung mit gesteigertem Gelb wahrgenommen: „Wie die Natur das Bunte liebt läßt sie hier sehen, wo sie sich an der . . .Lava erlustigt; hochgelbes Moos überzieht sie, ein schön rothes Sedum wächs't üppig darauf" (1. 5. 87. bei Catania) und „Die gelben Äpfel des Solanum, die rothen Blüthen des Oleanders machen die Landschaft lustig" (8. 5. 87. nach Messina). Die beiden Farben, die hier und noch sonst so sinnlich 89

kräftig aufeinanderprallen stehen in einer notwendigen physikakalischen und psychologischen Wechselbeziehung. Die Wahrnehmung des Gelben strebt zu Rot. Gelb begehrt, was Rot erfüllt. Ein Auge, das Gelb intensiv erleidet, muß von vorhandenem Rot gewissermaßen verfolgt und überwältigt werden. Und dieses Verhältnis geht unmerklich ins Psychologische über: Rot und Gelb sind „lustig", an ihrem Kontrast, an der sinnlichen Spannung „erlustigt" sich dieNatur und das Wachsen in dieser Farbe ist „üppig". Es fällt ein heller Streifen Licht auf die sinnliche Schwächung der Landschaftdarstellung im Roman, wenn von diesem wirksamen Farbenspiel kein Gebrauch gemacht wird, das um so häufiger im Naturbild des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts als Symbol alles Rauschhaften, Lustvollen erscheint, aber auch des schmerzlich Entsagenden, Herbstlichen, dessen Leibfarben Rot und Gelb sind. In den Wahlverwandtschaften tönt dieser Zwiegesang durch die Blumen nur ganz gedämpft; die Farben der Astern und Sonnenblumen werden nicht genannt. Die charakteristischen Farbtöne des welkenden Laubes im herbstlichen Ernst der Jagdnovelle bleiben in einem typischen „bunt" verhüllt. — Von Gelb her gesehen ist auch Purpur eine Steigerung des Roten, allerdings zuglseich schon der Abstieg zum Blau. Auffallend heftig vollzieht sich hier der Übergang zur spezifischen Lichtwahrnehmung. In Süditalien erblickt Goethe im Sonnenuntergang „alles purpurglänzende Lichter" (30. 3. 87). Ähnlich paradigmatisch ist der Wechsel der Sinnesempfindung in Motiven von 1797: „beim Purpur licht (!) des Abends" (134. 260); „aller Schaum und Dunst war licht und purpur gefärbt" (I 34. 365). Man hat den Eindruck, als suche hier das Auge, wenigstens das reproduzierende, durch diese Umbiegung einer allzu starken Reizung des Farbensinns vorzubeugen. Eine Steigerung des Roten in sich wie 1797: „Wir fanden eben die Sonne als eine blutrothe Scheibe in einem wahren Sciroccoduft rechts von Wimpfen untergehen" (I 34. 276) ist in der Prosadichtung ganz ohne Beispiel. Für die ästhetische Sinnlichkeit Goethes würde „blutroth" schon fast einen romantischen Exzeß bedeuten. Purpur erscheint nur einmal im Märchen, auch gepaart mit Lichteindrücken: „Endlich erblickte sie hoch in den Lüften, mit purpurrothen Federn den Habicht, dessen Brust die letzten Strahlen der Sonne auffing" (I 18. 256). Und wenn in den späten Romanen landschaftliches Rot durch die verbale Form „sich röthen" nur im Werden gezeigt wird und auch mit „röthlich" noch gegen das an sich gleichfalls gemiedene Rotgelb hin auf einer Stufe vor der kulminierenden Intensität festgehalten wird, spricht das dafür,

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daß auch das ungesteigerte Rot ein zu starker Reiz war für das reproduzierende Sinnesempfinden eines Dichters, der mühsam erkämpfte Beruhigung in keiner Weise preisgeben wollte und so sehr der Exaltation der Sinne und des Gemütes auswich, daß er z. B. seinen Werther nach vollendeter Umarbeitung nicht mehr nachlas, es sei denn im abstandschaffenden Gewand einer fremden Sprache. In den Lehrjahren ist das „lustig" der italienischen Reise schon etwas abgeschwächt und der sanfteren Umgebung der häuslichen Therese entsprechend Gelb durch Weiß vertreten: „das Häuschen war weiß und roth angestrichen und lustig anzusehen" (I 23. 42). In den Unterhaltungen mit den nächtlichen Erdbeben, in der Reise und in dem Farbensprühender Schlangen, Irrlichter, Erzadern und Edelsteine im Märchen entschlüpft so naheliegendes Rot durchwegs in die Wahrnehmung des Glänzenden, Lichten. Verhältnismäßig viel Rot haben die Wahlverwandtschaften. Klanglich und rhythmisch stark unterstrichen fällt in jenem symbolschweren Herbstbild in Ottiliens Tagebuch, das das dritte Kapitel des zweiten Teils beschließt, diese Farbe als weh auflohender Lustakzent in die Öde des Stoppelfeldes, in die Monotonie des Dreschtakts : „nur die rothen Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen" (120.225). Eduard und der Major sehen bei ihrer Rückkunft des inzwischen fertiggestellten neuen Hauses „rothe Ziegeln... zum erstenmal blinken" (I 20. 355). In beiden Fällen handelt es sich um relativ stumpfe Lokalfarben. Für das kräftiger leuchtende Rot der untergehenden Sonne aber erscheinen die charakteristischen Abschwächungen. Ottilie lustwandelt, in ein Buch vertieft, mit dem Kind am See: „Und eben fiel ein röthliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter" (I 20. 356); (Lichtwahrnehmung setzt ein: „vergoldete" wie oben mit „blinken"). Und wie alles Geschehen in diesem Roman, für den allein unter seinen Werken Goethe zugab, daß er nach einer „Idee", eben der der Wahlverwandtschaften, gearbeitet sei, in einem undurchbrochenen Gesetzeszusammenhang verläuft, tritt dieses farbige Naturphänomen nocheinmal in den Kreis, wo sich alles schmerzlich-milde beschließt; diesmal ist es die auferstehendeSonne und was sie webt, eine wirkliche Verklärung und Gloriole um ein weißes Märtyrerantlitz : „Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen und die aufgehende Sonne röthete nochmals das himmlische Gesicht" (120.408). Das vorletzte Motiv kehrt in auffallender Gleichheit wieder in der Novelle, wo in der Geschichte der Liebe, die mit zarten Stimmen, nur dem aufmerksamen Leser genau verfolgbar, in die geräuschvollere Jagd- und Tierhandlung 9i

verwoben ist, sich alles entscheidet in der Weisung der Frau: „du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde dich selbst". Dann erblicken wir die Gestalt Honorios bedeutungsvoll im farbigen Rahmen der Landschaft: „eine röthliche Sonne überschien sein Gesicht, sie glaubte nie einen schöneren Jüngling gesehen zu haben" (I 18. 345). Hier wie oben ist der symbolische Gehalt der Farbe, „Ernst und W ü r d e , . . . Huld und Anmut", voll ausgeschöpft. In den Wanderjahren erscheint Rot in Mignons Heimat, wo „Granatapfel sich röthen" (124. 356). Aber Gelb der Zitronen, Grün des Laubes fehlt und Rotgelb der Orangen ist in Lichtwahr riehmung überführt. G r ü n vermittelt „reale Befriedigung" (II 1. 320). Es ist die Farbe, die keinen unmittelbaren Anteil hat an der Systole und Diastole, an der Polarisation von Gelb zu Blau über Rot. Sie ist gleichsam das ruhende Meer, aus dem die Dünste aufwärtsstreben, in das sie zurückkehren. So bildet auch ihre Wirkung auf die Seele keine Zwischenstufe in der Anziehung und Abstoßung von Lust und Unlust, von Genuß und Entbehren, sondern spendet das vorzeichenlose, wohltuend labile Gefühl des Nachgebens, der Abspannung, der „realen Befriedigung". Grün ist die Farbe eines Menschen schlechthin, der das Genügen, das Zurechtkommen im Wirklichen durch tätige Liebe für die erste menschliche Kunst hält. Zugleich wird sie in der freien Natur am häufigsten gefunden — wir bezeichnen die Landschaft geradezu als „das Grüne" und „Mutter Grün" — und gibt in der Vegetation die Untermalung für fast alle Landschaftsbilder her. Wieviel besagt es deshalb für die geringe Spontaneität und originale Kraft des Goetheschen Farbensehens, wenn wir im Werther, der das Bild der Landschaft in anderer Hinsicht bis zum hymnischen Ausdruck steigert, kein Grün finden. Wie fast alle Farben wird auch diese nachdrücklich und bewußt erst 1779 gesehen. Eine Erscheinung, wohl aus dem Gebiete der farbigen Schatten, wird betrachtet, aber wie bei jenem erwähnten Beispiel noch nicht in seiner Ursache begriffen und deshalb nicht mit der Exaktheit der Farbenphänomene etwa von 1797 dargestellt: „die nächsten (Eisgebirge) standen noch mit wohl bestimmten rothen Seiten gegen uns, nach und nach wurden jene (die hinteren Eisgebirge) weiß, grün, graulich" (I 19. 239). Vor allem aber wird Grün an den Hauptträgern, an Baum und Feld, gesehen: „die Gegend sehr schön, noch viele Bäume grün,... die Saat hochgrün" ( 1 1 9 . 2 4 1 f.); „am Ende einer schönen grünen Matte" ( 1 1 9 . 267). Trotz der späten Einführung des Grün in die Prosalandschaft trägt es doch gleich einen unverkennbaren Ton des Wohl92

gefallens. Keine früher oder intensiver aufgeschlossene Sinnlichkeit bemächtigt sich mehr dieser Farbe, aber eine natürliche Vorliebe, nachdem sie einmal mit anderen durch das wissenschaftliche Hinschauen ins Gesichtsfeld gerückt ist. So erklärt sich auch die immerhin auffallende Tatsache, daß in den landschaftlich überhaupt fast farblosen Briefen an Frau von Stein (immer abgesehen von den Reiseberichten aus der Schweiz 1779) von 79—82 neben einem negativen „leidigen" Schwarz die grüne Farbe ganz allein auftritt und stets mit dem Unterton der „realen Befriedigung": „das Grün wird satter und die Gegend treibt sich in die Fülle" (21. 4. 79); „das Grün der Stachelbeeren" (7. 4. 82); „Gestern war es ein schöner Anblick . . . auf einmal die ganze Gegend grün zu sehen. Es hatte in Einer Nacht sehr starck getrieben" (15.5.82); „es wird mit Gewalt grün" (15. 5. 82). So wird Grün die einzige Farbe, die schon vor Sizilien eine hohe Intensität erreicht und sie — was noch unterscheidender ist — auch nach Italien festhält. Dieser vorzugsweisen Entwicklung entspricht es genau, daß die allgemeine Steigerung des Farbensehens in I t a l i e n an Grün Intensivierungen, Kompositionen und Abstufungen bewirkt, die selbst die von Gelb und Rot erheblich übertreffen, der Stärke nach: „das junge Laub ...von dem saftigsten Grün" (24. 2. 87), „Die fruchtbaren Felder stehen grün und still" (19. 4. 87) — dem Umfang nach: „Indianische Feigen trieben ihre großen, fetten Blattkörper zwischen niedrigengraulichgrünen Myrten, unter gelbgrünen Granatbäumen und fahlgrünen Olivenzweigen" (23.2.87), „dunkelgrüner ...Glimmerschiefer" (8. 1 1 . 86), „dunkelgrünen Eichen" (19. 2. 87), „immergrünen Blätter" (6. 3. 87), „immer grünen Bäumen" (15. 12. 87). Wenn wir diese in Italien noch wachsende Neigung für die Wahrnehmung des Grünen im allgemeinen im Auge behalten, ist es doppelt interessant zu beobachten, daß gerade im April und Mai in Sizilien, also in dem Zeitpunkt} der mit den aufreizenden und anfeuernden Eindrücken der Plusseite, Gelb und Rot, Goethes Farbensinn in einen vorübergehenden Taumel stürzt, die Wahrnehmung von Grün auf einmal fast völlig schwindet; sie wird verdrängt, doch sicher nicht aus Mangel an Objekten. Kann irgend etwas besser beweisen, daß das psychologische Urteil der Farbenlehre recht hat und Grün tatsächlich zwischen den Beunruhigungen der Plus- und Minusseite eine beruhigte, gesunde Mitte innehält und deshalb die Goethe gemäßeste Farbe werden mußte! Die dichterische Verwertung ist bei der ohnehin spärlichen Landschaft der Romane natürlich auch für diese Farbe nur relativ häufig. Weder der Urmeister noch die Lehrjahre haben Grün. 93

Erst im Märchen heißt es: „ I n dieser Kluft befand sich die schöne grüne Schlange" ( 1 1 8 . 227); „ihr anmuthiges Licht, das sie durch das frische Grün verbreitete", läßt Gras und Blätter „von Smaragd" scheinen (I 18. 228). Die schöne Lilie erblicken wir auf einem „eingeschlossenen grünen Platze" (118.245). Die Reise von 1797 beobachtet Grün wieder in sorgfältigen Abstufungen: „die Schatten besonders auf dem grünen Grase wundersam smaragdgrün" (134.260); „Grüne Farbe des Wassers mit dem Grünen des durchscheinenden Talkes verglichen" (I 34. 400). Aber auch rein ästhetisch wird gesehen: „die Stadt selbst liegt in einer großen grünen Masse von Gärten" (I 34, 276); „Schöner Anblick des völlig grünen . . . Landes" (I 34. 389). Derselbe feine, aber unverkennbare Ausdruck rein gestimmter, mittlerer Sinnenfreude begleitet auffallend regelmäßig auch die Motive in den W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n : „Tiefen und Höhen, Büsche und Wälder, deren erstes Grün für die Folge den füllereichsten Anblick versprach" (I 20. 3 1 ) ; „Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen und fruchtbaren Umgebungen" (120.84); „Thal, dessen anmuthig grünen baumreichen Wiesengrund" (I 20. 184). Allerdings macht hier gerade die neutrale, befriedigende, aber nicht aufregende Wirkungsweise des Grünen eine Schwächung des impressionistischen Eigenwertes der Farbe möglich, indem sie zugleich als Vorbotin der plastischen Fülle des Sommers und als symbolische Verkünderin der Fruchtbarkeit überhaupt verstanden wird. Minderungen sind auch die verbalen Formen, die das Zuständliche, Satte der Farbe mitunter ganz in Bewegung auflösen: „ K l e e . . . , der auf das schönste grünte und blühte" (I20. 200); „schon grünten die jungen Pflanzungen" (120.314); noch farbloser schon im Märchen: „aber jedes Reis, das ich breche..., grünt sogleich und schießt hoch auf" (I 18. 247f). In den W a n d e r j a h r e n , die sonst sehr im Widerspruch mit ihrem Titel alles Kolorit der Landschaft tilgen, erscheint doch Grün, selten freilich in starker Betonung. Die Bilder des Malers in Mignons Heimat zeigen Mittelgründe, in denen „der lebhaft grüne Ton" vermittelt, „Ufer, mit begrünten Hügeln umgeben", Blätterpartien mit „auf mancherlei Weise nuancirtem frischen Grün", „Weiden am Bergeshang, mit dem frischesten Grün überkleidet" (I 24. 367); man sieht zwischen Felszacken und Schneegipfeln „sonnige Flächen mit zartem Rasen sich bedecken. So schön und gründuftig und einladend" (I 24. 368). Der Dichter selbst aber versagt sich, auch nur entfernt eine ähnliche Lebhaftigkeit und Vielfalt der sinnlichen Impression auf die Landschaft seiner Romane zu übertragen. Grün versinnbildet einmal die sieg94

reiche Jugend neben dem Mann von fünfzig Jahren. Seine Liebe ist neben der Flavios wie eine Winterfichte „neben hellaufgrünender Birke" (I 24. 339). Gesättigt und zugleich abgestuft leuchtet Grün bezeichnenderweise nur auf in der frischen und leidenschaftlichen J u g e n d g e s c h i c h t e W i l h e l m s : „Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknospen" (I 25. 41). In der Novelle wird zwar noch ein „Wiesenthal, erst vor kurzem zum zweitenmale gemäht, sammetähnlich anzusehen" (I 18. 326), aber die Farbe selbst nicht mehr genannt. Weiß. Obwohl Werthers Briefe mit dem Anbruch des Frühlings einsetzen und frohlocken: „Jeder Baum, jede Hecke ist ein Straus von Blüthen" (JG 4. 221), fehlt Weiß als landschaftliche Farbe doch fast ganz. Denn auch in dem Bild: „Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend" (JG 4. 279) wagt sich die Lokalfarbe nicht recht hervor und weicht zur Lichtwahrnehmung ab. 1775, besonders aber 1779 erst wird Weiß an Mineralischem, an den Mauerquadraten der Sennhütten, an den großen Flächen der Gletscher und Schneegebirge beobachtet. Für Italien scheidet dieser Sinneseindruck fast ganz aus, da alles Winterliche nur selten am äußersten Rand des Gesichtsfeldes, sei es in der Ferne oder Höhe, auftaucht und auch im Vordergrund Z. B. als Blume von der stärkeren Überstrahlung der positiven Farben unwirksam gemacht wird. Aber auch in der mitteldeutschen Heimat scheint die Unlust des Winters selten eine Freude an seiner Weiße aufkommen zu lassen. Ein Motiv wie: „Hier ist der völlige Winter eingetreten und hat die ganze Gegend in sein weises Kleid gehüllt" (an Frau von Stein 9. 1 1 . 85) ist in den Briefen ganz vereinzelt, fehlt aber außer dem Werther der Weihnacht im Urmeister, den Winterstürmen der Wahlverwandtschaften und der nächtlichen Schlittschuhläuferszene im Mann von fünfzig Jahren. Dafür geht Weiß, was wir bisher nur etwa an Rot und Gelb beobachten konnten, eine t y p i s c h e V e r b i n d u n g mit G r ü n ein. Zum Teil erklärt sich dies aus den tatsächlich vorgefundenen Motiven (Berggipfel, Häuser, Blumen in der Landschaft). Mindestens aber mit wirksam ist hier wohl die sinnlich-seelische Parallelität der Wirkung. Bei Grün erreicht das Farbensehen eine Gleichgewichtslage und verliert den negativ oder positiv erregten, bei Weiß überhaupt jeden besondern Akzent, da auf dieser Stufe infolge der mehr oder minder vollständigen Reflexion des auffallenden Lichtes die Lichtwahrnehmung das spezifische Farbensehen ablöst. Daß Weiß auf Goethe ähnlich wirkte wie Grün, be95

weist am deutlichsten ein Bild aus der Campagne in Frankreich, das eine überaus feine, wenigstens fakultative Wahrnehmungsgabe für diese Farbe voraussetzt: „Der Mond schien hell durch die beruhigte Luft, nur ein sanfter Zug leichter Wolken war bemerklich, die ganze Umgebung sichtbar und deutlich, fast wie am Tage. Beschienen waren die schlafenden Menschen, die Pferde..., darunter viele weiße, die das Licht kräftig wiedergaben; weiße Wagenbedeckungen, selbst die zur Nachtruhe gewidmeten weißen Garben, alles verbreitete Helle und Heiterkeit über diese bedeutende Scene". (I 33. 97). Diese von dem damals lebhaft betriebenen Farbenstudium angeregte Mondlandschaft schreibt also, diesmal wohl im Gegensatz zum allgemeinen Empfinden, dem bleichen Weiß eine so günstige Wirkung zu, daß es von Grün weg schon fast zur Plusseite hinweist. 1 7 7 9 zum erstenmal werden in der Prosa die Eindrücke von Weiß und G r ü n deutlich kontrastiert: „unter uns am Ende einer schönen grünen Matte, . . . das Dorf Inden mit einer weißen Kirche" (119.267). Achtzehn Jahre später wird für dieselbe Landschaft verzeichnet: „Schöner Anblick des völlig grünen mit hohen zerstreuten Fruchtbäumen und weißen Häusern übersäten Landes, die steilen dunkeln Felsen dahinter" (I 34. 389); „die Berge hinter Realp waren völlig beschneit, unten vom grünen vorstehenden Abhang, oben vom blauen Himmel begränzt" (I 34. 397). Am eindringlichsten ist die teilweise schon zitierte Komposition in der Jugendgeschichte der Wanderjahre: „Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknospen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende Weiß der Baumblüthe" (I 25. 41). Welche Wirkung Weiß übt, sobald es sich aus der farbigen Indifferenz Zur Selbstständigkeit des Lichteindrucks erhebt, ist hier angedeutet. Es verbreitet sich „blendend", löst die Farbenwahrnehmung ab und verdrängt sie bei direktem Sonnenlicht schließlich ganz. So wird das grundierende Grün überglänzt in den Bildern der Reisebeschreibungen; 1779: „Sennhütten, meistens weiß und hell angestrichen, leuchteten gegen die Sonne" (I 19. 237); auf dem Brenner: „Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken" (8. 9. 86); im Rheinland 1 8 1 4 : „In der weitesten Ferne glänzte dann vor allen das Kloster Johannisberg, einzelne Lichtpuncte lagen dieß- und jenseits des Flusses ausgesät" (I 34. 3); „die Rochus-Capelle, als weißen Punct von der Morgensonne beleuchtet" (I 34. 13). In den beiden letzten Beispielen ist Weiß folgerichtig auch dem Namen nach aufgegeben

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und restlos in Lichtwahrnehmung überführt. — Neben der Komposition von Weiß mit Grün ist eine bereits erwähnte mit Rot oder mit Braun selten: „hübsche örter, die mit ihren dunkelbraunen hölzernen Häusern gar wunderlich unter dem Schnee hervor gucken" (I 19. 279); etwas häufiger, jedoch mit negativen Vorzeichen versehen, ist die Komposition mit Schwarz. S c h w a r z . Daß sich für Goethe mit Schwarz eine ausgesprochene E m p f i n d u n g des M i ß f a l l e n s , der Unbehaglichkeit, ja des Grauens verband, wird aus den frühesten Prosazeugnissen schon offenkundig. In der wilden Sturm- und Überschwemmungsszene im Werther ruht der gespenstische Mond sekundenlang „über der schwarzen Wolke" (JG 4. 303). In den Briefen aus der Schweiz I. wird über die Schweizer Bauart gescholten: „Pfui, wie sieht so ein Menschenwerk..., so ein schwarzes Städtchen, so ein Schindel und Steinhaufen, mitten in der großen herrlichen Natur aus!" ( 1 1 9 . 198). Auch 1779 verdirbt dem Reisenden gesättigtes lokales Schwarz die Freude am Landschaftsbild: „Sion . . . die Stadt hat ein widriges schwarzes Ansehn" ( 1 1 9 . 265); und etwas verhüllter: „Schindeln..., die durch die Jahrszeit ganz schwarz gefault und vermoos't sind" (I 19. 274). Nur wo ein wissenschaftliches Interesse einsetzt, tritt die subjektive Bewertung in den Hintergrund. Auch das Bild des Vorfrühlings, wo die große Feuchtigkeit zugleich mit dem Kontrast des schmelzenden Schnees die schwarze Farbe kräftig hervortreten läßt, war Goethe widerwärtig: ,, Jetzt ist mir's lieber daß du nicht gekommen bist. Der halbgeschmolzne Schnee zwischen den schwarzen Bergen und Feldern, giebt der Gegend ein leidig Ansehn" (an Frau von Stein 17. 3. 82). In den Wahlverwandtschaften wird eine Mühle als ein „altes schwarzes wunderliches Holzgebäude" (I 20. 81) bezeichnet. In den Landschaftsbildern des Malers am Lago Maggiore sind „die grimmige Enge dieser Felsmassen; die alles durchschneidenden schwarzen Schluchten" (I 24. 355) kräftig charakterisiert. Leonardos Tagebuchbericht im Schluß der Wanderjahre wiederholt die unwirsche Kritik der alpenländischen Bauart: „die großen schwarzen Schindeln der Dächer mit Steinen beschwert, damit sie der Wind nicht wegführe" (I 25. 110). Aber sonst erscheint Schwarz im Bild der Landschaft nicht. Auch die Reisebeschreibungen setzen bedeutsamerweise nie ein „schön" oder eine ähnliche Steigerung vor diese Farbe, was doch die meisten einmal als Ausdruck des besonderen ästhetischen Wohlgefallens begleitete. Auch hier war Für Goethes Farbendarstellung, wohl sogar für ihre Wahrnehmung, der symbolische Gehalt unbewußt maßgebend. Schwarz bedeutet Nacht, Bußernst und Tod. Im Physiognomischen verwendet der 7

Beiti.

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Dichter diese Farbe ganz in diesem Sinn. Pilger, Büßer tragen sie auf dem Gewand und die „schwarzen Männer", die Lottes Geschwistern im Werther die Mama weggetragen haben. G r a u ist die Verdünnung von Schwarz, die dem Verhältnis von Lila zu Rotblau entspricht. Es trägt denselben Ton des Mißbehagens und der Trauer: „der Tag ist grau aber schön!" (an Frau vonStein 12—17.7.77) .Stark hervor tritt die Wahrnehmung von grau erst 1779, gefordert durch den ernsten, von Nebel und Wolke verdüsterten Anblick des sonnenlosen Hochgebirgs: „Die T i e f e n . . . liegen grau und endlos in Nebel hinter einem" (I 19. 290); „wogige graue Wolken" (119.249) usw. In der Farbenskala der Schatten erscheint abgestuftes Grau: „nach und nach wurden jene (die nächsten Bergseiten) weiß, grün, graulich. Es sah fast ängstlich aus" ( 1 1 9 . 2 3 9 ) oder an nächtlichem Wasser: „Graulich und mit stillem Rauschen sah man den herabschießenden Strom" (I 19. 262). In Italien wird Grau weiter nuanciert an Mineralischem: „dunkelgrauen Glimmerschiefer" (8. 9. 86) und selten an Landschaftlichem: „von dickem aschgrauem Staube die von Natur immergrünen Blätter überdeckt" (6. 3. 87). Es darf wohl mit dem symbolischen Gehalt der grauen Farbe in Zusammenhang gebracht werden, daß im farbenarmen Werther doch grau zweimal erscheint: „in weisgrauen, dumpfigen Wölkchen rings am Horizonte" (JG 4.232) zieht sich ein Gewitter zusammen und nachdem die unfrohe Landschaft des „wandelnden grauen Barden" Ossians von Werthers Herzen Besitz genommen hat, wird die Szene des liebeswahnsinnigen Schreibers eingeleitet mit schwermütigem Grau: „die grauen Nebelwolken zogen das Thal hinein" (JG4.298). Aus der Nacht, die Wilhelm im Urmeister zur Entdeckung des Nebenbuhlers geführt hat, weckt den Hoffnungslosen „des Morgens Lichtgrau" ( 1 5 1 . 9 3 ) . Der Kontrast des trüben Grau mit dem farbigen Regenbogen ergibt ein bezeichnendes Gleichnis im siebten Buch der Lehrjahre: „auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. . . Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mitWehmuth an. Ach! sagte er zu sich selbst, erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde?" (I 23. 3.). Grau wird also hier fast die Negation der Farbe überhaupt, wie sich schon im Werther und Urmeister („weisgrauen", „Lichtgrau") in der Annäherung an reine Lichtwahrnehmung die eigentliche Farbenfeindlichkeit des Grau verrät. B r a u n ist in Goethes Prosalandschaft noch seltener als grau. Es wird in der Mineralogie und in der Gemäldebetrachtung gefunden; in Sizilien auch ästhetischerweise mit dem charakteristischen Adjektiv „schönes": „Dazwischenweidet schönes rothbrau98

nes Vieh" (21.4. 87). Sobald das sachliche Interesse oder das südliche Licht fehlt, scheint diese Farbe für Goethe an der Wirkung von Schwarz und Grau teil zu haben. In jenem Gleichnis im Mann von fünfzig Jahren sieht eine Fichte im Frühling „verbräunt und mißfärbig aus, neben hellaufgrünender Birke"(l24.339). Inden mehreren Herbstlandschaften der Romane, besonders der Wahlverwandtschaften und der Novelle, ist Braun nie gesehen- Nur im Physiognomischen ist Braun wie auch Schwarz als Farbe der Augen und Haare oft genug genannt, ja, eine Novellengestalt, das „nußbraune Mädchen", hat seinen Scherznamen „durch ihre bräunliche Gesichtsfarbe" (124.199). Goethes geringe Augenempfindlichkeit für Grau und Braun in der Landschaft fällt umso mehr auf, als gerade diese Töne mit Tusche und Sepia in den Handzeichnungen mit Vorliebe und häufig angewandt sind. Oder geht daraus wieder hervor, daß selbst manches in den Handzeichnungen, das wir als farbig ansprechen möchten, für Goethe selbst lediglich den Wert der Differenzierung von Schatten und Licht, der „Illumination" besaß ? Das B u n t e . Das Wort „bunt" umfaßt im deutschen Sprachgebrauch zwei Begriffe: einmal den der Zusammenfassung der Farben überhaupt, des Mehrfarbigen im Gegensatz zum Einfarbigen oder Farblosen, und zweitens den eines in Kontrast oderZusammmenwirkung sehr gesteigerten Farbenphänomens. Aus letzterem Begriff entsteht die Redensart „das wird mir zu bunt" oder die Möglichkeit, „das mancherlei frische Grün" als „gar zu bunt" (124. 357) zu bezeichnen. Nur bei dieser Unterscheidung löst sich der Widerspruch, daß Goethe das Bunte zugleich mied und suchte. Weder der Werther noch die erste und zweite Schweizerreise bezeugen die Wahrnehmung des Bunten; ebensowenig die Briefe an Frau von Stein. Es stimmt zu den früheren Beobachtungen, daß die allgemeine Erhöhung der Sinnlichkeit in I t a l i e n und zwar in Sizilien die Reizschwelle auch für dieses Phänomen erweitert. Schon am 19.4.87. bei Alcamo, wo „wildes Gebüsch und Staudenmassen, wie unsinnig, von Blüthen glänzt" wird eine wahre Farbenorgie aufgezeichnet. Doch werden hier noch die einzelnen Farben gegeben. Zwei Tage später, bei Castel Vetrano, hat sich die Farbenwahrnehmung an den Objekten schon so erhöht, daß über den einzelnen Farbtönen der zusammenfassende und (wie schon aus dem Wortstil deutlich wird: „Blumenmassen", „unübersehbar". Vgl. oben: „Staudenmassen", „unsinnig"!) zugleich steigernde Begriff des Bunten hervortritt: „was aber Lust und Verwunderung erregte, waren unübersehbare Blumenmassen, die sich auf dem überbreiten Weg angesiedelt hatten und in großen, bunten, 7*

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aneinanderstoßenden Flächen sich absonderten und wiederholten . . . Und durch diesen bunten Teppich wand man sich reitend hindurch" (21.4.87). Dieser Tag bezeichnet den absoluten Höhepunkt in G o e t h e s F a r b e n s e h e n . Satter und eigenwertiger kann Farbiges nicht erfaßt werden, als in diesen Ausdrücken niedergelegt ist. Sonst überwiegen im Roman und auch in der Lyrik physiognomische, atmosphärische und Glanzfarben, hier ist ganz das Lokale, Ruhende, Plastische betont. In den „großen, bunten, aneinanderstoßenden Flächen" verrät sich ein Augenspiel mit reinen Farbplatten wie auf einem Bild von Kokoschka oder SchmidtRotluff. Wie erstmalig und bewußt hier Goethe das Phänomen des Bunten inne wird, geht daraus hervor, daß nun in kurzen Abständen die Aufmerksamkeit zu diesem Punkt zurückkehrt, immer nachdrücklicher von der bloßen Beobachtung zur wissenschaftlichen Erörterung drängend. Auch dieser umgekehrte Weg ist ein Beweis für die enge Wechselwirkung zwischen ästhetisch genießender und wissenschaftlich exakter Sinneswahrnehmung. Bei Castel Vetrano wurde das Phänomen nur genannt. Zehn Tage später erblickt der Reisende im Bunten eine allgemeine Tendenz der Natur: „Wie die Natur das Bunte liebt, läßt sie hier sehen, wo sie sich an der schwarz-grau-blauen Lava erlustigt: hochgelbes Moos überzieht sie, ein schön rothesSedumwächs't üppig darauf, andere schöne violette Blumen" (1. 5.87. nach Catania). Und einen knappen Monat später erraten wir aus der Bemerkung: „unter einem recht heitern und blauen Himmel ist eigentlich nichts bunt, denn nichts vermag den Glanz der Sonne und ihren Widerschein im Meer zu überstrahlen" (29. 5. 87), daß in der Zwischenzeit die Überlegungen des beginnenden Farbenforschers auf die Frage nach der psychologischen Wirkung übergegangen sind. Er sucht verwundert eine Erklärung für seine Freude, da er gewohnt ist, daß Buntes leicht mißfällt. Hier hat die Erkenntnis ihre Wurzel, die in der Farbenlehre wieder verwertet ist: im südlichen Europa sind „die Frauen mit ihren lebhaftesten Miedern und Bändern immer mit der Gegend in Harmonie, indem sie nicht im Stande sind, den Glanz des Himmels und der Erde zu überscheinen" (II 1. 332). Es ist sehr bemerkenswert, wie sich mit dem Verlassen der südlichen Insel auch die F a r b e n s k e p s i s der „nordischen" Sinnlichkeit des mitteldeutschen Dichters wieder durchsetzt. Derselbe Mensch, der im sizilianischen Frühling alle Dinge mit kräftig zufassendem Realismus sah und notierte, kommt im Herbst desselben Jahres zu dem harten Spruch, daß die Landschaft „bei heitern Tagen besonders des Herbstes, so farbig ist, daß sie in 100

jeder Nachbildung bunt scheinen muß" (24. 9. 87.). Wie tiefen Aufschluß gibt hier eine stilistische Kleinigkeit! In Sizilien war „bunt,, das Schöne, Erfreuende. Nun tritt es auf einmal mit dem im deutschen Sprachgebrauch nicht zufällig so häufigen negativen Vorzeichen auf und in Gegensatz zu „farbig"; „bunt" ist jetzt das Übertriebene, Häßliche, zu Bunte. Die entspannten Sinne üben wieder den Brauch der deutschen Maler jener Zeit, die Goethe doch selbst in der Farbenlehre tadelt, denn sie sind „ohne Muth, weil man sich vor dem Bunten fürchtet" (II 1. 350) und „Unsicherheit ist Ursache, daß man die Farben der Gemähide so sehr gebrochen hat, daß man aus dem Grauen heraus, und in das Graue hinein mahlt" (II 1. 349). Die Landschaft der Lehrjahre, der Unterhaltungen, aber auch die Reise 1797 bezeugen keine spezifische Wahrnehmung des Bunten als Steigerung der individuellen Farbe. Umso auffallender ist es, daß in den Wahlverwandtschaften verhältnismäßig oft diese Zusammenfassung genannt wird. Aber eben hier wird die oben gemachte Unterscheidung wichtig. Nicht der Sinn der Steigerung, sondern der Z u s a m m e n f a s s u n g der E i n z e l f a r b e wird in diesem Roman festgehalten. In den Wahlverwandtschaften hat sich, wie wir später sehen werden, der verallgemeinernde, typisierende Stil der Landschaftsdarstellung vollkommen durchgesetzt. Die Typisierung der Farbe ist das Farbige oder das Bunte. So heißt es: „die bunteste in Prachtgefäßen schön vertheilte Blumenfülle" (I20. 118); „bunt flatterten die Bänderund Tücher in der Luft" (120.156); rings um die Kapelle sieht man „statt der holprigen Grabstätten einen schönen bunten Teppich" (I 20. 201) aufgeblühten Klees; durch die Fenster fällt ein „ernstes buntes Licht herein" (120.220). In welche Richtung diese nur mehr scheinbare Farbenwahrnehmung weist, ergibt sich aus den stilgerechten Substitutionen durch noch stärkere Abstrahierungen: „Gärten lieferten die schönsten Muster" (I 20. 219); „mit verschiedenen Arten Klee besäet" (I 20. 200); „Astern besonders, waren in der größten Mannichfaltigkeit gesäet" (I 20. 308). Ganz ähnlich kann auch in der Novelle das eben noch sinnliche Bild: „die wenig entblätterten, buntbelaubten Bäume" (I 18. 347) ein anderesmal in der Form erscheinen: „die herbstliche Färbung jener mannichfaltigen Baumarten" (I 18. 317), die mit „mannichfaltigen" das begriffliche Skelett des Bunten alles blühenden Fleisches entkleidet. Als wirklich sinnliche Intensivierung der Einzelfarbe ist dagegen das Bunte in der leidenschaftlichen Ausdruckslandschaft der Jugenderzählung Wilhelms in den Wanderjahren gedacht: „Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den 101

Zweigen" (I 25. 44). Gleiche Bedeutung hat wohl ein Motiv aus der Josephslegende: „mitten in diesen unfruchtbaren Mooswäldern, wo die farbigen glänzenden Früchte noch einmal so schön erschienen" (I 24. 14). Doch drängt sich einem alsbald die Vermutung auf, daß hier die Anschauung von Werken der bildenden Kunst hereinspielt, wo so häufig in starkem Kolorit leuchtende Blumen und Früchte mit schwarzgrünem Waldesboden kontrastiert werden. Das liegt besonders nahe für den kleinen Zyklus dieser legendenhaften Erzählungen, die auch sonst in szenischen Motiven eine engere Verwandtschaft mit dem Themenkreis der mittelalterlichen und der zum Teil dort wurzelnden Malerei der Nazarener aufweisen. Im ganzen liegt demnach die ohnehin nicht beträchtliche Bedeutung des Bunten für Goethes Prosalandschaft im Begriff der Typisierung, weniger in dem einer Intensivierung der Einzelfarbe.

Physiognomische Farben. Daß von einer starken Farbigkeit der Prosalandschaft nicht gesprochen werden kann, ist unterdessen deutlich geworden. Aber damit diese isolierte Tatsache ihre feste Stelle und ihr rechtes Maß erhalte, ist es unerläßlich, über das Landschaftliche hinaus auf die Farbengebung im Roman überhaupt einzugehen. Es scheint mir umso wichtiger, als ich nirgends eine Unterscheidung der landschaftlichen von der physiognomischen Farbengebung (an menschlicher Gestalt, Kleidung, menschenverbundenen Gegenständen und Räumen) vorgefunden habe. Besonders auch in der Untersuchung von Franck über die Farbe in Goethes Dichtung wird die gerade für diese Arbeit fundamentale Frage nicht aufgeworfen, ob die Farbengebung für verschiedene Objekte, für Landschaft und Menschen, auch unter verschiedenen Gesetzen stehen und deshalb auf keine Weise in einer alles zusammenschüttenden mechanischen Statistik zu erfassen sein möchte. Auch ein flüchtiger Blick in irgendeinen der Prosaromane macht dieses klar: die Farbe, mit der im Landschaftlichen so gespart wird, ordnet sich der physiognomischen Beschreibung lebhaft, häufig und in feinen Differenzierungen ein. Schon im Werther, wo die reiche Landschaft fast ohne Farbe bleibt, haben „schwarze Männer" Lottes Mutter weggetragen, ist eine „blaßrothe Schleife" Liebeszeichen, trägt der wahnsinnige Schreiber seinen „grünen Rock", Werther selbst die berühmte Tracht, „blauen Frack" und „gelbe Weste", Lotte ein „weißes Kleid", wird vom „grauen wandelnden Barden "gesprochen. Dagegen bleibt das Physiog102

nomische im engeren Sinn, die Beschreibung des menschlichen Gesichtes, der Hauptsache nach — Lottes „schwarze Augen" werden zwar genannt — noch im Linearen und ohne Farbe. Doch wird sie häufig und ungezwungen schon wenige Jahre später im U r m e i s t e r gegeben. Der Graf wird so geschildert: „große, helle blaue Augen leuchteten unter einer hohen Stirne hervor . . . seine bräunlichen Haare" (I 52. 118). In der Umarbeitung in die Lehrjahre sind die Farben in „hellblaue" und „blonden" gewandelt. Wir beachten ein Doppeltes: eine Farbe wird der Lichtwahrnehmung angenähert („helle", „leuchteten"), die andere gehört zu den im Landschaftlichen überhaupt nicht verwendeten Farbenarten. Besonders reich ist die Physiognomie des Kindes Felix. Philine vergleicht es „an Schönheit der Sonne"; seine „offnen blauen Augen... schönsten goldnen Locken; auf blendend weißer Stirne zeichneten sich dunkele, leis bogige Augenbrauen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glänzte auf seinen Wangen" (I 52. 386). Auch hier wird zur Lichtwahrnehmung übergegangen („goldnen", „blendend", „glänzte" und zugleich die Verbindung des Farbigen mit dem Linearen gesucht („zeichneten sich", „leis bogige"). Dieselben Beobachtungen wiederholen sich an den folgenden, aus einer immer größeren Zahl physiognomischer Beschreibungen ausgewählten Beispielen. Das Porträt des Harfners: „Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue Augen blickten sanft unter langen weißen Augenbrauen hervor. An eine wohlgebildete Nase schloß sich ein langer weißer Bart an, ohne die gefälligen Lippen zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand umhüllte den schlanken Körper" (I 21. 203) erinnert uns unwillkürlich an die breite, exakte Darstellungsweise in Goethes Beiträgen zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten. Auch die Symbolik des Kleides sehen wir benutzt wie im Werther. Das liebenswürdige Dirnchen Philine hat „eine schwarze Mantille über ein weißes Negligé geworfen" (I 21. 145). Wir denken an das oben über die psychologische Wirkung des Blau Gesagte, wenn Wilhelm so vorgeführt wird: „ E r hatte sich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewöhnt, und nur etwa ein himmelblaues Futter belebte . . . einigermaßen jene stille Kleidung" (I21.185).Ein so gefärbtes Gewand will auch Mignon tragen, die zuerst ohne bestimmte Farbe des Kleides, nur im schwarzen Schmuck des Haars erscheint: „Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider . . .standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden" (I 2 1 . 142). Wo die Lehrjahre nicht mehr Umarbeitung, sondern Fortsetzung sind, 103

gestaltet sich die physiognomische Farbengebung eher noch reicher. Mignon wird jetzt in den wohltätigen Kreis der Gesellschaft um den Turm aufgenommen und erscheint „im langen weißen Frauengewande, theils mit lockigen, theils aufgebundenen, reichen, braunen Haaren" (I 23. 174). Bei den Exequien der Toten ist der Saal der Vergangenheit mit den ins Kindliche zurückgetönten Farben der Entfernung, der Sehnsucht geschmückt. „Mit himmelblauen Teppichen" ist der Marmor verhüllt, „vier Knaben, himmelblau mit Silber gekleidet" ( 1 2 3 . 253) begleiten sie. Die Leiche des Mädchens trägt eine „goldene Binde" (I 23. 254) ums Haupt geschlungen. Neben der menschlichen Gestalt erhalten auch bedeutungsvolle Gegenstände symbolische Farben; so die Halle des Oheims, der Saal der Vergangenheit: „Die architektonischen Glieder waren mit dem schönen gelben Marmor, der in's Röthliche hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen von einer glücklichen chemischen Composition ahmten den Lasurstein nach" (123.198). Ein Band, das der Wundarzt an der Tasche trägt, wird eindringlicher als irgend ein Naturmotiv in den Lehrjahren geschildert: „Lebhafte widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren, zeichneten dieses Band vor allen Bändern der Welt aus" (I 2 3 . 1 5 ) . In dem landschaftlich farbenarmen Fragment in den Unterhaltungen finden wir auf dem engen Raum von sechs Zeilen folgende physiognomische Farben: „violettseidene Strümpfe . . . silbernen Schnallen . . . ganz in schwarze Seide . . . mit einem violett- und goldnen Bande" (I 18. 371). Im Märchen wird die erste Erscheinung des gepanzerten Jünglings mit Glanz und Farbe reich ausgestattet: „Seine Brust war mit einem glänzenden Harnisch bedeckt, durch den alle Theile seines schönen Leibes sich durchbewegten. Um seine Schultern hing ein Purpurmantel, um sein unbedecktes Haupt wallten braune Haare in schönen Locken; sein holdes Gesicht war den Strahlen der Sonne ausgesetzt, so wie seine schön gebauten Füße. Mit nackten Sohlen ging er gelassen über den heißen Sand hin" (I 18. 241 f). Am Mops, der in einen Onyx verwandelt wird, macht noch so die „Abwechselung der braunen und schwarzen Farbe" (I 18. 238) Eindruck, die schöne Lilie sitzt auf einem „elfenbeinernen Feldstuhl" und trägt einen „feuerfarbigen Schleier" (I 18. 254), also gleich dem Marmor in Oheims Halle die im Landschaftlichen streng vermiedene Farbe Rotgelb. In den Wahlverwandtschaften ist die freie Natur nie von blauem Himmel überwölbt, aber in der Kapelle, die Eduard und Ottilie schließlich vereint, ist ein „azurne Himmel" (120. 218) gemalt — 104

wie sehr kontrastiert diese intensive Lokalfarbe gegen das schwache Trübungsblau im Bild der fernen Berge! — und es leuchten „Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewänder auf dem blauen Himmelsgrunde" (120. 216). Die Exequien der schuldlosen Mignon begleitete Himmelsblau. Wie zart ist die Symbolik der physiognomischen Farbe, wenn die Särge der leidenschaftlich Liebenden auch Blau, aber im tieferen Ton des Azur, überleuchtet. Ein wirksamer Gegensatz entsteht, wenn Charlotte „die grünseidne Decke" (120.365) aufhebt, die den bleichen Leichnam des ertrunkenen Kindes bedeckt. Auch für die Wanderjahre genügen wenige Beispiele, den auffallenden Reichtum der physiognomischen im Gegensatz zur landschaftlichen Farbengebung deutlich zu machen. In der Josephslegende erscheinen „Zwei Knaben, schön wie der Tag, in farbigen Jäckchen . . . Um des Ältesten Haupt bewegten sich reiche blonde Locken . . . dann zogen seine klar-blauen Augen den Blick an sich . . . Der zweite . . . war mit braunen und schlichten Haaren geziert . . . wovon der Widerschein sich in seinen Augen zu spiegeln schien" (124.4f); dann Joseph selbst: „Ein derber, tüchtiger, nicht allzugroßer junger Mann, leicht geschürzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren" (124. 5) und seine Frau: „Ein sanftes liebenswürdiges Weib . . . in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind" (124. 5) und es schimmert „unter dem blauen Mantel ein röthliches zartgefärbtes Unterkleid" (I 24. 7). In der Erzählung wird Joseph die anmutige Macht wieder lebendig, die sie übte mit ihrem ,, tiefwünschenden Blick unter ihren langen schwarzen Augenwimpern hervor" (I 24. 29). In der pilgernden Thörin wird eine halbe Seite auf die Physiognomie des im Grünen ruhenden Mädchens verwendet und auf Schuhe, Strümpfe, Kleid, Weißzeug und Spitzen eingegangen; schließlich öffnet sie „zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau, durchsichtig und glänzend" (I 24. 75). Ihr Gesicht ist „von einem grünen Halblichte verschönert" (I 24. 77). Wo wäre in der Prosalandschaft einem einzelnen Naturmotiv eine halbe Seite gewidmet und etwa der Aufgang der Sonne so intensiv und liebevoll untermalt und vorbereitet wie hier das langsame Aufschlagen zweier blauen Mädchenaugen? Die rechte Landschaft und liebe Heimat Goethes war doch der Mensch im wechselnden Ausdruck von Schmerz und Freude! Welche Naturbilder Makariens Wohnung umgeben, bekommen wir kaum zu sehen, aber ihr persönliches Auftreten begleitet Farbe im starken Bündnis mit der Wahrnehmung von Glanz und Licht: „Der grüne Vorhang ging auf; Makariens Sessel bewegte sich h e r v o r . . . ; er glänzte golden, ihre 105

Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war im Begriff mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah man zuletzt, zwischen sich theilendem Gewölk, einen Stern blinken" (I 24. 185). Da sehen wir den seltsamen Fall eintreten, daß im Streben nach eindringlicher Herausbildung des Physiognomischen sich aus diesem sekundär Landschaftliches entwickelt. Daß der Dichter inzwischen die Farbenlehre abgeschlossen hat, erkennen wir, wenn die sonst stumm begleitende Symbolik der Farbe des Kleides zum bewußt angewandten Erziehungsmittel wird. Wilhelm bemerkt in der pädagogischen Provinz, „daß in Schnitt und Farbe der Kleider eine Mannichfaltigkeit obwaltete" (124.232). Dann berichten die Leiter der Provinz über das Kostüm der Zöglinge: „durch helle Farben und kurzen knappen Schnitt locken wir die Muntern, durch ernste Schattirungen, bequeme faltenreiche Tracht die Besonnenen" (I 24. 258). — Diese wenigen Beispiele müssen genügen, da es uns nur darauf ankommt, die Farbengebung im Landschaftlichen ins rechte Licht zu setzen, im übrigen es aber bei einer Anregung zu eingehender Untersuchung der Darstellungsgesetze des Physiognomischen im engeren und weiteren Sinn in Goethes Roman bewenden zu lassen. Wo liegen die G r ü n d e für diesen tiefgehenden, schon mit dieser Skizze außer Zweifel gestellten Unterschied zwischen landschaftlicher und physiognomischer Farbengebung? Den allgemeinsten Grund erblicken wir natürlich in dem, was aus dem zweiten Teil dieser Arbeit hervorgeht und was wir bei der Betrachtung der Prosalandschaft von jeder Seite her gegenwärtig halten müssen: in der Tendenz des Dichters, Menschen darzustellen und Landschaft nur um der Menschen willen. Denn wo der Hauptton doch auf Landschaftliches fällt, wie in den Reisebeschreibungen, tritt auch die Physiognomik in den Hintergrund. Sie setzt sich durch, sobald den Reisenden menschliche Bezüge interessieren. So sieht Goethe auf der Rheinreise 1814 beim Erscheinen der Wallfahrtsprozession fast unvermittelt zahlreiche physiognomische Farben: „rosenfarbenen . . . Schleifen . . . Goldstoff... Rochus, in schwarzsammtnem Pilgerkleide . . . goldverbrämtem Königsmantel . . . Knaben . . . schwarzen Pilgerkutten . . . rothseidener Baldachin" (I 34. 20 f). Jene poetische Tendenz könnte sich aber nicht so rein durchsetzen, wenn ihr nicht eine besondere Gabe, neben der inneren psychologischen, auch der äußeren physiognomischen Zeichnung auf halbem Wege entgegen käme. Hier liegt ein entscheidender 106

Punkt. Wir sahen, daß sich Goethe für das landschaftliche Farbensehen eine spontan hervortretende originale Begabung absprach, und unsere Untersuchung bestätigte diese Selbstkritik. In hohem Maß und ganz in der Bedeutung eines „ a n g e b o r n e n S i n n s " müssen wir eine solche Begabung dagegen annehmen für die K u n s t der P h y s i o g n o m i k . Schon in frühen Briefen übt Goethe dieses Talent der Porträtierung, unter den „Juvenilia" der Handzeichnungen finden sich Silhouetten und Profilzeichnungen, mit 25 Jahren war Goethe der produktivste und glücklichste Mitarbeiter an Lavaters Pyhsiognomischen Fragmenten. Werther, arm an Wahrnehmung des Charakteristischen landschaftlicher Linie und Farbe, weist eine Fülle genauer, zum Teil satirisch geschärfter Schattenrisse und Porträts auf, z. B . : „rasche wohlgewachsene Brünette", „die schwarzen Augen . . . die lebendigen Lippen und die frischen munteren Wangen", „die übergnädige Dame von S. . . . mit ihrem Herrn Gemahle und wohlausgebrütetem Gänslein Tochter, mit der flachen Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre hergebrachten hochadeligen Augen und Naslöcher"; jemand ist von „gar glücklicher Gesichtsbildung", „von der glücklichsten Gesichtsbildung". Werther bemerkt von einer Tante: „die Physiognomie der Alten gefiel mir nicht". Besonders bezeichnend ist, daß die exakte Beobachtung des Physiognomischen sogar schon sekundär Stoff eines Vergleichs wird: „die Empfindungs- und Handlungsweisen schattiren sich so mannigfaltig, als Abfälle zwischen einer Habichtsund Stumpfnase sind". Werther zeichnet viel und versucht sich wiederholt an Lottes Porträt. Alle folgenden Romane verfeinern und präzisieren diese Kunst der Personenzeichnung, z. B. in Mignons Bild: „Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend ; ihreStirne geheimnißvoll, ihre Nase außerordentlich schön'' (I 2 1 . 154). Mignons Tanz wird so charakterisiert: „Behende, leicht, rasch, genau führte sie den Tanz • • • Streng, scharf, trokken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm, zeigte sie sich" (I 2 1 . 182 f). Die Beschreibung Werners in den Lehrjahren ist wie ein Ausschnitt aus Lavaters Fragmenten: „ E r war viel magerer, als ehemals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu sein, seine Stirn und sein Scheitel waren von Haaren entblößt, seine Stimme hell, heftig und schreiend, und seine eingedrückte Brust, seine vorfallenden Schultern, seine farblosen Wangen" (I 23. 132). In der landschaftlichen Farbenwahrnehmung beobachteten wir eine allmähliche Entwicklung von etwas Erlernbarem, Ausgebildetem, dessen lebendige Gegenwart sich jedoch nur bei den wenigsten Formungen von Naturmotiven 107

aufdrängte, in der großen Zahl und vollendeten Virtuosität der physiognomischen Porträts handelt es sich um die bloße Auswicklung und Übung einer ausgesprochenen Naturanlage. Daß die Menschendarstellung, abgesehen vom Linearen, auch gerade im Kolorit einen so erheblichen Vorsprung vor der Landschaftsdarstellung gewinnt, erklärt sich ferner aus einem Grund, der weiter zurück steht, aber vielleicht eben deshalb umso entschiedener seine Wirkung im Unbewußten übt. Wir entnehmen den wertvollen Fingerzeig Goethes wissenschaftlicher Tätigkeit. In dem Versuch über die Mahlerei, den Goethe 1804 kommentierend, ähnlich der Bearbeitung der Newtonschen Sätze im polemischen Teil der Farbenlehre, übersetzte, aber schon früher kannte, stellt Diderot den Satz auf, daß unter allen Farben der des menschlichen Körpers, dem I n k a r n a t , die höchste S t e l l e zukomme. Dazu bemerkt Goethe: „Diderot stellt sich mit Recht hier auf den Gipfel der Farben, den wir an Körpern erblicken" und fügt als Begründung hinzu: „das höchste organisierte Wesen ist der Mensch"; es gibt „Menschenracen..., deren Haut, als die Oberfläche der vollkommenen Organisation, die schönste Farbenharmonie zeigt, über die unsere Begriffe nicht hinausgehen" (I 45. 296). Also nicht nur ist der Mensch als Seelenwesen der Mittelpunkt aller Kunst, sondern auch als sinnliche Erscheinung übertrifft er die Welt der Tiere, Pflanzen und Sachen. Die physiognomischen Farben sind also für Goethe nicht das entsprechende Gegenstück zu den landschaftlichen, sondern andere und zwar höhere. Von hier aus wird wohl deutlich genug, inwiefern jeder Versuch statistischer Erfassung ästhetischer Phänomene zur Unvollkommenheit verurteilt ist. Statistik ist ein mathematisches Verfahren und vermag deshalb nur dort zu dienen, wo die Kenntnis der Quantitäten zum Urteil genügt und auf Qualitäten verzichtet werden kann. Diese Überlegung allein müßte genügen, um mechanisierende, prozentmäßige Untersuchungen in der Art der Dissertation von Franck aus der Gießener Schule in der Ästhetik der Dichtkunst nicht einbürgern zu lassen. Ein kurzer Rückblick auf die oben angeführten Beispiele zeigt, daß die physiognomische Farbe mit einer ganz anderen Sinnlichkeit gesehen wird, als die landschaftliche. Schwarz, Braun und Grau haben ihren negativen Nebensinn verloren, manche Farbe wird erst hier zugelassen wie Rotgelb oder neu gefunden wie Blond, andere werden fast verdrängt wie Gelb, Grün, Rot. Neben den Hauptgründen können noch manche geringere die bevorzugte Darstellung der physiognomischen Farbe mit erklären: die im Vergleich zum Landschaftlichen reichere und differen108

ziertere literarische und besonders in jener Zeit der Porträtliebhaberei auch bildnerische Tradition, die Möglichkeit einer direkten, den Umweg über das Naturbild erübrigenden Farbensymbolik und endlich die mehrfach angedeutete, fast durchwegs zu beobachtende Nähe der Lichtwahrnehmung, in die das Kolorit leicht und mitunter restlos übergehen kann, z. B . : „die Augen, die von verhaltenen Thränen blinkten" (121,227), „Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte" (I 2 1 . 229), „er sah ihr in's Auge, es war klar wie Krystall" (I 23. 40). 2. L I C H T . Schon in der Untersuchung, die allein der Wahrnehmung und Darstellung des Farbigen gewidmet war, mußten wir wiederholt ein unwillkürlich hervortretendes Übergewicht der spezifischen Lichtwahrnehmung anmerken. Jn der Dissertation von Franck drängt sich die Beobachtung der häufigen Übergänge von Farbe zu Glanz und Licht gleichfalls auf und wird überhaupt selten übersehen, wo den Wirkungsgesetzen der Sinneswahrnehmung Goethes für sich oder (wie bei Kutscher) in Verbindung mit anderen ästhetischen Fragen Aufmerksamkeit zugewendet wird. Für den physikalischen Betrachter freilich kehrt sich der Vorgang um, und ist das Licht das Primäre. Goethe sagt in der Einleitung der Farbenlehre: „Die Farben sind Thaten des Lichts, Thaten und Leiden" (II 1. IX). Da uns aber nicht kausale, sondern ästhetische, nicht objektive Existenz-, sondern subjektive Wahrnehmungszusammenhänge interessieren und diese bei Goethe immer in der Richtung von der Farben- zur Lichtwahrnehmung, selten umgekehrt weisen — sofern das Sehen nicht im einen oder anderen überhaupt verharrt — erscheint unsere Einteilung wohlbegründet. Im vorausgehenden schloß schon Negation und Einschränkung manches Positive und Vorbereitende für dieses Kapitel ein, so daß wir uns hier in der allgemeinen Einleitung kürzer fassen können. Da sich Goethe über sein Farbensehen an anderer Stelle deutlich genug ausgesprochen hat, liegt es nahe, den Satz aus Dichtung und Wahrheit: „Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte" (I 27. 16) ganz besonders auf die Wahrnehmung von Lichtphänomenen zu deuten, soweit unter dem Begriff „die Welt fassen" überhaupt sinnliches Sehen verstanden wird. Das Entscheidende aber ist, daß wir von einer Suche nach historisch theoretisierenden Selbstzeugnissen über die Entwicklungsstufen und Anwendungsweise einer besonderen Lichtwahrnehmung bald resultatlos zurückkehren. An dieser Stelle überrascht uns wieder 109

der wunderbare Anblick des Gesetzmäßigen und Organischen im Lebensaufbau Goethes, Was er in der Fülle eines „ a n g e b o r n e n S i n n s " besaß und von Anfang an praktisch betätigte wie das physiognomische Sehen und die Lichtwahrnehmung, erscheint nicht im Kreis der wissenschaftlichen Natur- und Selbsterforschung. Wo dagegen ein Mangel originalen Talents merkbar ist wie im Farbensehen, wird durch hartnäckige und fruchtbare Forschung ein kompensierender Ausgleich geschaffen. Wie bedeutsam erscheint es in diesem Zusammenhang, daß sich Goethe historisch vergleichend in den Paralipomenen zur Geschichte der Landschaftsmalerei, biographisch z. B. in dem großen Aufsatz über Philipp Hackert, technisch und psychologisch in der Farbenlehre, allgemein künstlerisch aber in zahlreichen Schriften mit der Malerei auseinandersetzte, da er doch selbst kein Maler war. Dagegen treten die Probleme der Graphik entschieden in den Hintergrund, denn als Zeichner war er selbst oft glücklich und bis ins hohe Alter ausübend. Als wichtiger Vorausblick sei hier eingeschaltet, daß Goethe im Anschluß an die Farbenlehre auch eine Tonlehre geplant und in den allerersten Grundzügen festgehalten hat. Wir werden sehen, daß auch dort theoretische Betätigung aus dem Vermissen praktischer Begabung entspringt. Das F a r b e n s e h e n fanden wir in den Skizzen zum naturwissenschaftlichen Entwicklungsgang schon für die frühe Zeit mit theoretisierenden Versuchen in Verbindung gebracht. Dagegen fehlten fast alle Spuren einer praktisch dichterischen Ausübung in der Prosa des Werther. Erst in der Reise 1779 stießen wir auf sie und zwar als Folge der „wachsenden Objectivität" des jungen Naturforschers. Für die L i c h t w a h r nehmung ist das V e r h ä l t nis genau umgekehrt. In jener Skizze wird sie nicht erwähnt. Dafür ist die Landschaft Werthers verhältnismäßig reich an Lichtmotiven. Besonders aber in Dichtung und Wahrheit sind schon für die Frankfurter und Straßburger Zeit eine Anzahl Lichtbilder überliefert, die zweifelsfrei historisch und dann vor allem so umfassend, zugleich differenziert und intensiv sind, daß sie geradezu als sinnliche Erlebnisse bezeichnet werden müssen und jeden Vergleich mit der gelegentlichen blassen und dazu noch anachronistischen Farbengebung ausschließen. In der außerordentlichen Gedächtnistreue, mit der diese Phänomene zum Teil gezeichnet sind, erblicken wir ein weiteres charakteristisches Merkmal des „angebornen Sinnes". Umfang, Intensität und Schärfe zu zeigen, genüge dieses Beispiel: (Zwischen Hanau und Gelnhausen) „Auf einmal sah ich an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe, eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Es blinkten 110

nämlich in einem trichterförmigen Räume unzählige Lichtchen stufenweise über einander, und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, daß sie nicht etwa still saßen, sondern hin und wider hüpften, sowohl von oben nach unten, als umgekehrt" (I 27. 45 f). Kürzer, aber ebenso eindringlich wird das Glänzen des goldenen Hahns auf der Mainbrücke, der Sonnenuntergang im Garten, das Lichterspiel von Baumstamm, Farrenkraut und Gräsern, das mondbeschienene Straßburger Münster, eine besternte Sommernacht im Elsaß, das Feuerwerk nächtlicher Essen bei Neukirch, der Mondschein über dem Rhein, in Gleichnissen die Wirkung des Blitzes, des Sonnenaufgangs und besonders auch schon des Zwielichts von Sonne und Mond geschildert. Die fernere Auswicklung dieser naivenNaturanlage liegt in zahlreichen Landschaftsbildern der Prosaromane ziemlich klar und vollständig vor Augen. Dabei benötigen wir hier in viel geringerem Maß als bei der Farbenwahrnehmung die Ergänzung durch die Landschaftsbilder der Reisebeschreibungen. Aus dem Bestand der Motive ergibt sich folgende, vom Firmament zur Erde absteigende Einteilung der Lichtphänomene: Himmelskörper: Sonne, Mond, Sterne. Atmosphärisches Licht: Meteore, Blitz, Nebel, Wolken. Organisches Erdenlicht: leuchtende Tiere und Pflanzen; anorganisches: Vulkan, Brand. Die folgenden Ausführungen vermögen vielleicht zu zeigen, daß diese scheinbar äußerliche Einteilung nach Motivgruppen zugleich eine sinngemäße nach dem symbolischen Gehalt in sich schließt. Sonne. Für die Sonnenbilder in der Landschaft des W e r t h e r ist es charakteristisch, daß sie fast ausnahmslos der Erscheinung des Untergangs angehören und zugleich der Mehrzahl nach im fortgeschrittenen, dem menschlichen Untergang sich nähernden Teil der Handlung auftreten, z. B.: „wenn ich denn die Vögel um mich, den Wald beleben hörte und die Millionen Mückenschwärme im lezten rothen Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zuckender Blick den summenden Käfer aus seinem Grase befreyte" (JG 4.265). Wir beachten die Umrahmung mit Tonempfindungen und besonders die ins Elegische färbende Unterstreichung „lezten" in diesem wie im folgenden Bild: „Ich stand auf der Terrasse unter den hohen Castanienbäumen, und sah der Sonne nach, die mir nun zum leztenmal über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flusse unterging. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauspiele zugesehen" (JG 4. 270). Hier geht der Sonnenuntergang alsbald in das Bild einer Vollmondnacht über und hat an dem besonderen symbolischen Gehalt Anteil, den wir späterhin dieser allein vorbehalten finden. Überall verdrängt im in

Werther noch etwas Empfindungsmäßiges, Melancholisches die Klarheit der Sonnenerscheinung. Werther berichtet, die Ballgesellschaft verlassen zu haben, um nach M. zu fahren und „dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen, und dabey in meinem Homer den herrlichen Gesang zu lesen" (JG 4. 282). Wie hier mit Menschenflucht verbindet sich in dem Abschiedsbrief an Lotte Sonnenlicht mit der Vision von Grab und Tod. Allerdings ist inzwischen Ossian und seine düster-empfindsame Landschaft in Werthers Gesichtsfeld getreten: „Wenn du hinaufsteigst . . . dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Schein der sinkenden Sonne hin und herwiegt" (JG 4. 310). In allen Bildern sehen wir ein starkes gefühlsmäßiges Element eine differenzierte Ausgestaltung des Lichtbildes noch hintanhalten. Trotzdem müssen wir die Lichtwahrnehmung als intensiv und umfangreich bezeichnen, sobald wir sie mit dem über die Farbenwahrnehmung Festgestellten vergleichen. Interessant ist die Schärfung der Augensinnlichkeit, wenn das Gefühl zurücktritt oder sich beruhigt; der Blick fällt nun auch auf begleitenden Glanz: „Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hinüber gezogen" (JG 4. 279) oder verfolgt den Gang des Lichts realistisch ins Einzelne: „Wenn . . . die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen" (JG 4. 222). Auch hier das Motiv des Untergangs. Doch selbst wenn ein Bild einmal mit dem Aufbruch der Sonne beginnt, ist alles Verheißende bald in Wehmut und Hoffnungslosigkeit hinübergelenkt: „Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über ihn her den Nebel durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint . . . o wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackirt Bildgen" (JG 4. 295). Was alle Sonnenbilder im Werther gleichfalls charakterisiert, ist, daß es sich um wirkliche Auf- und Untergänge, um ausgesprochene, im letzten Bild sogar leidenschaftlich kämpferische Bewegung handelt. Außerdem ist von rasch sich wandelndem Schein und Strahl, aber nirgends noch von der Sonne als Inbegriff des ruhenden göttlichen Lichts die Rede. Meistens ist eine eindringliche Ton- oder sogar Hautempfindung der Lichtwahrnehmung benachbart. Die Verwandlung der Sonne in das Symbol alles Klaren, Entschiedenen und gesetzmäßig Ruhenden oder nur leidenschaftslos Wandelnden kündet sich «rst entfernt an, wenn etwa „ein trüber neblichter Tag" (JG 4.321) das Gestirn verhüllt.

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In der t h e a t r a l i s c h e n S e n d u n g , wo die ersten, 1777 oder früher entworfenen Teile Wilhelm in der ganzen Haltung des verliebten Herzens noch wenig von Werther entfernt zeigen, trägt auch ein Sonnenuntergang noch einmal denselben empfindsamen Akzent: „Aber hundert und hundertmal, wenn er Abends am Fenster stand und in den Garten sah und die Sommersonne, hinter die Berge gewichen, den hauchenden Schein am Horizont heraufdämmerte" (I 51. 28). Schon der sprachlichen Form (Einleitung durch „wenn") und der Situation nach (Blick aus dem Fenster) erinnert dieses Bild an das letzte aus dem Werther angeführte. Trotzdem ist unverkennbar, daß sich im empfindungsvollen Dichter des Werther auch hinsichtlich dieser Lichtwahrnehmung ein reineres, objektives Schauen durchzusetzen beginnt. Die Erscheinung wird sinnlich differenzierter erfaßt und nicht mehr in dem Maß in die engste Landschaft des Helden hereingezogen, sondern in ihrem eigenen Reich belassen („hinter die Berge", „am Horizont"). Besonders aber die Ablösung dieses Lichtmotivs durch Sternenschein und Froschquaken und ihre Wendung in das plastische negative Bild: „wenn . . . aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang" wäre in so konkreter, sprachlich knapper Zusammenstellung im Werther noch undenkbar. Von der Schweizerreise 1779 sei nur bemerkt, daß sie zum erstenmal zahlreichen, oft fast wissenschaftlich deskriptiv detaillierten Bildern der Sonne, besonders in der Verbindung mit fiebel, Wolken und Schnee Eingang gewährt, die jedoch für die Landschaft der Prosaromane keine Bedeutung gewinnen. In der Italienischen Reise tritt die Sonne im Gesamtbild der Landschaft wider Erwarten zurück, zumal im Vergleich mit den häufig und breit ausgeführten Mondbildern. Sie nähert sich jetzt der Bedeutung eines a l l g e m e i n e n S y m b o l s des L e b e n s , das tausendfältig in den Wirkungen, aber nicht eigentlich selbst augensinnlich dargestellt werden kann. In den L e h r j a h r e n , soweit sie nicht Umarbeitung des Urmeisters sind, ist diese Wandlung nahezu vollendet. Im Eingang des siebten Buches ist vor Wilhelm ein Gewitter niedergegangen t „die Sonne trat wieder in ihrem Glänze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen" (I 23. 3). Nur in allgemeinsten Formen ist die sinnliche Erscheinung festgehalten. Aber auch dabei wird nicht verweilt. Wilhelm knüpft unmittelbar die metaphorische Betrachtung an, daß immer Tropfen, Tränen fallen müssen, ehe Freude ist, und daß ihre Farben nur auf „dunklem Grunde" aufleuchten. Die Sonne ist zum Symbol des Frohen, Bejahenden, Lebenspendenden geworden. Wilhelm gibt es Er8

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munterung nach einem schweren Traum, daß er „sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet" (I 23. 12) findet. Sie eröffnet ihm einen bedeutungsvollen Tag: „die aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen, und begrüßte ihn freundlich" (I 23. 121). Die Sonne wird im Gegensatz zu allem Nächtigen das „Licht" schlechthin; und Licht ist Leben. Die alte Dienerin verkündet Wilhelm in geheimnisvoller Nornensprache Marianens Tod: „ J a , ich habe sie verborgen, aber unter die Erde; weder das Licht der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird ihr holdes Angesicht jemals wieder erleuchten" (I 23. 101). Wilhelm zeigt seinem Sohn Felix den Aufgang der Sonne: „Sein Erstaunen über den ersten feurigen Blick, über die wachsende Gestalt des Lichts, . . . ließen ihn einen Blick in das Herz thun, vor welchem die Sonne wie über einem reinen stillen See empor steigt und schwebt" (I 23. 150). Bezeichnenderweise ist der sinnlich charakteristische Eindruck schon erweitert und abgeschwächt durch die Metapher „Blick", „Gewalt" und wird dann im Unterschied zum Sonnenbild im Werther ganz in die geistige Anschauung von etwas unerschütterlich Wandelndem, im Abglanz sich Verklärendem übergeführt. Wo die Sonne im Untergang erscheint, schlägt die Stimmung nicht mehr in hoffnungslose Melancholie um, sondern die Menschen halten dem mahnenden Anblick mit natürlichem Ernst, wenn auch mit Trauer stand. Therese will ihre Erzählung unterbrechen, da „die Sonne sich zu ihrem Untergange neigt" (I 23. 61). Sie nimmt jedoch das Wort wieder auf. Dann schließt sich das Bild, etwas an die „Penserosa" der Wahlverwandtschaften vorauserinnernd: „Die Sonne ging unter, Therese sah mit unverwandtem Blicke in die Gluth, und ihre beiden schönen Augen füllten sich mit Thränen" (I 23. 63). Für Natalie, die mit Wilhelm die gepflückten Blumen zur Halle des Oheims bringen will, wird die sinkende Sonne symbolischer Wegweiser: „Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der Vergangenheit" (I 23. 196). In derselben Situation wie Wilhelm in den Lehrjahren finden wir die Söhne Megaprazons: „Sie verschliefen das herrliche Schauspiel der aufgehenden Sonne und wurden endlich durch den Glanz und die Wärme ihrer Strahlen aus dem Schlaf geweckt" (118.374). In dem ganz aus Licht gewobenen Märchen spielt die Sonne des Aufgangs eine hervorragende Rolle. Der Schatten des Riesen ist mächtig am Morgen. Die flache Tallandschaft erscheint in dieser Beleuchtung: „Die aufgehende Sonne schien hell über den Fluß herüber, der in der Ferne glänzte" (I 18. 239). Nach Mitternacht spricht der Alte zum Habicht: „Fasse . . . den Spiegel, und mit 114

dem ersten Sonnenstrahl beleuchte die Schläferinnen und wecke sie mit zurückgeworfenem Lichte aus der Höhe" (I 18. 259). Am Eingang der großen Schlußszene wird die Alte mit der dorrenden, schwarzen Hand zum Fluß geschickt, um sich Heilung im Bade zu suchen, denn „der Tag bricht an" (118.265). Die Morgensonne begleitet das ganze Bild mit ihrem Lauf: „Die Alte eilte weg, und in dem Augenblick erschien das Licht der aufgehenden Sonne an dem Kranze der Kuppel" (118.266). Die Irrlichter „schienen, obgleich blaß bei'm Morgenlichte, doch wieder gut genährt und wohl bei Flammen" (I 18. 266). Über der nun folgenden Feierlichkeit, in deren Mittelpunkt die schöne Lilie steht „hatte man nicht bemerkt, daß der Tag völlig angebrochen war" (I 18. 268). Schließlich erwacht der Riese zu neuer Kraft, und während er die Augen wäscht, fährt „der Schatten seiner ungeheuren Fäuste" ( 1 1 8 . 271) gefahrbringend in der versammelten Menge umher. Die Schlangenbrücke sieht man in ihrer ganzen Herrlichkeit erst mit wachsendem Tag „im Glanz der Sonne auf das wunderbarste schimmern" ( 1 1 8 . 244). Fast in allen diesen Bildern sehen wir auch im sprachlichen Ausdruck (wiederholt „Licht", „Glanz") die Richtung auf das groß Typisierende hin eingeschlagen. Daß der Dichter mit manchem dieser Sonnenbilder sogar über die symbolische Bedeutung hinaus zur allegorischen vorschreitet, beeinträchtigt freilich etwas den sinnlichen Gehalt, die bildmäßige „landschaftliche" Wirkung der Motive. In den W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n ist das Tagesgestirn ganz eindeutig zur Sachwalterin eines göttlichen Wesens, ja selbst ein solches geworden, dem Irrenden Vorwurf und Urteilsspruch: „Aber als Eduard an dem andern Morgen am Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten" (I 20. 132), dem glücklich Liebenden Verheißung und Triumph: Eduard „schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel gewältigte" (120.142), dem Vorbereiteten eine letzte Schicksalsverkündigung: „Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein, ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse" (120. 307). Wie als Ausdruck einer höchsten Zustimmung und Zufriedenheit fällt noch beim Begräbnisgang auf das „himmlische Gesicht" der Toten ein Strahl der „aufgehenden Sonne" (I 20. 408), so entfernt an die goldene Stirnbinde der entschlafenen Mignon erinnernd. Dem Schuldigen aber fällt sie den Spruch, indem sie ihn aus ihrem Lichtbereich stößt: „ S o bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure That 8*

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geschehen, jedem furchtbar der sie betritt. Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren" (I 20. 375). Jedesmal ist es die Sonne des Morgens oder Mittags, in ihrer Erscheinung wird von charakteristischen Einzelzügen abstrahiert und fast nur am Typischen festgehalten. Dieselbe verallgemeinernde Form („Schönheit des Morgens", „Tageslichte") bei ähnlichem inneren Sinn behält das Motiv der Sonne um Lucidor in den Wanderjahren; im Bewußtsein, seine geliebte Lucinde verloren zu haben, „fühlte er die aufregende Schönheit des Morgens nur, um zu verzweifeln". Der Liebesverwirrte empfindet wie Eduard „Scheu vor dem Tageslichte, das im höchsten Glänze über ihn herabschien" (I 24. 160). Es ist nun sehr bemerkenswert, daß in der späteren Prosalandschaft überall da, wo das Bild der Sonne von Aufgang und Zenith absinkt zur bloßen Vorbotin der Nacht und deren anderssinnigen Gestirne, wo sie damit auch ihres aus Morgen und Tag, aus Helle, Wärme und Fruchtbarkeit abgeleiteten symbolischen Gehalts verlustig geht, daß da auf einmal die typische einer charakterisierenden Zeichnung weicht, die augensinnliche Einzelheiten mehr oder weniger ausmalt. Nun werden wieder Strahlen gesehen, nicht nur Licht schlechthin. Meistens erscheint zugleich Farbe, die in jenen reinen Lichtbildern ganz fehlte, so daß wir manche Beispiele schon aus der Besprechung der Rotwahrnehmung kennen. Gold bildet einen genauen Übergang von Farbe zu Licht. Im M ä r c h e n erblickt die harrende Schlange „hoch in den Lüften, mit purpur rothen Federn den Habicht, dessen Brust die letzten Strahlen der Sonne auffing" ( 1 1 8 . 256). Das andere Motiv auf derselben Seite: „Leider vergoldete schon der Strahl der sinkenden Sonne nur die höchsten Gipfel der Bäume des Dickichts, und lange Schatten zogen sich über See und Wiese" scheint für den Dichter einen besonderen Augenreiz besessen zu haben. Wir finden die von den Strahlen nur eben angesengten Waldgipfel, wie im Werther, noch einmal in den Wanderjahren: „Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen" (124.3). Die Beobachtung, daß ein Bergsteiger den Untergang der Sonne sich verlangsamt, „verspätet", wie Goethe sich ausdrückt, gibt Anlaß zu einem Bild um Wilhelm: „ E r stieg aufwärts und verspätete sich dadurch den Sonnenuntergang. Das himmlische Gestirn, das er mehr denn einmal verloren hatte, erleuchtete ihn wieder, als er höher trat" (I 24. 9). Das Gegenbild ist der Sonnenaufgang, den der tiefer Weilende zuerst am erleuchteten Horizont feststellt: „Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen Gründen; aber der obere Himmel ist heiter" (124.12). 116

Im Bild der sinkenden Sonne klingt auch jener elegische Unterton an und wird die engere Verbindung mit der Ichlandschaft wieder aufgenommen, die im Werther bestand. Die Strahlen bilden geradezu den körperlichen Rahmen um die Menschengestalt: „Und eben fiel ein röthliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter" (I 20. 356). Wir fanden dies Bild schon beim Farbigen. Dasselbe gilt von dem beschließenden Motiv der Honoriohandlung in der Jagdnovelle : „eine röthliche Sonne überschien sein Gesicht" (118.345), während die eigentliche Schlußszene der Novelle in reiner Lichtwahrnehmung verweilt; der Knabe führt den gebändigten Löwen, „bis er sich endlich in den letzten Strahlen der Sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte, wie verklärt niedersetzte" (I 18. 347). Nicht selten ist aber auch in der späten Prosa eine knappe Notiz „mit Sonnenuntergang" u. dgl. nur mehr bloße Umstandsangabe ohne jeden sinnlichen Akzent. Das Landschaftserlebnis der Entsagenden weicht eben erheblich ab von dem hemmungslosen Naturgefühl Werthers und auch schon von der ernsteren Empfindung Theresens in den Lehrjahren. Mit ziemlicher Sachlichkeit wird ein erlebenswertes Naturphänomen aufgesucht: „Die Gute-Schöne holte mich in den Garten ab, wo wir der Abendsonne genießen sollten, eh' sie sich hinter das hohe Gebirge versteckte" (I 25. 232). Geradezu humoristische Wirkung aber übt die Kontrastierung mit der weltvergessenen, ganz in sich selbst versenkt in hymnischer Sprache ausbrechenden Trauer Werthers, wenn ein Satz in den Wander jähren das fast allzu verständige Naturgefühl der Entsagenden so charakterisiert: das Gespräch zog sich „bis gegen Sonnenuntergang, der, so herrlich er war, doch die Gesellschaft nachdenken ließ, wo man die Nacht zubringen wollte" (I 24. 51). Jenes oben angeführte Sonnenbild aus den Wahlverwandtschaften ist in einen Spätnachmittag gestellt, der dem Wassertod des Kindes voraufgeht. Wo dieser Augenblick schon ganz nahe gerückt ist, wird die Sonne bezeichnenderweise noch genannt, aber negativ und nicht eigentlich anschaubar. Nur ein Reflex wird gezeigt: „Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte. Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück" (I 20. 358). Als aber Ottilie am verhängnisvollen Ufer steht, ist dieser Nachklang des froheren Tages ganz dem kontrastierenden Andrang der Nacht, des symbolischen Dunkels gewichen: „Die Sonne war untergegangen und es dämmerte schon und duftete feucht um den See" (I 20. 360).

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Wo sonst noch in der späteren Prosa die Sonne nicht in ihren geistig typischen, sondern sinnlich charakteristischen Eigenschaften erfaßt wird, beruht das Motiv zumeist auf der Beobachtung der o r g a n i s i e r e n d e n , die verstrickten Massen des Landschaftlichen trennenden und klärenden K r a f t des L i c h t s ; deutlich zum Ausdruck kommt sie zuerst bei der mehrtägigen Betrachtung des Rheinfalls auf der Reise 1797: „Das Sonnenlicht theilte nun die Massen ab, bezeichnete alles Vor- und Zurückstehende, verkörperte die ungeheure Bewegung" (I 34. 358); „Durch das Rücken der Sonne noch größere Massen von Licht und Schatten" (I 34. 361) usw. Ein ähnliches, zunächst ganz leidenschaftsloses Ansehen der Natur vereinigt die vier Freunde am Lago Maggiore: „ I n der schönsten Jahreszeit entging ihnen weder Sonnenaufgang noch Untergang und keine der tausend Schattirungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst überspendet" (I 24. 356). Besonders in der Novelle, wo es auf äußerste Klarheit der „Lokalität" ankam, aber die novellistische Kürze ein Herauslösen des Landschaftlichen aus der Handlung und Zusammendrängen in künstliche und natürliche Prospekte nötig machte, fällt der Sonne die Rolle eines Beleuchtungskörpers höherer Art zu. Durch das Teleskop im Fenster des neuen Schlosses betrachtet man die „hohen Ruinen der uralten Stammburg . . . , die in der Abendbeleuchtung merkwürdig hervortraten, indem alsdann die größten Licht- und Schattenmassen den deutlichsten Begriff von einem so ansehnlichen Denkmal alter Zeit verleihen konnten" (118.317). Wiederum erblicken sie auf der „Wallfahrt" zum alten Schloß „Rückwärts . . . durch zufällige Lücken der hohen Bäume das fürstliche Schloß links, von der Morgensonne beleuchtet" (I 18. 327). Endlich bietet ein „vorspringender, mächtiger Fels" an der Ruine selbst umfassende „Aussicht": „ D i e Sonne, beinahe auf ihrer höchsten Stelle, verlieh die klarste Beleuchtung" ( I i 8.328). Die Novelle umschließt beide Erscheinungsformen der Sonne, die sinnliche in der zergliedernden Beleuchtung der Aussichten, die geistige in den geklärten und versöhnten Silhouetten der Schlußszene. M o n d . Mit der Sonnenlandschaft bietet die des Mondes nahezu keine Vergleichspunkte, weder dem sinnlichen noch dem symbolischen Gehalt nach. Wir werden vielmehr sehen, daß sie sich zueinander fast so verhalten wie die Zeiträume, in denen sie zu wirken bestimmt sind. Goethes auffallende Vorliebe für die nächtliche Landschaft des Mondes auch in der Prosa würde sich aus der Stimmung der Jahrhundertmitte, die oft gefühlvoll mit Young und Ossian die Nacht zum Tage machte, und aus dem besonderen xi8

Symbolbedürfnis einer Lyrik tiefer Sehnsucht und verschwiegener Schmerzen noch nicht zur Genüge erklären. In höherem Maße als bei der Sonne sind es in der Erscheinung des Mondes besonders eindeutige und angenehme Wirkungen auf die Augensinnlichkeit, die sie dem Dichter nahe bringen und, wie wir schon vermuten, zugleich ihre Herauslösung aus der irdischen Ichlandschaft und den reinen Übergang zum mehr oder minder körperlosen Symbol verlangsamen oder ganz verhindern. In den Beispielen selbst suchen wir diese Eigenschaften auf. Am ehesten erwarten wir für den W e r t h e r den Einfluß des Zeitgeschmackes, dem Mondlicht zur Landschaft des empfindsamen Herzens unentbehrlich war. Umso bedeutsamer ist die Beobachtung, daß trotzdem das Mondbild in diesem Roman nicht nur empfunden, sondern scharf, plastisch und erheblich detaillierter als die Sonnenuntergänge gesehen wird. Werther wartet in dem „geschlossenen Plätzchen" am Ende der Buchenallee und hört jetzt Lotte und ihren Bräutigam die Treppe heraufkommen: „ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faßt ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren eben herauf getreten, als der Mond hinter dem büschigen Hügel aufgieng, wir redeten mancherley und kamen unvermerckt dem düstern Cabinette näher . . . es war ein ängstlicher Zustand. Sie machte uns aufmerksam auf die schöne Würkung des Mondenlichts, das am Ende der Buchenwände die ganze Terasse vor uns erleuchtete, ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und sie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im Mondenlichte spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete" (JG 4. 270). „Schauer" und „ängstlicher Zustand" geben den Grundton ab, die Naturerscheinung wird bezeichnenderweise von der Frau interpretiert und schließlich im Gedanken an „Verstorbene" ganz eng und nicht etwa als großes, allgemeines Symbol des Todes gefaßt. Aber diese Empfindungen begleitet eine genaue Wahrnehmung, die das Licht vom bewegten Aufgang zur breiten ruhigen Kontrastwirkung mit unbelichteten Partien führt, die aber nicht als Dunkel oder Nacht, sondern richtig, aber sicher unbewußt als „Dämmerung" bezeichnet sind, da reflektiertes Licht auch die Schatten empfangen. Architektonisches, eine „Treppe", bringt das Mondlicht zu höchster kubischer Wirkung. Darin verrät sich der Zeichner, der besonders später in Italien zahlreiche auf Gebäude, Brücken, Treppen, Mauern und Denkmäler projizierte Mondlandschaften entwarf. Der doppelte Hinweis („schöne Wirkung", „herrlicher Anblick") und die eingehende Zerlegung („frappanter..., weil") 119

eines Landschaftsmotivs in so früher Prosa ist in dieser Unmittelbarkeit wohl doch nicht denkbar ohne die Erwägung, daß gerade dieser Lichterscheinung zu jener Zeit eine besondere huldigende und fast entdeckerhafte Aufmerksamkeit entgegen gebracht wurde. Von diesem wesentlich verschieden ist das Bild des Mondes in der Überschwemmungsszene: „Ein fürchterliches Schauspiel. Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln zu sehn, . . . Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich herrlichen Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! "(JG4.303). Im ersten Bild fiel das Licht auf Trauer und verwirrtes Handeln, ohne jedoch selbst aus seiner ihm eigenen ruhevollen Zuständlichkeit gerissen zu werden. Das geschieht aber hier. Der Mond erhält durch den Vorüberzug der Gewitterwolken scheinbar leidenschaftliche Eigenbewegung, dem nur der allerdings starke Zustandsakzent des „über der schwarzen Wolke ruhte" entgegen steht, und hat zugleich in Schein und Widerschein am Chaos des Erdbildes so lebhaften Anteil, wie wir es in der Prosa nicht wieder finden werden. Die Erklärung liegt aber nicht allzu fern. Schon zehn Seiten vor diesem Bild hat Ossian und seine gänzlich anders geartete Landschaft in Werthers „Herzen den Homer verdrängt". In dessen gefühlvollen, aber heroischen Szenerien schottischer Heide- und Felsenlandschaft kommt dem Mond eine hervorragende und zwar balladisch-dramatische Rolle zu, z. B . : „Sieh, der Mond erscheint. Die Fluth glänzt im Thale" (JG 4. 314); „Waldströhme braust! Heult Stürme in dem Gipfel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wolken o Mond" (JG 4. 317); „wenn der Nord die Wellen hochhebt, siz ich am schallenden Ufer, schaue nach dem schröcklichen Felsen. Oft im sinkenden Mond" ( J G 4 . 319) usw. Tatsächlich gewinnt nun an der einzigen Stelle, wo Goethe Ossian nicht übersetzt, sondern mit durchsichtiger Anspielung auf ihn nachdichtet, die Mondlandschaft veränderte, fremde Gestalt: „Zu wandern über die Haide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln, die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebürge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen" (JG 4.292). Bei näherem Hinsehen finden wir auch in jener nächtlichen Sturmszene Spuren Ossianischer Landschaft: die Bewegung der Wolken (vgl. Ossians „wandle durch gebrochene Wolken o Mond"), besonders aber die charakteristische Verbindung des Mondlichtes mit den Motiven der Felsschlucht und der brüllenden Hochwasserflut, die beide der mitteldeutschen idyllischen Land120

schaft Werthers wesensfremd und nur aus der Anschauung etwa der Alpen zu schöpfen sind, die Goethe damals noch nicht kannte. Diese Bemerkungen sollen aber keineswegs die Dichtung bemängeln, denn Werthers Seele selbst hat sich von seiner natürlichen Heimatlandschaft entfernt und bedarf für das weltzerstörerische Ungestüm seiner Leidenschaft eines heroischen Naturgesichts. Das rechtfertigt die dramatische Gestaltung der Mondlandschaft. Ohne daß es ausgesprochen wäre, sehen wir überall den Vollmond, nicht etwa den Halbmond oder die Sichel. Die reine, schmerzstillende, alle Dinge zu wundersamer, fast tönender Körperlichkeit belebende Wirkung des Gestirns in seiner Fülle, die späterhin vor allem den Dichter bestrickte, wird aber trotzdem im Werther nur gestreift: „Und wenn ich für Müdigkeit und Durst manchsmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde auf einem krummgewachsnen Baum mich sezze, . . . und dann in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerscheine hinschlummre!" (JG 4. 269). Wie fein leitet und wie geistig wird hier unbewußte Sinnlichkeit, wenn zuerst dem erdenfernen „Vollmond" die „tiefe Nacht" gegenüber steht, dann aber, in der Berührung mit den Waldbäumen und dem Menschenschicksal, das Ferne, Klare, Kalte sich nähert, mildert, erwärmt zum „Dämmerscheine". Auf der G e b i r g s r e i s e 1 7 7 9 werden zahlreiche Mondscheinlandschaften beobachtet, die für die Romanprosa zum Teil zu spezifiziert sind wie der in einem Nebelmeer gespiegelte Mondbogen (I 19. 229), zum Teil erst in den Bergbildern der Wanderjahre spärliche Verwendung finden. Hier wurzelt die Wahrnehmung, die sich auf dem Brenner wieder bestätigt und noch in Leonardos Tagebuch in den Wanderjahren festgelegt ist in dem Satz von „der klarsten, sanftesten Mondnacht, wie sie nur in hohen Gebirgszügen obwaltet" (I 25. 126). Immer eindeutiger wird jetzt die Mondnacht zum Höhepunkt des landschaftlichen Erlebnisses überhaupt. Erst mit dem Aufgang des Mondes wird eine Bergbesteigung im Schweizer Jura ganz mangellos. Zu dieser Sehnsucht, die Zeit- und Wegopfer nicht scheut, zu diesem oft fast kindlichen „Wunsch" („Ich sagte: ich hab einen Wunsch auf den Vollmond! — Nun Liebste tret ich vor die Thüre hinaus, da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir" Torfhaus 10. 12. 77. an Frau von Stein) bestimmt nicht mehr das vage Bedürfnis gefühlvoller Melancholie, sondern der elementare und nachhaltigere Durst des ganzen erwachten Augensinns nach mildem Licht und plastisch warmen Formen.

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Aus dieser Zeit (nach 1778) stammen die beiden schönen Handzeichnungen mit Kreide und Kohle auf Blaupapier, davon die eine (HZ 1164) Berglehne, Waldstreifen, Ilmwiese, links und rechts Bäume, das Gartenhaus mit etwas Rauch, alles schattenhaft gibt, den Mond selbst aber unsichtbar läßt, die zweite (HZ 1165) bei etwas vereinfachten Motiven auch die Mondsichel in den Nachthimmel hängt. Beide aber sind wie eine Melodie zum Lied „Füllest wieder Busch und Thal". Wie Goethe auf der i t a l i e n i s c h e n R e i s e überall die letzte Verklärung der freien und architektonischen Landschaft durch das Mondlicht sucht und aufzeichnet, ist allgemein gekannt, weniger die Handzeichnungen, die solche Augenblicke skizzieren oder auch freierfinden wie HZ 166 Obeliskbrunnen und Baum, HZ 686 zwischen drei Felsen eingemauerte Wasserleitungsbogen, H Z 587 Pinien; besonders reich ist eine noch nicht inventarisierte HZ aus dem Besitz Vulpius: Mond in Wolkenschleiern über einem fernen Berg, sich spiegelnd in einem See zwischen Felsen, Ruinen und Baumufern des Vordergrundes; ähnlich auch HZ 1845. An solche Zeichnungen werden wir erinnert, wenn der Dichter in den Lehrjahren die Überreste einer Brandkatastrophe sich schaurig gegen die Mondnacht abzeichnen läßt: „Neben dem . . . Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuchtete, standen die traurigen Ruinen, von denen hier und da noch Dampf aufstieg" (I 22. 220). Am Lido hörte für Goethe auch das Meer auf, ein leerer „Wortschall" zu sein. Fruchtbar wird diese Anschauung in dem Bild des gleichen Romans, wo die unselige Mutter Mignons, Sperata, am nächtlichen Ufer ihr vermeintlich ertrunkenes Kind sucht: „Wenn Nachts im Mondglanz sich die Wellen umschlugen, glaubte sie, jeder blinkende Saum treibe ihr Kind hervor" (I 23. 276). Hier ist der im Werther zwar dramatisch, aber gewaltsam ungenau dargestellte „fürchterlich herrliche Wiederschein" auf die viel feinere Wahrnehmung eines linearen Glanzes gebracht, der erscheint und steigt, fällt und schwindet, wozu es der Schulung des Auges und vor allem einer höheren Reinheit der Anschauung bedurfte. Auch die Gestalt des verblendeten Brudergatten ist auf der Flucht aus dem Kloster in dieses gedämpfte Schicksalslicht gestellt: „Ermüdet von einem vierzigstündigen Wachen schlief er ein, sobald ihn der Kahn im Mondenscheine schaukelte" (I 23. 270). Wie sich die Sonne in den Wahlverwandtschaften zum Symbol des klaren Gesetzes erhebt und so mehr zum Geist als zu den Sinnen spricht, nimmt die Erscheinung des Mondes dieselbe Richtung, ohne doch den Weg zu vollenden und die sinnliche Hülle abzustreifen. Der Inhalt des Symbols ist, entsprechend dem

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ungewissen, blassen und gelben, silbernen und bläulichen Licht und seinem nächtlichen Wirkungskreis, ein entgegengesetzter und deutet auf die Trübung verwirrten Handelns. M o n d l i c h t begleitet, um es ganz knapp zu sagen, S c h i c k s a l s v e r l a u f und - e r f ü l l u n g , S o n n e n l i c h t S c h i c k s a l s b e s t i m m u n g und - f o r d e r u n g . Für die Nacht, die Eduard in Ottiliens unsichtbarer Nähe schwärmerisch durchwacht, ist dieses Eingangsbild gezeichnet : „Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden in s Freie" (I 20. 141). Das realistische Motiv der Mondphase fanden wir bisher nicht. Sinnliche Darstellung verbindet sich gleichfalls mit tiefer Symbolik des Ganzen in der Nacht des Feuerwerks. Eduard ist entschlossen, heute den Besitz des geliebten Weibes zu erzwingen, und läßt das unterbrochene Spiel der Raketen und Feuerräder nun ganz allein für sie aufflammen; dann aber verstieben Funken und Glut: „Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond aufging und die Pfade der beiden Rückkehrenden beleuchtete" ( 1 2 0 . 1 6 1 ) . Es ist auffallend, wie innerlich verwandt und mit wörtlichem Anklang dieses Motiv in der Erzählung Wilhelms in den Wanderjahren wiederkehrt. Der Leichenzug der ertrunkenen Fischerknaben ist vorüber; mit diesem Satz schließt sich der Vorhang vor der Stätte des Unglücks: „der volle Mond war aufgegangen und beleuchtete die Pfade des Todes; ich folgte leidenschaftlich" (I 25.49). Verwirrtes menschliches Handeln ist das Grundthema der Novelle Der Mann von fünfzig Jahren in den Wanderjahren. Der innere Höhepunkt, die Begegnung der ungleichen Rivalen auf dem Eissee ist in das Licht einer Mond- und Sternenlandschaft getaucht, die die Wirklichkeiten der Seele mit unversöhnlicher Schärfe hervorhebt, während sie zugleich die Starrheit der Formen in den Dingen der äußeren Welt abmildert: „Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung" (I 24. 331). Deutlich ist das Symbolische der sinnlichen Erscheinung unterstrichen: über menschliches Tun, das sich in Mondnacht abspielt, ist ein Zauber, ein „Magisches" geworfen. Diese Landschaft überläßt die Menschen ihrer Betörung, während das Licht der Sonne allen Bann der Leidenschaft bricht und alles Blendwerk der Sinne mit klaren Strahlen zerwirkt. Die Fortsetzung der Szene zeigt noch eindringlicher, wie der Dichter das Bild des Mondes trotz der Annäherung ans Symbolische mit einer charakteristischen und intensiven Augensinnlichkeit erfaßt, die sich von der Wahrnehmung des Sonnenbildes stark abhebt: „die Kälte war gewachsen, sie fühlten 123

nichts davon und fuhren dem lang daher glitzernden Widerschein des Mondes unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin- und herschweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel vom Lichtglanz umgeben auf sie zuschritt . . . Mit einiger Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu" (I 24. 332). Daß das Mondlicht in heftiger Bewegung gesehen wird, beruht hier sichtlich auf der Nachbarschaft des Sternenlichts. Seiner Wirkung sind sonst die Attribute Glanz, Flimmern und Glitzern vorbehalten. Diese Nachtlandschaft vermischt die ruhende Fülle des einen mit der Unruhe des anderen, kargeren, aber intensiveren Lichtmotivs. Mit dem Satz: „Auszumahlen ist nicht die innere Gestalt der drei, nunmehr nächtlich auf der glatten Fläche im Mondschein Verirrten, Verwirrten" (I 24. 333), der deutlich den Finger auf die Verbindung von „innerer Gestalt" und äußerer Landschaft legt, entschwindet dieses Bild. Während diese Szene etwa mit dem Nachtsturm im Werther zu vergleichen ist und wie jene die Lichterscheinung mit in die leidenschaftliche Bewegung der Menschen verhaftet sein läßt, hält das Bild der Viere am Lago Maggiore mehr die lyrische, empfindungsvolle Wirkung des sanften, ganz unvermerkt nur gleitenden Gestirns fest: „Und als sie nun alle viere im hohen Mondschein sich gegenüber standen, war die allgemeine Rührung nicht mehr zu verhehlen . . . und Luna ward Zeuge der edelsten, keuschesten Thränen" (I 24. 373) Durch den Ausdruck „ L u n a " schimmert freilich die leise Ironie des gefaßteren Dichters durch. Für ihn selbst war der Mond zu dieser Zeit weder das revolutionäre Nachtschemen, noch der lyrische Tränenwecker, sondern wohl am ehesten der stille „Gedankenfreund", als der er in einem der Handlung nach neutralen Wanderbild dieses Romans erscheint: „Der Vollmond, eine reiche Flur beleuchtend, war schon herauf und weckte ähnliche und gleiche Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers" (I 25. 69). Noch zu erwähnen ist ein von Goethe gern beobachtetes Lichtphänomen von selbständiger Bedeutung: die Begegnung und Ablösung des Taggestirns mit dem der Nacht, das gleichzeitig auftretende Z w i e l i c h t von S o n n e und M o n d am Morgen-und Abendhimmel. Auf der Reise in die Schweiz wird es als Seltenheit zum erstenmal vermerkt: „das letzte Mondviertel ging vor der Sonne hell auf und erfreute uns, weil man es selten so zu sehen gewohnt ist" ( 1 1 9 . 242). Gleiche Landschaft in der Dichtung mag assoziativ die Erinnerung an dieses gesteigerte Lichtmotiv wach124

gerufen haben. Es findet ungezwungene Anwendung für die Abschiedsfeier der Viere am Lago Maggiore: „Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender klarster Vollmond ließ den Übergang von Tag zu Nacht nicht empfinden" (I 24. 372). Die Schweizer Landschaft in Leonardos Tagebuch im letzten Kapitel der Wander jähre führt dieses Bild gleichfalls ein: „wir genossen eines herrlichen verspäteten Mondscheins. Die hervorbrechende Helle, die aufgehende Sonne, ließ uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen" (I 25. 120). Der naturgesetzlich doch von vornherein entschiedene Zweikampf der Mächte des Lichts gibt für den symbolisch schauenden älteren Goethe in Dichtung und Wahrheit den eigenartigen Gleichnisstoff für die Begegnung zweier Frauen in der Liebe seiner Jugend: „es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden himmlischen Lichter" (128. 184). Noch vertieft wird die Symbolik des Motivs in der Anwendung auf den Kampf der Geschlechter um dieselbe Frau, in dem der Sieg der jüngeren Generation Flavios auch, wie der Mann von fünfzig Jahren schließlich mit Schmerz und Ernst erkennt, naturgesetzlich ist: „Der späte Mond, der zur Nacht noch anständig leuchtet, verblaßt vor der aufgehenden Sonne" (I 24. 339). Der Vergleichspunkt ist hier noch verstärkt durch das parallel hinzutretende „Zwielicht" von Wintertanne und Frühlingsbirke. S t e r n e . Die Sterne haben für die ästhetische Wahrnehmung mit dem Mond den geringeren Umfang und die nächtliche Wirkungszeit, mit der Sonne aber die größere Intensität des Lichtes gemeinsam. In der Prosalandschaft gehen sie fast durchwegs eine Verbindung mit diesen beiden, für uns größeren Himmelskörpern ein. Ihr eigentliches Merkmal aber macht ein Drittes aus, das sie von beiden Erscheinungen trennt: die starke Eigenbewegung, die Oscillation des Lichts. Auch im Geistig-Symbolischen ist diese Eigenschaft bestimmend und erzeugt die Bedeutung einer unbestimmten Erregung und Aufmunterung, die sich bis zum Ausdruck leidenschaftlicher Forderung oder tröstlicher Glücksverheißung steigern kann. Wenn wir Sternenlandschaft im Werther wider Erwarten nicht entdecken, liegt die Vermutung nahe, daß die bewußte Erfassung dieses Phänomens eine höhere Stufe reiner Anschauung voraussetzt, als die allgemeineren und augenfälligeren Motive von Sonne und Mond. Erst i m U r m e i s t e r erscheint sie, zwar flüchtig, aber 125

gemeinsam mit dem kontrastierenden Dunkel in sinnfälliger Bewegung: „wenn . . . die Sommersonne . . . heraufdämmerte, die Sterne hervortraten und aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang" (I 51. 28). Sterne stehen in der verhängnisvollen Nacht des Ständchens über dem noch ahnungslosen Wilhelm: „Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum" (I 51. 90). In der Lichtlandschaft der Prosa kommt die Metapher „hold" nur den Sternen zu. In den Wahlverwandtschaften löst Sternenlicht die Starre der Unglücksnacht; Ottilie glaubt noch an das Leben des ertrunkenen Kindes, das sie hilflos im Arm hält, da kein Wind den ruderlosen Kahn ans Ufer treibt: „Mit feuchtem Blick sieht sie empor... .Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen die schon einzeln hervorzublinken anfangen" (I 20. 362). In einem schönen Gleichnis scheinen die Sterne den Tod der holden Frau zu beweinen: „man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten" (I 20. 408). Der symbolische Gehalt dieses letzten Bildes begleitet die Erscheinung der Sterne in der Schicksalslandschaft des anderen wahlverwandten Paares: „das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne, alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille" (I 20. 137 f). Diese wenigen, dem Symbolischen angenäherten Bilder übertrifft an sinnlicher Intensität die Nachtlandschaft im Mann von fünfzig Jahren. Dort steigt der volle Mond „zu dem glühenden Sternenhimmel herauf" (I 24. 331). Ein zweiter, durch den Kontrast der Wärmeempfindung geschärfter Akzent fällt auf dieses Motiv: „die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon" (I 24. 332). Wie die Wirkungsweise des Sternenlichts weiter das Bild beherrscht, aber sinnlich ungenau auf die Erscheinung des Mondes übertragen wird, darauf wurde oben hingewiesen. Für das spätere Auftreten und die verhältnismäßig geringe Zahl der Sternenbilder gaben wir einleitend einen Grund an, der seine Bestätigung erfährt in der Betrachtung, die Wilhelm unter der Leitung des Astronomen, der Makarie dient, anstellt: „Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer . . . Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüths" (124.180). Mit dem Bild der Sterne, die zum Leuchten der Sonne, zumSchein 126

und Schimmer des Mondes die beweglichere Skala der Lichteindrücke von Glanz, Glut und Flamme, zur „Gewalt" durchdringender Klarheit, zur „Milde" plastischer Stimmung lebhafte Unruhe gesellen, schließt sich der Kreis leuchtender Himmelskörper. A t m o s p h ä r i s c h e s L i c h t . Als atmosphärisches Licht bezeichnen wir jene natürlichen Phänomene, die im Zwischenraum von Erde und Firmament, entweder aus sich (Meteore, Blitz) oder als Brechungen des Himmelslichtes (Nebel, Wolken, Regenbogen) zustande kommen. Die Motive der ersten Gruppe finden wir öfter, aber auffallenderweise fast nur in Metaphern und Gleichnissen. Als Bestandteil wirklicher Landschaft führt der Werther allein die elektrischen Entladungen der Blitze ein und auch nur im Vorübergehen: „Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blizze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn, und die ich immer für Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfiengen" ( J G 4.238). Hier wie im Natureingang zum siebten Buch der Lehrjahre ist es das Ende des Gewitters, die Versöhnung der Elemente, bei der der Dichter verweilt und die er zum Ausdruck seelischen Geschehens erhebt. Zahlreich aber sind "die Fälle, wo diese Lichterscheinung als unmittelbar bildlicher Ausdruck der natürlichen Landschaft entzogen wird; im Werther heißt es z. B . : „da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet" (JG 4. 297). Im Urmeister starrt Wilhelm beim Entsc)iw¿n?letj cJesiNiebínbuhleírs/in/díe Nathí ,/Wáe feitíer¿ d'eni ein'1 Blitz die Gegend in einem Winkel erhellt, der drauf vergebens mit geblendeten Augen die vorigen Gestalten, den Zusammenhang der Pfade in der Finsterniß sucht" (I 51. 93). Der gedrückte Mensch „folgt gelassen den trüben Pfaden seines Schicksales. Wenn dann manchmal ein Blitz aus einer höheren Sphäre ihn umleuchtet, schaut er freudig auf" (I 52. 93). Bei dem unerwarteten Anblick ihres früheren Pensionatslehrers ist von Ottilie in den Wahlverwandtschaften gesagt: „Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei" (I 20. 274). — Dasselbe gilt von Meteoren — wie Goethe die Sternschnuppen und auch die Kometen benennt — in erhöhtem Maß. Sie erscheinen überhaupt nicht in der Landschaft. Eduard und Ottilie fährt metaphorisch die Hoffnung „wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg" (I 20. 359). Die anspruchsvolle Luciane zeigt sich „immer wie ein brennender Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht" (I 20. 229). Die Tatsache, daß eine Naturerscheinung, deren sinnlicher und symbolischer Gehalt vertraut ist, aus dem Kreis dichterischer 127

Naturdarstellung verbannt bleibt, ist nicht ohne tieferen Sinn. Schon in den vorangegangenen Untersuchungen sahen wir den Dichter stets von der intensiven Erfassung der sinnlichen Erscheinung, die er als Reisender und Naturforscher übte, zurückweichen. Hier ergibt sich, daß nicht nur einzelne Sinneswahrnehmungen oder besonders erhöhte Grade derselben, sondern ganze Komplexe von Naturphänomenen für den Dichter als Landschaftsdarsteller ausscheiden. Es ist das Extreme, Ordnungslose, Beunruhigende am Motiv von Blitz und Meteor, was seine unmittelbare Gestaltung für Goethe unmöglich macht. Daß sie trotzdem einen bevorzugten Stoff für Gleichnisse abgeben, wirft ein wichtiges Licht auf das Wesen dieses Stilmittels: vom Vergleichspunkt aus gesehen erweist sich jedes Gleichnis als eine Verstärkung, eine Konkretion, von der Stoffquelle aus aber als eine Schwächung, eine Abstraktion. Auch Wolken und Nebel gehören jenem Zwischenreich an, wo für die Sinne das allgemeine Naturgesetz hinter der scheinbaren Willkür der einzelnen Erscheinungsform leicht unsichtbar wird. Von diesen Lichtphänomenen — als solche hat sie Goethe besonders auf der Reise 1779 in zahlreichen Variationen und in bemerkenswerter Abstraktion von der Farbe beobachtet und festgehalten — macht die Prosalandschaft gleichfalls kaum Gebrauch. Primär als Lichteindruck gestaltet ist fast nur das Eingangsbild der späten Novelle: „Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei . . . bewegt sah" (I 18. 3x5). Schon dieses Bild zeigt, daß Wolken und Nebel nicht wie Blitz und Meteor nur als Lichterscheinungen gefaßt werden können. So finden sie denn von der andern Seite her als Ausdruck leidenschaftlicher, aber nicht abrupt, sondern allmählich sich entwickelnder, nicht als wilder Zickzack oder Glanzstrich, sondern gleichmäßig verlaufender Bewegung Aufnahme in mehrere Landschaftsbilder. Die Wahrnehmung verbindet sie dann (wie schon oben mit „dichten") mit allgemeinen Hautempfindungen, als welche wir sie weiter unten zu betrachten haben. Die geringe Geltung dieser Lichtmotive beruht endlich noch darauf, daß ihre Beobachtung von geographischen Bedingungen erheblich mitbestimmt wird nach Goethes eigener Anmerkung von 1779: „Auf die Nebel, die bei uns eben diese Wirkungen hervorbringen, gibt man weniger Acht; auch weil sie uns weniger vor's Auge gedrängt sind, ist ihre Wirtschaft schwerer zu beobachten" (I 19. 272). „Bei uns" aber heißt hier Mittel128

deutschland, insbesondere Thüringen, wo Goethes große Romane enstanden sind. E r d e n l i c h t . Mit der Annäherung an die Erde vermindert sich die intensive Darstellung natürlichen Lichtes in seltsamer Stetigkeit, um schließlich das Schicksal des Farbigen zu teilen und in die vorzugsweise Gestaltung des Physiognomischen überzugehen. Organisches Licht erscheint innerhalb des Landschaftlichen fast nur im Märchen. Aber Schlange und Irrlichter sind personifiziert und in ihren allegorischen Verwandlungen dem Zusammenhang der „Landschaft" enthoben. Im lyrisch gehobenen Naturbild aus der Jugenderzählung Wilhelms in den Wanderjahren werden einmal „goldschimmernde Sonnenjungfern" (I 25. 44) genannt. Das anorganische Licht eines ausbrechenden Vulkans, das Goethe in Neapel äußerst liebevoll in drei immer breiteren Variationen beschrieb, wird nur flüchtig gestaltet in der Reise der Söhne Megaprazons: „Man sah hier und dort an der Erde bei Tage Dünste schweben, bei Nacht Feuer hüpfen" ( 1 1 8 . 3 7 9 ) . Vom Ufer konnte man „bei Tage den Rauch, bei Nacht die Flamme gewahr werden. Es war entsetzlich anzusehen, wenn in der Finsterniß ein brennender Himmel über ihrem Horizonte schwebte" (I 18. 379 f). Auch dieses Bild kommt im Zusammenhang nicht zu unmittelbarer sinnlicher Wirkung, sondern ist durch allegorischen Bezug geschwächt. Mit gelegentlichen Schilderungen künstlicher Feuerwerke (Lehrjahre, Wahlverwandtschaften) oder eines Brandes (Urmeister, ^foyel/e)/ —f ejn jLißhter}ehiii$, das/ für Go/ethe hafch /de'm /Alistéis vieler Handzeichnungen einen besonderen Reiz besaß, ohne ihn tätige Hilfe vergessen zu lassen — entfernen wir uns bereits vom Kreis des Landschaftlichen. Auch für den Fackelzug in der Bergfestnacht der pädagogischen Provinz gibt die Natur lediglich den Hintergrund her. So sehen wir in der Beleuchtung der Landschaft wesentlich das Werk der großen Lichterzeuger, die in sinnlich-geistiger Existenz den fernen Himmelsraum bevölkern. Diese Vorherrschaft ist so entschieden, daß sie selbst das einzige irdische Lichtmotiv, das die Prosalandschaft wiederholt darstellt, die R e f l e x i o n des W a s sers zu keiner eigentlichen Selbständigkeit kommen läßt. Farben und Lichter der Wasseroberfläche werden selten nach dem Verfahren eines ganz naiven Sinnenkünstlers als Eigen-schaften des Objektes selbst gefaßt (einmal in den Wahlverwandtschaften: „den silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich" [120.102]), sondern ausdrücklich durch den Begriff der Spiegelung als mittelbare Wirkung und Wiedergabe des atmosphärischen oder Himmelslichtes bezeichnet; zuerst im Werther: „wenn . . . der sanfte Fluß 9

Beiti.

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. . . die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abendwind am Himmel herüber wiegte" (JG 4. 264 f). In den Wahlverwandtschaften wird nicht der Teich grün oder schwarz oder in irgend einer Lichtabstufung gesehen, und noch darüber hinaus ist nicht das Wasser Ausgangspunkt der wahrgenommenen Reflexion, sondern die Gegenstände selbst bilden sich ab, so daß das Lichtmotiv — zumal in der Betonung der „Formen" — auf ein Minimum zusammenschwindet: „ I n der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche; d r ü b e n . . . ; endlich steile Felsen, welche senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begränzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberfläche desselben abbildeten" (I 20. 30 f). In solchen Übergängen kündet sich eine plastische Tendenz in der Wahrnehmung irdischer Lichtphänomene an, auf die wir noch kurz zu sprechen kommen. Die Fahrten der Freunde Mignons auf dem Lago Maggiore in den Wanderjahren geben Anlaß zu Bildern gespiegelten Lichts. Im Mondschein blicken sie auf den „ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten und rings widerglänzenden See" (I 24.372). Im Vorbeifahren bemerkt man „sich verschiebende Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannichfaltigste Vergnügen gewähren" (I 24. 362) und die Wirkungen des Himmelslichts, das „sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht" (124.356). Leonardos Tagebuch berichtet von einem „ruhigen, nicht allzuweiten, flachen Thale, dessen eine felsige Seite von Wellen des klarsten Sees leicht bespült sich widerspiegelte " ( I 25. 27). Auf der Suche nach den Ursprüngen der Augenfreude am Widerspiel des Lichts sehen wir uns bis auf einen Bericht in Dichtung und Wahrheit zurückgeführt, wo ein extremes Bild dieser Art mit den Anfängen des Zeichenstudiums in Verbindung gebracht ist: „wenn ich einen halbbeschatteten alten Stamm, an dessen mächtig gekrümmte Wurzeln sich wohlbeleuchtete Farrenkräuter anschmiegten, von blinkenden Graslichtern begleitet, mir zu einem qualreichen Studium ausgesucht" (I 27. 17). Noch in einem der spätesten Zeugnisse der Zeichenkunst, in einem Blatt der Sammlung 1810, sehen wir Goethe bei einem ähnlichen Motiv verweilen: er sucht mit Feder und Sepia die Wirkung festzuhalten, die das Licht beim Durchscheinen von Laubkronen hinter der Anatomie in Jena hervorbringt. Genau dasselbe Bild hat der Reisende schon bei Palermo beobachtet und aufgezeichnet: „Was ferner eine allerliebste Wirkung hervorbrachte, war das junge Grün zierlicher Bäume, deren Gipfel, von hinten erleuchtet, wie große Massen vegetabilischer Johannis-

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würmer vor den dunklen Gebäuden hin- und herwogten" (2.4.87). In dem Urteil eines Kenners, einer kunstkritischen Einschaltung in die Novelle von der Wallfahrt in Mignons Heimat, findet sich dasselbe Motiv: der Kenner lobt an den aquarellierten Zeichnungen das „auf mancherlei Weise nüancierte frische Grün, worin sanfte Lüfte mit gelindem Hauch zu fächeln und die Lichter dabei gleichsam bewegt erscheinen" (I 24. 367). Für die Landschaft der Romane selbst aber trägt diese Beobachtung, wohl wegen der hohen Intensität des Reizes, so wenig Früchte wie etwa die gesteigerte Wahrnehmung des Farbigen oder erregten Lichtes in Blitz und Meteor. Auch in der einfacheren und allgemeiner vertrauten Spiegelung des Wassers bleibt der Dichter hinter der umfangreicheren und stärkeren Wahrnehmung (vgl. z. B. die drei Fassungen der nächtlichen Golflandschaft von Neapel) des Zeichners, Reisenden und Naturforschers mit bewußter Beharrlichkeit zurück. P l a s t i s c h e s p h y s i o g n o m i s c h e s L i c h t . Die verhältnismäßig höchsten Steigerungen des landschaftlichen Lichtbildes werden da erreicht, wo sich die menschliche Gestalt auflösend in den Zusammenhang der objektiven Natur drängt und sie zur Ichlandschaft erhebt wie im Werther, in den Wahlverwandtschaften und in einigen Novellen der Wanderjahre. Und da bedarf es nur noch eines geringen Nachdrucks, um den Menschen selbst und sein Gesicht in den Mittelpunkt auch der sinnlichen Szenerie zu rücken. Was wir für die Wiedergabe der Farbe feststellen konnten, gilt, wie schon oben angedeutet, in hohem Maß auch für die des Lichts. Auf die Verbindungen und Übergänge zur Lichtwahrnehmung im allgemeinen wurde schon bei der Betrachtung der physiognomischen Farben aufmerksam gemacht. Hier soll noch eine besondere Eigenart des physiognomischen Lichtes in Goethes Roman kurz umrissen werden, die uns zugleich einen wichtigen Hinweis auf die innere Richtung seines Lichtsehens überhaupt zu geben vermag. Der erste Teil von Werthers Briefen aus der Schweiz gipfelt in der Verherrlichung der menschlichen Gestalt, geoffenbart in der Erscheinung des Freundes, der im See badet, und der fremden Frau. Obwohl „die Natur, von der fremden Hülle entkleidet, . . . fremd erschien und beinahe . . . einen schauerlichen Eindruck machte" (I 19. 217), ist doch die ästhetische Seite des Eindrucks klar erfaßt als plastisches Licht: „Welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der Jugend" (I 19. 213). Das Lichtmotiv ist gleichfalls hervorgehoben in der Schilderung, die Dichtung und Wahrheit von der Szene am See gibt: „Nackte Körper jedoch 9*

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leuchten weit" ( 1 2 9 . 1 3 4 ) . Wie eine Erinnerung an dieses Erlebnis mutet es an, wenn Wilhelm in den Wanderjahren beim Anblick des Kameraden ausruft: „als er sich heraushob, sich aufrichtete im höheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt' ich meine Augen von einer dreifachen Sonne geblendet, so schön war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen Begriff gehabt hatte" (I 27. 44). Tagesbeleuchtung der Sonne verstärkt den Licht- und Glanz eindruck, ja läßt diesem das Übergewicht. Die höchste Empfindung des Plastischen dagegen wird erst bei M o n d l i c h t oder K e r z e n f l a m m e erreicht, die rings um die Lichtinseln Nacht aufquellen lassen. Über jener Jugendlandschaft geht langsam der Mond auf, und der Sonnentag klingt erschütternd ab in dem parallelen Nachtbild, das fast an die Wirkungen der „Anatomie" von Rembrandt gemahnt: „ I n dem großen Saale, wo Versammlungen aller Art gehalten werden, lagen die Unglücklichen auf Stroh, nackt, ausgestreckt, glänzendweiße Leiber, auch bei düsterem Lampenschein hervorleuchtend" (I 25. 49 f). Etwas früher, in der Novelle Wer ist der Verräther, ist die Gestalt Flavios, den Furien der Liebesleidenschaft in einen Orest verwandelt haben, in scharf charakterisierendes plastisches Licht getaucht: „Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dämmerte hinter dem grünen Schirm . . . Hilarie sehnsuchtsvoll ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bläßlich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das Anmuthigste hervor, eine ruhende Hand und ihre länglichen zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an" (I 24. 318). Wo wäre je ein Landschaftsmotiv der Prosa nahezu anatomisch gewissenhaft bei so wirkungsvoller einheitlicher Umrahmung des Ganzen ausgeführt worden? Wenn dann Hilarie mit der Statue einer lichthaltenden Psyche verglichen wird, denken wir daran, daß Goethe schon in Rom das Abkommen des Brauches, die Vatikanische Sammlung antiker Plastiken nachts bei Fackelbeleuchtung zu durchschreiten, lebhaft bedauert hatte. Ein verwandtes Bild, aber des Todesschlafes, auch gepaart mit dem Grün eines Gegenstandes, begegnet uns in den Wahlverwandtschaften; Charlotte zeigt dem Hauptmann das tote Kind: „Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne geheimes Grausen, sein erstarrtes Ebenbild" (I 20. 365). In der eingefügten Novelle sucht der Retter der Geliebten „den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder in's Leben zu rufen"(l2o.332).

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Ungenannt bleibt das kontrastschaffende Licht auch, wo sich Ottiliens Gestalt wie eine Statue vom abendlichen Teich abhebt: „Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust . . . Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch Kälte dem Marmor gleicht" (I 20. 361 f). Auch hier ergibt sich wie bei Hilarie die Gedankenassoziation wirklicher Marmorplastik. Schon drei Jahrzehnte vor jener Jugendgeschichte in den Wanderjahren entwirft der Dichter dasselbe Schlußbild von Liebe und Tod in der BassompierreNovelle. Brennendes Stroh wirft entsetzliches Licht auf den Leib einer Geliebten, die die Pest hingerafft hat: „als ich in dem Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten, und bei der Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte Körper auf dem Tisch ausgestreckt sah" (I 18. 155). Von diesen Beispielen aus, deren Bedeutung nicht in der Zahl, sondern in ihrer Eindringlichkeit gesucht werden muß, können wir positiv beantworten, was aus der Landschaftsdarstellung allein mehr negativ abzuleiten gewesen wäre: Goethes Wahrnehmung von Lichterscheinungen endet ihrem inneren Streben nach nicht im Linearen, wo sich das Sinnliche mehr und mehr zum rein Begrifflichen hin abstrahiert, sondern im Plastischen, wo die exakte Wahrnehmung sich wieder mit warmer Empfindung füllt. 3. TON. Durch Goethes Leben läuft wie ein roter Faden das hartnäckig gläubige, oft verborgene, oft in leidenschaftlichen Aussprüchen sichtbare und schließlich doch ohne Erfolg gebliebene Suchen nach dem geistesverwandten Tondichter. Die schönsten Gedichte hat Goethe als Lieder gedacht, Melodramen, Libretti zu Singspielen und Opern vollendet oder angefangen, zahlreiche lyrische Zwischenstücke seiner Romane und Dramen auf musikalische Mitwirkung von vornherein angelegt. Selbst ausübend war Goethe nur in geringem Maß, musikalisch produktiv aber gar nicht. Diese Erkenntnis und das Fehlen des Bündnisses mit einem großen mitschaffenden Musiker führte ihn zur Bitterkeit des Wortes, daß er mit der Musik „ein Drittel des Lebens" verloren habe. Denn wie sehr jenes Verlangen schließlich doch die Sprache und innerste Stimmung seiner Werke befruchtete und verwandelte, wurde Goethe, nach den wenigen Zeugnissen zu urteilen, nur selten bewußt. Was die Natur an genauem Gehör versagt hatte, schenkte 133

sie dreifach wieder an warmer Empfindung. Das Musikalische gewann den Zugang zu Goethes Seele nicht durch einen sorgfältig differenzierten Geräusch- und Tonsinn, sondern durch ein Vermögen, das von der sinnlichen Einzelerscheinung nicht bestimmt, sondern höchstens bewegt wird, und das wir als Gefühl, Gemüt oder aus Goethes eigener Terminologie und der des achtzehnten Jahrhunderts heraus am besten als Empfindung bezeichnen. Das Hörvermögen des Dichters scheint sich gegen Qantitäten zart und u n s c h a r f gegen Q u a l i t ä t e n verhalten zu haben. In seiner Verletzlichkeit durch ungewohnte Tonstärken sieht Goethe in Dichtung und Wahrheit Nachwehen der Krankheit, zu deren Heilung er als Student von Leipzig nach Frankfurt heimkehrte. Von jener Zeit sei „eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben . . . Ein starker Schall war mir zuwider" (I 27. 256). Es liegt kein Grund vor, dieses erste Gewahrwerden einer Beschränkung der Tonsinnlichkeit nicht als historisch zu betrachten. Achtzig Seiten weiter, also an getrennter Stelle, die eine bewußte Bezugnahme nicht nahelegt, finden wir ein praktisches Beispiel für jene Bemerkung: „Das Geräusch des Wassers und der von ihm getriebenen Blasbälge, das fürchterliche Sausen und Pfeifen des Windstroms . . . trieb uns . . . hinweg" (I27. 335). Schon in einem solchen nicht nur neutralen, sondern negativen Verhältnis zu Geräusch- und Tonwahrnehmung erblicken wir einen Unterschied zum Farbensehen. Er vertieft sich, wenn in den Beschreibungen der Reisen in die Schweiz und nach Italien, wo das Lichtbild der Landschaft sich fortlaufend intensivierte und das Farbige aus der wissenschaftlichen Beobachtung zu den feinsten Abstufungen gelangte, die akustischen Eindrücke völlig nebensächlich, vereinzelt und in uncharakteristischen Formen im Hintergrund bleiben. Die Töne und Geräusche, die doch gelegentlich das Landschaftsbild begleiten, bringen gerade durch ihre Seltenheit den Mangel erst ins Bewußtsein. Die 1775, also noch in der eigenen Sturm- und Drangzeit unternommene Reise in die Alpen scheint zunächst eine Ausnahme machen zu wollen. Auf den wenigen Blättern, die eine exakte Augensinnlichkeit für Farbe und Licht noch vermissen lassen, stoßen wir auf verhältnismäßig reiche Gehörseindrücke: „ 1 8 . 8. das Klockengebimmel das Wasserfalls Rauschen der Brunn röhre Plätschern Waldhorn"; „ 2 1 . 8. Sturmwind u. Wolcken das Geräusch des Wasser falls der Saumrosse Klingel Öde wie im Thale des Todes" (III 1.6). Worauf diese Ausnahme beruht, wird weiter unten beim Werther deutlicher werden, wo wir sehen, daß die Herrschaft der Empfindungskräfte das scharfe Sehen mindert und 134

die Ton Wahrnehmung im Landschaftlichen vorübergehend begünstigt. Auch in dieser Reise ist der tiefere Grund angedeutet mit dem bedeutsamen Satz: „für lauter Wollust sah gar nichts" (III i . 5). Doch schon 1779 wird das wahre Verhältnis augenscheinlich. Diese Reise sammelt Licht- und Farbenmotive in breitester Empirie. Tonmotive aber sind nicht so intensiv und kaum zahlreicher als auf dem mehr als zwanzigmal geringeren Raum der Notizen von 1775 erfaßt. Ein Verweilen beim Ton als einem selbständigen Phänomen wie: „Ein großer Zug von Mauleseln machte mit seinen Glocken die Gegend lebendig. Es ist ein Ton, der alle BergErinnerungen rege macht" (I 19. 302) ist durch seine gänzliche Isolierung auffallend, Lämmergeier, Wasserfälle, Herden, vor allem oft Wind und Regen werden jedes Gehörseindruckes bar vermerkt. Das Bild z. B . : „die Wasserfälle bilden hier die schönsten Formen (!). Wir verweilten lange bei der Schönheit des einen, der über schwarze Felsen in ziemlicher Breite herunterkam. Hier und da hatten sich, in den Ritzen und auf den Flächen, Eismassen angesetzt, und das Wasser schien über schwarz und weiß gesprengten Marmor herzulaufen. Das Eis blinkte wie KrystallAdern und Strahlen in der Sonne, und das Wasser lief rein und frisch dazwischen hinunter" ( 1 1 9 . 3 0 3 ) ist für einen normal Hörenden fast nicht zu begreifen. Man könnte noch sagen, hier sei die Aufmerksamkeit bewußt auf das Bildnerische gerichtet und abstrahiere vom Akustischen. Aber in einem anderen Bild reicht ein knapper akustischer Zug „mit stillem Rauschen" gerade hin, um von seiner völligen Umrahmung, Überführung und Auflösung in Sehwahrnehmung zu überzeugen. Vor allem aber sind akustische Motive auch in der i t a l i e n i schen R e i s e l a n d s c h a f t in solcher Vereinzelung eingefügt, daß sie ihre Erfassung mehr dem Zufall als einem spontan wirkenden Gehörssinn zu verdanken scheinen, z. B . : „die Heuschrecken die gleich bei Sonnenuntergang zu schrillen anfangen" (Trient 10. 9.86). In Sizilien löst die unerhörte Steigerung der allgemeinen Sinnlichkeit nur einen namhaften Gehörseindruck aus: „Auf blühendenDisteln schwärmten unzählige Schmetterlinge DerWind saus'te in den Säulen wie in einem Walde, und Raubvögel schwebten schreiend über dem Gebälke" (Tempel von Segesta 20.4.87). Eher ist es die Negation des Tones, das Motiv der Stille, das in der italienischen Reise das Landschaftsbild mitbestimmt: „Die fruchtbaren Felder stehen grün und still" (Alcamo 19.4.87); „Die Gegend ruht in trauriger Fruchtbarkeit" (Segesta 20. 4. 87). Das Verhältnis des Akustischen zur Gesamtwahrnehmung der Land135

schaft bleibt dasselbe auch in den späteren Reiseaufzeichnungen, jedoch mit der folgenden Einschränkung. Wie Goethe, der als bildender Künstler nicht für einen Koloristen gehalten werden kann, auf der Höhe des Mannesalters zur wissenschaftlichen Erklärung und psychologischen Ausdeutung der farbigen Phänomene schritt, entsprangen nach einem oben schon einmal angedeuteten Gesetz der geistigen Kompensation aus dem Mangel einer praktischen Tonbegabung „vieljährige Studien" über die sogenannte temperierte Stimmung unserer Tonleiter, über Moll und Dur, über das Wesen der en harmonischen Modulation. Eine förmliche „Tonlehre" aber, die uns wohl ähnlich wie die Farbenlehre das Vorkommen der Töne in seiner ganzen Naturbreite aufgerollt und auch einen psychologischen Teil gebracht hätte, blieb in ersten Skizzen stecken, die in II. xi. 287 ff und im Anhang von II. 1 1 abgedruckt sind. Das entscheidende Hindernis bildete wohl die Mathematik, die Goethe sein Leben lang unvertraut blieb und ohne die eine Tonlehre nicht aufgebaut werden kann. Obwohl nämlich in den Reisebeschreibungen die Wahrnehmung von Licht und Farbe vor der des Akustischen stets einen unvergleichlichen Vorsprung bewahrt, so beweist doch die Campagne, daß eine erstaunliche Erweiterung und Schärfung des Gehörssinnes eintrat, sobald das Akustische mit wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, phänomenal, erfaßt wird: „(Belagerung von Mainz) Ende Juni — In einer unruhigen Nacht unterhielt ich mich aufzuhorchen auf die mannichfaltigen fern und nah erregten Töne, und konnte folgende genau unterscheiden (Im Original die Motive untereinander). Werda! der Schildwache vor'm Zelt. Werda! der Infanterie Posten. Werda! wenn die Runde kam. Hin- und Wiedergehen der Schildwache. Geklapper des Säbels auf dem Sporn. Bellen der Hunde fern. Knurren der Hunde nahe. Krähen der Hähne. Scharren der Pferde. Schnauben der Pferde. Häckerlingschneiden. Singen, Discuriren und Zanken der Leute. Kanonendonner. Brüllen des Rindviehs. Schreien der Maulesel." (I 33. 296). Die Campagne fällt in die Zeit lebhafter Arbeit an der Farbenlehre und legt auch für dieses Interesse mehrfach Zeugnis ab. So liegt die Vermutung eines tieferen, gegenseitig bedingenden Zusammenhangs beider Gebiete nicht fern. Tatsächlich zeichnet die Beschreibung des französischen Feldzugs auch die ersten Beobachtungen von Synästhesie auf, die später weiter ausgebaut in die Farbenlehre aufgenommen werden: „Kugeln . . . der Ton ist wundersam genug, als wär' er zusammengesetzt aus dem Brummen des Kreisels, dem Buttein des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels . . . 136

Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke, noch Deutlichkeit: aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunröthlichen Thon hätte" ( 1 3 3 . 73). Aber daß dieses gesteigerte Hören, von der Aufschließung der Sinne unter südlichem Himmel unberührt, erst fünfzehn Jahre später als die wissenschaftliche Farbenwahrnehmung einsetzt und vor allem, daß wir eine parallele Auswicklung in die Breite und Tiefe späterhin in keiner Weise finden, dies beides deutet doch darauf hin, daß wir bei Goethes Hören landschaftlicher Töne und Geräusche noch weit weniger als bei seinem Farbensehen von einer spontan und energisch hervortretenden Naturanlage sprechen können. Bei der Geringfügigkeit von Zahl und Umfang akustischer Motive in der Landschaft der Kunstprosa wollen wir die einfache chronologische Folge wählen, um das dünne Gewebe nicht durch äußere Ordnung nach Motiven völlig zu zerreißen. Die Tonmotive in der Landschaft des W e r t h e r kennzeichnet ein Dreifaches: sie treten fast ausschließlich in den lyrischen Höhepunkten des Gewitters, des 18. August und der nächtlichen Sturmszene auf, sind mit Licht- und Hautempfindungen eng verknüpft und in der Wahrnehmungsform uncharakteristisch. Auf dem Tanzausflug verstärkt sich das Leuchten der Blitze, bis „der Donner die Musik überstimmte", um schließlich mit der Entfernung wieder dem Gefühl von Duft und Fülle zu weichen:,, Wir traten an's Fenster, es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land" (JG 4. 239). Eine Charakterisierung des Tones (dumpf, hell, widerhallend) ist nicht versucht. In der Szene des 18. August gestaltet der höhere lyrische Impuls die Gehörseindrükke intensiver, ohne sie jedoch (besonders in dem „die Vögel beleben") erheblicher zu differenzieren: „wenn . . . der sanfte Fluß zwischen den lispelnden Rohren dahin gleitete . . . wenn ich denn die Vögel um mich den Wald beleben hörte, und die Millionen Mückenschwärme im . . . Strahle der Sonne muthig tanzten, und ihr lezter zuckender Blick den summenden Käfer aus seinem Grase befreyte und das Gewebere (zweite Fassung differenzierter„Schwirren und Weben") um mich her, mich auf den Boden aufmerksam machte" (JG 4. 264 f). Die hymnische Innigkeit dieser Szene bestimmt die Hinwendung des erlebenden Subjekts zum Unscheinbaren und Kleinen, aber mit organischem „glühenden, heiligen Leben" Begabten. Die nächtliche Sturmszene ist ebenso lyrisch konzentriert, um in der sinnlichen Wahrnehmung bis in die dunklere Tiefe des Akustischen vorzustoßen, aber der Ausdruck von Werthers verwandelter Seele ist jetzt das Unorganische, Elementare und Chaotische von Wasser und Wind in der Nacht. Ausge137

gangen wird auch hier vom weniger intensiven Gesichtseindruck. Zuerst sieht (!) Werther „die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln". Erst über das Geräusch des Windes weg: „eine stürmende See im Sausen des Windes" entwickelt sich das Tonmotiv der Wasserkraft nun im höchsten hymnischen Stil: „wenn denn . . . vor mir hinaus die Fluth in fürchterlich herrlichem Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! " (JG 4. 303). Auf das Verhältnis dieser Szene zur Landschaft Ossians wurde oben schon hingewiesen. Um die Verwandtschaft zu zeigen, genügt der Vergleich mit jener gleichfalls erwähnten Stelle, wo der Dichter den fremden Stil bewußt nachbildet. Wir finden bei Ossian auffallend wortähnliche Tonmotive: „ Z u wandern über die Haide, umsaust vom Sturmwinde . . . Zu hören vom Gebürge her, im Gebrülle des Waldstroms halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Holen . . . Sterne des Abends . . . , der sich in's rollende Meer verbirgt" (JG 4. 292). Daß der Werther darüber hinaus völlig frei ist von der sinnlich sentimentalen Übersteigerung der Ossianlandschaft, stellt die hohe künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit des jungen Dichters in helles Licht. Auch im Akustischen grenzt jene Landschaft nämlich an Manier, z. B . : „Waldströhme braust! Heult Stürme in den Gipfeln der Eichen!" (JG 4. 317); „Die stürmende Winde haben sich gelegt. Von ferne kommt des Giesbachs Murmeln. Rauschende Wasser spielen am Felsen ferne. Das Gesumme der Abendfliegen schwärmet über's Feld" (JG 4. 313). Im Eingang der Szene des wahnsinnigen Schreibers erblicken wir allenfalls noch etwas Ossianisches, das aber ebenso wie oben durch die innere Stimmung wohl begründet ist: „Alles war so öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge" (JG 4. 298). Dazu vgl. Ossian: „die ganze Nacht hört ich ihr Schreyn. Laut war der Wind, und der Regen schlug scharf nach der Seite des Bergs" (JG 4. 319). Der Wollust vergleichbar, von der die Tagebuchblätter 1775 berichten, wird in den lyrischen Höhepunkten des Werther die Natur mehr in ihrer „Fülle" gefühlt, „empfunden", als in ihren charakteristischen Erscheinungsformen geschaut; das begünstigt ein Hervortreten des Akustischen, verhindert aber doch zugleich eine überlegende Nuancierung. In der Abfassungszeit des U r m e i s t e r s beginnt sich dies zu ändern. In den wenigen akustischen Motiven dieses Romans tritt ein Streben nach sachlicher, differenzierter Darstellung deutlich zutage. Im großen Bild des von Wilhelms Gartenfenster aus gesehenen Sonnenunterganges wird durch mehrere definierende Prädikate die Eigenart des Tones herausgearbeitet: „wenn . . . der 138

klingende Ton der Frösche durch die feierliche Stille schrillte" (151. 28). Zugleich stellt dieses Motiv einen der seltenen Fälle dar, wo wir die Originalwahrnehmung nach Ort und Zeit so genau bestimmen können, daß sie zu einer Datierung der Abfassungszeit jener Stelle oder mindestens des status post quem tauglich ist. Im Brief vom 2. 5.77. an Frau von Stein vermerkt Goethe dieses Bild: „ S o gern war ich diesen Abend noch zu Ihnen. Der Zweifel ob Sie zurück sind, und das herrliche Gewitter das den ganzen Süd überleuchtet hält mich ab. Die Frösche schrillen mir den Kopf wüste". Die Übereinstimmung in „Frösche schrillen" ist umso bemerkenswerter, als die Umarbeitung „schrillen" als verfehlte Charakterisierung des Froschkonzerts erkennt und deshalb andere Musikanten, nämlich „Grillen" wählt. Daß die Korrektur dieses Gehörseindruckes ihren Weg über eine Beobachtung der italienischen Reise: „die Heuschrecken die gleich bei Sonnenuntergang zu schrillen anfangen" (10. 9. 86) genommen habe, ist gleichfalls einleuchtend. Ein eindringliches, wenn auch allgemeineres Motiv dem Ausdruck nach, begleitet die Ernüchterung des Morgens nach der Serenade: „das Geschrei der Hahnen" (I 51. 93). Während die Tonmotive im Werther aus einer leidenschaftlichen Bewegung des Landschaftlichen gleichsam als Nebengeräusch fast notwendig hervorgetrieben wurden, steigen sie im Urmeister wie klare Springbrunnen aus dem ruhenden Plan der Naturstille, die zum erstenmal ein selbständiges Motiv abgibt: „Es blieb alles finster und stille. Der Wind blies durch das hohle Thor" (I 52. 111). In Wilhelms Liebe mischt sich ein starker Zug männlicher Innigkeit, deren Symbol absolute oder nur melodisch von Horn, Flöte und Klarinette unterbrochene Stille ist: „Die seltsame Stimmung der Nacht, die öden Gassen, die er sonst voller Gewerbe gewohnt war . . . würzten das Abenteuer" (I 51. 74); am Abend der Serenade überläßt sich Wilhelm „ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten". Das Lied macht „die Nacht wohlklingend" (I 51. 90). In langsamer Verwandlung, ganz organisch wird zuletzt die liebe Seele selbst Landschaft des Tons: „die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele, es war als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde" (I 51. 92). In den Lehrjahren bleibt die Landschaft stumm. Ein starkes Geräuschmotiv in der Reise der Söhne Megaprazons ist nur äußerlich bedingt. Die gewaltsame Umgestaltung des Inselkomplexes leitet sich ein: „das Meer war in ungewöhnlicher Bewegung und die Stürme saus'ten mit fürchterlicher Wuth . . . in der Nacht ein entsetzlich Gepraß" (118. 380). Das Märchen ist arm an land139

schaftlichen Tönen. Eigentümlich ist wie sich künstlicher Ton, Frauengesang zur Harfe, in das Landschaftliche hinein fortpflanzt. Das allegorische Wesen des Märchens erlaubt es sogar, die Musikalisierung der Landschaft in der Verkörperung wirklicher Tonwellen und schließlich eines Hauches aufzufassen: „die lieblichen Töne zeigten sich erst als Ringe auf der Oberfläche des stillen Sees, dann wie ein leichter Hauch setzten sie Gras und Büsche in Bewegung" (I 18. 245). Die geringe Personenzahl und die Einheit der Handlung wie des Schauplatzes, die die W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n mit dem Werther gemeinsam haben, intensivieren auch das Landschaftsbild zum akustischen Eindruck. Doch setzt sich innerhalb des Gemeinsamen tiefe Verschiedenheit durch. Unmittelbar an Werther erinnert etwa die Leidenschaftlichkeit des nächtlichen Feuerwerks, das jedoch von der Landschaft nur umrahmt wird, oder Eduards inniges Gewahrwerden des fast geräuschlosen Kleintierlebens bei seiner Nachtwache am Haus der Geliebten: „Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still war's, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Thiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind" (120.142). Aber die scharfe Differenzierung der Feuerwerksgeräusche wie diese eindrucksvolle Untermalung durch absolute Naturstille rufen schon das veränderte Tonbild des Urmeisters in Erinnerung. Dieselben Wandlungen weisen noch deutlicher die Tonbilder um Charlotte und Ottilie auf. Die Abendlandschaft am Teich: „das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre . . . alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille" (I 20. 138) entfernt sich weit von der sinnlichen Selbstherrlichkeit Werthers. Auch Ottiliens Wesen drückt nicht das Getöse des Feuerwerks aus, wo bedeutsamerweise nur Eduard handelnd erscheint, oder etwa das in Sinnlichkeit verstrickende „Gewebere" eines schwülen Sommernachmittags, sondern die gedämpfte, dürftige Musik der Herbstnatur: „Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen" (I 20. 225). In der Landschaft der W a n d e r j ahre spielt das Akustische eine noch geringere Rolle. Ein intimeres Motiv aus Wilhelms Wanderung: „Übrigens war es so still um ihn her, daß er nie einen stilleren Sonntag erlebt zu haben glaubte; er verließ das Haus, vernahm aber das Glockengeläute" ( 1 2 5 . 71) wiederholt sich nicht. Mit den musikalischen Wanderungen der Romantiker hat die seine nichts gemeinsam. Die Abendgebetglocken und das Hornrufen im schönen Bild vom Abend am Zürichersee im dreizehnten Kapitel der 140

Wanderjahre können wir wie Abendrot, Sterne und Mondschein für Goethe nicht in Anspruch nehmen, nachdem Suphan nachgewiesen hat, daß das ganze Bild mit nur geringen Stiländerungen aus den Schriften des treuesten der Lebensgefährten, des Schweizers Heinrich Meyer, übernommen ist. Das Motiv der Naturstille gewinnt noch einmal nachdrückliche Formulierung in der Novelle: „Über die große Weite lag eine heitere Stille, wie es am Mittag zu sein pflegt, wo die Alten sagten, Pan schlafe" (I 18. 329). Die Stelle weist die engste Motiwerwandtschaft auf mit einem Bericht Eckermanns, der Goethe am 22. 3.24. so erzählen läßt: „ich sitze hier (am Gartenhaus) gerne an warmen Sommertagen nach Tisch, wo denn auf diesen Wiesen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille herrscht, von der die Alten sagen würden, daß der Pan schlafe". Daß auch im Akustischen die M e n s c h e n d a r s t e l l u n g , das Physiognomische, einen Vorrang vor der Landschaftsdarstellung behauptet, soll noch angedeutet werden. Schon im Werther teilt die menschlich künstliche Gestaltung des Akustischen, die Musik, die Wirkung der ungeordneten Naturgeräusche, und der menschliche Anteil am Tonreich, die Stimme, wird fast ebenso beachtet wie die physiognomische Farbe oder Linie. Im Wilhelm Meister tanzt und singt Mignon, tönt das geheimnisvolle Harfnerlied, Serenade, Hausmusik und Totengesang. Serlo ist ein humoristischer Meister der Tonimitation, er kann ein ganzes Feuerwerk vorführen, und die Geräusche einer Liebesnacht werden so reich und detailliert wie das nächtliche Tonbild in der Campagne und viel eingehender als an irgendeinem Landschaftsbild aufgezeichnet: „ E s ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Thüre thut sich auf, man erkennt ein liebes pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen!" (I 22. 167). Die okkultistische Geschichte der Sängerin Antonelliin den Unterhaltungen, die gegen Mitternacht ihre „klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nachtönende Stimme" gespenstisch hören läßt, ist ganz auf die charakteristische Erfassung physiognomischer Töne eingestellt. In den Wahlverwandtschaften ordnet sich der musikalische Dilettantismus zu symbolischen Duetten von Geige (Hauptmann) und Flöte (Eduard) mit Klavier (Charlotte und Ottilie). Musik ist in den Wanderjahren in der pädagogischen Provinz, in der Wallfahrt der Vier und sonst Ausdeuterin oder wenigstens Begleiterin seelischer Vorgänge. In dem Knaben des Tierbändigers in der Novelle erhält Mignon ein 141

Gegenstück. Über die Eigenart und Wirkung der menschlichen Stimme sind in den letzten Romanen viele und eindringliche Bemerkungen verstreut, während die Landschaft fast ganz stumm bleibt. Wenn Goethe die geplante Tonlehre ausgearbeitet hätte, würden wir wohl der menschlichen Stimme eine ebenso hohe Stelle zugewiesen finden, wie sie das Incarnat unter den Farben einnahm. Von der „vox humana" als letztem krönenden Register phantasierten ja auch die Orgelbauer des Barock und Rokoko mit demselben hartnäckigen Ehrgeiz wie die Alchimisten vom Stein der Weisen. 4. D U F T U N D H A U T E M P F I N D U N G . Schon der Vorrat der Sprache z. B. mit den Verben tönen, summen, säuseln, schauern, schweben, weben, wehen, ziehen, drängen, wühlen, krabbeln, tanzen, wirbeln, stürmen, strömen, dampfen, hauchen, duften — die Goethes Prosa alle verwendet — zeigt, daß es nicht möglich ist, scharf abzugrenzen zwischen Ton- und Hautempfindungen, besonders aber zwischen den niederen Sinnesempfindungen untereinander, also zwischen den Wahrnehmungen von Duft, Geschmack, warm und kalt, rauh und glatt, eng und weit usw. und den Wahrnehmungen vom Entstehen und Vergehen dieser Eindrücke, also von B e w e g u n g im weitesten Sinn. Von den angeführten Verben ist nur etwa tönen, tanzen, duften einseitiger Ausdruck von Ton, Bewegung, Duft. Die übrigen halten eine bewegliche Mitte inne zwischen benachbarten Empfindungen und brauchen sich auch in der Anwendung auf ein bestimmtes landschaftliches Motiv nicht klar zu entscheiden. In der Szene zwischen Charlotte und dem Hauptmann am abendlichen Parkteich z. B. ist es ungewiß, ob der „hinschauernde Windhauch" das Gefühl für Beengung, Kühle, Rauheit, Ton oder allgemeine Bewegung auslösen soll. Der Grund für dieses Fließen der Grenzen ist wohl darin zu suchen, daß im Gegensatz zum Gesichtssinn die „Empfindungen" einschließlich des Gehörssinns in einer tieferen Ebene von geringerer Helligkeit und Schärfe der Unterscheidung wirksam sind und deshalb überdies mehr von der Abstumpfung des sinnlichen Lebens durch die menschliche Zivilisation beeinträchtigt werden. Nur ein ausgesprochener Sinnenkünstler, der Goethe zumal als Prosaist nicht sein wollte und nicht war, würde die einzelnen Erscheinungsformen dieser unteren Schichten, die vom Schauen zum Fühlen, vom Verstand zum Instinkt führen, mit solcher Selbständigkeit darstellen, daß eine Betrachtung nach besonderen 142

Gruppen möglich würde. Für Goethe bildet gerade die Dunkelheit und das Ungewisse den Inhalt solcher Motive und den symbolischen Kern, wo er allgemeine Empfindungsmotive in der Prosalandschaft zur Darstellung bringt. Sie erscheinen nicht zufällig fast nur im Werther, in der Ständchenszene des Urmeisters, in den Wahlverwandtschaften und in novellistischen Teilen der Wanderjahre, wo überall in den Menschen die vernunftfremden, unklaren, dumpfen und naturhafteren Kräfte der Leidenschaft die Oberhand gewinnen. Welchen Grad und eine wie innige Verknüpfung die unteren Empfindungsmotive besonders im W e r t h e r erreichen, zeigt mit der größten Eindringlichkeit das Bild des 18. August. Wenn wir jetzt die Farben-, Licht- und Toneindrücke übergehen, stellt sich die Folge der Empfindungen so dar: „Das volle warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte . . . wird mir jezt zu einem unerträglichen Peiniger . . . Wenn ich sonst . . . alles um mich her keimen und quellen sah, wenn ich jene Berge, vom Fuße bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Bäumen bekleidet, all jene Thäler in ihren mannichfaltigen Krümmungen von den lieblichsten Wäldern beschattet sah, und der sanfte Fluß zwischen den lispelnden Rohren dahin gleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die der sanfte Abendwind am Himmel herüber wiegte, wenn . . . die Millionen Mückenschwärme . . . muthig tanzten, . . . das Gewebere um mich her, mich auf den Boden aufmerksam machte und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das Geniste, das den dürren Sandhügel hinunter wächst, mir alles das innere glühende, heilige Leben der Natur eröffnete, wie umfaßt ich das alles mit warmen Herzen, verlohr mich in der unendlichen Fülle" (JG 4. 264). Nicht mit Augen oder Ohren, sondern ausdrücklich mit dem Herzen, das als Zentrum der Empfindungen gemeint ist, wird die Landschaft erfaßt. Dann folgen sich die Motive feuchter Wachstumsbewegung, der Weite und Kühle, innerer intensiver Bewegung, des Übergangs zu Enge, Nähe und Wärme und zu unmittelbaren Hautempfindungen (harten, dürren); der schon außerlandschaftliche Ausdruck höchster Wärme und die ins innere verlegte Polarisation von Enge und Weite, Besitz und Verlust (wie faßt ich: verlohr mich) schaffen den Übergang zur völlig hymnischen Gestaltung der Landschaft, deren wahrer Schauplatz die produktive Phantasie, die Kraft der Vision, die „Seele" ist („die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten sich alllebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich, Abgründe lagen vor mir, und Wald und Gebirg erklang") und die nicht mehr dem

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Wortlaut nach auf wahrgenommene Motive festgelegt werden kann. Wenn man nun noch bedenkt, daß auch eingeflochtene Lichter nnd Töne (im lezten rothen Strahle der Sonne; ihr lezter zuckender Blick; lispelnden Rohren; Vögel beleben hörte; summenden Käfer; Gewebere) von Empfindungsmäßigem mindestens überfärbt sind, dann ist an dieser Szene fast nichts geschaut, alles empfunden. Daß ihre Tendenz nicht auf die Klarheit des Gesichtsbildes gerichtet ist, geht schon daraus hervor, daß adjektivische Ausdrücke wie: lieblichsten Wäldern, lieben Wolken, sanfte Fluß, sanfte Abendwind als reinste Produkte dieses Stils empfunden werden, obwohl sie nicht die geringste Anschauung, sondern nur innige Stimmung geben. Einen ähnlichen, kleineren Kreis durchlaufen die Empfindungen in dem weniger leidenschaftlichen Bild des 10. Mai: „Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Daseyn versunken (Grundeinstellung) . . . Wenn das liebe Thal um mich dampft (Bewegung und Wärme), und die hohe Sonne (Weite und Wärme) . . . ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege (Ton, Bewegung, Enge), und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräsgen (Nähe, Menge) mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen . . . näher an meinem Herzen fühle (Bewegung, Rückkehr zur Grundeinstellung und Übergang zur Seele als Schauplatz) . . . mein Freund! wenn's denn um meine Augen dämmert (Erlöschen der äußeren Welt), und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht" (JG 4. 222). Auch das erste eindringliche Frühlingsbild fixiert wie diese beiden Szenen unbewußt das Herz als wahrnehmendes oder, genauer, empfindendes Organ; nur wird hier über Wärme, Fülle, Schauer, Schweben zu konkreter Empfindung von Duft vorgedrungen: „diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Straus von Blüten, und man möchte zum Mayenkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben . . . zu können" (JG 4. 221). Es ist aber bezeichnend, daß die an sich bestimmtere Wahrnehmung von Duft sich im Rahmen dieses gefühlsmäßigen Bildes doch wieder verallgemeinert und verdunkelt durch die Metapher, wie ja auch kein genauer Farbenoder Lichteindruck zustande kommt, obwohl beide (Baum, Hecke, Strauß von Blüten) so nahe liegen. Dieselbe Beobachtung machen wir an der Tanz- und Gewitterszene. Sie ersetzt ein mit den Empfindungen : „es war sehr schwühle, . . . Besorgniß wegen eines Gewitters, das sich in weisgrauen dumpfigen Wölkchen rings am Horizonte zusammen zu ziehen schien" (JG 4. 232). Dann treten 144

schärfere Licht- und Toneindrücke in den Vordergrund, die am Schluß des Bildes wieder abgeblendet sind: „es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf" (JG 4. 239). Besonders im Akustischen (donnerte — säuselte — stieg auf) vollzieht sich der Übergang zu unbestimmter Bewegung unauffällig, aber umso suggestiver. In den skizzenhafteren Naturbildern findet das Motiv der Windbewegung: „blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras . . . hin und her wiegt" (JG 4. 310) und besonders das der Schattenkühle um Brunnen und unter Bäumen noch mehrfache Anwendung: „Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen . . . Gewölbe..., wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Das Mäuergen, das oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume die den Plaz rings umher bedecken, die Kühle des Orts; das hat alles so was anzügliches, was schauerliches" (JG 4. 223). Zwei Linden des Wirtshauses in Wahlheim, „die mit ihren ausgebreiteten Ästen den kleinen Plaz vor der Kirche bedecken" machen das Plätzchen „ S o vertraulich, so heimlich" (JG 4. 228). Im Pfarrhof eines Örtchens im Gebirge lobt Werther „die schönen Nußbäume", die „so lieblich beschatteten" (JG 4. 243) und den empfindsamen Wanderer „immer mit dem grösten Seelenvergnügen füllten. Wie vertraulich sie den Pfarrhof machten, wie kühl" (JG4.291). Ähnliche Empfindungen begleiten den Sonnenaufgang nach durchtanzter Nacht: „Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher" (JG 4. 240). Daß die große nächtliche Hochwasserszene unerwarteterweise keine empfindungsmäßigen, sondern mächtige Licht- und Tonmotive aufweist, deutet darauf hin, daß jene der Ausdruck einer Verdunklung und Verdumpfung, allerdings zugleich Verinnigung, aber nicht eigentlich einer dynamischen Steigerung des seelischen Geschehens sind. Der tragische Umschwung, die Katastrophe vollzieht sich wieder in gewaltigen Visionen, Gesichtseindrücken mit selbständig gestaltetem Tonorchester. Im Urmeister wie in den L e h r j a h r e n erinnert nur die musikalische Nachtszene an die Landschaft Werthers. Schon die Töne der Musik sind in typischen Zwischenformen ausgedrückt, die der allgemeinen Empfindung nicht weniger angehören als dem Tonsinn : „überließ seinen Busen ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten" (I 51.90); dann das engere Bild um Wilhelm: „die Ruhe ging in Verlangen hinüber, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem 10

Bell!.

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reinen Busen bewegt hervordrang" (I 51. 91). Der große Unterschied vom Werther ist indes unverkennbar. Hier ist von vornherein fast nur die Seele des Liebenden Schauplatz der Polarisation. Werther stellt der Dichter mit „vollem warmen Herzen", Wilhelm aber mit „reinem Busen" vor die Natur. Mit gleicher Klarheit wird der Strich gezogen zwischen Ich und Natur in einer ähnlichen Szene Eduards in den W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n . Nur mit einem knappen einleitenden Motiv unterstützt die Landschaft die empfindungsmäßige Seelendämmerung: „Die warme Nacht lockt Eduarden in's Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit" (I 20. 141). Schwerwiegender ist das Schicksal, eindringlicher sind die landschaftlichen Empfindungsmotive um Charlotte. Sie sieht „den Mann, um den sie im Stillen schon soviel gelitten hat, in der Dämmerung vor sich sitzen. Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel" (I 20. 137). Jedes einzelne Motiv vereinigt in sich Bewegung, Hautgefühl, Ton. Auch die Todesszene des Kindes hebt mit dunkler Empfindung an: „es dämmerte schon und duftete feucht vom See" (120. 360). Doch kommt in diesemBild wie überhaupt in den Wahlverwandtschaften die tiefere Symbolik der schicksalverkündenden Erscheinung des Lichtes dazu. Dasselbe gilt auch von den W a n d e r j a h r e n . Situationen ungewisser Empfindung kommen zwar noch zustande, z. B. in der Wallfahrt der Vier zum Lago Maggiore. Sie wird sorgfältig und seelenkundig, fast abstrakt beschrieben, aber die Natur hüllt sich in kein dunkles dämonisches Gewand: „wenn die Anmuth einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das Gegenwärtige, als wär es nur Erscheinung, geistermäßig entfernt. So abwechselnd hin und her geschaukelt, angezogen und abgelehnt, genähert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage" (124.363). In die engste Verwandtschaft mit Werther tritt aber in dieser Hinsicht die Jugenderzählung Wilhelms. Das Blumenpflücken bereitet die Stimmung der Hauptszene vor: „der liebliche Duft gesammelterFrühlingsblumen schien immer erquickender und balsamischer zu werden" (125.42). Dann setzen sich Wilhelm und der älteste Sohn des Fischers „mit ein paar Angelruthen an eine schattige Stelle, wo im tiefen, ruhig 146

klaren Wasser gar manches Fischlein sich hin und her bewegte" (I 25. 43). Erst aus dieser Konzentration durch Empfindung von Duft, Kühle, Tiefe, Ruhe und leiser Bewegung löst sich die Erscheinung des badenden Knaben: „er . . . übergab sich dem Strom und kam bis an mich in dem tieferen Wasser heran; mir war ganz wunderlich zu Muthe geworden. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen und goldschimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten und schwankten geisterartig zu meinen Füßen . . . Es war umher so warm und so feucht, man sehnte sich aus der Sonne in den Schatten, aus der Schattenkühle hinab in's kühlere Wasser" (I 25.43 f). Der Wortvorrat ist zum Teil derselbe wie im Werther (lieblich, balsamisch, schattig; tanzen, krabbeln, schweben). Aber ebenso mächtig wie die Verdunklung durch Empfindungsmotive wirkt hier der Realismus in Sprache und Bildstil, der selbst das Dämmerige, Verworrene gestaltet und anschaubar zu machen vermag. Breite und impressionistische Akzente, zu denen im Werther Ruhe und abgeklärte Sinnlichkeit fehlten, hemmen hier die allgemeine vibrierende Bewegung, und diese selbst verrät in den knappen Sätzen ein Streben, sich zu charakterisieren und aus allgemeiner Empfindung abzuheben. Bei aller lyrischen Steigerung werden seelenruhig vier Tiernamen ausgesprochen, zu denen in der Wertherlandschaft nicht der Atem blieb. Und was wieder bezeichnend ist, der innere Höhepunkt des Bildes, die Glanzerscheinung der menschlichen Gestalt ist unter „höheren Sonnenschein" gestellt und leuchtet selbst wie eine „dreifache Sonne". Das Landschaftsbild Werthers war innig, aber auch wild und dumpf, das Naturbetrachten des in Wilhelm rückschauenden Goethe ist nicht weniger innig, aber von gebändigter Dämonie und „ruhig klar".

10*

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DER SPRACHSTIL DER LANDSCHAFT. Die künstlerische Vermittlung zwischen Wirklichkeit und Gedankenbild, zwischen Wahrnehmungsstoff und Erlebnisgehalt ist die Form. Ihr Wesen ist sinnlich-geistig. Sie drückt das Innere im Äußeren aus mit Hilfe eines technischen Mittels. In der Malerei ist es die Farbe, in der Sprachkunst das Wort. In unserem engeren Thema der dichterischen Landschaftsdarstellung stellt das Naturgefühl den Gehalt, dagegen Farbe, Licht, Ton usw. den Stoff dar. Die Art und Entwicklung der formalen Auseinandersetzung zwischen beiden fassen wir unter dem Begriff des Stils zusammen. Für die Dichtkunst erschwert sich dessen Anwendung deshalb, weil sie nicht, wie die Malerei mit einzelnen Farben, mit elementaren sinnlichen Zeichen, mit einzelnen Lauten, sondern mit stehenden Zusammensetzungen, Wörtern, die einen bestimmten Sinn besitzen, wirken muß. So ist eine Stilistik der Dichtkunst von vornherein in Gefahr, mehr auf die geistige, wortsinnhafte, als auf die sinnliche Seite ihrer Erscheinung zu achten. Das geschieht in allen Stilanalysen, die auf rein grammatikalisch-syntaktischer Grundlage aufgebaut sind. Daß damit zwar die Logik, das Rationale, die Sätze der Sprache, aber nicht das Künstlerische, die Dichtung der Sprache zu erfassen möglich ist, wurde in den letzten Jahrzehnten mit Notwendigkeit immer deutlicher. Grammatik ist das (noch dazu fast restlos in der Nomenklatur toter und außergermanischer Sprachen gehaltene) Logik- und Regelbuch der Sprache, Mathematik ist das Logikbuch der Zeichenkunst. Niemand aber versucht mehr, den Stil der Holzschnitte Dürers nur aus den Resultaten einer strengen Prüfung nach den Gesetzen der geometrischen Perspektive, der Mechanik zu bestimmen. Ebensowenig legt man einer musikalischen Stiluntersuchung nur die Harmonielehre und den Kontrapunkt zugrunde. Lange genug haben Sprachschulmeister (Lehmann!) Goethes Faust I I wie einen verderbten mittelhochdeutschen Text zu sich in die Lehre geschickt, anstatt ihre Grammatik aus dem Faust zu ergänzen, da diese doch später ist als die lebendige Sprache und nicht ihr knöchernes Gefängnis sein soll. Stilistik steht der Poetik näher als der Grammatik und muß nicht eine Logik, sondern eine Metaphysik der Sprache auszubilden versuchen. 148

In der Kunstwissenschaft wurde in den letzten Jahrzehnten unternommen, hinter die einzelnen formalen Stilelemente, die in immer reicherer Fülle gesammelt und gesichtet dalagen, zurückzugehen auf letzte stilistische Grundbegriffe. Solche wurden gefunden und setzten sich durch, pluralistisch wie in den Begriffspaaren Wölfflins oder dualistisch in den zwei obersten Begriffen Worringers und Schefflers vom Gotischen und Antiken, von Ausdruck und Schönheit, Kraft und Maß. (Beträchtliche Zeit vor der Kenntnis dieser Werke hatte ich die unten dargestellten Begriffe aus meinem Untersuchungsstoff abgeleitet). An Versuchen fehlte es seit geraumer Zeit auch in der Literaturwissenschaft nicht, die sich noch vermehren werden bei der Vorliebe und Begabung unserer Zeit für die Morphologie1). Eine allgemein anerkannte und in unser lebendiges Gefühl übergegangene Theorie von den Grundbegriffen der sprachlichen Kunst gibt es aber wohl noch nicht. Ich bin nicht zu bescheiden zu glauben, daß diese in der Richtung liegen, die in den folgenden, auf Goethes Prosalandschaft konzentrierten Ausführungen eingeschlagen wird. Freilich bedarf es noch einer Herausarbeitung und der Erweiterung des historischen Stoffes, um die Geltung einer solchen These allgemein zu machen. Was unten breit bewiesen wird, muß zunächst dogmatisch ausgesprochen werden. Wenn wir eine sprachliche Darstellung von allem Unwesentlichen und bloß näher Bestimmenden zu befreien suchen, bleiben uns zwei letzte Elemente, das N o m i n a l e und das V e r b a l e . Das Verbale ist gegenwärtige Aktion, das Nominale perfektischer Zustand. Das Verbale ist Freiheit, Bewegung, Dynamik, Rhythmik, Charakteristik, Steigerung, das Ungerade — das Nominale ist Gesetzmäßigkeit, Ordnung, Statik, Tektonik, Typik, Symmetrie, das Gerade. Das Verbale entspringt aus und vermittelt Gefühlsmäßiges, Vitales, das Nominale aber Gedankliches, Geistiges. Es läßt sich schon vermuten, daß in der Anwendung auf Landschaftsdarstellung ein besonderer Zusammenhang zwischen objektiver, ruhender Beschreibungs- oder Eindruckslandschaft und dem Nominalen, zwischen subjektivierter, bewegter Ich- oder Ausdruckslandschaft und dem Verbalen stattfinden wird. Daß aber überhaupt dichterische Landschaftsdarstellung einer gesonderten Stilbetrachtung unterzogen wird, bedarf so wenig einer näheren Begründung, als es berechtigt und fruchtbar ist, nicht nur Dürers reine Landschaften, sondern alleHandzeichnungen, Stiche, Schnitte und Gemälde in grundsätzlicher Abstraktion vom Figürlichen *) Vgl. das (nach Abschluß dieser Arbeit erschienene) W e r k : Pongs, Das Bild in der Dichtung. Marburg 1 9 2 7 .

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auf die Darstellung der Landschaft und ihren Stil zu prüfen. Für den Gesamtstil Dürers oder Goethes ergibt sich daraus vielleicht nichts Änderndes, aber sicher viel Präzisierendes und Vertiefendes. Unerläßlich aber sind solche Untersuchungen für eine Stilgeschichte der bildnerischen wie der dichterischen Kunst der Landschaftsdarstellung. Ähnliche Versuche am Naturbild Klopstocks, Wielands, Hölderlins, Kellers, Fontanes haben sich mir gleichfalls als fruchtbar erwiesen. Um die Verwechslung unseres stilistischen mit dem rein grammatischen Sinn der Worte Nomen und Verbum zu vermeiden, stellen wir sie im folgenden unter Nebenbetonung und erheben dafür das D y n a m i s c h e und das T e k t o n i s c h e zu eigentlichen polaren Grundbegriffen. Innerhalb dieser Grundbegriffe behalten wir natürlich die gewohnte Terminologie (Substantiv, Adjektiv usw.) bei zur Herstellung einer äußeren — nicht inneren — Ordnung der Demonstration wie ja auch die Kunstwissenschaft sich innerhalb der Grundbegriffe mit den hergebrachten Bezeichnungen der Geometrie, Mechanik, Anatomie, Physiognomik usw. behilft. Dem Wandel des Stils wird sich unsere Methode anpassen und zwar in der Weise, daß wir im dynamisch verbalen Stil den einzelnen Wortkörper, im tektonisch nominalen Stil mehr die Wortkonstellationen zur Anschauung zu bringen versuchen. Mit der wachsenden Nähe der Altersprosa wird unsere Untersuchung immer mehr am Ganzen eines Landschaftsbildes stattfinden. Wachstum und Bewegung kann an einzelnen Teilen, ein Verhältnis aber nur an mehreren oder allen Teilen gezeigt werden.

DER D Y N A M I S C H E

STIL.

Werther (1774). Im zweiten Kapitel dieses Buches ergab sich bereits, daß wir im Werther von Beschreibungslandschaft im eigentlichen Sinn nicht sprechen können. Auf die geringen unorganischen Züge einer solchen, die Goethe später einfügte, wurde gleichfalls dort schon hingewiesen. Da außer diesen in der Umarbeitung keine Erweiterung des landschaftlichen Bildkreises erfolgt und Änderungen nur die graphische und grammatische Richtigkeit betreffen, legen wir im folgenden aus Gründen der klareren Schreibung und übersichtlicheren Interpunktion die zweite Fassung (WA I 19) zugrunde. Das bodenständige, eigenste Produkt des dynamischen Stils ist das V e r b u m . Gesteigerte I n t e n s i t ä t ist das eine Stilmerkmal der Ausdruckslandschaft, einmal in die Tiefe gerichtet nach dem 150

Sinnlichen und Musikalischen, das anderemal in die Breite nach dem Emphatischen, Verallgemeinernden. An beiden Tendenzen hat, wie wir sehen werden, die Gestaltung des Substantivs, seiner Kompositionen und adjektivischen Bestimmungen Anteil. Diese stellen aber doch nur behauene Quadern dar, über denen unsichtbar der Satzplan schwebt. Um den Stoff der Nomina, der Gegenstände und Begriffe, um den toten Plan in lebendige Wechselwirkung umzusetzen, die zerstreuten Eisenfeilspäne um die Pole sich schließen zu lassen, bedarf es des Kraftstroms, der Aktion, der B e w e g u n g , deren Träger das Verbum ist. Es ist der Blutstrom, der die unverbundenen Teile des Satzkörpers erst belebt, oder der Lichtstrahl, der den grauen Nebelbogen zur Iris aufleuchten läßt. Diese Beweguiigstendenz, die in jedem Verbum liegt, ist ebensowenig in Worten demonstrierbar als das Gesetz des Satzes. Wie aber dieses durch Partikeln und Konjunktionen einen sekundären Ausdruck findet, so wird der Sinn des Verbums ausgedeutet durch die P r ä p o s i t i o n e n , die sich oft als P r ä f i x unmittelbar zu ihm gesellen. Außerdem aber besitzt das Verbum nicht nur jene innere Aktivität, sondern hat vor dem Satz die sinnliche Wortgestalt voraus, die an den Stilmöglichkeiten des Nomens Anteil hat. In den Umwandlungen des W o r t k ö r p e r s kann dann auch jene unsichtbare Bewegungstendenz mittelbar anschaulich gemacht werden. Das Verbum wird ferner der Ausdruck für das zweite Hauptmerkmal im Bildstil der Ausdruckslandschaft: die Spannung auf ein Ziel zu, die Steigerung zum Schluß, zu einem zusammenfassenden Höhepunkt des Bildes, das um ein Ich geschlossen wird, — die Verdrängung verstandesmäßig anschaubarer Ordnung durch gefühlsmäßige äußere und innere B e w e g u n g . Wir unterscheiden: i . Verben des Umstandes; 2. Verben eines allgemeinen Geschehens; 3. Verben eines intensiven Geschehens, in präpositionaler Umrahmung und mit bewegenden Präfixen. Besonders in den ersten Briefen führt uns das verbum substantivum noch in den Bezirk entwicklungsloser Zuständlichkeit der Z e i t - und O r t s a n g a b e , hält uns gleichsam auf der Nullstufe verbaler Bewegungsfunktion: Jeder Baum . . ist (7), Stadt . . ist unangenehm . . Garten ist einfach . . Kabinettchen . . , das sein . . war und auch meines ist (7); femer (9, 16, 26, 38, 49, 58, 79, 108, 1 2 2 , 143, 149).

Der Tagebuchstil begründet eine Anzahl Verben des gelegenheitlichen Umstandes: in's Gebirge zu reiten (64), um die Stadt spazieren (70), Frühling da zuzubringen (107), Weg, den ich . . fuhr (115), du kennst die Nußbäume, unter denen ich . . gesessen . . die sie . . pflanzten (121). 151

Der, wenn noch nicht bewegende, doch malerisch verdumpfende dynamische Charakter des Verbums zeigt sich, wenn sein Grundbaß durch a l l g e m e i n e , unbestimmt färbende Adverbien instrumentiert wird oder wenn durch Umsetzung ins Präsens und in die Befehlsform belebt wird. Der leichteren Übersicht halber unterscheiden wir zwischen Verben des subjektiven (des Ichs) und des objektiven Verhaltens (der Landschaft). Die stilistische Fruchtbarkeit einer solchen Trennung wird sich bei den Wahlverwandtschaften ganz erweisen. Verhalten des S u b j e k t s : wenn . . ich . . liege (8), hab' ich . . Plätzchen gefunden (16), das erstemal, als ich •. kam, fand ich (17), wie oft habe ich . . gesehn (38), pflücke Blumen . . füge sie sehr sorgfältig . • werfe sie (63), T h o r ! der du . . gering achtest (74, 75), als säß ich . . auf der Wiese (76), so oft hatte ich hier gestanden .. und .. zugesehen (81), Sie machte uns aufmerksam . . ich stand (82), wenn ich manchmal stand (110), stundenlang könnt' ich hier sitzen (109), du kennst die Nußbäume, unter denen ich . . gesessen . . die mich . . immer . . füllten (121), ich hatte gehört . . stand ich . . und . . sah (151), die Sonne nicht mehr sehen (177, 178). Verhalten des O b j e k t s : liegt ein Ort (16), der Winter kommt (20), Blätter machen . . unrein . . die Bäume nehmen (122), . . sie liegen (123), Schnee . . deckte (143).

Eine besondere Stilerscheinung dieser Stufe ist noch zu erwähnen, deren breitere Bildungsweise einem ähnlichen T r i e b zu entspringen scheint wie die später zu betrachtende emphatische Substantivauflösung in genetivischer Ordnung. Anstatt z. B . in wirbelt die Natur allein zu zeigen, wird das erlebende Ich hinzugezogen : wirbeln zu sehen. Die knappe Wortwoge eines stilstarken Verbums wird zum Infinitiv verbreitert und durch das hinzutretende sah, hörte zum gedehnteren Ausklingen gebracht. V o m sinnlicheren fällt dabei ein Glanz auf das ärmere Verbum. Andererseits wird das innerlich Treibende der Ichlandschaft unterstützt durch die Gewichtlosigkeit des verallgemeinernden Verbums der zweiten Stufe, das für sich betrachtet keinen Anschauungs- also auch keinen Ablenkungstoff bietet: Blitze • • leuchten gesehn (34), keimen und quellen sah (73), beschattet sah (74), beleben hörte . . sah . . wirken und schaffen (74) ich sah . . wimmeln (74), heraufsteigen hörte (82), und sah . . schimmern (86), Sonne untergehen zu sehen (103), wirbeln zu sehen (151).

In der größten Mehrzahl gehört das Verbum der Ausdruckslandschaft der d r i t t e n Stufe an. Die einfachen intensivierenden Formen sind seltener: 152

Verhalten des S u b j e k t s : dann sehne ich mich . . ich gehe . . zu Grunde (8), wir sehnen uns (39), hatte mich . . geweidet (82), warf mich . . und weinte . . und lief . . ich streckte (86). könntest du dich . . mischen (38, 39), wie faßte ich das alles . . fühlte mich . . vergöttert (74), wie oft habe ich mich . . gesehnt . . zu trinken . . zu fühlen (75), so taumle ich beängstigt (76). Verhalten des O b j e k t s : Sonne . . ruht . . der uns . . schuf . . uns . . schwebend trägt (8), Fluß . . gleitete (74), weht der Geist . . und freut sich jedes Staubes, der . . lebt (75), kostet . . das Leben . . es . . stampft (76), nicht . . Fluthen . . rühren mich . . Kraft . . die nichts gebildet hat (76), Schnee und Schloßen . . wüthen (96).

Die Präfixe zer-, ver-, er- bedeuten ein Weiterwirken des dichterischen Impulses bei gleichzeitigem Zurücktreten der sinnlichrealistischen Anschauung. Aus Mangel eines konkreten Inhaltes können deshalb solche Silben leicht verblassen. Aber eine Betrachtung der Gebrauchsweise und ein Vergleich mit geringeren Stufen der Landschaftsdarstellung in der späteren Prosa zeigen, daß auch noch die Formen verwandeln, verlieren, vernehmen, erhalten, ergreifen zum besonderen Wortschatz der verbalen Ichlandschaft gehören: der uns . . erhält . . ich erliege (8), wenn . . mir . . eröffnete . . Wald und Gebirg erklang (74), Mondenlichtes, das . . erleuchtete (82), ich erinnerte mich (110), manchmal ergreift mich's (150). ich bin . . versunken (7), es vergeht kein T a g (9), mich vergnügte der Anblick (17), o könnte ich mich . . verlieren . . Empfindung verschwimmt (39), Staubes, der ihn vernimmt . . der Schauplatz • • verwandelt sich vor mir (75), kein Augenblick, der nicht dich verzehrte (75), Erdbeben, die . . verschlingen . . Kraft, die . . verborgen liegt (76), Hecken, die mich verletzen . . Linderung zu verschaffen (80), und es verschwand (86), mich . . verlieren (109), wenn . . ich es verfolgte . . bis ich mich . . verlor (110), den Ort . . verließ (114), ich habe verloren (128), die Erde verdürstet (129), und verlor mich . . zu heben vermochtest du nicht (151), wie verstört . . unsere Laube (152). am Felsen zerschmettert wird (75), es zerrüttet . . nichts . . das . . nicht . . zerstörte (76), Dornen, die mich zerreißen (80).

Eine ähnliche suggestive Dehnung der Wortgestalt, aber z u " gleich eine Verstärkung der sinnlichen Intensität erreichen die p r ä p o s i t i o n a l e n Bestimmungen des Verbums. D o c h wird schon die Beobachtung, daß in unserem besonderen Fall die Präposition viel öfter richtunggebend als orientierend ist, den Zweifel wecken, ob ihr reiches Auftreten zuerst vom Streben nach Sinnlichkeit gefordert ist. Eine nähere Untersuchung zeigt, daß auch keine Richtung im eigentlichen Sinn gegeben, sondern voranbewegt werden soll.

153

Wenn Bewegung ein Merkmal der Ausdruckslandschaft überhaupt darstellt, so verleiht die Ichlandschaft den präpositionalen Bestimmungen der meisten Verben noch besondere Züge. Das vom Gefühl beherrschte Ich zwingt der Natur ein neues Gesetz auf. Die objektive Richtung der Naturdinge wird in eine subjektive verwandelt, die geradlinige Bewegung gebogen, allmählich z u m Kreisen und schließlich zum höchst bewegten Wirbel um das Subjekt gezwungen. U n d selbst wo die Präpositionen noch ortbestimmend sind, gehen sie immer weniger auf das Lage- und Richtungsverhältnis der Landschaftsmotive untereinander ein, sondern bestimmen diese nach dem Ichpol. Während für die Verben, die ein Verhalten des Objekts bezeichnen, Bestimmungen wie vor mir, über mir, zu uns auf die kreisförmige Schließung des Bildes recht anschaulich machen, fallen diese Blickstützen natürlich fort, wo das Subjekt aktiv ist. A u c h ist hier die Präposition gewöhnlich unmittelbar mit dem Verbum verbunden oder nur leicht durch syntaktische Umstellung getrennt: rings umher . . Schönheit . . man möchte . . werden, um in . . herumschweben und . . darin finden zu können (7), und näher an der Erde . . mir merkwürdig werden . . könntest du . . ausdrücken . . einhauchen (8), Phantasie . . , die mir alles rings umher so paradiesisch macht (9), wenn man . . herausgeht, übersieht man (16), ihr Blick durchdrang die Gegend (36), könntest du . . überschauen . - wir sehnen uns . . hinzugeben . . ausfüllen zu lassen (39), kamen wir gegen (48) ich sah umher (49), der . . Sonne entgegen blicke (56), ich gehe so neben . . sehe ihnen nach (63), wenn ich sonst . . überschaute (73), die Menschen dann sich . . zusammen sichern . . sich annisten (74), durch . . durchzuarbeiten •. und dann . . hinschlummre (80), sah der Sonne nach (81), als ich . . hinein trat . . wir waren eben herauf getreten (82), • • sie gingen . . hinaus . . ich . . sah . . nach . . sprang auf (86), mich hinüber sehnen (109), wie . . ich mir . . vorstellte (110), ich . . herumschwebte . . wenn ich •. hinaus • • sehe (128), dann schweife ich umher (150). so muß ich fort, muß hinaus (79), wie ich hierher kam (38), . . ich eilte hin und kehrte zurück (39), wenn ich . . unterwegs liegen bleibe (80), mußte ich hinaus . . Nachts . . rannte ich hinaus • • und athmete hinab! hinab 1 . . hinab zu stürmen! dahin zu brausen . . wie ich . . hinab sah (151), wenn du hinauf steigst auf . . wie ich . . herauf kam, und dann blicke nach . . hinüber nach (160).

Verben eines objektiven Verhaltens, deren präpositionales Präfix keine nähere Bestimmung erhält, geben der allgemeinen Bewegung noch nicht die charakteristische Richtung auf das Subjekt zu. D o c h ist diese immerhin latent vorhanden in ab-, her-, um-, vorüber-, fort-, weg-. Wie bei ver- und er- sind auch abgeblaßte, nicht mehr als Kompositionen empfundene Bildungen wie anfangen, be-

154

scheinen doch hier z u nennen, da sie nur auf der Stilhöhe der dynamischen Ausdruckslandschaft Verwendung f i n d e n : Linden, die . . Platz • • bedecken, der .. eingeschlossen ist (16), Blätter abfallen (20), Gewitters, das sich . . zusammenzuziehen (26), Blitze, die .. viel stärker zu werden anfingen .. Donner .. überstimmte (34), Nußbäume . . die . beschatteten (43), Fluß . . Wolken abspiegelte, die . . herüber wiegte .. Blick . . befreite . . Moos, das . . abzwingt .. Geniste, das . . hinunter wächs't .. Gestalten . . bewegten sich allbelebend (74), es hat sich . . weggezogen . . da alles vorübergeht . . alles .. vorüberrollt, so selten . . ausdauert . . fortgerissen, untergetaucht .. wird (75), Fluthen, die .. wegspülen (76), Plätzchen .. umschweben .. als der Mond . • aufging (82), Sonne geht herrlich unter .. Sturm ist hinüber gezogen (98), den Thälern . . , die sich •. darstellten (109), Sprünge . . hervorzubringen . . Wasser . . wo es nun hinflösse . . und doch mußte das weiter gehen (110), Blätter . . abgefallen (115), Morgensonne .. bescheint (128), Es war . . Thauwetter eingefallen . . der Fluß sei übergetreten .. der Mond wieder hervortrat . . Plätzchen . . das war auch überschwemmt (151), Sonnenstrahl blickte herein (152), der Wind .. hin- und herwiegt (160), das Wetter anfing (149). In die letzten Stilkonsequenzen tritt die Ichlandschaft ein, w o die Bewegung des präfixierten Verbums durch weitere Bestimmungen noch unterstützt und zugleich auf das erlebende Subjekt hin gerichtet w i r d : wie es mich • • anzog (38), Berge umgaben mich (74), Kranichs, der über mich hinflog • • Wesens, •. das alles in sich und durch sich hervorbringt (75), mir untergräbt das Herz die . . Kraft (76), Sonne . . , die mir nun zum letztenmal . . unterging (81), wie .. einen endlich einschließen . . weil uns rings . . einschloß (82), wie die Morgensonne über ihn her . . durchbricht . . der . . Fluß zwischen . . zu mir herschlängelt (128), von . . herunter mein .. Thal überschwemmt .. da überfiel mich ein Schauer (151). V o n dieser stärksten Äußerung sinkt der Stiltrieb wie ein steigender Wasserstrahl in sich selbst zurück, indem die einkreisenden Bestimmungen das Präfix z u verzehren und die Sinnfälligkeit des einfachen V e r b u m s z u begünstigen scheinen: wenn . . Thal um mich dampft . . wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz . . ruhn (8), es donnerte abseitwärts . . Wohlgeruch stieg . . zu uns auf (36), Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten herunter, die Flüsse strömten unter mir (74), wenn der .. Vollmond über mir steht (80), sah das Gebirge vor mir liegen (109), Kraft, mit der ich Welten um mich schuf .. wenn da diese . . Natur so .. vor mir steht (128), Gefühl . . das rings umher die Welt mir . . schuf (73), vor mir hinaus die Fluth .. rollte und klang (151).

155

Das einfache und bestimmungslose S u b s t a n t i v erscheint im Landschaftsbild in der Mehrzahl der Fälle in der Bindung der Präposition: vor dem Orte . . vor einem Gewölbe (9), von der Stadt . . Lage an einem Hügel . . oben auf dem Fußpfade zum Dorf . . vor der Kirche (16), so in noch etwa vierzig Fällen (20, 26, 36, 3 8 , 49, 60, 63, 64, 69, 80, 82, 86, 1 0 3 , 104, 108, 109, 1 1 3 , 1 1 4 , 1 1 5 , 1 2 1 , 1 2 4 , 160).

Fast ausnahmslos richtunggebend und durch ihren Reichtum im dynamisch verbalen Sinn bewegend ist die Präposition bei den Substantiven der zwei erhöhtesten Naturbilder: vom Felsen über den Fluß . . vom Fuße bis auf zum Gipfel (73), am H i m m e l . . in den Tiefen (74), über die Einöde . . bis an's Ende . . zu dem Ufer . . in den Abgrund . . in den Strom . . an Felsen (75), in dem All (76ff.), vom Fels . . über Äcker und Wiesen und Hecken und alles . . im Sausen . . gegen den Abgrund . . vom Boden . . auf ein Plätzchen . . unter einer Weide ( 1 5 1 ) .

Weit geringer an Zahl sind adjektivlose Substantive ohne präpositionale Bindung: ein Ort (16), die Blätter (20, 1 1 5 ) , der Winter (20), eines Gewitters (26), so noch etwa zwanzig Fälle (34, 36, 7 4 , 109, 1 2 2 , 1 5 0 f . ) .

Häufig erscheint im Werther das Deminutiv: Lieblingsplätzchen (7), Gräschen . . der Würmchen, der Mückchen (8), Herzchen (10 u. ö.), Gärtchen 1 5 ) , Plätzchen (16), Wölkchen (26), Wäldchen (38), Mäuerchen (49), Steinchen . . Gräschen (57), Gärtchen. (60), Fensterchen (96), Gartenhäuschen (109).

Diese durch Umlaut und Suffix klangvollere Wortform entstammt der Gelöstheit und dem Zartgefühl, mit dem Werther die Natur „umfaßt". Mit der Überwindung der empfindsamen Zeit verschwindet sie fast ganz aus der Landschaft, wenn sie nicht wie in den Wahlverwandtschaften satirisch gebraucht wird. Daß die Ausdruckslandschaft das Fremdwort nicht ausschließt, erklärt sich nur aus der naturalistischen Unmittelbarkeit der Tagebuchform. Späterhin begleitet es stets die unterste Stufe der Landschaftsdarstellung. Die nächtliche Gartenszene allein bringt: Allee . . Boskett . . Allee . . Allee . . Terasse (81 ff.).

Terasse

..

Kabinette t'

..

Terasse

•.

Dabei bleibt noch zu berücksichtigen, daß diese Begriffe im Rokoko äußerst geläufig waren und aber gerade als Modeworte 156

für uns an Bildhaftigkeit eingebüßt haben. Ähnliches gilt von den öfter verwendeten: Spaziergang, . . Szenen.

Wie aber auch gerade der seltenere Glanz und die Tonfülle des Fremdwortes dem lyrischen Schwung (vgl. auch die hymnische Dichtung Klopstocks, Schillers) willkommen sein kann, zeigen: Millionen Mückenschwärme . . bis an's Ende des unbekannten Oceans (74f).

Derselbe Komplex landschaftlicher Motive, der sich mit neun Fremdwörtern immerhin etwas belud, nimmt auch verhältnismäßig zahlreiche K o m p o s i t a auf, die sich nur wenig über einen berichtenden Stil erheben: Kastanienbäumen . . Buchenwände (je zweimal) . . Lindenbäume . . Gartenthüre (8off).

Auf derselben Stufe, die scheinbar den nennenden, zuständlichen Charakter des Substantivs unterstreicht und verdoppelt, stehen: Maienkäfer (7), Marmorfelsen (9), Bauernhäuser (16), Jagdhause (25), Wirthsgarten . . Zuckererbsen (39), Pfarrhof (42; 121), Nußbäume (42, 43, 121, 122), Sonnenaufgang (8i), Obstbäumen . . Baumstück • • Obstbrecher (79), Tageslicht (122), Jelängerjelieber (134), Wintertag (143) Jahreszeit . . Thauwetter . . Jagdhaus (i5of.), Kirchhofe (160).

Diese stammen zumeist aus den der Beschreibung sich nähernden idyllischen Motiven. Daß aber darüber hinaus das Kompositum mit einer gewissen Liebe angewandt ist, darf wohl als Wirkung jenes beim Fremdwort angedeuteten Stiltriebes betrachtet werden, der den hochgeschwungenen Bogen des Gefühls gern mit breit ausladenden Wortkörpern unterstützt, die innere Linie der dichterischen Stimmung, statt mit nackten Substantiven zu punktieren, lieber mit gedehnten Kompositen strichweise nachzeichnet. Dafür spricht auch, daß der erste Bestandteil weniger den zweiten sachlich ergänzt, als erweitert und allgemeiner färbt, was mitunter sogar zur lyrischen Tautologie führt: Sturmwinde, Wiesengrunde, Sonnenstrahl. Manche der folgenden Wörter könnten ohne Änderung des Inhaltes in ein Simplex verdichtet werden: Schauplatz-Ort, Mittagstünde-Mittag. Etwas Musikalisches scheint gleichfalls mitzuwirken, wenn man daran denkt, daß das Lied auch Lindenbaum der Linde, Abendstunde dem Abend vorzieht. Die Komposita sind:

157

FrUhlingsmorgen (7), Augenblicken (8), Abendwind • • Mückenschwärme . . Sandhügel . • Schauplatz . . Augenblick . . Fußtritt .. Erdbeben (73ff.)> Schauspiele (81, 1 5 1 ) , Schauplatz . . Mondlichtes .. Mondenlichtes (82), Mondscheine (86), Sturmwinde . . Waldstroms (124), Wiesengrund . . Morgensonne (128), Mittagstunde . . Abendwind . . Regenwolken (133), Schauspiel . . Mondenlichte . . Wiederschein .. Sturmwinde . . Sonnenstrahl (150 f.), Sommerabende (160), Lindenbäume (188).

Seltene oder neugeschaffene Kompositionen wie: Wetterbäche . . Ewigschaffenden . . Lebenswonne . . Wetterschnelle (73ff.)» Dämmerschein (80), Menschsein (151).

bleiben in der Landschaft eine stilistische Nebenerscheinung, da die Entwicklung des Substantivs viel öfter die im Folgenden umschriebene Richtung nimmt. Wenn wir uns den Drang zu großer dynamischer Rhythmisierung, das aktive Pathos der Wortverbindungen Mondenlichtes, Sonnenstrahl noch erhöht denken, ohne daß die anschauende Energie, die zur Wortschöpfung nötigt, zugleich mitwächst, dann sind wir auf dem Weg zu Stilgebilden der g e n e t i v i s c h e n Ordn u n g , wie wir sie bezeichnen wollen. Den Überdrang des Gefühls zerbricht das Kompositum gewissermaßen. Es gedeiht in die Breite, da die Konzentration zur Ballung, zur Schaffung eines neuen Wortes aussetzt. Da ein an sich denkbares Meeresufer dem höheren Schwung nicht mehr genügt, die umwandelnde und aus dem Realen schöpfenden Kraft aber versagt oder überhaupt nicht mitspricht, wird daraus Ufer des Meeres, aus Sonnenstrahl wird Strahl der Sonne. Was an anschaulicher Kürze verloren geht, wird gewonnen durch lebhaftere Rhythmisierung, vorzüglich im Daktylus, und durch die Breite der Ausmalung; zumal, da nun auch der zweite Bestandteil des ursprünglichen Kompositums wirkungsvoll adjektivisch drapiert werden kann. Ufer des ungemessenen Meeres, Ende des unbekannten Oceans sind nicht so sinnlich packend, aber imposanter als ein Kompositum wortschöpferischen Charakters. Gebilde dieser Art werden zu einer Eigentümlichkeit des Romans, obwohl ihre Häufigkeit nicht unmittelbar ins Auge springt. Es ist auch hier nicht zufällig, daß besonders die gesteigerten Landschaftsbilder diesem Prinzip unterworfen sind. Seite 73—76 allein finden sich gegen zwanzig Beispiele. Auch in der späteren Prosa ist die genetivische Ordnung stets ein Kriterium für das Vordringen der Ichlandschaft und des Stils verbaler Dynamik. In den einfacheren Formen ist der Zusammenhang mit dem Kompositum, die Auflösung daraus, noch deutlich erkennbar: Jahrszeit der Jugend (6), Schönheit der Natur (7), Kühle des Ortes (g), Spitze des Berges (39), Strahle der Sonne • • Leben der Natur (74),

158

Wirkung des Mondenlichtes • . E n d e der Buchenwände (82), Abgrunde der Zukunft (130).

Auch wo der Ausdruck freier und schwungvoller wird, bleibt das zweite Substantiv noch häufig bestimmungslos: Gegenwart des Allmächtigen . . Wehen des Alliebenden . . Gestalten der Würmchen (8), Tiefen der Erde . . Geist des Ewigschaffenden . . Becher des Unendlichen . . Gebäude der Ameisen . . Noth der Welt . . All der Natur (74ff.)» Schauer der Einsamkeit . . Gedanken des Abscheidens (82), Geister der Väter . . Lichte des Mondes . . Gebrülle des Waldstroms . . Ächzen der Geister . . Steine des Edelgefallnen . . Sterne des Abends (124), Sausen des Windes ( 1 5 1 ) .

Ihre letzten Möglichkeiten erschöpft diese auch durch den Lyrismus der Ossianlandschaft geförderte Stilform erst, wo sich um das Gerüst des zweiten Wortes der Faltenwurf des Adjektivs legt. Er ist hier nicht nur Schmuck oder seitlicher Schnörkel, sondern dem treibenden Kern dieser Wortführung entwachsen, gibt der Wortwoge einen neuen Impuls, färbt sie tiefer, verlängert und verlangsamt ihr Ausklingen. Zur klaren Beschreibung greifen wir hier der Betrachtung des Adjektivs voraus. Zuerst wird der Genetiv des bestimmten Artikels, den wir bisher regelmäßig fanden, sozusagen durch ein von ersetzt. Schon diese geringe Änderung rückt das Substantiv in ein Zwielicht, das Stimmungswert besitzt: Meer von Wohlgerüchen . . Strauß von Blüthen (7), Schauplatz • • von Seligkeit und Schmerz (82).

Diese Wirkung verstärkt sich mit dem unbestimmten Artikel: mit Fittigen eines Kranichs (75)

und in den pronominalen Ausdrücken, denen wir später noch eine Rolle zuschreiben müssen, die sie ganz in die Nähe des Adjektivs höherer Gattung rückt: Finsterniß meines Waldes (8), Licht dieser Sonne ( 1 5 ) , Gefühl meines Herzens (73), Erinnerung jener Stunden (75), K r a f t seines Daseins (75), Gegenstand meiner Wünsche (82), Gränzen meiner Vorstellungskraft

(110).

Daß sich nun an diese uneigentlichen Adjektive solche mit dem Präfix un-, die stets Äußerungen höchster verbaler Emphase begleiten, ohne Übergang anschließen, daß also das sinnfällig umschreibende Adjektiv übersprungen wird, beleuchtet recht eindringlich das unepische, unanschauliche, lyrische und gefühlsmäßige Wesen der genetivischen Ordnung: 159

Gestalten der unendlichen Welt (74), Ende des unbekannten Oceans . . Ufer des ungemessenen Meeres . . Schauplatz des unendlichen Lebens (75), Anschauen einer unsichtbaren Ferne ( 1 1 0 ) .

Das Emphatische bleibt als Grundzug erkennbar, auch wo es variiert oder multipliziert: Gefühl von ruhigem Dasein (7), Wonne eines einzigen großen herrlichen Gefühls (39), Ort des traurigen Andenkens ( 1 1 4 ) , Scenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit (150), Sterne des ewigen Himmels (187).

Die Wendung zum konkreten Bild, zum einmalig Illustrierbaren in: im Scheine der sinkenden Sonne (160) wird schon durch eine kleine Überfärbung illusorisch gemacht in: Fülle einer warmen L u f t (36), A b g r u n d des ewig offnen Grabes (75).

M e h r f a c h e K o m p o s i t i o n zeigt in der Landschaft des Werther nur ein Blumenname, der terminologisch fest ist: Tausendgüldenkraut ( 1 3 4 ) ; Kirchhofmauer ( 1 4 5 ) bringt erst die zweite Fassung. Allein steht auch die Verbindung von Simplex und Kompositum: T a n z und Spazierfahrten ( 1 2 ) . Die S u b s t a n t i v p a a r u n g in Assonanz oder Alliteration hat f ü r den W e r t h e r noch keine B e d e u t u n g : um die Brunnen und Quellen (9), Schnee und Schloßen (96).

Für die Betrachtung des A d j e k t i v s ergibt sich zwanglos eine gradweise Ordnung in vier Gruppen: 1. Adjektive als Berichte eines einzelnen Umstandes. 2. Adjektive als Bezeichnungen allgemeiner Eigenschaften. 3. Adjektive charakteristisch und sinnfällig oder emphatisch erhöht. 4. Pronomina, Zahlwörter usw. in adj. Funktion. Alle vier Gattungen verteilen sich auf die Bilder der Ichlandschaft, jedoch im allgemeinen so, daß Adjektive der dritten und vierten Art sich gewöhnlich einstellen, wo eine Auseinandersetzung mit der Natur sich zur Begeisterung oder Verzweiflung steigert, in den drei bewegtesten Bildern das berichtende Adjektiv völlig verdrängen und dem verallgemeinernden entschieden den Vorsprung abgewinnen. Zur ersten Gruppe sind zu zählen: Die Stadt . . ist unangenehm • • der Garten ist einfach (auch ein prädikatives Attribut ist im weiteren Sinn adjektivisch) (7), ausgebreiteten Ästen (16), durch den weiten ausgehauenen W e g (25), überschatteten Pfarrhof (42), vorüberfließenden Strom (63), regnichten Nachmittage (64), krummgewachsenen Baum (80), daran stoßendes Boskett . . geschlossenes Plätzchen . . buschigen Hügel (82), bekannten Gartenhäuschen (109), gewissen Hof ( 1 1 0 ) , benachbarten Bäume ( 1 1 5 ) , abfallenden Blättern ( 1 2 2 ) , um die vier moosbedeckten grasbewachsenen Steine (124), entblätterten Weiden (128), anhaltenden Frost und gute Wege (154).

160

Der schwere, ausgesprochen nominale (Komposition mit einem Substantiv: moos-, gras-) Gebrauch des Adjektivs bei Ossian wird hier einmal nachgeahmt (124), vermag sich aber nicht durchzusetzen. Auch dem präsentisch oder perfektisch gebrauchten partizipialen Adjektiv sehen wir nur eine schmale Geltungszone eingeräumt. Gar nicht sprechen können wir von besonderen syntaktischen Ordnungen der Substantivbestimmung. Das Adjektiv der zweiten Stufe wird vom Gefühlsstrom der Ichlandschaft ergriffen. Das häufige sanft, still und besonders das ebenso allgemeine als steigernde innige lieb verkündet die größere Konzentration des stilschaffenden Gefühls: das liebe Thal (8), lieben Wolken (74), bei anderen Substantiven (81, 108, 109, 124, 151); der sanfte Fluß . . der sanfte Abendwind (74), außerdem (80, 128), in der stillen Gegend (25), den stillen Wiesengrund (128). hohe Sonne . . im hohen Grase (8); außerdem (9, 18, 42, 73, 80, 81, 82, 86, 128, 160). der kleinen Welt (8); außerdem (9, 16, 76), weiten Wanderungen (38), die weite Gegend (39); außerdem (75, 81, 124, 151). schönen Nachmittage (17), das schöne Thal (38); ferner (40, 43, 56, 82, 107, 160). das fruchtbare Thal (73), harten Felsen (74), armen Würmchen (76), in der tiefen Nacht (80), tiefe Dämmerung (82), an den fernen Hügel (128). D a s M e r k m a l dieser A d j e k t i v e lieb, sanft, still, hoch, weit,

schön,

tief, fern ist äußerlich: beschwingte Kurzsilbigkeit bei vollen Vokalen und sonoren Konsonanten, — innerlich: durchgehende Umsetzung und Verwandlung des real Anschaubaren in seelisch Empfindbares. Weniger das Bild als die Wirkung der Naturmotive wird dem Gefühl leise, aber begeistert suggeriert. In der späteren Prosa werden die Motive mit ganz anders gestalteten Adjektiven vor dem anschauenden Verstände des Lesers zergliedert. Immerhin haben diese Wortformen noch die Beleuchtung des Gesamtbildes nötig, um in ihrer verbalen Funktion erkannt und nicht etwa für schematisch typisierende Adjektive gehalten zu werden. Erst in der dritten Gruppe beeinflußt die stilbildende Kraft der Ausdruckslandschaft die Gestalt des Adjektivs in so entscheidendem Maße, daß wir seine Stilzugehörigkeit auch in völliger Isolierung zu erkennen vermögen: in weißgrauen dumpfichten Wölkchen (26), das erfrischte Feld (37), das volle warme Gefühl . . an der lebendigen Natur . . rothen Strahle . . den dürren Sandhügel . . harten Felsen (73), im einsamen Walde (80), A l l e immer düsterer . . dem düstern Kabinett (82), den Pfarrhof . . 11 Belli.

161

wie kühl (12), über der schneeglänzenden Gegend (98), nach der kalten Erde (124), schwarzen Wolke . . auf einem heißen Spaziergange (151), . ein trüber neblichter Tag (178). W i e die Weiterentwicklung des komponierten Substantivs zur genetivischen Ordnung ausbog, so scheint auch die Grundtendenz des Adjektivs in diesem Roman nicht auf die Gestaltung geordnet ruhender Sinneseindrücke z u gehen. Sie erfüllt sich vielmehr im u n - A d j e k t i v , dessen eigentümlicher Charakter schon oben deutlich wurde, und dann vor allem im adjektivischen Gebrauch des P a r t i z i p P r ä s e n s . Dieses Adjektiv nimmt äußerlich die wohllautende Linie wieder auf, zu der schon das K o m p o s i t u m und die genetivische Ordnung beitrugen. Andererseits wird durch die beiden unbetonten e die größte, daktylische Bewegung des reicheren Wortkörpers gesichert. D i e verbale F o r m hat aber nicht nur eine Erweiterung zur Folge, sondern ermöglicht auch die Anteilnahme und den Übergang in die eigentliche Aktion des Naturbildes, deren Vermittlung sonst vor allem dem präpositional eingerahmten V e r b u m zukommt. A u c h der sinnliche Wortgehalt wird aktiviert; D u f t , T o n , Farbe und L i c h t sind im Werden vorgeführt und so viel eindringlicher gemacht.Drittens endlich kommt ein musikalischer Eindruck zustande, wobei die rhythmische T e i lung dem Guttural und Dental, die Klangwirkung Liquiden und Nasalen z u obliegen scheint. Beides vereinigt das Partizipialsuffix -ende, dessen stereotype Wiederkehr allein geeignet wäre, diesen Landschaftsbildern einen poetisch betonteren, hymnischen A u s druck z u verleihen. Unter den Vokalen bevorzugt die Neigung zum Klanglichen bezeichnenderweise das dunkel grundierende u und die auftönenden i, ä, ä, ei, äu: am fallenden Bache (8), täuschende Geister (9), der erquickend'ste Wohlgeruch (36), der tröpfelnde Wald (37), quälenden Geist .. lispelnden Rohren . . zuckender Blick den summenden Käfer . . in der überfließenden Fülle . . schäumenden Becher . . schwellende Lebenswonne .. die verzehrende Kraft . . ihre webenden Kräfte (73 ff.), ermattenden Ruhe (80), dampfenden Nebeln .. im dämmernden Lichte . . in's rollende Meer (124), die wühlenden Fluthen . . stürmende See .. vom reißenden Strome 151). D i e Selbstherrlichkeit dieser W o r t f o r m leidet keine gleichwertige oder abschwächende Z u o r d n u n g eines zweiten Adjektivs. D a s Verbale siegt über das Nominale und zwingt es z u m A d v e r b herab: mein oft schauderndes Herz (6), ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer (76), in . . den Thälern . . so freundlich-dämmernd (109), neue schmerzlich glühende Freuden (124), heilige belebende Kraft (128). 162

D i e Steigerung: durch die stürmenden vorüberfliehenden Wolken (187) ist eine Anlehnung an die Manier Ossians. W o das Adjektiv sonst gleichgeordnet scheint, steht es kurz vor der Verwandlung in ein A d v e r b : ein großes dämmerndes Ganze (39), das innere, glühende, heilige Leben (74), schmachtenden süßen Gedanken (82), dem hohen wehenden Grase (124). W i e diesen adjektivisch gebrauchten Partizipien die Endungssilbe, so verleiht den folgenden Adjektiven das Präfix un- etwas Feierliches, Formelhaftes. A b e r auch etwas Revolutionäres, der Präfixwirkung von zer-, t'er, er- beim V e r b u m Vergleichbares liegt darin, selbst wenn die Negation mitunter verblaßt ist. D a f ü r aber fehlt die verbale Bewegung, die nur in Formen wie unergründlich, unzugänglich unbewußt wieder erstrebt wird. A u c h auf diese A d jektive überträgt sich die T e n d e n z zur Klankwirkung wie ja schon das Präfix Nasal und dunklen Vokal vereinigt: unaussprechliche Schönheit (7), die unzähligen unergründlichen Gestalten (8), unerträglichen Peiniger (73), der unendlichen Welt . . ungeheure Berge .. die unergründlichen Kräfte (74), vom unzugänglichen Gebirge .. des unbekannten Oceans .. des unendlichen Lebens (75), durch einen unwegsamen Wald (80), unerträgliche Stadt (108), einer unsichtbaren Ferne (110). Es ist nicht immer eindeutig anzusagen, w o der auch in der partizipialen F o r m noch zur Sinnfälligkeit strebende Energiestrom aussetzt und dem Pathos Raum gibt, w o der Strom nicht mehr dumpfen T o n s in die T i e f e gräbt, sondern in die Breite schwellend groß, herrlich, furchtbar einherzuschäumen beginnt. Im u n - A d jektiv jedenfalls ist diese Richtung eingeschlagen und in den folgenden Ausdrücken überwiegt zumeist das Element der Ü b e r redung die Anschaulichkeit: paradiesischen Gegend (6), mannichfaltige Gräschen (8), der herrliche Regen (36), der herrlichste Sonnenaufgang (37), mannichfaltigen Krümmungen .. mit tausendfachen Gestalten . . herrlichen Gestalten (73 f.), dem herrlichen Schauspiele .. ein herrlicher Anblick (81 f.), mit wie wunderbaren Ahnungen .. wie abenteuerlich . . die Gegenden (110), die herrlichen Nußbäume .. wie herrlich die Äste (121), herrliche Natur (128). köstlicher Balsam (6), wunderbare Heiterkeit (7), in ewiger Wonne (8), wohltätige Geister (9), der harmloseste Spaziergang . . die mühseligen Gebäude . . ein schmähliches Grab (76), lieblichsten Wäldern (74), lieblichen Thale (81), wie verthraulich . . den Pfarrhof (121), der freundliche Strahl (124). in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit (150), ein fürchterliches Schauspiel • • in fürchterlich herrlichem Widerschein (151). 11»

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ein großes dämmerndes Ganze (39), die große seltne Noth (76), eines . . großen herrlichen Gefühls (38).

Die große Mehrzahl dieser Adjektive ist mit dem Suffix -lieh gebildet. Das unterstreicht die formelhaft hymnische Wirkung, die das Partizipialsuffix -ende und das Präfix un- üben. Zum Konsonanten l dieser Bildungssilbe tritt häufig die zweite Liquida r und auch der Vokalstand bringt die oben erwähnte Neigung zum Klanglichen wieder in Erinnerung. Diese Reihe der überredenden Adjektive wird fortgesetzt in der vierten Gruppe, die die adjektivisch gebrauchten pronominalen Ausdrücke zusammenfaßt. Schon aus dem Mangel eines anschaubaren Inhalts können sie das landschaftliche Substantiv nicht eigentlich bildhaft ergänzen oder bestimmen, sondern geben ihm mehr eine allgemeine malerische Schattierung. Daß dagegen der wörtliche, demonstrative, possesive, numerative Sinn ganz in den Hintergrund tritt, beweist schon der Ort und die Häufigkeit der Verwendung. Im Kreis der gesteigerten Landschaftsbilder erscheint die pronominale Bestimmung über sechzigmal. Die Stimmung der Ausdruckslandschaft wird unterstützt durch den indefiniten und superlativischen Charakter von: mit ganzem Herzen . . jeder Baum, jede Hecke (7), in aller Fülle (36), mit aller Wonne . . ganzes Wesen (39), auf allen Wegen . . alle die . . Kräfte . . ganze Kraft . . jedes Staubes . . kein Augenblick . . kein Augenblick (73 ff.), alle Schauer . . die ganze Terasse (82), das ganze Dorf (122), alle . . Wonne keinen Tropfen (128), der erste Schnee . . die ganze Gegend (143), alle Bäche . . alle Qualen (151). einzelne Strahlen (8), eines einzigen . . Gefühls (38), mit so vieler Wonne . . im letzten . . Strahle . . ihr letzter . . Blick . . tausend . . Würmchen (73 ff.), einzelne Sterne (187). in diesen Augenblicken (8), diese Fluthen . . diese Erdbeben (76), zu diesem Plätzchen (81), diese . . Natur (128), dieser . . Jahreszeit (150). zu jenen Hügeln . . jene Berge . . jene Thäler (73), Erinnerung jener Stunden (75), mit jenem Sturmwinde (151).

Wenn in dem gedämpften Ton dieser Hinweisungen die Erkenntnis leise anklingt, daß die herrlichen Dinge, die das stürmende Ich mit Ungetüm an sich gerissen hat, unweigerlich den müdgekämpften Händen entgleiten würden, so weist das Possesivpronomen in die entgegengesetzte Richtung. Die Naturdinge werden mit Leidenschaft oder mit Naivetät auf das Ich, auf ein geliebtes Du bezogen. Aber auch hier übertrifft die Kraft verbaler Schattierung den genauen Sinn der Besitzanzeige: Finsterniß meines Waldes . . u m meine Augen . . in meiner Seele (8), Gefühl meines Herzens . . meinem . . Felsen . . in mein . . Herz • • in

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meiner Seele . . vor meiner Seele (73ff.)» meine Nußbäume ( 1 2 2 ) , zu meinem Fenster hinaus (128), mein . . Thal . . meine Qualen, mein Leiden . . mein Menschsein ( 1 5 1 ) , nach meinem Grabe (160). ihre Wiesen . . ihr Jaghaus ( 1 5 2 ) . vor unserer Seele . . unsere Empfindung . . unser Auge . . unser . . Wesen (39), unsere Laube ( 1 5 2 ) .

Nicht auf das Ich bezogen, aber doch von ihm aus gesehen und zugeteilt sind die Pronomina: den . . Käfer aus seinem Grase (74), Himmel und Erde und ihre . • Kräfte (76), Geister aus ihren Höhlen (124).

Das Emphatische dieser Stilform tritt deutlicher zutage in den Dopplungen: jene Thäler in ihren . . Krümmungen . . meinem . . Felsen seine Nahrung . . ganze Kraft seines Daseins . . diese Fluthen, die eure Dörfer . . diese Erdbeben, die eure Städte (73 ff).

Da das Wort körperhaft ist, kann jede seiner Intensitätsstufen gezeigt werden. Nicht so beim S a t z , der keine sichtbare Form, sondern ein Verhältnis, eine Ordnung ist. Gerade in diesem Wesen der Setzung und der festen Ordnung liegt es begründet, daß der Satz erst im Landschaftsbild der späteren Prosa selbständig wird und über das Verbum herrscht, während er im Werther vom verbalen Element fortwährend im Sinn erhöhter Bewegung und Rhythmisierung durchbrochen und in den hymnischen Naturbildern als fest umrissenes Gebilde, als „Satz" fast zerstört wird. In diesem Zusammenhang, wo eine strenge Analyse im Einzelnen nicht gefordert werden kann und die Aufmerksamkeit auf die an Umfang und Inhalt wichtigsten Landschaftsbilder sich konzentrieren muß, ist über die Satzgestalt der idyllischen und kurzen epischen Naturmotive nur soviel zu sagen, daß sie sich in einer mittleren Lage poetischer Diktion halten. In leichten einfachen Relativsätzen wird beigeordnet, in kurzen Nebensätzen temporal, kausal, konditional, und komperativ untergeordnet. Aber beides geschieht ohne besondere Betonung und wird vor allem in keiner Weise schematisch verallgemeinert. Aus dieser stilistischen Indifferenz löst sich der Satz, wenn die Motive — wie Mosaiksteine zu einem Bild — von der höheren dichterischen Spannung zu einer großen Szene zusammengefaßt werden, so daß sie wie eine feiner organisierte Blume über das Grün der übrigen Dichtung emporragen. Auch muß unsere Untersuchung nun das Landschaftsbild im Ganzen überschauen und die Linie zu finden suchen, von der der einzelne Satz nur ein 165

Stück darstellt. Die Anordnung des Zitates sucht diese hervorzuheben : Wenn du . . steigst . . , an einem • • Sommerabende, dann erinnere dich . . , wie ich • • kam, und dann blicke . . , wie der Wind . . wiegt (160).

Dieses Bild, das mehrere landschaftliche Motive vereinigt, zeigt neben einer deutlichen Dreigliedrigkeit, die auch die Nebensätze einbegreift, eindringlich eine besondere Verwendungsart der temporalen Partikel wenn und dann. Eine andere Verknüpfung hat das gleichfalls dreigliedrige Bild: E s donnerte • . , und . . Regen säuselte . und . . Wohlgeruch stieg . . auf (36).

Die Copula und die temporale Partikel werden die fast allein gebrauchten äußeren Kompositionsmittel für die weitgeschwungenen Satzgebilde der Ichlandschaft. Wenn man auf den Sinn und die Wirkung eingeht, so deuten sie nicht so sehr auf eine zeitliche oder ursächliche Auseinanderfolge, auf eine zeitliche oder logische Beiordnung, sondern sind steigernde Verbindungen, Brücken des Gefühls, das nicht in einer wirklichen Satzpause sinken und stillehalten soll. Der Blick ist begierig, der Atem hastig, das Gefühl hymnisch fliegend oder sanft elegisch nachdringend. Copula und temporale Partikel sind hier suggestive crescendo-Zeichen für die ununterbrochen fortdauernde Gefühlsspannung. Diese Beobachtungen bereiten auf den folgenden Satz vor: ich erinnere mich, ich habe . . geschrieben, wie • . Buchenwände • . einschließen, und . . Allee • • düsterer wird, bis zuletzt alles sich in . . Plätzchen endigt, das . . Schauer . . umschweben. Ich fühle es noch (82).

Vom gedanklichen Standpunkt betrachtet, verhalten sich die Teile wie Einleitung, Hauptteil und Schluß, vom motivischen wie Bild und Umrahmung durch die Empfindung oder Reflexion des erlebenden Subjekts. Aber weder das Logische noch das Bildmäßige kann für diese Reihenfolge entscheidend gewesen sein, da sie gerade den gefühlsstärksten Stellen im Roman eigen sind und eine bewußt stilisierte Komposition landschaftlicher Bilder dem Dichter des Werther fern lag. Das Grundgesetz — das ein Hineinwirken dieser beiden Gesichtspunkte natürlich nicht ausschließt— ist vielmehr ein rhythmisches und der Aufbau ist innerlich bewegt, 166

verbal, thematisch. Eine sprachliche Melodie, die auch ihrerseits wieder in mehrere Sätze zerfallen kann, ist eingebettet in Auftakt und Schlußakkord. Größere oder geringere Belastung durch Partikeln und Nebensätze ermöglicht eine Steigerung und Abschwächung in zahlreichen Graden. Die Hauptruhepausen liegen in den Anfangs- und Endpunkten einer Melodie, ihren Verlauf gliedern weniger trennende Punkte, als die Zeichen plötzlichen Ausrufs und allmählicher Überleitung. Das Mittel bewegter und beschleunigender Verknüpfung bilden: und., wenn, dann, wie. Auf alle diese Wirkungen verteilen sich auch die häufigen Interjektionen. In der folgenden, nur in der Zeilenanordnung schematisierenden Aufstellung bezeichnen A , B, C die drei Teile des thematischen Aufbaus im Naturbild. Innerhalb der einzelnen Teile ist der Satzrhythmus durch römische Ziffern in den Hauptzügen angedeutet : A BI Natur II Ich

III Natur C

Ich könnte . . nicht zeichnen . . und bin nie . . gewesen . . Wenn das .. Thal .. dampft, und • • Sonne . . ruht, und • • Strahlen sich . . stehlen, ich dann liege und näher .. werden; wenn ich . . fühle, und fühle . . ; mein Freund! wenn's dann . . dämmert, und die Welt .. und der Himmel . . ruhn . . dann sehne ich mich oft und denke (8).

Dieselbe Thematik ergab sich in zwangloser Betrachtung bei allen großen Naturbildern (besonders 19, 38, 73 f f , i 5 o f ) . Nur die Folge der Bildmitte variiert, z. B. Ich — Natur — Ich (38), fernes Sehen — nahes Gefühl — innere Vision (73 ff.) Selbst wenn man stellenweise über die Phrasierung im Zweifel sein kann, wird einem Blick, der das Gesamtbild zu umfassen sucht, immer wieder die Dreiordnung als Grundprinzip emportauchen. Dasselbe gilt für das Innere der großen Teile, wenn auch in beschränkterem Maße und in Vermischung mit geraden (aber nicht, wie in späterer Prosa, schematisch-symmetrischen oder logisch-antithetischen) Ordnungen. Solche Doppelordnungen stimrtien selten syntaktisch (Wortfolge) oder formal (Wortzahl, Wortlaut) genau überein, sind als untergeordnete Erscheinung unauffällig in die thematische Dreiteilung eingebettet und besitzen das allgemeine Stilmerkmal der Aasdruckslandschaft: Stei167

gerung in leicht fließender Bewegung. Zwei Beispiele sollen genauer sagen, was gemeint ist. Die erste Fassung des Werther hat: wenn ich jene Berge, . . mit . .

bekleidet,

all jene Thäler . . von . . beschattet sah • •

Die zweite Fassung, die in diesem Fall Ausdruck des inzwischen erfolgten Stilwandels ist 1 ), tilgt das „all" und gibt so diesem, in so strenger Form im Werther ohnehin seltenen Parallelismus erst den eigentlichen Akzent nach dem Symmetrischen hin. Bewegung wird verringert, Ordnung erhöht. Ein gänzlich neues Produkt der zweiten Fassung ist die Stelle: 1 ab ba 2 ab ba

Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen ( 1 1 5 ) .

Dieser Parallelismus ist nicht mehr emphatisch und steigernd, sondern rein symmetrisch, ja, spielend mit der Ordnung, chiastisch. Im ganzen Werther würden wir vergebens ein Naturmotiv suchen, das in der stilistischen Fassung diesem an die Seite zu stellen wäre. Die Wortprägung ist vielleicht vom umarbeitenden Dichter angepaßt, aber der innere Stil ist polar verschieden. Dynamik ist Tektonik geworden, sprachlich und motivisch, Bewegung ist Ordnung geworden, Gefühl anschauender Verstand. Diese asyndetischen Sätze können wir stilgerecht nicht mehr mit plus- oder crescendo-Zeichen verbinden, sondern müssen wir durch Gegensatz- (:) oder Gleichordnungszeichen ( = ) sondern. Zum Schluß sei nicht verhehlt, daß für ein Werk wie derWerther, das wir nach unserer Begriffsbestimmung als ein ausgesprochen dynamisches, verbales bezeichnen, diese Darstellungsweise wohl überhaupt unzulänglich ist. Sie tut gute Dienste zur Stilbetrachtung der späteren nominalen Prosa, die anschaulich ist und dem anschauenden Verstände gezeigt werden kann. Der verbale Stil des Gefühls aber kann nicht eigentlich zu lesenden Augen, sondern wieder nur zum Gefühl sprechen. Seine Beschreibung müßte, um erschöpfend zu sein, zu rhythmischen Ausdruckmitteln greifen. Musik kann nicht an der Schreibtafel, Malerei nicht im Buchtext, hymnische Naturdichtung nicht außerhalb ihres gefühlsmäßigen Grundelementes rein und wirksam ausgedeutet werden. Diese Fälle einer Stildivergenz der 1 . und 2 . Fassung sind aber so selten und nebensächlich (wenn auch charakteristisch), daß eine allgemeine Stilbetrachtung wie diese trotzdem die 2. Fassung als Grundlage des Zitates nehmen kann.

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Wilhelm Meisters theatralische Sendung.

(1777?-86). Im Werther verwischte die Form des Ichromans, noch gesteigert durch das Mittel des Tagebuchbriefes, die Grenzen von toter und mythologisierter, von besprochener und sprechender Natur. Im Urmeister, dessen Aufzeichnung etwa drei Jahre später beginnt, ist diese Sonderung vollzogen. Leichter unterscheiden wir den Tonfall des Epikers, der im Hintergrund der Handlung oder in gleichnisweiser Rede einzelne landschaftliche Motive einflicht, von den wenigen emphatischen Höhepunkten, wo im Widerspiel von Schöpfung und Schöpfer die Gestalt den Gestalter hinzureißen scheint und zu einer lyrischen Auffassung der Landschaft drängt. Aber nur im ersten Buch geschieht dies.Denn in der Abfassungszeit des Urmeisters ist die Abkehr des Dichters vom Sturm und Drang, wenigstens dem Willen nach, bereits entschieden. Das Jahr 1777 bringt die Satire „Der Triumph der Empfindsamkeit" und andere Verspottungen Werthers und seiner literarischen Nachkommenschaft. Wo noch das frühere Lebensgefühl emporquillt, bleibt ihm die selbstherrliche Äußerung versagt. Die Wertherischen Züge, die Wilhelm und seine Umgebung im ersten Buche tragen, werden alsbald mit feiner Ironie kritisiert und kehren nicht wieder. In dieser entschiedenen Hinwendung zu strenger Epik und bewußter Beschränkung des Gattungsfremden, des Subjektiven und Lyrischen, liegt es begründet, daß die höhere Form der Landschaft in diesem Roman verhältnismäßig selten erscheint. Denn im engsten Sinn nur menschlichen Dingen zugewandter Interieurroman ist der Urmeister noch lange nicht genug, um die Verbannung der Landschaft zu erklären. Eben das erste Buch zeigt ja, wie es nur von den Stimmungen des Helden, also mittelbar von der Grundhaltung des Dichters abhängt, daß sich auch die muffigste, dunkelgiebligste Kleinstadt mit allen Prächten und Mächten der freien Natur und mit dem „Gesang der Sphären" erfülle. Wie schon dargetan ist, stehen die beiden Grundprinzipien des sprachlichen Stils, das Dynamische und das Tektonische, das Verbale und das Nominale, in einer notwendigen, inneren Beziehung zu Ausdruckslandschaft und Beschreibungslandschaft, den zwei Hauptkategorien der Naturdarstellung. So geht mit ihrem Wandel der des Stils Hand in Hand. Doch spiegelt sich das Unterliegen oder Siegen einer Stilart in beiden Kategorien verschieden deutlich. Wir werden in der gefühlsbetonten Naturdarstellung des Ur169

meistere die Wirkungen des dynamischen, in der rein beschreibenden jene des tektonischen Stils suchen müssen. Wenn sich dann ergibt, daß in epischen Partien Eigentümlichkeiten des Wertherstils noch vorhanden sind, in lyrisch-dramatischen dagegen die sich allmählich durchsetzende Form der späteren Romane schon hereinwirkt, so sehen wir Mischformen entstehen, die den Übergang schaffen vom Werther zu den Lehrjahren, wo der tektonische Stil herrschend und nahezu vollendet ist. Ja, wo beide Prinzipien aufeinander prallen, in der gehobenen Sprache mancher Naturgleichnisse und in der Ichlandschaft, gewinnen diese Mischformen eine Prägung, der man die Eigenart nicht absprechen kann. In der oft mühsam gegliederten Pfropfung der Sätze, in kleinen, aber markanten Zügen der Wortkomposition und in den sich stauenden partizipialen Formen verkörpert sich ein kraftvolles Ringen polarer Stile. Der Strom des Kraftprinzips schießt gegen die Staudämme des Ordnungsprinzips. Aber die Wogen werden nur gehemmt, gebogen, zurückgeworfen, nicht eigentlich gebrochen und wirkungslos gemacht. Es entsteht kein klarer See. Der Anprall, die Brandung bestimmen den Eindruck. Es ist nicht im wörtlichen Sinn ein Übergang, sondern eine Begegnung der Stile. Ausdruckslandschaft. Zur Selbstständigkeit der Ausdruckslandschaft befreit sich das Bild der Natur im wesentlichen in der gehobenen Gestaltung des Abends, da Wilhelms Liebe sich betrogen glauben muß. Außer den einleitenden Zeilen ist das Landschaftliche fast wörtlich in die Lehrjahre übergegangen. Dagegen haben andere Szenen der Ichlandschaft stilistisch bedeutsame Änderungen erfahren und werden im Zusammenhang der Umarbeitung zu betrachten sein1). Wenn die Beschreibung aus ihrem Wesen heraus mehr geneigt sein muß, die nun einsetzende Stilrichtung der tektonischen Ordnung zu verkörpern, so werden wir für die lyrische Naturdarstellung eine stärkere Nachwirkung des Stils dynamischer Bewegung erwarten. Die Kreuzung beider Prinzipien wird dabei das Übergangsmäßige im Stil dieses Romans umreißen: Es waren Bäume in der Nachbarschaft, die den Platz von alther zierten, darunter steckte er seine Sänger, er selbst ruhte weiter hin, überließ Fast alle Zitate im Folgenden sind im 5 1 . Band der Weimarer Ausgabe enthalten. Bei den wenigen anderen ist die Bandzahl (52) neben der Seitenzahl besonders vermerkt. Im ganzen Kapitel über den Sprachstil wird, da durchwegs W A I zitiert wird, nur mehr Band und Seitenzahl angegeben, z. B. (21. 1 1 3 ) = W A I Band 2 1 , Seite 1 1 3 .

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seinen Busen ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. Sie hört auch diese Flöten, sagte er zu seinem Herzen, sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht E r verlor sich in Erinnerungen, die Ruhe ging in Verlangen hinüber, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Busen bewegt h e r v o r d r a n g . . . . Er irrte herum und ward gegen Marianens Wohnung getragen. Er setzte sich auf der Schwelle nieder . . Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde (90ff.).

Das einfache Substantiv wird größer und klangreicher (klangstarke Vokale und Diphtonge). Das Kompositum wird aufgelöst in die genetivische Ordnung: Gesang der Sphären, Geister der Dämmerung', besonders in Winde der Nacht ist die rhythmisierende, verbale Auflockerung aus Nachtwinde überzeugend. Auch das konkret nennende Adjektiv schwindet, holden hat mit dem gleichfalls zweisilbig gewordenen goldner in Vokal und Konsonanz klangliche Wirkung. Vom Verbalen erfaßt geht das Adjektiv ins präsentische Partizip über, das schon im Lautlichen sinnliche Intensität offenbart: schwebenden Tönen, labenden Nacht. Vor allem aber das Verbum selbst entfaltet sich voll 1. dem Wortkörper nach zu lautlicher und inhaltlicher Intensität (vorab durch den suggestiven, Klang der Vokale i und ü i n : überließ, sie fühlt, ging ... hinüber irrte, die Liebe lief, über ihm stille stünde usw., die in dunkle untermalende Vokale eingebettet sind: ruhte, hört, verlor, saugten, säuselten usw.) — 2. der Bewegung und Aktivität nach durch Präposition und Präfix (weiter hin, um ihn, in .. hinüber, auf, herum, gegen, nieder, über ihm usw.; über, hin, um, hervor, ver-), durch präsentische Form und akzentuierte Stellung im Satzanfang. Mit dem dynamischen vermischen sich wenige, aber deutliche Züge des neuen tektonischen Stils. Nacht wohlklingend wäre im Werther nicht möglich. Durch die Umstellung ist das partizipiale Suffix- ende in seinem daktylischen Charakter zerstört, seine Klangwirkung aufgehalten. Die Vorsilbe überhaupt und besonders wohl weisen auf den späteren Stil. Durch den Ausdruck macht wird das Verbale im Partizip noch mehr beruhigt und das ganze Motiv plastischer, aber auch etwas unbeteiligt, kühler hingestellt (im Sinn des Motivs der Wertherumarbeitung: die Bäume standen ohne Laub und bereift). — Endlich ist die vorwiegende Asyndetik der Sätze ein Merkmal des tektonisch fügenden Stils. D i e fast anaphorisch zu nennenden: er selbst ruhte, Er verlor sich, er umfaßte, Er irrte, Er setzte sich sind zwar dramatische Steigerung, aber in 171

sehr starker formaler B e t o n u n g . Bei einem Bild aus der Ichlandschaft Eduards in den Wahlverwandtschaften werden wir uns unwillkürlich daran zurückerinnern. W i e diese Szene durch die lyrische Steigerung des Landschaftsbildes das Verbale entschieden zur Herrschaft bringt, so sinkt es wieder zurück zugunsten des Nominalen im abklingenden Schlußbild: Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schröke n erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für ein Kind des Schrökens kann ausgedeutet werden . . . so war's ihm, als er, an einen Eckstein gelehnt, des Morgens Lichtgrau und das Geschrei der Hahnen nicht achtete... (93). Besonders charakteristisch ist die Bildung des Morgens Lichtgrau. Ähnlich wie in jenem Nacht wohlklingend ist hier die rhythmische Wirkung des Daktylus, der durch die genetivische O r d n u n g entsteht, aufgehoben; also aus etwa Lichte des Morgens wäre zunächst des Morgens Licht geworden. U n d wie dort ein beschwerendes wohldie Schwächung des Verbalen durch die veränderte Position auch gleich wahrnahm und sich einzwängte, so kann hier die Drangabe der reinen genetivischen Ordnung die Entstehung des K o m p o situms nicht mehr unterdrücken; so wird die F o r m des Morgens Lichtgrau. S o ist das M o t i v verbal geschwächt und aktionsärmer, hat dafür aber freilich an der ruhenden, gesättigten Plastik des Nominalen Anteil. D a s parallele Motiv Geschrei der Hahnen hat die Position der genetivischen Ordnung beibehalten, aber den Daktylus aufgegeben. In den Lehrjahren steht: die Helle des Morgens und das Geschrei der Hähne (21. 113), eine Änderung des Klassikers, nicht u m die verbale K r a f t z u lösen, sondern u m die allzu gestaute F o r m auszugleichen. Helle steht für Licht weniger u m den Daktylus z u gewinnen, als u m den gehemmten T o n f a l l Geschrei der Hähne nicht zu wiederholen.

Beschreibungslandschaft. Alle Naturmotive, die in der späteren Umarbeitung der L e h r jahre eine Änderung erfahren haben, sollen dem Vergleich dienen und erst dort zusammenfassend betrachtet werden. D a d u r c h wird die geringe Zahl auch der beschreibenden Bilder noch vermindert. Im Urmeister wird die Komposition des S u b s t a n t i v s von keinem lyrischen Übertrieb mehr wie im Werther in die genetivische Ordnung aufgelöst; es bleiben stehen: Sabbathstille (11), Frühlingszeit (24), Abenddämmerung (97), Abendluft (198). D a f ü r bleibt auch die abkürzende, nach dem Nominalen hin erstarrende F o r m : 172

Sonn- und Festtage (42) noch vereinzelt. Auch die Substantivdopplung spielt eine geringe Rolle: junge Birken und Fichten (30), Blitz und Donner (43), die alten Thürme und Höfe (52, m ) , bald Regen, bald

Sturm (52, 112). Der Gleich- und anklang von i=i,ü : ö kündet erst leise an, daß die positionale Korrespondenz sich auch im Lautlichen spiegeln kann. Der verbale Trieb zu steigerndem Nacheinander verwandelt sich viel deutlicher beim A d j e k t i v in einen nominalen Trieb zu geordnetem Nebeneinander. Die einfache Dopplung Adjektiv + S u b s t a n t i v : die hübsche Frühlingszeit(24), an einem schönen Frühlingstage (133), vor der schlimmen Jahreszeit (52, 184) ist f o r m a l n o c h i n -

different und verrät nur eine gewisse Gleichgültigkeit gegen den Gehalt des Wortes. Wo aber der Inhalt unbetont ist, hat die Form freieren Spielraum. So vermag sich hier schon die adjektivische Dopplung durchzusetzen, wie sie für den Stil der ganzen späteren Prosa charakteristisch wird: das ganze Haus in einer tiefen Sabbathstille (11), manchen Berg und manches Thal, worüber und wodurch (52, 171), in diesen einsamen Gebürgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern (189).

Auch die bleibenden besonderen Merkmale der Adjektivdopplung sind vorhanden: 1. Gewichtslosigkeit der syntaktischen Verbindung (Komma, und; ein größerer Einschub wie: unter einer uralten Eiche setzten sich die Ehleute nieder und genossen der schönen

Aussicht (133) zerstört das formale Band und macht die Beziehung unsichtbar). 2. Angleichung von Bildungsart (Komposition, Suffix usw.), Flexionsendung und Silbenzahl. 3. Angleichung des Intensitätsgrades bis zu inhaltlichem Gleichlaut bei gemeinsamer Abkehr vom Einmaligen, Charakteristischen und Richtung zum Allgemeinen, Typischen (einsamen : undurchdringlichen im obigen Zitat hat gleiche Flexion und Intensität bei verschiedener Silbenz a h l u n d B i l d u n g s a r t . I n : ganz voll von seinem Abenteuer und den

schönen Gegenden (177) schwächt die pronominale Form den Eindruck reiner Gegenordnung). Diese Stilform in reinen Kristallisationen zu betrachten, werden die späteren Romane Gelegenheit geben. Gerade in den Störungen verdeutlicht sich der stilistische Übergangscharakter der theatralischen Sendung. In dem etwas ironisch gezeichneten Bild: zwischen ein paar Dachgiebeln ein Altan • •. auch hier speculierte er auf neue Orangekasten, bunte Scherben, fremde Gewächse, womit er seinen hangenden Garten auszieren und sich zwischen den Schornsteinen ein kleines Paradies schaffen wollte (177)

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ist ein Ordnungsprinzip am Adjektiv zunächst nicht auffällig. Aber die einfache Dopplung: kleines Paradies scheint sich in einem Kompositum Schornsteinen, die adjektivische Dopplung: bunte Scherben, fremde Gewächse in einem Kompositum -)- Adjektiv ein Gegenstück schaffen z u wollen. Noch öfter verhüllt sich in der Substantiwerbindung ein unausgeformter adjektivischer Ausdruck: es war, als wenn ein Windsturm alle Wolken zerrissen hätte, und wie der erste Sonnenblick nach einer langen trüben Zeit auf einmal eine ganze Gegend in die alten Rechte der schönen Tage wieder einsetzt, so war e s . . . (63).

Das Verhältnis ist dasselbe wie oben: Kompositum = Adjektiv + Simplex. In der dritten Zeile versteckt sich hier im Adverbium die Korrespondenz zweier intensitätsgleicher, mathematischer Begriffe: einmal : ganze Gegend. Erst in der vierten Zeile fällt die klare Gegenordnung aus der syntaktischen Hülle wie eine vierteilige Frucht aus der Schale. In diesen Beispielen klingt Landschaftliches motivweise, verhüllt im Bild, oft nur als Umstandsangabe an. W o das Bild breiter, eine kleine Schilderung wird, zeigt sich erst deutlich, daß es die Nach- und Mitwirkung des dynamischen Stils ist, die eine reine Ausformung des tektonischen Prinzips hintanhält: Die seltsame Stimmung der Nacht, die öden Gassen, die er sonst nur voller Gewerbe gewohnt war, die flimmernden Nachtlichter seiner Bekannten und das Gefühl des Geheimnisses würzten das Abenteuer (74).

Nicht das Verbum, aber verbale, dynamische Stilelemente haben hier fast die Oberhand. Der stufenweis steigenden Intensität des Adjektivs (allgemeine Stimmung — negative Tonempfindung — verbales Partizip der Lichtempfindung — Eliminierung des Adjektivs, indem ein un-Adjektiv, das stilgerecht an vierter Stelle stehen könnte, gewissermaßen übersprungen wird) entspricht die genetivische Ordnung beim Substantiv; freilich ist diese, anders als im Werther, mit konkretem Inhalt beschwert, der erst im letzten Glied von ihr genommen scheint. Die Variation des Grundschemas durch den Relativsatz im zweiten Glied bedeutet gleichfalls eine Auflockerung im verbalen Sinn. Ausgesprochen nominal dagegen ist die schwere Komposition und die Unterbrechung des Satzflusses durch das Asyndeton des Artikels, das die Naturmotive aneinanderreiht, nicht auseinander hervortreibt 1 ). J) Interessant ist hier ein Vorblick auf ein Bild aus der erweiternden Umarbeitung der Lehrjahre, das diesem verwandt, aber der zeitlichen

174

Dasselbe Widerspiel in anderen Verhältnissen zeigt: Er durchstrich mit leisem Schritt Thäler und Berge in der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmale •. (189). D e r Einleitungssatz stellt eine D o p p l u n g gegen eine genetivische O r d n u n g . I m Bild blieb die eine Komposition; das Asyndeton ist durch die Weglassung des Artikels verstärkt. D i e Bewegung des Adjektivs weist in die entgegengesetzte Richtung, dem Nominalen, Gefestigten z u (Partizip Präsens — Partizip Perfekt — konkretes Adjektiv). D i e innere T e n d e n z des Stils offenbart sich ganz, wenn auf die präsentische, noch aktiv verbale F o r m die perfektische, zuständlich gewordene bewachsene unmittelbar folgt. D a z u stimmt endlich die monotone Zweisilbigkeit, in der alle landschaftlichen Substantiva erscheinen. Im vorhergehenden, belebteren Bild variierte das N o m e n , außer in der Silbenzahl, auch in Präfix und Suffix.

DER TEKTONISCHE

STIL.

Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1. Neue Fassungen und neue Motive der Umarbeitung. Während der unbewußte Antagonismus beider grundlegenden Prinzipien das Stilbild der wenigen Landschaftsbilder im Urmeister bestimmte, bringt die etwa anderthalb Jahrzehnte spätere Umarbeitung in die Lehrjahre eine bewußte Auseinandersetzung, die Korrektur und Ausgleichung jener Mischformen nach dem zwar nicht aufgeschriebenen, aber vom Dichter innerlich besonders seit der italienischen Reise immer mehr ausgestalteten Gesetz des nominalen, tektonisch ordnenden Stils. D i e Betrachtung erleichDistanz entsprechend noch mehr und sehr charakteristisch dem Tektonischen und Nominalen angenähert ist: Er machte sie auf auf auf und auf

das Rieseln der Quelle, die Bewegung der Zweige, die einfallenden Lichter den Gesang der Vögel aufmerksam (21. 157).

Das Substantiv herrscht fast allein, die Variation im dritten Glied ist viel schwächer, das Asyndeton durch die Anapher des Artikels noch einförmiger.

175

tcrt sich dadurch, daß in den entsprechenden Büchern der Lehrjahre die Summe der landschaftlichen Motive nur um geringe beschreibende Züge vermehrt und ebenso unwesentlich vermindert wird. Was im gleichen Wortlaut erscheint, ist besprochen. So bleiben nur die Varianten zu den einzelnen Bildern, deren Erläuterung durch das synoptische Zitat anschaulich gemacht werden soll. Dabei wird das Stilbild der theatralischen Sendung nocheinmal präzisiert und bekommt körperliche Tiefe, da wir sie zuerst gewissermaßen mit einem Auge als Folge auf den dynamischen Stil des Werther, nunmehr auch mit dem andern als Vorstufe zum tektonischen der Lehrjahre festhalten. Der Analyse der Sprachform schließt sich dann unwillkürlich die Frage an, welche Folge die Änderung des Wortstils für die ästhetische Wirkung der landschaftlichen Motive besonders der höheren Kategorie ergibt.

Beschreibungslandschaft. Das erste ist ein Bild künstlicher Theaterlandschaft I. Die ausgestopften Lämmchen, Wasserfälle von Zindel, die pappenen Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten rührten in ihm die lieblichsten Bilder . . . Und so ist es gewiß, daß Liebe, die selbst Rosen- und Myrtenwäldchen und Mondschein erst beleben muß, auch Hobelspäne und Papierschnitzeln beleben kann. (5i- 58)

:

II. D . a. L . , die W . v. Z., d. p. R . u. d. e. S. erregten in ihm liebliche dichterische Bilder . . . U . s. i. e. g., d. L . , welche Rosenlauben, M . u. M . e. b. m. a. sogar H. u. P. einen Anschein belebter Natur geben kann. (21. 86).

In den acht schweren Zusammensetzungen — worunter die ausgesprochen nominale aktionslose Verbindung Rosen- und Myrtenwäldchen — klingt die Ironie des Erzählers leise mit. Ebenso lastend sind die drei- und viersilbigen Adjektive. Die Auflockerung einer etwas schematischen Viergliedrigkeit (Adjektiv + Substantiv) durch die Variation im zweiten Glied Wasserfälle von Zindel ist uns nicht fremd. Deutlicher befreit sich ein verbaler Trieb fast nur noch in dem rührten und im leichten Elativ lieblichste. Sonst ist das Gefühl ganz mit Gegenständen vollgesogen, ohne daß doch Die Reihenfolge der Zitate ist die der Lehrjahre. Der Deutlichkeit halber wird in der rechten Spalte, die den Text der Umarbeitung bringt, das wörtlich Übernommene nur mit dem Anfangsbuchstaben angedeutet.

176

das Tcktonische eine klassisch strenge Ordnung zu errichten vermöchte. Denn eben die Gegensetzung beleben mußi beleben kann ist mehr sorglose Diktion als bewußte Stilisierung. Die Änderungen der Umarbeitung sind gering, aber charakteristisch : Abschwächung des Verbalen: Elativ > zwei Adjektive, rührten > erregten, beleben kann> einen Anschein belebter Natur geben kann (Aussonderung eines Substantivs und Partizips!); — Betonung des Nominalen durch völligen Gleichlaut des anaphoririschen Artikels die in der Viergliedrigkeit, durch verstärkte Gegensetzung : auch>auch sogar, durch gewissenhaftere Ordnung :Rosenand M. > Rosenlauben und M. In der Beschreibung des Waldplatzes, auf dem die reisende Theatergesellschaft Räubern zur Beute wird, ist der Rahmen der ersten Fassung durch neue Züge erheblich auseinander getrieben: I.

II.

den angezeigten Platz. Sie erkannten ihn an den schönen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten, an der eingefaßten Quelle und der fernen Aussicht.

Nachdem Sie . . . erstiegen, erkannten sie sogleich den angezeigten Platz a. d. sch. B., d. i. u. u. b. Eine große, sanft abhängige Waldwiese lud zum Bleiben ein; eine e. Q . bot die lieblichste Erquickung dar, und es zeigte sich an der andern Seite durch Schluchten und Waldrücken eine f.,schöne und hoffnungsvolle A . Da lagen Dörfer und Mühlen in den Gründen, Städtchen in der bene, und neue, in der Ferne eintretende Berge machten die Aussicht noch hoffnungsvoller, indem sie nur wie eine sanfte Beschränkung hereintraten. Sie Die ersten Ankommenden n. B. nahmen Besitz, ruhten von der Gegend, r. i. S . a. . . . Gesellim Schatten aus . . . schaft, w . . . d. P., d. s, W . , die Gesellschaft, welche den Platz, die Gegend, das unaussprechlich schöne Gegend m. E. M . b. (22. 34f). schöne Wetter mit Einem Munde begrüßten. (52. i86f).

Die erste Fassung zeigt in Wortwiederholung den ziemlich neutralen Stil flüchtiger Beschreibung. Die Neigung z u Zweigliedrigkeit erfaßt alle Wortklassen. Die Entfernung vom höheren Stil der Landschaftsdarstellung wird noch auffälliger in der zweiten Fassung. In den wenigen Zeilen wiederholen sich fast genau die Ausdrücke: Ferne, Aussicht, Gegend, hoffnungsvoll, sanft je einmal, schön sogar zweimal, während doch sonst ein gelegentlicher Gleichlaut der Worte in der Umarbeitung getilgt wird. D a s 12

Beiti.

177

Vordringen des Nominalen verkündet sich in den komponierten Substantiven und Adjektiven und in den summierenden Dopplungen : Schluchten und Waldrücken, Dörfer und Mühlen. Besonders charakteristisch und schon in engster Beziehung zum Stil der späten Prosa ist die Verwandlung verbaler Aktionen in ruhende Nomina (Erquickung, Beschränkung, Aussicht), die ihrerseits wieder durch farblose Verben in sekundäre Bewegung gesetzt werden (lud .. ein, bot .. dar, es zeigte sich, machten). Bleiben und Ankommenden haben als Infinitiv und Partizip noch verbales Gewand, sind aber innerlich auf dem Wege zu einem rein nominalen Aufenthalt, Ankömmlinge begriffen und könnten stilgerecht durch diese Ausdrücke ersetzt werden. Fast noch überzeugender ist die Loslösung vom Verbalen, wenn die Präposition — sonst der verstärkende Akzent auf dem Aktiven, Bewegenden im Verbum — ein Nomen wird: an der andern Seite, in der Ferne. Auch diese Formen gewinnen später noch an Boden. Obwohl das tektonische Prinzip verherrscht, kommt es hier doch z u keinen größeren und klaren Symmetrien. Auch in der Satzgestalt mischt sich das Gerade mit Ansätzen zum Ungeraden. W o im Rahmen der Umarbeitung n e u e M o t i v e auftreten, ist die Hinwendung zum tektonisch ordnenden Stil noch eindeutiger. Substantivische und adjektivische Gegenordnungen entstehen : nicht weit von einer beschatteten Quelle, unter herrlichen alten Bäumen (31. 156); Indessen war man zwischen angenehmen Büschen und Hügeln zwischen Gärten und Weinbergen hingefahren (21. 187).

Auch in dem reicheren Bild: so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande wieder näherte, und am Fuße des Gebirges, in einer schönen und fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine, ein heiteres Landstädtchen liegen sah (21. 140)

ist eine Entsprechung der Glieder angestrebt, wenn auch nicht bis ins einzelne Wort. Neu ist auch die knappe Skizze der Brandszene im fünften Buch: Indessen hatte das Feuer gewaltsam mehrere Häuser ergriffen und erhellte die ganze Gegend . . . (das Kind) . . fing an sich über die Flamme zu verwundern, ja sich über die schönen, der Ordnung nach, wie eine Illumination, brennenden Sparren und Gebälke zu erfreuen (22.216).

178

Der erste Satz unterliegt mit Verbum und Adjektiv dem Prinzip der Zweigliedrigkeit; noch mehr der zweite, wo die Symmetrie bis zur Stellungsgleichheit beider Verben führt und innerhalb des zweiten Gliedes eine untergeordnete Parallelität entwickelt wie sie in typischer Gleichform in den Wahlverwandtschaften wiederkehrt. Der Morgen des andern Tages bringt das Schlußbild der Brandszene : Neben dem anmuthigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuchtete, standen die traurigen Ruinen, von denen hier und da noch Dampf aufstieg; die L u f t war angenehm und die Nacht außerordentlich schön (22. 220).

Sehr eindrucksvoll wird hier, wie das Gesetz der Symmetrie schon den einzelnen Wortkörper durchsickert, Silbenzahl, Endungssilbe- und Endungskonsonanz ausgleichend: anmuthigen Garten : traurigen Ruinen, Luft : Nacht — und wie der positionalen und wortformalen Gleichordnung jene der inhaltlichen Intensität entspricht: anmuthig : traurig als Antithese, angenehm : schön als Parallele. Wohl nur weil die Motive des Brandes N e u s c h ö p f u n g sind vermag sich der t e k t o n i s c h e S t i l s c h o n so v o l l k o m m e n durchzusetzen. In diesem Licht wird zweifellos, in welche Richtung der Stil in den Varianten der umgearbeiteten Bilder weist und welches bald gelittene, bald überwundene Hemmnis die Urgestalt für den Dichter bedeutete, in dem mit der Wandlung des Lebensgefühls auch die Hinkehr zum Stil des Klassikers lang entschieden war. Ausdruckslandschaft. Das Verhältnis des Urmeisters zu den Lehrjahren ändert sich wesentlich, wo sich Natur zum unmittelbaren Ausdruck menschlichen Gefühls erhebt. Das Landschaftsbild dieser Art entspringt einem unvergleichlich höheren und einheitlicheren Impuls des Schaffens, der auch im sprachlichen Stil der reinen undnotwendiggen Form viel näher kommt und deshalb keine Variante und zweite Lesart leidet. Was aus einem Guß ist, kann durch Feilung und Politur vielleicht gewinnen — ein Eingriff ist nicht möglich, ohne das Ganze zu zerbrechen. Nur was mühsam geschmiedet (komponiert) ist wie ein Bild der Beschreibungslandschaft, kann gebogen (umgearbeitet) werden. Dasselbe glückliche Stilgefühl, das 12*

179

mit der ersten Fassung des Werther so schonend umging, läßt den Dichter auch die lyrische Nachtszene vor Marianens Tür fast unverändert übernehmen. Nur im Eingang, wo noch exponiert wird, s e t z t er f ü r „ E s waren Bäume in der Nachbarschaft, die den Platz von alther zierten, darunter steckte er seine Sänger" in d e n L e h r j a h r e n „Hohe Bäume zierten den Platz vor ihrem Hause, darunter stellte er

seine Sänger". Die ersten Worte waren zu unklar, alther und steckten zu realistisch. Das ändern kleine Korrekturen, die nicht nötig waren, aber auch nicht stören. Wo indes der Dichter entgegen jenem Stilgefühl für das endgültig Geformte sachlichen oder stilistischen Bedenken Gehör schenkte, mußte das Bild zerstört und zugleich an der Korrektur die veränderte, dem Dynamischen entgegengesetzte Stilrichtung doppelt fühlbar werden: Aber hundert und hundertmal, wenn er Abends am Fenster stand und in den Garten sah und die Sommersonne hinter die Berge gewichen, den hauchenden Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten und aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende T o n der Frösche aus der Ferne durch die feierliche Stille schrillte, sagte er sich die Geschichte ihres traurigen Todes vor (51. 28).

A . h. u. h., w. ich A . auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist, Spazierte, über die Gegend hinsah, und von der hinabgewichenen Sonne ein zitternder S . a. H . h., d. S. h., aus a. W . u. T . d. N . h. u. d. k. T . d. Grillen durch d. f. S. s., s. ich mir die G . des traurig n Zweikampfs . . vor ( 2 i e 33).

Wenn auch die erste Fassung in der Ichform erzählte, wäre der Übereinklang mit Naturbildern aus Werthers Briefen nahezu vollständig. Da stehen Kompositum und leichte Dopplung, äußerst beschwingt durch die Assonanz 0 = o, i = i (Sommersonne, Winkeln und Tiefen), zwei sinnlich gesättigte verbale Partizipien (hauchenden, klingende)', als Adjektiv sonst nur noch das färbende allen und feierliche, traurigen, Ausdrücke der Gemütsstimmung, wie sie im Werther nicht selten waren. Das Verbum ist klanglich und präpositional entwickelt, der Satz eindringlich in polisyndetischer Flucht; selbst ein Ansatz zu dreigliedriger Thematik fehlt nicht. Diese abgestimmte Harmonie ist nun in der Umarbeitung von vornherein zerrissen. Und aus welchem fast pedantischen Grund! Schon im zweiten Buch der theatralischen Sendung wird von Werners Ausschmückung des väterlichen Hauses und von seinem „hangenden Garten" auf dem Altan zwischen den Schornsteinen 180

erzählt. Der Dichter hielt es später wohl für notwendig, dieses nicht ganz gewöhnliche Motiv lang vorher einmal anklingen zu lassen. Unglücklicherweise mußte jenes vollendete Naturbild dazu dienen. Was ganz von der ausgeglichenen Ruhe der schönen „Zwecklosigkeit" lebt, wird plötzlich einem verhältnismäßig niederen Zweck dienstbar gemacht. Der sachliche Einschub schon als solcher bricht den reinen Glanz des Bildes. Aber auch inhaltlich ist: auf dem Altan .. spazierte, über die Gegend hinsah viel zerstreuter und flüchtiger als die Konzentration der äußeren und inneren Wahrnehmung i n : wenn er am Fenster stand und in den Garten sah. Es bleibt eben nicht beim Einschub, sondern die angrenzenden Züge des Bildes werden mit verzerrt. Der so unerläßliche polysyndetische Fluß, unterbrochen schon durch den sachlichen Relativsatz Altan, der .. ist, muß die harten, stockenden Asyndeta des tektonischen Stils erleiden: wenn ich .. auf dem Altan, der .. ist, spazierte, über die Gegend hinsah. Damit ist der Bann des Dynamischen unwiederbringlich dahin. Es ist nur eine natürliche Folge, daß nun auch im einzelnen das neue, nominal bestimmte Stilgefühl sich geltend macht. Das Verbum wird geschwächt: angebracht ist, spazierte. Das Partizip gewichen, im absoluten Gebrauch der ersten Fassung noch bewegend, wird zum Adjektiv erniedrigt und völlig inaktiviert. Dieselbe abschwächende Tendenz setzt die atmosphärische Hautempfindung hauchenden in eine allgemeine Lichtempfindung um, in das klangärmere und weniger intensive zitternde. In der stilistisch einwandfreien Änderung : Frösche — Grillen kann ein lautliches Moment mitgespielt haben. Entweder sollte das stark auftönende ö gemieden oder ein i gesucht werden, um die Musik von klingende, Stille, schrillte noch zu unterstützen. Vermutlich aber gab den Anstoß einfach ein sachliches Bedenken, da jene Tonmotive Fröschen nicht zugeschrieben werden können. — Wenn man beachtet, daß nun alle diese Änderungen unter der Perspektive der neu eingeführten Icherzählung stehen, dann wird deutlich, wie wenig über den Dichter der Wechsel der äußeren Erzählungsform vermag, wenn er nur formal bleibt.

2. Die Fortsetzung, Obwohl Wilhelm Meisters Lehrjahre in der Fortsetzung der letzten drei Bücher aus der Enge der Stadtgassen, Wirtshäuser und alten Schlösser heraus zum freieren Schauplatz der großen Gutsbesitze oberitalienischen Anstrichs führen, bleibt doch die Landschaft vor den menschlichen Handlungen entschieden im Hintergrund. Während im Rahmen der Umarbeitung noch Züge von 181

Werthers Ichlandschaft aus der Vorlage sich durchsetzten, wird nun die reine Form der Ausdruckslandschaft nicht mehr erreicht. Die Naturmotive verlieren fast ganz ihre Selbstständigkeit und werden als Begleitumstände des subjektiven Erlebens erzählt und wiedererzählt. Mehr oder minder begegnen sich doch alle Romancharaktere in dem Ausspruch Theresens: „Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt, aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns übereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten" (I 23.40). Beschreibungslandschaft. Die Beschreibung setzt das einfache S u b s t a n t i v hie und da, ohne besondere Merkmale des Stils zu entwickeln'). Kaum charakteristischer und nicht allzu häufig sind Kompositionen wie: Gartensaale (10, 225), Rasenbank (87), Baumschulen (137); nur daß die beiden ersten Kompositionen in der klanglichen Symmetrie beider Bestandteile (a = a) auf eine Beobachtung auch an den Substantivdopplungen vorbereiten. Erst in der Prosa der Lehrjahre werden diese verhältnismäßig häufiger und wie in den späteren Romanen zu einer eigentümlichen Form des beschreibenden Stils. Manche gehören zu den aus dem ältesten Stand der deutschen Sprache hergebrachten und formelhaft gewordenen Dopplungen. Aber auch den übrigen ist der Charakter des Willkürlichen genommen und zwar durch eine fast gesetzmäßige Beziehung zwischen beiden Grundvokalen. Die Dopplung wird von einem Vokal meist nur zum nächstgeschlosseneren oder -offeneren vollzogen, so daß die Reihe aufgestellt werden kann: Thürmen und Giebeln (6), Kirschen und Beeren Thäler (278, 283), Felder und Wälder (114);

(137),

Berg und

mit a ist die äußerste Öffnung des Vokals erreicht, hier im Gleichlaut: Wall und Graben (6). Dann schlösse sich der Kreis wieder beginnend mit: Gärten und Felder (6), Gärten und . . Alleen (6).

Die nominale, aber auch in diesem Sinn schon erstarrende Bildungsform: Gemüse- und Baumgarten (6) erfährt erst etwa ein Jahrzehnt später in den Wahlverwandtschaften lässigere Duldung. l ) Wo nichts bemerkt ist, sind die folgende Zitate im 2 3 . Band der Weimarer Ausgabe enthalten.

182

Deutlicher enthüllt sich der nominale Stil im A d j e k t i v . Die ideale Grundform kennen wir bereits aus der theatralischen Sendung. Diese Gestalt besitzt: Allee . . , die mit hohen Bäumen den ganzen Garten zu umgeben schien ( n ) . D a g e g e n ist dieses v o l l -

kommene Gleichgewicht nicht erreicht, wenn ein Adjektiv im P r o n o m e n s t e c k e n b l e i b t : die schönen Waldungen ihrer Güter (57).

Doch kann auch das Pronomen sich zum vollwertigen Adjektiv steigern, wenn das bloß äußerlich Demonstrative eine gedankenv o l l e U n t e r s t r e i c h u n g w i r d 5 das macht uns dieses Erdenrund erst zu

einem bewohnten Garten (40). Allerdings ist hier wieder das Intensitätsverhältnis der Wortkörper gestört durch das Sinken des zweiten Bestandteils zum perfektischen Partizip. Auch i n : die aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster (121) v e r h i n d e r t das

Partizip, wenn auch nun präsentisch und in symmetrischer Silbenzahl, die Entstehung der reinen Form. Die im vorletzten Beispiel (diesesErdenrund: bewohnten Garten) wie auch im Urmeister beobachtete Neigung zum sekundären Ausgleich eines gestörten Verhältnisses wird besonders deutlich erkennbar in der Bildung: ein großes neues Gut in der schönsten Lage (262). Alle drei Adjektiva gehören ungefähr derselben Intensitätsstufe an. Die Dopplung großes neues kann deshalb nur durch eine Verstärkung, durch den Superlativ des alleinstehenden Adjektivs ausgewogen werden. D a ß dem einsilbigen ein zweisilbiges Substantiv gegenübersteht, mag eineNebenwirkung dieses Stiltriebes sein. Noch weiter von der Grundform ab liegen Bildungen, in denen das tektonische Prinzip des Auftriebs ermangelte, um überhaupt die Form des Adjektivs hervorzubringen. Dieses bleibt noch in der adverbialen Ortsangabe gebunden: Er fuhr nun seitwärts durch einen Wald und über lange Triften weg (36), bei einer großen Eiche, die ihren Schatten weit umher verbreitete

(45). Die Stellung des ungleichen Gliedes, einmal am Anfang, einmal am Ende zeigt, daß die Nähe des Verbums die Verwandlung in ein paralleles Adjektiv verhinderte. Eigentümliche Störungen der adjektivischen Tendenz zur Gegenordnung ergeben sich, wenn das Verbum in sich selbst dieser Stilrichtung zu folgen strebt: Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern (124).

Das Adjektiv verläßt den geordneten Begriff und damit die positionale Symmetrie, aber nicht die syntaktische, denn es bleibt 183

beim Subjekt. Der schematischen Symmetrie wird noch widerstrebt. Erst in der spätesten Prosa erzeugt das nominale Prinzip leichter und häufiger die strenge, freilich dann auch erstarrende Form, die hier etwa anzusetzen wäre mit: Steile Gegenden lassen sich ... ebenes Land durchmessen gerade Wege... Dasselbe Widerstreben zerbricht im folgenden Beispiel mit der Symmetrie des Adjektivs zugleich die des Verbums: so eng waren die Wege, und so reichlich war alles bepflanzt (42),

womit ein gleichförmiges: so eng waren die Wege, und so reich waren alle Pflanzungen vermieden ist. Umgekehrt scheint das Stärkeverhältnis in: Manche Berge standen öde, und einen gleichen Wuchs hatten nur noch die ältesten Schläge (57).

Die Symmetrie der Adjektive ist nicht zerstört, nur in den Chiasmus gedrängt; andererseits mußte das zweite Verbum selbst seine Bestimmung (gleichmäßig gewachsen) in einen gleichgearteten adjektivischen Ausdruck verwandeln. Zur Vorbereitung auf Späteres sei darauf hingewiesen, daß in den Lehrjahren das P a r t i z i p Perfekt noch kaum die Rolle des Adjektivs übernimmt. Ebenso selten bleibt die präsentische F o r m : die aufgehende Sonne (121), bei dem abgehenden Tageslicht (153).

— Überall hält das tektonische Prinzip den Sieg, ohne schon Herrscher zu sein über ein beruhigtes und verstummtes Reich des Dynamischen. Von V e r b u m und S a t z b a u in der beschreibenden Landschaft der Lehrjahre kann kaum gesprochen werden, da Gefüge größeren Umfangs, an denen sich ein besonderer Stil erst entwickeln und darstellen könnte, fast ganz fehlen. Besonders für das Verbum werden wir in den Wahlverwandtschaften zahlreicher und charakteristischer dieselben Merkmale finden: Entpersönlichung durch Reflexivpronomen, neutrales man und durch einförmig angewandtes scheinen, — die völlige Überführung des schon abgeblaßten verbalen Wortkörpers in das Nominale, zunächst durch Substantivierung des Adverbiums. Das einzige breiter angelegte Bild kommt ziemlich am Beginn des siebten Buches bei der Beschreibung von Lotharios Schloß zustande. Einzelheiten daraus wurden bereits zitiert. Das Ganze sollte auf hier verspart bleiben, um neben der Betrachtung des Satzbildes nocheinmal alle Strahlen der Stilelemente in einen Brennpunkt zu sammeln und einprägsam z u machen: I. A . Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Höhe des Berges gekommen,

184

B . a) b) c) I I . a) b) c)

und sah an dessen Abhang, an der andern Seite, ein wunderliches Gebäude liegen Ein altes unregelmäßiges Schloß, mit einigen Thürmen und Giebeln, schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein;

..

allein I I I . a) noch unregelmäßiger waren die neuen Angebäude, b) die theils nah, theils in einiger Entfernung davon errichtet, c) mit dem Hauptgebäude durch Galerien und bedeckte Gänge zusammenhingen . . I V . a) i . Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, 2. eben so wenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. b) i . Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan, 2. und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen angelegt. c) i . Ein heiteres Dörfchen lag in einiger Entfernung; 2. Gärten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande (5f.).

Aus der Anordnung des Zitates, die dem Text keinen Zwang antut, wird auf den ersten Blick der ganz allgemeine Eindruck fest, daß der Grundzug dieses Bildes Ordnung, nicht Bewegung — Form, nicht Kraft bedeutet. Es zerfällt in die Einleitung I. und das eigentliche Bild I I . — I V . Erstere wieder teilt sich in W e g und Blickrichtung I . A + B , d a s Bild in die Beschreibung des Schlosses und der Umgebung I V . Der Mittelteil bildet nocheinmal zwei Hälften für das alte Schloß II. und die neuen Angebäude I I I . Darin herrscht also vollkommene Zweigliedrigkeit. Aber schon im zweiten Satz I. der Einleitung erhalten die primären, an sich in adjektivischer Symmetrie geordneten Motive an dessen Abhang : ein wunderliches Gebäude durch den Einschub an der andern Seite ein Mittelstück und dadurch entfernt das Ansehen einer Dreiordnung. Dieses Prinzip setzt sich fort mit steigender Kraft. In II. ist das Mittelstück noch eine Ergänzung des Subjekts, in III. schon ein Relativsatz! Die Ordnung im ungeraden Sinn kennen wir als die dem dynamischen Stil eigentümliche. Es muß mit einer Tendenz zu verbaler Auflockerung zusammenhängen, wenn sie in beschreibender Prosa der tektonischen Stilepoche erscheint. U n d in der T a t ist unser Bild so ausgedehnt, daß ein gesundes Stilgefühl immerhin eine Belebung der einförmigen Doppelordnung verlangt. Dies erfüllt jene Einflechtung des Ungeraden, Bewegenden. Andererseits wird Natur hier doch nur beschrieben, nicht aber gefühlsmäßig erlebt. So regeneriert sich das Verbum selbst nicht. 185

Und nun ist die Beobachtung sehr belehrend, daß die Z w e i g l i e d r i g k e i t , wie sie die große Anfangseinteilung schuf, s i c h a u f s n e u e d u r c h s e t z t und das dreigliedrig aufgepflügte Gefüge wieder festigt und schließt. Ja, unmittelbar hinter dem furchenden Kiel schießen die Wellen zusammen; schon in I. zeigt jedes der Glieder die primitive Dopplung Adjektiv + Substantiv (bzw. Pronomen + S.), von denen zwei als Ortsangebe an.. = an.. in engere Symmetrie treten. Mit derselben Intensität wie das Ungerade wächst das Gerade. In II. ist die Spaltung deutlicher in der Adjektivdopplung und Substantivpaarung. II. trennt die Adjektive bereits durch das Verbum (a), bildet die Satzhälften theils... : theils... (b) und setzt ein Kompositum gegen eine Dopplung (c). In IV., wo die Dreiteilung am augenfälligsten wird, übertrifft sie an Kraft doch die gerade Ordnung. Denn an jedes der drei Glieder schließt sich ein gleichgestellter zweiter Satz, nur noch in IV a2 des Verbums ermangelnd. Diese Sätze selbst wieder erzeugen zwei Teile, deren Zäsur das Verbum in auffallender Stellungsgleichheit anzeigt. Und auch damit ist der tektonische Kristallisationstrieb nicht erloschen. Manche dieser Halbsätze sind auch ihrerseits noch Kompositionen, Wortpaare usw. — Aus dem nominalen Stil entspringt das Asyndeton. Zweimal steht und, aber auch bloß reihend, nicht steigernd und treibend. Mit hartem Einsatz beginnt das nackte Subjekt, Gärten and Felder, oder kümmerlich eingeleitet durch den unbestimmten Artikel. Dreimal ist die Gegenstellung des zweiten Teils unterstrichen durch allein, theils : theils, ebensowenig; das scharftrennende allein erzeugt überdies in freiem Spiel mit der primären Form der Antithese einen auffallenden Chiasmus: Ein altes unregelmäßiges • • allein noch unregelmäßiger . . die neuen . .

Ähnlich, wenn auch minder streng, ist der positionale Wechsel der Dopplung von I V a i : a2. Noch manche stilistische Einzelheit spiegelt dieselbe Einförmigkeit und Ordnung. Ausdrücke wiederholen sich: waren, schien, unregelmäßiges, einiger, in einiger Entfernung, Das viermalige Gärten in IV. allein wechselt nur durch Komposition und Numerus. Wie das gesamte Bild ist auch jedes Wort aus dem Nominalen geboren. Einmal ist das Verbum überhaupt geschwächt. Durch das perfektische Partizip errichtet, bedeckt, angelegt wird es dem Adjektiv zugeführt. Die Präposition, sonst eine Unterstützung der verbalen Aktivität, ist ihm entzogen und wie im Bild der Um186

arbeitung des Urmeisters zum Teil völlig ins Nominale gewandelt: in einiger Entfernung, in den Zwischenräumen. Das verkümmerte Verbum ist überwuchert von Substantiven in Komposition und Paarung und von zahlreichen Adjektiven, die mit: andern, einigen, altes, neuen, erste, besten, kleine, nutzbare, künstliche, unregelmäßiges auf der Stufe primitiver Beschreibung verharren. In wunderliches, heiteres vielleicht befreit sich mühsam etwas Stimmungsmäßiges. Der Gehalt und die sinnliche Intensität des einzelnen Wortkörpers ist bald besprochen, wo sich soviel sagen läßt über die Ordnung des Wortes, über die Form. Nicht im Romanganzen, sondern für sich als landschaftliche Szene genommen, ist diese Beschreibung nicht aus wortschöpferischem Stilgefühl, sondern aus wortordnendem Stilverstand — nicht gewachsen, sondern geformt. Ausdruckslandschaft. Daß Natur aus ihrer objektiven Existenz bewegt und zum symbolischen Ausdruck menschlicher Zustände werde, bedarf es lyrischer Ballungen, die sich noch im Urmeister einstellten, in der Umarbeitung der Lehrjahre aber und besonders in der mit dem siebten Buch beginnenden Fortsetzung fehlen. Mignon und seine unglücklichen Eltern sind zwar Charaktere, für die sich das Gesicht der Natur ins Subjektive verwandelt hat. Aber sie sind noch mehr. Der Dichter zeigt uns nicht die Peripetie, vielmehr schon die Erfüllung ihres Schicksals. Wo die Schatten dieser Gestalten auf freie Natur fallen, bleiben die Motive wortkarg und tragen jene abgeklärten, unveränderlichen Züge, die wir als der Schicksalslandschaft zugehörig bezeichnet haben. Bei Wilhelm und seinem jungen Sohn aber, fast den einzigen Personen, die noch in landschaftliche Rahmen gestellt werden, fühlen wir deutlich, daß die Subjektivierung der Natur nicht mit Notwendigkeit aus einer Fülle oder einem Konflikt des Gefühls, sondern mehr aus einer zweckmäßigen Belebung durch den Stift des Dichters entspringt. Mit der größeren Enfernung von reiner Ichlandschaft wächst zugleich die Macht des tektonischen Stils. Das wird deutlich schon in der Einleitung des siebten Buches, der an sich mehr als die Rolle eines bloß beschreibenden „Natureingangs" zugedacht ist; Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glänze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen (3).

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Mit reichem Vokalwechsel, mit superlativischen und intensiven Substantiven und Adjektiven, mit Verben in bewegender Präposition ist zwar eine Auflockerung des Bildes im dynamischen Sinn erreicht. Doch das Einzelwort wird beherrscht von der Gesamtordnung. Fast asyndetisch folgen sich die fünf Satzteile. Ihre Länge variiert erheblicher nur in der zweiten, der einförmige Subjektseinsatz ändert sich nur in der letzten, die eine reine adjektivische Dopplung hervorbringt. Diese Zeile schließt sich mit gleicher Wortwahl (erschien, herrliche : Herrlichkeit, erschienen) bedeutsam zum Anfang hin. Noch entschiedener bestimmt das Gesetz der Ordnung das folgende Bild: Felix war in den Garten gesprungen, Wilhelm folgte ihm mit Entzücken, der schönste Morgen zeigte j e d e n G e g e n s t a n d mit n e u e n R e i z e n , und Wilhelm genoß den heitersten Augenblick. Felix war neu in der freien und herrlichen Welt, und sein Vater nicht viel bekannter mit den Gegenständen . . (131).

Die Fügung um den Mittelpunkt der adjektivischen Dopplung ist eine vollkommen symmetrische. Auf die abgeschwächten Superlative folgen beiderseits die harten, fast klappernden Satzpaare, die durch den gemeinsamen Einsatz Felix war.. eine formale Beziehung deutlich aufrechterhalten. Dazu ist dasVerbum geschwächt. Mit dem Adjektiv verliert es überdies Boden an das Substantiv in den Ausdrücken: mit Entzücken, mit neuen Reizen. Besonders die erste Substantivierung über den Weg Verbum — Adverbium wird von jetzt an ein Merkmal des späten Stils. Auch daß Blumen und Pflanzengrün auf so engem Raum zweimal blutleer als Gegenstand erscheinen können, ist bezeichnend. Das Verhältnis ändert sich wo die kindliche Ichlandschaft nicht in solchem Maße die Einmischung des ernüchterten Vaters erleidet : der Morgen war kalt, aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in seinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Erstaunen über den ersten feurigen Blick, über die wachsende Gewalt des Lichts . . ließen ihn einen Blick in das Herz thun, vor welchem die Sonne wie über einem reinen stillen See empor steigt und schwebt (150).

Eine gewisse Neigung zur Substantivierung, zur Antithese und Dopplung ist zwar erkennbar {kalt, aber heiter; reinen stillen; steigt und schwebt), aber das Substantiv wird kurz und konkret, das Ad188

jektiv sinnfällig, intensiv (besonders durch hebendes zum erstenmal ersten) und verbal im Partizip wachsende, das Verbum selbst wurzelhaft und präpositional. Der Satz ist zwanglos und vielgestaltig. Mignon sehen wir in freier Natur fast nur rückblickend im versöhnenden Gesang der Knaben an ihrem G r a b : Wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht

mehr (254). U n d hymnisch ist auch die Sprache ihres fluchbeladenen Vaters: Begegnet uns unter jenen Cypressen, die ihre ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden, besucht uns an jenen Spalieren, wo die Citronen und Pomeranzen neben uns blühn, wo die zierliche Myrte uns ihre zarten Blumen darreicht, und dann wagt es, uns mit euren trüben, grauen, von Menschen gesponnenen Netzen zu ängstigen! (268).

Schicksalhaft erscheint die Natur in diesem feierlichen Verteidigungsspruch. Diese Bildersprache vereinigt die Kraft des Verbums mit der Wucht großer nominaler Ordnungen. Zwei Teile treten als Bedingung und Folge auseinander. Der erste zeigt die charakteristische Abstufung v nd wachsende Ausgestaltung der Glieder. Gleichklang (jenen — jenen, wo = wo), Alliteration und Assonanz (zierliche Myrte : zarten Blumen) dienen der Eindringlichkeit. Nur die heftige sinnliche Bewegung, Dreigliedrigkeit, Polysyndeton und verbales Adjektiv sind gemieden. Die Natur ist ernsthaft geworden wie später um Charlotte in den Wahlverwandtschaften. Nicht mehr revolutioniert wird sie, sondern ihre unbestechliche, eherne Objektivität zum Zeugen und Richter aufgerufen.

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. U m die Klarheit der Entwicklungsreihe Urmeister-Umarbeitung-Lehrjahre nicht zu brechen, lassen wir die unter dem Titel Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vereinigten Stücke ( W A 1 1 8 ) erst jetzt in den Kreis der Betrachtung treten. Der Verstoß gegen die Chronologie ist um so geringer, als die meisten Novellen keine Landschaft kennen. Eine gelegentliche Gegeno r d n u n g : der schöne Genuß dieser reizenden Gegend (103), in einer bequemen Wohnung, an einem angenehmen Orte (110) ist alles.

Häufig, mitunter dreimal auf einer Seite findet sich der schematisierende Terminus Gegend. Auch die neapolitanische Nacht an der Chiaja, also am Meer vor dem Vesuv, in der Bassompierrenovelle verlockt zu keiner Reiseerinnerung. In dem Fragment Der

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Hausball, das auf 1781 datiert wird, klingt nur in einem Gleichnis der Vorrede ein Naturmotiv kräftig auf. Das umfangreichste und bekannteste Stück dieser Sammlung, die Jagdnovelle, ist erst 1828, also mehr als dreißig Jahre später als die meisten anderen vollendet und muß deshalb nach den Wanderjahren betrachtet werden. So bleibt uns schließlich nur Die Reise der Söhne Megaprazons und Das Märchen, die sich mit der Abfassungszeit der Lehrjahre (1794—96) nahe berühren.

1. Die Reise der Söhne Megaprazons (1792). Zwei Anlässe führen landschaftliche Motive in breiter Reihe ein: die Beschreibung der allegorischen Inseln und die bewegtere Schilderung nächtlicher Naturerscheinungen aus dem Munde des Papimanen. Daß bei der letzteren Wort- und Satzgestalt sich dem Ausdruck der Ichlandschaft nähern, erklärt sich weniger aus der selbstständigen Erzählergestalt, als aus einer Tatsache, die schon beim Werther und auch bei den Lehrjahren (Sonnenuntergang, Brand) bemerkt werden konnte: L i c h t s z e n e n , besonders im Kontrast mit der Nacht, treiben den Dichter zur Erhöhung des Stils. Kaum mehr Einfluß als hier die Person des Erzählers hat der allegorische Nebensinn des Beschriebenen auf die Beschreibung selbst in der ersten Szene. Höchstens legt die innere Dunkelheit eine besondere Klarheit des äußeren Wortlauts nahe; auch begünstigt die Zweizahl der allegorischen Hauptmotive die Auswirkung des im geradenSinne ordnenden tektonischen Stilprinzips: I

Die Insel zur rechten Seite • • A ist ein langes flaches Land mit wenigen Hügeln und scheint mir gar nicht bewohnt; B ich sehe weder Wälder auf den Höhen noch Bäume in den Gründen; keine Dörfer, keine Gärten, keine Saaten, keine Heerden an den Hügeln, die doch der Sonne so schön entgegen liegen • •

II Und jene Insel zur Linkens' . . A sie scheint ein kleiner Himmel, ein Elysium, ein Wohnsitz der zierlichsten, häuslichsten Götter. Alles ist grün, alles gebaut, jedes Eckchen und Winkelchen genutzt. B Ihr solltet die Quellen sehen, die aus den Felsen sprudeln, Mühlen treiben, Wiesen wässern, Teiche bilden.

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Büsche Wälder Häuser Gärten,

auf den Felsen, auf den Bergrücken, in den Gründen. Weinberge, Äcker und Ländereien . . (369).

Das ganze Bild beherrscht eine scharfe Zweigliedrigkeit der äußeren Blickrichtung, die schon zwei Seiten vorher wortähnlich skizziert ist.: Ich sehe zwei Inseln . . eine rechts, lang und flach in der Mitte scheint sie "ebirgig zu sein; . . die andre links

zeigt sich schmäler und hat höhere Berge (267).

Ebenso parallel und auch äußerlich durch einleitendes ich sehe = Ihr solltet .. sehen in Beziehung gesetzt ist im großen Bild die Wendung des Blickes vom Allgemeinen zum Detail. Aber weil überhaupt der zweite Bildteil alle Negationen des ersten ins Positive überführt, dringt die inhaltlich und wortformal gegenordnende Tektonik bis in die einzelnen Motive, freilich nun durch Variationen und durch die schon mehrfach beobachtete reichere Ausgestaltung des zweiten Gliedes etwas aufgelockert. Vollkommen ist die Entsprechung im Inhalt der ersten Hälfte beider Teile. Die Motive stehen im Chiasmus (Gestalt—Bewohner : Bewohner— Gestalt), den das bei den parallelen Gliedern verharrende scheint gut andeutet. Die noch unreine, gleichsam kristallinische Ordnung: ist ein langes flaches Land mit wenig Hügeln kristallisiert dann rein i n : Alles ist grün, alles gebaut, jedes Eckchen und Winkelchen genutzt. Durch die Anordnung des Zitates augenfällig ist auch die Symmetrie des Details, dagegen weniger schematisch seine gegenseitige Beziehung auf beiden Inseln. Aber trotz des augenscheinlichen Strebens zu variieren, wird nicht nur die Form der Doppelbegriffe Wälder auf den Höhen usw., sondern auch Inhaltliches wörtlich in den zweiten Bildteil übernommen: weder Wälder auf den Höhen, noch Bäume in den Gründen — Wälder auf den Bergrücken, Häuser in den Gründen. Der nicht stark motivierte Relativsatz die doch .. liegen im ersten Teil scheint unbewußt dem Gefühl zu entspringen, daß der Schematismus einer Milderung bedürfe. Wie die innere Bewegung, die Dynamik des Bildes tötet der Rauhreif des Gedankenhaften auch die einzelne Wortblüte. Ordnende Partikeln und Zahlwort, weder .. noch, keine, präpositionale, ortbestimmende, nicht bewegende Kürzungen wie Wälder auf den Höhen ersetzen Adjektiv und Verbum. Eine Kette von neun Sub191

stantiven wird durch ein einziges farbloses Verbum ich sehe mühsam aneinandergehakt, nicht bewegt. Auch in den partizipialen Formen entfernt sich das Verbum vom Zentrum der Aktivität und nähert sich der Zuständlichkeit des Nomens. Mit der Triebkraft des Verbums erlischt auch die des Satzes, der nun ganz Ordnung wird. Meist scheidet die Motive Asyndeton, nur einmal verbindet und. Besonders für die geringe Stilhöhe (vom Verbalen her gesehen) des Substantivs sagt es viel, daß f ü n f Nennungen sich w ö r t l i c h w i e d e r h o l e n : Hägein, Wäldern, Gründen, Gärten, Felsen. Dazu nehme man noch die kulissenhaften Motive: Sonne, Himmel, Höhen, Bergrücken, Bäume, Büsche, Saaten, Äcker, Wiesen, Teiche, Mühlen, Herden, Häuser, Dörfer, an denen allen die stereotype Zweisilbigkeit auffällt, dann fehlt wenig mehr zum landschaftlichen Bildvorrat, der späterhin fast den ganzen Bedarf der Beschreibungslandschaft decken muß. Einzeln genommen, sind sie ursprünglich und angeschaut. Diese geordnete Versammlung unseres Bildes aber ist eine Anwendung des einmal Wahrgenommenen, das Element des Lebens scheint daraus weggetilgt. Diese Landschaft ist nicht gedichtet im Sinne von etwas organisch Wachsendem, sondern gedacht und zusammengesetzt. Sie hat mehr Ähnlichkeit mit einem Kristall als mit einer Pflanze und vermag nur den ganz zu befriedigen, dem O r d n u n g , s c h ö n e s M a ß , d u r c h g e f ü h r t e r P l a n mehr bedeuten, als Kraft, Leben und Bewegung. Lichtlandschaft bringt, wie bemerkt, auch in der Beschreibungslandschaft höhere Wortformen hervor, doch bleibt besonders in der Anordnung dieser einzelnen Formen das nominale Stilprinzip deutlich s i c h t b a r : das herrliche Schauspiel der aufgehenden Sonne (374).

Wo dann in der Nacht jene „wunderbaren und schrecklichen Naturbegebenheiten (376) erscheinen, wird auch das Verbum und endlich der Satz von steigender Bewegung zu strenger Gegenordnung geführt: Man sah hier und dort an der Erde bei Tage Dünste schweben, bei Nacht Feuer hüpfen . . Wir konnten von unserm Ufer bei Tag den Rauch, bei Nacht die Flamme gewahr werden. Es war entsetzlich anzusehen, wenn in der Finsterniß ein brennender Himmel über ihrem Horizonte schwebte; das Meer war in ungewöhnlicher Bewegung und die Stürme sausten mit fürchterlicher Wuth • • in der Nacht ein entsetzlich Gepraß gehört und Himmel und Meer gleichsam in Feuer gesehen (379f.). 192

Das Substantiv wird charakteristisch und sinnfällig und personifiziert: Gepraß, Wuth. K e i n Kompositum, nur eine D o p p lung: Himmel und Meer. Das Adjektiv erinnert sogar an den Stil des Werther mit verbalem Partizip (brennender), un-Präfix (ungewöhnlicher), -lieh Suffix (entsetzlich, fürchterlich; vgl. o. herrlich, schrecklich) für Äußerungen des Affektes. Beim Verbum steht gegen die trockene Einkleidung: man sah, wir konnten .. gewahr werden die volle Farbe v o n : schweben, hüpfen, sausen. Der Satz bricht die Starrheit des Asyndetons durch wenn und und. Aber auch im leidenschaftlichen Kampf von Licht und Finsternis beherrscht Zweigliedrigkeit das Gesamtbild, wiederholen sich Motivnamen auf engem Raum: Tag, Nacht, Feuer, Himmel, entsetzlich, schweben.

2. Das Märchen (1795). Werther und Urmeister beginnen mit dem vollen Einsatz des Gefühls; schon in den ersten Briefen und im ersten Buch ist die Natur vom Ich beseelt. M i t dem großen Umschwung des Stils ist auch hierin eine Wandlung eingetreten. Was noch etwas mehr als ein Jahrzehnt später bei den Wahlverwandtschaften klar zutage tritt, kündigt sich in dieser kleinen symbolischen Dichtung leise an: der G e g e n s a t z e i n e s e r s t e n T e i l s d e r E x p o s i t i o n , der unerregten epischen Beschreibung zu e i n e m z w e i t e n T e i l der Zusammenfassung und d e s A b l a u f s , der gesteigerten dramatischen Handlung. Wenigstens zeigen die landschaftlichen Motive im Märchen dieses Verhältnis, das sich im Stilistischen spiegelt. Strenge gerade Gliederung von Wort und Satz, häufige Substantivkompositionen und -dopplungen leiten ein. Erst von dort ab, wo sich zum erstenmal alle Figuren um die leuchtende Brücke gruppiert haben, wird durch ungerade Ordnung gelockert, K o m positionen werden genetivisch zerspalten, das bisher schlicht zweisilbige Adjektiv erhöht sich mit den bekannten Vor- und Nachsilben und wird im Partizip verbal. Nur weil dieses Märchen kein Ich hat und kein Einzelschicksal entwickelt, kommt der Eindruck eigentlicher Ichlandschaft nicht zustande. Auf den ersten Seiten stehen den paar durchgeführten Landschaftsbildern eine größere Zahl flüchtiger Anklänge gegenüber, Vehikel des exponierenden Stils, die später ganz verschwinden: In dieser K l u f t (227), in dem Gebüsch (227), auf die Fläche (228), jenseit des Wassers (230), an jener Waldecke . w o das Gebüsch dicht an's Ufer stößt . . gegen Abend in jener Felsenbucht (231), In den Felsklüften (232,) durch diese Abgründe (232), Aus den Klüften (233). 13

Beiti.

193

Ähnlich allgemeinen Charakter trägt das gelegentliche Adjektiv: die einsame Wildniß (228), zu einem feuchten Ried (228), im dunkeln Hain (229), dieses wunderbare unterirdische Gewölbe (232).

Die Erstarrung des Verbums zum perfektischen Partizip bleibt indes selten: in einem ringsum verschlossenen Felsen (232);

ebenso

adjektivische Symmetrie außerhalb größerer Satzgebilde: zwischen hohen Felsen eine ungeheure Kluft (227). D a s K o m p o s i t u m

wird

schematisch in der Wiederkehr desselben Bestandteils: Felsritzen (227; 228), Felskluft (229,232), Felsenbucht (231) usw. A u c h von den

Dopplungen, an sich allgemeiner verwendet, sind die ersten dem K l a n g nach und silbenmäßig einförmiger: zwischen Kräutern und Gesträuchen (228), durch Sumpf und Rohr (228), zum Palaste und Garten (230), Haken und Haare (232) — Gras und Büsche (245), weder Bltithen noch Früchte (247), von Eichen und Buchen (248), See und

Wiese (256). Der vokalische Gleichklang der ersten wirkt im Sinn

des Tektonischen stärker als die Übereinstimmung der Konsonanten ch und als die gleiche Quantität von ee = ie in den späteren Dopplungen. Deutlicher verkörpert sich das Prinzip der Gegenordnung, wo das Naturmotiv den Satz erobert: An dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war, lag in seiner kleinen Hütte • • (225).

Auf die beiden Säulen des adjektivischen Gegensatzpaares: großen : kleinen ist, nicht zur Lockerung, sondern festigend und beschwerend, der Querbalken des Relativsatzes gelagert, auch seinerseits mit Silbengleichheit von Adjektiv und Substantiv und mit der Dopplung des Verbums. Dem genauen Beobachter verrät schon das eben, daß hier Landschaft zusammengesetzt wird. In einem anderen Motiv hat der Relativsatz seine Stelle gewechselt und die Lichtwahrnehmung Verbum und Adjektiv gekräftigt: Die aufgehende Sonne schien hell über den Fluß herüber, der in der Ferne glänzte (239).

Noch ruhiger ist das Bild gezeichnet: Desto angenehmer war es ihr, sich selbst da sie zwischen Kräutern und Gesträuchen hinkroch, und ihr anmuthiges Licht, das sie durch das frische Grün verbreitete, zu bewundern. Alle Blätter schienen von Smaragd, alle Blumen auf das herrlichste verklärt. Vergebens durchstrich sie die einsame Wildniß (228).

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Der vokalischen Substantivdopplung folgt die konsonantische: alle Blätter = alle Blumen. Die Adjektive entsprechen sich in Position (Satzschluß) und Gehalt. Das Partizip schwächt das Verbum. Als Elativ und formale Substantivierung gehört auf das herrlichste recht in diesen Stil. Das Unauffällige und Überzeugende der logischen Gegenordnung: sich selbst : ihr .. Licht mangelt im Folgenden: bald schlang sie sich zwischen den Zacken großer Kristalle hindurch, bald fühlte sie die Haken und Haare des gediegenen Silbers (232).

U m nichts verschweigen zu müssen, wird ein zeitlicher Gegensatz äußerlich hergestellt. Dieses schematische bald-bald zusammen mit weder-noch, zwar-aber, so wie haben auch alle späteren Prosastücke. Dazu paßt auch das eintönig durchklingende a (schlang, Zacken, Kristalle), das in der zweiten Zeile als Dopplung von geschlossenerem ii und i eingefaßt wird. Auffallend ist die Wiederholung der Vokalreihe o-e-i in einem anderen Motiv: Sie achtete nicht die Beschwerlichkeit durch Sumpf und Rohr zu kriechen; denn ob sie gleich auf trocknen Bergwiesen, in hohen Felsritzen am liebsten lebte, gewürzhafte Kräuter gerne genoß und mit zartem Thau und frischem Quellwasser ihren Durst gewöhnlich stillte (228).

Die ungerade Ordnung des Verbums und die innere Höhe des Adjektivs bedeuten eine Auflockerung des beschreibenden Stils, die aber durch drei Komposita, Dopplungen und strenge Gegenordnungen aufgewogen wird. Gegen das tektonische Grundprinzip vermag auch das gegen die Mitte des Märchens sich steigernde Gefühl nicht allzuviel. Die Wortformen werden glühflüssig und ändern die Gestalt, aber die darüber lagernde Decke zersprengt keine Eruption. Nur geringe Hebungen sind erkennbar. Es ist auch charakteristisch, daß nun die meisten Bilder aus Lichtmotiven zusammengesetzt sind. Aus ihnen.entwickelt sich das Substantiv der genetivischen Ordnung: in dem Augenblicke erschien das Licht der aufgehenden Sonne an dem

Kranze der Kuppel (266). Ihnen gehören alle verbalisierten Adjektive a n : aufgehenden Sonne (23g, 266), sinkenden Sonne (256), leuchtenden Scheiben (227), glänzende Goldstücke (226), glänzende Nische (233), leuchtender Edelsteine (261), glänzenden Weg . . leuchtende Herrlichkeit

(260). Mit der Form des Wortes löst sich auch die Starrheit der Symmetrie: 13*

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sahen sie von ferne den majestätischen Bogen der Brücke, der von einem Ufer zum andern hinüber reichte, im Glanz der Sonne auf das wunderbarste schimmern (244).

Es stehen nicht Dopplungen von Adjektiv + Substantiv nebeneinander, sondern genetivische Ordnung und adjektivische Bestimmung. Die Entsprechung ist eine entferntere: von ferne = auf das wunderbarste und in einem leichten Chiasmus gehalten. Die Zahl der nun mehrsilbig gewordenen adjektivischen Bestimmungen ist unverbindlich. Jedoch stört der eingelegte Relativsatz, den wir genau so im Eingangssatz fanden. Denselben spielenden Chiasmus bei fehlender strenger Symmetrie zeigt auch das Bild: die lieblichen Töne zeigten sich erst als Ringe auf der Oberfläche des stillen Sees, dann wie ein lieblicher Hauch setzten sie Gras und Büsche in Bewegung. Auf einem eingeschlossenen grünen Platze, in dem Schatten einer herrlichen Gruppe mannichfaltiger Bäume, saß sie (245).

Die Bewegungsmotive kreuzen sich mit dem Bewegten. Dieses wieder wechselt von genetivischer Ordnung zu leichter Dopplung. Parallel steht nur das Bewegende (Töne = Hauch). Das Verbum (reflexive Bildung; Substantivierung in Bewegung) freilich bereitet auf den folgenden Satz vor, der zur Beschreibungslandschaft herabsinkt. Die Symmetrie wird strenger, das Verbum partizipial, der Genetiv des Substantivs ist unrein und beschwert. Überhaupt bedeutet es eine Entfernung vom Verbalstil, wenn die genetivische Ordnung ähnlich wie im Urmeister die rhythmische Wirkung verabsäumt und sich mit Tatsachenbericht belädt. Schon die adjektivische Sachbestimmung des zweiten Teils an sich bildete im Werther die Ausnahme, im Märchen ist sie die Regel. A m allerwenigsten aber fanden wir dort Ordnungen wie in dem Bild: Alle Pflanzen in meinem Garten tragen weder Blüthen noch Früchte; aber jedes Reis, das ich breche und auf das Grab eines Lieblings pflanze, grünt sogleich und schießt hoch auf. Alle diese Gruppen diese Büsche, diese Haine habe ich leider wachsen sehen. Die Schirme dieser Pinien, die Obelisken dieser Cypressen, die Kolossen von Eichen und Buchen, alles waren kleine Reiser (247 f.).

Gegen scheinbar versuchte ungerade Gliederung setzt sich doch die Symmetrie durch. Schon die beiden Einsätze alle = alles treten näher zusammen gegen die eingeschlossenen Glieder. Im 196

ersten Bildteil deutet das aber auf ein scharfes Gegensatzpaar. Außerdem sind Nomen und Verbum gegengeordnet. Von den genetivischen Ordnungen im zweiten Teil könnte die erste im Werther stehen, wenn man vom Inhalt absieht. Die zweite behängt sich schon zu schwer mit Silben. In der dritten schlüpft aus der dynamisch-verbalen Stilform unwillkürlich eine tektonischnominale, eine Dopplung. A u c h die Kolossen des Fremdsprachlichen sind wahrlich nicht verbal bewegt. Mehr reihend als treibend sind endlich die monotonen Asyndeta. Ähnlich zerfällt das folgende, äußerlich ungerade gegliederte Bild bei der ersten prüfenden Berührung in symmetrische Gebilde: (Einleitung) sah (die Gesellschaft als sie) zu dem Flusse gelangte, einen herrlichen Bogen über denselben hinübersteigen, wodurch die wohlthätige Schlange ihnen einen glänzenden Weg bereitete. (Zeit) Hatte man bei T a g e die durchsichtigen Edelsteine bewundert woraus die Brücke zusammengesetzt schien, so erstaunte man bei N a c h t über ihre leuchtende Herrlichkeit. (Ort) O b e r w ä r t s schnitt sich der helle Kreis scharf an dem dunklen Himmel ab, aber u n t e r w ä r t s zuckten lebhafte Strahlen nach dem Mittelpuncte zu (260).

Von der Einleitung hebt sich die eigentliche Beschreibung durch die Gegensatzpaare der Z e i t und des O r t e s (bei T a g e : bei Nacht; oberwärts : unterwärts) deutlich genug ab. In den Aussagen selbst stehen sich gegenüber: i n n e r e E i g e n s c h a f t , Durchsichtigkeit: ä u ß e r e E i g e n s c h a f t , Leuchtkraft; P e r i p h e r i e : Z e n t r u m . Ja, Zeile neun entwickelt eine scharfe dritte Gegenordnung von hell : dunkel. Eine einfache adjektivische Dopplung zeigt schon die Einleitung. Aber sonst äußert sich in der Wortform ein höherer Stil. Besonders das Adjektiv hat die verbalen Nachsilben des A f fektes und wird im präsentischen Partizip der Lichtwahrnehmung vom Verbum verwandelt. Dieses selbst intensiviert sich erst gegen Schluß. Auch mehr den Anfang belastet das schwere relativische Fördergerät von wodurch, woraus, das in der späteren Prosa wiederkehrt. Ein sehr charakteristischer Vorgang innerhalb des tektonischen Stils ist die V e r w a n d l u n g d e r R h y t h m i k in M e t r i k . Zwischen beiden Begriffen, die vielfach gleichbedeutend gebraucht werden, ist doch der grundlegende Unterschied, daß Rhythmik im heutigen Sprachgefühl das Allgemeinere ist. Man kann sie gegen einander setzen als b e w e g t e s M a ß u n d g e m e s s e n e B e w e g u n g . Wenn in den Stil tektonischer Ordnung eine dynamische 197

Tendenz hereinwirkt wie in der zweiten Hälfte des Märchens oder später im zweiten Teil der Wahlverwandtschaften, wenn also die Alleinherrschaft des Maßvollen durch ein Moment der Bewegung etwas zurückgedrängt wird, entsteht das Metrische: Bewegung innerhalb des Maßes, gemessene Bewegung. Anklang an Versdiktion findet sich schon in einem zitierten Bild: die lieblichen Töne zeigten sich erst . . dann wie ein leichter Hauch setzten sie (245).

Hier scheint die formale Metrisierung die Bewegung der Landschaftsmotive nachahmen und suggestiver machen zu wollen. Auch die adjektivische Alliteration der Liquida und die schöne Musik in der Absenkung der Vokale: ie-ö-ei-au ist nicht zufällig. Gegen Ende der Märchenerzählung wird die Metrik in der Landschaft noch deutlicher: Leider vergoldete schon der Strahl der sinkenden Sonne nur den höchsten Gipfel der Bäume des Dickichts, und lange Schatten zogen sich über See und Wiese (256). Endlich erblickte sie hoch in den Lüften mit purpurrothen Federn den Habicht, dessen Brust die letzten Strahlen der Sonne auffing (256).

Im rhythmischen Stil des Werther ist es unmöglich, eine wiederkehrende Regelmäßigkeit herauszufinden. Hier springt die Gesetzmäßigkeit des Metrischen, ja die Identität mit bestimmten traditionellen Versformen ins Auge. Um aber besonders dem daktylischen Maß Eingang zu verschaffen, ist immerhin eine Verbalisierung notwendig. Diese äußert sich in der genetivischen Ordnung, im verbalen Partizip, im sinnfälligen Verbum. Die zweite Zeile des ersten Bildes verliert durch den doppelten Genetiv ein Wort, gewinnt aber die Bewegung. Die Aufgabe des regelmäßigen Metrums im Bildschluß schafft Gegensätzlichkeit, die sich aber nun nur der Anschauung von zitterndem Licht und kriechenden Schatten bedient und die schematische Abspiegelung im Grammatischen und Positionalen verschmäht. Auch im zweiten Bild stammt der Daktylus aus innerer Bewegung.

Die Wahlverwandtschaften (1809). Aus dem zweiten Kapitel der Arbeit geht hervor, daß wir in diesem Roman entschiedener als in den früheren beschriebene und mythologisierte, Eindrucks- und Ausdruckslandschaft unterschei198

den müssen. Da jene ihrem Wesen nach minder organisiert ist und keine eigentlichen zusammenhängenden Bilder der Landschaft entwickelt, können wir in der Darstellung ihres sprachlichen Stils vereinheitlichen und zusammenfassen, während wir die nominale Ichlandschaft, zumal hier in der dreifachen Differenzierung durch drei Subjekte (Charlotte, Eduard, Ottilie) besser am einzelnen Bild betrachteten. Die Zitate beziehen sich auf W A I 20. Beschreibungslandschaft. Das einfache S u b s t a n t i v verrät seine Stilzugehörigkeit in der Tendenz zu allgemeiner, schematisierender Nennung der landschaftlichen Objekte {Berg, Tal, Höhe, Tiefe, Felsen, Schlucht, Abhang, Pfad, Schloß, Dorf, Land) und zu zuständlicher Ortsbestimmung durch bewegungsarme Präpositionen, z. B . : dem Schlosse gegenüber . . unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche . .

gegenüber das Schloß und die Gärten (3). In stilistisch fast nicht mehr aus der Umgangssprache gehobenen Wortformen wie Gegend, das öfter gebraucht wird, und im Fremdwort Locol, Effect usw. erlischt die dichterische Landschaftsdarstellung oder geht in rein wissenschaftliche Deskription über. Ein spezifischer Ausdruck des nominalen Stils sind die zahlreichen Kompositionen, die nun nicht mehr emphatische Verbreiterungen oder lyrische Tautologien, sondern abkürzende Sachbestimmungen sind. Sie stecken in ihrem Begriffsumfang den Bezirk der Beschreibungslandschaft überhaupt ab: H a u s g a r t e n : Baumschule . . Pfropfreiser (3), Baumwiesen . . Gewächshäuser und Treibebeete (4, 114), Obstreichthum . . Blumenfülle (118), Obstpflanzungen (184), Topfgewächsen . . Baumkrone (304), Blumenzwiebeln (305), Pflanzenzöglinge (315). P a r k : Mooshütte . . Felswand (3), Felsenecke (34), Parkanlagen (177), Kunstgärten und Glashäuser (36), Parkbeschreibungen . . Lustgebäude (75), Ruheplatz (77), Holzgebäude (81), Felsenplatz (95), Eichbäumen (134), Baumpflanzung (154), Ruheplatz (128), Erdreich (157), Gartenhauses (179), Grabstätten ( 3 0 1 ) , Schloßgarten . . Lindenalleen (294), Ziergartens •. Zierbäume und Modeblumen (305), Buschpartie • • Ruheplatz • • Felsenmassen (316), Nebenweg (338). U m g e b u n g : Thurmspitze (3), Schloßberg (71), Wasserfahrten . . Feldblumen (122), Spaziergängen (157), Wiesengrund . . Wasserfülle (184), Wasserfahrt (315), Wasserlustfahrt (330). — Aprilnachmittags (3), Sonnenuntergang (20) Jahreszeit (88), Tagszeiten (314).

Das Kompositum in dieser Gestalt entspringt einem Mangel an dichterischem Auftrieb. Während dieser in andere Richtung hin konzentriert oder wie in diesem Roman vom Hauptproblem bereits vorweggenommen wird, entsteht eine der Gestaltung nach 199

indifferente Sphäre, in der es vor allem auf klare Kürze ankommt. Dem verbalen Stil noch fremdere, noch geringer organisierte Wortgebilde, eilfertige Summierungen des Nebensächlichen, die nicht intensivieren, sondern abkürzen, sind: Feld- und Baumfrüchte (29), Baum- und Blumengarten (78), Ruheund Aussichtsplätze (86), Platanen- und Pappelgruppe (102), Laub- und Blumenreifen (155), Beeren- und Kirschenzeit (180), Lust- und Schlittenfahrten (246), Baum- und Küchengärtnerei . • Nelken- und Aurikelstöcke (305).

Zwischen diesen beiden Kompositionsarten stehen Wortverbindungen wie: Blumen und Wintergrün (29), über Moos und Felstrümmer (82), Blumen und Fruchtgehänge (219).

Derselben Tendenz zu verallgemeinernder Abkürzung unterliegen auch die Wortpaare: des Gutes und der Gegend (7), Busch und Gesträuch (30), Reisig und Blumen . . Bänder und Tücher (156), Regen und Sturm (228), weder Blumen noch Früchte • • weder Schnee noch Kälte (246), in der Nähe und in der Ferne (317).

Reiner erhalten ist der poetische Charakter von Alliteration und Assonanz im Germanischen in den Paaren: Stufen und Steige (30), Wetter und Wind (228), in's Freie und Weite (294), Mond und Sonne (314).

In bedingterem Sinn, aber wie es scheint mit einer gewissen Regelmäßigkeit beziehen sich klanglich aufeinander auch: Tiefen und Höhen, Büsche und Wälder (31), Stüfchen und Pfädchen (35)» Würmern und Käfern( 291).

Es entspricht dem ruhenden, tektonisch-zuständlichen Wesen der Beschreibungslandschaft, daß ein Kompositum nur ganz vereinzelt in die genitivische Ordnung aufgelöst wird: Wasserfülle eines immer lebendigen Baches (184), Frühling des künftigen ernsteren Lebens (326).

Die Grundtendenz der Wortform weist auf das Nominale, und viel häufiger als die Auflösung des Kompositums ist die Verwandlung und Substantivierung von verbalen oder adjektivischen Ausdrücken : als bei der Nähe (43), verkündigte • • die Nähe (81), mit Untergang der Sonne (157), Ausmessung des Gutes (7), bei der Wendung des Weges (95), die Wirkung aus gehöriger Ferne, die Abspiegelung im Wasser (153). eine Masse Pappeln (31), Arten Klee (200), nach dem Innern des Landes (102), alles . . Kleinliche . . alles Gute der Landschaft (313).

200

Freilich macht das Verbum die Verwandlung ins Nominale in der Mehrzahl der Fälle nicht durch, sondern begleitet das Substantiv als P a r t i z i p . Das A d j e k t i v im beschreibenden Landschaftsstil kennt die bewegten und rhythmisierten Formen sowenig wie das Substantiv. Fast alle Adjektive gehören einer mittleren Intensitätsstufe an. Sie typisieren. Die verallgemeinernden Formen im Werther (schön, lieb, klein, weit, hoch) erwuchsen aus dem warmen voranfliegenden Gefühl, das gewissermaßen keine Zeit zu bewußter Wortwahl hatte, dem impulsiven Dichter flogen sie zu. Die typisierenden Formen dieses Romans aber sind gewählt von dem ruhigen Stilempfinden eines Nachdenklichen, dem das Extreme und Charakteristische im Innersten zuwider ist. Sie neigen zum Schematismus. Sie durchblutet nicht mehr ein emphatisches Gefühl, über ihnen schwebt, noch nicht formelhaft erstarrt, aber unverkennbar, die anschauliche, tektonische, am liebsten symmetrisch doppelnde Ordnung. Zunächst betrachten wir das allein gestellte Adjektiv. Die Sinnfälligkeit von silbernen Streifen (102) ist vereinzelt. Schon viel

allgemeiner sind die Bildungen: neuen Anlagen (3, 4, 28), die neuen Wege (28), steile Felsen (31), starker Bach (31), schönen Ruheplatz (77), leichtern Aufgang (75), von alten Schlössern (122), alten Linden (200), gewaltsame Nachtstürme (246), die neuen Zierbäume (305), großen Strom (330), freundliches Element (330).

Dem sinnlichen Gehalt nach noch ärmer und Vermeidungen der charakteristischen Bezeichnung eines Eindrucks sind: eigentlichen Stieg (4), mäßiges Gut (28), künstlichen Blumen (29), zufälligen Eindrücken (33), überflüssige Steine (34), guten Jahreszeit (88, 326), grünem Reisig (156), tiefen Winters (246), freien Lande (296), älteren Ziergartens (305). allerlei Treppen (4), verschiedenen Bilder (4), zur letzten Höhe (30), den letzten Wasserspiegel (31), am frühsten Morgen (8g), so mancher Teich (43), verschiedenen Arten (200), die sämmtlichen Parkanlagen (296), die vielen Pflanzenzöglinge (315), nur wenige Bäume (316), die ganze Umgebung (319).

In diesem Zusammenhang erscheinen auch die folgenden abgeblaßten Adjektive nicht mehr als isolierte Merkmale des späten Stils. Sie sind sekundäre Zurückleitungen zum Dynamischen, gleichsam die emphatischen Formen dieser mittleren Stilhöhe: vortrefflichen Anblick (3), anmuthiges Gebüsch (4), freundliches Ruheplätzchen (31), angenehmen Hölzchen (75), angenehmsten Ruheund Aussichtsplätze (86), angenehmen Thal (184), bedeutendenGegenden (316); — schönste Stunde (3), die schönsten Muster (219).

201

Die mögliche Gemeinschaft eines solchen Adjektivs mit schweren Kompositen ist bezeichnend; ebenso das Fehlen der un-Bildungen. Eine solche wird einmal mühsam erreicht: auf einem unschätzbaren Spaziergange (85).

In diesen Formen kommt eine Tendenz des tektonischen Stils schon zum Ausdruck: die Beruhigung des bewegten Wortes und die E r s t a r r u n g zu festumrissenen Quadern ohne eigenen sinnlichen Gehalt. Die zweite Tendenz besteht darin, nun diese gefestigten und deshalb fügbaren Wortformen nach dem klassischen Gesetz des Maßes klar anschaubar und in symmetrischem Gegensinn zu o r d n e n . Diese kündigt sich an in der Komposition und Paarung des Substantivs. Sie enthüllt sich deutlicher beim Adjektiv. Schon die Zuordnimg einer Bestimmung zum Substantiv überhaupt könnte man als Dopplung auffassen, der nur dieGleichartigkeit fehlt. Diese ist vorhanden in den parallel gestellten adjektivischen Ausdrücken, die wir bereits in den Lehrjahren und Unterhaltungen fanden. Dieser Roman nun gibt uns Stoff zu genauerer, grundsätzlicher Betrachtung. Wir sehen, daß die syntaktische Verbindung möglichst gewichtlos gehalten ist (Präposition oder Copula), damit gleichsam nur ein dünner Fries von einem tektonischen Glied auf das andere verweise. Auch die durchschnittliche Gleichheit der Silbenzahl und der Flexionsendung helfen die Beziehung herstellen. Ferner wird das parallel gesetzte Adjektiv, weil gehalten und gehoben von dem übergeordneten formalen Gesetz, noch weniger als das einfache sich zu charakteristischer Sinnfälligkeit steigern. Wo es geschähe, würde schon durch die gleichsinnig folgende Wortgruppe das Wesen des Außerordentlichen wie des ganz Gewöhnlichen zerstört, da diese Begriffe dem der Symmetrie widersprechen. Was für das erste Adjektiv gilt, gilt stets auch für das zweite. Zwischen beiden Polen herrscht eine i n n e r e K o m m u n i k a t i o n . Der Superlativ des ersten ruft ihn auch i m zweiten h e r v o r : erstes Grün für die Folge den füllereichsten

Anblick (31). Das Rot eines sinnfälligen Ingrediens schießt in die Wangen beider Geschwister: die lebhaften Gewänder auf dem blauen Himmelsgrunde (216) und beide erbleichen sympathetisch im unbestimmten Z a h l w o r t : einzelne Baumgruppen.. an mancher Stelle (31).

Auch die Stilhöhe des Substantivs steht in sichtbarer Wechselbeziehung: Grün—Anblick; Gewänder—Himmelsgrunde; Baumgruppen—Stelle. Dasselbe Gesetz bestimmt die Ausdrücke: über die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne (4), mit möglichster Schonung der alten Denkmäler (21), so schöne Büschel natürlichen Weizens (29), mit ihren Umgebungen.. ein freundliches Ruheplätzchen (31), einem neuen Theil des großen Schloßgartens (31), seine Besitzungen

202

. . wie eine neue Schöpfung (32), von steilen Felsen so wie von hohen Bäumen (82), unter den hohen Bäumen am ländlichen Tische (82), schöne Aussicht nach allen Seiten (102), die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen (294). im dichten Gebüsch zwischen moosigem Gestein (81), hinter die iernsten Mauern und unter die hohen Linden (296). bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick (96), von der herrlichen Gegend, dem großen Flusse (122), zu ein tiefes Gefühl, zu einen reinen Begriff (304). Kristalle, die nicht zur letzten Reinheit gedeihen oder d u r c h einen Übertrieb ungleiche Flächen bilden, entstehen, w e n n das D y n a m i s c h e s i c h e m p o r r e c k t , w e n n das A d j e k t i v als S u p e r l a t i v das S u b s t a n t i v ü b e r w u c h e r t o d e r s i c h als O r t s a n g a b e v o n i h m l ö s t : Mannichfaltig wechselten im ganzen Halbkreise (31), am schönsten zeigte sich der größte Reichthum (84), die nächste Gegend übersah man m Ganzen (102). das Fremdeste, Seltsamste • • in dem eigensten Elemente (292) zunächst an dem Rande des mittleren Teiches (31). D a g e g e n illustriert s i c h die R e g e l n o c h e i n d r u c k s v o l l e r i n d e r V e r m e h r u n g u m ein G l i e d : durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes buntes Licht herein (220), am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbäumen (134), statt der holprigen Grabstätten einen schönen bunten Teppich (201). A u c h hier jedoch scheint die S y m m e t r i e gestört. Vielleicht w a r e s u n b e w u ß t e s S t i l g e f ü h l , das i m l e t z t e n B e i s p i e l d e n a u c h l a u t l i c h beschwerten Realismus des ersten Adjektivs d u r c h die D o p p l u n g z w e i e r l a u t l i c h u n d i n h a l t l i c h idealisierter u n d d e s h a l b w e n i g e r kraftvoller Adjektive ausgleichen wollte. I n d e n s e l t e n e n D r e i o r d n u n g e n ist der h e i m l i c h e T r i e b Z w e i g l i e d r i g k e i t unverkennbar:

zur

hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die blauen Gipfel eines fernen Gebirges (102), ein junger Zweig . . mit einem alten Stamme . . an den kein erwachsener Ast mehr (297), sie genossen . . in einer höheren Region der freien frischen L u f t bei dem schönsten Wetter (314), das Ganze hatte einen friedlichen Charakter und die einzelnen Partien (183), auf den sanften Anhöhen zogen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen (183), je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je unzugänglicher die Wege (249). Zumeist treten zwei Adjektive syntaktisch, lautlich u n d inhaltlich in e n g e r e S y m m e t r i e (blauen : fernen ; junger : alten ; sanften : fruchtbare; tiefer : wilderes)und s o n d e r t s i c h d e r dritte B e g r i f f i m 203

selben Sinne ab (waldiger, erwachsener, wohlbestandene, unzugänglicher). Ja, gegen die bundesbrüderliche Komparation von höheren und schönsten scheint der dritte eingeschlossene — und gegen die einfache Gegensetzung junger : alten der dritte ausgeschlossene Begriff aus eigener Kraft eine selbstständige Doppelordnung zu schaffen: kein erwachsener Ast mehr; besonders markant durch Alliteration und Assonanz der Liquida: freien frischen. Eine immer bedeutendere Rolle spielen im späten Stil die adjektivisch gebrauchten P a r t i z i p i e n . D a ß das perfektische Partizip wie ausgebreitete Teiche, sanfterstiegene Höhe Ruhe undZuständlichkeit der Form, Verlust und Verwandlung des Verbalen, Dynamischen zugunsten nominaler Statik bedeutet, bedarf keines weiteren Beweises. Zwiespältig aber scheint die präsentische Form wie abwechselndes Gehölz, wegkürzende . .Brücke, die einerseits verbale Aktion, andererseits nominale Bestimmung sind. Freilich wäre schon aus dem Grundstil einer Romanlandschaft heraus sicher genug zu entscheiden, ob diese labile Gleichgewichtsform innerlich doch zum Verbum oder z u m Nomen tendiert. Aber es gibt auch Merkmale am einzelnen Ausdruck, die seine S t i l z u g e h ö r i g k e i t außer Zweifel setzen. Im Werther hatte das präsentische Partizip folgende Eigentümlichkeiten: es erschien i . fast ausnahmslos ohne beschwerende Bestimmung 2. ganz gesättigt in Sinnlichkeit von Licht, Ton und D u f t , unterstützt durch Pracht des Vokals und klingende Konsonanz 3. fast nie sinkend zur perfektischen Form 4. am häufigsten gerade in den gesteigertsten Landschaftsbildern 5. in regelmäßiger Nachbarschaft von genetivischen Ordnungen, un-Adjektiven, intensiven Verben. Wir bezeichneten es also mit Recht als Ausdruck des dynamischen Stils. Dagegen ist das präsentische Partizip der Wahlverwandtschaften mit vollem Gesicht dem Tektonisch-Nominalen zugewendet. Es ist 1. behangen mit s c h w e r e n B e s t i m m u n g e n von bewegungsarmen Präpositionen bis zu ganzen satzähnlichen Gebilden 2. ohne S i n n l i c h k e i t des Gehaltes und der Lautgestalt 3. immer der p e r f e k t i s c h e n F o r m nahe und meistens in diese verwandelt 4. selbst begierig, tektonische O r d n u n g e n einzugehen und in Nachbarschaft eindeutig nominaler Stilformen: eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke (85). Kranz . . aus vielen stufenweise über einander schwankenden Laub- und Blumenreifen (155). der in zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichthum, die bunteste in Prachtgefäßen schön verteilte Blumenfülle (118).

204

Während im Werther das Gewinde des Satzes immer wieder vom Nomen weggelenkt und in die Nährerde des Verbums versenkt wurde, um neugekräftigt zum nächsten Substantiv anzusteigen, ist hier der Satz formvoller, harmonischer, aber auch ärmer an ursprünglicher rhythmischer Kraftentfaltung, von einem substantivischen Gipfel zum andern geschwungen als eine Guirlande, die den Erdboden nicht berührt, im Verbum Wurzel zu schlagen sich scheut aus Angst, den schönen Bogen zu brechen, das ruhend spielende Gleichgewicht beschwerter Kraft zu stören. e i n f a c h e P a r t i z i p i e n : in einem vorspringenden Winkel (71), abwechselndes Gehölz (84), von der vorhabenden Herbstreise (122). wohlangebrachten Bank (4), dieses beschränkte Thal . . ausgebreitete Teiche . . bewachsene Hügel (30), ein so gelegenes Dorf (71), der wenig betretene Pfad (81), die neuentstandenen Ufer (178), erwünschten Ruheplatz (316), auf ungebahnten Straßen (321). g e d o p p e l t e P a r t i z i p i e n : an einem •. schönen Tage, an welchen der scheidende Winter (294), frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme (3), auf der sanfterstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen Wäldchen (84). an manchem neuentdeckten Plätzchen an mancher unerwarteten Aussicht (81), über manche durch . . entstandene Lücke unter den T o p f gewächsen, über die zerstörte Symmetrie mancher Baumkrone (304). D o p p e l u n g u n t e r e i n e m S u b s t a n t i v : auf einen weiten und so mannichfaltig begränzten See (157), auf die oberwärts abgestochenen und vom Rasen entblößten Dämme (157).

Den Eindruck der Gravitation zu nominaler Zuständlichkeit verstärkt der prädikative Gebrauch des perfektischen Partizips. Das Verbum substantivum ist, war stellt den reinsten Ausdruck des Vollendeten, Bewegungslosen dar. Wenn es beim Partizip steht wie in Dorf ist .. gebaut, Kranz war aufgesteckt, so ist es eigentlich kein Verbum, sondern will nur sagen, daß diese Aktionen vergangen sind und das Ergebnis jenseits verbaler Unruhe und Wandlungsmöglichkeit liegt. Es kann durch ebenso farblose Ausdrücke wie lag, stand ersetzt oder ganz eliminiert werden in Quelle, welche gereinigt .. versprach: Alles ist recht schön geworden (3), der Stieg . . (4), war . . Felsenplatz eingerichtet (95), Kahn (134), Hause . . architektonisch ausgeschmückt alles mit verschiedenen Arten Klee besäet (200), muthig zusammengesetzt (220).

ist gar hübsch angelegt . . war . . angebunden (156), war das Übrige Fenster . . war . . an-

Mooshütte . . fanden sie • • auf das lustigste ausgeschmückt (29), lag eine Mühle halb versteckt (31), sie fanden sich im . . Gebüsch . . verirrt (81), um . . herrliche Felsenmassen aufgethürmt zu erblicken (316).

Der tektonische Stiltrieb führt auch hier zur Doppelgliederung der Bestimmungen oder des Partizips: 205

Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbcirkel gegenüber gebaut (71), Weg . . möchte dergestalt geführt und eingerichtet werden (85), der Kranz war aufgesteckt und weit umher .. sichtbar (156), eine Quelle, welche gereinigt . . zu werden versprach •. eine Höhle die ausgeräumt und erweitert . . geben konnte (316). A u s einem Überschuß an tektonischem Stiltrieb, kommt es zu kadenzartig abklingenden Wiederholungen desselben Stilmotivs : (Masse Pappeln) Sie stand in ihrem besten Wachsthum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend (31); Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet . • und die neuentstandenen Ufer zierlich und mannichfaltig bepflanzt und beraset (178).

D a s V e r b u m spielt in der Beschreibungslandschaft der Wahlverwandtsschaften k e i n e s e l b s t s t ä n d i g e R o l l e . Es ist fast nur der gegenstandslose Mörtel, der die Quadern des Nomens in der nominalen Ordnung aneinanderheftet, mehr äußerlich als organisch, denn im Bereich der ruhenden Tektonik ist lebendige Verbindung sowenig mehr vonnöten, als an einem auf Säulen ruhenden T e m p e l viel zu mauern ist. A u c h durchwandelt der problemlose Mensch die Natur nur (Verhalten des Subjekts) oder duldet sie als stummen kulissenhaften Hintergrund (Verhalten des Objekts). Für das Erstere stehen die V e r b e n : steigen, betreten, geleiten, durchstreichen, durchreisen, zubringen, vermeiden, vorschlagen, empfangen, deuten. N o c h blasser wird der Ausdruck wenn auch das Subjekt unpersönlich wird und der schematischen Verallgemeinerung durch man verfällt. Es heißt d a n n : man macht, läßt, muß, sieht, erblickt, wird gewahr, genießt, freut sich, findet, gelangt, versucht, führt, ist, hat. Eine weitere unsinnliche Verbreiterung des Verbums die wir im Werther nicht fanden, bedeutet der Gebrauch des Reflexivpronomens in den A u s d r ü c k e n : sich winden, setzen, niederlassen, bemerken, entschließen, sehen, glauben, umschauen, freuen, verwundern, aufhalten — und für das Verhalten des O b j e k t s : sich theilen, öffnen, hinziehen, verlaufen, erheben, verbinden, senken, verlieren, zeigen, zeichnen. Fast jedes dieser farblosen V e r b e n ist mehr als einmal im Landschaftsbild gebraucht, oft mit vielen und schweren Nebenbestimmungen behängt. D i e Präposition ist meistens v o m V e r b u m gelöst, nicht nur syntaktisch, sondern mit dem deutlichen Streben zur Selbstständigkeit und Annäherung an das Substantiv: oberwärts, in der Tiefe, rechter Hand. Sogar Kompositionen nach A r t des 206

Nomens kommen nun zustande: vor- und rückwärts. A u c h die adverbialen Bestimmungen neigen zur Substantivierung: musterte im Vorbeigehen . . auf Einen Blick übersehen konnte (4), mit Behaglichkeit zurücklegen (85), legte man in Gedanken . . an (85), sprach schon mit Entzücken von der . . Gegend (122), mit Eifer besorgten (36). Das ohnehin geschmälerte V e r b u m wird nocheinmal gespalten in ein N o m e n und ein noch schwächeres V e r b u m : Man hat .. Anblick (3), man hat Vorliebe (33), dieses sollte einen Bezug . . haben (75), eben so wußte sie . . Bescheid (77), die Aussicht . . zu genießen (157)/ hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er . . sah (201). — es war .. Anblick (96), kamen . . Dörfer zum Vorschein (102), Wetter und Wind . . kamen nicht in Anschlag (228). D a das V e r b u m so wenig in den Vordergrund des stilschaffenden Bewußtseins tritt und nur mehr und mehr schwindet, je reiner und stärker jenes tätig ist, so entwickelt es symmetrische Ordnungen nur selten: Klee, • • der auf das schönste grünte und blühte (195), die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen (81), Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe (33), Thal, dessen .. bald durchschlängelte, bald durchrauschte (184). D e r Bau des S a t z e s läßt, w o Natur in größeren Komplexen beschrieben wird, kein durchgehendes Gesetz erkennen. Es entstehen k e i n e R h y t h m e n , s o n d e r n R e i h e n , die nicht durch innerlich treibende und steigernde Partikeln verbunden, sondern durch zuständliche oder bestenfalls äußerlich voranbewegende Angaben des Ortes und der Zeit a s y n d e t i s c h a n e i n a n d e r g e l a g e r t sind: Nach . . kamen . . Dörfer . . den . . Streifen .. erblickte man . . An der Rückseite . . erhoben sich .. und die nächste Gegend übersah man (102); Sein Weg führte ihn .. Thal, dessen . . Auf . . zogen sich . . Felder . . Die Dörfer lagen • • Das Ganze hatte (184 f.). Man hat . . Anblick; unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, über deren . . gegenüber das Schloß (3); Eduard schlug • • vor . . Nun durchstrich man .. und erblickte . • Zunächst ein Vorwerk . . Am schönsten zeigte sich (84);

207

Und so gelangte man . . zur letzten Höhe, die . . Dorf und Schloß hinterwärts waren . . zu sehen. In der Tiefe erblickte man . . drüben . . Hügel, an denen . . endlich . . Felsen, welche . . Dort . . lag . . Mühle . . , die . . Mannichfaltig wechselten . . Tiefen und Höhen . . Auch einzelne Baumgruppen hielten . . Besonders zeichnete . . sich eine Masse . . aus. Sie stand in ihrem besten Wachsthum (30).

Dieser Satzstil ist beherrscht von dem Streben nach klarer und übersichtlicher Beschreibung. Das G e f ü h l an der Landschaft wird durch das Asyndeton fortwährend u n t e r b r o c h e n , der B l i c k aber wird s o r g f ä l t i g über zahlreiche Brücken schwerfälliger Ortsbestimmungen d i r i g i e r t . Die Besorgnis, mißverständlich oder unvollständig zu bleiben, spricht besonders aus den jeden dynamischen Fluß des Satzes hemmenden Einschaltungen: Die Mooshütte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenüber, gebaut hat (3); Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie . . besteht, wegbrechen (34); Auch muß man, was gemacht ist, bestehen lassen (34); A m schönsten zeigte sich . . Gegend, vor- und rückwärts, auf der . . Höhe, von da man . . gelangte (84); Zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe, mitten im Holze, • • lag (84); schon legte man in Gedanken, unterhalb der Mühle, wo . . fließt, . . Brücke an (85); An der Rückseite, hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich (102).

208

Auch mehr aus dem Bedürfnis breiter Auseinandersetzung, als aus einem rein nominalen Stiltrieb stammen folgende, etwas mechanisierenden Gegenordnungen: (Pfad) Den einen, der . . hinging, ließ er liegen um den andern einzuschlagen, der sich . . hinaufwand (4); Mooshütte . .

ausgeschmückt, zwar nur mit . . , doch darunter (29);

Höhe, die zwar keine Fläche, doch fortlaufende . . Rücken bildete (30); die einzelnen Partien, wenn auch nicht zum Mahlen, schienen doch zum Leben (183).

Aber auch höher und reiner durchgeformte Gegenordnungen hat die Beschreibungslandschaft: Hier deutete er auf eine Quelle, welche . . versprach; hier auf eine Höhle, die . . geben konnte ( 3 1 6 ) ; Was mußten nicht hier die verschiedenen Tageszeiten, was Mond und Sonne für Wirkungen hervorbringen ( 3 1 4 ) ; Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt; alles Gute der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran gethan hatte, trat reinlich hervor und fiel in's Auge, und schon grünten die jungen Pflanzungen (314).

Alle Beispiele tragen die Merkmale des tektonisch-nominalen Stils an sich: statt Rhythmik und Polysyndeton asyndetische Reihen, statt Thematik Antithetik, statt Bewegung im Innern Orientierung des Blickes im Äußern, statt dunklem Gefühl zuständlicher Prospekt. Ausdruckslandschaft. In besondere Bedingungen tritt der sprachliche Stil der Landschaftsdarstellung ein, wo sich in später Prosa die Natur zum Ausdruck erhebt, Ichlandschaft wird, die ihrem Wesen nach dynamisch ist. Dieser dynamische Gehalt der Dichtung muß sich auseinandersetzen mit dem zur tektonischen Stufe vorgeschrittenen persönlichen Stil des Dichters. Von geringen Landschaftsmotiven, in 14

Beiti.

209

denen Natur nur eben anklingt und die sich vom umgebenden Romantext nicht sichtbar und selbstständig als Bild abheben, können wir absehen. Bei genauerer Betrachtung widerlegen sie nicht, sondern ergänzen und bestätigen, was wir an den wenigen bedeutungsvollen Landschaftsbildern feststellen können. Ein Nachfahre Werthers ist E d u a r d . In seiner Landschaft muß sich der Gegensatz zwischen einem Gefühl der Jugend und dem Stil des Alters, der Antagonismus von Freiheit und Gesetz am stärksten auswirken: Der abnehmende M o n d steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden in's Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern. Dort setzt er sich auf die Terassentreppe . . Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still war's, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Thiere unter der Erde vernehmen konnte, denen T a g und Nacht gleich sind. Er ging ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg, und die frühsten Nebel gewältigte (141).

Das ganze Bild bekennt sich mit einer großen Zweiteilung zum tektonischen Stil. Worin äußert sich innerhalb dieser Ordnung der gefühlsmäßige Gehalt, das Dynamische ? W o setzt sich ihm gegenüber die stilistische Grundhaltung des Dichters neuerdings durch? Wir betrachten zunächst den ersten Teil. Die knappen, durch Bestimmungen nicht beschwerten, durch Präpositionen bewegten Substantive sind vom Gefühl diktiert. Das Fremdwort Terasse wird wie im Werther mitgenommen, aber nun in einer schweren, nominalen Komposition Terassentreppe. Auch wird das Adjektiv nicht emphatisch mitgerissen, sondern erstickt in der dramatischen Höhenluft. Gegen das verbale abnehmende und das sinnliche warme stehen zu enge und zu weit, die einen Umstand angeben und innerlich neben die Substantivierung in's Freie treten. Aber entgegen allem, was wir in der Beschreibunglandschaft beobachtet haben, setzt sich hier das Verbum wieder durch. Mit schmalem Körper, einsilbig, aber klanglich und inhaltlich sinnfällig (steigt, lockt, zieht, wandelt, eilt, schweift), flüchtig durch Präpositionen, im Präsens völlig losgelassen, stürmt es die Bahn der Sätze durch Diese aber wiederum sind, im Gegensatz zum Werther, breit, un210

rhythmisch, asyndetisch. In und es wird ihm zu weit sträubt sich das und leise gegen die Grundhaltung. Trotzdem wird die Schranke anschaulich symmetrischer Gegenordnungen durchbrochen zugunsten eines emphatischen Parallelismus. In neun Sätzen stehen achtmal Subjekt und Verbum am unmittelbaren Satzanfang. Dieses setzt sich fort im zweiten Bildteil. An Stelle der formalen Symmetrie tritt die Polarität der Empfindung: der unruhigste und glücklichste. — Gärten ; sie sind ihm zu enge; .. Feld, und es wird ihm zu weit. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß selbst das Gefühlsmäßige zur Verallgemeinerung, zur Vereinheitlichung des Ausdrucks und damit zu nominalen Stileigentümlichkeiten neigt. Das Gefühl ist nicht mehr von der alten Impulsivität und Selbstherrlichkeit. Halb durchbricht es die Form, halb beugt es sich ihr. Ein Parallelismus, der seiner Gefühlssache nicht sicher ist, streift an Schematismus. Der Wechsel von sie sind ihm zu und es wird ihm und ähnliche Mittel sollen die auffallende Einförmigkeit in Umfang und Interpunktion der meisten Sätze verdecken. Das anaphorische er wiederholt sich gefährlich oft und wird schließlich wohl bewußt vermieden. Auch im Übrigen macht das Bild der Satzanfänge den Eindruck einer gewissen Normierung: Der er Er Nach er Dort

Die er sie

er

und es

Nach diesen elf Sätzen tritt eine Atempause ein. Die äußere Intensität weicht einer inneren. Die rastlose Flucht wird beseligte Hingabe. Und so wird der sprachliche Stil des landschaftlichen Bildes gelöster und eigentlich schöner, organischer und ist nun nicht mehr zu unterscheiden von der großen Naturszene im Urmeister, die ihrerseits wieder auf Werther zurückweist. Alles wird stiller und inniger. Die Sätze lassen ihre wildgerafften Schleppen wieder sinken zur verbindenden Steigerung Alles ... kein .. so, zur Kopula und, zu Nebensätzen von einfachster relativer, finaler, temporaler Abhängigkeit. Die wogende Brust der erregt präsentischen Verba sänftigt sich schnell zum Perfekt, in dem etwas zu lächeln scheint, weil ja doch alles vorbei sei, — die Blässe des jähen Affekts färbt sich mit malenden Adjektiven. Alles ist auf Stimmung angelegt: kein Substantiv bedeutet eine Sache (wie oben etwa Fenster oder -treppe). Trotz der größten, in der Hinwendung zum unterirdischen Mikrokosmos noch über Werther hinausgehenden 14*

211

Intensität der Sinneswahrnehmung bleibt der Ausdruck beim Typus emsiger Thiere stehen. Blühendster Wertherstil sind das Deminutiv Lüftchen, der substantivierte Infinitiv Arbeiten mit dem verbalen Präsenspartizip wählenden. Auch die übrigen Adjektiva sind steigernd herrlichem, frühsten. Bis zum Superlativ getrieben ist auch das Motiv der Stille: Alles war still .. .so still war's. Das Verbum bleibt in seiner Rolle, wenn auch nun perfektisch. Die Vorsilbe ge-, er-, ver-, ein-, nach-, herauf-, zum Teil syntaktisch getrennt, treten ganz zum Verbum, während sie im ersten Bild noch stärker dem Nomen anhingen, ganz, endlich, nicht eher wieder, als erhöhen das Verbum noch. Es kommt sogar zum Motiv der egozentrischen Einkreisung um ihn her. Durch das als eingeleitet, erscheint der deus ex machina des Schlußbildes. Aber auf dieser Höhe des Stils denkt niemand an die komponierende Hand. A u c h die leise Rhythmisierung des Wortstroms ist selbstverständlich. Dagegen differenziert sich der innere Gehalt beider Bildstreifen wieder fein in dem einmal auf o-a-e, das anderemal auf e-i-ü gestimmten vokalischen Grundton. Wie herrlich sind beide gerahmt, da Mondlicht den trüben Schein wirft auf die Unruhe der ersten Szene, die zweite indes übergeht in den neuen Morgen und eine unbesiegte Leidenschaft zu triumphieren scheint in dem großartigen Anthropomorphismus der Sonne. Die Substantivierung mit . . Blick ist zwar später Stil, aber aufgelöst in eine lyrische Sprache die noch Worte neuschafft wie gewältigte. Wie wir im zweiten Kapitel sahen, wendet sich um C h a r l o t t e der Ausdruck der Landschaft entschieden zu neuer Objektivierung durch die Erkenntnis des Gesetzmäßigen und Schicksalhaften. Dadurch wird der Gehalt — ähnlich wie in der Beschreibungslandschaft, aber nun von einer ungleich höheren Ebene aus — der Auswirkung des Stils der Zuständlichkeit, Objektivität und Ordnung günstig. Zugleich bleibt aber auch die Schicksalslandschaft doch Ausdruck und verbal. Die Stilprinzipien begegnen sich in ihr in beruhigter, endgültiger Auseinandersetzung. Im einzigen Bild um Charlotte und den Hauptmann ist dieser Dualismus mit großer Kunst ausgeglichen und die Kraft des Kampfes wunderbar zu einer plastischen Gruppe gestaut: Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit . . das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Wiederblinken der ersten Sterne, alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille (137 f).

Im eigentlichen Bild findet sich zwar außer dem präsentischen Partizip hinschauernden kein Verbum. Aber in sechs Motivreihen 212

sind sechs Infinitive, also der grammatischen Form nach, noch mehr aber durch den sinnlichen Gehalt Träger der Bewegung. D a z u kommen die klanglichen und rhythmisierenden Elemente in Konsonanz und Vokal (in den haupttonigen Silben steht kurzes a, e nur je einmal) und Diphtong. Andererseits aber fehlt das Präsens, überhaupt das Verbum, die Unruhe polarisierender Empfindungen. Dafür erheben sich monumental gepaarte Substantive, zeitlos durch den Mangel des Verbums, weitgetrieben in Umfang und Intensität der Sinneswahrnehmung, doch nicht nach dem Erregten, Rauschhaften, sondern nach dem Zurückstimmenden, Ahnungsvollen hin. Adjektive sind gemieden; letzte, erste kennen wir aus dem Werther als die an sich motivleeren, aber malerischen Vorzeichen. Nominal in gewissem Sinne ist auch die Art der Bewegung die in den Infinitiven zum Ausdruck kommt. Sie treibt nicht voran, ist mehr zuständlich, kreisförmig in sich zurücklaufend. Die zwanglose Reihung der Motive dieses Bildes ergibt eine überraschendeKomposition von fast strophischerGesetzmäßigkeit: A

ab

Sie e m p f a n d

eine tiefe, selten gefühlte

Traurigkeit.

Bliab 2ab 3 ab

Das K r e i s e n des K a h n s , das P l ä t s c h e r n der R u d e r , der über den W a s s e r s p i e g e l h i n s c h a u e r n d e hauch,

Iliab 2ab 3ab

das S ä u s e l n der R o h r e , das letzte S c h w e b e n der V ö g e l , das B l i n k e n und W i e d e r b l i n k e n

C

alles hatte etwas G e i s t e r h a f t e s in dieser allgemeinen S t i l l e .

ab

Wind-

der ersten S t e r n e ,

Die paarige Symmetrie tritt stark hervor. Zugleich aber sind die Ansätze zur Dreigliederung innigst mit ihr verwoben. Die Verszahl einer Strophe ist drei. Jede dritte Zeile erzeugt in sich eine Dreiordnung. Endlich ist das ganze Bild, als einziges in diesem Roman, thematisch gebaut im Sinn der Wertherhymnen. Die ungerade Ordnung weist stets von fügender Tektonik weg zum innerlich treibenden Stil. Es ist vielleicht nicht zufällig, daß nur in den ungeraden Gliedern A und C das Nominale vom Verbum aufgelockert wird: empfand.', hatte. Den Übergang zeigen die Formen gefühlte, das dem Verbum, Geisterhaftes, das dem Nomen näher steht. Innerhalb des Paares I — I I hat das Nomen die Übermacht. Aber doch durchbricht der verbale Glühfluß die starre Decke in der reicheren Präposition, in malerischen Adjektiven und im sinnlichen und aktiven Partizip, auch dieses vorwiegend in der un213

geraden Zeile 3. Auch das daktylische Metrum entfaltet sich erst in den beiden dritten Zeilen mit Nachdruck. U n d trotzdem setzt sich der Eindruck des Statischen, der Kraftruhe durch, sobald man den Blickpunkt um ein Weniges verrückt. Die Tektonik von I und I I bestimmt den Mittelteil. A u c h 1 und 3 gehen als Stollen vor dem Abgesang 3 eine engere Bindung unter sich ein. Auch die Thematik von A B C erstarrt, zum Unterschied vom Polisyndeton des Werther, im ausgesprochenen Asyndeton, das in dem viermal wiederholten das .. der eine bemerkenswerte Einförmigkeit erreicht. Die Spannung des Formalen hat ein Gegenbild im Ablauf der Motive. Die Reihe hebt an mit dunkler Empfindung, strebt über steigende Helligkeit und Intensität von Licht und T o n zur K u l mination in einem nahezu körperlichen Gefühl, um wieder in reziproker Folge mit Tönen und Lichtern zur Ahnung abzusinken. Es sind also nicht drei Höhepunkte des Gefühlsmäßigen, sondern aus dem piano der Naturferne in der abstrakten Traurigkeit zu jenem der größten Nähe getrieben, läßt eine Fermate das Ich einen Augenblick im Gefühl verharren, Mitte der Welt zu sein, um wieder vom Ausdruck der sich objektivierenden Welt erfaßt und zurückgedrängt zu werden. Die vollendete Entfernung ist verkündet in Geisterhaftes und Stille. Keine stilistische Bestimmung entspricht strenggenommen diesem Landschaftsbild, das kein Nebeneinander, sondern ein Ineinander der Stile darstellt. In den Zeilen strenger Paarung wirkt etwas Lösendes herein und umgekehrt. 1 und 2 sind gelockert in genetivischer Ordnung und das Kompositum, ein nominales Stilelement, wird ausschließlich aufgenommen in die beiden Zeilen, die in vier deutlichen Merkmalen ihre Richtung zum Verbalen offenbaren. Völlig am Ende ist jede Weisheit der Analyse vor den Formen Kreisen, Plätschern usw. Für dieses Bild kann sie niemand als aktivierte Nomina, niemand als substantivierte Verben bezeichnen. Der Form nach müßte man sie Verbum-Nomen taufen, dem Inhalt nach sind sie Bewegungsruhe. I n d i e s e m B i l d h a t der s p r a c h l i c h e S t i l eine letzte u n a u f l ö s l i c h e N o t wendigkeit und Einheit erreicht. Es sei erlaubt, die verbale Tendenz als negativen, die nominale als positiven Pol anzusetzen, überdies in der Stellung der Pfeile die Erdrichtung des Gefühls, die Höhen- und Helligkeitsrichtung des Verstandes anzudeuten, endlich in den Tangentenpfeilen Entsprechung und zugleich Widerstreit des Stils, in den Sektoren die Folge der Motive in diesem Landschaftsbild zu versinnlichen, dann bietet sich, eindringlicher, als in Worten gezeigt 214

werden kann, der Anblick wunderbar kreisender, wie ein M e e r strömender und doch ruhender Sprachkraft: Substantiv im Infinitiv verba/isiert y Kompositum gelöst In gemtiviscfier Ordnung

\

\ Dreigliederung

Verbum InfTnitiV substantiviert Ein flüchtiger Leser der Wahlverwandtschaften würde nicht vermuten, daß mit Eduard und Charlotte auch O t t i l i e nicht nur ihre eigene Landschaft, sondern für diese auch eine fein differenzierte Sprachgestalt hat. W i r sahen, daß die ungestümen, begehrenden Züge abgetönt sind, wo ihr Naturbild Ichlandschaft wird. Freuen ist der A t e m ihrer Seele, nicht Besitzen. S o kann dann auch der Ausdruck der Natur, wo sie gesetzverkündend wird, milder, menschlicher und gelöster sein, als u m Charlotte. Ihrer Frauenhaftigkeit entspricht der Stil. Extreme Formen des Dynamischen erscheinen nicht. Andererseits bedient sich die Schicksalslandschaft nicht des strengen tektonischen Stils, sondern ist in freier Diktion gehalten, die mitunter fast an die der Beschreibungslandschaft streift. E i n Kompositum, ja das schwere Doppelkompositum wird in ihrem Stil nicht als Fremdes e m p f u n d e n : (Ottilie) nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute sich über das schöne Gedeihen. Die Beeren- und Kirschenzeit ging zu Ende • • Als Ottilie sich freute, daß die Pfropfreiser dieses Frühjahr alle so gar schön gekommen (180). W a s wir in der Landschaft geringeren Grades aber vergeblich suchen würden, ist das so gar schön, das wiederholte freute und die ausgeglichene, lockere Substantivierung eines Infinitivs das schöne Gedeihen (vgl. o. das Plätschern usw.).

2x5

Die Schemen des Überwundenen, die Lichtgestalten des Errungenen ordnet dann zu feierlichem Vorüberzug Ottiliens Tagebuchschluß des dritten Kapitels vom zweiten T e i l : Objektivierung der Natur und Enttäuschung — melancholisches Motiv und Resignation — Lustmotiv in der Natur und letztes Aufbäumen der Lust zum Leben — Übergang und Abklang in symbolische Gleichnislandschaft und innere Ahnung einer höheren Weltlenkung. Diese Folge zeigt das B i l d : Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Tactschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, daß in der abgesichelten Ähre so viel Nährendes und Lebendiges verborgen liegt (225).

Kein Kompositum, auch kein Adjektiv zunächst. Dann gesellt sich zum breiteren Substantiv ein gleichsilbiges Adjektiv. Genetivische Ordnung entsteht, durch nachdenklich verweisendes jener vermittelt, durch die reiche Bestimmung vom Wertherstil sich unterscheidend. Mit der Wendung zum Gleichnis wird das Substantiv größer und abstrakter, aber zugleich gelöster durch Ausfransung der Konturen und Verbalisierung: etwas Munteres; so viel Nährendes und Lebendiges. Andererseits kommt eine ausgesprochen verbale Aktion zur Ruhe in dem Partizip abgesichelten. Die gehobenen erweckt, scheinen, der Konjunktiv verborgen liege, der wie jener in eine ungewisse Ferne weist, die Vorsilben ab-, er-, ver- entspringen alle dem erhöhten Stil. Alle Sätze begleiten die für die Ausdruckslandschaft dieses Romans eigentümlichen Stilpartikeln : nichts mehr, nur, noch, so viel, die alle malerischen Wert besitzen. Die Betrachtung der Satzordnung führt unmittelbar zur Entdeckung des Rhythmischen, das hier zum Metrum, zu anschaubarer Gesetzmäßigkeit gewandelt ist; die Sätze sind Verse: Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen . .

Zuerst im Motiv des Tons die Unerbittlichkeit der Jamben im Vokalwechsel a-i-a. Dann löst sich aus Auftakt und Spondäus der Hexameter. Das Akustische verstärkt sich in der verbalen Bewegung und nimmt zugleich im vorherrschenden i und e den Charakter des Klanglosen, Winterlichen, der Resignation Verfallenen an. Plötzlich rankt sich dann am nur ein Lebensgefühl 216

empor. Diese Kombination der Lustakzente von Farbe (roten) und Linie (schlanken), unterstützt durch suggestive Alliteration (Beeren—Bäume), ist eine Feinheit, die erst ein Jahrhundert später die Dichtung etwa Stefan Georges recht zu entdecken glaubte. Im sinnlichen Gehalt sind diese Worte Fanfarenstöße, aber ihre Bindung in den gedehnten Fluß der Trochäen ist Elegie, der sich niemand zu entziehen vermag. Wunderbar ist auch der rauschhafte Losbruch der Vokale u-o-ee-a-äu-ei. In weniger strengem Wortfall schließt das Gleichnis aus dem Motivbezirk biblischer Bilder. Aber auch das Kompositum Tactschlag ist onomatopoetisch. W o die Landschaft um Ottilie noch eindeutiger Verkünderin eines Gesetzes ist, dringt auch im sprachlichen Stil strengere nominale Ordnung merklich vor. Kompositionen des Substantivs und Adjektivs, perfektische Partizipien, syntaktische und positionale Symmetrien werden zahlreicher: Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichthum ungepflückt. Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel; diese Astern sahen noch immer stillbescheiden vor sich hin (221 f.) Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse (307). Daß der Herbst eben so herrlich würde wie der Frühling, dafür war gesorgt. Alle sogenannten Sommergewächse, alles was im Herbst mit Blühen nicht enden kann und sich der Kälte noch keck entgegen entwickelt, Astern besonders, waren in größter Mannichfaltigkeit gesäet und sollten nun überall hin verpflanzt einen Sternhimmel über die Erde bilden (308). So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure That geschehen, jedem furchtbar, der sie betritt. Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren (375).

(Zu diesem Bild vergleiche die im Positionalen und Wörtlichen verwandte Diktion eines Schicksalbildes um Eduard: Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der T a g ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten (132).)

Mit den starken Merkmalen des tektonischen Stils verbinden sich aber jedesmal dynamisch verbale Elemente: Präpositionen und neben feierlich typisierenden auch sinnliche Verben, neben Kompositionen genetivische Ordnungen (Licht des Tages), neben berichtenden Adjektiven die malerischen Pronomina des Werther2x7

stils (alle, ganze, jeder, dieser, jener) und verschiedene Partikeln in gleicher Funktion (nunmehr, nun, noch immer, noch, auf einmal, ebenso, nicht so, besonders, völlig), die wir alle in der Beschreibungslandschaft nicht fanden. D i e Symmetrien der Sätze sind v o n V e r b e n begleitet, so daß sie nicht schematisch wirken, und neigen überdies z u leichter Variation. U m Charlotte und Eduard hat die Auseinandersetzung der polaren Stile eine feste Gestalt gewonnen. D a s entspricht ihren Charakteren, die im G r u n d e keine Entwicklung durchmachen, sondern fast von A n f a n g an auf Pflichtbewußtsein und unbelehrbare Leidenschaftlichkeit festgelegt sind. In der Landschaft Ottiliens sind die Stilgrenzen fließend, wie ihr C h a rakter ausführlich und abwechslungsreich v o m Stadium des K i n d e s an entwickelt wird. Darin drängt sich der Vergleich mit Werther auf, wo wir auch neben den Merkmalen des hohen Stils solche einer umgangssprachlichen und naturalistischen T a g e b u c h - und Briefdiktion fanden, beides als Spiegelbild der v o m Standpunkt der Idylle bis zur Schicksalslandschaft — freilich in starker A b k ü r z u n g der Anfangs- und Endpunkte — durchgeführten Entwicklung des Helden.

Wilhelm Meisters Wanderjahre. Erste Ausgabe 1821.

1. Die Josephslegende (1810). D i e Abfassung der vier legendenhaften Erzählungen, die auch in der letzten Gestalt die Wanderjahre einleiten, beginnt 1807 und ist 1810 für die Herausgabe im Taschenbuch für D a m e n abgeschlossen. D i e neue Fassung für die letzte Herausgabe der Wanderjahre hat an der sprachlichen Gestalt des Landschaftsbildes nichts geändert. Sie weicht v o m Stil der Wahlverwandtschaften wenig ab. D i e Übereinstimmung würde noch vollkommener sein, wenn diese Erzählungen an den extremen Stufen des Naturgefühls A n teil hätten. Jedoch schon die Exposition, die Vorbereitung auf das Erscheinen des Helden, ist mit einem Gefühlsanteil mittlerer Höhe gezeichnet, der das Doppelkompositum, das zählende Adjektiv, die schematischen Partizipien und Satzeinschübe nicht aufkommen läßt. D i e Person des Erzählers und sein Schicksal erhöhen den Stil wenig. N u r schwach skizziert die Erinnerung das problematische Naturgefühl eines verrauschten Liebesfrühlings mit einem un-Adjektiv, mit heftigerem M a ß der Sätze 1 ). 1 ) Die folgenden Zitate sind wie alle der ersten Ausgabe in WA I 24 enthalten.

218

Bekannte

Dopplungen kommen gelegentlich zustande: ihre

Säulen und Pfeiler durch Gebüsche und Bäume (13), Berge und Thäler (33> 3Ö)> Giebel und Wände . . in Wind und Wetter (17). D a n e b e n K o m p o s i t i o n e n : Felsenwand (6), Felswand (8), Schattenwänden (8).

Der Terminus Gegend findet sich selten wie auch das zuständliche u n d k o m p o n i e r t e P a r t i z i p : auf eine entblößte Höhe (39), über die frischbesäte Waldblöße (27), eine freistehende, hohe, astlose Fichte (29).

D a ß adjektivische Gegenordnungen noch häufiger in Ansätzen als in strengen Schlußformen vorhanden sind, stellt diese Prosa in die erste Hälfte der nominalen Stilperiode, neben die Wahlverwandtschaften und in Gegensatz zur Mehrzahl der in die Wanderjahre aufgencfmmenen Novellen: in den geräumigen Hof . . der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Gebäuden umgeben, sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ankündigte (14); war die Erquickung angenehm mitten in diesen unfruchtbaren Mooswäldern, wo die farbigen glänzenden Früchte noch einmal so schön erschienen (14).

Zehn Jahre später würde im ersten Beispiel etwa ernsthafter z u Aufenthalt treten, im zweiten die Erweiterung die bunten Farben der glänzenden Früchte vorgenommen werden. Die Verben sich ankündigte, erschienen entsprechen ganz den Wahlverwandtschaften wie die Substantivierung verbaler Aktionen in Erquickung, Aufenthalt. Die tote Satzverknüpfung durch wo wird noch öfter gebraucht. Je mehr sich die Motive zu einem Bild schließen, desto eher vermag sich das ordnende Prinzip darzustellen: Er dachte sich das ernsthaft eingeschlossene Thal, in dem er sich befand, die Trümmer und die Stille, und eine wundersam alterthümliche Stimmung überfiel ihn (17).

Das Adjektiv entspricht sich in Silbenzahl und Bildungsweise, eine Dopplung des Substantivs hält die Mitte. Indes weist dieser Bildschluß um ein Ich aus der Beschreibungslandschaft hinaus. In ihrem Wesen liegen Motivketten, wie wir sie im letzten Roman fanden und wie sie hier gleichfalls durch Aussichten, Spaziergänge und Wanderungen zustande kommen: Nun ging es durch die Ruinen des säulenreichen Kirchengebäudes, dessen hohe Giebel und Wände sich in Wind und Wetter zu befestigen schienen, indessen sich starke Bäume von Alters her auf breiten Mauerrücken eingewurzelt hatten,

319

und in Gesellschaft von mancherlei Gras, Blumen und Moos kühn in der L u f t hängende Gärten vorstellten. Sanfte Wiesenpfade führten einen lebhaften Bach hinan (17).

Die erste, vierte und die letzte Zeile gliedern das Blickbild und verweisen mit je einem Kompositum und in der adjektivischen Gegenordnung aufeinander. Das Ordnungsprinzip setzt sich immer deutlicher durch bis zur vollendeten Symmetrie der Schlußzeile. Auch in den Ausdrücken Gras, Blumen und Moos, kühn in der Luft hängenden Gärten verbirgt sich das Gesetz des Geraden. Noch strenger und bis zur Satzgestalt vordringend ist seine Anwendung in den Bildern; schon hatte der Wanderer . . steile Felsen hinter und über sich gelassen, schon durchstrichen sie ein sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandenen Wald, durch manchen freundlichen Wiesengrund, . . . . bis sie sich endlich an einem Abhänge befanden, und in ein sorgfältig bebautes, von Hügeln rings umschlossenes Thal hinabschauten (13). Ein großes, halb in Trümmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergebäude

(13).

Im ersten Bild wird der Blick im Rahmen strenger Symmetrien durch die Haupttypen geologisch gesehener Landschaft geführt: Felsen — Mittelgebirg — Wald — Wiesengrund — Hügeln — Thal. Das blasse Verbum (durchstrichen, eilten, befanden), das Partizip in der charakteristischen Beschwerung (von Hügeln rings, halb in Trümmern) und Komposition (wohlerhaltenes) erinnert uns z u m Teil wörtlich an den Stil der Wahlverwandtschaften. Mit ebenso verbalschwachen Mitteln wird die Tektonik in einem anderen Bild errichtet, das eine stärkere Neigung zu variierender Bereicherung des zweiten Gliedes zeigt: Der Wirth führte seinen Gast an eine schattige Stelle der Ruine, wo man von einem erhöhten Platz die angenehme Aussicht das Thal hinab vollkommen vor sich hatte, und die Berghöhen des unteren Landes mit ihren fruchtbaren Abhängen und waldigen Rücken hintereinander hinausgeschoben sah (18).

Das zweite Glied zerlegt sowohl Blickrichtung als Gegenstand nocheinmal. Die vollkommene Symmetrie aber ist wiederum erst am Schluß erreicht, während der Ruine oder Berghöhen noch vor der Verwandlung in reine Gegenordnungen, etwa mit der alten Ruine, die hohen Berge, stehen bleiben. Z u einer lyrischen Fassung des Naturbildes kommt es ähnlich wie im Märchen erst gegen Schluß der Erzählung Josephs, auf den 220

letzten Seiten derHeimsuchung und im Lilienstängel. Es ist aber bedeutsam, daß das Stilbild auch im einrahmenden Teil, um Wilhelm, eine deutliche Wendung zum Dynamischen nimmt, sobald nur Sonne, Lichtwahrnehmung die Wand kulissenhafter Landschaft durchbricht: Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen (3).

Das Adjektiv ist geschwunden, das Substantiv lockert sich genetivisch und durch Musik des Vokals. Von da ist es nur ein Schritt zur Rhythmisierung, die allerdings zum Metrum, zu tektonischer Ordnung neigt: Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen Gründen; aber der obere Himmel ist heiter. Wir steigen in die düstere Tiefe hinab (12).

Trotz der Kraft des Verbums zeigen die Sätze starke formale Ausgeglichenheit und setzt sich Symmetrie durch, wenn auch in spielendem Chiasmus (obere .. heiter : düstere Tiefe.) Das Verbale der Lichtwahrnehmung vermag monotonen und stockenden Satzfluß nicht zu verhindern: Er stieg aufwärts und verspätete sich dadurch den Sonnenuntergang. Das himmlische Gestirn, das er mehr denn einmal verloren hatte, erleuchtete ihn wieder, als er höher trat, und noch war es Tag, als er an seiner Herberge anlangte (9).

Mit ähnlicher stufenweiser Unterbrechung des Blickes und Satzes, aber nun geordneter, fast metrisch, weist Joseph auf seine Ve/gangenheit zurück: Für mein Gefühl waren die Blumen, die ich ihr brach, die fernen Gegenden die ich ihr zeigte, die Berge, die Wälder, die ich ihr nannte, soviel kostbare Schätze, die ich . . dachte (30).

Auffallende Symmetrien, auch in die Blumen, die Wälder gegen adjektivisch bestimmte Substantive, halten dem Verbalen die 221

Wage. Ein seltsamer Eindruck wird erzielt, wenn das un-Adjektiv des Wertherstils sich mit Symmetrie und Dopplung paart: doch trieb mich eine unendliche Ungeduld, ein unermeßliches Verlangen durch Berg und Wald wieder vor ihre Thüre (32).

Das gegenwärtige Grundgefühl Josephs aber ist nicht bewegt und problematisch, sondern beruhigt und harmonisch. Wenn er deshalb für das Jetzt und für sich spricht, erscheinen in der Landschaft die Züge des Schicksalhaften, beschaulich im Gleichnis ausgesprochen wie schon in der Rede des Harfners in den Lehrjahren. So bietet sich abermals das Bild der Kraftruhe, in der Verstand und Gefühl sich die Wage halten, das Verbum blüht, aber zugleich gemeinsam mit dem Nomen viermal klare, zweisilbige Formen und im Lautlichen (bl = bl; ei = ei) wie Positionalen reife, doch nicht erstarrte Tektonik entwickelt: Man sieht die Blumen welken und die Blätter fallen, aber man sieht auch Früchte reifen . . neue Knospen keimen (35).

2. Wer ist der Verräther? (1820). Wie die Wahlverwandtschaften vereinigt diese 1819—20 entstandene Novelle primitive Beschreibung und ausgesprochene Ichlandschaft, jedoch nun so, daß eine stetige Erhöhung des landschaftlichen Bildes vom Anfang, wo von Reisen erzählt wird, überleitet zum Schluß, wo Lucidor die Natur leidenschaftlich subjektiviert. Das spiegelt sich wider im sprachlichen Stil, der diesen Wandel mit den Schattierungen begleitet, die innerhalb der tektonischen Grundform möglich sind. Im ersten Bild wurzelt das Verbum nur noch auf einer Sandinsel des stilschaffenden Stromes, als Moos wuchert es am Grunde und verschlingt mit farblosen Ranken lose den Bau des Nomens: Da wollte sie nun von der schönen Insel, auf dem großen südlichen See, vieles wissen; Rückwärts aber mußte der Rhein, von seinem Ursprung an, erst durch höchst unerfreuliche Gegenden begleitet werden, und so hinabwärts durch manche Abwechselung;

222

wo es denn freilich zuletzt, zwischen Mainz und Koblenz, noch der Mühe werth ist den Fluß, ehrenvoll, aus seiner letzten Beschränkung in die weite Welt, in's Meer zu entlassen (135).

S o breitausladende Beschwerung bei so geringer Kraft und Aktion des Verbums in wo es denn freilich zuletzt.. noch der Mühe werth ist haben wir im letzten Roman noch keineswegs gefunden. In weit höherem M a ß bedient sich hier die Beschreibung eines leichten, formal unverbindlichen Plauderstils. Das Substantiv ist abstrakt (-ung als Suffix), das Adjektiv unsinnlich. Obwohl Dopplungen und Gegenordnungen im Einzelnen entstehen, zerstößt sich der Satz und damit die Möglichkeit reiner Symmetrien doch an den pedantischen, aktionslosen Einschüben, die in den Wahlverwandtschaften noch wesentlich sparsamer und beweglicher waren. ( A u c h „Lust-Obst- und Grasgärten" (140) übertreibt eine

beliebte nominale Form des früheren Romans). Es ist nun bemerkenswert, wie mit der fortschreitenden Erzählung diese Hemmungen des Satzes schwinden, während sich zugleich das tektonische Gesetz am Baustoff der Kompositionen und perfektischen Partizipien immer klarer darstellt: alle Bergquellen, Felsufer, eingezwängte, freigelassene Flüsse (135); Nun mußte man über geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl auch auf zufällig hingeworfenen Steinen über Moorflecke wandern (143); die Gegend für mahlerische Augen und für zärtliche Herzen verschönert und verbessert (142).

Die Symmetrie auch des Verbums, im letzten Roman noch nebensächlich, wird nun immer regelmäßiger. Im zitierten Motiv (142) wie im folgenden Bild ergeben auch die Präfixe (ver — ver; be = be) starke formale Bindungen: Der Oberamtmann . . hatte nach eignem Blick und Einsicht, nach Liebhaberei seiner Frau, ja zuletzt nach Wünschen und Grillen seiner Kinder, erst größere und kleinere, abgesonderte Anlagen besorgt und begünstigt, welche mit G e f ü h l allmählich durch Pflanzungen und Wege verbunden, eine allerliebste, verschiedentlich abweichende, charakteristische Scenenfolge dem Durchwandelnden darstellten

223

Die nächste, so wie die fernere Gegend war zu bescheidenen Anlagen und eigentlich ländlichen Einzelheiten höchst geeignet. Fruchtbare Hügel wechselten mit wohlbewässerten Wiesengründen

Das Bild gliedert sich in zwei Teile: Park : Umgebung. Der erste entwickelt auch in sich klare Zweigliedrigkeit von Anregung : Ausführung. Im Einzelnen kann die Symmetrie kaum weiter getrieben werden. Jede Zeile des Zitates umfaßt eine, wenn nicht zwei Gegenordnungen von Substantiven, Adjektiven, Partizipien, Adverbien und Verben. Der positionalen Tektonik folgt die lautliche (Blick: Einsicht; Wünschen und Grillen; besorgt und begünstigt; Durchwandelnden darstellten und inhaltliche (größere und kleinere; nächste : fernere). — Das ordnende Prinzip bleibt in Kraft, aber die innere Anteilnahme wächst, so daß schon auf der nächsten Buchseite ein Bild in der thematischen Einteilung an den frühen Stil erinnert: A m schönsten, heitersten, längsten Tage einmal auf dem Wege hielt man einen sinnigen Flurzug um und durch das Ganze. Hier wurde das Abendplätzchen der guten Mutter bezeichnet, wo eine herrliche Buche ringsumher sich freien Raum gehalten hatte, Bald nachher wurde Lucindens Morgenandacht von Julien halb neckisch angedeutet, in der Nähe eines Wässerchens zwischen Pappeln und Erlen, an hinabstreichenden Wiesen, hinaufziehenden Äckern. Es war nicht zu beschreiben wie hübsch! (141).

Ein Satz entrollt das Bild, ein Satz faßt den Eindruck gefühlsmäßig zusammen. Die Hauptszene gliedert sich gleichmäßig in zwei Gruppen mit titelhaften Kompositen (Abendplätzchen : Morgenandacht). Der leichte Chiasmus der abhängigen Genetive lockert die Gegenordnung, die synonymen Verben am Satzschluß festigen sie. Im Deminutiv, im Adjektiv des Affektes und im Superlativ verraten sich dynamische Tendenzen. Reinste Statik aber sind die sorgfältig im Gegensinn präfixierten Partizipien im Bildschluß, die auch für den spätesten Stil der Jagdnovelle charakteristisch bleiben. — Nach solchen freundschaftlichen und pietistischen Gefühlen bedarf es nur mehr der Liebesverwirrung Lucidors zur völligen Subjektivierung der Landschaft: er aber wandte sich, erst langsam, dann heftig gegen das Freie. Der Park war ihm zu eng, er eilte durch's Feld, nur die Stimme seines Herzens vernehmend, ohne Sinn für die Schönheiten des vollkommensten Abends (149).

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Genetivische Ordnung und Superlative entstehen, das Adjektiv schwindet, der Satz wird kurz und bewegt. Nur die doch vordringende Gegenordnung schwächt den wörtlichen Anklang an die Landschaft um Eduard. An dessen Erwachen an Ottiliens Schwelle erinnert das folgende Bild, das doch gleichzeitig den Abstand noch empfindlicher macht: aus tröstlichen Morgenträumen jedoch weckte ihn die allerfrühste Sonne; es war eben der längste Tag, der ihm überlang zu werden drohte. Wenn er die Anmuth des beruhigenden Abendgestirns gar nicht empfunden, so fühlte er die aufregende Schönheit der Morgens nur, um zu verzweifeln. Er sah die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber widersprach, das gehörte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden verloren (150).

A u c h diese problematische Landschaft fügt sich, wenn auch widerwillig, den Einschränkungen des nominalen Stils. Die logische Antithetik geht mit der formalen. Je zwei Zeilen kreuzen die Klingen. Das erste und letzte Paar erschöpft sich in Gegenordnungen. Nur das mittlere aktiviert sich mit tönenden, verbalen Partizipien und leichtem Chiasmus der Genetive (Anmuth des beruhigenden Abendgestirns : aufregende Schönheit des Morgens). Die fühlbar geringe Teilnahme des Dichters am problematischen Geschick des Helden vermag seine Landschaft lang nicht in dem M a ß aus den Bedingungen des kontemporären Stils zu befreien, als es in den Wahlverwandtschaften und auch in noch späteren Stücken (Jugendgeschichte) der Fall ist.

3. Mignons Heimat (1821). Der Schilderung der gemeinsamen „Wallfahrt" Wilhelms und seines Malerfreundes nach der Heimat Mignons, dem Lago maggiore, die zwar gipfelt in Naturszenen mit starkem Gefühlsanteil, bleibt doch die Reinheit des Stils und damit die tiefere Wirkung versagt. Der Ursachen sind mehrere. Der Stoff ist novellistisch behandelt, ohne sich zu einer Novelle zu runden. Der Schauplatz ist an sich neu und einheitlich, wird jedoch als Wallfahrtsstätte betreten und vorwiegend historisch empfunden. Man sucht die in Mignons Liedern „angedeuteten Stellen". Es bildet sich eine ¿»Gesellschaft", der reine Ichlandschaft fremd ist; ein originales Schicksal entspinnt sich nirgends. Alles ist Nacherleben, Erinnerung, Elegie und auch die heftige Rührung der Schlußszene löst ¡„Mignons Bild" aus, das vor dem Sänger „schwebt". Überdies 15

Behl.

225

ist die Handlung zerstückt, äußerlich durch zwei umfangreiche Betrachtungen über die sekundäre Landschaft von Gemälden und Zeichnungen (die zweite ist als „Urtheil eines Kenners" förmlich eingelegt), innerlich durch das spätere Eintreffen der Gegenspieler, der beiden Frauen. Bis zur ersten Bilderbesprechung erleben die Landschaft zwei, dann vier. Endlich auch ist der Schauplatz nicht das heimische Mitteldeutschland (wie später in der Jugendgeschichte), sondern Italien, dessen Bild jetzt nur durch die Redaktion der italienischen Reise wieder näher rückte. Da es schwer zu beweisen ist, daß der Dichter den Lago maggiore jemals gesehen hat, versteht man das Heranziehen künstlicher Hilfsmittel, die schon im ersten Kapitel erwähnt wurden. Dies alles läßt uns erwarten, daß trotz der inneren Steigerung das episch nominale Prinzip vorherrschen wird, daß monotone Komposition im Satz und auch das einzelne Wort die extremen Formen der Jagdnovelle vorwegnehmen werden. Erst nach der ersten Bilderkritik treten Wilhelm und der Maler in die Landschaft ein, während zugleich der umständlich beschreibende Ton aus dem Vorhergehenden beibehalten scheint: Ii

2a b

Iii

2a b

U n d so schwammen die Freunde auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer, den See in jeder Richtung durchkreuzend. In der schönsten Jahreszeit entging ihnen weder Sonnenaufgang noch Untergang und keine der tausend Schattirungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst überspendet und sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht. Eine üppige Pflanzenwelt, ausgesäet von Natur, durch Kunst gepflegt und gefördert, umgab sie überall. Schon die ersten Kastanienwälder hatten sie willkommen geheißen, und nun konnten sie sich eines traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie unter Cypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röthen, Orangen und Citronen in Blüthen sich entfalten und Früchte zugleich aus dem dunklen L a u b e hervorglühend erblickten ( 3 5 6 ) .

Die große Zweiteilung des Bildes in See : Ufer ist deutlich* Jede Hälfte nimmt den ersten Satz als Überschrift. Auch das je darauffolgende Motiv 2 a ist noch allgemein und entwickelt erst aus sich die Details der letzten Zeilen. Von allen drei Untergruppen sind die des ersten Teil nicht so recht und nicht so scharf gegliedert und erinnern so an ein öfter beobachtetes Gesetz. Die 226

verbale Symmetrie (gepflegt = gefördert) fanden wir in der Verräternovelle, den positionalen Parallelismus mehrerer Verben in I I 2 b in der Josephslegende, die Aufeinanderfolge schwerer fremdsprachlicher Substantive und hexametrisches Maß des Eingangssatzes im Märchen. Alles aber ist noch mehr nach dem Tektonischen gewandt und eine im Positionalen wie Inhaltlichen restlos ausgeformte Gegenordnung wie ausgesäet von Natur, durch Kunst gepflegt deutet auf den Endstil. Eine offenkundige Solidierung des Infinitivs (etwa: hervorglühen sahen) zugunsten nominaler Gehaltenheit und Ruhe in hervorglühend erblickten fanden wir im Stil der Wahlverwandtschaften noch nirgends. Mit dem Tektonischen aber vermischen sich kraft des lyrischen Gehaltes der Szene dynamisch-verbale Einflüsse. Das Adjektiv wird intensiv und malerisch (vollkommen, üppige; schönsten, ersten, jeder, tausend). Innerhalb formaler Bindung zeigt sich die Tendenz zu bewegender Steigerung des Wortumfangs: Lorbeer aufsteigen — Granatapfel sich röthen — Orangen und Citronen .. sich entfalten. Seit den Lehrjahren ist alle lyrische Ichlandschaft gezwungen, eine Verbindung mit den Ausdrucksmitteln des tektonischen Stils einzugehen, die jedoch das Entstehen reiner, ausgeklärter Formen keineswegs verhinderte, sofern nur der lyrische Impuls einheitlich und stark ist. Das ist er in dieser elegischen Erzählung nicht. Er wird es auch nicht, wenn sich nun die gleiche Landschaft noch in zwei gefühlvollen Seelen, Hilarie und der schönen Witwe, spiegelt. Die erhöhte Stimmung droht sogar vom Erhabenen ins Lächerliche umzuschlagen. Dem letzten Bild fehlt nicht ganz die Satire, mit der Goethe im Melodrama von 1777 die sentimentale Manier der Naturschwärmerei verspottete. Von „weit- und breiter Wellenfahrt (358) und von „Kreuz- und Querfahrten" (359) wird nur eben berichtet, dann sehen wir die „Viere" zum erstenmal in einer Landschaft, Der Erzähler tritt hervor: Und nun vergegenwärtige man sich die Viere, wie sie, im zierlichsten Raum, beisammen, gegen einander übersitzen in der seligsten Welt von lindem Lufthauch angeweht, auf glänzenden Wellen geschaukelt (360).

Statt zu fließen, bröckelt der Satz. Die an sich schon uneigentlichen Superlative werden in der Parallele noch blasser. Auch im Schluß mindert sich die Intensität des Adjektivs und Verbums 15*

227

durch die strenge positionale Gleichheit und perfektische Form. Wenn sich der sinnliche Gehalt verliert, tritt die Tektonik noch stärker hervor: Vorüberfliegend befreundete man sich mit der schönen Reihe merkwürdig hingelagerter, bald reihenweis übersehbarer, bald sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannichfaltigste Vergnügen gewähren (362).

Kein naiv sinnlicher, nur ein denkender Leser sieht, was hier gesagt wird. Die Landschaft selbst bekommt kein Verbum. Das Ganze wirkt wie eine topographische Skizze der lebendigen Natur. Das Partizip ist nicht verbal, sondern dient gerade dazu, das Verbum ganz auszuschalten. Für den inneren Stil des präsentischen Partizips hier würde es schon genug sagen, daß völlig zuständliche und perfektische Adjektive (übersehbarer, hingelagerter) gleichgestellt werden. Freilich ist nicht zu verkennen, daß das T e k t o n i s c h - N o m i n a l e h i e r w i e s o n s t E i g e n s c h a f t e n z e i g t , die d e m D y n a m i s c h - V e r b a l e n f e h l e n . Es besieht die D i n g e v o n b e i d e n S e i t e n (bald : bald). Da es a k t i o n s l o s und deshalb v o n der Z e i t u n a b h ä n g i g ist, kann es ein e r s c h ö p f e n d e s G e d a n k e n b i l d vermitteln: So abwechselnd hin und wider geschaukelt, angezogen und abgelehnt, genähert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage (364).

Nach der zweiten Bilderkritik beeinflußt der steigende Impuls mehr die Wahl als die sprachliche Formung der Motive: Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender, klarster Vollmond ließ den Übergang von Tag zu Nacht nicht empfinden. Die Gesellschaft hatte sich zusammen auf einer der höchsten Terassen gelagert, den ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten, und rings widerglänzenden See, dessen Länge sich zum Theil verbarg, seiner Breite nach ganz und klar zu überschauen (372).

Die Gegenordnung ist eindringlich (von allen Seiten her : rings wider-', ganz und klar). Der tektonische Stil erlaubt und empfiehlt 328

dem Dichter zu zeigen, was niemand sieht (Länge : Breite). Das Adjektiv (letzte, klarster) ruft in Erinnerung, was wir schon im letzten Roman über die innere Kommunikation der Gegenordnung b e m e r k t e n . D a s s e l b e z e i g e n : unter dem Einfluß einer gewaltigem Sonne, eines mildern Mondes (372), unter dem hehren Himmel, in der ernstlieblichen Nachtstunde (373).

M i t der Abreise der Damen tritt auch am Lago maggiore jene plötzliche, für die Ichlandschaft charakteristische Verwandlung ein. Aber der Dichter ist nicht ganz dabei. Er bewahrt eine ironische Distanz wie Wieland in den Landschaften seiner eleganten, erotisierten, aber innerlich kühlen Verserzählungen: N u n war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt; . . . Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die. Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Thürme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten . . gerügt und gescholten haben (374).

Fast nur Nomina, fast die Hälfte davon substantivierte Infinitive. Sechs Motivskelette ordnen sich zum Zug im klappernden Gleichtakt von Artikel und Wortfolge. Nur die letzte Zeile variiert mit dumpfer Vokalmusik. Eingeklemmt ist diese Gruppe von zwei Dopplungen, beide auch im Lautlichen (sch = sch; ge = ge) überbetont. Das tektonische Prinzip ist bewußt oder unbewußt übersteigert zu einer karikierenden Litanei des Elends.

4. Die Rahmenerzählung. Wenn man die eingegliederten Novellen zum Vergleich heranzieht, steht der Umfang der nicht immer vollkommen verknüpfenden Rahmenerzählung in keinem Verhältnis zur Zahl der landschaftlichen Motive darin. Neben den wortkargen Angaben des Zeit- und Ortsumstandes finden sich durchgeführte Bilder selten. Obwohl nach den Motiven des Karlsbader Tagebuchs die ersten Kapitel nach der Josephslegende schon 1810 „schematisiert" werden, vergrößert doch der Charakter der Beschreibungslandschaft die stilistische Distanz. Rein kommunizierende Symmetrien adjektivischer Ausdrücke, besonders des elativischen Superlativs: 229

auf dem ältesten Gebirge, auf dem frühesten Gestein (42), durch wundersame Pfade zum stillen Ort (51), nach jenen ausgedehnten Gütern des großen Landbesitzes (61).

fanden wir vorzüglich in der Wallfahrt (zierlichsten : seligsten (360), letzte : klarster (372)). Fast übereinstimmende Formen (schönste : klärsteri) sehen wir in dem Bild: Nun ging es steil den Berg hinab, durch einen Wald der hoch- und schlankstämmigsten Lerchenbäume, der, immer durchsichtiger werdend, ihnen zuletzt die schönste Besitzung, die man sich denken kann, im klarsten Sonnenlicht sehen ließ (62).

Hier kommt noch der partizipial gehemmte Satzfluß und die schwere Adjektivkomposition (hoch- und schlankstämmigsten) hinzu die wir gleichfalls in den novellistischen Stücken um 1820, besonders in der Wallfahrt (weit- und breiter Wellenfahrt) zum erstenmal ausgeprägt fanden. Je mehr die Landschaft deskriptiv und skizzenhaft wird, desto schwerfälliger, ja monströser werden die Stilgebilde, die zwar die Bewegungslosigkeit, aber noch nicht die harmonische Ordnung des tektonischen Stils aufweisen: 1. Gegenstand der Wahrnehmung (8 Glieder)

Subjekt

(8 Glieder)

a b c b a d d a a b b c d d (ee) c a

Ein großer Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien, gewidmet, lag, obgleich mit Obstbäumen reichlich ausgestattet offen vor ihren Augen, indem er regelmäßig, in mancherlei Abtheilungen, einen, zwar im Ganzen abhängigen doch oben mannichfaltig bald erhöhten (e), bald vertieften (e) Boden bedeckte.

2. Gegenstand der Wahrnehmung Mehrere Wohnhäuser lagen darin zerstreut . . über den Garten hinaus erblickten sie eine unabsehbare Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt. Sie konnten Seen und Flüsse deutlich unterscheiden (63).

Über eine ganze Kaskade gewissenhaft präzisierender Einschübe wird das Bächlein des Satzes geleitet. Adjektiv und A d verbium (mancherlei, mehrere, offen, regelmäßig, mannichfaltig, reichlich, deutlich) sind berichtend und arm an Sinnesqualitäten. 230

A u c h das Verbum, das in zahlreichen Partizipien versickert, erregt keine Bildstimmung. Bei genauer Betrachtung aber erscheint immerhin noch die Tendenz wirksam, die zerbröckelnden Formen in bestimmte Ordnungen einzugliedern. Das Zitat deutet das an. Erst im großen Nebensatz gelingt das besser durch Anlautsgleichheit und logische Antithetik. Von einer solchen, wunderbar scharfen und lückenlosen Gedankenreihe geht der E i n d r u c k e i n e s vernünftigen Plans, einer architektonischen G r u n d r i ß - u n d L ä n g s s c h n i t t z e i c h n u n g aus, n i c h t d e r l e b e n d i g e r , s i n n l i c h e r L a n d s c h a f t . Welchen Grad geistiger Anschaubarkeit der tektonische Stil bei möglichster Reinheit zu erreichen vermag, zeigt eine Aussicht, die Montan beschreibt: Es war ein sehr schöner T a g und Montan ließ sie die herrliche Aussicht im Einzelnen betrachten. I Noch standen hie und da mehrere Gipfel, dem ähnlich, worauf sie sich befanden. Ein mittleres Gebirge schien heranzustreben, aber erreichte noch lange die Höhe nicht. I I Weiter hin verflächte es sich immer mehr; doch zeigten sich wieder seltsam vorspringende Gestalten. Endlich wurden auch in der Ferne die Seen, die Flüsse sichtbar und eine fruchtreiche Gegend schien sich wie ein Meer auszubreiten. I I I Zog sich der Blick wieder zurück, so drang er in schauerliche Tiefen, von Wasserfällen durchrauscht, labyrinthisch mit einander zusammenhängend (42!".).

Siebenmal treten zwei Zeilen antithetisch, koordinierend oder leicht relativisch und konditional unter sich in engere Beziehung. Ein Paar bildet die Einleitung. Die übrigen sechs ordnen sich wieder in drei Gruppen, mit denen die drei Grundmotive dieser und jeder Aussicht in der n a t ü r l i c h e n F o l g e v o n H ö h e , W e i t e , T i e f e , hier von G e b i r g e , E b e n e , T a l umfaßt werden. Den einzelnen Paaren kommt es zu, diese Erscheinungen in ihre Teile zu zerlegen: Gipfel: Mittelgebirge; Verflächung: Ebene und F l u ß ; Tal : Verbindungen. Interessant ist, daß die Ebene metaphorisch wie ein Meer gesehen wird, wodurch wieder eine typische Ordnung eröffnet wird, nämlich die der Gewässer: Flüsse, Seen, Meer. A n diesem Beispiel soll noch einmal betont werden, was aus Früherem schon hervorging. Die P r o s a l a n d s c h a f t Goethes seit den Lehrjahren, besonders aber seit den Wahlverwandtschaften wird immer u n e r g i e b i g e r d e m s i n n l i c h e n M o t i v g e h a l t n a c h . Sie abstrahiert mehr und mehr von der 231

sinnlichen Erscheinung der landschaftlichen Objekte, die vor dem Gefühl und einmalig gelten, und sucht d a f ü r die e s s e n t i e l l e n u n d t y p i s c h e n M e r k m a l e aufzuzeigen, die vor dem Verstand und allgemein gelten. Im obigen Bild ist, genau genommen, nicht ein einziger sinnlicher und charakteristischer Akzent. Wer nach der sinnlichen Wahrnehmung fragt, findet hier nichts zu registrieren. Wer biographisch oder motivgeschichtlich eingestellt ist, sieht nur, daß die genannten Objekte irgendwie auf der ganzen Welt zu finden und von allen Menschen gekannt sind. O h n e diese M e t h o d e s p r a c h s t i l i s t i s c h e r B e t r a c h t u n g scheint es m i r u n m ö g l i c h , d a s ä s t h e t i s c h e W e s e n eines solchen L a n d s c h a f t s b i l d e s gültig zu erfassen.

Zweite Ausgabe (1829).

1. Der Mann von fünfzig Jahren (1827). Der erste Teil dieser Novelle wurde bereits 1807 abgefaßt und reicht in der ersten Fassung der Wanderjahre bis zum Besuch des Majors bei der schönen Witwe. Nennenswerte Naturmotive bringt erst die Fortsetzung für die zweite Ausgabe, die knappe Tagebuchnotizen aus Weimar und Marienbad in mehreren Jahren bis 1827 ankündigen. Sie leitet also zur Abfassungszeit der Novelle über, die wir zuletzt besprechen. Was schon die Wahlverwandtschaften lehrten, erscheint hier nocheinmal eindringlicher: der nach der Lebenshöhe Grundgesetz gewordenen Stilrichtung kann sich der Dichter nicht entziehen, doch schaffen erhöhter innerer Gehalt und gesteigerter Anteil des Gefühls erst die reinen, geklärten Formen. Und was vollendete Ordnung hat, bedarf, da alles Vollkommene sich nahe ist, nur eines Hauchs, um sich zu verbaler Bewegung zu verjüngen. Ordnung, Klarheit, Feierlichkeit —• Bewegungsarmut, Schwerfälligkeit, ja Pedanterie sind die beiden Seiten des tektonischen Stils. Nicht im zweiten Sinne sind die sprachlichen Formen dieser Novelle fortgeschrittener. Das Negative des Alterstils ist in früherer Prosa schon extremer zur Darstellung gekommen. Besonders das erste Motiv lockt zu einem Vergleich. Landschaftliche Komplexe werden gesprächsweise eilig durchmessen. In derVerräternovelle interpretiert der Dichter, hier legt er die Worte in den Mund der schönen Witwe: die . . mich durch buschige Haine zum Wald, unvermerkt auf eine Höhe zum Anblick eines Landsees hinführt, da denn wohl auch gegenüber erst angebaute Hügel,

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sodann waldgekrönte Höhen emporsteigen und die blauen Berge fern zum Schluß ein befriedigendes Gemähide bilden (297).

Im Gegensatz zur Rheinreise oben gewinnt das Substantiv zwar auch dem Verb den Boden ab (Höhe, Anblick, Schluß), aber bildet keine - u/ig-Abstrakta. Adjektiv und Satz gehen Gegenordnungen ein. Daneben bewegt sich aber der Satz freier, nimmt weniger Bestimmungen auf und ordnet sie schöner. Vor allem fehlen die allen Satzfluß erstickenden und zerstückelnden Einschübe, obwohl auch hier temporale Aufzählung das verbale Polisyndeton ersetzt. Die frühere Novelle bewegte sich in künstlicher, modisch zugestutzter Parklandschaft. Hier sind wir mitten im Thüringerland, auf einem „Gutshof", der an die Wahlverwandtschaften erinnert. Die Jahreszeit ist eine recht deutsche wie im Urmeister: Spätherbst und Winter. Überschwemmung und Lichtlandschaft schaffen erregte und wirklichkeitsnahe Verbindungen zwischen Menschen und Natur: Der Winter war angekommen und umgab alle ländlichen Wohnungen mit unerfreulichen Sturmregen und frühzeitigen Finsternißen. Wer heute durch eine düstere Novembernacht sich in der Gegend des adeligen Schlosses verirrt hätte, und bei dem schwachen Lichte eines bedeckten Mondes Äcker, Wiesen, Baumgruppen, Hügel und Gebüsche düster vor sich liegen sähe (312). Auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer thätigen Lebensweise aufgeregt, Das anhaltende Regenwetter . . hatte überall, in großen Wassermassen niedergehend, Fluß um Fluß angeschwellt; es waren Dämme gebrochen und die Gegend unter dem Schloß lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, Meierhöfe, größere und kleinere Besitzthümer, zwar auf Hügeln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten (326).

Die Symmetrien sind leicht und wohltuend. Adjektiv, Partizip und Verbum von gleicher Stärke. Besonders das Verbum verzehrt die schweren Einschübe und aktiviert den Satz. Selbst die sieben Substantivkompositionen im zweiten Bild verhindern die verbale Bewegung des Satzes nicht. Eine formelhafte Antithese wie zwar: doch deutet freilich auf den späteren Stil. 233

Mittlerweile hat die innere Höhe der Handlung Ichlandschaft hervorgebracht. Flavio ist vom Geschlecht Werthers, Wilhelms, Eduards. Die Revolutionierung der Natur um Lucidor in der Verräternovelle streifte leise ans Schematische, die Landschaft am Lago maggiore trug in der Verwandlung einen ironischen Zug. Jetzt haben die gefühlsschwangeren Chaotiker Goethes Interesse ganz verloren. Flavio, an sich der echte alte T y p des jugendlichen Liebhabers, ist flüchtig im Motiv, schematisierend im Stil in seine Landschaft gestellt: Flavio stürzte herein . . zerfetzten Kleides wie eines der durch Dorn und Dickicht durchgestürmt, greulich beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewatet ( 3 1 6 ) .

Der eigentliche Werther dieser Novelle ist der alte Major. Im Sommer 1823, da den greisen Dichter nocheinmal die wunderbare Liebe heimsuchte, berichtet das Tagebuch die „Erfindung gewisser Scenen" und andere Arbeit an dieser Dichtung. Erst in der nächtlichen Szene auf dem Eissee, wo der Major in dramatischer Pantomime dem jüngeren Liebespaar entgegenirrt, wird das Gesicht der Natur subjektiv: I Der volle M o n d stieg zu dem glühenden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung . . Alle hochstämmigen Weiden und Erlen an den Gräben, alles niedrige Gebüsch auf Höhen und Hügeln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem lang daher glitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. I I D a blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin- und herschweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel vom Lichtglanz umgeben auf sie zuschritt . . M i t einiger Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu (332).

Ein erster Teil schafft aus Lichtlandschaft, die allmählich in die Körperwelt eindringt, und aus der großzügigen Bewegung des Paares das Bühnenbild, auf dem im zweiten Teil die Gestalt des

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Rivalen erscheint. In vier Motivpaaren, die zum Teil Anapher (alle = alles, die = die) bindet, dringt das menschliche Subjekt vor. Vokal und Konsonanz wirken musikalisch und sind sogar auf den sinnlichen Gehalt des Motivs abgestimmt: volle = vollendete, flammten = gewachsen, fühlten = fuhren, Höhen und Hügeln, i- und ¿¡-Klänge herrschen vor. Parallele und Antithese (hochstämmigen : niedrige) variieren im Chiasmus: Weiden und Erlen an den Gräben . . Gebüsch auf Höhen und Hügeln; selbst dunkel vom Lichtglanz umgeben; suchten sie für sich die Schattenseite . . im vollen Mondglanz fuhr jener.

Wie im Schlußsatz beide Paare vereinigt sind, ist auch die Mitte in hoher und anmutiger Form verklammert: sie fühlten nichts davon und fuhren . . Da blickten sie auf und sahen.

Auf den ersten Blick erhellt, welche K r a f t des V e r b a l e n in diesen Formen h a r m o n i s c h g e b u n d e n liegt. Das Verbum ist intensiv, dringt ins Nominale vor (glühenden, glitzernden). Die Präposition ist reich und bewegend. Auch die klangvollen, tautologischen Kompositionen (Sternenhimmel, Lichtglanz, Widerschein, Schattenseite, Mondglanz) und die genetivische Ordnung (Magische der Umgebung, Widerschein des Mondes, Geflimmer des Widerscheins) erwecken den reinen Wertherstil. Das starke Eigenleben der Szene läßt die Wortwiederholungen (Mond, Sterne, Widerschein, Glanz, Schatten, voll) nicht fühlbar werden. Das Resultat dieser Nacht ist der Liebesverzicht des Alters. Die Natur, noch eben ungewiß, leidenschaftlich, verkündet im folgenden Bild Notwendigkeit. Der Ausdruck wird wie um Ottilie und Joseph meditierend, gleichnismäßig. Das Tektonische tritt einseitiger hervor, wählt den groß typisierenden, zentrischen Aufbau und erinnert also nicht nur durch die verhaltene Trauerstimmung, die sich nicht ganz in heitere Weisheit zu lösen vermag, an die Trilogie der Leidenschaften, die poetische Frucht jenes Sommers, in Marienbad: Der späte Mond der zur Nacht noch anständig leuchtet verblaßt vor der aufgehenden Sonne; der Liebeswahn des Alters verschwindet in Gegenwart leidenschaftlicher Jugend;

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Die Fichte

die im Winter frisch und kräftig erscheint, sieht im Frühling verbräunt und mißfärbig aus, neben hellaufgrünender Birke (339).

D e m Architektonischen hält variierendes Ornament das Gleichgewicht. Im Ganzen wird gebunden, im Einzelnen gelockert. Das Mittelglied hält das Substantiv der Personen fest, wechselt aber im Formalen den Affekt. Im ersten und letzten Glied verändert das Adjektiv die Position (späte Mond: hellaufgrünende Birke), während Mond — zur Nacht — Sonne = Fichte — im Winter — Birke als in sich gegenstrebende, unter sich parallele Pfeiler klar stehen bleiben. Im Übrigen halten Wortfolge und Relativsätze strenge Symmetrie, nur daß im Schlußglied der Trieb zu reicherer Ausgestaltung wirksam ist. verblaßt gibt verbale Aktion und Farbe; sieht . . verbräunt und mißfärbig aus gibt auch Farbe, aber doppelt, und isoliert davon das aktive Verbum. Die Zeitangabe von aufgehende wird in im Frühling selbständig. A n der Reinheit und Höhe des Stils in diesem wie in dem vorhergehenden Bild hat neben der Subjektivierung auch die Tatsache der erregenden Lichtwahrnehmung erheblichen Anteil. Dieses Gleichnis zeigt wieder, was das Wesen des tektonischen Stils ist und womit er für die Naturkraft des Verbalen z u entschädigen vermag: mit der klaren Sicherheit des Tektonischen, mit der S y m b o l i k d e s Formalen.

2. Wilhelms Jugenderzählung, A u c h diese Erzählung, in der der Dichter Erlebnisse seiner Jugendjahre in der westdeutschen Heimat gestaltet, befreit sich allmählich aus der objektiven Beschreibung zur lyrischen Landschaft. Lebhafte, sehnsüchtige Erinnerung dieser weit zurückliegenden Jugend und eine sehr glückliche Stunde lassen ihn Bilder schaffen, die wir in solcher K r a f t und Glut nur in der ersten dynamischen Prosa finden. A m nächsten stehen Szenen aus dem ersten Buch des Urmeisters, wo der Grundtrieb noch verbal, die Empfindung aber schon beschwerter, erdhafter und alles Sinnliche satter und reifer ist als im Werther. A u c h die Hauptgestalt (Wilhelm) ist ja dieselbe und wohl fast gleichen Alters gedacht. Seine Naturfremdheit wird fast übereinstimmmend skizziert 1 ): wir in einer alten ernsten Stadt erzogenen Kinder hatten die Begriffe von Straßen, Plätzen, von Mauern gefaßt, sodann von Wällen, dem Glacis und benachbarten ummauerten Gärten (40). Die folgenden Zitate enthält W A I, 25.

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Auf Symmetrien wird verzichtet. Fast eher ist eine Neigung zu ungerader Gliederung erkenntlich. Im folgenden Bild tritt sogar deutlich ein Ansatz zur Thematik zutage: bald hatten wir alles Beschränkende der Straßen, Thore, Brücken und Stadtgräben hinter uns gelassen, eine freie, weitausgebreitete Welt that sich vor den Unerfahrnen auf. Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknospen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende W e i ß der Baumblühte, alles gab mir den Vorschmack glücklicher paradiesischer Stunden (41).

Auch die auffallende Dreigliederung des Mittelteils ist nicht zufällig. Daneben ist freilich das Tektonische unverkennbar. D i e Einleitung ordnet im Gegensinn (hinter : vor). Dann wird der Satz völlig gestaut in schweren Kompositionen und parallel gestellten perfektischen Partizipien. Die drei langen Motivzeilen bewegt nur das folgende schwache gab. Verbal aber wieder wirken die genetivische Ordnung in allen drei Mittelzeilen und der hohe sinnliche Wortgehalt. A u c h das Adjektiv des Schlußsatzes erinnert an den Wertherstil. Noch vollkommener tut es das M o t i v : der liebliche D u f t gesammelter Frühlingsblumen schien immer erquicken-

der und balsamischer zu werden (42). D a n n gruppiert sich die L a n d -

schaft um das zentrale Erlebnis. Das Ich tritt träumerisch, trunken in den Kreis. Die Liebesanmutungen eines jungen Menschen sind eindringlich, aber unvergleichlich zart gestaltet: Wir setzten uns mit ein paar Angelruthen an eine schattige Stelle, wo im tiefen, ruhig klaren Wasser gar manches Fischlein sich hin und herbewegte (43) er •. übergab sich dem Strom und kam bis an mich in dem tieferen Wasser heran; mir war ganz wunderlich zu Muthe geworden. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen und goldschimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten und schwankten geisterartig zu meinen Füßen (44).

Die Interjektionen und das polysyndetische Drängen des frühesten Stils fehlen zwar. Alles ist stiller, konzentrierter und sinnlich plastischer geworden. Was dazu beitragen kann, wird aus dem Stil 237

des Werther beibehalten: Partikeln der egozentrischen Einkreisung (an mich . . heran, um mich her, zu meinen Füßen), Musik der labialen und nasalen Konsonanz im höchst intensivierten Verbum. Die viergliedrige Reihe der Motive ist zwar tektonischer Stil, der jedoch durch eine Steigerung besonderer Art wieder gelockert wird. Das dritte Glied nimmt ein Adjektiv z u sich und verbreitert die Präposition zur Ortsangebe, das vierte komponiert Adjektiv und Substantiv. A u c h der verbale Zwilling vereinigt beide Stilprinzipien (vgl. o. wallten und wogten). Selbst ein Zusatz wie er sie genannt hatte, an sich später Stil, ist hier doch ganz für das Persönliche, Intime eines Motivs fruchtbar gemacht. Das Nominale unterliegt hier dem Gefühlsmäßigen, Bewegten. M i t dem e r l e b e n d e n S u b j e k t w e c h s e l t der A u s d r u c k d e r L a n d s c h a f t v o l l k o m m e n . Zwei Buchseiten weiter sehen wir Wilhelm an der Hand einer Frau durch einen Blumengarten schreiten. Schauplatz und Person erinnern merkwürdig an Ottilie und ihr Gartenreich. U n d wäre die Sprache nur etwas weniger zuständlich und ordnend, dann könnte das Bild auch stilistisch den Wahlverwandtschaften angehören: Frühlingsblumen aller Art standen in zierlich gezeichneten sie ausfüllend oder ihre Ränder schmückend.

Feldern,

Meine Begleiterin war schön, blond und sanftmüthig, wir gingen verthraulich zusammen, faßten uns bald bei der Hand und schienen nichts Besseres zu wünschen. So gingen wir an Tulpenbeeten vorüber, an gereihten Narcissen und Jonquillen; sie zeigte mir verschiedene Stellen, wo eben die herrlichsten Hyacinthenglocken schon abgeblüht hatten. Dagegen war auch für die folgenden Jahrszeiten gesorgt; Schon grünten die Büsche der künftigen Ranunkeln und Anemonen; die auf zahlreiche Nelkenstöcke verwendete Sorgfalt versprach den mannichfaltigsten F l o r ; Näher aber knospete schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstängel gar weislich zwischen Rosen vertheilt. U n d wie manche Laube versprach nicht zunächst mit Geisblatt, Jasmin, reben- und rankenartigen Gewächsen Zu prangen und zu schatten (45f.).

Im nachdenklichen, von Bestimmungen gedehnten Verbum ist der Anklang an die Landschaft u m Ottilie wörtlich: so gingen wir 238

.. vorüber, dagegen war auch .. gesorgt, die .. verwendete Sorgfalt versprach, wie manche Laube versprach nicht. Es ist dieselbe M i schung von schlichter Nennung und Feierlichkeit. Wie dort ist das Fremdwort, das Kompositum, das breitwürfige Adjektiv mit Träger der meditativen Stimmung. Zuletzt nimmt das Motiv biblischen Faltenwurf (knospete, Hoffnung, gar weislich) und suggestives hexametrisches Schrittmaß. Der verbal gelöste Vorüberzug der beschaulichen Motive wird beschlossen von tönender Architektur, von klingenden Symmetrien (reben — und ranken, zu prangen und zu schatten) beschlossen. Energischer als irgendwo sonst in der späten Prosa wird in der Jugenderzählung Wilhelms die verbale Landschaft Werthers und die noch nicht erstarrte nominale der Wahlverwandtschaften zu einem letzten Aufleuchten gebracht.

Die Novelle (1828). D a zwischen dem tektonischenStilprinzip und der Beschreibungs landschaft die innere Wesensgemeinschaft der Aktionslosigkeit und geistig anschaubaren Ordnung besteht, kann jenes nur da in die letzten Konsequenzen eintreten und reine Endformen entwickeln, wo es durch eine deskriptive, verstandesmäßige Grundhaltung der Dichtung vor dem Einfluß des Gefühlsmäßigen, Verbalen geschützt ist. Das ist der Fall im ersten Teil der Wahlverwandtschaften und in noch höheremMaß in der Jagdnovelle, dein letzten, von langer Hand vorbereiteten, aber erst 1826—28 endgültig abgefaßten Zeugnis von Goethes Kunstprosa. Abgesehen von ganz geringen Zügen am Schluß erhebt sich das Landschaftsbild nirgends mehr z u m subjektiven Ausdruck. D a der ästhetische Aspekt so einheitlich ist, können wir die Betrachtung abkürzen, indem wir wie im Werther und in den Wahlverwandtschaften die stilistischenErscheinungen wieder auf die hauptsächlichen grammatischen Gruppen zusammenziehen. A u c h kann unsere Darstellung sich auf wenige Unterstreichungen beschränken, da jetzt jedes Stilgebilde nichts Vereinzeltes mehr ist, sondern vom Grunde alles bisher Dargelegten sich plastisch abhebt und für sich selber spricht. Die Zitate enthält W A I 18. Verglichen mit dem Umfang der Novelle ist die Zahl der nominal eingestellten Substantiwerbindungen noch erheblich gestiegen : Herbstnebel (315), Schloßhofes (315), Halbhelle (315), Gebirgsland . . Herbsttagen (316), Abendbeleuchtung (317), Baumarten (317), Hohlweg . . Ringmauern (318), Mauerwerk . . Thorthurmes (319), Felsgipfel . .

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Blätterschichten.. Hauptthurm (320), Jahrszeit.. Gartensaal (321), Wiesenthal (326, 332), Standpunct . . Zielpunct . . Baumgruppen (327), Morgensonne (327), Flächenraum (328), Gesichtskreis (332), Ringmauer . . Sonnenschein (338), Palmenwald (341), Mauerstücke (344), Ruinenlücke (347).

Fast alle sind ausgesprochene Sachkompositionen. Eine lyrische, verbale Auflösung in die genetivische Ordnung findet sich nur am Schluß: Strahlen der Sonne (347) und in der ins Fremde, Biblische gehobenen Sprechweise des Tierbändigers: Gesellen des Windes .. Gefährten des Sturms (341). In Dopplungen ist wie schon früher das ordnende Prinzip unterstrichen durch Gleichheit der Silbenzahl und der Laute (w = w, u = u): Thüren . . und Fenster (320), Wiesen und Mühlen (327), Platten und Trümmern 327), Thäler und Schluchten (337), Wald und Wiese (332); Licht- und Schattenmassen (317), Trutz- und Schutzbau (318), Stamm- und Wurzelarten (319), Aus- und Ansicht (321), Wald- und Wüstenstimme (325), Frucht- und Lustgärten (326), Fels- und Waldgipfel (327).

Das Schematische wird abgewehrt, indem zuweilen neben und innerhalb der Gegenordnungen ungerade Gliederung sich durchsetzt : über Busch, Berg und Waldgipfel (317), der glatte Ahorn, die rauhe Eiche, die schlanke Fichte mit Schaft und Wurzeln (319), welch eine schöne Aus- und Ansicht er in's Land, in Hof und Gemäuer . . hat (321), unsere regelmäßigen Parterre, Lauben und schattigen Gänge (321), A n schauen des Alten und Neuen, des Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen, und des Frischen, Schmiegsamen, Unwiderstehlichen (321), Bergbewohner, die zwischen Felsen, Fichten und Föhren . . Flachländer, von Hügeln, Auen und Wiesen her (324), das fürstliche Schloß mit seinen Theilen, Hauptgebäuden, Flügeln, Kuppeln und Thürmen (328), aus Grashalmen, Erdbröslein und Kiefernadeln (341).

Die lautliche Normierung (Busch = Berg, Un- = Un-, FelsenFichten = Föhren) und noch mehr die Korrespondenz im Umfang der Wortkörper ist überall deutlich. Aber auch darin ist der Grundtrieb erkennbar, daß über die Auflockerung durch ungerade Gliederung hinaus strenge Doppelordnung sich wieder durchsetzt, am stärksten in (321) und (324). Was das A d j e k t i v der Novelle bezeichnet, ergibt zusammengenommen den ä u ß e r s t e n G e g e n p o l z u m A d j e k t i v im W e r t h e r. Statt zu Charakteristik und intensiver Sinnlichkeit neigt es zu verallgemeinernder Typisierung in eintönigen und elativischen Formen: nach einer öden steinigen Fläche (318), eine steinige breite Fläche (327), den wüsten steinigen Hang hinunter (330), die steile steinige Strecke hinan (332), über die steinige Blöße (337), auf der leeren Fläche (337);

240

mächtige Bäume (320), die mächtigen Äste (319), die mächtige Ruine (327), mächtige Felsen . . in mächtigen Platten (327), mächtiger Fels (328), seit undenklichen Jahren (319), uralten Gipfel (319), uralte Bäume (340); die mächtigsten Stämme (319), in dem ernstesten Streit (319), den merkwürdigsten Platz (320), in die heiterste Gegend . . als größter Strom (326), die anmuthigsten Örtlichkeiten (326). D i e verbale W i r k u n g malender Ausdrücke (jener, dieser, alle, ganze u s w . ) , A f f e k t u n d E m p h a s e (un-Adjektiv) wird a u f g e g e b e n für anschaubare Deskription, die mißt, zählt u n d nach G a t t u n g e n ordnet: eigentliche Burg (319), verschiedenen . . Wurzelarten (319), die äußern Ringmauern (318), der höhern Ringmauer (338), die mittlere Höhe . . in den hinteren Gebirgen (337). •Die große M e h r z a h l der Adjektive aber geht, anstatt w i e i m großen L a n d s c h a f t s b i l d des verbalen Stils schmäler z u w e r d e n u n d z u v e r s c h w i n d e n , schwere K o m p o s i t i o n e n ein u n d beherrscht i n D o p p l u n g e n u n d strengen G e g e n o r d n u n g e n g e m e i n s a m m i t d e m N o m e n das S a t z b i l d : Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes (315), die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder (316), die hohen Ruinen der uralten Stammburg (317), die herbstliche Färbung jener mannichfaltigen Baumarten (317), indem alsdann die größten Licht- und Schattenmassen den deutlichsten Begriff von einem so ansehnlichen Denkmal alter Zeit (317), durch zufällige Lücken der hohen Bäume (327), das fürstliche Schloß links, . . nach der Rechten zu die untere Stadt, den Fluß in einigen Krümmungen, mit seinen Wiesen und Mühlen (327), ritten sie eine steinige breite Fläche hinan, wo ihnen die mächtige Ruine als ein grün gekrönter Gipfel entgegen stand, wenig alte Bäume tief unten um seinen Fuß (327), über neuen Baumgruppen das alte Schloß (327), Über die große Weite lag eine heitere Stille (329), kleine Steine und kurzes Gras (330), Die Sonne, beinahe auf ihrer höchsten Stelle, verlieh die klarste Beleuchtung (328), das fürstliche Schloß mit seinen Theilen . . die obere Stadt in ihrer völligen Ausdehnung (328), schien der heitere morgendliche Gesichtskreis umnebelt . . Wald und Wiese hatten einen wunderbar bänglichen Anschein (332) A u f das B e z e i c h n e n d s t e sind wir s c h o n in d e n W a h l v e r w a n d t schaften vorbereitet w o r d e n : nicht nur entwickelt sich das A d 16

Beiti.

241

jektiv einseitig und extrem zum Nominalen und seinem Ordnungsprinzip hin, es zieht auch das Verbum in seine kalte Umarmung, zwingt seinen wogenden Fluß zur Erstarrung, damit es als unbewegter Pfeiler mittrage an der Tektonik des Landschaftsbildes. Der Tod des Verbums ist das P a r t i z i p , besonders das perfektische; aber auch das präsentische enthüllt in der Tendenz zu beschwerender Bestimmung, zur Komposition und symmetrischen Ordnung eindeutig die Richtung zum Tektonischen, weg vom Dynamischen. Wenn wir noch beachten, wie das Adjektiv seinerseits ein reines Nomen zu werden strebt in Formen wie: das Steile, Jähe (328), Anschauen des Alten und Neuen, des Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen, und des Frischen, Schmiegsamen,

Unwiderstehlichen (321) usw. — zu welcher letzten Steigerung des nominalen Triebes die Wahlverwandtschaften noch kein Beispiel gaben — , dann zeigt die Novelle die dem Werther entgegengesetzte Stillinie: Verbum > Adjektiv > Nomen,* Bewegung > malende Bestimmung > Nennung. Partizipiale Komposition, Dopplung und Gegenordnung zeigen: Ferner sieht man . . Mauern angeschlossen und Zwinger terassenförmig herab sich erstreckend (319), wie kenntlich die verschiedenen Stamm- und Wurzelarten zwischen das Mauerwerk verflochten und die mächtigen Äste durch die Lücken durchgeschlungen s i n d ^ i g ) , die zwischen dem Gemäuer ungehindert und ungestört durch lange Jahre emporstrebten (317), ein zufällig-einziges Lokal, wo die alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur sich in dem ernstesten Streit erblicken lassen (319), Tiefe Blätterschichten wegräumend haben wir den merkwürdigsten Platz geebnet gefunden (320), Ein aufwärts leitendes Wiesenthal, erst vor kurzem zum zweitenmale gemäht, sammetähnlich anzunehmen von einer oberwärts, lebhaft auf einmal reich entspringenden Quelle gewässert (326), das fürstliche Schloß links, von der Morgensonne beleuchtet; den wohlgebauten höhern Theil der Stadt von leichten Rauchwolken gedämpft (327),

242

Mächtige Felsen standen von Urzeiten her, jedem Wechsel unangetastet, fest, wohlgegründet voran (327), dießseits das bergartig terassenweis unterbrochene, jenseits das aufgleitende flache und in mäßigen Hügeln abwechselnde fruchtbare Land (328), nun schien der . . Gesichtskreis umnebelt, ihre Augen verdüstert (332), In das friedliche Thal einreitend, seiner labenden Kühle nicht achtend (332).

A n den meisten partizipialen Dopplungen ist auch das erstarrte Adjektiv (terassenförmig, sammetähnlich usw.) beteiligt. Einfache partizipiale Ausdrücke im Bild der Landschaft sind neben den gegenordnenden verhältnismäßig selten. Der Posten, den im späteren Stil das V e r b u m selbst noch hält, ist ein verlorener. A u c h bereits in den Wahlverwandtschaften beobachten wir die Verwandlung der bewegenden Präposition in bloß orientierende, ihre Loslösung vom Verbum, Verselbständigung zu breiten Formen, in denen sich die Tendenz zu nominaler Komposition und Ordnung, ja zum Übergang ins Nomen verrät: von der Seite (320), nach der Rechten zu (327), in bedeutender Entfernung (327), von dem Flusse herauf in einiger Höhe (317), hie und da . . da und dort (318), hie und da . . sachte aber entschieden (320), an Ort und Stelle (320), statt zum Hinterthore bergauf, zum Vorderthore bergunter (323)-

Das Verbum selbst stimmt in allem Negativen überraschend mit den Formen der Beschreibungslandschaft in den Wahlverwandtschaften überein. Wir finden dieselben abgeblaßten Formen: wissen, sehen, schauen, erblicken, bemerken, kommen, erreichen, gelangen, eintreten, besteigen, verleihen, fähren, gehen, aussehen, liegen, gränzen, schauen, scheinen, sein. Die Entpersönlichung durch man ist häufig und das umständliche Reflexivpronomen tritt zu bewegen, erblicken, sehen, andrängen, zeigen, stellen, schieben, finden, rühren, thärmen, erstrecken. Wie in jenem Roman wird das Verbum zerschlagen und zur Hälfte substantiviert: Betrachtungen anstellen, Aussicht haben, Augen spielen lassen, Ansichten gewähren, Begriff geben, Glück und Gelegenheit finden, An- und Aussicht bereiten. D a ß sich die Präposition, wo sie zum Verbum tritt, zum Zuständlichen hin und in auffallend breiter Form entwickelt, ist nicht zufällig: hineindringen, herumschlängeln, daran vorbeidringen; sich aufwärts thürmen, sich hintereinander schieben, entgegenstehen, entgegenstellen, emporwachsen, emporstreben, hervorragen, hervortreten, 16*

343

entgegenstemmen. Besonders in der Vorstellung hintereinander, entgegen, herum staut sich die Bewegung. Während im Fluß des dynamischen Stils der S a t z als das Element in Erscheinung tritt oder doch empfunden wird, das die in den einzelnen Worten aufgespeicherten Motive bewegt und rhythmisiert, wird er im tektonischen Stil immer unsichtbarer. In den reinsten Ausformungen dieses Stils ist er nurmehr der Grundriß, der sich im tektonischen Gebäude des Nomens erfüllt und damit für sich selbst zu existieren aufhört. W o der Satz doch noch unter sich getrennt Ordnungen zu verbinden hat, geschieht es in wenigen einfachen und überdies fast s c h e m a t i s c h angewandten Formen. Das relative wo fanden wir schon in Stücken der Wanderjahre. Jetzt häuft es sich gleich dem als, das scheinbar temporal zusammenhängende Dinge verknüpft, in Wirklichkeit aber ein willkommenes Mittel ist, um über landschaftliche Motive mit langen oder kurzen Schritten hinwegzuschreiten, wie es die objektive, im Herzen naturfremde Handlung verlangt. Das antithetische aber tut denselben Dienst, vermag aber noch deutlicher im nominalen Sinn gegenzuordnen, besonders im kurzatmigen Vorausgang von einschränkendem zwar: alsdann aber vor sich noch . . sahen (327), Rückwärts aber . . erblickten sie (327), Aber das Steile . . scheint (328), Nach allem diesem aber ist es immer noch bemerkenswerth (320). Aber auch hier verweilt man bequem (320); Aussicht . . die zwar . . überging, aber sich doch noch . . schob (328), an einem zwar noch schmalen . . Wasser, das aber nach und nach . . sollte (326), Inwendig . . findet sich . . , aber doch haben mächtige Bäume (320); wie . . sich entgegen stemmte, und wie doch . . weichen . . mußte (318), hierauf nun steht . . ein T h u r m , doch niemand wüßte (319), Ferner sieht man . . . Doch ich sage nicht recht, denn (319).

Bis zu welchem Grade über die Wahlverwandtschaften noch hinaus die verbale, polysyndetische Bewegung sich in nominale, reihende, unterbrechende Ordnung verwandelt hat, sollen nur zwei Beispiele zeigen. Das zweite begleiten wir mit den schematischen Skizzen, die Goethe für die Abfassung der Novelle entworfen hat. Die gänzliche Stagnation des Aktiven, Strömenden im Satz und seine sekundäre Wiederaufrichtung durch rein verstandesmäßige, nicht mehr z u erfühlende Partikeln illustriert der erste: Hier, wo man . . gelangt, steigt . . ; hierauf nun steht . . . Ferner sieht man . . sich erstreckend. Doch ich sage nicht recht, denn es ist • •;

244

seit hundert und fünfzig Jahren . . emporgewachsen wo ihr E u c h . . andrängt . . ; um diese müssen wir uns herumschlängeln und . . führen. Seht nur wie trefflich . . ! E s ist eine Wildnis wie keine . . ( 3 1 8 f . ) .

In dem älteren Schema zur „ J a g d " , das in WA I 18. 482 ff mitgeteilt ist, finden sich folgende Skizzen zum großen Ausflug in der Novelle: (im Original untereinander) . . 35. Ins Freye 36. Anmuthiger Weg 37. Gärten 38. Stieg 39. Gebüsch 40. Darauf Wald 41. Erste Höhe 42. Rückblick 43. Schöne Gegend 44. Oberer Theil des alten Schlosses sichtbar aber umnebelt 45. Abwärts 46. Halb von Wald bedeckt 47. Neues Schloß 48. Oberer Stadttheil 49. Fluß hie und da 50. Herrliche Landschaft. — Im Satz der Novelle erscheinen die Motive so: . . als man, zum T h o r hinausgelangt, in die heiterste Gegend eintrat (35). Der W e g (36) führte zuerst am Flusse hinan, an einem zwar noch schmalen . . Wasser, das aber . . sollte. Dann ging es weiter durch wohlversorgte Frucht- und Lustgärten (37) sachte hinaufwärts, und man sah sich nach und nach . . um, bis erst ein Busch (39) sodann ein Wäldchen (40) . . aufnahm. Ein aufwärts leitendes Wiesenthal . . . . empfing sie freundlich und so zogen sie einem höheren freieren Standpunct (41) entgegen, den sie, aus dem Walde (40) sich bewegend, . . erreichten, alsdann aber vor sich noch in bedeutender Entfernung über neuen Baumgruppen (46) das alte Schloß . . sahen. Rückwärts (42) aber . . erblickten sie . . das fürstliche Schloß (47) . . den wohlgebauten höhern Theil der Stadt (48) . . den Fluß in einigen Krümmungen (49) . . gegenüber eine weite nahrhafte Gegend (50), (326/27).

Wenn wir die, trotz der Erweiterung und Ausschmückung im Einzelnen, im wesentlichen der Komposition doch strenge P a r a l l e l e v o n S c h e m a und A u s f ü h r u n g wahrnehmen und daneben den sprachlichen Stil der Kompositionen, perfektischen Partizipien, der zahlreichen inaktiven Bestimmungen des ohnehin schwachen Verbums, endlich die Gegenordnung innerhalb eines gehemmten Satzflusses auf uns wirken lassen, dann wird die Wesensgemeinschaft von gedanklicher Beschreibungslandschaft und tektonischem Stil endgültig überzeugend.

245

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