Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts 3166383328, 9783161602863, 9783166383323

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Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts
 3166383328, 9783161602863, 9783166383323

Table of contents :
Titel
Vorwort
Aus dem Vorwort zur 1. Auflage
Inhalt
Abkürzungen
I. Kapitel: Grundlagen
§ 1: Internationales Privatrecht (Begriff, Eigenart, Name)
§ 2: Einheitsrecht
§ 3: Entscheidungsrecht und Verweisungsrecht
§ 4: Die Fragestellung des IPR
§ 5: Gerechtigkeit im IPR
§ 6: Entscheidungseinklang
§ 7: Lex fori – Heimwärtsstreben
§ 8: Völkerrecht
§ 9: Rechtsvergleichung
§ 10: Geschichte
II. Kapitel: Der Tatbestand der Kollisionsnorm
§ 11: Kollisionsnormen
§ 12: Typenbildung oder Individualisierung?
§ 13: Qualifikation
§ 14: Gegenstand der Qualifikation
§ 15: Qualifikationsstatut
§ 16: Teilfrage – Erstfrage
§ 17: Form und Inhalt
III. Kapitel: Allgemeines zur Anknüpfung
§ 18: Anknüpfungsmomente
§ 19: Kumulation
§ 20: Maximen der Anknüpfung
§ 21: Schutz wohlerworbener Rechte
§ 22: Favor negotii – Günstigkeitsprinzip
§ 23: Territorialität
§ 24: Das Recht des charakteristischen Inhalts
§ 25: Fraus legis
IV. Kapitel: Zu einzelnen Anknüpfungen
§ 26: Anknüpfung des Personalstatuts
§ 27: Staatsangehörigkeit
§ 28: Domizil
§ 29: Gewöhnlicher Aufenthalt
§ 30: Handlungsort
§ 31: Belegenheit
§ 32: Flagge
§ 33: Parteiautonomie
§ 34: Hypothetischer Parteiwille
V. Kapitel: Sonderfragen der Anknüpfung
§ 35: Rückverweisung
§ 36: Renvoi-freundliche und -feindliche Anknüpfungen
§ 37: Versteckte Rückverweisung
§ 38: Näherberechtigung – Selbstbeschränkung
§ 39: Statutenwechsel
§ 40: Unwandelbarkeit
§ 41: Interlokales Privatrecht
§ 42: Interpersonales Recht
VI. Kapitel: Die Anwendung fremden Rechtes
§ 43: Der Vorgang der Anwendung fremden Rechtes
§ 44: Umfang der Anwendung fremden Rechtes
§ 45: Gegenseitigkeit und Vergeltung
§ 46: Vorfrage – Substitution
§ 47: Anpassung
§ 48: Hinkende Rechtsverhältnisse
§ 49: Ordre public – Ausweichklausel
§ 50: Grundrechte
§ 51: Besondere Vorbehaltsklauseln
§ 52: Ersatzrecht
VII. Kapitel: Verfahren
§ 53: Internationales Zivilverfahrensrecht
§ 54: Gerichtsbarkeit – „Wesenseigene Zuständigkeit“
§ 55: Internationale Zuständigkeit
§ 56: Kriterien der internationalen Zuständigkeit
§ 57: Forum causae – forum legis (Gleichlauf)
§ 58: Anerkennung fremder Verfahren
Nachwort: Kodifizierung des IPR?
Register der Staatsverträge und des Einheitsrechtes
Gesetzesregister
Entscheidungsregister
Sachregister

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BEITRÄGE ZUM AUSLÄNDISCHEN UND INTERNATIONALEN PRIVATRECHT

HERAUSGEGEBEN VOM

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES PRIVATRECHT Direktor: Professor Dr. Konrad Zweigert

30

DIE GRUNDBEGRIFFE DES INTERNATIONALEN PRIVATRECHTS

von

PAUL HEINRICH NEUHAUS

2.,

neubearbeitete und erweiterte Auflage

ARTIBUS

INGHgN

"ul

J39CQBAM-t

I-8-O-I

19 7 6

J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Neuhaus, Paul Heinrich Die Grundbegriffe des internationalen Privatrechts. 2., neubearb. u. erw. Aufl. - Tübingen: Mohr, 1976. (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht; 30) ISBN 3-16-638332-8 / eISBN 978-3-16-160286-3 unveränderte eBook-Ausgabe 2022 ISSN 0340-6709

© Paul Heinrich Neuhaus J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1962 Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Gulde-Druck, Tübingen Einband: Großbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

A. N. MAKAROV 1888-1973

Vorwort Das Buch faßt im wesentlichen zusammen, was ich im Laufe von drei Jahrzehnten zum Internationalen Privat- und Prozeßrecht geschrieben habe - zum System abgerundet und auf den neuesten Stand gebracht. Im Vordergrund stehen die Fragen des Allgemeinen Teils, die in allen Ländern in gleicher Weise auftreten und für das Verständnis des IPR unentbehrlich sind; von Land zu Land verschiedene Einzelheiten werden nur beispielshalber herangezogen. Gegenüber der 1. Auflage von 1962 sind außer zahlreichen kleineren Ergänzungen zehn Paragraphen hinzugekommen: über die Geschichte des IPR, die Anknüpfungsmomente „Handlungsort“ und „Flagge“, über Grundrechte, ein Kapitel über Internationales Verfahrensrecht sowie ein neues Nachwort über Kodifizierung des IPR. Außerdem wurde das I. Kapitel „Grundlagen“ stark umgearbeitet, damit es der neuesten Ent­ wicklung Rechnung trägt: Während die 1. Auflage das überkommene IPR, das damals noch ziemlich unangefochten war, vor allem darstellen und erklären sollte, will die neue Auflage es angesichts vielfacher Kritik rechtfertigen und seine Lebensfähigkeit zeigen. Mein Dank gilt allen, die inner- und außerhalb des Max-Planck-In­ stituts für ausländisches und internationales Privatrecht durch Rat und Kritik zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Dem Direktor des Instituts, Professor Dr. Dr. h. c. Konrad Zweigert, danke ich beson­ ders für die weitgehende Freistellung von anderen Pflichten. Mein Insti­ tutskollege Privatdozent Dr. Jan Kropholler hat mich mit beharrlicher Geduld erst zum Schreiben, dann - nach Durchsicht des Entwurfs zum Streichen ermuntert und viele Verbesserungen beigesteuert. Frau Rechtsanwältin Christa Heining hat mir durch Überprüfung zahlloser Zitate sehr geholfen; Dr. Carlos Bueno Guzmän und Dr. Peter Dopffel haben die Korrekturen mitgelesen. Die Widmung an A. N. Makarov gilt nicht nur dem Meister und älte­ ren Freund, dem ich persönlich so viel verdanke, sondern dem Vorbild

an lauterster Sachlichkeit und europäischer Weite des Geistes, das er für alle Internationalrechtler war und bleibt. Das Manuskript ist im November 1975 abgeschlossen; einzelne Daten wurden nachgetragen. Hamburg, im Juni 1976

H. N.

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Der Titel dieses Buches ist ein Bekenntnis zur Bedeutung klarer Be­ griffe für das Internationale Privatrecht. Das ist nicht im Sinne einer vergangenen Begriffsjurisprudenz gemeint, die den Begriffen schöpferi­ sche Kraft zur Ausfüllung der Lücken des Gesetzes zuschrieb. Ander­ seits auch nicht im Sinne einer restlosen Festlegung des geltenden Rechts in einem geschlossenen System: Fortbildung und zeitentsprechende Wandlung des Rechts müssen möglich bleiben, und sie sind letztlich Sa­ che des rechtlichen Gewissens. Es hieße jedoch, dieses Gewissen - anders gesagt das Rechtsgefühl - überfordern und zugleich die Rechtssicher­ heit in bedenklichem Maße gefährden, wollte man alle nicht positiv­ rechtlich geregelten Fragen unmittelbar der persönlichen Entscheidung des Richters überlassen. Dies gilt gerade für das Internationale Privat­ recht, dessen gesetzliche Normierung so viele Fragen offenläßt und das dabei so wenig das spontane Rechtsempfinden anspricht, weil es die streitigen Sachverhalte meistens nicht unmittelbar regelt, sondern nur die zur Regelung berufene Rechtsordnung bestimmt. Große Meister die­ ses Fachs mögen sich in ihren Lösungen, unbekümmert um logische Er­ wägungen, von ihrem auf reicher Erfahrung beruhenden Gespür für ein angemessenes Ergebnis leiten lassen. Aber der durchschnittliche Jurist, der nur gelegentlich mit dem Internationalen Privatrecht zu tun hat und daher einen geringeren Überblick über die möglichen Verästelungen der Probleme hat, und erst recht der Student als Anfänger brauchen ratio­ nal faßbare und erlernbare Regeln, nach denen sie die Fälle zunächst einmal schulmäßig lösen können; die Prüfung des erzielten Ergebnisses auf seine Billigkeit sowie die Entscheidung der von den Regeln nicht er­ faßten Fragen sollen erst am Schlüsse stehen.

Inhalt Abkürzungen...................................................................................................... XII

I. Kapitel: Grundlagen § § § § § § § § § §

1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10:

Internationales Privatrecht (Begriff, Eigenart, Name)................. Einheitsrecht.......................................................................................... Entscheidungsrecht und Verweisungsrecht..................................... Die Fragestellung des IPR................................................................. Gerechtigkeit im IPR.......................................................................... Entscheidungseinklang......................................................................... Lex fori - Heimwärtsstreben.............................................................. Völkerrecht........................................................................................... Rechtsvergleichung.............................................................................. Geschichte..............................................................................................

1 8 20 29 41 49 63 71 79 87

II. Kapitel: Der Tatbestand der Kollisionsnorm § § § § § § §

11: 12: 13: 14: 15: 16: 17:

Kollisionsnormen.................................................................................. Typenbildung oder Individualisierung?......................................... Qualifikation...................................................................................... Gegenstand der Qualifikation.......................................................... Qualifikationsstatut .......................................................................... Teilfrage - Erstfrage.......................................................................... Form und Inhalt..................................................................................

97 108 113 118 123 133 142

III. Kapitel: Allgemeines zur Anknüpfung § § § § § § § §

18: 19: 20: 21: 22: 23: 24: 25:

Anknüpfungsmomente.......................................................................... Kumulation........................................................................................... Maximen der Anknüpfung.................................................................. Schutz wohlerworbener Rechte..................................................... Favor negotii - Günstigkeitsprinzip.................................................. Territorialität...................................................................................... Das Recht des charakteristischen Inhalts......................................... Fraus legis...........................................................................................

150 153 160 170 174 179 188 193

IV. Kapitel: Zu einzelnen Anknüpfungen § § § § § § § § §

26: 27: 28: 29: 30: 31: 32: 33: 34:

Anknüpfung des Personalstatuts......................................................... 201 Staatsangehörigkeit................................................................................. 208 Domizil.................................................................................................. 220 Gewöhnlicher Aufenthalt.................................................................. 225 Handlungsort...................................................................................... 235 Belegenheit.......................................................................................... 244 Flagge .................................................................................................. 248

Parteiautonomie...................................................................................... 251 Hypothetischer Parteiwille..................................................................... 263

V. Kapitel: Sonderfragen der Anknüpfung § § § § § § § §

35: 36: 37: 38: 39: 40: 41: 42:

Rückverweisung.....................................................................................268 Renvoi-freundliche und -feindlicheAnknüpfungen.............................274 Versteckte Rückverweisung.................................................................... 282 Näherberechtigung - Selbstbeschränkung........................................... 286 Statutenwechsel..................................................................................... 292 Unwandelbarkeit.................................................................................... 301 Interlokales Privatrecht......................................................................... 306 Interpersonales Recht............................................................................ 315

VI. Kapitel: Die Anwendung fremden Rechtes § § § § § § § § § §

43: 44: 45: 46: 47: 48: 49: 50: 51: 52:

Der Vorgang der Anwendung fremden Rechtes................................ 322 Umfang der Anwendung fremden Rechtes........................................ 335 Gegenseitigkeit und Vergeltung............................................................. 341 Vorfrage - Substitution......................................................................... 344 Anpassung .............................................................................................. 353 Hinkende Rechtsverhältnisse.................................................................359 Ordre public - Ausweichklausel......................................................... 363 Grundrechte............................................................................................. 378 Besondere Vorbehaltsklauseln ................................................................ 383 Ersatzrecht.............................................................................................. 388

VII. Kapitel: Verfahren § § § § § §

53: 54: 55: 56: 57: 58:

Internationales Zivil verfahrensrecht..................................................... 395 Gerichtsbarkeit - „Wesenseigene Zuständigkeit“............................. 398 Internationale Zuständigkeit.................................................................. 406 Kriterien der internationalen Zuständigkeit..................................... 415 Forum causae - forum legis (Gleichlauf)................................................. 424 Anerkennung fremder Verfahren..........................................................433

Nachwort: Kodifizierung des IPR?

442

Register der Staatsverträge und des Einheitsrechtes......................................... 451 Gesetzesregister...................................................................................................... 453 Entscheidungsregister.......................................................................................... 461 Sachregister.......................................................................................................... 465

Abkürzungen 1. Abgekürzt zitierte Schriften

Dicey/Morris Gamillscheg, Int.ArbeitsR

= On the Conflict of Laws9 (London 1973) = Internationales Arbeitsrecht (Arbeitsverweisungsrecht) (1959) IPG = Gutachten zum internationalen und ausländischen Pri­ vatrecht Kahn, Abhandlungen = Abhandlungen zum internationalen Privatrecht I und II (1928) Kegel, IPR = Internationales Privatrecht, Ein Studienbuch3 (1971) Kropholler, EinheitsR = Internationales Einheitsrecht, Allgemeine Lehren (1975) Makarov, Allg. Lehren = Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts (1962) Mugdan = Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetz­ buch für das Deutsche Reich I (1899) Neuhaus, Verpflichtungen = Die Verpflichtungen des unehelichen Vaters im deut­ schen internationalen Privatrecht (1953) Raape, IPR = Internationales Privatrecht5 (1961) Rabel, Aufsätze = Gesammelte Aufsätze II (1965), III (1967) -, Conflict = The Conflict of Laws, A Comparative Study I (Ann Arbor 1945, 2. Aufl. 1958), II (1947, 2. Aufl. 1960), IV (1958) = Das Problem der Qualifikation: RabelsZ 5 (1931) -, Qualifikation 241 ff. = Aufsätze II 189 ff. (auch als Sonderausgabe Darmstadt 1961) = American Law Institute, Restatement of the Law Restatement2 Second, Conflict of Laws 2d, I und II (1971) = Rechtsvergleichendes Handwörterbuch für das Zivil­ Rvgl. Hwb. und Handelsrecht des In- und Auslandes = System des heutigen Römischen Rechts VIII (1849, Savigny auch Nachdruck Darmstadt 1956) = Handbuch des Internationalen Privatrechts4 I (Basel Schnitzer, IPR 1957), II (1958) Staudinger (-Gamillscheg) — Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch10, n, EGBGB Teil 3 (= Sonderausgabe Interna­ tionales Privatrecht II; 1972) = Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen Vorschläge ... internationalen Eherechts (1962), ... Kindschafts-, Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts (1966), ... Erbrechts (1969), .. . Personen- und Sachenrechts (1972) = Das internationale Privatrecht Deutschlands3 (1954) M. Wolff, IPR = Private International Law2 (Oxford 1950) ---- , Priv.Int.L. = Sources of International Uniform Law - Sources du Zweigert/Kropholler droit uniforme international - Quellen des internatio­ nalen Einheitsrechts I (Leiden 1971)

Hier nicht aufgeführte Periodica sind abgekürzt nach RabelsZ, Gesamtregister für Jg. 1 (1927) - 25 (1960) und Zeitschriftenverzeichnis (1966), bzw. anglo-amerikanische Entscheidungssammlungen in der üblichen Form. ABGB Abk. AB1.EG a.E. a.F. AG AktG ALR Amtsbl. App. BAnz. BArbG BayObLG Bespr. bespr. BeurkG BG BGB BGH BSozG BT-Drucksache BVerfG B-VG B.W. c. can. Cass. C.c. C.civ. C.I.C.

C.I.E.C.

C.J. Cmd., Cmnd. C.nav. C.p.c. C.pen. D D.I.P., d.i.p.

Disp.prel. Diss. DVO ebd. E.C.E. EG

= (österr.) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch = Abkommen = Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften = am Ende = alter Fassung = Amtsgericht = Aktiengesetz = Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten = Amtsblatt = Appellationsgericht = Bundesanzeiger = Bundesarbeitsgericht = Bayerisches Oberstes Landesgericht = Besprechung = besprochen = Beurkundungsgesetz = (Schweizer) Bundesgericht = Bürgerliches Gesetzbuch = Bundesgerichtshof = Bundessozialgericht = Bundestagsdrucksache = Bundesverfassungsgericht = (österr.) Bundes-Verfassungsgesetz = (niederländ.) Burgerlijk Wetboek = contra = canon, canones = Cour de Cassation = Code civil, Cdigo civil = Codice civile = Codex Iuris Canonici = Commission Internationale d’Etat Civil = Chief Justice = Command Paper (Paper represented by command of Her Majesty) = Codice della navigazione = Code de procedure civile, Codice di procedura civile = Cdigo penal = Digesta = Derecho internacional privado, Diritto internazionale privato, Droit international prive = Disposizioni preliminari = Dissertation = Durchführungsverordnung = ebendort = Economic Commission for Europe = Einführungsgesetz zum/zur

EG EWG FamGB FamRÄndG FGG Fs. G GBl. GG GleichberG GVG GWB HGB IGH ILR Institut

= = = = = = = = = = = = = = = =

Int.Enc.Comp.L = = IPG = IPR IZR J. JN J.O. Kass. KG KO L.cost. LG MilRegG mschr. N. NAG

= = = = = = = = = = = = =

N.B.W. NEG N.F. n.F. O OG OGH OLG OLGZ OR OVerwG Prot.

= = = = = = = = = = = =

Rb. = Rev.roum.sci.soc. = RGW =

Europäische Gemeinschaft(en) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Familiengesetzbuch Familienrechtsänderungsgesetz Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Festschrift, Festgabe, Liber amicorum etc. Gesetz Gesetzblatt Grundgesetz Gleichberechtigungsgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Handelsgesetzbuch Internationaler Gerichtshof Interlokales Recht Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht International Encyclopedia of Comparative Law Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht Internationales Privatrecht, Internationalprivatrecht, Internatio­ naal Privaatrecht Internationales Zivilverfahrensrecht Judge, Justice Jurisdiktionsnorm Journal officiel Kassationsgericht Kammergericht Konkursordnung Legge costituzionale Landgericht Gesetz der Militärregierung maschinenschriftlich(e) Fußnote (Schweizer) Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhält­ nisse der Niedergelassenen und Aufenthalter (niederländ.) Nieuw Burgerlijk Wetboek Nichtehelichengesetz Neue Folge neuer Fassung Ordnung Obergericht Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Obligationenrecht Oberverwaltungsgericht Protokolle der Kommission für die 2. Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs Arrondissements-Rechtbank Revue roumaine des Sciences sociales, Serie de Sciences juridiques Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon)

Abkürzungen RIW/AWD

RuStAG Rvgl.Hwb.

Rz. s. s. a. SchKG seil. s. d. sec. secs. StAngG Stat.Jb. Stbl. s.v. Trib. (corr.) Übereink. VerwG VO VOB1. Vorschläge Wet A.B. WEU ZGB ZPO ZSchweizR ZVG

XV

= Recht der Internationalen Wirtschaft, Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters = Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz = Rechtsvergleichendes Handwörterbuch für das Zivil- und Han­ delsrecht = Randzahl = siehe = siehe auch = Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz = scilicet = siehe dort = section = sections = Staatsangehörigkeitsgesetz = Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland = Staatsblad = sub verbo = Tribunal (correctionnel) = Übereinkommen = versus = Verwaltungsgericht = Verordnung = Verordnungsblatt = Vorschläge und Gutachten zur Reform = Wet houdende Algemeene Bepalingen = Westeuropäische Union = Zivilgesetzbuch = Zivilprozeßordnung = Zeitschrift für schweizerisches Recht, Neue Folge = Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung

I. Kapitel: Grundlagen § 1: Internationales Privatrecht (Begriff, Eigenart, Name)

I.

Der Begriff des internationalen Privatrechts ist ein dreifacher, d. h. er kann auf dreierlei Weise verstanden werden: 1. Internationales Privatrecht im Wortsinn ist international geltendes Privatrecht, im günstigsten Falle Weltrecht, jedenfalls „mehrstaatliches“ Privatrecht1. Es wird am besten als „internationales Einheitsrecht“ be­ zeichnet2 und umfaßt z. B. das einheitliche Wechsel- und Scheckrecht der Genfer Abkommen von 1930/313 oder das einheitliche Gesetz über den internationalen Warenkauf von 19644. (Näheres siehe unten § 2: Einheitsrecht.)

2. Internationales Privatrecht in einem weiten, ungenauen Sinne ist alles Recht, das private Verhältnisse mit einem internationalen Element, mit einer „Außenbeziehung“ betrifft, d. h. Recht für solche privatrecht­ lichen Sachverhalte, die über den räumlichen Geltungsbereich einer ein­ zelnen nationalen (staatlichen) Rechtsordnung hinausreichen. Hierzu ge­ hören etwa Vorschriften für Im- und Exportverträge oder für national gemischte Ehen. Diese Normen können zugleich internationales Privatrecht im Wort­ sinn sein (so z. B. das genannte einheitliche Kaufgesetz). Sie können aber auch rein nationales Recht darstellen, z. B. Regeln über die Rechtsstel­ lung von Ausländern im Inland (sog. Fremdenrecht, Näheres unten § 3 I 1 b) oder über die Behandlung ausländischer Nachlässe. (Näheres hierzu siehe unten § 3: Entscheidungsrecht und Verweisungsrecht.) 3. Internationales Privatrecht im engeren, technischen Sinne (abge­ kürzt IPR) ist ein Teil des zu 2. umschriebenen Rechtes: Es regelt die Sachverhalte mit internationalem Einschlag nicht unmittelbar, son­ dern dadurch, daß es auf eine der berührten Rechtsordnungen verweist (daher: Verweisungsrecht). Anders ausgedrückt, das IPR umgrenzt den Anwendungsbereich der einzelnen Rechtsordnungen (deshalb: Rechtsan1 3

Ein Ausdruck von Martin Wolff, IPR 4. 2 Vgl. Kropholler, EinheitsR 6 ff. Unten N. 33. 4 Unten N. 32.

1 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

wendungsrecht), und zwar sowohl der inländischen wie der fremden, so­ weit diese im Inland zum Zuge kommen. Es stellt damit sozusagen ein Recht über Rechten dar, jedenfalls in seiner Funktion, wenn auch im all­ gemeinen nicht seiner Herkunft nach. Das letztgenannte IPR im engeren Sinne - auch Kollisionsrecht ge­ nannt (vgl. unten III 2) - ist der Hauptgegenstand dieses Buches. Als Zubehör des IPR im engeren Sinne werden unter dieser Bezeichnung vielfach auch Staatsangehörigkeits-, Fremden- und Internationales Zivilverfah­ rensrecht behandelt. Die Zurechnung des Staatsangehörigkeitsrechtes zum IPR stammt aus einer Zeit, als es keinen allgemeinen Begriff der Staatsangehörig­ keit gab, sondern je eine besondere Staatsangehörigkeit für Zwecke des Privat­ rechts - die naturgemäß zum IPR gehörte - und für das öffentliche Recht5. Zum Internationalen Zivil verfahrensrecht siehe unten das VII. Kapitel. II. Die Eigenart des IPR im engeren Sinne ergibt sich aus seiner Funk­ tion als Recht über Rechtsordnungen. Darin liegt sein besonderer Reiz begründet, aber auch seine Problematik. (Dabei ist das IPR in den mei­ sten Staaten nur zum geringeren Teil durch Gesetzgebung oder bindende Präjudizien festgelegt, so daß Wissenschaft und richterliche Rechtsfin­ dung hier ein besonders reiches Betätigungsfeld haben.) Zum einen hat das IPR im Gegensatz zu dem sonstigen innerstaatli­ chen (internen) Recht grundsätzlich mit mehreren Rechtsordnungen zu tun und lenkt auf diese Weise unsern Blick über die Grenzen der heimi­ schen Rechtsordnung hinaus. Insoweit steht das IPR der Rechtsverglei­ chung nahe. Beide erfüllen heute eine erzieherische Aufgabe, wie sie frü­ her vor allem der Rechtsphilosophie und der Rechtsgeschichte zukam: Die hier und jetzt positiv geltende heimische Rechtsordnung wird relati­ viert durch die Betrachtung anderer, inhaltlich abweichender Normen, seien diese von der Rechtsphilosophie theoretisch entworfen oder von der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung empirisch in andern Zeiten und Räumen vorgefunden. Außerdem bewegt sich das IPR weithin auf einer höheren Ebene der Abstraktion als die einzelnen materiellen Rechtsordnungen, die es gegen­ einander abgrenzt. Insofern ist es dem Prozeßrecht vergleichbar, das den Streit um einen materiellrechtlichen Anspruch in einem formellen Verfahren ordnet, ohne dabei unmittelbar auf die sachliche Begründung 5 Vgl. dazu Makarov, Allg. Lehren 103 ff.

dieses Anspruchs abzustellen. Diese hohe Abstraktheit des IPR übt auf viele eine Faszination aus. Aber sie führt auch in die Gefahr, den Boden der konkreten Tatsachen und anerkannten Werte unter den Füßen zu verlieren. Die Verbindung dieser beiden Merkmale - Beziehung zu mehreren Rechts­ ordnungen und Abstraktheit - begegnet außer beim IPR wohl nur beim In­ ternationalen Zivilverfahrensrecht, das in seinem wesentlichen Teil ein Recht über Gerichten darstellt (vgl. unten § 53 III).

Die Höhe der Kompliziertheit erreicht das IPR dort, wo vor der Wahl des maßgebenden materiellen Rechts erst noch das anzuwendende Kollisionsrecht bestimmt werden muß, wo also gleichsam ein „Kolli­ sionsrecht der zweiten Potenz“ entsteht (siehe unten § 35: Rückverwei­ sung, § 38: Näherberechtigung, § 41: Interlokales Recht). Man versteht daher jenes „bitterböse Wort eines gescheiten französischen Romanisten“, das Max GUTZWILLER einmal anführt6: „La theorie en Droit in­ ternational prive.: c’est un combat de ngres, le soir, dans un tünnel.“ Ähn­ lich das vielzitierte Wort von Prosser7 über das IPR als düsteres Moor mit viel schwankendem Sumpfboden: „The realm of the conflict of laws is a dismal swamp filled with quaking quagmires, and inhabited by learned but eccentric Professors who theorize about mysterious matters in a stränge and incomprehensible Jargon. The ordinary court, or lawyer, is quite lost when engulfed and entangled in it.“ Oder man nennt das IPR kurzerhand auf deutsch „eine Er­ findung spintisierender Professoren“8.

Dennoch - das IPR ist unentbehrlich, solange zwischen den Län­ dern, die am internationalen Rechtsverkehr teilnehmen, nicht volle Rechtseinheit besteht. Denn Gerechtigkeit und Rechtssicherheit verbie­ ten es ebenso, auf Vorgänge mit überwiegender Auslandsbeziehung im­ mer nur inländisches Recht anzuwenden, wie auch, die Entscheidung über das anwendbare Recht von Fall zu Fall allein nach einem notwen­ dig subjektiven Urteil über das inhaltlich „bessere“ Recht zu treffen. (Näheres unten § 5: Gerechtigkeit.) Alle bisherigen Versuche, das IPR wesentlich zu vereinfachen, haben bei näherem Zusehen enttäuscht9. Zwischen esoterischer Lust an der Kompliziertheit und den Forderungen der „terribles simplificateurs“ gilt es die Mitte zu finden. 6 Max GUTZWILLER, RabelsZ 11 (1937) 326. 7 Prosser, Mich. L. Rev. 51 (1952/53) 971. 8 Berichtet bei Gentinetta, Die lex fori internationaler Handelsschiedgerichte (Bern 1973) 31. 9 Näheres unten bei und in N. 129.

III. Die Namensfrage steht immer noch offen.

1. Der hunderjährige, hundertmal bekämpfte deutsche Name „Inter­ nationales Privatrechta ist eine mißglückte Übersetzung von „private international law“10 (französisch „droit international prive“ im Gegen­ satz zum „droit international public“, dem Völkerrecht). Er ist immer­ hin insofern praktisch, als sich zu ihm bequem alle gewünschten Unterund Parallelbegriffe bilden lassen, nämlich als Unterbegriffe: Interna­ tionales Personen-, Schuld-, Sachenrecht usw., als Parallelbegriffe: In­ ternationales Verfahrens-, Verwaltungs-, Strafrecht, interlokales (inter­ kantonales, interzonales, intersektorales), interpersonales (interkonfes­ sionelles, intergentiles), intertemporales Recht u. a. m. Anderseits ist „Internationales Privatrecht“ etwas schwerfällig, besonders in der ad­ jektivischen Form „internationalprivatrechtlich “ (nicht zu reden von den sprachlichen Mißgeburten „iprechtlich“ und „IPR-lich“). In der Sache ist die Bezeichnung „IPR“ zweifach irreführend: Zum einen ist dieses Recht nicht notwendigerweise internationales Recht, sondern größtenteils rein nationales, staatliches Recht (bis auf et­ liche Staatsverträge und allenfalls einzelne Normen eines internationa­ len Gewohnheitsrechtes, vgl. unten § 8: Völkerrecht). Ernst Rabel spricht daher geradezu von einem „lucus a non lucendo“11. Die übliche Erklärung, das IPR sei zwar nicht immer seiner Quelle und Na­ tur nach, aber doch nach seinem Gegenstand internationales Recht, da es sich auf internationale Sachverhalte bezieht - diese Erklärung ist sprachlich un­ sauber; man bezeichnet ja z. B. auch eine Zeitschrift nicht deshalb schon als in­ ternational, weil sie internationale Gegenstände behandelt. Freilich sind andere Ausdrücke der Rechtssprache ähnlich anfechtbar, z. B. „bürgerliches Recht“ und „öffentliches Recht“; aber diese Bildungen - wenn sie schon falsch sind - erregen doch keinen Irrtum, da wohl niemand im einen Fall an ein von Bürgern geschaffenes Recht oder im andern Fall an einen Gegensatz zu irgend­ welchem privat gebildeten Recht denkt. Die Bezeichnung „internationales Pri­ vatrecht“ dagegen wird von jedem Uneingeweihten zunächst einmal im Sinne eines wirklich (seiner Quelle und Natur nach) internationalen Rechtes mißver­ standen12. 10 Vgl. Story, Commentaries on the Conflict of Laws (Boston 1834) § 9: „This branch of public law may... be fitly denominated private international law.“ Die deutsche Form findet sich erstmals bei Schaeffner, Entwicklung des internationa­ len Privatrechts (Frankfurt a. M. 1841). 11 Rabel, RabelsZ 1 (1927) 41 = Aufsätze II 42. 12 Eben deshalb schreibt man besser „Internationales Privatrecht“ als terminus tech-

Zum andern verleitet das Wort „international“ - und das gilt nicht nur für Laien - zu der irrigen Annahme, das Internationale Privat­ recht betreffe nur internationale, also mehrere souveräne Staaten berüh­ rende Sachverhalte, während für solche Sachverhalte, die zu mehreren partikularen Rechtsordnungen eines und desselben Staates Beziehungen aufweisen, ein besonderes „interlokales“ Recht bestehen müsse, das dem IPR zwar ähnlich, aber nicht mit ihm identisch sei. Von diesem Irrtum ist weiter unten zu reden (§ 41: Interlokales Privatrecht). Nach dem Gesagten ist es wohl allzu optimistisch, wenn erklärt wird: „Es scheint, daß der sicherlich falscheste von allen [Namen], nämlich ,Internatio­ nales Privatrecht*, noch der am wenigsten gefährliche ist, weil jeder weiß, daß und wie falsch er ist.“13 Richtig ist der Name Internationales Privatrecht dagegen in seinem zweiten Bestandteil „Privatrecht“. Alles Recht, das private Beziehungen regelt, ohne den Staat als Hoheitsträger einzubeziehen, ist Privatrecht, auch wenn es zugleich - wie das IPR - den Anwendungsbereich ver­ schiedener Privatrechtsordnungen gegeneinander abgrenzt14. Unerheb­ lich ist dabei die äußere Stellung der Normen des IPR: ob sie im laufen­ den Text des Zivilgesetzbuchs stehen (so z. B. in Frankreich), in einer Einleitung mit besonderer Artikelzählung (so in Italien), im Einfüh­ rungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (u. a. in Deutschland und Brasilien) oder in einem Spezialgesetz (so etwa in Polen und der Tsche­ choslowakei). Früher bestand eine verbreitete Neigung, bei der Abgrenzung von „droit in­ ternational privec und „droit international public^ jedes Rechtsverhältnis dem IPR zuzurechnen, an dem auch nur auf einer Seite eine Privatperson beteiligt ist (z. B. prozeß-, devisen-, steuer- und strafrechtliche Verhältnisse), um das „droit international public“ auf das klassische Völkerrecht zu beschränken, d. h. auf das Recht der Beziehungen zwischen Staaten und ihnen gleichgestell­ ten juristischen Personen15. Heute besteht dieser Sprachgebrauch im allgemei­ nen nicht mehr; nur gelegentlich werden noch einzelne Fragen des Internatio­ nicus mit großem Anfangsbuchstaben, dagegen nicht die parallelen Bezeichnungen „in­ terlokal“ usw., bei denen ein Mißverständnis nicht zu befürchten ist. 13 So Wiethölter, Einseitige Kollisionsnormen als Grundlage des IPR (1956; bespr. in RabelsZ 23 [1958] 365 ff.) 111. 14 Die Einordnung des IPR als Privat- oder öffentliches Recht kann in einem Bun­ desstaat für die Gesetzgebungskompetenz erheblich sein; siehe etwa Beitzke, GG und IPR (unten N. 130) 5-10. 15 So vertrat K. Neumeyer seit 1901 die These: „Das internationale Verwal­ tungsrecht ist ein neu zu begründender Zweig des internationalen Privatrechts“; siehe Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV (1936) Vorwort S. III.

nalen Verfahrens- oder Verwaltungsrechtes mangels klarer Abgrenzung zum IPR gezählt16. Es fehlt jedoch an einer zusammenfassenden Bezeichnung für diese Nachbargebiete des IPR. Der Ausdruck „internationales öffentliches Recht“ birgt die Gefahr einer Verwechslung mit dem „droit international pu­ blic“ als Völkerrecht; und die Bezeichnung „öffentliches Kollisionsrecht“ (im Gegensatz zu „privates Kollisionsrecht“)17 erweckt den Eindruck, als komme es auf den Charakter dieser Normen als öffentliches Recht (bzw. Privatrecht) an­ statt auf den Gegenstand an. Da außerdem die Unterscheidung von Privat­ recht und öffentlichem Recht im Ausland zum Teil unbekannt und auch in Deutschland umstritten ist, verzichtet man wohl besser auf einen Sammelna­ men für das Internationale Verwaltungs-, Straf- und Verfahrensrecht.

2. Von den sonstigen Bezeichnungen für das IPR im technischen Sin­ ne ist keine als gleichwertig oder gar überlegen anzusehen. Jedoch sollte schon aus Gründen der Kontinuität und der oft wünschenswerten Ab­ wechslung im Ausdruck jeder einmal eingebürgerte Name geduldet wer­ den; im folgenden wird insbesondere die Bezeichnung „Kollisionsnorm“ für eine Vorschrift des IPR oft verwendet. Nur muß man sich der Schwächen der einzelnen Bezeichnungen bewußt sein. Des näheren ist zu ihnen folgendes zu sagen: Die Namen „Kollisionsrecht9 und „Konfliktsrecht9 haben eine alte Tradi­ tion18. Aber für die Gegenwart sind sie nicht nur insofern ungeschickt, als sie den Laien an Schiffskollisionen bzw. Arbeitskonflikte denken lassen. Sie er­ wecken auch die falsche Vorstellung, daß jeder Sachverhalt, der mehrere Rechtsordnungen berührt, eine „Kollision“ bzw. einen „Konflikt“ dieser Rechtsordnungen verursache. Das träfe nur dann zu, wenn jede Rechtsordnung den Anspruch erhöbe, möglichst oft (oder möglichst selten) angewandt zu wer­ den. Davon kann aber keine Rede sein. Und soweit tatsächlich Kollisionen drohen, ist es die vornehmste Aufgabe des IPR, sie zu vermeiden19; erst an 16 Zuletzt befürwortete im Ergebnis die Wiederherstellung des alten, weiten Sprachgebrauchs (unter Einbeziehung auch des Internationalen Straf- und Steuer­ rechts) Vallindas, Droit international priv ,lato sensu' ou ,stricto sensu', in: Mlanges Maury I (1960) 509 ff.; ders., La structure de la regle de conflit: Rec. des Cours 101 (1960-III) 327 (336). 17 So etwa BGH 17. 12. 1959, BGHZ 31, 367 (370 f.) = IzRspr. 1958-59 Nr. 136, im Anschluß an Niederer, Schw. Jb. Int. R. 11 (1954) 93*. 18 In Deutschland dominiert der erste Ausdruck seit Hertius, Dissertatio de collisione legum (1688). Im anglo-amerikanischen Bereich spricht man unter dem Einfluß des Niederländers Ulricus Huber, De conflictu legum (1684), vom „[law of the] conflict of laws“ oder einfach „conflicts law“, neuerdings eingedeutscht zu „Kon­ fliktsrecht“. 19 Vgl. den treffenden Titel der französischen „Loi pr^venant [!] et rglant les conflits entre la loi franaise et la loi locale d’Alsace et Lorraine...“ vom 24. 7. 1921 (J. O. 26. 7. 1921).

zweiter Stelle steht die Entscheidung über eingetretene Kollisionen mit den Geltungsansprüchen fremder Vorschriften (wenn man einen solchen Anspruch überhaupt zur Kenntnis nimmt, siehe unten § 4 II 1). Endlich sind die Aus­ drücke „Kollisionsrecht“ und „Konfliktsrecht“ nicht charakteristisch für das Internationale Privatrecht, sondern treffen auch die Bestimmungen über das je­ weils anwendbare Verfahrens-, Verwaltungs-, Strafrecht usw. Das letztgenannte Bedenken gilt ebenfalls für die Bezeichungen »Rechtsan­ wendungsrecht“ und „Verweisungsrechta (oder auch „Zuweisungsrecht“), von denen’die eine dem Inhalt des IPR entspricht, die andere sein charakteristi­ sches Mittel angibt. Außerdem klingt das Wort „Rechtsanwendungsrecht“ schwerfällig - desgleichen die Neubildung „Heranziehungsnorm“20. Ebenso unspezifisch für das Privatrecht ist ‘der englische Name „choice of law“, dessen wörtliche Übersetzung „Rechtswahl“ übrigens im deutschen Sprach­ raum speziell für die freie Wahl des anzuwendenden Rechts durch die Betei­ ligten üblich ist (sog. Parteiautonomie, unten § 33), weniger für die Funktion des IPR im ganzen. Der Ausdruck „transnational law“ ist von Jessup wohl be­ wußt nicht zur besseren Unterscheidung, sondern gerade umgekehrt als Zusam­ menfassung verschiedenster Disziplinen propagiert worden21. Ähnliches gilt von „ins privatum gentium“22. * Der Name „Außenprivatrechta22 macht nicht deutlich, auf welche Weise der Sachverhalt mit Außenbeziehung geregelt werden soll; daher kann dieser 20 So Schnitzer, IPR I 46. 21 Jessup, Transnational -Law (New Haven, Conn., 1956) 2: „Both public and private international law are included, as are other rules which do not wholly fit into such Standard categories.“ Dazu Vallindas, Int. Comp. L. Q. 8 (1959) 630: „in­ ternational pantheism". - Anscheinend kannte Jessup nicht den von Walker, IPR6 (Wien 1934) 13, referierten Sprachgebrauch: W. spricht vom „sogenannten ,transnationalen* Privatrecht“ als dem „international gemeinsamen Privatrecht“, das „auf Grund geschichtlicher Ereignisse oder auf Grund völkerrechtlicher Übereinkommen entstanden“ ist (offenbar im Anschluß an GUTZWILLER, Internationalprivatrecht, in: Stammler, Das gesamte deutsche Recht [1931] 1548, während ders.. Int. Jb. f. Schiedsgerichtswesen 3 [1931] 131, „das völkerrechtliche und das transnationale (ge­ meinsame) IPR“ unterschieden wissen will, ebenso „das völkerrechtliche und das transnationale materielle Privatrecht“). - In Anlehnung an Jessup und an den Ausdruck „intermunicipal law“ von Harrison (1879) - vgl. Frederic Harrison, On Jurisprudence and the Conflict of Laws (1919) 6, 130 ff. - sprach OKÜN von „Trans-municipal Law“ (Ankara 1968). Diese Bezeichnung sollte deut­ lich machen, daß auch interterritoriales und interpersonales Recht zum Kollisionsrecht gehören, und sollte das Verhältnis der verschiedenen Rechte von „legal entities operating on different levels“ miterfassen, also das von Kegel, IPR 20, so genannte „Rang­ Kollisionsrecht“, welches Partikularrechte (einzelstaatliche, kantonale usw.), Gesamt­ staats-, Staatengemeinschafts- und Völkerrecht abgrenzt (siehe unten § 11 VI). 22 Diese Bezeichnung wurde geprägt als Titel der Festschrift für Rheinstein (1969), die außer IPR und Einheitsrecht auch internes Recht vieler Länder umfaßt. 28 So schon Raape in Staudingers Kommentar zum BGB9 VI/2 (1931) 29. Vgl. jetzt das „Außensteuergesetz“ vom 8.9.1972, BGBl. I 1713.

Name nicht für das IPR im technischen Sinne empfohlen werden, wenn es auf dessen Eigenart ankommt. Außerdem ist er schwer übersetzbar24. — Zu den äl­ teren Bezeichnungen „Grenzrecht^ und »zwischenstaatliches“ oder „Zwischenprivatrechta siehe die Vorauflage (S. 6 f.).

S 2: Einheitsrecht Internationales Einheitsrecht25 kann einheitliches materielles Recht oder einheitliches Kollisionsrecht sein. Von letzterem soll später gespro­ chen werden (unten § 6 V). Hier ist nur materielles Einheitsrecht ge­ meint. I.

Ein Welt-Privatrecht, d. h. eine weltweit geltende und inhaltlich um­ fassende Rechtsordnung, gibt es - entgegen der Annahme vieler Laien - bis heute nicht. 1. Das allgemeine Völkerrecht, das für die ganze Welt gilt, enthält kaum Privatrecht (siehe unten § 8). 2. Das sog. Naturrecht, dem von seinen Anhängern ebenfalls uni­ verselle Geltung zugeschrieben wird, betrifft zwar im Gegensatz zum Völkerrecht das Privatrecht nicht weniger als das öffentliche Recht. Aber es umfaßt - darüber besteht heute wohl Einigkeit unter den ver­ schiedenen Richtungen - nur die obersten Grundsätze des Rechts (Pri­ vateigentum, Ehe usw.). Es hat nicht die Aufgabe, durch eingehende Einzelbestimmungen das positive Recht der Staaten entbehrlich zu ma­ chen oder auch nur zu ergänzen.

3. Das römische Recht des Corpus Iuris schließlich, das gerade auf dem Gebiet des Privatrechts jahrhundertelang in großen Teilen Europas und der überseeischen Kolonien als subsidiäres gemeines Recht neben den örtlichen Partikularrechten gegolten hat, ist durch die staatlichen Kodifikationen seit dem Josephinischen Gesetzbuch Österreichs von 24 Vgl. Deutsch, AcP 165 (1965) 182: „zerstört den Gleichklang in den ver­ schiedenen Sprachen“. - In der Vorauflage (S. 7) habe ich diesen Ausdruck für das materielle Sonderrecht empfohlen; der Vorschlag hat jedoch keinen Anklang gefunden. 25 Vgl. hierzu auch Kropholler, EinheitsR, der allerdings als internationales Ein­ heitsrecht nur solches Recht gelten läßt, dessen Einheitlichkeit beabsichtigt ist (1 f.), das mit anderen Worten auf gezielter Rechtsvereinheitlichung beruht (17).

1786 - dem Vorläufer des ABGB von 181126 - fast überall außer Kraft gesetzt worden und hat nur noch sehr beschränkte praktische Gel­ tung. Römisches Recht gilt in Deutschland noch für vereinzelte Fragen des Lan­ desrechts, in Schottland wohl mehr nominell als wirksam neben dem vorherr­ schenden case law, in manchen Teilen Spaniens als lokales Recht, in Italien und andern romanischen Ländern als Auslegungshilfe unter dem Namen der „allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung“ (vgl. Art. 12 II Disp. prel. C. civ.), in Südafrika und Ceylon von der niederländischen Kolonialzeit her als römisch-holländisches Recht, das teilweise vom englischen Common Law ver­ drängt oder durch neueres Richterrecht ersetzt ist, und im Orient zum Teil als Personalstatut der orthodoxen Christen. Vor allem fehlt es dem römischen Recht seit Inkrafttreten des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches an einer Wissenschaft und einer Rechtsprechung, die es als geltendes gemeines Recht eines großen Landes pflegen und den wechselnden praktischen Bedürfnissen anpassen. Weder Völkerrecht noch Naturrecht noch römisches Recht bieten also ein universales Privatrecht.

II.

Statt dessen gibt es räumlich und sachlich beschränkte Ansätze eines wirklich internationalen PrivatrechtSy und zwar entsteht dieses „Privat­ recht auf internationaler Ebene“27 in vier Gestalten:

1. Durch übereinstimmende Rechtsetzung mehrerer Staaten sind in­ ternational einheitliche Gesetze geschaffen worden - früher „gemein­ sames“ oder „allgemeines“ Recht genannt im Gegensatz zu dem aus ein­ heitlicher Quelle fließenden „gemeinen“ Recht, heute gern auf englisch oder französisch als „uniform law“ oder „loi uniforme“ bezeichnet28. Solche Gesetze gibt es vor allem für die von Zweigert öfter als „weitläu­ fig“ bezeichneten Materien des internationalen Geschäftsverkehrs (Wechsel- und Scheckrecht, See-, Luft-, Eisenbahn- und Straßenver­ 28 Siehe etwa Korkisch, Die Entstehung des österreichischen Allgemeinen Bür­ gerlichen Gesetzbuchs: RabelsZ 18 (1953) 263 (280 f.). 27 Ein Ausdruck von Rabel, in: Um Recht und Gerechtigkeit, Festgabe für E. Kaufmann (1950) 309 = Aufsätze III 369. 28 Im IPR bezeichnet man als loi uniforme vielfach nur solches Einheitsrecht, das nicht allein gegenüber den anderen Vertragsstaaten gilt, also unter der Bedingung der Gegenseitigkeit, sondern allseitig und das demgemäß die entsprechenden nationalen Kollisionsnormen völlig verdrängt.

kehrsrecht. Gewerblicher Rechtsschutz, Niederlassungsrecht) und des Arbeitsrechts, aber auch im Bereich des bürgerlichen Rechts einschließ­ lich des oft als „typisch national bedingt“ und „bodenständig“ angese­ henen Familienrechts 29. Im Hinblick auf die vielfach gleichartig verlaufenden nationalen und inter­ nationalen Entwicklungen hat man geradezu von „ Konstanten der Rechtsvereinheitlichunga gesprochen und dabei angeführt, daß die Vereinheitlichung stets bei den erstgenannten Materien beginne und das bürgerliche Recht erst später erfasse29 30. Jedoch darf das - wie jede solche „Gesetzmäßigkeit“ - nicht zu wörtlich genommen werden31.

Zum Teil erfaßt die Rechts Vereinheitlichung nur spezifisch internatio­ nale Sachverhalte (so das einheitliche Kaufrecht32, das nur für „inter­ nationale“ Käufe gilt), zum Teil aber auch - wie schon erwähnt - rein innerstaatliche Vorgänge (so z. B. das einheitliche Wechsel- und Scheck­ recht33). Bestimmend ist für das Bemühen um Rechtsvereinheitlichung bald das Interesse an der Rechtssicherheit, die durch Ausschaltung der (oft schwierigen) Entscheidung zwischen divergierenden nationalen Rechten gefördert wird (so typisch beim Wechsel- und Scheckrecht), bald das übereinstimmende rechtspolitische Interesse der beteiligten Staaten, gewisse Rechtsgrundsätze nicht nur im Anwendungsbereich des eigenen Rechtes verwirklicht zu sehen (etwa für internationale Trans­ porte)34. 29 Zur Vereinheitlichung des Familienrechts siehe etwa Neuhaus, Europäisches Familienrecht?, in: Vom deutschen zum europäischen Recht, Festschrift Dölle II (1963) 419 ff.; ders., Europäische Vereinheitlichung des Eherechts, Ein Gutachten für den Europarat: RabelsZ 34 (1970) 253 ff. 30 Limpens, Les constantes de l’unification du droit priv: Rev. int. dr. comp. 10 (1958) 277 ff. 31 Siehe z. B. das UN-Übereinkommen über die Erklärung des Ehewillens, das Hei­ ratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen vom 10. 12. 1962, BGBl. 1969 II 162 = ZWEIGERT/KROPHOLLER I Nr. 108, sowie das Europäische (= Eu­ roparats-) Übereinkommen über die Adoption von Kindern vom 24. 4. 1967, ZWEIgert/Kropholler I Nr. 112: beide sind den Bemühungen der betreffenden Orga­ nisationen um die Vereinheitlichung des Handelsrechts vorausgeeilt. 32 Einheitliches Gesetz über den internationalen Kauf beweglicher Sachen sowie Einheitliches Gesetz über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über be­ wegliche Sachen, beide vom 1. 7. 1964, BGBl. 1973 II 886 bzw. 919 =ZWEIgert/Kropholler I Nrn. 137 f. 33 Einheitliches Wechselgesetz und Einheitliches Scheckgesetz vom 7. 6. 1930 bzw. 19. 3. 1931, RGBl. 1933 II 378, 538 = ZWEIGERT/KROPHOLLER I Nrn. 180, 183. 34 Lemhöfer, Kritische Übersicht der Gegenstände, für die bisher eine interna­ tionale Rechtsvereinheitlichung erreicht oder versucht worden ist, in: Deutsche Lan­ desreferate zum VI. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung (1962) 151 (160-164).

Im einzelnen ist hervorzuheben: a) Vorbereitet wird die Rechts Vereinheitlichung am besten durch in­ tensive Rechtsvergleichung. Diese gibt einerseits einen Überblick über die vorhandenen Lösungsmöglichkeiten und die damit gemachten Erfah­ rungen, anderseits läßt sie erkennen, welches Maß der Umstellung ein einheitliches Gesetz den einzelnen beteiligten Ländern abfordert. Schon unter dem ersten Gesichtspunkt kann die vorbereitende Rechtsverglei­ chung sich nicht etwa auf einige „führende“ oder „Mutter“-Rechtsord­ nungen beschränken; denn erfahrungsgemäß finden sich oftmals beson­ ders anregende Spezialregelungen in Rechtsordnungen, die sonst nicht zu den höchstentwickelten gerechnet werden35.

b) Die Einführung von Einheitsrecht geschieht überwiegend aufgrund staatsvertraglicher Vereinbarungen. In diesen werden vielfach ausdrück­ lich Vorbehalte der Vertragsstaaten zu einzelnen, besonders umstrittenen Punkten zugelassen, damit weder die Mehrheit auf diese Punkte ver­ zichten muß noch eine unnachgiebige Minderheit von dem Vertrag ganz ausgeschlossen wird36. (Näheres zu den Staatsverträgen unten § 8 III.) Zum Teil erfolgt die Rechtsvereinheitlichung aber auch (besonders zwi­ schen den Nordischen Staaten) ohne jede formelle Abmachung aufgrund unverbindlicher gemeinsamer Beratungen. Überhaupt ist für die Rechts­ vereinheitlichung - auch zur Überwindung der Schwierigkeiten, die erst nach Setzung des Einheitsrechtes auftreten - der entschiedene Wil­ le aller Beteiligten wichtiger als die staatsvertragliche Bindung, die ja doch meistens durch Kündigung abgestreift und durch die Praxis sabo­ tiert werden kann. Als Argument zur Überwindung prestigebedingter Hemmungen ge­ genüber der Rechtsvereinheitlichung (besonders in Bundesstaaten, aber auch im überstaatlichen Bereich) kann man sagen: Je eher die einzelnen Staaten sich zu einer freiwilligen Rechtsvereinheitlichung bereit finden, desto weniger brauchen sie zu fürchten, später von zentralistischen bzw. 86 Vgl. die Abschwächung der ursprünglichen Faustregel bei ZWEIGERT/KÖrz, Einführung in die Rechtsvergleichung I (1971) 40 f. 86 Eine besonders ausgewogene Regelung enthält das Europäische Adoptionsab­ kommen (oben N. 31) in Art. 25: Von den „wesentlichen Bestimmungen* des Vertra­ ges, die in seinem Teil II enthalten sind, kann jeder Vertragspartner höchstens zwei (beliebige) zum Gegenstand eines Vorbehaltes machen. Vorbild dieser Klausel ist of­ fenbar Art. 20 I der Europäischen Sozialcharta vom 18. 10. 1961 (BGBl. 1964 II 1262): Jeder Vertragsstaat muß 5 der 7 wichtigsten Artikel annehmen und insgesamt 10 von 19 Artikeln oder 45 von 72 Absätzen.

supranationalen Tendenzen zu einer radikalen ZwangsVereinheitlichung bedroht zu werden. Zu den »Entwicklungskosten“ des Einheitsrechtes - wie jeden na­ tionalen Gesetzes - gehört die Erprobung in der Praxis einschließlich der ersten Prozesse um die Auslegung mehrdeutiger Bestimmungen. Man versteht, daß Wirtschaftsunternehmen sich nicht gern an diesen Kosten beteiligen, wenn die Vorteile des neuen Rechtes nicht überragend sind, und daher z. B. nach Einführung des Einheitlichen Kaufgesetzes (oben N. 32) gern die Möglichkeit ausnutzen, seine Anwendung abzubedingen (Art. 3) und vorerst beim wohlbekannten nationalen Recht zu bleiben.

c) Die international gleichmäßige Auslegung der Abkommen wird er­ leichtert - umgekehrt gesagt: die von Bartin31 so genannte „dformation nationale des textes conventionnels" wird eingeschränkt -, wenn eine Übersetzung der internationalen Texte in diejenigen Landessprachen der Vertragspartner, die nicht als authentische Vertragssprachen gelten, ent­ weder ganz unterbleibt37 38 oder wenn sie wenigstens für Länder gleicher Sprache so weit gemeinsam erfolgt, wie es die Verschiedenheit der spezi­ fischen Rechtssprachen erlaubt39. (Eine der vielen möglichen Fehler­ quellen bei Übersetzungen liegt darin, daß leicht übersehen wird, wenn eine Abkommensnorm bewußt gleichlautend mit einer entsprechenden Norm eines anderen Abkommens formuliert ist40.) Folgende zehn weitere Methoden zur Sicherung einer einheitlichen Ausle­ gung sind für die Abkommen des Europarates allein in den Jahren 1957 bis 1966 vorgeschlagen worden41: vorherige Vereinheitlichung gewisser juristischer Grundbegriffe, allgemeine Verbesserung der redaktionellen Vorbereitung, Ein­ fügung einer Vertragsklausel über einheitliche Auslegung, periodische Berichte 37 Bartin, Rec. des Cours 31 (1930 - I) 614. 38 Dies empfiehlt für seerechtliche Abkommen Grenander, in: Liber amicorum... Bagge (Stockholm 1956) 88, weil bei den Interessenten dieser Abkommen die Kenntnis der englischen oder der französischen Sprache vorausgesetzt werden könne. 39 Die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz mühen sich nach Broda, ÖJZ 1963, 479, im Wege von Übersetzungskonferenzen um möglichst ein­ heitliche deutsche Übersetzungen internationaler Abkommen; vgl. Frhr. von Schwind, Z. f. Rvgl. 9 (1968) 161: Übersetzungskommision für ein Übereinkom­ men der C. I. E. C.; neuestens RabelsZ 39 (1975) 343 N.*: Teilnahme auch der DDR an einer Übersetzungskonferenz im Februar 1975. 40 MAKAROV, Betrachtungen zum Europäischen Niederlassungsabkommen, in: Mlanges Andrassy (La Haye 1968) 165 (177 N. 2): Die deutsche Übersetzung des Abkommens vom 13. 12. 1955 (BGBl. 1959 II 998) übersieht die Übereinstimmungen mit dem Haager Zivilprozeßabkommen vom 1. 3. 1954 (BGBl. 1958 II 577). 41 Nach WlEBRINGHAUS, L’interprtation uniforme des conventions du Conseil de l’Europe: Ann. fr. dr. int. 12 (1966) 455 (459 f.).

über die Auslegung, Einrichtung einer Informationsstelle für die einschlägige Rechtsprechung, Schaffung eines Systems zur Revision der Abkommen, Ein­ richtung einer beratenden Kommission für Auslegungsfragen, Einführung vor­ prozessualer Vermittlungsverfahren, Schaffung eines besondern Gerichts, Ver­ leihung entsprechender Kompetenzen an ein bestehendes Gericht. - Einzelhei­ ten würden hier zu weit führen.

Wo Lücken des Textes nach denjenigen Grundsätzen zu füllen sind, die ihm selbst zugrunde liegen (siehe etwa Art. 17 des Einheitlichen Kaufgesetzes), sind dabei auch die methodischen Grundsätze seiner Verfasser zu beachten42 - sei es etwa die bevorzugte Anlehnung an eine bestimmte nationale Rechtsordnung, sei es die rechtsvergleichende Aus­ wertung mehrerer Rechtsordnungen 43. d) Von fehlteschlagener Rechtsvereinheitlichung kann man sprechen, wenn die Auslegung eines einheitlichen Gesetzes oder die Ausfüllung ei­ ner nicht beabsichtigten Lücke seines Textes in konstanter Rechtspre­ chung verschiedener beteiligter Länder uneinheitlich erfolgt. Dann sind die mehreren Auslegungen wie verschiedene nationale Gesetze nach den Regeln des IPR zu behandeln. Auf solche Weise kann man wenigstens noch zu internationaler Entscheidungsgleichheit für den Einzelfall ge­ langen, indem derselbe Sachverhalt überall nach derselben Version des Einheitsrechtes beurteilt wird44. Unentwegte Anhänger der materiellen RechtsVereinheitlichung lehnen jedoch diesen Ausweg ab und bestehen darauf, daß eine einheitliche Auslegung erzielt werden müsse45. Auch sonst besteht neben den Verträgen zur materiellen Rechtsvereinheitli­ chung eine Auffangfunktion des IPR, nämlich bezüglich der ausdrücklich of­ fengelassenen Nebenfragen und vielfach im Verhältnis zu Nicht-Vertragsstaa­ ten. Es ist daher sehr sinnvoll, wenn einem Abkommen zur Vereinheitlichung des materiellen Rechts sogleich ein Abkommen zur Vereinheitlichung des Kol­ 42 Vgl. Dölle, Bemerkungen zu Art. 17 eines Einheitsgesetzes über den Interna­ tionalen Kauf, in: Festschrift Ficker (1967) 138 (144 f.). 43 Auch hier hat die Wissenschaft vorzuarbeiten. Vgl. Ermacora, Probleme der europäischen Rechts Vereinheitlichung: Z. f. Rvgl. 9 (1968) 99 (106): „Die Wissenschaft hätte gegenüber manchen Fehlerquellen der Praxis eine Präventivfunktion, der Rich­ terspruch hat eine Korrektivfunktion.“ 44 Dies gilt besonders dann, wenn neben materiellem Einheitsrecht ein einheitliches IPR-Gesetz zur Verfügung steht, z. B. neben dem Genfer einheitlichen Wechsel- und Scheckrecht (oben N. 33) die entsprechenden Kollisionsabkommen (RGBl. 1933 II 444 bzw. 594 = ZWEIGERT/KROPHOLLER I Nrn. 181, 184) oder neben dem Einheitli­ chen Kaufgesetz (oben N. 32) das Haager Kauf-IPR-Abkommen von 15. 6. 1955. 45 Zum ganzen Paul Lagarde, Les interpretations divergentes d’une loi unifor­ me donnent-elles lieu ä un conflit de lois?: Rev. crit. 53 (1964) 235 ff.; KROPHOLler, EinheitsR 204 ff.

lisionsrechts auf dem betreffenden Sachgebiet zur Seite gestellt wird46; insofern kann die materielle Rechtsvereinheitlichung auch die Vereinheitlichung des Kollisionsrechts fördern.

e) Zu warnen ist vor einem unerleuchteten Regionalismus, speziell Bilateralismus47, der aus Freude an einer engeren Gemeinsamkeit die Ent­ wicklung in der übrigen Welt ignoriert. Er kann eine Regelung staats­ vertraglich fixieren bzw. zu einer Rechtsanwendung führen, die bei ei­ ner weiterreichenden Rechtsvergleichung leicht als veraltet zu erkennen wären, oder gar bewußt eine engere Interessengemeinschaft auf Kosten anderer schaffen48. 2. Durch inter- oder supranationale Rechtsetzung entsteht das Recht internationaler Organisationen (das sog. „interne Staatengemeinschafts­ recht“49). Als dessen aktuellstes Beispiel ist das Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft zu nennen: Im Gegensatz zu allen früheren Staatenge­ meinschaften, die höchstens ihre eigene privatrechtliche Tätigkeit regeln konnten (einschließlich der Rechtsverhältnisse ihrer Angestellten), ent­ hält das Wettbewerbs- und Konzernrecht der Europäischen Gemein­ schaft privatrechtliche Vorschriften für die Geschäftsbeziehungen der betroffenen Unternehmen, und diese Vorschriften können durch die Gesetzgebung des Ministerrats wie der Kommission und durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes weiterentwickelt wer­ den50. Jedoch fällt nicht alles Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft in diese Kategorie. Zum Teil bedient sie sich auch der traditionellen Form rechtsverein­ heitlichender Staats Verträge51. 46 Vgl. wiederum die Genfer Wechsel- und Scheckabkommen (oben N. 44). 47 Zu bilateralen Verträgen im Kollisionsrecht siehe auch unten § 8 III 1. 48 Ein Beispiel der letztem Art bildet das EG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968 (BGBl. 1972 II 774), das zwar im internen Verhältnis der Vertrags­ staaten die diskriminierenden sog. exorbitanten Gerichtsstände (vgl. dazu unten N. 144) ausschaltet, aber gegenüber Außenstehenden ihnen die Anerkennung der Vertrags­ partner sichert (Artt. 3 II, 26 I, 28 III). 49 Verdross, Völkerrecht5 (1964) 4, 222; zur Sache schon von der Heydte, Jus gentium und jus inter gentes: Jur. Bl. (Wien) 1933, 33 ff.; neuerdings Bernhardt/ Miehsler, Qualifikation und Anwendungsbereich des internen Rechts internationaler Organisationen (BerDGesVölkR 12; 1973). 50 , Zur Lückenfüllung im Recht der Europäischen Gemeinschaft siehe H. C. Ficker, „Hilfsweise geltendes Recht“ für „Europäische Aktiengesellschaften“?, in: Quo vadis, ius societatum?, Liber amicorum ... Sanders (Deventer/Den Haag 1972) 37 ff. 51 Siehe etwa das Übereinkommen über das Europäische Patent für den Gemein­

3. Im Wege der Kodifizierung durch außerstaatliche Organe entsteht einheitliches Recht besonders auf dem Gebiet des internationalen Han­ dels, nämlich in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen und von Regeln über Konnossements- oder sonstige Klauseln (z. B. „York-Ant­ werp Rules“ der International Law Association, „Incoterms“ der Inter­ nationalen Handelskammer)52. Dabei ist freilich jeweils zu unterschei­ den, ob diese Regeln von den staatlichen Gerichten nur infolge (aus­ drücklicher oder stillschweigender) Vereinbarung der Vertragsparteien anzuwenden sind oder aufgrund einer nationalen Norm wie § 346 HGB, der auf „die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche“ verweist, oder schließlich als wirklich autonomes Welthan­ delsrecht, das grundsätzlich aus sich selbst gilt, aber durch nationale Ge­ setze oder durch Parteiabreden verdrängt werden kann53. Alle diese Regeln werden hauptsächlich durch die Rechtsprechung privater Schiedsgerichte präzisiert. Leider bleiben deren Entscheidungen zum größten Teil unveröffentlicht54. Daher sind Kontinuität und wissenschaftliche Aufar­ beitung der Praxis, die für jede höhere Rechtskultur unentbehrlich sind, bei dem außerstaatlichen Welthandelsrecht nicht gesichert.

4. Durch internationalen Gerichtsgehrauch und Feststellung allgemei­ ner Rechtsgrundsätze werden zwar im allgemeinen keine ganz neuen Rechtsinstitute geschaffen; aber diese Erscheinungen erlauben es, sich von den einzelnen nationalen Rechtsordnungen formell zu lösen. Die wichtigsten Träger einer solchen Entwicklung sind internationale Ge­ richte - z. B. der Internationale Gerichtshof im Haag, die Gemischten Schiedsgerichte des Versailler Vertrages und ähnliche Einrichtungen nach dem zweiten Weltkrieg55, in Zukunft sicherlich auch der Gerichts­ samen Markt (Gemeinschaftspatentübereinkommen vom 15. 12. 1975, ABI. EG 1976 Nr. L 17) sowie das in Vorbereitung befindliche Übereinkommen über ein Euro­ päisches Markenrecht (Vorentwurf der Kommission von 1973). 52 ZWEIGERT/KROPHOLLER II Nr. 229 bzw. I Nr. 144. Siehe auch die Allge­ meinen Lieferbedingungen der E.C.E. von 1953 ff. und der Nordischen Länder von 1957, ZWEIGERT/KROPHOLLER I Nrn. 150 bzw. 162. Dagegen sind die Allgemeinen Lie­ ferbedingungen des RGW von 1962/68 (ebd. I Nrn. 153-155) staatsvertraglich ver­ einbartes Recht (neueste Fassung von 1975: GBl. DDR II 277). 53 Im dritten Sinne vgl. etwa die Verweisung des Europäischen (E.C.E.-)Übereinkommens über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21. 4. 1961 (BGBl. 1964 II 426) in Art. VII Abs. 1 Satz 3 auf die „Handelsbräuche“ und die Verweisung des Einheitlichen Kaufgesetzes (oben N. 32) in Art. 9 II auf „Gebräuche, von denen vernünftige Personen in der gleichen Lage gewöhnlich annehmen, daß sie auf ihren Vertrag anzuwenden seien“. 54 Ändern wird sich daran wenig, solange die Beliebtheit der Schiedsgerichte zum großen Teil gerade auf ihrer Diskretion beruht. 35 Siehe etwa Seidl-Hohenveldern, General Principles of Law as Applied

hof der Europäischen Gemeinschaften ferner angesehene Schiedsge­ richte oder auch Einzelschiedsrichter sowie besonders die rechtsverglei­ chende Wissenschaft. Was Voltaire über Gott gesagt hat: „Wenn es ihn nicht gäbe, man müßte ihn erfinden“, das gilt auch für diese Art überna­ tionalen Rechts. Zutreffend wurde zu dieser Erscheinung bemerkt56: „Es gibt eine Reihe von Verträgen, die man aus verschiedenen Gründen nicht einem nationalen Recht unterwerfen kann oder will. Dazu gehören in erster Linie Verträge zwischen einem Völkerrechts- und einem Privatrechtssubjekt, insbesondere die sogenann­ ten Entwicklungsverträge, ferner die Verträge jener internationalen Gesell­ schaften, die in verschiedenen Rechtsordnungen wurzeln (z. B. SAS und Air Afrique). Teils wollen die beteiligten Völkerrechtssubjekte aus Prestigegründen oder die internationalen Gesellschaften um der Parität ihrer Mitglieder willen sich nicht einem bestimmten nationalen Recht unterwerfen, teils fürchten die privaten Parteien, daß die objektiv nächstliegende nationale Rechtsordnung nicht hinreichend ausgebildet ist, um komplizierte Rechtsbeziehungen ange­ messen zu regeln, oder daß diese ihnen nicht hinreichend Schutz gegenüber dem völkerrechtlichen Kontrahenten gewährt.“57 Der Einwand mangelnder Bestimmtheit und fehlender Systematik dieser Rechtsmasse58 schlägt nicht durch, da auch jede nationale Rechtsordnung mehr oder weniger „offen“ ist; selbst das hochkultivierte Schweizer Rechtssystem weiß in Art. 1 ZGB für die Lückenfüllung dem Richter keine rein objektiv bestimmte Methode an die Hand zu ge­ ben59. Es muß daher genügen, daß es jeweils Richter (bzw. Schiedsrich­ ter) gibt, die nach diesem Rechte zu entscheiden haben. Die genaue rechtstheoretische Einordnung ist demgegenüber sekundär60. by the Conciliation Commissions Established under the Peace Treaty with Italy of 1947: Am. J. Int. L. 53 (1959) 853 ff. (ausführlichere italienische Fassung in Dir. Int. 13 [1959] I 227 ff.). 56 Vgl. im einzelnen SUMAMPOUW, Rechtswahl im Vertragsrecht (Anm. zu BGE 91 II 44): RabelsZ 30 (1966) 334 (346 f.). 57 Vgl. zum letzten Punkt Lipstein, Camb. L. J. 1963, 315: Schutz von Dauer­ rechtsverhältnissen vor überraschender Änderung eines gewählten nationalen. Rechts. 58 Die vorsichtige Bezeichnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als „Rechtsmas­ se " (anstatt „Rechtsordnung“ oder „Rechtssystem“) übernehme ich von Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Privatunternehmen (1971) 144. 59 Vgl. auch Simitis, JuS 1966, 214: „Weder Treu und Glauben noch die guten Sitten können für sich in Anspruch nehmen, präziser zu sein.“ 60 Vgl. wiederum SUMAMPOUW (oben N. 56) 347 f.: „Die allgemeinen Rechts­ grundsätze der nationalen Rechte sind als subsidiäre Quelle des Völkerrechts aner­ kannt (Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes). Aber durch diese Rezep­ tion sind sie nicht im Völkerrecht aufgegangen. Sie bleiben vielmehr ihrer Art und Form nach ein selbständiges, durch Privatrechtsvergleichung und internationale Rechtsprechung zu entwickelndes Tertium zwischen den nationalen Rechten und dem

Sicherlich ist die traditionelle Bezeichnung „principes gnraux reconnus par les nations civilises" (aus Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes) Wort für Wort überholt: in ihrer Beschränkung auf all­ gemeine Grundsätze, die bisweilen umstrittener sind als Einzelregelun­ gen; in dem Erfordernis der bereits erfolgten allgemeinen Anerkennung, das die Fortentwicklung hemmt; endlich in dem Begriff der „zivilisier­ ten“ Nationen, da heute allenfalls noch einzelne Stämme, aber keine ganzen Nationen mehr als unzivilisiert gelten. Insbesondere kommt es nicht darauf an, daß die jeweils angewandten „allgemeinen Rechts­ grundsätze“ in den betreffenden Rechtsordnungen als Prinzipien formu­ liert sind; entscheidend ist, daß die praktischen Ergebnisse der einzelnen Rechte durch sie erklärt werden können. Erwähnt sei folgende Unterscheidung: Ist in einem Text auf die gemeinsa­ men Rechtsgrundsätze einer beschränkten Zahl von Staaten verwiesen, so sollte ein Rechtsgrundsatz, um angewandt werden zu können, in jedem dieser Staa­ ten wenigstens ansatzweise gelten. Dagegen hat bei einer Bezugnahme auf die genannten „allgemeinen Rechtsgrundsätze, die von den zivilisierten Nationen anerkannt werden“, eine Übereinstimmung der Mehrheit der führenden oder auf dem betreffenden Gebiete vitalsten01 Rechtsordnungen zu genügen02. Ja, es ist im letzteren Falle nicht sinnlos, nur ein gemeinsames „Mutterrecht“ heran­ zuziehen und etwa auf einen israelisch-kanadischen Vertrag einfach das engli­ sche Common Law, auf einen libanesisch-niederländischen Vertrag das franzö­ sische Recht anzuwenden; auch im allgemeinen Völkerrecht kann es ja regional verschiedene Ausprägungen geben03. - Im Rahmen der Europäischen Gemein­ schaft sind die gemeinsamen Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten von den eigenen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechtes zu unterscheiden04. Die FortbilVölkerrecht.“ Ähnlich Strebel, ZaöRV 28 (1968) 508: „Die allgemeinen Rechts­ grundsätze behalten... ihre vom Völkerrecht klar getrennte Eigenexistenz.“ - Vgl. auch unten in § 8: Völkerrecht unter I a.E. 61 Gentinetta (oben N. 8) 149. 0 2 Deutlich wird diese Unterscheidung, wenn z. B. das Consortium Agreement zwi­ schen Persien und einer internationalen Gruppe von Ölgesellschaften aus dem Jahre 1954 nach seinem Art. 46 ausgelegt werden soll gemäß den „principles of law common to Iran and the several nations in which the other parties to this Agreement are incor­ porated, and in the absence of such common principles then by and in accordance with principles of law recognized by civilized nations in general“ (zitiert nach F. A. Mann, in: Ius et lex, Festschrift Gutzwiller [1959] 484; französische Fassung der Be­ stimmung in Rev. arbitr. 1956, 69). 63 Jedoch kann nicht ein einzelnes nationales Recht einen „allgemeinen Grundsatz“ hervorbringen; allenfalls ist für die Anwendung eines internationalen Grundsatzes im Einzelfall eine bestimmte nationale Konkretisierung zu wählen: vgl. Gentinetta (oben N. 8) 146 f., 150, 194. 64 Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsät­ ze (1971) 55 ff. 2 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

düng der letzteren soll sich nicht am gemeinsamen Minimumstandard der Mit­ gliedsstaaten orientieren, sondern an der jeweils besten Lösung65. 66 Zur praktischen Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze siehe auch un­ ten § 33: Parteiautonomie, ferner in § 52: Ersatzrecht unter III 4.

Das entscheidende Moment bei jeder Art von Rechtsvereinheitlichung ist die Bereitschaft aller Beteiligten, über ihr gewohntes besonderes (na­ tionales, lokales oder personales) Recht hinauszusehen. Diese Bereit­ schaft entwickelt sich am besten dort, wo schon die angehenden Juristen in den Jahren ihrer Ausbildung fremdes Recht kennenlernen und so zu weiträumigem Denken erzogen werden. Leider fehlt es daran überall noch sehr. III.

Die Grenzen der Rechtsvereinheitlichung werden nicht nur durch das Beharrungsmoment bestimmt und durch die Gefahren eines „Systembruchs"66 bei Einführung fremder Elemente in eine bisher organisch ge­ wachsene Rechtsordnung. Denn das Bestehen einer Mehrheit von mate­ riellen Rechtsordnungen nebeneinander braucht nicht unbedingt als Ausfluß von Verblendung und Willkür bekämpft oder allenfalls als lä­ stige historische Gegebenheit geduldet zu werden, sei es unwillig und da­ her möglichst kurzfristig (etwa in einem neu gebildeten, aus verschiede­ nen Rechtsgebieten zusammengesetzten Nationalstaat oder nach einer Annexion), sei es mit Großzügigkeit auf lange Sicht (wie im vereinigten Großbritannien seit Jahrhunderten). Vielmehr kann dieses Nebeneinan­ der verschiedener Rechtsordnungen unter drei Gesichtspunkten als sinn­ voll und geradezu fördernswert erscheinen: 1. Vor allem ist die Verschiedenheit der natürlichen und kulturellen Verhältnisse einschließlich der Entwicklungsstufe jedes Landes zu be­ rücksichtigen67. Freilich darf dabei die Bedeutung rechtshistorischer Zufälle nicht übersehen werden. 65 Vgl. H. C. Ficker (oben N. 50) 46 f.; Pescatore, Le probUme des liberts dans l’ordre juridique des communautes europeennes: Ius gentium 9 (1973) 1 ff. (9): „Stan­ dard de protection le plus lev". 66 Broda, Z. f. Rvgl. 4 (1963) 201. 67 Z. B. ist schon die Denkweise des Engländers und daher auch seine Methode der Rechtsfindung so verschieden von der kontinentalen, daß Louis-Lucas, Rev. crit. 46 (1957) 182, im Hinblick auf eine englische Entscheidung sagen konnte: „Pascal n’a exprime qu’une vrit continentale en disant que le cur a ses raisons, que la rai­ son ne connait pas.“ - Vgl. auch die Warnung im Vorwort zum Rvgl. Hwb. I

Beispielsweise für das Volljährigkeits- und das Ehemündigkeitsalter, die ger­ ne als Muster klimatisch und rassisch bedingter Rechtsinstitute angeführt wer­ den (besonders bei Verfechtung des Heimatprinzips im IPR gegenüber dem Recht des zufälligen Wohnsitzes oder gar des Eheschließungsortes - siehe un­ ten §§ 26 ff.), hat schon im Jahre 1884 ein italienischer Autor68 darauf hinge­ wiesen, daß damals das Volljährigkeitsalter im kalten England 21 Jahre, im südländischen Spanien aber 25 betrug und das Ehefähigkeitsalter des Bräuti­ gams im nordischen England 14, dagegen im heißen Sizilien 18 Jahre69. Ander­ seits liefern die Rezeptionen fremder Rechtsordnungen - wie die des römi­ schen Rechts nördlich der Alpen und westeuropäischen Rechts vom Balkan bis zum Fernen Osten - keinen vollständigen Beweis gegen die Milieubedingtheit des Rechts; denn bekanntlich hat das römische Recht in Deutschland eine er­ hebliche Umgestaltung erfahren, zunächst inhaltlich im Usus modernus und dann methodisch in der Pandektenwissenschaft, und die Rezeption westeuropä­ ischen Rechts in östlichen Ländern erfolgte im Zuge einer bewußten Übernah­ me westlicher Lebensformen sowie (in Ostasien) mit erheblichen Vorbehalten auf dem Gebiete des Familienrechts, auf dem man seine nationale Kultur zu bewahren wünschte.

2. Sodann kann eine bewußte Dezentralisierung der Gesetzgebung und Rechtsprechung im Interesse der Demokratie erfolgen, d. h. um möglichst viele Menschen an der staatlichen Verantwortung zu beteili­ gen. In die gleiche Richtung weist das sog. Subsidiaritätsprinzip, nach welchem die jeweils größere Gemeinschaft nur diejenigen Aufgaben an sich ziehen soll, die von den kleineren Gemeinschaften (oder gar den Einzelnen) nicht erfüllt werden können. Bei solcher Dezentralisierung können selbst unter gleichartigen Lebensverhältnissen bloße Zufälligkei­ ten der örtlichen Rechtsbildung zu Verschiedenheiten führen, z. B. bezüg­ lich des Zeitpunktes oder der technischen Ausgestaltung einer überall als notwendig empfundenen Reform. Das beste Beispiel dieser Art von Rechtsföderalismus70 bilden die Vereinigten (1929) vor den Gefahren einer ungesunden Nivellierung und einer dem Rechtsgedan­ ken feindlichen Beschleunigung der Entwicklung. 68 Fusinato, 11 principio della scuola italiana nel d. i. p.: Arch. Giur. 33 (1884) 521 (564 = Estratto [1885] 46). 69 Der Unterschied erklärt sich im zweiten Beispiel durch den Zufall der Rezeption römisch-kanonischen Rechts in England und germanisch-französischen Rechts in Sizi­ lien. Bei dem spanischen Volljährigkeitsalter aber wirkt wohl der Umstand nach, daß das römische Recht die Willensmacht des einzelnen stärker ausgestaltet hatte und des­ halb die Majorennitätsgrenze (D 4, 4, 1) höher ansetzte als das mehr sippengebundene germanische Recht. 70 Das Wort „Föderalismus“ sei hier weder mit den früheren amerikanischen und heutigen europäischen Föderalisten im Sinne zunehmender Assoziation verstanden noch

Staaten von Amerika, in denen man sogar einheitlich zu regelnde Rechtsfragen lieber durch übereinstimmende Gesetzgebung aller Einzelstaaten (Uniform Law) normiert, als daß die Kompetenz des Bundesgesetzgebers erweitert wird.

3. Schließlich ermöglicht das Bestehen verschiedener Rechtsbezirke ein gewisses Experimentieren in begrenztem Raum, ehe ein neues Rechtsinstitut allgemeine Geltung erlangt. Wenn somit das Nebeneinander einer Vielzahl von Rechtsordnungen sinnvoll sein kann und eine allgemeine Rechtsvereinheitlichung nicht einmal als wünschenswert erscheint, so bleibt die richtige Behandlung von Sachverhalten mit Beziehungen zu einer fremden Rechtsordnung nicht nur eine vorübergehende, sondern eine dauernde Aufgabe71. Ihren Problemen wenden wir uns nunmehr zu.

§ 3: Entscheidungsrecht und Verweisungsrecht Für die Behandlung der Sachverhalte mit Außenbeziehungen gibt es von alters her eine Reihe rechtlicher Möglichkeiten. Im Vordergrund der heutigen Diskussion steht der Gegensatz von Entscheidungsrecht und Verweisungsrecht72.

I. Die Unterscheidung dieser beiden Arten von Normen ergibt sich, wenn wir darauf abstellen, ob internationale Sachverhalte unmittelbar geregelt werden oder mittelbar. 1. Als Entscheidungsrecht im Sinne der unmittelbaren Regelung pri­ vatrechtlicher Sachverhalte mit einer Außenbeziehung kann entweder das allgemeine, auch für reine Inlandsfälle geltende Recht angewandt werden oder ein Sonderrecht. im Sinne der alliierten Deutschlandpolitik nach dem zweiten Weltkrieg als möglichst weitgehende Desoziation, sondern im klassischen, statisch-ausgewogenen Sinne, also ohne bestimmte Tendenz zur Festigung oder Lockerung des Bundes. 71 Vgl. Febres Pobeda, Lo Sociolgico en el D.I.P.: Comp. Jurid. Rev. 5 (1968) 57 (60): Das IPR ist bis heute das nützlichste Verbindungsmittel, das dem Menschen zu ersinnen gelungen ist, da es ihm gestattet, seine nationalen Eigenarten zu bewahren und zu gleicher Zeit seine internationalen Kontakte wahrzunehmen. 72 Das Begriffspaar stammt von Dölle, 5. Beiheft zur DRZ (1948) 5 N. 10. Vgl. englisch „dispositive law“ und indicative law“ schon bei Taintor, La. L. Rev. 1 (1938/39) 696.

a) Die Anwendung des inländischen allgemeinen Rechts (ohne Vor­ schaltung des Kollisionsrechts) liegt besonders dann nahe, wenn das da­ neben in Betracht kommende ausländische Recht offenbar mit dem in­ ländischen mehr oder weniger übereinstimmt oder wenn seine Anwen­ dung unverhältnismäßig schwierig würde (vgl. dazu § 43: Der Vorgang der Anwendung fremden Rechtes). b) Materielles Sonderrecht für Fälle mit Außenbeziehungen kann in­ ternationales Einheitsrecht oder nationales Sonderrecht sein. Über Ein­ heitsrecht für internationale Sachverhalte wurde im vorigen Paragra­ phen gesprochen. Nationales Sonderrecht kann auf mannigfache Weise entstehen: aus einer Generalklausel über die Entscheidung gemäß den inländischen „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“; durch Modifizierung des allgemeinen Rechts nach „Billigkeit von Fall zu Fall“; im Wege der richterlichen „Anpassung“ des nach IPR anwendbaren Rechtes (siehe unten § 47); durch Einfügung einzelner Sondernormen in das allgemeine Recht (z. B. über die Verlängerung von Fristen, wenn ein Beteiligter im Ausland wohnt, wie in 1944 III, 1954 III BGB); durch Schaffung von Sondergesetzen oder gar eines ganzen Gesetzbuchs für den Aus­ landsverkehr (wie das tschechoslowakische Gesetz über den internatio­ nalen Handel von 1963). Als historisches Beispiel für Sonderrecht wird vor allem das römische ius gentium genannt, das für den Rechtsverkehr mit und zwischen Fremden gegolten habe (dazu unten § 10 III 1). Als Name ist für Sonderrecht ratione personae (z. B. für Erwerbsbeschrän­ kungen der Ausländer) die Bezeichnung „Fremdenrecht“ üblich. Für das übri­ ge, räumlich bedingte Sonderrecht der Fälle mit Auslandsberührung - darun­ ter Spezialvorschriften für Inländer im Ausland, etwa über die Form ihrer Eheschließung oder Testamentserrichtung - fehlt ein eingebürgerter Name. Der Vorteil jeder Art von Entscheidungsrecht oder direkten Normen gegenüber den Verweisungs- oder indirekten Normen liegt in der größe­ ren Konkretheit und Anschaulichkeit. Dagegen besteht die Gefahr, daß der inländische Gesetzgeber bzw. Richter bei Sachverhalten mit über­ wiegender Auslandsbeziehung die besonderen Gegebenheiten des Aus­ lands nicht hinreichend sieht. Das können die abweichenden tatsächli­ chen und rechtlichen Voraussetzungen des streitigen Rechtsverhältnisses sein oder die möglichen Folgen der inländischen Entscheidung im Aus­ land, besonders wenn diese Entscheidung dort nicht als verbindlich an­ erkannt wird. Ein scheinbar gleicher Sachverhalt, der sich nicht im In­ land unter Inländern, sondern im Ausland oder unter Beteiligung von Ausländern abgespielt hat, verdient eben oft eine andere Behandlung als

der ausschließlich inländische. Auch ein nationales Sonderrecht für inter­ nationale Sachverhalte kann noch zu stark inlandsbezogen sein.

2. Das Verweisungsrecht überläßt die Verantwortung für Fälle mit überwiegender Auslandsbeziehung in erster Linie dem Ausland. Dabei gibt es zwei sehr verschiedene Möglichkeiten. a) Das IPR verweist für Sachverhalte mit internationalem Einschlag auf eine der berührten Rechtsordnungen, und dieser Rechtsordnung (einschließlich ihres materiellen Sonderrechts) ist dann die Entscheidung zu entnehmen; vgl. oben § 1 I 3. b) Daneben steht als prozessuale Lösung, die besonders im englischen Rechtskreis beliebt ist, die bloße Abgrenzung der internationalen Zu­ ständigkeit. Hier wird in erster Linie bestimmt, welchen Staates Gerich­ te über einen Sachverhalt zu entscheiden haben; diese mögen dann je­ weils ihr eigenes materielles Recht anwenden (wiederum einschließlich ihres materiellen Sonderrechts). Diese Art von Verweisungsrecht scheint neuerdings im Vordringen zu sein. So regeln die Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger vom 5. 10. 1961, über die Adoption vom 15. 11. 1965 und über die Verwaltung von Nachlässen vom 2. 10. 1973 zunächst die internationale Zuständigkeit und be­ stimmen dann als anwendbares Recht grundsätzlich die lex fori des zuständi­ gen Gerichtes73. Der Vorteil dieser Lösung liegt darin, daß alle Schwierigkeiten der Anwendung ausländischen Rechtes - von der Bestimmung der maßge­ benden Rechtsordnung über die Ermittlung ihres Inhalts bis zur richti­ gen Anwendung auf den konkreten Sachverhalt - entfallen, während die Prüfung der internationalen Zuständigkeit keine zusätzliche Bela­ stung bedeutet, sondern ohnehin in jedem Rechtsstreit mit Auslandsbe­ rührung erfolgen muß. Berechtigt ist dieses System allerdings nur, wenn die Zuständigkeit streng begrenzt wird74; denn niemand soll die An­ wendung eines ihm günstigeren Rechtes erschleichen können, indem er seine Klage in einem mehr oder weniger sachfremden Gerichtsstand er­ hebt. Nun sind in der Regel die Umstände, nach denen sich die Zustän­ 73 In der deutschen Literatur befürwortet die Anwendung der „lex fori in foro proprio“ für das Internationale Delikts-, Vertrags- und Familienrecht Siehr, Ehren­ zweigs lex-fori-Theorie und ihre Bedeutung für das ämerikanische und deutsche Kolli­ sionsrecht: RabelsZ 34 (1970) 585 (628-630); ders., Vaterschaftsfeststellung durch deutsche Gerichte und anwendbares Recht: FamRZ 1971, 292 (295). 74 So (für die Ehescheidung) bereits KOLLEWIJN, Het beginsel der openbare orde in het IPR (1917) 87 ff.; vgl. Eyl (unten N. 1126) 4.

digkeit der Gerichte dieses oder jenes Landes richtet, weithin identisch mit den Gründen, welche die Anwendung der betreffenden materiellen Rechtsordnung nach IPR rechtfertigen. So gelten für Angelegenheiten des persönlichen Status vielfach Gerichtsstand und Recht der Heimat oder des gewöhnlichen Aufenthalts, für Delikte regelmäßig Gerichts­ stand und Recht des Tatortes, für Rechte an Grundstücken durchweg Gerichtsstand und Recht der Belegenheit. Aber diese Parallelität ist nicht vollständig, und sie kann es nicht sein, weil die Gerichte nicht so weitgehend unabhängig von Raum und Zeit sind wie das Gesetz als rei­ nes „Gedankending“75. Man wird z. B. die Gültigkeit eines Vertrages, den Einwanderer früher in ihrer alten Heimat geschlossen haben, im all­ gemeinen von einem inländischen Gericht beurteilen lassen, während als Entscheidungsgrundlage das Recht jenes fremden Staates dienen sollte. Eine völlige Verdrängung des IPR durch die Ordnung der interna­ tionalen Zuständigkeit kommt also nicht ernstlich in Betracht. Beide Formen des Verweisungsrechts - IPR und Zuständigkeitsrege­ lung - können jedoch die Verantwortung für die Entscheidung von Auslandsfällen nicht vollständig auf ein fremdes Recht bzw. Gericht ab­ wälzen. Zum einen erfordert eben die Verweisung an ein bestimmtes fremdes Rechts- oder Gerichtssystem, weil dieses hauptsächlich berührt sei, bereits eine Entscheidung. Zum andern hat im Falle der Verweisung an fremdes materielles Recht der inländische Richter selber dieses Recht auszulegen und anzuwenden, und der an ein ausländisches Gericht ver­ wiesene Rechtsstreit kommt möglicherweise zwecks Vollstreckung (oder zur sonstigen Anerkennung) der im Ausland getroffenen Entscheidung doch wieder vor ein inländisches Gericht. Beidemal muß der inländische Richter sich entscheiden, ob er auch die Konsequenzen der Verweisung ziehen will oder ausnahmsweise nachträglich eine Korrektur anbringt. (Näheres unten in § 5: Gerechtigkeit unter II 2). II.

Als Anwendungsfeld bieten sich für das Verweisungsrecht vor allem die sog. „relativ internationalen“ (d. h. nur für den Richter interna­ tionalen) Sachverhalte an, die sich im wesentlichen innerhalb des Rah­ mens einer einzigen fremden materiellen Rechtsordnung halten und nur zufällig im Inland oder in einem Drittland zur Erörterung kommen. Bei diesen ist es in der Regel angemessen, die Entscheidung den Gerichten 75 Ausführlicher dazu unten in § 57: Forum causae - Forum legis unter I. Siehe auch über beziehungsarme Gerichtsstände unten § 6 I.

oder wenigstens den materiellen Normen der primär berührten Rechts­ ordnung zu überlassen. Dagegen eignet sich das Entscheidungsrecht mehr für die „absolut internationalen“ Sachverhalte (die Mischfälle), die von vornherein zu mehreren Rechtsordnungen starke Beziehungen aufweisen. Für sie ist die Verweisung an eine einzige Rechtsordnung of­ fenbar problematisch: Die „Nationalisierung“ eines solchen SachVer­ halts, d. h. seine Gleichstellung mit einem rein nationalen (in- oder aus­ ländischen) Verhältnis, wird seiner besonderen Eigenart oft nicht ge­ recht. In der Praxis läßt sich jedoch diese Gegenüberstellung nicht scharf durchführen. Teilweise greifen Verweisungs- und Entscheidungsrecht in­ einander, wenn nämlich die Rechtsordnung, auf die verwiesen wird, ih­ rerseits materielles Sonderrecht für den betreffenden Fall vorsieht. Fer­ ner müssen Verweisungsrecht und Entscheidungsrecht sich vielfach ge­ genseitig „vertreten“: Einerseits ist die Verweisung auf das eine oder das andere rein interne Recht auch für „absolut internationale“ Fälle dann unvermeidlich, wenn ein materielles Sonderrecht weder existiert noch vom Richter ohne weiteres geschaffen werden kann; sie ist sogar de lege ferenda die bessere Lösung, wenn solches Sonderrecht mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden Fälle unverhältnismä­ ßig kompliziert werden müßte und wenn somit die Rechtssicherheit ge­ fährdet würde. Anderseits ist eine materielle Entscheidung nach rich­ terlichem Sonderrecht bisweilen praktisch geboten, nämlich wenn das an sich berufene ausländische Recht unbekannt bleibt oder sonstwie nicht angewandt werden kann und als Ersatz weder das gewöhnliche inländi­ sche noch ein drittes Recht zum Zuge kommen soll (vgl. unten § 52: Er­ satzrecht). III.

Eine gewisse Tendenz zum Entscheidungsrecht zeigt sich heute mittel­ bar sowie unmittelbar. 1. Mittelbar ergibt sich die Anwendung von Entscheidungsrecht in den Fällen, in denen der Richter ausländisches Recht nicht richtig an­ wenden kann oder will. Es handelt sich um folgendes: Zum einen wächst die Schwierigkeit der Anwendung fremden Rechtes in dem Maße, wie es zur Feststellung der ausländischen Normen immer häufiger nicht genügt, einen Gesetzestext nachzuschlagen. Wohl zeigt

sich seit längerem in den klassischen Ländern des Richterrechts - Un­ garn, England, Nordamerika - eine Tendenz zur Kodifizierung, weil man das bisherige Rechtssystem zu unübersichtlich findet76. Aber an­ derseits ist in den west- und mitteleuropäischen Ländern des kodifizier­ ten Rechts, ausgehend von Frankreich, eine freiere Auslegungsmethode vorgedrungen, die weniger nach dem Wortlaut als nach dem Zweck der Bestimmungen entscheidet; außerdem mehren sich in den Gesetzen die Generalklauseln und Ermessensbestimmungen, die eigentlich nur ein Richter des betreffenden Landes richtig, d. h. aus dem Geiste jener Rechtsordnung, anzuwenden vermag. Diese Auflockerung des geschriebenen Rechts ist nicht zufällig, sondern ent­ spricht einem Wandel der Rechtsidee, d. h. der Vorstellungen von der sozialen Funktion des Rechtes. Während man im 19. Jahrhundert unter dem „Kampf ums Recht“ vorwiegend die Verteidigung und Durchsetzung subjektiver Rech­ te verstand, die jeder genau kennen mußte, um sie zu behaupten77, ist seither der Gedanke an das, was objektiv recht ist, in den Vordergrund getreten; ob aus ethisch-sozialen, soziologischen oder politischen Erwägungen - jedenfalls wird die Wahrung des Rechtes vielfach dem einzelnen Rechtsgenossen entzo­ gen und ganz in die Verantwortung des Richters gestellt, der nicht durch allzu viele Vorschriften beengt sein soll. Zu denken ist hier etwa an das Vordringen der sozialen Grundrechte, die dem Einzelnen keinen klagbaren Anspruch ge­ ben. Als ein extremes, aber bezeichnendes Beispiel sei ferner die sowjetische Fa­ milienrechtsnovelle von 1944 genannt, welche die Ehescheidung wieder von einem Urteilsspruch abhängig machte, ohne die möglichen Scheidungsgründe irgendwie festzulegen78. 79 Wie sollte ein ausländischer Richter - wenn sein Pro­ zeßrecht nicht von vornherein die Zuständigkeit in diesen Fällen ablehnte sich hinreichend in den Geist der sowjetischen Rechtsordnung versetzen, um im Einzelfall über einen Ehescheidungsantrag nach diesem Gesetz zu befinden?7® Er kann in solchen Fällen das fremde Recht nicht richtig anwenden. 76 Für die schließliche Kodifizierung in Ungarn durch das Zivilgesetzbuch von 1959 (in Kraft getreten am 1. 5. 1960) war sicherlich die politische Entwicklung der Nachkriegszeit bestimmend; immerhin bestand die Tendenz zur Kodifikation längst vorher. Für England ist heute besonders auf die Tätigkeit der Law Commission zu ver­ weisen (siehe ZWEIGERT/Körz, oben N. 35, I 263 f.), für die USA auf den Uni­ form Commercial Code und andere Uniform Laws, aber auch auf die „Restatements" des American Law Institute: private Rechtsaufzeichnungen, die als Vorläufer einer späteren Kodifikation angesehen werden können (vgl. a.a.O. 307 f., 306 f.). 77 Siehe nur Jhering, Der Kampf um’s Recht (1872). 78 VO des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 8. 7.1944, Artt. 23 ff. Diese Regelung hat immerhin rund 25 Jahre lang gegolten, nämlich bis zum Inkraft­ treten der neuen Familiengesetzbücher der Einzelrepubliken von 1969/70. 79 Oder ein noch krasseres Beispiel: Wie soll der deutsche Richter oder Beamte af­ ghanisches Unehelichenrecht anwenden, wenn auf Anfrage von der afghanischen Bot­

Auf der andern Seite steht die ausdrückliche Weigerung, fremdes Recht anzuwenden, weil angeblich aus „grundsätzlichen“ (sittlichen, weltanschaulichen usw.) Erwägungen das ausländische Gesetz abgelehnt oder das inländische bevorzugt werden müsse. Lange Zeit schien es, als würden mit der Ausbreitung der europäischen Zivi­ lisation und mit der allgemeinen Säkularisierung des Familienrechts alle grundsätzlichen Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen sich allmählich ausgleichen und als könnten damit der Anwendung ausländischen Rechtes im­ mer seltener prinzipielle Bedenken entgegenstehen. Jedoch haben sich seit eini­ gen Jahrzehnten neue Gegensätze ergeben. Nationalsozialismus und italieni­ scher Faschismus sind zwar inzwischen wieder abgetreten, und das sowjetische System, das man zunächst als außerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft stehend ansah80, hat nach dem Tode Stalins in der Meinung des Westens an Schrecken verloren. Aber das zunehmende Selbstbewußtsein der islamischen und der anderen außereuropäischen Völker hat die Zeit der globalen Rezeption europäischer Gesetzbücher (vgl. oben § 2 III 1) beendet und läßt für den Welt­ Rechtsverkehr abermals grundsätzliche Schwierigkeiten befürchten. Die ver­ mehrte Weigerung, fremdes Recht anzuwenden, entspricht somit einem Wandel der politischen Ideen, nämlich der Vertiefung der bloßen Interessengegensätze der Staaten zu solchen der politisch-sozialen Ideologien, m. a. W. der Abkehr von einem politischen Formalismus, für welchen Staat gleich Staat und Rechts­ ordnung gleich Rechtsordnung ist. Die bequeme Meinung, daß Rechtsvorschrif­ ten doch überwiegend technischen Charakters seien und damit einer vorder­ gründigen, von ‘dem Streit der Ideologien unberührten Sphäre angehörten, wird durch die erwähnten Generalklauseln und Ermessensbestimmungen wider­ legt, die meistens nicht nur der mengenmäßigen Abschätzung (z. B. eines Scha­ dens), sondern einer wertenden Entscheidung Raum geben. Bei der Beurteilung, was „unzumutbar“ oder „sittlich nicht gerechtfertigt“ ist, was der „Billigkeit nach den Umständen“, dem „Wesen der Ehe“ oder dem „Gemeinwohl“ ent­ spricht, will der Richter nicht die Wertmaßstäbe eines fremden politisch-sozia­ len Systems anlegen, das in seinem Lande grundsätzlich abgelehnt wird.

2. Unmittelbar geht die Tendenz deshalb zum Entscheidungsrecht, weil im Zuge des gezeigten Wandels der Rechtsidee und der politischen Vorstellungen das scheinbar rein formale Ideal eines über den materiel­ len Rechtsordnungen stehenden, von ihren inhaltlichen Wertentscheidun­ gen mehr oder weniger abstrahierenden Verweisungsrechts zunehmend in Frage gestellt wird. Man bekämpft jede Begriffsjurisprudenz und je­ schäft in Bonn mitgeteilt wird: „Uneheliche Kinder existieren in Afghanistan nicht, da die Zeugung eines außerehelichen Kindes nach islamischem Recht mit dem Tode be­ straft wird“ (Grunert, StAZ 1961, 204)? 80 So etwa Bartin, Principes de d.i.p. I (1930) 68 f.

den juristischen Formalismus, der nach einem Glasperlenspiel subtiler Konstruktionen als Selbstzweck aussieht. Schon das esoterische Fachvo­ kabular des Kollisionsrechts weckt heute eher Skepsis als Bewunderung (wenn es überhaupt begriffen wird). Erst recht gilt das für die mancher­ lei kunstvollen Rechtsfiguren des klassischen IPR und sein recht ab­ straktes Gerechtigkeitsideal (zu diesem unten § 5: Gerechtigkeit). Der Grund für diese Abneigung gegen Abstraktionen liegt wohl nicht nur in einer allgemeinen Unlust zum begrifflichen Denken - die gefördert wird durch zunehmende visuelle Kommunikation sondern auch in dem Mißtrau­ en, das durch die moderne „Ideologiekritik“ geweckt worden ist. Selbst wer hinter dem überlieferten europäischen IPR nicht gerade irgendwelche kapitali­ stischen Interessen wittert, mag die stabilisierende Wirkung jedes ausgebauten theoretischen Systems und damit die Versäumung fälliger Veränderungen fürchten. Verschärft wird die dynamische und daher unsystematische, antidog­ matische Einstellung bei vielen seit der Jahrhundertmitte noch durch den Ein­ fluß des zeitgenössischen amerikanischen Kollisionsrechts, von dessen Studium zumal junge europäische Juristen desto mehr fasziniert werden, je weniger sie zuvor das europäische IPR von Grund auf kennengelernt haben81 (Näheres un­ ten in § 9: Rechtsvergleichung unter I 4). So wird das Ideal des Verweisungsrechts abgelöst von einer mehr „exi­ stentiellen“ oder - wie man neuerdings gern sagt - „politischen“ An­ schauung, welche die Begrenztheit und den Entscheidungscharakter je­ der rechtlichen Regelung schärfer erkennt und bejaht und deshalb eher bereit ist, unmittelbare Lösungen der fraglichen Fälle zu verantwor­ ten82. IV. Die praktische Bedeutung der neuen Tendenzen für die Rechtspre­ chung ist freilich gering. Bei einer näheren Prüfung der verschiedenen 81 Eine knappe, treffende Kritik der neuen Ansätze im amerikanischen Kollisions­ recht (mit Nachweis deutschsprachiger Literatur) gibt ZWEIGERT, RabelsZ 37 (1973) 438 ff. 82 Ein Teil des Streites, der in Deutschland seit Jahren mit Leidenschaft darüber geführt wird, ob der Richter „politisch“ entscheiden soll oder nicht, beruht einfach auf einem unterschiedlichen Wortverständnis. Die ältere Generation denkt bei „Po­ litik“ in erster Linie an den Kampf von Staaten, Parteien oder Interessengruppen um Macht, Prestige und Wählerstimmen; „politisch“ bedeutet für sie soviel wie „be­ wußt einseitig“ und damit das Gegenteil von „sachgerecht“. Die Jüngeren dagegen ge­ brauchen „politisch“ ebenso wie „rechtspolitisch“: im Sinne von teleologisch, wertbe­ wußt, wertentscheidend - als Gegensatz zu einer bloß formalen, grammatischen oder logischen Gesetzesauslegung, hinter der sich der rechts- oder auch machtpolitische Ge­ halt einer Entscheidung leicht verbirgt. Nur eine Minderheit leugnet jeden Unterschied zwischen Macht- und Wertfragen.

Beispiele, die als Möglichkeiten richterlichen Sonderrechts empfohlen werden83, sind zunächst die Lösungen auszuscheiden, die sich im Rah­ men des bisherigen IPR (und des Internationalen Verfahrensrechtes) halten oder allenfalls auf dessen Verfeinerung hinauslaufen; darüber ist später zu sprechen (siehe unten § 22: Favor negotii; § 46 IV: Substitu­ tion; § 47: Anpassung; § 49: Ordre public; § 52: Ersatzrecht). Es blei­ ben dann zum einen mehrere mutige (besonders französische) Entschei­ dungen, die gewisse nationale Beschränkungen für vertragliche Gold­ klauseln, für Schiedsabreden oder für Gerichtsstandsvereinbarungen als im internationalen Rechtsverkehr nicht anwendbar erklärt haben, zum andern bisher kaum praktizierte Vorschläge, man solle im Konflikt zwi­ schen mehreren nationalen Rechtsordnungen, die einen Anspruch schlechthin bejahen oder verneinen, je nach der Stärke der Beziehungen zu diesen Rechtsordnungen eine mittlere Summe zusprechen84. Die erste Lösung kann als „teleologische Reduktion“ (aus Sinn- und Zweckerwä­ gungen begründete Einschränkung) der betreffenden materiellen Nor­ men gutgeheißen werden, ist aber nur selten zu verwenden. Dagegen wird die zweite Lösung wegen ihrer offensichtlichen Unsicherheitsfakto­ ren zumindest bei kontinentaleuropäischen Richtern vorläufig schwer Anklang finden. V.

Die Frage der systematischen 'Zuordnung, ob auch das Entscheidungs­ recht für internationale Sachverhalte zum internationalen Privatrecht gezählt wird oder etwa nur Verweisungsrecht, ist nicht allein terminolo­ gisch von Bedeutung, vielmehr auch psychologisch und damit praktisch. Eine gesonderte Behandlung des IPR im engeren Sinne, wie sie in Deutschland üblich ist, hat den Vorzug, daß die methodischen Eigenhei­ ten des Verweisungsrechts zu voller Entfaltung kommen können. An­ derseits besteht dabei die Gefahr der Überschätzung des IPR und einer Ignorierung der anderen Lösungsmöglichkeiten. (Ausführlicher zu die­ sen unten § 10 I.) Dagegen hat die Einbeziehung des nationalen und internationalen „Sonderrechts für Fälle mit Außenbeziehungen“ in die Lehre vom internationalen Privatrecht eine bedenkliche Abspaltung 88 Siehe zuletzt von Mehren, Special Substantive Rules for Multistate Prob­ lems - Their Role and Significance in Contemporary Choice of Law Methodology: Harv. L. Rev. 88 (1974/75) 347 ff. 84 In diesem Sinne bereits Fränkel, Der Irrgarten des IPR: RabelsZ 4 (1930) 239 ff.

dieses Sonderrechts vom sonstigen Privatrecht und damit seine wissen­ schaftliche Isolierung zur Folge. Das gilt besonders dort, wo das inter­ nationale Privatrecht - wie an den meisten außerdeutschen Universitä­ ten - mehr mit dem gesamten Völkerrecht als mit dem allgemeinen Privatrecht verbunden ist (vgl. dazu unten § 8: Völkerrecht). Das andere Extrem - die Behandlung des IPR (wie des Sonder­ rechts) nur im Zusammenhang der einzelnen Teile des Privatrechts — führt dagegen leicht zu einer Vernachlässigung seines allgemeinen Teils. Man sollte also grundsätzlich dem IPR als Verweisungsrecht den Charakter einer eigenen Disziplin erhalten, dabei aber das Sonderrecht nicht aus den Augen verlieren.

S 4; Die Fragestellung des IPR

Für das IPR werden heute drei verschiedene Fragestellungen vertre­ ten, denen wesentliche rechtspolitische Entscheidungen zugrunde liegen. Es handelt sich um die Fragestellung vom Sachverhalt her (I), vom Ge­ setz aus (II) oder vom Standpunkt der konkreten Gesetzeskollision (HI).

I. Vom Sachverhalt her wird gefragt, welche Rechtsordnung für den je­ weils vorliegenden Fall maßgebend sein soll. Mit anderen Worten: Wel­ che Rechtsordnung - in der Regel eine und nur eine - soll die Rechts­ frage beantworten, die sich aus dem Sachverhalt ergibt (z. B. die Frage nach der Geschäftsfähigkeit eines bestimmten Menschen, nach der Formgültigkeit eines Vertrages, nach dem Bestehen oder Nichtbestehen eines dinglichen Rechtes)? Diese Fragestellung herrscht im modernen Kollisionsrecht vor, seitdem des­ sen Aufgabe durch F. C. von Savigny dahin bestimmt worden ist, „daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht [d. h. das Recht des­ jenigen Staates für anwendbar erklärt] werde, welchem dieses Rechtsverhält­ niß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist“85. Zwar spricht Savigny im Titel seines IPR-Bandes (System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII) und in der Überschrift jedes der beiden Kapitel von der 85 Savigny 28, 108.

„Herrschaft der Rechtsregeln über die Rechtsverhältnisse“ anstatt umgekehrt von der Unterwerfung der Verhältnisse unter die Regeln, und im Text stellt er mehrfach beide Betrachtungsweisen als gleichwertig hin. Aber im praktischen Teil geht er meistens - gemäß der angeführten Formulierung seiner Aufgabe - von den jeweils in Rede stehenden Rechtsverhältnissen oder subjektiven Rechten aus (zu den Ausnahmen siehe unten II).

Vom Standpunkt der nationalen Souveränität ist die mit dieser Frage­ stellung verbundene grundsätzliche Gleichbehandlung in- und ausländi­ schen Rechtes schwer zu begreifen. Ist nicht die Anwendung inländi­ scher Normen für den nationalen Richter eine Selbstverständlichkeit, die Anwendung fremden Rechtes eine besonders zu begründende Aus­ nahme? Woher nimmt das inländische IPR die Legitimation, den An­ wendungsbereich ausländischer Gesetze womöglich ohne Rücksicht auf deren eigenen Geltungswillen zu bestimmen und zugleich die Geltung des inländischen Rechtes zu relativieren? Früher sprach man gern von einer völkerrechtlichen (also überstaatlichen) Funktion des IPR86. Neuerdings wird die Auffassung des Privatrechts als „vorstaatliches“ Recht für eine Folge der bürgerlichen Trennung von Staat und Gesell­ schaft im 19. Jahrhundert erklärt87. Aber das Bewußtsein des Span­ nungsverhältnisses zwischen allgemeiner Rechtsidee und einzelstaatli­ chen Ausprägungen ist doch wohl viel älter. Jedenfalls ist der praktische Wert der SAVIGNYschen Fragestellung nicht zu leugnen. Denn gegen­ über der umgekehrten Fragestellung nach dem Anwendungsbereich der Gesetze hat der vom Sachverhalt ausgehende Ansatz drei Vorteile:

1. Zunächst wirkt hier ein psychologisches Moment. Fragt man näm­ lich nach dem Anwendungsbereich der Gesetze, so gerät man in die Ver­ suchung, im Kollisionsrecht das einzelne Gesetz und den Willen des je­ weiligen Gesetzgebers in den Vordergrund zu stellen auf Kosten der zu regelnden privaten Rechtsverhältnisse. Zugespitzt gesagt: Wer vom Ge­ setz ausgeht und dessen mutmaßlichen Geltungswillen bestimmen will, kommt allzu leicht dazu, dem Gesetzgeber einen einseitig etatistisch-nationalen Standpunkt zu unterstellen und den Anwendungsbereich seiner Normen in erster Linie nach dem politischen, wirtschaftlichen oder Pre­ stige-Interesse des Staates zu bestimmen88. Wer dagegen von den einzel­ 86 Vgl. schon Savigny 27: „Standpunkt... einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der mit einander verkehrenden Nationen“. Näheres unten § 8: Völkerrecht. 87 So zuerst Klaus Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungs­ rechtsnorm (1965; bespr. in FamRZ 1966, 327 f.) 215 ff. 88 Ein extremes Beispiel verfehlter „rechtspolitischer“ Betrachtung bietet die Be­ hauptung, das Verbot mancher Staaten der USA, eine Versicherung auf das Leben ei­

nen Rechtsverhältnissen ausgeht, hat zuerst die Menschen im Auge, die im Mittelpunkt der Rechtsverhältnisse stehen, und er wird vor allem dem Interesse und Willen dieser Menschen Rechnung tragen89; das schließt nicht aus, daß dabei auch typische Zwecke einschlägiger in- und ausländischer Regeln berücksichtigt werden.

2. Sodann ist ein Aufbau der Kollisionsnormen vom Gesetz her sach­ lich fragwürdig, da die Gesetze in sehr verschiedenem Maße einer sozu­ sagen „autonomen“ Bestimmung ihres Anwendungsbereichs vom Inhalt her fähig sind. Rein logisch mag man zwar sagen, daß zu jeder Norm wesensmäßig die Angabe ihrer „Destinatäre“ gehöre, für die sie erlassen ist90. Damit erscheint die Bezeichnung des räumlich-persönlichen (eben­ so wie des zeitlichen) Anwendungsbereichs einer Norm als bloßes Tatbe­ standsmerkmal. Aber praktisch ist dessen Fixierung - soweit eine aus­ drückliche Regelung fehlt - oft sehr schwierig91. Während etwa eine religiöse Rechtsordnung wie das islamische Recht naturgemäß für alle Gläubigen, aber auch nur für diese gelten will, liegt den modernen welt­ lichen Rechtsordnungen eine solche scharfe Abgrenzung im ganzen fern: Einerseits haben die wenigsten Normen einen klar erkennbaren Mindest­ anwendungsbereich (über Ausnahmen siehe unten II 1). Anderseits gibt es kein Maximum der Anwendung, vielmehr erscheint nicht nur die Rezeption des eigenen Rechtes in fernen Ländern, sondern auch seine möglichst weitgehende Anwendung durch den inländischen Richter als durchaus erwünscht92. Eine Bestimmung und Abwägung der rechtspoli­ ner fremden Person abzuschließen (das offenbar Versicherungsmorde verhüten soll), diene dem Schutz der Bevölkerung dieser Staaten; so Currie, U. Chi. L. Rev. 27 (1959/60) 346 (= Selected Essays on the Conflict of Laws [1963] 437) N. 26. Derartige Verträge über das Leben von Fremden sollen also zulässig sein! 89 Vgl. auch die treffende Bemerkung von Eduard Wahl, Rvgl. Hwb. IV (1933) 340, daß bei Savignys Formel „der Geltungswille der kollidierenden Nor­ men ausgeschaltet wird. Dadurch gewinnt die Lehre zugleich einen stark privatrechtli­ chen Einschlag in dem Sinne, daß die Frage der völkerrechtlichen Kompetenz aus dem Gesichtsfeld entrückt wird.“ 90 Das ist z.B. die Grundthese von Sperduti, Theorie du d.i.p.: Rec. des Cours 122 (1967-III) 173 ff., bespr. in Z. f. Rvgl. 11 (1970) 219 f. 91 Vgl. schon Gerber, System des Deutschen Privatrechts8 (1863) § 32 N. 5 (S. 74), gegen die Lehre von Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht (1851), es sei zu untersuchen, welches Gesetz über diese bestimmte Rechtsfrage entscheiden will: „Diese Auffassung beruht jedoch auf der Voraussetzung, daß bei Erlassung aller oder doch der meisten Gesetze diese Frage ausdrücklich in’s Auge gefaßt werde. In der Regel wird aber die Beantwortung dieser sowie der meisten anderen auf das Herr­ schaftsgebiet bezüglichen Fragen offen gelassen, in der Regel will also ein einzelnes Gesetz hierüber Nichts bestimmen“ (Hervorhebungen von Gerber). 92 So wird die Rückverweisung (unten § 35) schon im ersten Vorentwurf zum BGB

tischen Ziele und des entsprechenden Anwendungsbereiches einer privat­ rechtlichen Vorschrift ist nicht selten geradezu unmöglich. Man denke allein an § 1 BGB, der die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt eintreten läßt, während der Code civil die Lebensfä­ higkeit des Kindes fordert: Was soll sich daraus für eine kollisionsrechtliche Interessenabwägung ergeben? Nur vereinzelte Gesetze sind von vornherein einer Anwendung im Ausland überhaupt nicht fähig, weil sie bestimmte inländische Gegeben­ heiten voraussetzen (Näheres unten § 44 II 2), und in diesen Fällen ist zu fragen, ob wirklich das Kollisionsrecht dem materiellen Recht ange­ paßt werden muß oder umgekehrt das materielle Recht an das Kolli­ sionsrecht. Beispielsweise hat die Ausgestaltung der deutschen Eheschließungsform nicht nur für Deutsche in Deutschland zu passen, sondern (nach dem Grundsatz locus regit actum) auch für Ausländer in Deutschland und notfalls für Deutsche im Ausland (nämlich wenn die Einhaltung der dortigen Ortsform etwa aus reli­ giösen Gründen einem Deutschen nicht zuzumuten ist)93.

3. Schließlich wird durch eine Betrachtung vom Gesetz her die wün­ schenswerte internationale Vereinheitlichung des IPR (siehe unten § 6: Entscheidungseinklang) meistens erschwert. Denn die materiellrechtlichen Gesetze sind von Staat zu Staat verschieden, und jeder Staat wird bei der Schaffung gesetzesbezogener IPR-Normen naturgemäß von den eigenen Gesetzen in ihrer besonderen Prägung ausgehen. Dagegen kann die Be­ trachtung vom Sachverhalt her auch bei stärkster Individualisierung nicht die internationale Einheitlichkeit des Ergebnisses gefährden, da das kon­ krete Rechtsverhältnis - gleichgültig, nach welchem Gesetz es beurteilt wird - immer dasselbe ist. II.

Vom Gesetz her nach seinem Anwendungsbereich zu fragen, ist dann sinnvoll, wenn nicht der Mensch und die sachgemäße Regelung seiner Verhältnisse im Blickpunkt der Gesetzgebung stehen und erst recht nicht die internationale Rechtseinheit, sondern ein bestimmtes rechtspolitivon Gebhard (1881; veröff. bei Theodor Niemeyer, Zur Vorgeschichte des IPR im Deutschen BGB, Die Gebhardschen Materialien, 1915) u. a. gerade damit ge­ rechtfertigt, daß durch sie „dem deutschen Rechte ein weiterer... Herrschaftskreis zu­ gewiesen wird“; vgl. das vollständige Zitat unten N. 750. 93 Vgl. Neuhaus, Zur Reform des deutschen formellen Eheschließungsrechts: FamRZ 1972, 59 (61).

sches Interesse des gesetzgebenden Staates. Schon Savigny nennt als Ausnahmen von seinem Grundsatz der Gleichstellung einheimischen und fremden Rechtes „Gesetze von streng positiver, zwingender Natur, die eben wegen dieser Natur zu jener freien Behandlung... nicht geeignet sind“; und er fügt hinzu, die betreffende Klasse der Gesetze habe „ihren Grund und Zweck außer dem reinen, in seinem abstracten Dasein aufge­ faßten Rechtsgebiet, so daß sie erlassen werden nicht lediglich um der Personen Willen, welche die Träger der Rechte sind“94. *Nun wird heute oft gesagt, das „reine“ Privatrecht im Sinne Savignys weiche einer allgemeinen Politisierung oder Sozialisierung des Privatrechts: dieses werde nicht mehr primär als Mittel des Ausgleichs privater Interessen, sondern als Mittel sozialer Gestaltung angesehen. Daraus folgt jedoch keineswegs, daß die internationale Fungibilität, die Austauschbarkeit der nationalen Privatrechtsnormen und damit die Möglichkeit ihrer grundsätzlichen Gleichbehandlung entfiele. Denn gerade die für das IPR wichtigsten Staaten, zwischen denen der internationale Verkehr von Menschen und Gütern vor allem stattfindet, stimmen auch in ihrer Gesetzespolitik weitgehend überein. Die Fragestellung vom Gesetz her kann sich daher im wesentlichen auf die sog. Eingriffsnormen beschränken, die im öffentlichen (staats­ oder wirtschaftspolitischen) Interesse auf private Rechtsverhältnisse ein­ wirken oder die sonstwie die persönliche Freiheit beschränken. Als Bei­ spiel sind hier vor allem Leistungsverbote zu nennen (Devisenbestim­ mungen, Ein- und Ausfuhr- sowie Feindhandelsverbote), ferner Be­ schränkungen der Vertragsfreiheit (Preisstop, Verbote von Goldklauseln, Kartellverbote). 1. Über den Anwendungsbereich solcher Gesetze lassen sich leicht zwei Regeln aufstellen: Inländische Gesetze sind nur dann, aber auch immer dann anzuwenden, wenn sie - expressis verbis oder nach ihrem Sinn und Zweck - gelten wollen. Ausländische Gesetze sind jedenfalls nur, aber nicht immer dann anzuwenden, wenn sie - wiederum nach ihrer ausdrücklichen Bestimmung oder nach Sinn und Zweck - gelten wollen. Dagegen ist zweifelhaft, ob und inwieweit ausländische Gesetze in dem angegebenen Rahmen ihres eigenen Geltungswillens tatsächlich anzuwenden sind. Um eine unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Nor­ 94 Savigny 33, 35 f. (Hervorhebungen im Original), ähnlich 307 (über Anerben­ gesetze). 3 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Auf!.

men zu vermeiden, könnte man aus jenen zwei Regeln das allgemeine Prinzip entwickeln, daß jede Eingriffsnorm den von ihr selbst bean­ spruchten Anwendungsbereich erhalten soll. Dem stehen jedoch mehrere Bedenken entgegen, denen verschiedenes Gewicht zukommt. a) Im praktischen Ansatz bedeutet ein solches System für die Fälle, in denen nicht das inländische Recht angewandt sein will, den Verzicht auf den festen Ausgangspunkt einer inländischen Kollisionsnorm, die auf ein bestimmtes Recht verweist. Es wird vielmehr durch eine „offene Verweisung“ dem Richter die Verpflichtung aufgebürdet, alle nur ent­ fernt in Betracht kommenden Rechtsordnungen unter dem Gesichts­ punkt zu prüfen, ob sich nicht etwa eine von ihnen aufgrund einer noch so ungewöhnlichen Anknüpfung für zuständig erklärt95. Zwar muß auch ‘das Bestehen einer fremden Staatsangehörigkeit grundsätz­ lich durch Prüfung der Staatsangehörigkeitsgesetze aller in Betracht kommen­ den Länder ermittelt werden, da jeder Staat nur Erwerb und Verlust seiner ei­ genen Staatsangehörigkeit regeln kann96. Aber die Staatsangehörigkeit ist nicht wie das anzuwendende Recht für jedes einzelne Rechtsverhältnis neu zu be­ stimmen, und sie wird oft sogleich nach Entstehung der maßgebenden Anknüp­ fung durch ein Ausweispapier (Paß oder dergleichen) dokumentiert97.

Immerhin ist diese Erschwerung der Rechtsfindung nicht sehr gewich­ tig, da in der Praxis meistens von vornherein außer dem inländischen nur ein bestimmtes ausländisches Recht zur Wahl steht. b) Im Ergebnis erreicht das genannte System sein an sich durchaus mit Recht erstrebtes Ziel teils auf bedenkliche Weise, indem es anma­ ßenden Rechtsordnungen das Vordringen gestattet. Teils erreicht es dieses Ziel überhaupt nicht, sondern führt zu negati­ ven und positiven Kompetenzkonflikten. Wenn nämlich jedem Gesetz sein von ihm selbst geforderter Anwendungsbereich eingeräumt wird, so kann es geschehen, daß im Einzelfall entweder überhaupt kein Gesetz oder aber eine Mehrzahl inhaltlich nicht übereinstimmender Gesetze an­ wendbar ist. Mit Martin Wolff zu sprechen: es kann Normenmangel oder Normenhäufung eintreten98. In der Regel soll aber für einen pri­ 96 Vgl. die Beispiele ungewöhnlicher Anknüpfungen aus dem Erb- und Unterhalts­ recht unten § 11 IV. 96 Siehe unten N. 573. 97 Näheres bei MAKAROV, Allg. Lehren 351-370 („Die über die Staatsangehörigkeit ausgestellten Bescheinigungen“). 98 M. Wolff, IPR 58. Der Niederländer Offerhaus sagt dafür „Job en Croesus“. Von „der übergroßen Zahl von Widersprüchen und Harmoniestörungen, die auf

vatrechtlichen Sachverhalt immer eine und nur eine Rechtsordnung an­ wendbar sein. Dies entspricht dem modernen Prinzip der Vollständig­ keit der Rechtsordnung (im Gegensatz etwa zu dem römischen Denken in Legisaktionen, das nur eine begrenzte Anzahl einklagbarer Ansprüche kannte). Bei Normenmangel oder Normenhäufung muß daher zumeist das inländische IPR doch eine Lösung aus eigener Verantwortung geben - wenn nicht durch allgemeine Regeln, so durch Spruch des inländi­ schen Richters von Fall zu Fall. Anders ist es aber gerade bei den Eingriffsnormen, von denen wir hier sprechen. Solche Gesetze sind mit Steuern zu vergleichen. Vom einzel­ nen Sachverhalt her gesehen sind diese einerseits entbehrlich und führen anderseits auch bei gehäuftem Eingreifen meistens nicht zu unlösbar­ ren Konflikten, wenngleich es „im Interesse der Staaten liegt, die Steu­ erzahler unter sich aufzuteilen, um zu vermeiden, daß diese wertvollen menschlichen Milchkühe entweder mißhandelt oder nicht ausgenutzt werden“99. Ebenso wäre eine internationale Abstimmung der Eingriffs­ normen aufeinander wohl erwünscht, aber für den Einzelfall ist sie in der Regel nicht notwendig: Das Fehlen einer Eingriffsnorm schadet dem Rechtsverkehr nicht, und ein direkter Widerspruch zwischen mehreren Eingriffsnormen verschiedener Rechtsordnungen ist ein ganz ungewöhn­ licher Ausnahmefall, der hier außer Betracht bleiben kann, da er sich allgemeiner Regelung entzieht. Denkbar wäre, daß für das Maß einer Leistung - etwa die Höhe einer pri­ vaten Abfindung - oder für eine Frist die eine Rechtsordnung eine Obergren­ ze und die andere eine höher liegende untere Grenze festsetzt. Ein konkretes Beispiel für solch einen Konflikt ist mir aber nicht bekannt.

c) Vom politischen Standpunkt kann das inländische Recht nicht ohne weiteres die fremden Eingriffsnormen akzeptieren, wenn deren Zielsetzung der inländischen Rechtspolitik nicht entspricht. Selbst wenn man die zu a) und b) erhobenen Bedenken zurückstellen möchte, ist un­ ter diesem Gesichtspunkt eine generelle Gleichstellung in- und aus­ ländischer Eingriffsnormen nicht angängig. Immerhin kann man bei die­ sen Gesetzen die Frage nach dem selbstgewählten Anwendungsbereich zum Ausgangspunkt nehmen (Näheres unten in § 20: Maximen der An­ knüpfung unter II 2 a (1)). diese Weise entstehen können“, spricht Wengler, in: Festschrift M. Wolff (1952) 372. 99 Siesby, Some Aspects of the Legislative Technique in the Conflict of Laws (ungedr. Thesis, Harvard 1952) 21.

2. Die genaue Abgrenzung der Eingriffsnormen, deren Anwendungs­ bereich „vom Gesetz her“ bestimmt wird, gegenüber den regelmäßig „vom Sachverhalt her“ anzugehenden „reinen“ Privatrechtsnormen ist bisweilen schwierig. So kann eine Höchstgrenze für Vertragszinsen oder ein Freizeichnungsverbot im Transport- oder Versicherungsrecht ebensogut um der privaten Vertragsge­ rechtigkeit willen aufgestellt sein wie aus volkswirtschaftlichen Erwägungen. Ein Ehehindernis oder die Festsetzung einer Unterhaltspflicht kann einerseits bevölkerungspolitische oder fiskalische Zwecke verfolgen und daher auf Staatsangehörige und das Inland begrenzt sein oder anderseits dem Schutze der Beteiligten dienen (und dann den allgemeinen Kollisionsregeln unterstehen). Eindeutige Kriterien sind hier bisher nicht gefunden worden100.

Insbesondere sind historische Schwankungen der Grenzziehung nicht ausgeschlossen. Wenn z. B. heute noch die Beschränkung des unlauteren Wettbewerbs nicht als eine Frage angesehen wird, die - so oder so nach irgendeinem Rechtssatz entschieden werden muß101, so wird man in Zukunft vielleicht anders urteilen. Ein neueres Beispiel zweifelhafter Einordnung als echtes Privatrecht oder als Eingriffsnormen bietet das deutsche Konzernrecht mit seinen Vorschriften zum Schutze der Aktionäre und der Gläubiger einer beherrschten Gesellschaft (§§ 293 ff. AktG 1965). Regeln diese Normen vorwiegend den Status der Ge­ sellschaft, oder handelt es sich um wirtschaftspolitisch gezielte Maßnahmen ge­ gen eine übermäßige Unternehmenskonzentration? Je nachdem mag ein außer­ deutsches Gericht ihre Anwendung auf eine deutsche Gesellschaft bejahen oder verneinen102.

Ein gewisses Indiz für das überwiegende öffentliche Interesse an einer Norm bildet eine mit ihr verbundene Strafandrohung. Jedoch können auch rein soziale Vorschriften mit Strafsanktionen versehen sein und umgekehrt etwa wirtschaftspolitische Gesetze auf solche verzichten.

3. Auch die dogmatische Erfassung der Eingriffsnormen bereitet Schwierigkeiten. Schon materiellrechtlich ist umstritten, ob man von „Privatrecht mit 100 Mit Recht sagt Bydlinski, Z. f. Rvgl. 2 (1961) 28: „Die Unterscheidung nach dem überwiegenden privaten oder öffentlichen Interesse bringt den entscheiden­ den Gesichtspunkt zum Ausdruck, ermöglicht aber keine ganz exakte Grenzziehung.“ 101 Vgl. etwa Wengler, IntRDipl. 1 (1956) 63 f., sowie besonders (implicite) Joerges (unten N. 114) 466 f. und passim. 102 Siehe etwa Immenga/Klocke, Konzernkollisionsrecht: ZSchwR 92 (1973) 27 (49 ff.).

öffentlich-rechtlichem Hintergrund“103 sprechen soll oder von „öffent­ lichem Recht mit privatrechtlicher Wirkung“104 oder - wohl am ge­ nauesten - von „privatrechtlicher Sanktion“ einer „öffentlichrechtli­ chen Verbotsnorm“105. 106 * Im Rahmen des IPR bilden die Eingriffsnormen - jedenfalls vom Standpunkt der „klassischen“, auf Savigny fußenden Lehre - einen Gegensatz zu den bloß ordnenden, der sachgerechten Regelung privat­ rechtlicher Lebens Verhältnisse dienenden Vorschriften, für die sich die Fragestellung vom Sachverhalt her empfiehlt. Während die Sachverhal­ te sich mehr oder weniger typisieren lassen und daher mit einer be­ schränkten Zahl allgemein gehaltener Kollisionsnormen zu bewältigen sind, verlangen Eingriffsnormen - zumindest in ihrer Anfangszeit, so­ lange sie rechtspolitisch umstritten und nicht allgemein üblich sind eine stärker individualisierende Behandlung je nach ihrem besonderen Zweck. Neuerdings wird auch für sozialpolitisch orientierte Schutznormen die Fra­ gestellung vom Gesetz her und dementsprechend eine Sonderanknüpfung vertre­ ten, weil diese Normen - nach Inhalt und jeweils beanspruchtem Geltungsbe­ reich - von Land zu Land allzu verschieden und zugleich für ihr jeweiliges Herkunftsland zu wichtig seien, um wie das klassische Privatrecht als aus­ tauschbar zu gelten108. Aber werden hier nicht die Eigenheiten gerade aktueller Erscheinungen überschätzt? Aufgabe der Wissenschaft sollte es sein, die Ge­ meinsamkeiten der sachlichen Bedürfnisse herauszuarbeiten, die den verschiede­ nen nationalen Formen der sog. Sozialisierung des Privatrechts zugrunde lie­ gen, und damit die Fragestellung vom einzelnen Gesetz her möglichst entbehr­ lich zu machen.

III.

Von der jeweiligen konkreten Gesetzeskollision her - also der Frage, ob im gegebenen Fall die einschlägige Rechtsnorm dieser oder jener Rechtsordnung zur Anwendung kommen soll - wollen manche Neue­ rer an die Stelle aller „mechanischen“, gegenüber dem praktischen Er­ gebnis „blinden“ Kollisionsnormen eine bloße Methode der Bestimmung 103 So Wengler, Die Anknüpfung des zwingenden Schuldrechts im IPR ZvglRW 54 (1940/41) 168 (187 N. 2). 104 Hans Stoll, RabelsZ 24 (1959) 655. 105 Karl H. Neumayer, RabelsZ 25 (1960) 651. 106 Siehe etwa von Hoffmann, Über den Schutz des Schwächeren bei inter­ nationalen Schuld vertragen: RabelsZ 38 (1974) 396 ff.

des jeweils anzuwendenden Rechtes setzen107. Man hat gegen diese Re­ aktion auf allzu starre Kollisionsregeln, wie sie besonders in Amerika in der ersten Hälfte dieses Jahrhunders herrschten, den Vorwurf der Kadi­ justiz erhoben, d. h. einer mehr oder weniger irrationalen Entscheidung von Fall zu Fall108. Jedoch kann die neue Methode, die an die Stelle der alten Regeln treten soll, als eine streng rationale und damit nach­ prüfbare intendiert sein109. Dabei sind zwei Richtungen zu unterschei­ den: Die einen wollen jeweils das materiell bessere Recht anwenden110. Als Maßstab einer solchen Entscheidung kommen sowohl vorbestimmte Ziele in Betracht (z. B. der „Schutz der Schwachen“, die möglichst weit­ gehende Gültigerklärung von Rechtsgeschäften, die Freiheit von eheli­ chen Bindungen, das Wohl des Kindes) wie einfach die rechtsverglei­ chende Feststellung, welche Lösung die sachgerechtere, d. h. dem Aus­ gleich der auf dem Spiele stehenden Interessen besser dienende, oder schlechthin die „fortschrittlichere“ ist. Die anderen wollen noch feiner abwägen, nämlich welche der kolli­ dierenden Regelungen nach ihrer Zielsetzung das stärkste und legitimste Interesse daran hat, im gegebenen Falle angewandt zu werden111. Da­ bei wird vorausgesetzt, daß aus dem Sinn und Zweck jeder materiellen Norm (nicht etwa nur einer Eingriffsnorm) klar bestimmt werden kann, 107 Über europäische Vorbilder dieser Entwicklung (Jitta 1890, KOLLEWIJN 1917, Fränkel 1930, Hijmans 1937) und ihre Anfänge in Amerika berichtet De Nova, Soluzione del conflitto di leggi e regolamento confacente del rapporto internazionale, in: Studi giuridici in memoria... Ciapessoni (= Studia Ghisleriana 1/1; 1948) 115 ff. 108 So auch die Vorauflage (S. 64 mit N. 152 sowie S. 275 mit N. 651). 109 Außerdem sollte der Ausdruck „Kadijustiz“ im Sinne bloßer Gefühlsentschei­ dungen schon deshalb vermieden werden, weil er auf einer Unterschätzung der islami­ schen Rechtskultur beruht. Vgl. etwa Schacht, Islamic Law in Contemporary States: Am. j. Comp. L. 8 (1959) 133 (134): „It is ... arbitrary interventions of political authorities and the unpredictable compliance of representatives of Islamic law with them, which have given its connotation to the term ,cadi justice’ - whereas no judgment ought normally to be more certain and predictable than the decisions of a competent cadi on a question of Islamic law.“ 110 Dieser „better-rule approach“ scheint in der Praxis eine noch größere Rolle zu spielen als in der Theorie, wo selbst sein Protagonist Leflar die Begünstigung des besseren Rechts nur als eine von fünf „choice-influencing considerations“ behandelt: Leflar, American Conflicts Law (1968) 259. - Zur subsidiären Wahl des besseren Rechts (Zweigert) siehe unten in § 9: RechtsVergleichung unter II 3. 111 Vgl. für alle Restatement2 § 6 (2), wo als relevante Faktoren für die Wahl des anwendbaren Rechts genannt sind: (b) the relevant policies of the forum, (c) the relevant policies of other interested States and the relative interests of those States in the determination of the particular issue.“

ob sie im Einzelfall angewandt werden will, und daß der Richter, wenn mehrere Normen angewandt sein wollen, zwischen ihnen eine objektive, im Prinzip von jedem andern Richter ebenso zu vollziehende und daher für die Beteiligten voraussehbare Entscheidung treffen kann. Bei näherer Betrachtung ist die eine wie die andere Form einer rich­ terlichen Abwägung der jeweils widerstreitenden Gesetze jedoch für den Durchschnitt der Fälle viel zu aufwendig, da sie die versuchsweise An­ wendung mehrerer materieller Rechtsordnungen und dann noch die Be­ wertung der gefundenen Lösungen erfordert, wenn sie nicht überhaupt undurchführbar ist (vgl. oben I 2). Außerdem sind solche Abwägungen - trotz allen guten Willens zur Objektivierung - doch unvermeidli­ cherweise subjektiv und führen damit zur Rechtsunsicherheit im Sinne mangelnder Rechtsklarheit. Demgemäß haben die neuen Methoden selbst im Verhältnis der relativ homogenen Rechtsordnungen der nord­ amerikanischen Einzelstaaten zu keinen überzeugenden Ergebnissen ge­ führt112. Erst recht ist von ihnen für Europa mit seinem viel stärkeren Ge­ gensatz zwischen Nord und Süd, West und Ost sowie seinen lebhaften Beziehungen zu Afrika und Asien wenig zu erhoffen. Im Zweifel wird der Richter seine Entscheidung, welches die beste sachliche Lösung ist, nach inländischen Maßstäben treffen und daher jeweils seine lex fori anwenden, weil er Berechtigung und Vorzüge der zur Wahl stehenden ausländischen Regeln nicht hinreichend zu sehen vermag113. Immerhin ist evident, daß den „revolutionären“ Auffassungen ein beachtenswertes Unbehagen gegenüber dem bisherigen IPR zugrunde liegt. Insbesondere wird immer wieder der Vorwurf eines zugleich star­ ren, mechanischen und blinden, wertfreien Formalismus erhoben, also ei­ ner Überbetonung der Rechtssicherheit auf Kosten des gerechten Ergeb­ nisses. Dadurch droht die Rechtssicherheit sich schließlich selbst aufzu­ heben, weil die Praxis solchen starren Regeln die Gefolgschaft ver­ weigert und damit zu völliger Rechtsunsicherheit gelangt. (Siehe dazu den folgenden Paragraphen.) 112 Vgl. die völlig verwirrte amerikanische Rechtsprechung zum Delikts-Kollisions­ recht seit Babcock v. Jackson, 191 N. E. 2d 279 (N. Y. 1963). Typisch Neu­ meier v. Kuehner, 286 N. E. 2d 454 (N. Y. 1972): Die vermeintlich klärende vor­ läufige Zusammenfassung der neuen Rechtsprechung durch die obergerichtliche Ent­ scheidung Tooker v. Lopez, 249 N. E. 2d 394 (N. Y. 1969), wurde von der zweiten Instanz angeblich falsch verstanden und daher deren Urteil vom Obergericht aufgrund einer neuen Distinktion aufgehoben. 113 „Die ,neue Freiheit* kann zu einer noch festeren Einschließung der internationa­ len Rechtsverhältnisse in die Fesseln der lex fori führen“, warnte schon frühzeitig De Nova (oben N. 107) 144 N. 72.

IV.

Im Endergebnis werden wir uns mit der Zweipoligkeit des IPR ab­ finden müssen, obwohl sie eine ständige Quelle der Schwierigkeiten und der Verwirrung bedeutet. Es läuft hier ein Riß durch das moderne IPR, der es in zwei verschieden strukturierte Teile spaltet: Im Bereich des ei­ gentlichen Privatrechts geht die Fragestellung vom Sachverhalt her nach dem anwendbaren Recht. Im Bereich der Eingriffsnormen dagegen wird vom Gesetz her nach dessen Anwendungsbereich gefragt. Daß dieser Gegensatz durch das Verschwinden der einen oder der anderen Katego­ rie von Normen wegfällt, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten114. Einerseits vermehren sich im Zuge der „Sozialisierung des Privatrechts“ zweifellos die Eingriffsnormen auf Kosten des „reinen“ Privatrechts. Anderseits können Regelungen, die zunächst als Eingriffsnormen emp­ funden wurden, unter den Partnern des Weltverkehrs so gang und gäbe werden, daß sie schließlich als ebenso international fungibel gelten wie heute etwa Zinshöchstsätze und gesetzliche Kündigungsfristen. Ja, nach Zweigert kann „kaum noch bestritten werden, daß gerade auf den Grenzgebieten zwischen Privat- und öffentlichem Recht - etwa im Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht, ja sogar im Strafrecht115 - echte Kollisionsnormen ,im Kommen* sind. Mehr und mehr wird... auch bei verwaltungsrechtlichen Sachverhalten mit Auslandsberührung die allge­ meine Frage zugelassen: Welcher Staat ist am nächsten daran, diesen Sachverhalt zu regeln?“116 Diese mehr sachliche als politische Frage114 Die Ausführungen von Joerges, Die klassische Konzeption des IPR und das Recht des unlauteren Wettbewerbs: RabelsZ 36 (1972) 421 ff., überzeugen nicht da­ von, daß dem Internationalen Recht des unlauteren Wettbewerbs, wenn es zu wirt­ schaftspolitisch bestimmten Lösungen tendiert, „exemplarische Bedeutung“ (421, 437, 460, 489) für das gesamte IPR zukomme. Vgl. auch Eckard Rehbinder, Zur Politisierung des IPR: JZ 1973, 151 ff., der „nur ein ergänzendes kollisionsrechtliches System für soziales, wirtschafts- und unternehmensordnendes Privatrecht“ empfiehlt (156). . . . . 115 Hier verweist ZWEIGERT auf Staubach, Die Anwendung ausländischen Straf­ rechts durch den inländischen Richter (1964), bespr. von Dierk Müller, RabelsZ 30 (1966) 559 ff. 116 ZWEIGERT, RabelsZ 31 (1967) 368; er resümiert damit seinen Vortrag „IPR und öffentliches Recht“, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel (1965) 124 ff., französische (z. T. mißverständliche) Übersetzung in Rev. crit. 54 (1965) 645 ff. - Wenn die kommunistischen Länder an dieser Entwick­ lung nicht teilnehmen, sondern sich auch im Verkehr miteinander lieber auf die „Prin­ zipien der Achtung der Souveränität, der Gleichberechtigung und der Nichteinmi­ schung in die inneren Angelegenheiten“ zurückziehen - vgl. A. Mehnert/ Lübchen, Der Rechtshilfevertrag zwischen der DDR und der SRFJ [Jugoslawien]:

Stellung mag sich zunächst auf die internationale Zuständigkeit beziehen - welchen Staates Behörden sollen tätig werden? dann aber kann sie auch für die Entscheidung gelten, welches materielle Sozial-, Steuer-, Devisenrecht die zuständigen Behörden anwenden sollen. Anregungen könnte dabei das (freilich selbst schwach entwickelte) Internationale Recht der Freiwilligen Gerichtsbarkeit bieten, da dieses ja wie das Ver­ waltungsrecht mit unmittelbarer Staatstätigkeit zu tun hat. Jedenfalls hat die „politische“ Fragestellung vom einzelnen Gesetz her grundsätzlich als Ausnahme zu gelten.

§ 5: Gerechtigkeit im IPR Wenngleich in der heutigen kollisionsrechtlichen (wie rechtsvergleichenden) Wissenschaft eine soziologisch-politische Betrachtungsweise des Rechtes als „so­ cial engineering“ und Interessenpolitik häufig empfohlen wird, sei die Frage nach dem Wertgehalt des IPR unter dem alten, tiefer reichenden Begriff der Gerechtigkeit behandelt117.

Gerechtigkeit ist - begriffs- und sprachgeschichtlich gesehen - nicht in erster Linie ein objektives Merkmal einer gesellschaftlichen Ordnung, sondern eine persönliche Tugend118: sie ist das Streben nach der rechten Ordnung. Daneben wird das Wort vielfach in einem dritten Sinne ge­ braucht, nämlich für das inhaltliche Rechtsideal im Gegensatz zur bloß formalen Rechtssicherheit119. So auch im folgenden. NJ 1967, 47 (dazu unten N. 569) so dürfte das weniger ideologisch bedingt sein (durch den Gegensatz des „Sozialismus“ zum „Kapitalismus“) als durch die Tatsache, daß selbst innerhalb des „sozialistischen Lagers“ offenbar mehr Vorsicht und Ängst­ lichkeit herrschen als brüderliches Vertrauen. 117 Vgl. Graveson, Conflict of Laws7 (1974) 11: Die Anwendung fremden Rechtes dient der „primary duty of a court to do justice according to law... No les­ ser justification is sufficient. No greater justification exists.“ 118 Vgl. Reut-Nicolussi, Jur. Bl. 1954, 155 (gegen Kelsen, Was ist Gerech­ tigkeit?) im Anschluß an Ulpian, D 1, 1, 10 pr.: „lustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.“ - Anders Dahrendorf, Die Idee des Ge­ rechten im Denken von Karl Marx2 (1971) 21 ff., der bei Bestimmung der Gerechtig­ keit von der Wendung „ [einer Sache oder einem Menschen] gerecht werden“ ausgeht. 119 Zur Gerechtigkeit als Tugend und als Rechtsideal siehe etwa den Bericht in JZ 1955, 61 (A. Hartmann einerseits, E. Fechner anderseits). Zum ganzen auch Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat (1957) 175 ff. Die Spannung zwischen mate­ rialer Gerechtigkeit und formaler Rechtssicherheit zu verleugnen durch die immer wie­ der aufkommende Umschreibung der letztem als Sicherheit der Durchsetzung des „richtigen“ Rechts, scheint mir nicht förderlich.

I. Als ein charakteristischer Teil der Rechtsordnung hat das IPR seine eigene Gerechtigkeit3 muß seinen unvertauschbaren Beitrag zur Ver­ wirklichung der Rechtsidee leisten. Das ist keine Besonderheit des IPR. Beispielsweise können Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht ein und denselben Verkehrsunfall unter den ganz verschiede­ nen Gesichtspunkten des Schadenersatzes für den Verletzten, der Bestrafung des Schuldigen und des Schutzes der öffentlichen Ordnung betrachten. Auch materielles Recht und Verfahrensrecht haben verschiedene Leitwerte, wie sich etwa im Falle des materiell richtigen, aber fehlerhaft zustande gekommenen Urteils zeigt oder umgekehrt im Falle des formell korrekten, jedoch auf fal­ schen Angaben des Klägers beruhenden Versäumnisurteils. Obwohl das Verfah­ rensrecht im Grunde nur der Realisierung des materiellen Rechts dient, dürfen materiellrechtliche Kategorien nicht die Entscheidung jeder einzelnen prozes­ sualen Frage bestimmen120.

Wenngleich das IPR letztlich zu materiell befriedigenden Entscheidun­ gen führen soll, ist sein Gerechtigkeitsgehalt mit dem des materiellen Rechts nicht von vornherein identisch. Anderseits ist das IPR nicht wie man oft meint - „bloß formal“ oder „wertneutral“: „Es kommt nicht darauf an, daß man irgendeine äußere Ordnung hat, sondern die richtige Ordnung.“121 Kurz und ganz provisorisch gesagt, lautet der Kerngedanke des IPR: Inländisches Recht ist in der Regel auf inländi­ sche Rechtsverhältnisse zugeschnitten; auf Fälle mit überwiegender Aus­ landsbeziehung wird besser ausländisches Recht angewandt, und zwar jeweils das dem Fall am nächsten stehende.

120 In England ist das Bewußtsein vom Gerechtigkeitsgehalt des Verfahrensrechtes (und nicht nur von seiner Bedeutung für die Rechtssicherheit) so stark ausgeprägt, daß z. B. der Ausdruck „natural justice“ fast ausschließlich für gewisse prozessuale Grund­ sätze gebraucht wird. Siehe etwa Keeton, Natural Justice in English Law: Cur. Legj. Probl. 8 (1955) 24 ff.; H. H. Marshall, Natural Justice (1959); ebenso Miller, Problems of Natural Justice: Jur. Rev. 5 (1960) 29 (36): „Natural justice, whatever its scope, is confined to procedural aspects“; neuerdings Paul Jackson, Natural Justice (1973) 1 ff. Ein Gegenbeispiel bietet die Prüfung der Gründe ausländi­ scher Scheidungsurteile am Maßstab der „natural justice“ in Manning v. Man­ ning, [1958] P. 112 (122). Dagegen wieder Bagnall, J. im Falle In re Meyer, [1971] P. 298 (308-310): Bei Anerkennung einer ausländischen Entscheidung betrifft natural justice nur das Verfahren und nicht die Sache. 121 Beitzke, GG und IPR (unten N. 130) 15.

II. Bei der Verwirklichung dieser Gerechtigkeit ist zu unterscheiden nach den im vorigen Paragraphen erörterten zwei Fragestellungen. Soweit das IPR vom Gesetz her nach dessen Anwendungsbereich fragt, ist offenbar der Zweck des Gesetzes das beherrschende Element. Nur am Rande kommt eine gewisse Rücksichtnahme auf das etwaige Hereinspielen anderer Rechtsordnungen in Betracht, z. B. wo eine Pflichtenkollision für die Betroffenen droht. Soweit dagegen vom Sachverhalt her nach dem anwendbaren Recht gefragt wird, das seinerseits die konkrete Lösung liefern soll, wird die inhaltliche Gerechtigkeit auf zwei Stufen verwirklicht.

1. Auf der ersten, eigentlich kollisionsrechtlichen Stufe soll jeweils zunächst das „angemessene“, das „passende“ Recht bestimmt werden, das „am nächsten daran ist“, den Fall zu regeln. Entscheidend ist dabei nicht, welches Gesetz im Einzelfall materiellrechtlich, also seinem Inhalt nach, die beste - gerechte und zweckmäßige - sachliche Lösung anbie­ tet. Das IPR muß vielmehr auf dieser ersten Stufe von der Gleichwer­ tigkeit der in Betracht kommenden Regelungen ausgehen (vgl. oben § 4 III). Es handelt sich zunächst nur darum, welches Gesetz einem Falle nach den Umständen am nächsten steht (sachlich, nicht unbedingt räum­ lich) und daher die Vermutung für sich hat, ihn am angemessensten zu regeln, m. a. W. welches Recht „für den fraglichen Tatbestand am be­ sten geeignet sei“122. Gerecht und „fallangemessen“ ist insoweit nicht eine bestimmte sachliche Lösung, sondern die Anwendung einer be­ stimmten Rechtsordnung. Dabei trifft das IPR in gewissem Umfang bereits substantielle Wert­ entscheidungen, und zwar teilweise schon bei der Fragestellung - wenn z. B. das deutsche EGBGB zwischen ehelichen und unehelichen Kindern unterscheidet und bei den letzteren die Beziehungen zur Mutter, die per­ sönlichen Beziehungen zum Vater und die Unterhaltsansprüche gegen diesen getrennt behandelt (Artt. 19-21) -, besonders aber bei der Aus­ wahl des anwendbaren Rechtes, der sog. Anknüpfung (siehe unten § 20: Maximen der Anknüpfung). Bisweilen werden hier einfach nationale Interessen gegenüber dem Ausland wahrgenommen. Dies geschieht z. B., wenn ein typisches Schuldnerland die einseitigen 122 Dölle, in: Festschrift Raape (1948) 151.

Schuldverträge (besonders Darlehen) deshalb dem Wohnsitzrecht des Schuld­ ners unterstellt, damit der eigene Geschäftsverkehr mit dem Ausland möglichst nach inländischem Recht beurteilt wird123. Ähnlich ist es, wenn einerseits über­ seeische Einwanderungsländer im Interesse der raschen kulturellen Assimilie­ rung der noch nicht formell eingebürgerten Immigranten alle persönlichen Rechtsverhältnisse dem Rechte des Wohnsitzes unterstellen, anderseits die kon­ tinentaleuropäischen Auswanderungsländer aus dem umgekehrten Grunde an die Staatsangehörigkeit anknüpfen124.

In anderen Fällen aber geht es um rein innerstaatliche WertScheidun­ gen. So spiegelt sich in dem Streit um die Grenzen der Parteiautonomie im Schuld­ recht das Spannungsverhältnis von individueller Freiheit und staatlicher Au­ torität; hinter dem Streit um die Anknüpfung an Staatsangehörigkeit oder Domizil steht außer den erwähnten Interessen auch der grundsätzliche Gegen­ satz von Stabilität und Verkehrsinteresse; im Internationalen Familienrecht zeigt sich die jeweilige Auffassung von Ehe, Familie und Kindschaft: ob Pa­ triarchat oder Gleichberechtigung der Geschlechter gilt, ob die Einheit der Fa­ milie betont wird oder die Freiheit der einzelnen, ob Elternrecht oder Kindes­ wohl dominiert usw. Wohlgemerkt werden die genannten Werte durch das Verweisungs­ recht nicht nach Art des materiellen Rechts verwirklicht, sondern auf eine besondere Weise. So bedeutet „Freiheit der Vertragsschließenden “ im IPR nicht die Befugnis, beliebige Abreden zu treffen, sondern nur die freie Bestimmung des maßgebenden Vertragsrechtes; „Gleichberechti­ gung der Ehefrau“ meint nicht ein unmittelbares Mitentscheidungsrecht, sondern die Mitberücksichtigung ihres Heimat- oder Wohnsitzrechtes; „Kindeswohl“ heißt nicht Anspruch auf bestimmte Leistungen oder Maßnahmen, sondern vor allem die Bestimmung möglichst aller Rechts­ beziehungen des Kindes nach ein und derselben Rechtsordnung. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, sind also mit mate­ riellrechtlichen Entscheidungen nicht identisch und auch nicht einfach aus diesen abgeleitet; aber sie stehen zu ihnen im Verhältnis der Analo­ gie oder Parallelität - so wie die Wertentscheidungen von Privatrecht 123 Vgl. Szäszy zu § 58 Nr. 1 des ungarischen Entwurfs zu einem Gesetz über das IPR von 1947 in den (nicht veröffentlichten) Motiven auf S. 9: „Der Entwurf be­ rücksichtigt außerdem die speziellen Umstände Ungarns, vornehmlich, daß Ungarn ein Schuldnerstaat ist und es sein hochwichtiges Interesse bildet, daß das Wohnsitzrecht des Schuldners bei der Beurteilung der Schuldverhältnisse mit internationalen Bezie­ hungen in möglichst großem Maße angewandt werde.“ (Anders aber § 49 des ungari­ schen Entwurfs eines IPR-Gesetzes von 1968/69, deutsche Übersetzung bei Pfaff, Die Außenhandelsschiedsgerichtsbarkeit der sozialistischen Länder... [1973] 874: Gläubigerrecht.) 124 So bereits Nussbaum, Deutsches IPR (1932) 108.

und öffentlichem Recht, von bürgerlichem und Zivilprozeßrecht nicht ganz unabhängig voneinander sind. Gewiß sind wir Ernst Rabel zu Dank verpflichtet für die grundsätzliche „Emanzipierung des Kolli­ sionsrechts“ aus den „Ketten der bürgerlichen Gesetzbücher“125. Jedoch kann der Zusammenhang zwischen den Entscheidungen des IPR und de­ nen des sonstigen nationalen Rechts nicht übersehen werden. Das IPR ist nicht nur an seine eigene Gesetzlichkeit gebunden, sondern auch an die Wertentscheidungen der nationalen Rechtsordnung als ganzer. Eine gewisse politische Bedingtheit des IPR zeigt sich schon in der formellen Struktur seiner jeweiligen Normierung: Im aufgeklärten Obrigkeitsstaat be­ stand eine Neigung zu gesetzlicher Regelung; der bürgerlich-liberale Staat überließ das IPR weitgehend der Rechtsprechung und der Wissenschaft (im Widerstreit mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Rechtssicherheit!); im kom­ munistischen Staat wird die Freiheit der Richter und der Parteien wieder be­ schränkt durch eindeutige gesetzliche Regeln126. - Bei den Einzelheiten ist an­ derseits die Möglichkeit eines Funktionswandels nicht zu übersehen: Die ur­ sprünglich feudalistische Sonderbehandlung von Grundeigentum im Internatio­ nalen Familien- und Erbrecht wird heute zum Teil im Interesse der internatio­ nalen Durchsetzbarkeit von Entscheidungen beibehalten, die „patriarchalische“ Anknüpfung an die Person des Ehemannes bzw. Vaters im Familienrecht gilt teilweise nur noch im Interesse der kollisionsrechtlichen Familieneinheit fort; die „liberale“ Anerkennung der Rechtswahl durch die Parteien im Vertrags­ recht wird von manchen immerhin als Verlegenheitslösung gebilligt. Ein anerkanntes System oder gar eine feste Rangordnung der kollisi­ onsrechtlichen Werte oder Interessen gibt es bisher nicht. Insbesondere ist die KEGELsche Dreiteilung in Partei-, Verkehrs- und Ordnungsin­ teressen127 weder logisch zwingend noch praktisch frei von Überschnei­ dungen. Da der mögliche Nutzen eines derartigen Systems überhaupt zweifelhaft ist, sei hier auf ein solches verzichtet und nur eine Reihe von „Maximen der Anknüpfung“ vorgestellt (unten § 20).

2. Auf der zweiten, materiellrechtlichen Stufe ist die Bindung des IPR an die nationalen Wertentscheidungen noch enger. Wenn nämlich die maßgebende Rechtsordnung festgestellt ist, hat der Richter zunächst 125 Rabel, Qualifikation 283, vgl. 287; ähnlich schon in RabelsZ 3 (1929) 755 = Aufsätze II 246. Vgl. unten § 9. 126 Eine inhaltliche Eigenständigkeit des sozialistischen IPR ist bisher allerdings nicht festzustellen; vgl. Neuhaus, Sozialistisches IPR?: RabelsZ 31 (1967) 543 ff.; ähnlich Ehrenzweig, Am. J. Comp. L. 13 (1964) 633 (Bespr. von Szäszy, Pri­ vate International Law in the European People’s Democracies). , 127 Kegel, IPR 44 ff.; kritisch dazu Neuhaus, RabelsZ 25 (1960) 377.

zwar diese so anzuwenden, wie sie in ihrem Ursprungsland angewandt wird. Dann aber muß er das Ergebnis überprüfen und notfalls korrigie­ ren. Einerseits sind im Wege der sog. „Anpassung“ oder „Angleichung“ die Spannungen auszugleichen, die durch die gleichzeitige Anwendung verschiedener Rechtsordnungen auf einzelne Teile oder Aspekte eines in­ ternationalen Sachverhalts entstehen können (siehe unten § 47: Anpas­ sung). Dabei wird der Richter mangels jeglicher gesetzlicher Regeln von selbst dazu neigen, im Zweifel nach inländischen WertVorstellungen zu entscheiden. Zum andern ist das gesamte Ergebnis an den Grundsätzen des inländischen ordre public zu prüfen (siehe unten § 49: Ordre public). Diese beiden Notventile dürfen bei einer Kritik an der überliefer­ ten Methode des IPR nicht übersehen werden. Einmal mehr zeigt das IPR hier eine irritierende Kompliziertheit. Nicht ohne Grund ist es eine „Etüde mit fünf Vorzeichen“ genannt worden128. Des­ halb horchen wir immer wieder aufmerksam hin, wenn sich irgendwo eine Stimme erhebt, die eine wesentliche Vereinfachung verspricht. Aber bisher ha­ ben die Versuche, aus einem einheitlichen Grundgedanken ein besseres IPR herzuleiten, jedesmal enttäuscht128 129. So müssen wir uns weiter um das kompli­ zierte, auf mancherlei Kompromissen beruhende „klassische“ System bemühen.

III. Über das Verhältnis von IPR und Verfassung ist in Deutschland seit 1950 viel geschrieben worden. Speziell zur Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau im IPR hat das Institut, nachdem in den Jahren 1950-52 vier seiner Mitglieder vier ver­ schiedene Grundauffassungen entwickelt hatten, als Kompromiß im Mai 1953 in einer „vorläufigen Stellungnahme“ erklärt: Das Institut „sieht... in keiner dieser Bestimmungen [des bisherigen Internationalen Privat- und Prozeßrechts] einen so eindeutigen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung, daß sie am 1. 4. 1953 [dem in Art. 117 GG bestimmten Stichtag] außer Kraft ge­ treten wäre“180. Die Zivilgerichte haben die bisherigen Kollisionsnormen fast 128 Von Max GUTZWILLER, zitiert nach de Winter, De maatschappelijke woonplaats (1962) 26. 129 Vgl. die Besprechungen der Vorschläge von Kronstein, Charles Knapp, Georg Cohn, Pilenko sowie anderen in RabelsZ 15 (1949/50) 358 f., 17 (1952) 509 ff., 20 (1955) 577 ff., 597 ff. und 28 (1964) 793 ff.; ferner zu Stöcker: WM 1966, 134 ff; zu weiteren Neuerern im europäischen IPR: RabelsZ 35 (1971) 401; zu Flessner und ZWEIGERT unten bei N. 193 und 253 f. 180 RabelsZ 18 (1953) 119 f. mit Nachweis der einschlägigen Aufsätze von Döl-

durchweg unverändert weiter angewandt und nur im Rahmen der Vorbehalts­ klausel sich öfter auf das Grundgesetz bezogen181. 182 Der183 Gesetzgeber * 185 hat bei Er­ laß des Gleichberechtigungsgesetzes von 1957 nur die Vorschrift über die An­ erkennung ausländischer Scheidungsurteile geändert (früher § 606 II, jetzt § 606a ZPO) und auch bei weiteren Novellen zum bürgerlichen Recht, insbe­ sondere zu Teilen des Familienrechts, durch sein Schweigen die vorherr­ schende Auffassung bestätigt, daß die Anpassung des deutschen IPR an die Wertentscheidungen des Grundgesetzes besser im Rahmen einer Gesamtreform erfolge, mit deren Vorarbeiten der Deutsche Rat für IPR schon 1953 begonnen hat132. Das Bundesverfassungsgericht hatte erstmals 1971 Gelegenheit, zum IPR Stellung zu nehmen, und hat dabei grundsätzlich erklärt: „Als nationales, in­ nerstaatliches Recht sind die Vorschriften des deutschen internationalen Pri­ vatrechts in vollem Umfang an den Grundrechten zu messen.“133 In concreto hat es sich aber darauf beschränkt, einen Verstoß des Art. 13 I EGBGB ge­ gen das Grundgesetz zu verneinen134 und im übrigen die Anwendung des auslänldischen Rechtes insoweit auszuschließen, als sie zu einer Grundrechtsverlet­ zung führen würde (hierzu unten § 50: Grundrechte). Dagegen ist offen geblie­ ben, wieweit andere Kollisionsnormen als der genannte Art. 13 über die Ehe­ schließung geändert werden müssen und wie dies im einzelnen geschehen soll135. Die seitherige Rechtsprechung hält sich zumeist zurück, was wohl verständ­ lich ist angesichts der verwirrenden Vielzahl vorgeschlagener Lösungen, der Komplikation durch bestehende Staatsverträge und auch der besonderen Ge­ fahren einer Berufung auf verfassungsmäßige Grundrechte im IPR (siehe unten Makarov, Neuhaus und Neumayer. - Zu weitergehenden Folgerungen aus dem Grundgesetz siehe Beitzke, Grundgesetz und IPR (1961) 10 ff., bespr. in RabelsZ 26 (1961) 751 f. 131 Vgl. Kropholler, Gleichberechtigung durch Richterrecht (1975) 81 ff. Eine bewußt einschränkende Auslegung einer andern Verfassungsnorm im Interesse des geltenden IPR bietet BGH 11. 6. 1958, BGHZ 27, 375 = IPRspr. 1958-59 Nr. 5: Der Art. 116 II GG (rückwirkende Kraft der Wiedereinbürgerung von Emigranten) gilt nicht im Rahmen des Art. 13 EGBGB und führt daher nicht zur Heilung einer nach dem seinerzeitigen Personalstatut nichtigen, aber nach deutschem Recht gültigen Ehe. 182 Über die Konstituierung des Rates siehe RabelsZ 18 (1953) 597, über die Vor­ schläge seiner Familien- und Erbrechtskommission (= 2. Kommission) zur Reform des deutschen IPR siehe die Besprechungsaufsätze in FamRZ 1962, 415 ff.; 1967, 22 ff.; 1970, 12 ff.; 1973, 81 f. 183 BVerfG 4. 5. 1971, BVerfGE 31, 58 = RabelsZ 36 (1972) 145 (dazu neun Auf­ sätze ebd. 2-140) = IPRspr. 1971 Nr. 39, unter C III 3 Abs. 1. 134 A.a.O. unter C IV. 185 Diese Selbstbeschränkung des BVerfG ist zu begrüßen, denn das Gericht würde sich hier in Zusammenhänge verstricken, die aus rein verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu bewältigen sind. Vgl. Juenger, The German Constitutional Court and the Con­ flict of Laws: Am. J. Comp. L. 20 (1972) 290 (297), unter warnendem Hinweis auf amerikanische Erfahrungen: „If it appears that the time is ripe to reconsider German conflicts rules and methodologies, one might still question whether the Constitutional Court is a proper body to promote this task.“ le,

§ 50), zumal wenn im Einzelfall ein Nachteil für die Parteien des Rechtsstreits nicht ersichtlich ist137 138.

Das Dilemma einer Rechtsprechung, die das bisherige Recht einem be­ stimmten Verfassungsbefehl anpassen soll, ohne sich zu einer schöpferi­ schen Neuordnung befugt zu sehen (etwa zur Überwindung des Gegen­ satzes von Vater- und Mutterrecht durch Übergang zum Kindesrecht), und die daher befürchtet, ein Übel (eine verfassungswidrige Rechtslage) durch ein anderes (eine umstrittene und wenig sachgemäße Regelung) zu ersetzen - dieses Dilemma ist kein Spezifikum des IPR137. Es wird freilich verschärft durch die besondere Unsicherheit der meisten Richter gegenüber diesem unvertrauten Rechtsgebiet138.

IV.

Insgesamt kann von einem „wertblinden Formalismus“ des IPR nicht die Rede sein. Wollte man aber regelmäßig schon im ersten Stadium, bei der Anknüpfung, ein Maximum von materieller Gerechtigkeit anstre­ ben, so würde das leicht zu Einseitigkeiten führen. Vielmehr empfiehlt es sich, in allen kollisionsrechtlichen Fällen zunächst eine systemgerech­ te Lösung zu suchen. Erweist diese sich als materiell allzu unbefriedi­ gend, so bleibt immer noch die Möglichkeit einer Korrektur mit Hilfe der mehr vom internen materiellen Recht bestimmten Behelfe der zwei­ ten Stufe. Die Verwurzelung des Richters im inländischen Recht bietet die Gewähr dafür, daß solche notwendigen Korrekturen nicht vergessen 138 Bezeichnend LG Hamburg 18. 7. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 143, im Anschluß an Jayme/von Olshausen, FamRZ 1973, 283 f.: „Das Verhältnis von GG und in­ ternationalem Privat- und Prozeßrecht ist so vielschichtig, daß es billig und vertretbar ist, von der derzeitigen Rechtslage so lange auszugehen, bis eine Korrektur durch die zur Rechtsetzung berufenen Organe erfolgt ist; der Auftrag hierzu ist durch die Ent­ scheidung des BVerfG erteilt.“ - Ein konkreter (kollisions- und materiellrechtlicher) Nachteil, zu dessen Vermeidung ein Richter am ehesten vom bisherigen Kollisionsrecht abweichen wird, läge etwa dann vor, wenn ein Ehemann durch Wechsel des Wohnsit­ zes oder durch Verweigerung der Einbürgerung die Anwendung eines der Frau weni­ ger günstigen Rechtes zu erzwingen versucht - vorausgesetzt, daß nicht eine der als „gleichberechtigungskonform“ geltenden Lösungen (etwa die Kumulierung von Man­ nes- und Frauenrecht) in casu zum gleichen Ergebnis führen würde. 137 Nach den recht unterschiedlichen Erfahrungen mit der richterlichen Verwirkli­ chung der Gleichberechtigung im deutschen materiellen Zivilrecht von 1953 bis 1958 (siehe Kropholler, oben N. 131) möchte man sagen: „Vestigia terrent.“ 138 Zuversichtlicher beurteilt die Aussichten eines vorläufigen Richterrechts Krop­ holler (oben N. 131) 86, 89 f., der insbes. die Hamburger Entscheidung (oben N. 136) „zu eng“ nennt (85 N. 307).

werden. Wenn man umgekehrt die Anwendung der materiellen lex fori als Grundregel des IPR betrachtet, angebliche nationale Interessen an die Spitze stellt und damit die Aushilfsmittel der Anpassung und des ordre public sozusagen antizipiert, dann besteht die Gefahr, daß das ausländische Recht überhaupt aus dem Blickfeld entschwindet. Man wird auf diese Weise vielleicht im Inland plausibel scheinende Ergebnis­ se erzielen, aber dem ausländischen Element internationaler Sachverhal­ te nicht gerecht werden. Eben weil nationale und materiellrechtliche Ar­ gumente naturgemäß stärker ansprechen als die Achtung vor fremdem Recht und das Ideal des internationalen Entscheidungseinklangs, sollten materielle Argumente nicht vorzeitig ausgespielt werden. Wir dürfen den Knoten der international verknüpften Sachverhalte auch nicht mit dem Schwerte inländischer materieller Werturteile durchhauen, sondern müs­ sen ihn in beharrlicher Geduld aufzulösen versuchen.

S 6: Entscheidungseinklang

Entscheidungseinklang - früher ungenau Gesetzesharmonie ge­ nannt139 oder Entscheidungsharmonie, neuerdings auch Entscheidungs­ gleichheit (so im folgenden meistens) oder Konfliktsminimum - ist das formale Ideal des IPR. Es handelt sich dabei um den „äußeren“ oder in­ ternationalen Entscheidungseinklang im Gegensatz zum „inneren“ Ent­ scheidungseinklang (auch als materielle Harmonie bezeichnet), der zwi­ schen mehreren Entscheidungen desselben Staates bestehen soll. Schon Savigny hat das gemeinte Ideal mit den Worten umrissen, daß „die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beurtheilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urtheil gesprochen werde“140.

139 So zuerst wohl durch Kahn, Über Inhalt, Natur und Methode des IPR: Jher. Jb. 40 (1898) 1 (68, 76 ff.) = Abhandlungen I 254 (310, 316 ff.). Dazu M. Wolff, IPR 9 N. 3: „musikalisch wunderliches Bild (gemeint ist Einklang, nicht Mehr­ klang!)“. 140 Savigny 27; vgl. 129: „die wünschenswerthe und annäherungsweise zu errei­ chende Übereinstimmung der Entscheidungen von Collisionsfällen in verschiedenen Staaten.“ 4 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

I.

Zur Begründung dieses Ideals ist vor allem zu sagen: Das Ergebnis ei­ nes Rechtsstreites soll nicht vom Ort des Verfahrens, also „nicht vom Zufall oder dem Geschick der Parteien abhängen“141. Zwar knüpfen viele Zuständigkeitsregeln - wie schon erwähnt (oben § 3 I 2) - an die­ selben Umstände an wie die entsprechenden Kollisionsnormen142. Aber daneben gibt es ausgesprochen „beziehungsarme“ Gerichtsstände143 neuerdings nennt man sie „exorbitante“144 - wie den Gerichtsstand des Vermögens im deutschen Recht (§ 23 ZPO) und den der Klagezu­ stellung im Gerichtssprengel in den anglo-amerikanischen Rechten. Fer­ ner gilt der Grundsatz „actor sequitur forum rei“ (§12 ZPO), der die Zuständigkeit von der Verteilung der Parteirollen abhängig macht und auch für die Beurteilung zurückliegender Sachverhalte auf den gegen­ wärtigen Gerichtsstand des Beklagten abhebt. Schließlich besteht die Möglichkeit der Wahl des Klägers zwischen mehreren zuständigen Ge­ richten. Die Geltung unterschiedlichen Kollisionsrechts in verschiedenen Gerichtsständen kann also dazu führen, daß je nach dem zufälligen oder gar vom Kläger berechnend gewählten Ort der Prozeßführung (die Amerikaner sprechen im letzten Falle von „forum shopping“) verschie­ denes materielles Recht zur Anwendung kommt und eine andere Ent­ scheidung ergeht. Das Ideal der Entscheidungsgleichheit unabhängig vom Lande der Prozeßführung gilt schon dann, wenn es sich um gleichartige Fälle han­ delt, damit die Parteien des einen Falles nicht anders behandelt werden als die des andern. Erst recht aber muß es beachtet werden, wenn derselbe (identische) Sachverhalt in verschiedenen Ländern zu beurteilen ist. Bei unterschiedlicher Beurteilung desselben Falles von Land zu Land lei­ den nämlich das Ansehen des Rechts und das Vertrauen auf seine inter­ nationale Unverbrüchlichkeit in besonderem Maße145. Darüber hinaus 141 Gamillscheg, Int. ArbeitsR 6. 142 Ausführlich dazu RabelsZ 20 (1955) 251. 143 ZWEIGERT, RabelsZ 14 (1942) 289. 144 Tonangebend Martha Weser, Rev. crit. 48 (1959) 618, vgl. dazu A. Bülow, RabelsZ 29 (1965) 481 mit N. 22 f. zu Art. 3 II des späteren EG-Übereinkommens vom 27. 9. 1968 (oben N. 48), früher schon z. B. Cour Bastia 13. 5. 1913, Clunet 41 (1914) 935 (937). 145 Auf den Einzelfall bezogen (nicht als Kritik an der oben in § 1 III verteidig­ ten Mannigfaltigkeit der objektiven Rechtsordnungen) ist das vielzitierte Wort von Pascal berechtigt (Penskes, d. Lafuma, Paris 1951, no. 108): „Plaisante justice, qu’une ri viere borne! Vrit au de des Pyrnes, erreur au delä.“

werden oft konkrete Erwartungen enttäuscht. Im schlimmsten Falle entstehen geradezu Pflichtenkollisionen, wenn nämlich das eine Urteil gebietet, was das andere verbietet (z. B. die Erfüllung eines Vertrages trotz Moratoriums, die Herstellung der ehelichen Gemeinschaft bei einer nicht überall anerkannten Ehe, die Fortführung einer nach anderm Rechte erloschenen Vermögensverwaltung)146. Die Entscheidungsgleichheit ist also grundsätzlich ebensowohl im In­ teresse der internationalen Rechtsgemeinschaft wie um der jeweils betei­ ligten Menschen willen anzustreben; mit einer politischen Rücksichtnah­ me auf ausländische Gesetzgeber hat sie im allgemeinen nichts zu tun147. Leider nehmen manche Kollisionsnormen keine Rücksicht auf die Entscheidungsharmonie (z. B. Art. 13 III EGBGB, der für die Ehe­ schließung im Inland ausschließlich die Inlandsform gelten läßt). Aber das ist kein überzeugender Grund, auf das Ideal auch in anderen Fällen — bei der Auslegung von Kollisionsnormen und bei der Lückenfüllung — generell zu verzichten. Allerdings muß bisweilen eine Disharmonie der Entscheidungen deshalb in Kauf genommen werden, weil sich un­ vereinbare Gegensätze der Bewertung zeigen, insbesondere wenn die Anwendung fremden Rechtes im Ergebnis gegen unseren ordre public verstoßen würde (vgl. unten § 49). Außerdem gibt es Situationen, in denen das Interesse an der interna­ tionalen Entscheidungsgleichheit so gering ist, daß es nicht ernstlich ins Gewicht fällt. Das gilt vor allem dann, wenn keine parallele ausländi­ sche Entscheidung zu erwarten ist, weil zur Zeit der Entscheidung kein ausländisches Gericht zuständig ist und die einmal getroffene Entschei­ dung aller Voraussicht nach im Ausland anerkannt werden wird. Haben z. B. amerikanische Eheleute seit längerem ihren Wohnsitz im ameri­ kanischen Sinne und ihren Aufenthalt „bona fide“ (d. h. nicht etwa infolge fraudulöser Verlegung zwecks Schaffung eines Gerichtsstandes) in Deutschland und klagen sie hier auf Ehescheidung, so entfällt für die Wahl des Scheidungs­ rechtes der Gesichtspunkt der Entscheidungsgleichheit, da nach amerikani­ schem Recht in einem solchen Falle die deutschen Gerichte ausschließlich zu­ ständig sind und eine in Deutschland gefällte Entscheidung ganz unabhängig davon, welches materielle Recht das deutsche Gericht anwendet, in Amerika anerkannt werden wird.

Aber auch in Fällen konkurrierender in- und ausländischer Zustän­ digkeit (z. B. für die Adoption eines deutschen Kindes, das in Deutsch­ 146 Ausführlicher dazu M. Wolff, IPR 89. 147 Ausnahmen siehe unten N. 991 und N. 1009 (Anwendung ausländischer politi­ scher Gesetze).

land domiziliert ist, durch einen Amerikaner mit amerikanischem Domi­ zil) entfällt der Gesichtspunkt der Entscheidungsgleichheit, wenn die mehreren Gerichtsstände bewußt unter dem Gesichtspunkt der Begünsti­ gung der Beteiligten gegeben sind, so daß die Wahl des als vorteilhaft empfundenen Gerichtsstandes und damit seiner Rechtsordnung nicht als bedenkliche Gesetzesumgehung oder als Erschleichung eines Urteils an­ gesehen werden kann (vgl. unten § 37 II 3). Vorsicht ist dagegen dann geboten, wenn es zwar im Augenblick den Anschein hat, als könne der im Inland zu entscheidende Fall niemals Gegenstand einer ausländischen Entscheidung werden (z. B. weil die Parteien als politische Flüchtlinge keine Aussicht haben, in ihr Heimat­ land zurückzukehren), wenn jedoch keine Sicherheit bezüglich der künf­ tigen Auswirkungen besteht. Politische Verhältnisse können sich rascher ändern, als man voraussah, und auch sonst hat schon manches Urteil wi­ der Erwarten doch zu einem Konflikt mit einer ausländischen Rechts­ ordnung geführt, z. B. anläßlich eines Erbstreites oder eines Auslandsauf­ enthaltes oder einer späteren Eheschließung mit einem Ausländer148. Bei jeder Verletzung der internationalen Entscheidungsgleichheit zugunsten eines im Augenblick als materiell gerecht empfundenen Ergebnisses ist da­ her gewissenhaft zu erwägen, ob wirklich das momentane Interesse der Beteiligten oder auch die vermeintliche objektive Gerechtigkeit der Ent­ scheidung die Möglichkeit künftiger Konflikte aufwiegt. Besonders gilt dies für die Begründung „hinkender“, d. h. nicht in allen Ländern aner­ kannter Ehen oder Kinderschaftsverhältnisse, indem etwa ein Ehe- oder Legitimations- oder Adoptionshindernis des Heimatrechts einer der betei­ ligten Personen ignoriert wird149. Zwar wird gern das Wort eines hohen französischen Richters zitiert: „Es leben tatsächlich unzählige Leute ganz gemütlich in hinkenden Familienrechtsverhältnissen.“150 Aber es kann 148 Besonders vorsichtig Beck, [Berner] Kommentar zum Schweiz. ZGB V/2 (1932) Art. 7h NAG Rdz. 14 (zur Anerkennung drittstaatlicher Scheidungsurteile): „Richtigerweise muß hier dem Heimatstaat der Vorzug gegeben werden, weil nur an diesen die Leute nötigenfalls abgeschoben werden können.“ 149 Das unerfreuliche Ende der in Deutschland zugelassenen Wiederverheiratung ei­ nes hier von seiner deutschen Frau (gemäß Art. 17 III EGBGB) geschiedenen Italie­ ners - Gefängnisstrafe in Italien wegen Bigamie sowie Schadenersatzansprüche schildert Ferid, FamRZ 1961, 401. Siehe auch die Nachweise bei Jayme, StAZ 1972, 227 und 247 ff., für das Ehe- bzw. Legitimationsrecht, wie die voreilige Anwen­ dung inländischer Normen immer wieder zu Konflikten führt, die bei Berücksichti­ gung ausländischen Rechtes mit geringem Aufwand hätten vermieden werden können. 150 Georges Holleaux, Die Grundbegriffe des IPR, Ein Bericht ...: FamRZ 1963, 635 (637).

sich auch der „Fluch der bösen Tat“ über mehrere Generationen auf die Staatsangehörigkeit, den Namen, das Sorge-, Unterhalts- oder Erbrecht oder in anderen Fragen auswirken. II.

Die Verwirklichung der Entscheidungsgleichheit kann bisweilen schon im Rahmen des inländischen materiellen Rechts angestrebt werden. Besonders im Adoptionsrecht spielt der Entscheidungseinklang eine Rolle, wenn die Zulässigkeit der Adoption davon abhängt, daß diese dem Wohl des Kindes entspricht. Dann wird der Richter prüfen müssen, ob eine inländische Adoption, die im Heimat- oder Wohnsitzland eines der Beteiligten (z. B. eines leiblichen Elternteils) nicht anerkannt wird, im Ergebnis dem Kinde nicht mehr schaden kann, als sie nutzt151. Ferner kann ein Urteil gegen ausländisches öffentliches Recht - obwohl dieses an sich von inländischen Gerichten nicht durchzusetzen ist - für eine Partei nicht zumutbar und damit unerträglich sein152 oder gar gegen die öffentliche Ordnung verstoßen (besonders wenn das Recht eines befreundeten Staates in Rede steht153).

Solche mittelbare Berücksichtigung ausländischen Rechtes aufgrund inländischer ausfüllungsbedürftiger Normen ist sozusagen eine Vorstufe seiner direkten, kollisionsrechtlich vorgeschriebenen Anwendung. III. Im Rahmen des Kollisionsrechtes kann die internationale Entschei­ dungsgleichheit zunächst bei der Aufstellung nationaler Kollisionsnor­ men beachtet werden154. Ja, es ist dringend erwünscht, daß dies ge­ 151 Vgl. Re B. (S.) (An Infant), [1968] Ch. 204; Randzio, Verfahren und Zu­ ständigkeit im internationalen Adoptionsrecht (Diss. Kiel 1969) 218 f. mit weiteren Nachweisen; Mende, ZBlJugR 1963, 104: eine „hinkende“ Adoption erscheint „vom Erfahrungsbereich der internationalen Sozialarbeit her gesehen nicht als tragbare Lö­ sung“; Jayme, StAZ 1971, 71 f. 152 Vgl. etwa die Berücksichtigung des englischen Feindhandelsverbotes durch RG 28. 6. 1918, RGZ 93, 182, sowie des Devisenrechts der Sowjetzone durch westdeutsche Gerichte seit 1950 (Nachweise bei Drobnig, NJW 1960, 1088 ff.). 158 Siehe BGH 21. 12. 1960, BGHZ 34, 169, und 24. 5. 1962, NJW 1962, 1436 (Umgehung amerikanischer Embargo-Bestimmungen), sowie BGH 22. 6. 1972, BGHZ 59, 82 (Verletzung eines ausländischen Kulturgut-Ausfuhrverbotes): jedesmal wurde ein Verstoß gegen die guten Sitten (§138 BGB) angenommen. (Zu dieser Formulierung siehe unten N. 1009.) 154 Die klare Unterscheidung zwischen Entscheidungsgleichheit als Kodifikations­ grundsatz und als Prinzip der Rechtsanwendung (sowie zwischen „Zustimmung ande­

schieht und der Gesetzgeber nicht etwa - wie es im Ostblock öfter vor­ kommt - fremdrechtsfeindliche Kollisionsnormen aufstellt in der Er­ wägung, daß im Verhältnis zu befreundeten Staaten doch großzügigere Staatsverträge angewandt werden. Derartige Freund-Feind-Unterschei­ dungen sind mit der kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit nicht vereinbar.

Jedoch ist folgendes zu bedenken: 1. Das Ideal der Entscheidungsgleichheit ist kein inhaltlich eindeuti­ ger Gesichtspunkt. Es sagt z. B. nicht, ob die persönlichen Verhältnisse eines Menschen nach dem Recht des Staates beurteilt werden sollen, des­ sen Angehöriger er ist, oder nach dem Recht seines Wohnsitzes, sondern es besagt nur, daß möglichst überall dasselbe Recht maßgeblich sein soll. Der inländische Gesetzgeber sollte dabei vor allem das Recht des­ jenigen Landes achten, in welchem eine konkurrierende Entscheidung über denselben Sachverhalt bereits ergangen oder zu erwarten ist. Das zweite Kriterium ist freilich recht unbestimmt, da oft nicht mit Sicher­ heit vorauszusehen ist, in welches Land die beteiligten Personen oder ihre Kinder später kommen mögen oder in welchem Lande sie Vermö­ gen besitzen werden, das als Vollstreckungsobjekt dienen kann. Im Ideal ist daher Entscheidungseinklang mit allen Staaten der Welt zu erstreben. 2. Ferner darf der Entscheidungseinkling nicht rein statisch aufge­ faßt werden, etwa im Sinne einer arithmetischen Ermittlung, welche Lö­ sung nach dem gegenwärtigen Stand des Kollisionsrechts aller in Be­ tracht kommenden Länder am häufigsten vorkommt oder sonstwie die wenigsten Konflikte veranlaßt; denn dann würde der Gedanke der Ent­ scheidungsgleichheit weithin zu einer Erstarrung des Kollisionsrechts führen, zu einer Festlegung auf gewisse überkommene und in der Mehr­ zahl der Rechtsordnungen einmal anerkannte Regeln155. Das Ideal der Entscheidungsgleichheit ist vielmehr bei der Neubildung von Kollisions­ rer Staaten“ und „Einklang mit dem in concreto entscheidenden Recht“) verdanke ich R. Jochem, Das Erbrecht... (unten N. 1046) 90 bzw. 145 N. 25 f. 155 Mit Recht sagt Siegrist, Gleichberechtigung von Mann und Frau und IPR: RabelsZ 24 (1959) 54 (73): „Soll im IPR allgemeinen Zeitströmungen Nachachtung verschafft werden, so ist nicht zu vermeiden, daß zunächst einzelne Länder oder Ländergruppen... eine bisher vorherrschende Lösung aufgeben und vorübergehend eine gewisse Disharmonie... in Kauf nehmen.“ Auch nach Braga, RabelsZ 23 (1958) 439, soll sich der einzelstaatliche Gesetzgeber „nicht durch allzu große Rück­ sichtnahme auf andere Staaten zu einer traditionalistischen oder abwartenden Haltung führen lassen, sondern unter Umständen auch völlig neue Wege gehen und zu neuen Anknüpfungen greifen, wenn sie überall akzeptiert werden können.“

normen eher im Sinne eines möglichen künftigen Einklangs zu verste­ hen, also im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!“156 Wenn etwa die Haftung für unerlaubte Handlungen bisher fast überall nach der lex loci delicti commissi beurteilt worden ist, so verbietet das Ideal der Entscheidungsgleichheit nicht die Aufstellung von neuen, differenzierten Re­ geln (z. B. Beachtung einer etwaigen Rechtswahl der Parteien; akzessorische Anknüpfung von Ansprüchen, die mit einem besonderen Rechtsverhältnis im Zusammenhang stehen, nach dem für dieses Rechtsverhältnis geltenden Recht; Anknüpfung an einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien)157.

Dagegen würde eine bewußt einseitige, nur an den Interessen der ei­ genen Staatsbürger ausgerichtete Regelung, die von vornherein keine Aussicht auf allgemeine Annahme hat, gegen den Gedanken der Ent­ scheidungsgleichheit verstoßen (etwa die Beurteilung von Arbeitsunfäl­ len nach dem Heimatrecht des verletzten Arbeiters, weil mehr inländi­ sche Arbeitnehmer im Ausland arbeiten als umgekehrt). In diesem Sinne hat das Institut de Droit international im Jahre 1952 den Grundsatz aufgestellt: „Die Vorschriften des Internationalen Privatrechts sollen im allgemeinen Kriterien verwenden, die einer Internationalisierung fähig sind, nämlich der Aufnahme in internationale Konventionen, um nichtübereinstimmende Lö­ sungen eines konkreten Falles in verschiedenen Ländern zu vermeiden.“158

Vorsichtiger gesagt: Jedes Land sollte nur solche Kollisionsnormen aufstellen, die mindestens im Grundsatz allgemeiner Annahme fähig sind und nicht bewußt einseitig nationalen Interessen dienen, mag auch unter den gegenwärtigen Umständen die Annahme dieser Normen in Ländern, welche traditionell andere Grundsätze befolgen (z. B. eindeutige An­ knüpfungen einem gewissen Beurteilungsspielraum des Richters vorzie­ hen), vorerst nicht zu erwarten sein. Auf diese Weise wird der Entschei­ dungseinklang wenigstens nicht blockiert. 156 So die meistzitierte Fassung, Kritik der praktischen Vernunft (1787) § 7. Die Übereinstimmung bezieht sich jedoch nur auf den Sinn, nicht auf die „kategorische“ (unbedingte) Verknüpfung. Die Bezeichnung der Entscheidungsharmonie als „kategori­ scher Imperativ des IPR“ ist daher ungenau. 157 Vgl. Kropholler, Ein Anknüpfungssystem für das Deliktsstatut: RabelsZ 33 (1969) 601 ff., mit weiteren Beispielen solcher Regeln S. 651. 158 Resolution von Siena unter Nr. 2, Ann. Inst. Dr. int. 44 (1952) II 423 = Insti­ tut de Droit international, Tableau general des rsolutions (Basel 1957) Nr. 84, deut­ sche Übersetzung in RabelsZ 17 (1952) 519.

IV. Bei der Anwendung inländischer Kollisionsnormen ist der Gedanke der Entscheidungsgleichheit ebenfalls bedeutsam, vor allem für das Ver­ hältnis zu fremdem Kollisionsrecht. Je mehr ein Staat sich bemüht hat, sein Kollisionsrecht dem Ideal einer für alle Länder annehmbaren Rege­ lung anzunähern, indem er es von allen nationalen Einseitigkeiten - hi­ storisch oder interessenmäßig bedingten - freigehalten und nur solche Kollisionsnormen aufgestellt hat, die der Internationalisierung fähig sind, desto größer ist die Versuchung, dieses Kollisionsrecht nunmehr absolut zu setzen und bei seiner Anwendung den ausländischen, weniger idealen Kollisionsnormen keinerlei Konzessionen zu machen159. Wer je­ doch wirklich die internationale Entscheidungsgleichheit erstrebt, kommt nicht daran vorbei, solange eine internationale Vereinheitlichung des Kollisonsrechts nicht erzielt ist, auf die Verschiedenheit der nationa­ len Kollisionsrechte Rücksicht zu nehmen und sich um ein Zusammen­ spiel mit den fremden Kollisionsrechten, um eine Koordinierung zu be­ mühen160. Bezugspunkt ist hier oftmals nur diejenige fremde Rechtsordnung, die nach inländischem Kollisionsrecht an sich maßgebend ist (z. B. bei Ren­ voi, Vorfrage, Gleichlauf). Jedoch gibt es auch die Rücksichtnahme auf eine an sich nicht zuständige Rechtsordnung (im Falle der sog. Nä­ herberechtigung) . Von den einzelnen Formen wird unten die Rede sein (siehe §§ 35 ff., 46, 57 bzw. § 38). Hier soll nur auf die Problematik schon einmal hingewiesen werden.

Dabei kann es sich allerdings immer nur um Behelfsmaßnahmen mit begrenztem Erfolg handeln. Im Prinzip, rein logisch betrachtet, ist es nicht möglich, von widersprechenden nationalen Kollisionsnormen aus zu widerspruchsfreien, völlig einheitlichen Ergebnissen zu gelangen. Ins­ besondere ist der Gedanke eines universalen „Kollisionsrechts der Kolli­ sionsrechte“, eines Überkollisionsrechts oder Rechtsanwendungsrechtes

159 Vgl. etwa zur „funzione universale“ des italienischen „modello" Ballarino, Dir. Int. 25 (1971) 325. 160 Diesen Gedanken der „coordination des systemes“ betont besonders BATIFfol, Aspects philosophiques du d.i.p. (1956) nos. 46 ff.; D.i.p.6 I (1974) no. 304. Nach Heierli, Normbildungs- und Normausbildungstechnik im IPR (Diss. Basel 1973) 90, „muß das Forumrecht entscheiden, ob ihm der Torso seiner [im Ausland nicht durchsetzbaren] Postulate lieber ist als eine international anerkannte Kompro­ mißentscheidung“.

der zweiten Potenz161, eine Illusion. Er bedeutet eine bloße Verschie­ bung des Problems der Vereinheitlichung des Kollisionsrechts auf eine höhere Stufe, ohne daß es dort leichter zu bewältigen wäre. Anderseits ist es fruchtlos, „die Disharmonie der Gesetze mit einer grimmigen Entsagung zu unterstreichen“162. Immerhin lassen sich im Wege des praktischen Kompromisses für gewisse typische Konflikte ver­ schiedener Kollisionsrechte brauchbare Auswege finden. Diese sind um so eher möglich, als ein Bedürfnis nach Koordination im allgemeinen nur dort vorliegt, wo die betreffenden Rechtsgemeinschaften sich nahe genug stehen, um ein lebhaftes commercium und conubium zu unterhal­ ten. Es ist kein bloßes Gedankenspiel, sondern eine ernste Aufgabe der Wissenschaft, diesen Kompromissen den Charakter des Zufälligen zu nehmen und sie in klare und handliche Gestalt zu bringen163.

V. Am besten wird der Entscheidungseinklang durch ein international einheitliches IPR verwirklicht. 1. Für die Formen der Vereinheitlichung des IPR gilt grundsätzlich das oben (S 2 II) über die Quellen des wirklich internationalen Rechtes Gesagte164. *Praktisch dominiert die dort an erster Stelle genannte über­ einstimmende Rechtsetzung durch Konventionen. Jedoch genügt zur Erreichung der Entscheidungsgleichheit nicht bloß text­ mäßige Übereinstimmung. Denn eine solche Übereinstimmung könnte z. B. auch durch die allgemeine Festlegung auf das Prinzip der Prävention erzielt 161 Ein solches befürworten Eckstein, Die Frage des anzuwendenden Kollisions­ rechts: RabelsZ 8 (1934) 121 ff.; Gamillscheg, Internationale Zuständigkeit und Entscheidungsharmonie im IPR: BerDGesVölkR 3 (1959) 29 (38-41); Braga, in: Festschrift Schnorr von Carolsfeld (1973) 104 N. 12 und in: Multitudo legum - ius unum, Festschrift Wengler II (1973) 203 N. 34. 182 So mit Recht Rabel, Qualifikation 288 (gegen Kahn, Bartin und W. Burckhardt, vgl. 246). Nach einer Bemerkung von ZWEIGERT hat der ver­ meintliche „Unmöglichkeitsbeweis“ von Burckhardt (vgl. unten N. 181) gerade den Anstoß gegeben, die Lösung - im Sinne einer rechtsvergleichenden Vereinheitli­ chung des IPR - voranzutreiben, weil sein Vorschlag möglichst partikularer Abkom­ men nicht befriedigte. 163 Vor einer übermäßigen Kompliziertheit warnt mit Recht Dutoit, Z. f. Zivil­ standsw. 1971, 292: „Une complexit excessive... pourrait se retourner contre le droit international prive lui-meme.“ 164 Über die verschiedenen Arten der Vereinheitlichung des IPR in der EG (Set­ zung eigenen Rechts, Diskriminierungsverbot, Europäisierung des ordre public, Abkom­ men) siehe etwa Drobnig, Cahiers dr. europ. 6 (1970) 526 ff.

werden, wonach das Recht des zuerst mit der Sache befaßten Gerichtes auch in etwaigen anderen (Parallel- oder Ergänzungs-)Prozessen maßgebend bleiben soll; dabei können praktisch doch Unstimmigkeiten entstehen, wenn das erste Verfahren später anderswo nicht als gültig anerkannt wird (z. B. wegen Er­ schleichung der Zuständigkeit, wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs oder wegen Verletzung des ordre public des zweiten Landes). Oder man könn­ te allgemein bestimmen, daß das Heimat- (oder Wohnsitz-)Recht des jeweili­ gen Klägers oder Beklagten maßgebend sein soll; dann würde bei gleichzeitiger Klageerhebung in verschiedenen Ländern durch verschiedene Beteiligte doch hier das eine und dort das andere Recht Anwendung finden. Vor allem darf der formell einheitliche Text keine Bezugnahme auf den jeweiligen Gerichts­ stand enthalten, wenn mehrere Gerichtsstände zur Wahl stehen; denn daraus würde bei Verfahren in verschiedenen Ländern auch die Anwendung verschie­ denen Rechtes resultieren. Das gilt nicht nur für die ausdrückliche Berufung der jeweiligen lex fori, sondern auch für jede Unterscheidung von inländi­ schem und ausländischem Recht, von Inländern und Ausländern165.

Im einzelnen kann man zur übereinstimmenden Setzung von Kolli­ sionsrecht auf mehreren Wegen gelangen.

a) Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stehen diploma­ tische Konferenzen im Vordergrund der Bemühungen, obwohl es doch bei der Vereinheitlichung des Privatrechts, nach einer treffenden Bemer­ kung von Nadelmann, nicht darum geht, einen „Handel“ abzu­ schließen, sondern die beste Lösung zu finden166; außerdem ist die An­ wendung staatsvertraglich vereinbarter Kollisionsnormen vielfach auf die Beziehungen der Vertragspartner untereinander beschränkt, so daß derselbe Staat mehrere Arten von Kollisionsnormen besitzt, was (ebenso wie die Existenz besonderer interlokaler Kollisionsnormen, siehe unten § 41) in Grenzfällen zu Überschneidungen führen kann167. Unentbehrlich sind Staatsverträge auf dem Gebiet der praktisch-tech­ nischen Zusammenarbeit, d. h. für das Verfahrensrecht, und hier hat 185 Beispiele der letzten Art enthalten die Genfer Abkommen über Bestimmungen auf dem Gebiete des internationalen Wechsel- bzw. Scheckprivatrechts vom 7. 6. 1930 und 19. 3. 1931 (oben N. 44) in Artt. 2 III, 3 III (= Artt. 91 II 2, 92 III WechselG) bzw. in Artt. 2 III, 4 III (= Artt. 60 II 2, 62 III ScheckG). 186 Nadelmann, Conflict of Laws - International and Interstate, Selected Es­ says (The Hague 1972) 93. 167 Vor der „Rechtsveruneinheitlichung" durch eine verwirrende Vielheit von Staatsverträgen mit unterschiedlichem Anwendungsbereich für verschiedene Gruppen von Unterzeichnern und vor dem „furor codificandi“ warnt Majoros, Zur Krise der internationalen Kodifikationspolitik: Z. f. Rpol. 1973, 65 ff. Vgl. unten § 8 III 1 bei N. 229.

insbesondere die Haager Konferenz für IPR bisher die größten Erfolge erzielt. Denn nur hier bedarf es wirklich diplomatischer Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern, während das eigentliche IPR vorwie­ gend Sache der Rechtsprechung und der Wissenschaft bleiben sollte. Ge­ wiß sagt Ferid mit Recht: „Der große Wert internationaler Gremien liegt in der gemeinsamen Erörterung gemeinsamer Probleme.“168 Die Frage ist nur, ob der Abschluß unglücklicher, meist schwer zu revidie­ render Staatsverträge nicht ein zu hoher Preis für solche Erörterungen ist, die vielleicht auch in anderm Rahmen erfolgen könnten. Die Erfolge der Konferenzen zur Vereinheitlichung des Kollisionsrechts las­ sen aus drei Gründen zu wünschen übrig: Erstens fühlen Diplomaten, aber auch Fachjuristen als Vertreter ihres Landes auf einer Staatenkonferenz sich oft bewogen, das bisherige Recht ihres Landes als Vorbild zu empfehlen oder je­ denfalls seine Fortgeltung zu verteidigen, selbst wenn sie im Inland gegenüber Politikern und Praktikern als Befürworter der Rechtsvergleichung und Rechts­ vereinheitlichung auftreten169. Deshalb kommen oftmals komplizierte Kompro­ misse zustande - zum Teil noch weiter kompliziert durch illusionäre Hoff­ nungen auf viele Ratifikationen - anstatt Lösungen aus einem Guß170. Zwei­ tens sind die nationalen Parlamente oft nicht geneigt, Abkommen in globo zu akzeptieren, die ohne ihre Beteiligung ausgehandelt worden sind. (Immerhin können einzelne vorbildliche Regeln eines Abkommens auch ohne dessen globa­ le Annahme übernommen werden171.) Drittens sind Staatsverträge ihrer Natur nach unelastisch, so daß bei einer später auftauchenden Schwierigkeit oft kein anderer Ausweg als die Kündigung bleibt.

b) Viel haben zur internationalen Vereinheitlichung des IPR gute na­ tionale Gesetze oder Gesetzentwürfe beigetragen, die in anderen Län­ Haager Konferenz: RabelsZ 27 (1962-63) 411 (455). Vgl. JESRev. crit. 55 (1966) 385: les discussions de couloirs sont un heureux piphnomne de la Conference [de La Haye].“ 169 Wenn allerdings als Argument für die Teilnahme an der Haager Konferenz ge­ legentlich vorgebracht wird, man müsse in die erwarteten Abkommen möglichst viele einheimische Vorstellungen hineinzubringen versuchen (vgl. den Bericht in Rev. int. dr. comp. 9 [1957] 738), so fragt man sich, ob das ganz ernst gemeint ist oder nur der Überwindung nationaler Hemmungen dienen soll. 170 Vielleicht würden die taktischen Gesichtspunkte etwas zurückgedrängt gegen­ über den sachlichen, wenn - gemäß dem Vorschlag von KEGEL, Sinn und Grenzen der Rechtsangleichung, in: Angleichung des Rechts der Wirtschaft in Europa (1971) 9 (43, 46) - die Entwürfe der vorbereitenden Kommissionen nicht meistens sogleich an das Plenum gingen, sondern zunächst eine literarische Diskussion eingeleitet und deren Ergebnisse abgewartet würden, wie es bei den großen nationalen Kodifikationen der Fall war. 171 So wird die grundsätzliche Anerkennung einer Rechtswahl der Vertragsparteien durch das sonst sehr umstrittene Haager Kauf-IPR-Abkommen (oben N. 44) allgemein als endgültiger Sieg des Gedankens der Parteiautonomie angesehen. 168 Ferid, Die 9. surun D’OLIVEIRA,

dern mehr oder weniger wörtlich übernommen wurden, z. B. die deut­ schen Entwürfe zum EGBGB, der österreichische Entwurf eines IPRGesetzes von 1913/14, die italienischen Kodifikationen von 1938/42, die Normen des ägyptischen Zivilgesetzbuchs von 1948172. (Näheres zur nationalen Kodifizierung unten im Nachwort.)

c) Auch der Anteil der Wissenschaft an der Vereinheitlichung des IPR ist nicht zu verkennen. Wie im 19. Jahrhundert die Gedanken von Savigny und Mancini über die Landesgrenzen hinaus gewirkt ha­ ben (siehe unten in § 10: Geschichte unter III 4), so in den letzten Jahr­ zehnten etwa das Institut de Droit international durch den Gedanken (wenn auch nicht die Einzelausführung) der Typenbildung im Interna­ tionalen Vertragsrecht (Resolution von Florenz 1908)173 und durch die Mahnung zur Bildung internationalisierungsfähiger Normen (Siena 1952)174, ferner Schnitzers Anknüpfung an die „charakteristische Leistung“175 oder die u. a. von Morris propagierte Auflockerung des Deliktsstatuts176. Allerdings sind perfekte Entwürfe zu Einheitsgeset­ zen, die von Wissenschaftlern allein (etwa im Institut de Droit interna­ tional) oder in Zusammenarbeit mit Praktikern (z. B. im Rahmen der International Law Association) ausgearbeitet werden, von zweifelhaf­ tem Wert177.

d) Die Hoffnungen, daß eine internationale Gerichtsbarkeit die Bil­ dung von einheitlichem IPR fördern werde, sind bisher enttäuscht wor­ den. Der Internationale Gerichtshof im Haag hat sich seit 1945 nur einmal mit einem IPR-Abkommen befaßt, nämlich dem Haager Vormundschaftsabkom­ 172 Über ähnliche Erfahrungen im materiellen Recht (des Umweltschutzes) berich­ ten Blanc-Jouvan/Zajtay, RabelsZ 39 (1975) 333: „Bisher war das Augen­ merk .. überwiegend auf den oft schwierigen Abschluß internationaler Verträge ge­ richtet. Viele Schwierigkeiten lassen sich nach den bisherigen Erfahrungen aber oft ein­ facher durch Rezeption oder Angleichung nationaler Gesetze von Nachbarstaaten be­ seitigen.“ - Zur Datierung des österreichischen Entwurfs siehe einerseits RabelsZ 7 (1933) 756, anderseits Matscher, JB1. 1961, 61. 173 Ann. Inst. Dr. int. 22, 289 ff. = Tableau (oben N. 158) Nr. 107. 174 Oben N. 158. 175 „Der Siegeszug der ScHNiTZERschen Anknüpfungsregel in Europa schafft Rechtsvereinheitlichung ohne Übereinkommen“: Pfaff, Internationale Lizenzverträge im europäischen IPR: AWD 1974, 241 (254). 176 Vgl. unten § 30 III 2 mit N. 676. 177 Vgl. dazu Wengler, in: lustitia et pace, Festschrift zum 100jährigen Beste­ hen des Institut de Droit International (Berlin 1974) 9: „... daß es vielfach wichti­ ger ist, ein Problem zunächst zu analysieren und den interessierten Kreisen die Analyse vorzulegen, als sofort Lösungen vorzuschlagen. Es wird daher mit einer gewissen Re­ form der Arbeitsmethoden des Instituts ... gerechnet werden müssen.“

men von 1902 im Falle Boll113, wo es um die Zulässigkeit einer schwedischen Fürsorgeerziehung für ein niederländisches Kind ging. In diesem Verfahren wurde jedoch bezeichnenderweise mehr über den (politisch getönten) Vorbe­ halt des ordre public gesprochen als über den sachlichen Inhalt des Abkommens. Die Gemischten Schiedsgerichte, die nach dem ersten Weltkrieg gemäß dem Versailler Vertrag die privaten Vor kriegsVerträge abzu wickeln hatten, sind der schöpferischen Aufgabe, eigene Kollisionsregeln zu bilden, durchweg ausgewi­ chen, indem sie von Fall zu Fall nach Möglichkeit gemeinsame materielle Rechtsgrundsätze der berührten Staaten oder allenfalls gemeinsame Kollisions­ grundsätze anwandten178 179. Wenn es zu einem einheitlichen Internationalen Ver­ mögensrecht der Europäischen Gemeinschaft kommt, dürfte die Vorlage von Auslegungsfragen an den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung180 unter der Bedingung empfehlenswert sein, daß eine besondere privatrechtliche Kammer des Gerichtshofs gebildet wird.

2. Die Hindernisse einer Vereinheitlichung des IPR sind unterschied­ licher Art. a) Zum Teil ergeben sie sich aus der Tatsache, daß die Struktur der einzelnen Rechtsgemeinschaften und demgemäß der natürliche Anwen­ dungsbereich ihrer Rechtsordnungen nicht übereinstimmen; man denke etwa einerseits an religiöse Rechtsordnungen (wie das islamische Recht) und anderseits an das stark bodengebundene mittelalterliche Lehnsrecht, das besonders im Common Law noch nachwirkt. Das moderne IPR will zwar von solchen Unterscheidungen nichts wissen, sondern betrachtet die Welt als ein System von räumlich umgrenzten Nationalstaaten, so daß jeder Ort und jeder Mensch einem bestimmten Staate angehört und der Anwendungsbereich jeder Rechtsordnung sowohl territorial wie per­ sonal bestimmt werden kann. Jedoch ist dieser Ansatz nicht restlos durchzuführen: Es gibt staatsfreie Gebiete (besonders die hohe See), Staatenlose und Doppelstaater sowie gelegentlich eine regelwidrige An­ wendung rein personaler Rechtsordnungen (vgl. unten § 42 I). b) Ferner macht bei den oben genannten Eingriffsnormen (§ 4 II) und auch sonst bisweilen die von Land zu Land verschiedene Ausgestal­ 178 Niederlande gegen Schweden, Entscheidung vom 28. 11. 1958, Rec. des arrets 1958, 55. - Vgl. unten N. 220 und 1064. 179 Vgl. etwa M. GUTZWILLER, Das IPR der durch die Friedens vertrage einge­ setzten Gemischten Schiedsgerichtshöfe, in: IntJbSchiedsg. 3 (1931) 123 ff. (besonders 135: „Eine einzigartige Gelegenheit ist ... versäumt worden“). Siehe auch SEIDLHOHENVELDERN (oben N. 55). 180 Eine solche normieren die Protokolle vom 3. 6. 1971 zu den Übereinkommen über die Anerkennung juristischer Personen vom 29. 2. 1968 und über die internatio­ nale Zuständigkeit... vom 27. 9.1968 (BGBl. 1972 II 858 bzw. 846), von denen das letztere am 1. 9.1975 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1138).

tung von Rechtsinstituten es schwer, ihren Anwendungsbereich interna­ tional einheitlich zu bestimmen. So gilt z. B. die standesamtliche Eheschließung typisch territorial, das Gebot kirchlicher Eheschließung personal181. Ähnlich verhalten sich im Erbrecht staatliches Heimfallrecht und Erbrecht des Fiskus zueinander, ferner im Un­ ehelichenrecht deliktische und familienrechtliche Unterhaltsansprüche; desglei­ chen möchte man eine güterrechtliche Versorgung des überlebenden Ehegatten anders behandeln als eine erbrechtliche. (Vgl. unten § 15 III.) Selbst mit einer Doppelverweisung auf territoriales und personales Recht (z. B. auf Ortsrecht und Heimatrecht) ist im Falle eines negativen Kompetenz­ konfliktes — wenn keine der beiden berufenen Rechtsordnungen maßgebend sein will - nicht zu helfen. So war die Eheschließung von Ausländern in Ja­ pan früher weder nach Ortsrecht möglich, weil dieses ‘die Zugehörigkeit zu ei­ nem japanischen Familienverband voraussetzte, noch nach Heimatrecht, weil es in Japan keinen Standesbeamten gab; man behalf sich daher mit einer Kom­ promißformel.

c) Schließlich können unterschiedliche Wertentscheidungen zu ver­ schiedenen Kollisionsnormen führen. Freilich sind auf der „ersten Stufe“ des IPR (vgl. oben § 5 II 1) die Entscheidungen in der Regel nicht so konkret und detailliert wie Entscheidungen des materiellen Rechts. Des­ halb ist eine Vereinheitlichung der Kollisionsregeln vielfach auch dort möglich, wo eine Vereinheitlichung des materiellen Rechts angesichts der gegebenen und bejahten natürlichen und kulturellen Verschiedenhei­ ten ausgeschlossen ist182. Aber die Entscheidungen des IPR weisen um es zu wiederholen - doch einen Zusammenhang mit denen des ma­ teriellen Rechts auf (vgl. wiederum oben § 5 II 1). Ein universales IPR auf rein formaler Basis - ohne ein Minimum inhaltlicher Übereinstim­ mung zwischen den beteiligten Rechtsordnungen - ist daher nicht mög­ lich. Insbesondere ist eine „Neutralisierung“ von Gegensätzen durch Ausweichen auf unbestrittene Punkte nicht immer angängig; es könnte am Ende eine Regelung, die für alle Rechtsordnungen annehmbar sein soll, für alle unannehmbar sein, weil sie auf ein ganz äußerliches Mo­ ment abstellt, in dessen Unverfänglichkeit alle übereinstimmen, das aber alle übereinstimmend als nebensächlich betrachten (wenn man z. B. bei 181 Vgl. Walther Burckhardt, Über die Allgemeingültigkeit des IPR, in: Festgabe E. Huber (Bern 1919) 261 (293): „eine national oder konfessionell cha­ rakterisierte Trauung wird man Ausländern nicht gerne aufdrängen“. 182 Bisweilen ist es allerdings gerade umgekehrt: Eine Einigung aufgrund ma­ terieller, insbesondere technischer Möglichkeiten scheint dann leichter zu sein als die Überbrückung alter kollisionsrechtlicher Gegensätze - z. B. für das Recht des inter­ nationalen Seeverkehrs.

einem Vertrag immer auf den „Abschlußort“ abstellen wollte, und sei es der Ort, über welchem sich ein Flugzeug im Augenblick der Einigung ge­ rade befand, oder für Ehesachen jeweils auf das höhere Lebensalter des Mannes oder der Frau). Insgesamt ist das Optimum an internationalem Entscheidungseinklang - insbesondere an internationaler Vereinheitlichung des IPR - noch lange nicht erreicht.

5 7: Lex fori - Heimwärtsstreben I. Lex fori - Recht des Gerichtsstandes - nennen wir das eigene (Verweisungs- oder Entscheidungs-)Recht der jeweils mit einem internatio­ nen Sachverhalt befaßten Stelle, auch wenn statt eines Gerichtes im Ein­ zelfall eine sonstige Behörde oder Amtsperson (z. B. ein Notar) gemeint ist oder wenn die betreffende Stelle gar kein einheitliches eigenes Recht besitzt, sondern etwa als gemeinsames Obergericht für verschiedene Rechtsgebiete oder Rechtsgemeinschaften von Fall zu Fall von der einen oder der anderen Rechtsordnung auszugehen hat. Als lex fori völkerrechtlich begründeter Gerichte ist außer ihrem Statut bzw. dem jeweiligen Schiedsvertrag das Völkerrecht anzusehen. - Für internationa­ le Handelsschiedsgerichte, die nicht (wie die Außenhandels-Schiedsgerichte der kommunistischen Länder) von einem bestimmten Staate errichtet sind, gelten als lex fori183 nicht einfach die Gesetze ihres mehr oder weniger zufälligen „Sitzes“, sondern die allgemeinen Rechtsgrundsätze der zivilisierten Nationen (siehe oben § 2 II 4), Welthandelsgewohnheitsrecht sowie die besonderen Nor­ men und Bräuche des betreffenden Wirtschaftszweiges184, hilfsweise die eigenen Rechtsvorstellungen des oder der Schiedsrichter185. Eine Konsolidierung dieser lex fori ist um so weniger wahrscheinlich, als „Schiedsgerichte... in ih­ rer stets wechselnden Zusammensetzung eine Vorhersehbarkeit und Kontinuität der Rechtsauffassungen nicht bieten können“186. 183 Nach GENTTNETTA (oben N. 8) 114 ff., 192f./91 ff. 184 Dazu besonders Derains, Le Statut des usages du commerce international de­ vant les juridictions arbitrales (A la lumiere de l’exprience de la Chambre de Com­ merce International): Rev. arbitr. 1973, 122 ff. 185 Die letztgenannten Vorstellungen werden in dem Europäischen (E.C.E.-) Über­ einkommen über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21. 4. 1961 (oben N. 53) in der Form für maßgebend erklärt, daß nach Art. VII Abs. 1 Satz 2 ein Schiedsgericht im Zweifel diejenigen Kollisionsnormen anwenden soll, die ihm „ange­ messen“ (appropri; im englischen Text: applicable) scheinen. 186 Pfaff, in: Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht, Wirtschaftsrecht - Mit­ arbeiter-Festschrift Ulmer (1973) 478.

II. Ein Vorrang der lex fori gegenüber ausländischem Recht kann in dreifachem Sinne gefordert werden:

1. Vorrang des eigenen Kollisionsrechts. - Daß jedes Gericht zunächst vom eigenen Kollisionsrecht auszugehen hat, ist heute fast unbestritten. Zur Frage, wieweit es auch ausländisches Kollisionsrecht berücksichtigen soll, siehe oben § 6 IV. Eine völlige Ausschaltung nationalen Kollisionsrechts zu fordern zugunsten unmittelbarer Anwendung von internationalen Rechtsgrundsätzen, von eigen­ ständigen Regeln außerstaatlicher Lebensbereiche (wie Familie, Betrieb und in­ ternationaler Wirtschaftsverkehr) oder von Kollisionsrecht internationaler (Schieds-) Gerichte187 - solche extremen Forderungen können dem an sich sympathischen Gedanken einer Befreiung des Rechtes aus den Fesseln des Ge­ setzespositivismus leicht mehr schaden als nutzen. Wenn in einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Weltanschauungen nebeneinander bestehen, ‘der Richter weitgehend auf schwer bestimmbare Rechtsgrundsätze verwiesen wird, sind Einseitigkeiten und Rechtsunsicherheit zu befürchten, die dann ih­ rerseits wieder eine positivistische Reaktion auslösen. 2. Vorrang der inländischen Rechtsgrundsätzey insbesondere der grundlegenden Wertentscheidungen. - Bei der Lückenfüllung und Er­ gänzung des inländischen Kollisionsrechts ist zweifelhaft, wieweit die Grundsätze des eigenen materiellen Rechts oder internationale Maßstäbe zu beachten sind. Siehe dazu oben § 6 III.

3. Vorrang des inländischen materiellen Rechts. - Hier handelt es sich wieder um vier verschiedene Erscheinungen, für die nur zum Teil die vielzitierte Bezeichnung der lex fori als Verneinung des Kollisions­ rechts188 wirklich zutrifft. a) Im Rahmen des Kollisionsrechts bewegt sich das sog. „Heimwärts­ streben“ — siehe unten III. b) Eine Verlagerung des Kollisionsrechts vom IPR zum Internationa­ len Verfahrensrecht (des näheren: zur Regelung der internationalen Zu­ ständigkeit) erfolgt bei Anwendung der lex fori eines durch internatio­ nale Vereinbarung oder jedenfalls nach internationalen Kriterien be­ stimmten Gerichtsstandes189. 187 Verheul, Rechtsvinding in bet IPR (Calvinistische Juristen-Vereniging 1973), bespr. in RabelsZ 39 (1975) 393 f. 188 Rabel, RabelsZ 3 (1929) 754 = Aufsätze II 245. 189 Vgl. zu den entsprechenden Haager Abkommen seit 1961 oben § 3 I 2 b.

c) Bei Versagen des Kollisionsrechts kann die lex fori als „Ersatz­ recht“ angewandt werden - siehe unten § 52: Ersatzrecht.

d) Unter Ausschaltung des Kollisionsrechts soll in gewissen Fällen die lex fori unmittelbar zur Anwendung kommen. (1) Zunächst ist hier an den Fall zu denken, daß als lex fori interna­ tionales Einheitsrecht gilt. So sagt das Haager Einheitliche Kaufgesetz von 1964190 - das durch die Ratifikation ja ein Teil der jeweiligen lex fori wird - in seinem Art. 2 ausdrücklich: „Soweit dieses Gesetz nicht etwas anderes bestimmt, sind bei seiner Anwendung die Regeln des IPR ausgeschlossen.“ Ja, es wird die Auffassung vertreten, materielles Ein­ heitsrecht sei jedem Kollisionsrecht so sehr überlegen, daß seine Anwen­ dung grundsätzlich nicht durch Kollisionsnormen beschränkt werden dürfe, nicht einmal durch vertraglich mit einem dritten Staat vereinbar­ tes Kollisionsrecht191. Diese letzte Ansicht bedeutet praktisch den unbedingten Vorrang des Ein­ heitsrechtes gegenüber jedem andern, nach Kollisionsrecht eventuell anwendba­ ren materiellen Recht. Das Haager Einheitliche Kaufgesetz mag seinem Inhalt nach einen solchen Vorrang verdienen, weil es auf jahrzehntelanger universaler Rechtsvergleichung beruht. Aber nicht jede regionale oder auch bloß zweiseiti­ ge Rechtsvereinheitlichung kann den gleichen Rang beanspruchen. Womöglich ist das nach Kollisionsrecht anwendbare fremde Recht ja seinerseits Einheits­ recht! Überdies ist bei international vereinbarten Normen die Gefahr bloß tak­ tischer Kompromisse auf Kosten einer sachgerechten Lösung nicht geringer, sondern eher noch größer als bei nationalen Gesetzen. - Nur im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander macht die Anwendung wirklich einheitlichen Rechts das Kollisionsrecht entbehrlich.

(2) Über die nationalen sog. regles dyapplication immediate siehe un­ ten in § 11: Kollisionsnormen unter V. (3) Allgemein wird die unmittelbare Anwendung der lex fori für ver­ mögensrechtliche Verfahren mit geringem Streitwert empfohlen, bei de­ nen die Schwierigkeiten und Kosten der Ermittlung ausländischen Rech­

190 Oben N. 32. 191 ZwEIGERT/DROBNIG, Einheitliches Kaufgesetz und IPR: RabelsZ 29 (1965) 146 (148, 161), wo es wörtlich heißt: „Vereinheitlichte Sachnormen verdrängen im Prinzip (einheitliche oder nicht einheitliche) Kollisionsnormen — Der unbedingte Vor­ rang einer vereinheitlichten Sachnorm vor jeder konkurrierenden Kollisionsnorm schlägt sich im Rangverhältnis der scheinbar kollidierenden völkerrechtlichen Ab­ kommen nieder, und zwar derart, daß den materiellen Abkommen als den weit ge­ wichtigeren der Vorrang gebührt.“

5 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

tes als nicht lohnend erscheinen192. Dem ist jedoch höchstens für Baga­ tellfälle zuzustimmen, die auch in prozessualer Hinsicht aus Gründen der Prozeßökonomie gewissen Sondervorschriften unterliegen (z. B. hin­ sichtlich der Gestaltung des Verfahrens, der Begründung ihrer Entschei­ dungen, der Zulässigkeit von Rechtsmitteln); im übrigen ist der Ein­ druck, es gebe zweierlei Recht für Reiche und Arme, unbedingt zu ver­ meiden. (4) Für Eilfälle und vorläufige Maßnahmen wird ebenfalls öfter der Verzicht auf die Anwendung ausländischen Rechtes empfohlen. Das ist aber nur dann berechtigt, wenn diese Anwendung im Einzelfall nicht ganz einfach ist. Die lex fori ist hier also nicht aufgrund eines besondern Prinzips anzuwenden, sondern notgedrungen als Ersatzrecht - nur daß das Vorliegen eines Notfalles im Hinblick auf die besonderen Umstän­ de dieser Fälle etwas rascher angenommen wird als in einem ordentlichen Prozeß. (5) Schließlich ist vorgeschlagen worden, mangels ausdrücklichen An­ trages einer Prozeßpartei möge mit .Rücksicht auf das Interesse der Par­ teien an qualitativ hochwertiger Justiz die zwangsläufig meist schlechte­ re Anwendung ausländischen Rechtes unterbleiben193. Dieser Vorschlag soll in Deutschland schon de lege lata gelten, da er „nur eine ergänzende Interessenwertung“ enthalte194. Er ist jedoch einstweilen deshalb nicht praktikabel, weil nicht gesagt ist, wo die (grundsätzlich zugestandenen) Grenzen dieses Modells verlaufen sollen. In welchen Fällen - außer bei erkennbarer Absicht einer unzulässigen Gesetzesumgehung195 - muß im Interesse der Durchsetzung zwingenden Rechts oder zum Schutze solcher Personen, die ohne ein teures Privatgutachten die möglichen Vorteile einer Anwendung ausländischen Rechtes nicht zu übersehen vermögen, das Gericht doch von Amts wegen nach IPR entscheiden?196

192 So etwa Lando, in: Die Anwendung ausländischen Rechts im IPR (1968) 131 f.; vgl. - auch zum folgenden - den Diskussionsbericht ebd. 186. 193 Flessner, Fakultatives Kollisionsrecht: RabelsZ 34 (1970) 547 ff. 194 Flessner a.a.O. 579. 195 Flessner a.a.O. 575. 196 Ablehnend auch Kegel, IPR 200, sowie Jayme, FamRZ 1971, 228 N. 65 Abs. 4. Zustimmend ZWEIGERT, RabelsZ 37 (1973) 445; er will einen gewissen favor legis fori auch mit der „praesumptio similitudinis" für die nationalen Lösungen glei­ cher Rechtsprobleme begründen, also mit einer Vermutung der Ähnlichkeit (!) der Er­ gebnisse ausländischen und inländischen Rechtes trotz verschiedener rechtlicher Kon­ struktion (vgl. unten §9 15), auf die aber im einzelnen Streitfall kein Verlaß ist.

III.

„Heimwärtsstreben^ nennen wir in Deutschland mit Nussbaum197 die - keineswegs auf Deutschland beschränkte - Tendenz mancher Autoren und Gesetze, vor allem aber vieler Gerichte, so oft wie möglich zur Anwendung ihres heimischen Rechtes (der lex fori) zu gelangen198. „Die Klänge der heimatlichen Glocken werden ... wohl stets besonde­ ren Zauber ausüben“, schrieb schon 1899 Meili199. Hier scheint der Ge­ genpol des Ideals der internationalen Entscheidungsgleichheit zu liegen. 1. Der Grund für das Heimwärtsstreben liegt nur selten in einem ju­ ristischen Chauvinismus, wie ihn wohl am schärfsten Bartin bekannt hat: „Le droit international prive n’est pour moi que la forme juridique de l'ide de patrie, dans les relations de Droit prive.“200 Vielmehr gibt es andere Gründe. a) In der Gesetzgebung beruht die Bevorzugung inländischen Rechtes zum Teil auf einem naiven Glauben an dessen Überlegenheit gegenüber ausländischen Regelungen. In der Tat hat jedes Gesetz im Augenblick seiner Abfassung eine gewisse Vermutung für sich, als das neueste auch das fortschrittlichste, reifste Gesetz zu sein; aber man denkt selten daran, daß diese Vermutung mit dem Ablauf der Zeit hinfällig wird. Zum andern zeigt sich in der Bevorzugung des inländischen Rechtes durch die Gesetzgebung eine einseitige Berücksichtigung inländischer In­ teressen201. 197 Nussbaum (oben N. 124) 43. 198 Die Anwendung eigenen Rechtes wird nach der keineswegs erschöpfenden Auf­ zählung von M. Wolff, Priv. Int. L. 18, gefördert 1) durch die Renvoi-Lehre (siehe unten § 3*5), 2) durch die Vermutung der Übereinstimmung ausländischen Rechtes mit dem inländischen, 3) durch exzessive Anwendung der Vorbehaltsklausel des ordre pu­ blic, 4) durch prozessuale Qualifikation möglichst vieler Rechtsinstitute, 5) durch ge­ setzliche Sondernormen. Davon wird die 3. Form in Frankreich, die 4. im anglo-amerikanischen Bereich, die 5. im deutschen EGBGB besonders häufig verwendet. - Aus­ führlich dazu Bischoff, La competence du droit franais dans le rglement des conflicts de lois (1959). Nach Werner Goldschmidt, Derecho internacional privado (Buenos Aires 1970) 20, kann die argentinische Rechtsprechung zum IPR als eine Reihe endloser Varia­ tionen über ein einziges Thema aufgefaßt werden: die Anwendung ausländischen Rechtes zu vermeiden. 199 Meili, Die internationalen Unionen ... (1899) 76 (zit. nach Kegel, oben N. 170, S. 37). 200 Bartin, Principes (oben N. 80), Schluß des Vorwortes. Vgl. das Spottwort von W. Goldschmidt, in: Festschrift M. Wolff (1952) 214 N. 8: „Politiker haben stets geglaubt, daß durch die Handhabung ausländischen Rechtes Schlachten verloren gehen.“ 201 Vgl. oben bei N. 123.

Ein Musterbeispiel bietet Art. 7 EGBGB, der ein Vorbild schon im preußi­ schen Allgemeinen Landrecht besaß (Einleitung §§ 23, 35) und durch die Gen­ fer Abkommen von 1930/31 über das internationale Wechsel- und Scheckpri­ vatrecht (oben N. 44; jeweils Art. 2) sogar internationale Anerkennung gefun­ den hat: Die Geschäftsfähigkeit des Inländers im Ausland wird in seinem In­ teresse nach dem Heimatrecht beurteilt, dagegen die Geschäftsfähigkeit des Ausländers im Inland, sooft es das Interesse des inländischen Geschäftsverkehrs erfordert, nach dem Recht des inländischen Handlungsortes.

b) In der Rechtsprechung gründet das Heimwärtsstreben ebenfalls zum Teil in dem ehrlichen Glauben an die Überlegenheit des eigenen Rechtes (vgl. oben § 4 III vor N. 11 3)202. Hinzu kommt eine begreifliche Unsicherheit in der Anwendung fremden Rechtes. Treffend spricht Martin Wolff von einer überall zu beobachtenden „Neigung des gewissenhaften Richters (vom trägen ist hier nicht die Rede), möglichst zur Anwendung des eigenen materiellen Rechts zu kommen“202 203. 204 Gelegentlich mag allerdings in einem schwierigen Fall auch gerade das Ge­ genteil vorkommen, nämlich die bereitwillige Feststellung, daß fremdes Recht gelte, weil dann das Gericht ein Gutachten einholen kann und überdies sein Urteil „revisionssicher“ wird 204. Allgemein ist die Bereitschaft zur Anwendung ausländischen Rechtes größer, wenn das inländische als unbillig empfunden wird205. 2. Die Bewertung ist zwiespältig. Abzulehnen ist das Heimwärtsstre­ ben, wenn es auf Kosten der Gerechtigkeit des IPR, der internationalen Entscheidungsgleichheit oder auch der Redlichkeit der Rechtsfindung erfolgt. Anderseits hat das Heimwärtsstreben bisweilen eine positive Be­ deutung für die Entwicklung des IPR206. Denn die Unbilligkeit man202 Vgl. OLG Hamburg 19. 2. 1932, IPRspr. 1932 Nr. 59 (S. 128): „Die berechtig­ te Selbstschätzung eines jeden Staates, auch in bezug auf sein Recht, gestattet dem Richter in Zweifelsfällen, wo nicht überwiegende Gründe die Anwendung fremden Rechts verlangen, dem heimischen Recht den Vorzug zu geben.“ 203 M. Wolff, IPR 76. - Daß im Einzelfall die Anwendung der lex fori sogar dem internationalen Entscheidungseinklang besser dienen kann als eine falsche Anwen­ dung mißverstandenen fremden Rechtes, zeigen Dopffel, RabelsZ 23 (1958) 317 un­ ten (Scheidung von Engländern in Deutschland), und Sluyters, Ned. T. Int. R. 13 (1966) 310. 204 Die in der Vorauflage (S. 46 N. 113a) erwähnte Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, wonach ein Urteil sogar dann irrevisibel war, wenn der Richter anstel­ le des für anwendbar erklärten ausländischen Rechtes das Schweizer Recht mit der Be­ gründung angewandt hatte, die Ermittlung des Inhalts der fremden Rechtsordnung sei ihm nicht zuzumuten (so zuletzt BGE 88 [1962] II 195 [203]), ist aufgegeben worden: BGE 92 (1966) II 111. 205 Bis hin zur offiziellen Förderung der Gesetzesumgehung, siehe unten N. 527. 206 Ein Gegenbeispiel, wie das Heimwärtsstreben sich hemmend auswirken kann, siehe unten bei N. 390.

eher Kollisionsnorm ist der Praxis erst dann bewußt geworden oder hat wenigstens erst dann zu einer Auflehnung geführt, wenn sie in concreto die Anwendung ausländischen Rechtes vorschrieb. Ständen die Gerichte - wie es das Ideal des Internationalisten ist - dem inländischen und dem ausländischen Rechte mit gleicher Unbefangenheit gegenüber, so würden sie öfter eine unbillige Kollisionsnorm geduldig hinnehmen, während jetzt die Abneigung gegen die Anwendung fremden Rechtes den kritischen Sinn gegenüber einer Kollisionsnorm schärft, wenn diese auf ausländisches Recht führt. Aber selbst dort, wo die Bevorzugung des inländischen Rechtes im Einzelfall weniger berechtigt war, hat sie mit­ unter zu neuen Gedanken angeregt, die später „allseitig“ - also auch zugunsten eines fremden Rechtes - angewandt wurden. Es ist daher unrichtig, bei Auswertung der Judikatur zu einer bestimmten Frage alle auf die lex fori führenden Entscheidungen von vornherein als „verdäch­ tig“ auszuscheiden. Was ursprünglich nur ein Vorwand für die Anwen­ dung inländischen Rechtes war, kann sich auf die Dauer durchaus als allseitige Regel bewähren. Ein deutliches Beispiel ist die Rückverweisung (unten § 35): In dem berühm­ ten Ausgangsfall Forgo207 diente sie den französischen Gerichten dazu, die Intestaterbfolge nach einem Bayern, der in Frankreich ein Vermögen erworben hatte und dort kinderlos gestorben war, nicht einfach gemäß französischem IPR dem bayerischen Erbrecht zu unterstellen (nach welchem die bayerischen Seitenverwandten seiner unehelichen Mutter geerbt hätten), sondern gemäß bayerischem IPR dem französischen Recht (und damit den Nachlaß dem fran­ zösischen Fiskus zufallen zu lassen). Aber auf die Dauer wurde der Gedanke der Rückverweisung ausgebaut zu dem der WeiterverWeisung, der zweifellos die Entscheidungsgleichheit fördert.

Man hat das Heimwärtsstreben der Gerichte zur lex fori boshaft mit dem Drang der Pferde zum heimischen Stalle verglichen. Nun, wenn der „Stalldrang“ den Pferden erhöhte Kraft gibt, das letzte Stück We­ ges zu bewältigen, so hat das Heimwärtsstreben zur lex fori manches­ mal im IPR den ersten Impuls für eine neue Entwicklung gegeben207 208. Freilich können die positiven Aspekte des Heimwärtsstrebens nur als Trost und nicht als Empfehlung gelten.

207 Cass. 24. 6. 1878 und 22. 2. 1882, D. 1879. 1. 56 bzw. 1882. 1. 301. 208 Mit einiger Übertreibung kann man auch vom IPR sagen, was Dahm (unten N. 211) 35 über das Völkerstrafrecht bemerkt: „Neues Recht wird oft mit unreinen Händen gemacht..ein zunächst einseitig angewandtes Recht „kann ... sich zu ei­ nem Schrittmacher der kommenden Rechtsüberzeugung entwickeln“.

IV.

Als naheliegende Konsequenz des Heimwärtsstrebens kann man das „Daheimbleibena empfehlen, also die Anwendung der lex fori in all denjenigen Fällen, in denen nicht aufgrund einer eindeutigen und unbe­ dingten Verweisung fremdes Recht anzuwenden ist209. Das erscheint einfacher und ehrlicher, als zunächst eine grundsätzliche Verweisung auf fremdes Recht auszusprechen und diese dann nicht selten doch zu­ rückzunehmen mit „Tricks“ wie Ausnahmeregeln, prozessualer Qualifi­ kation, Renvoi, ordre public und dergleichen. Aber eindeutige und end­ gültige Verweisungsnormen, die durch ihre zurückhaltende Fassung alle Ausnahmen von vornherein überflüssig machen, lassen sich schwerlich aufstellen — so wie umgekehrt eine zunächst ausgesprochene Maßgeb­ lichkeit der lex fori zuweilen in Sonderfällen (Näherberechtigung, siehe unten § 38; ausnahmsweise Anwendung fremden Prozeßrechts auf be­ sonderes Ersuchen, siehe unten § 53 II 4) durchbrochen werden muß. In jeder differenzierenden Rechtsordnung ist das Spiel von Regel und Aus­ nahme unvermeidlich, und es kann dabei - insbesondere im Laufe län­ gerer Zeit - sehr wohl geschehen, daß die „Ausnahmen“ tatsächlich häufiger vorkommen als die Anwendung der Grundregel (z. B. beim Verbot mit Erlaubnis vorbehalt, wenn die Erlaubnis immer häufiger er­ teilt wird)210. Berechtigt ist allerdings die Frage, ob nicht im IPR ein übertriebener Kon­ servatismus veraltete Regeln lieber durch immer mehr Ausnahmen aushöhlt, als sie offen preiszugeben (z. B. das Staatsangehörigkeitsprinzip oder die subsidiä­ re Anknüpfung an den Erfüllungsort eines Vertrages, siehe unten § 27 V bzw. § 30 II).

Im ganzen ist jedoch das Ideal eines Kollisionsrechtes, das zur inter­ nationalen Entscheidungsgleichheit führen will und daher der materiel­ len lex fori keinen grundsätzlichen Vorrang einräumt, auch heute noch gültig-

209 Über die besondere Bedeutung des „trend to stay at home“ bei A. A. Ehren­ nämlich Ersetzung kollisionsrechtlicher Gesichtspunkte durch materielle Kri­ terien („forum policies“), siehe Siehr (oben N. 73) 599. 210 Gesetzlichen Niederschlag hat eine solche Entwicklung etwa in §§ 4 III und 6 II EheG gefunden: Eine Befreiung von den dort genannten dispensabien Ehehindernis­ sen soll (nur dann) „versagt werden, wenn wichtige Gründe der Eingehung der Ehe entgegenstehen“. zweig,

5 8: Völkerrecht Welche Bedeutung hat das Völkerrecht für das IPR, insbesondere für ein international einheitliches Kollisionsrecht?

I. Der Begriff des Völkerrechts umfaßt nach der klassischen Lehre das Recht der abendländischen bzw. heute der universalen Staatengemein­ schaft: es regelt die gegenseitigen Beziehungen der souveränen Staaten und gewisser anderer, ihnen gleichgestellter Völkerrechtssubjekte (insbe­ sondere internationaler Organisationen). Dagegen erfaßt das Völker­ recht im allgemeinen nicht die Verhältnisse von Privatpersonen. Zwar bestehen in unserer Zeit Tendenzen, die unmittelbare Geltung des Völ­ kerrechts auch für Einzelpersonen festzustellen, diese also zu Trägern völkerrechtlicher Ansprüche und Pflichten zu machen (z. B. durch inter­ nationales Fremdenrecht, Minderheitenschutz, Schutz der Menschen­ rechte, Völkerstrafrecht)211. Jedoch handelt es sich dabei größtenteils um öffentlichrechtliche Verhältnisse, an denen ein Staat in seiner Eigen­ schaft als Hoheitsträger beteiligt ist, und nicht um rein privatrechtliche Beziehungen212. Jedenfalls liegt der Schwerpunkt des Völkerrechts beim „droit international public“, und es umfaßt nicht schlechthin alles „droit international“. Speziell die Idee der Souveränität, die in unserm Jahrhundert selbst im Völ­ kerrecht fragwürdig geworden ist213, tut jedenfalls im IPR keine brauchbaren Dienste. Denn die Souveränität jedes Staates endet an seinen Grenzpfählen 211 Vgl. dazu etwa Dahm, Die Stellung des Menschen im Völkerrecht unserer Zeit (1961). 212 Nach einer neueren Auffassung gibt es sowohl eine mittelbare Einwirkung des Völkerrechts auf nationales Privatrecht (indem z. B. das Verbot von Angriffs­ kriegen jeden Staat verpflichtet, auch privatrechtliche Verträge über Waffenlieferun­ gen für einen Angriffskrieg als nichtig zu behandeln, oder indem die Souveränität ei­ nes Staates verbietet, die Arbeitnehmer seiner diplomatischen Vertretungen dem Kündi­ gungsschutzrecht des Empfangsstaates zu unterwerfen) als auch unmittelbar völker­ rechtliches („internationalrechtliches“) Privatrecht, insbes. wenn völkerrechtliche Funktionen in privatrechtlicher Gestalt ausgeübt werden, ohne daß die Träger sich ei­ nem nationalen Recht unterwerfen (z. B. bei Hilfslieferungen des Internationalen Ko­ mitees vom Roten Kreuz); siehe etwa Krause-Ablass, Das Internationalrechtliche Privatrecht: RabelsZ 38 (1974) 614 (616 f., 618 f. mit weiteren Nachweisen). 213 Vgl. Hallstein, MittMPG 1963, 134: „... so bin ich fast versucht zu sagen, daß die Souveränität zu den Begriffen gehört, die sich die Menschen geschaffen haben, ausschließlich um damit Mißbrauch zu treiben.“

und gibt keinen Anspruch auf Anwendung seiner Gesetze oder auf Anerken­ nung extraterritorialer Wirkungen seiner Hoheitsakte außerhalb der territoria­ len Grenzen214. Anderseits verbietet die Respektierung fremder Souveränität auch nicht generell, inländische Gesetze auf ausländische Sachverhalte anzu­ wenden, sondern nur die Ausübung hoheitlichen Zwanges im Ausland. Auf einem andern Blatt steht die Frage, wieweit gelegentlich politische Strö­ mungen zur regionalen Vereinheitlichung des IPR beigetragen haben, z. B. die panamerikanische Bewegung zur Entstehung des lateinamerikanischen Codigo de derecho internacional privado (Cödigo Bustamante) von 1928 oder die Gründung der Benelux-Union zu dem Entwurf eines einheitlichen IPR der be­ teiligten Staaten in dem Abkommen von 11. 5. 1951/3. 7. 1969 oder neuestens ein gewisser „Europa-Sog“ zu eigenen Kollisionsnormen der Europäischen Ge­ meinschaft215.

Schließlich vermag die bloße Tatsache, daß ein internationales Ge­ richt aufgrund völkerrechtlichen Abkommens zur Entscheidung privater Streitigkeiten berufen ist, das von diesem Gericht angewandte oder auch frei geschöpfte Recht nicht zu Völkerrecht zu stempeln. Wenn z. B. der Internationale Gerichtshof im Haag gemäß Art. 38 seines Statuts „die von zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ anzuwenden hat, so sind diese Grundsätze damit nicht ohne weiteres Völkerrecht216; vielmehr muß bei der Anwendung ursprünglich privat­ rechtlicher Grundsätze (z. B. der Haftung für schuldhafte Schädigung) von Fall zu Fall unterschieden werden, ob diese Grundsätze in einem privatrechtlichen Streite als Privatrecht zum Zuge kommen oder zur Entscheidung eines völkerrechtlichen Streites vom Völkerrecht rezipiert werden. 214 Vgl. des näheren Bonnichon, La notion du conflit de souverainetes dans la Science des conflits de lois: Rev. crit. 38 (1949) 615 ff. sowie 39 (1950) 11 ff., bespr. von Gamillscheg, RabelsZ 17 (1952) 496 ff.; ferner Vander Elst, Conflits de lois et conflits de souverainetes: Rev. Inst, beige 31 (1954) 85 ff. 215 Vgl. Drobnig, Das EWG-Übereinkommen über die Anerkennung von Gesell­ schaften und juristischen Personen: Die AG 1973, 90, 125 (131). Er fordert, „in Zu­ kunft das Bedürfnis von Vorhaben zur Rechtsvereinheitlichung in der EWG viel stren­ ger zu prüfen, als das bisher in einer Art juristischer Europa-Euphorie geschehen ist... Liegt nämlich erst einmal ein fertiger Entwurf vor, so gerät dieser allzu leicht in den (an sich erfreulichen) politischen Europa-Sog, in dem sachliche Bedenken nichts mehr zählen.“ Eine positivere Bewertung verdient wohl der Vorentwurf eines Über­ einkommens (der EG-Staaten) über das auf vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht; siehe dazu etwa RabelsZ 38 (1974) 6 ff., 211 ff. (Aufsätze von Lando und von OvERBECK/VOLKEN bzw. deutscher Text) sowie European International Law of Obligations, Acts and Documents of an International Colloquium ... (Tübingen 1975). 216 Vgl. oben N. 60.

II.

Das gemeine Völkerrecht enthält nur wenige Sätze von privatrechtli ­ cher Bedeutung, und zwar sowohl für das Fremdenrecht - auf das hier nicht weiter einzugehen ist - wie für das Rechtsanwendungsrecht. Im Internationalen Verfahrensrecht sind die Berührungen zwischen Völker­ recht und nationalem Recht zahlreicher. Genannt seien hier nur die Probleme der Gerichtsfreiheit (unten § 54 II), der Geltendmachung völkerrechtlicher Ansprüche im Zivilverfahren, der prozessualen Menschenrechte (sog. Min­ deststandard) und der Anerkennung ausländischer völkerrechtswidriger Akte.

1. Grundsätzlich hat jedes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft nicht nur die anderen Mitglieder als solche anzuerkennen (unter welchen Voraussetzungen, ist hier nicht zu erörtern), sondern es muß auch deren Rechtsordnungen respektieren. Daraus ergibt sich, daß kein Staat die Berücksichtigung fremden Rechtes prinzipiell oder im Einzelfall will­ kürlich verweigern darf. Weitergehend kann man im Zeitalter der Ver­ einten Nationen vielleicht von einer Pflicht zur internationalen Koope­ ration sprechen und demgemäß von der Verpflichtung jedes Staates, mit seinem IPR dem internationalen Rechtsverkehr zu dienen - jedoch im Rahmen der Wahrung seiner eigenen Interessen. Dagegen wäre es über­ trieben, aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der Gleichheit eine Pflicht der Staaten zur völligen Gleichbehandlung ausländischen und inländi­ schen Rechtes herzuleiten.

2. Ob das allgemeine Völkerrecht auch konkrete Einzelvorschriften für den Inhalt der nationalen Kollisionsrechte enthält, ist umstritten. Dazu läßt sich wohl folgendes sagen: Die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung ist völkerrechtlich geboten, wenn der Sachverhalt nur zu dieser Rechtsordnung Anknüpfungen aufweist, und die Anwendung der eigenen Rechtsordnung ist verboten, wenn der Sachverhalt keine einzige Anknüpfung zum Inland aufweist217. Vorausgesetzt ist beidemal, daß es sich um eine politisch und ethisch neutrale Frage handelt218. Falls noch andere inhaltlich bestimmte Sätze des Kollisionsrechts in aller Welt gelten (etwa die Maßgeblichkeit der lex rei sitae für Sachen­ 217 Nach Makarov, Völkerrecht und IPR, in: Mlanges Streit I (Athen 1939) 535 (552 £.). • 218 Mit diesem Nachsatz möchte ich dem Einwand von Gamillscheg, RabelsZ 37 (1973) 810, Rechnung tragen, der die generelle Anwendung der lex fori in Deliktsund in Scheidungssachen nicht als völkerrechtswidrig ansieht.

rechte an Grundstücken, die wenigstens alternative Geltung der lex loci actus für die Form schuldrechtlicher Geschäfte, die grundsätzliche Zu­ lässigkeit der Vereinbarung des maßgebenden Rechts für Verträge des internationalen Handelsverkehrs), so fehlt es zu ihrer Einordnung als Völkerrecht an dem Bewußtsein einer Verpflichtung der Staaten, von diesen Regeln nicht zugunsten einer andern Normierung abzuwei­ chen219. Man kann solche Regeln als überstaatliches, gemeinsames (oder gemeines?) Gewohnheitsrecht bezeichnen - Völkerrecht sind sie nicht. Im übrigen steht die völkerrechtliche Pflicht, unter Umständen aus­ ländisches Recht anzuwenden, unter einem dreifachen prozessualen Vor­ behalt: Die Anwendung solchen Rechtes kann unterbleiben, wenn ent­ weder die Beteiligten sich im Verfahren nicht darauf berufen (vgl. unten § 43 II 1) oder wenn der Inhalt dieses Rechtes nicht in der vom natio­ nalen Verfahrensrecht vorgeschriebenen Form nachgewiesen wird (vgl. § 43 II 2) oder wenn seine Anwendung eine dem Gericht oder der son­ stigen Behörde oder Amtsperson fremde Tätigkeit erfordern würde (z. B. die Nachprüfung tatsächlicher Verhältnisse von Amts wegen, un­ ten § 54 III). Hinzu kommen der materiellrechtliche Vorbehalt des or­ dre public (unten §§ 49 ff.) und der politische Vorbehalt der Gegenseitig­ keit bzw. der Vergeltung (unten § 45); wieweit diese ihrerseits völker­ rechtlich bedingt sind, ist unten (a.a.O.) zu erörtern. 3. Ein völkerrechtlicher ordre public} der die Staaten verpflichtet, bei der Anwendung ihres IPR völkerrechtlich anerkannte Grundwerte, ins­ besondere die Menschenrechte, zu schützen, ist bisher nicht als Bestand­ teil des geltenden Völkerrechts nachzuweisen220. Vgl. zur Autonomie des IPR gegenüber dem Völkerrecht auch unten § 27 III 3 (Staatsangehörigkeit) und § 44 II 1 b (2) (Anwendung des Rechtes einer nicht anerkannten Regierung).

4. Die allgemeinen Regeln über völkerrechtliche Verträge gelten grundsätzlich auch für Staatsverträge auf dem Gebiete des IPR221. Da­ 219 Vgl. Makarov (oben N. 217) 548 f. sowie ders., IPR und Völkerrecht, in: Strupp (-Schlochauer), Wörterbuch des Völkerrechts2 II (1961) 129 (130). 220 Vgl. im einzelnen meine Besprechung von Sauveplanne, Internationaal privaatrecht - Internationaal recht? (1962): RabelsZ 28 (1964) 172 (173). - Lau­ terpacht in seiner „separate opinion" im Falle Boll (oben N. 178) rechnet nur den Vorbehalt des jeweiligen nationalen ordre public zu den general principles of law im Sinne von Art. 38 des IGH-Statuts, aber nicht einen international einheitlichen ordre public (92). 221 Der amtliche Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland verwendet neu­

bei ist freilich zu beachten, daß für die Auslegung aller Staatsverträge, soweit sie international einheitliches Privatrecht enthalten, Besonderhei­ ten gelten. Natürlich muß auch insofern eine international einheitliche Auslegung erstrebt werden. Aber z. B. der Grundsatz möglichster Scho­ nung der Souveränität jedes Staates, so daß eine Bindung im Zweifel zu verneinen ist, gilt nur bezüglich der sog. protokollarischen oder Schluß­ klauseln über Inkrafttreten, Beitritte, Kündigung, Vorbehalte und dergl. Dagegen sind die inhaltlichen Bestimmungen unter Beachtung zivil­ rechtlicher Grundsätze auszulegen, d. h. im Sinne der Vollständigkeit und inneren Geschlossenheit der Rechtsordnung 222. Der völkerrechtliche Grundsatz „pacta sunt servanda“ hat zwar in der Bun­ desrepublik Deutschland geradezu Verfassungsrang (Art. 25 GG), wird aber im IPR weitgehend dadurch entwertet, daß die meisten kollisionsrechtlichen Staatsverträge unter dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vorbehalt des nationalen ordre public stehen (vgl. unten § 51 IV). Im übrigen können Ver­ träge bei ständiger Nichtbeachtung durch desuetudo hinfällig werden223. Ein völkerrechtliches Problem ist auch die Bedeutung von Kriegen für die Geltung der IPR-Verträge: ob reine RechtsanwendungsVerträge, 'die keinen Be­ hördenverkehr über die Grenze voraussetzen, weiterlaufen (sog. Differenzie­ rungstheorie)224; 225 ob nach einer kriegsbedingten Suspension die Wiederanwen­ dung ausdrücklich vereinbart werden muß oder eine entsprechende Erklärung nur feststellt, daß (und von welchem Zeitpunkt an spätestens) die Hindernisse einer Wiederanwendung weggefallen sinld225; ob nach Beendigung einer Suspen­

erdings als Oberbegriff „internationale Vereinbarungen“, dagegen „Vertrag“ für die von Staatsoberhäuptern geschlossenen Vereinbarungen und „Abkommen“ bzw. „Über­ einkommen“ für die zwischen Regierungen geschlossenen; siehe ZaöRV 30 (1970) 650, ferner unten N. 228. 222 Grundlegend F. W. Bayer, Auslegung und Ergänzung international vereinheitlicher Normen ...: RabelsZ 20 (1955) 603 (629 ff.). Siehe neuestens Kropholler, EinheitsR 236 f., 285 ff. 223 So das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 im Verhältnis der Schweiz zu Rumänien und Spanien nach Baechler, Z. f. Vormundsch. 1975, 13. 224 In diesem Sinne wohl Aubin, Ist das Haager Zivilprozeßabkommen heute in Deutschland anwendbar?: 5. Beiheft zur DRZ (1948) 10 (18), und seine Anm. „Kriegseinfluß auf Staatsverträge über Fremdenrecht“: RabelsZ 16 (1951) 133 (134). 225 Zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangen bei einer Analyse der uneinheitlichen, durch Einmischung der Besatzungsmächte noch mehr komplizierten deutschen Praxis nach dem zweiten Weltkrieg Hoenicke, Die Fortgeltung von Verträgen des Deutschen Reiches in der BRD und der DDR (1972) 92-95, 137-168, und Bleckmann, Die Wie­ deranwendung deutscher Vorkriegsverträge: ZaöRV 33 (1973) 607 ff. - Zur staats­ rechtlichen Frage der Wirksamkeit einer Vereinbarung über die Wiederanwendung ohne Zustimmung des Parlaments siehe auch Wengler, Völkerrecht I (1964) 207 N. 1 und 805 N. 2.

sion auch ältere Sachverhalte - soweit noch möglich - wieder nach dem ver­ traglichen Kollisionsrecht zu behandeln sind226.

III. Vertragliches^ölkerrecht bilden die internationalen Abkommen, durch welche die beteiligten Staaten sich zur Einführung bestimmter einheit­ licher Normen des IPR oder zu gewissen verfahrensrechtlichen Maßnah­ men verpflichten (z. B. die Haager Abkommen über Internationales Pri­ vat- und Zivilverfahrensrecht), ferner Abkommen über die Einrichtung und die Anrufung internationaler Gerichte oder Schiedskommissionen für Fragen des internationalen Privatrechts im weiteren Sinne. Ihre Zahl und Bedeutung hat seit dem zweiten Weltkrieg besonders in Westeuropa so zugenommen, daß sie auf manchen Rechtsgebieten häufiger zur Anwen­ dung kommen als die entsprechenden nationalen Kollisionsnormen. Der alte Brauch deutscher Kommentare und Lehrbücher, solche Abkommen nur anhangsweise und womöglich in Kleindruck zu behandeln, kann daher ir­ reführen. Im Einzelfall ist vor Anwendung einer nationalen („autonomen“) Kollisionsnorm immer erst zu prüfen, ob nicht ein Staatsvertrag maßgebend ist.

Im einzelnen ergeben sich wiederum mehrere Unterscheidungen227. 1. Nach der Zahl der Vertragspartner sind bilaterale (zweiseitige) und multilaterale (mehrseitige) Verträge zu unterscheiden228. „Convention double“ bedeutet dagegen etwas anderes, nämlich ein Abkom­ men, das die internationale Zuständigkeit sowohl der inländischen Gerichte (für ihre eigene Tätigkeit) wie auch ausländischer Behörden (als Vorfrage für die Anerkennung ihrer Entscheidungen) normiert (unten § 55 III 2); und „Convention triplea meint einen Vertrag, der dazu noch das jeweils anwend­ bare Recht bestimmt.

Bilaterale Verträge herrschen im Ostblock vor, dessen europäische Mitglieder einerseits untereinander durch ein vollständiges Netz solcher 226 Ablehnend (ohne nähere Begründung) KG (West) 28. 10. 1957, FamRZ 1958» 324 mit zweifelnder Anm. Neuhaus ebd. 463 = IPRspr. 1956-57 Nr. 99. 227 Vgl. zur Typologie auch Kropholler, EinheitsR 98-104. 228 Im amtlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland werden neuer­ dings nur die ersteren als „Abkommen“, die letzteren als „Übereinkommen“ bezeich­ net. Für den täglichen Gebrauch ist das zweite Wort jedoch - besonders in Zusam­ mensetzungen - etwas schwerfällig), und bei der Zitierung älterer Verträge hält man sich besser an die eingebürgerten Namen.

Verträge über IPR und internationales Verfahrensrecht verbunden sind, anderseits auch mit einigen westlichen Ländern derartige Abkommen ge­ schlossen haben. Soweit diese Verträge in Einzelheiten divergieren, be­ steht freilich für den jeweiligen Gerichtsstaat die Möglichkeit eines Kon­ flikts, falls ein Sachverhalt mit Beziehungen zu zwei verschiedenen Ver­ tragsstaaten gegenüber dem einen Staat nach diesem und gegenüber dem andern nach jenem Recht zu beurteilen ist. Bei multinationalen Verträgen, wie sie in Westeuropa dominieren, scheint diese Gefahr geringer. Jedoch kann die Vielzahl von internatio­ nalen Gremien, die ohne gegenseitige Abstimmung heute Verträge über IPR produzieren, ebenfalls zu Konflikten führen oder zumindest den Richter verwirren229. So kommen für die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland heute nebeneinander die Verträge der Haager Konferenz für IPR, der Commission Internationale d’Etat Civil (C.I.E.C.) und der Europäischen Gemeinschaft in Betracht, daneben auch solche der Ver­ einten Nationen, ihres Wirtschaftsrates für Europa (E.C.E.) und des Eu­ roparates in Straßburg sowie einige ältere Verträge aus der Zeit des Völkerbundes. Erhöht wird die Verwirrung durch die unterschiedliche Anwendbarkeit der Verträge gegenüber Nichtvertragsstaaten sowie (we­ nigstens in Deutschland) durch die alte Unsitte, das Inkrafttreten neuer Verträge und erst recht das Wirksamwerden bestehender gegenüber wei­ teren Vertragspartnern vielfach erst verspätet bekanntzugeben230. Eine Mischform bilden multilaterale Verträge, die durch bilaterale Zusatzab­ kommen ergänzt werden, z. B. das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungs­ abkommen von 1971, dessen Inhalt multilateral vereinbart ist, dessen Inkraft­ setzung aber jeweils nur zweiseitig erfolgen soll231.

2. Je nach der Möglichkeit des Beitritts werden geschlossene, offene und halboffene Abkommen unterschieden232. Den geschlossenen Ab­ kommen können allenfalls bestimmte Staaten nachträglich beitreten (z. B. die Teilnehmer der Konferenz, auf der das Abkommen vereinbart 229 Vgl. oben N. 167. 230 Vgl. Kropholler, RabelsZ 33 (1969) 172. 231 Dazu Majoros, Systeme der „Bilateralisation" von multilateralen Konven­ tionen: Z. f. Rvgl. 14 (1973) 4 ff. 232 Da „es sich hierbei um eine Entscheidung handelt, die letztlich politischen Cha­ rakter hat“, wird „über die Beitrittsklauseln so gut wie nie im Plenum der Haager Konferenz diskutiert, sondern hinter den Kulissen entschieden“; so Kievel, Bewäh­ rung und Reformbedürftigkeit des Haager Entmündigungsabkommens (Diss. Bonn 1973) 223.

worden ist, oder die Mitglieder gewisser internationaler Organisatio­ nen), offenen dagegen alle Staaten. Bei halboffenen Abkommen wird wiederum unterschieden, ob der Beitritt neuer Staaten von allen bisheri­ gen Vertragsstaaten genehmigt werden muß oder nur gegenüber den ge­ nehmigenden Staaten wirksam oder umgekehrt nur gegenüber den aus­ drücklich widersprechenden Staaten unwirksam ist. 3. Nach dem Wirkungsbereich unterscheidet man die sog. „lois unifor­ mes“ - besser: Verträge über allseitiges oder unbedingtes Einheitsrecht -, welche die bisherigen nationalen Kollisionsnormen auf dem betreffen­ den Gebiet schlechthin ersetzen und in allen Kollisionsfällen zur An­ wendung kommen, und die einfachen Staatsverträge, die nur bei einer bestimmten Beziehung des Sachverhalts zu einem der Vertragsstaaten anzuwenden sind233. 234 Auch in den Abkommen der zweiten Art wird nicht immer eine Beziehung zu einem anderen Vertragsstaat gefordert, sondern zum Teil nur negativ bestimmt, daß keinesfalls das Recht eines vertragsfremden Staates angewandt werden muß 234. Oftmals besteht zwischen einfachem Vertragsrecht und autonomem Recht ein geringer Unterschied (z. B. zwischen den alten Haager Abkommen von 1902/1905 und den entsprechenden Bestimmungen des EGBGB); jedoch kann es neben den einfachen Staatsverträgen ein besonders fremden- und fremd­ rechtsfeindliches allgemeines IPR geben, sozusagen ein Kampfrecht gegenüber solchen Staaten, mit denen kein vertragliches Einvernehmen besteht (vgl. oben § 6 III Einl.).

Insgesamt hat das Völkerrecht für das Ideal eines einheitlichen IPR beachtliche, aber keineswegs durchschlagende Bedeutung.

233 Für die Abkommen der ersten Art wählte die Haager Konferenz früher die For­ mel: „Les Etats (contractants) sont con venus d’introduire les dispositions ... dans le droit national de leurs pays respectifs"; neuerdings heißt es statt dessen: „L’application... est indpendante de toute condition de rciprocit. La Convention s’applique meme si la loi applicable n’est pas celle d’un Etat contractant." 234 So z. B. Art. 6 des Haager Unterhaltsabkommens, vgl. dazu Dölle, NJW 1967, 2250 (zustimmend BGH 5. 2. 1975, FamRZ 1975, 272). Ähnlich Art. 9 II des Haager Ehescheidungsabkommens von 1902; dieses kann daher sinngemäß - trotz sei­ ner Anwendbarkeit auf alle „Klagen ... in einem der Vertragsstaaten“ (Art. 91)nicht zu einem Zuständigkeitsausschluß zugunsten eines Nichtvertragsstaates führen: Mosconi, Rev. Dir. Int. Priv. Proc. 11 (1975) 5 ff., vgl. BGE 40 (1914) I 418.

§ 9: Rechtsvergleichung

Die Rechtsvergleichung ist für das IPR in zwei Gestalten bedeutsam: als Kollisionsrechts-Vergleichung und als Vergleichung materiellen Rechts235. I. Die Kollisionsrechts-Vergleichung - also Vergleichung verschiedener nationaler oder sonstiger Kollisionsrechts-Systeme - ist ein Zweig der all­ gemeinen Rechtsvergleichung236 mit einigen Besonderheiten.

1. Die Bedeutung der Kollisionsrechts-Vergleichung entspricht im wesentlichen derjenigen jeder andern Art von RechtsVergleichung: (a) Sie dient dem besseren Verständnis der miteinander verglichenen Rechtsordnungen durch Hervorhebung ihrer Besonderheiten und ihrer versteckten Gemeinsamkeiten, (b) Sie unterrichtet über andere Lösungs­ möglichkeiten für bestimmte Probleme sowie über das international herrschende Niveau der Lösungen und fördert so die Fortentwicklung des eigenen Rechtes (ob diese nun durch richterliche Rechtsfindung oder durch Gesetzgebung erfolgt), (c) Sie bereitet die Rechtsvereinheitlichung vor und begleitet diese, indem sie zunächst die optimalen und am ehe­ sten allgemein annehmbaren Lösungen aufzufinden ermöglicht und dann die gleichmäßige Anwendung des vereinheitlichten Rechtes überwacht (siehe oben § 2 II). (d) Sie befreit aus der geistigen Enge des nationalen Positivismus. Eine spezifische weitere Aufgabe kommt der Kollisionsrechts-Verglei­ chung dort zu, wo die Anwendung des positiven inländischen IPR zur Berücksichtigung fremden Kollisionsrechts führt (siehe unten § 35: Ren­ voi, § 38: Näherberechtigung, § 46: Vorfrage). Allerdings ist zweifel­ haft, ob man hier noch von Vergleichung des fremden Kollisionsrechts mit dem inländischen sprechen kann. Ferner treibt der internationale Anwalt Kollisionsrechts-Vergleichung, wenn er unter mehreren interna­ tional zuständigen Ländern dasjenige aussucht, dessen IPR zur Anwen­ dung des ihm günstigsten Rechtes führt. 285 Vgl. Makarov, IPR und Rechtsvergleichung (1949) - kürzere Fassung in: Rotondi, Inchieste di diritto comparato II: Buts et m^thodes du droit compar (1973) 465 ff. besonders auch zur Geschichte der Rechtsvergleichung im IPR. 236 Zu dieser siehe etwa meinen Artikel „Rechtsvergleichung“, in: Staatslexikon6 VI (1961) 732 ff.

2. Von den vier großen Rechtskreisen der Welt237 - dem Kreis der religiösen Rechte, dem römisch-deutschen, dem anglo-amerikanischen und dem kommunistischen, in denen das Recht (grob vereinfachend ge­ sagt) als Teil der Religion, als staatlicher Befehl, als richterlicher Spruch bzw. als Kampfmittel der herrschenden Partei gilt - entfallen hier als Vergleichsobjekte der erste und der letzte. Die religiösen Rechte haben bestenfalls ein interpersonales Kollisions­ recht entwickelt (siehe unten § 42), aber kein räumliches; soweit sie ein solches benötigen, insbesondere im Bereich des internationalen Ge­ schäftsverkehrs, haben sie europäisches IPR entweder direkt rezipiert oder nachgeahmt. Wenn der österreichische Rechtsphilosoph Rene Marcic vom „Untergang des Morgenlandes“ - d. h. seiner Lebensformen - gesprochen hat238 und wenn bei internationalen Juristenkongressen heute Vertreter Asiens und Afri­ kas sich untereinander vor allem nach ihrer Ausbildung in kontinental-europäi­ schem oder in anglo-amerikanischem Recht unterscheiden, so können das Zei­ chen eines Übergangsstadiums sein. Wie die Germanen die Blüte ihrer Kultur erst nach dem Durchgang durch die Schule Roms erreicht haben, so werden vielleicht auch die farbigen Völker erst nach einer Auseinandersetzung mit der europäischen Rechtskultur ihre eigenen Beiträge zur internationalen Rechtsent­ wicklung erbringen können239. 240 Die kommunistischen Länder aber haben im Zeichen der „Koexi­ stenz“ ihre frühere Polemik gegen das westliche Kollisionsrecht mehr und mehr zurückgestellt und sich diesem angeglichen, zumal das sowjeti­ sche Kollisionsrecht auch nach der Kodifikation von 1961/68240 so un­ terentwickelt ist, daß kein anderer Staat des Ostblocks sich dadurch zur Preisgabe seiner eigenen mitteleuropäischen, meist von dem trefflichen österreichischen Entwurf von 1913/14 beeinflußten Rechtstradition ver237 Von einer genealogischen Methode der Rechts Vergleichung - im Gegensatz zur institutioneilen (welche einzelne Institutionen vergleicht) und zur kasuistischen (die von einem praktischen Einzelproblem ausgeht) - spricht hier Graue, Law and State 10 (Tübingen 1974) 80 f. 238 Marcic (oben N. 119) 5; vgl. 15: „Heute stirbt man im Osten für Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Pressefreiheit und die Unabhängigkeit des Denkens.“ Siehe auch die Besprechung seines Buches in RabelsZ 24 (1959) 160 ff. 239 Mein Aufsatz „Der Widerspruch gegen das Recht“: AcP 150 (1948/49) 514 ff., hat wohl an Aktualität verloren, ist jedoch nicht grundsätzlich überholt. 240 Siehe Rubanov, Fragen des IPR in den Grundlagen für die Zivilgesetzge­ bung der Union der SSR und der Unionsrepubliken: RabelsZ 27 (1962-63) 698 ff. (mit Gesetzestext und deutscher Übersetzung ebd. 719 ff.); Makarov, Kollisionsnormen in den „Grundlagen für die Zivilgesetzgebung der Sowjetunion und der Unionsrepubli­ ken“: OER 15 (1969) 1 ff.; ders., Kollisionsnormen in den sowjetischen „Grundlagen“ des Ehe- und Familienrechts, in: Fs. Rheinstein (oben N. 22) I 363 ff.

lockt fühlen kann241. - Auch der Gegensatz zwischen kontinental-eu­ ropäischem Gesetzesrecht und anglo-amerikanischem Richterrecht spielt im IPR insofern keine große Rolle, als es an ausführlichen Gesetzen besonders für das Internationale Schuld- und Sachenrecht - fast über­ all fehlt. Im übrigen ist es ein Irrtum, wenngleich ein weit verbreiteter, daß der Vor­ rang der Rechtsprechung vor der Gesetzgebung nur dem anglo-amerikanischen Empirismus entspreche, während dem systematischen Denken des Kontinental­ europäers das Gesetz und besonders die Kodifikation angemessener sei. Die Überlegenheit der Rechtsprechung läßt sich auch in rein philosophisch-syste­ matischer Deduktion vertreten242. Speziell auf dem Gebiete des Kollisionsrech­ tes hat die englische Rechtsprechung, wenn sich ihr vereinzelt ein Gesetz auf­ drängte, dieses wortgetreu angewandt und z. B. die viel kritisierte Unterschei­ dung zwischen personal estate und real estate im Testamentsgesetz von 1861 (Lord Kingsdown’s Act) nicht in die sonst im englischen Kollisionsrecht übliche Unterscheidung von movables und immovables umzudeuten gewagt243; erst der Wills Act 1963 (c. 44) hat das Problem gegenstandslos gemacht. Viel höher ist zu veranschlagen, was etwa die französische Rechtsprechung aus dem unzuläng­ lichen Art. 3 C. c. gemacht hat oder wie das deutsche Reichsgericht aus dem kasuistischen Art. 27 EGBGB das allgemeine Prinzip der Rück- und Weiterver­ weisung entwickelt oder die niederländische Rechtsprechung gegen den Wort­ laut des Gesetzes den Grundsatz der Nachlaßeinheit auch für Immobilien durchgesetzt hat. Die Grenzlinien der wichtigsten inhaltlichen Gegensätze im heutigen IPR, etwa zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip, zwi­ schen dem Vorherrschen des Personalstatuts und dem der lex rei sitae, zwischen mehr oder weniger gleichberechtigter Anwendung fremden Rechtes und Bevorzugung der lex fori - diese Linien überschneiden sich vielfach mit den Grenzen der Rechtskreise.

3. Übriggeblieben ist der traditionelle Unterschied der Methode, nämlich zwischen dem mehr theoretisch-deduktiven Denken des Konti­ nents und dem induktiv-praktischen Vorgehen der Angelsachsen. Dabei hat sich beiderseits eine Radikalisierung der geographischen Flügelgrup­ pen ergeben: Die reine Theorie dominiert in Südeuropa und Lateiname­ rika, wo die dogmatische Analyse des IPR und der Anwendbarkeit 241 Für China bemerkt Rheinstein, Am. J. Comp. L. 11 (1962) 639, allgemein (nicht speziell zum IPR) sehr zugespitzt: „By the very process of adopting Communism, China has come to constitute a part of Western civilization." 242 Vgl. Marcic (oben N. 119), dazu die Besprechung a.a.O. 161. 243 Siehe etwa Dicey, Conflict of Laws7 (1958) 605. 6 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

fremden Rechtes die meisten Autoren mehr zu interessieren scheint als die Lösung praktischer Aufgaben. Dagegen herrscht weithin Pragmatis­ mus (interest approach, policy weighing) in den Vereinigten Staaten. Dazwischen bemüht man sich in Mitteleuropa und England eher um ei­ nen Ausgleich durch kritische Auseinandersetzung mit beiden Extremen. Auf eine vereinfachende Formel gebracht244: Im Süden Europas und Ameri­ kas gilt das wissenschaftliche Bemühen mehr den Prinzipien, aus denen man möglichst ein geschlossenes System des IPR bauen möchte. In den Vereinigten Staaten ist wenigstens im Internationalen Schuldrecht, also für Vertrags-, De­ likts- und Gefährdungshaftung, ein systemloses Abwägen von Interessen zur bevorzugten Methode geworden (während im Familien-, Sachen- und Erbrecht vielfach noch die überlieferten Regeln gelten). In Deutschland tendiert die Dis­ kussion über die „allgemeinen Grundsätze des IPR und ihre Kollisionen“ einer­ seits und über „Interessen“ im IPR anderseits zu einem offenen System, das immer wieder an den sich wandelnden konkreten Gegebenheiten überprüft wird und doch ‘die einzelnen Lösungen in einen größeren Zusammenhang ein­ zuordnen versucht. Treffend hat Ernst Rabel schon 1935 einen „Systembau von unten auf“ gefordert245. Innerhalb der engeren Rechtsfamilien herrscht bisweilen gerade auf kollisionsrechtlichem Gebiet eine schlichte Rechtsgemeinschaft über die Staatsgrenzen hinweg, die sich bei Zweifelsfragen in der unbedenklichen Zitierung von Argumenten und Autoritäten aus einem andern Lande äu­ ßert246. Aber das ist schon mehr als bloße Rechtsvergleichung.

4. Der Weg des Rechtsvergleichers führt vom Staunen (angesichts der Andersartigkeit fremden Rechtes) über die Faszination (die umso größer zu sein pflegt, je weniger man sein eigenes Recht kennt) und die Enttäu­ schung (wenn bei näherem Zusehen die Bedingtheiten und Schwächen des fremden Rechtes gesehen werden) durch die Gefahr der Resignation (der viele erliegen) schließlich zur wohlüberlegten, die besonderen Gege­ benheiten des fremden und des eigenen Rechtes beachtenden Auswer­ tung. 244 Vgl. zum folgenden meinen Aufsatz „Prinzipien oder Interessen als Grundlage des IPR?“, in: Akrothinia Vallindas (bisher nur als Sonderdruck, Thessaloniki 1971). 245 Rabel, in: 25 Jahre Kaiser Wilhelm-Gesellschaft III (1937) 109 = Aufsätze III 220. 246 Ein extremes Beispiel bietet BGH 22. 11. 1962, BGHZ 38, 254 (256) = IPRspr. 1962-63 Nr. 35 (zum Aufrechnungsstatut): „Der Senat schließt sich insoweit im Er­ gebnis und in der Begründung dem Urteil des Schweizer Bundesgerichts BGE 77 II 189 an (weitere Nachweise dort)“ - und dieses Urteil führt neben Schweizer Ent­ scheidungen fast ausschließlich deutsche Literatur an.

Auf einige Gegebenheiten des materiellen Rechts der Vereinigten Staaten, die sich im dortigen Kollisionsrecht auswirken und eine unmittelbare Übertra­ gung der amerikanischen Erfahrungen und Lehren auf Europa ausschließen, hat bereits Siehr hingewiesen247. Hinzu kommt wohl ein psychologisches Ele­ ment: der Aufstand gegen das im Ersten Restatement (1934) niedergelegte BEALEsche IPR, das ohne viel Rücksicht auf die tatsächliche Rechtsübung ein­ seitig am Schutz wohlerworbener Rechte orientiert und überhaupt recht starr war, während man von dem viel feiner nuancierenden neueren europäischen IPR wenig wußte248. - Ein positives Beispiel kluger und maßvoller Verwer­ tung ausländischer Vorbilder bietet etwa der venezolanische Entwurf eines IPR-Gesetzes von 1963/65. Schon in seiner Begründung weist er darauf hin, daß es in Venezuela „in dieser Materie an einer wirklichen Tradition der Rechtsprechung fehlt“ und daß daher „eine allzu technische, rigorose und de­ taillierte Formulierung“ ebenso nutzlos wäre wie „eine allzu einfache und ge­ nerelle Aufstellung grundlegender Prinzipien“249. Demgemäß bemüht sich der Entwurf um einfache, feste Regeln, wobei freilich mitunter die verbale Ein­ fachheit der Regeln, z. B. die einheitliche Anknüpfung an den Ursprungsort für alle außervertraglichen Obligationen (unerlaubte Handlungen, Geschäfts­ führung ohne Auftrag sowie ungerechtfertigte Bereicherung), wichtiger genom­ men wird als die Genauigkeit - ob etwa bei Delikten der Handlungs- oder 'der Erfolgsort gemeint ist - und erst recht als eine sachliche Differenzierung.

5. Eine rechts vergleichende Bestandsaufnahme des IPR gibt trotz der offensichtlich starken Divergenzen der nationalen Kollisionsnormen kei­ nen Grund zu Pessimismus250. Es ist die Haupterfahrung aller Rechts­ vergleichung, daß bei gleichen kulturellen und wirtschaftlichen Verhält­ nissen die verschiedenen Rechtsordnungen etwa zu den gleichen Ergeb­ nissen kommen, auch wenn die rechtliche Konstruktion ganz verschie­ den ist. Diese Erfahrung bestätigt sich im IPR. Schon wenn man von dem bekanntesten Gegensatz der Anknüpfungen aus­ geht, nämlich zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip, zeigt sich das. Denn einerseits führt insbesondere die englische Ausgestaltung des Domizil­ begriffs (wonach zum Domizilwechsel ein animus nunquam revertendi gehört) 247 Siehr (oben N. 73) 587 ff.: die föderale Struktur der USA, die „Einheit“ des amerikanischen Rechts, das amerikanische Zivilprozeßrecht; vgl. S. 626 zum besondern Denkstil. 248 Näheres zum Restatement Conflict of Laws unten N. 1219. 249 Repüblica de Venezuela Ministerio de Justicia, Exposicion de motivos y proyecto de ley de normas de derecho internacional privado (Caracas 1963 und 1965), jeweils S. 3, dazu meine Observaciones de derecho comparado, in: Libro-Homenaje ... Herrera Mendoza I (Caracas 1970) 53 ff., ferner La actualidad de la codificacin de d.i.p., in: Libro Homenaje ... Sänchez-Covisa (Caracas 1975) 217 ff. 250 Stark übertrieben sagt C. Jones, The Irish Jurist 3 (1968) 320: „In the mod­ ern conflict of laws without the help of treaties... such uniformity begins to look as mythical as the unicorn.“

vielfach auf dieselbe Rechtsordnung wie das Staatsangehörigkeitsprinzip. An­ derseits wird im Rahmen des Staatsangehörigkeitsprinzips bei Doppelstaatern und politischen Flüchtlingen durch die zunehmende Berücksichtigung nur einer „effektiven“ Staatsangehörigkeit eine Annäherung an ‘das Wohnsitzprinzip er­ reicht. - Ein anderes Beispiel für die Funktionsgleichheit scheinbar verschie­ dener Anknüpfungen zeigt sich im Internationalen Vertragsrecht bei Parteiwil­ le und objektiver Anknüpfung. In Deutschland erfolgt unter dem Namen des „hypothetischen Parteiwillens“ tatsächlich ebenso eine objektive Anknüpfung an den Schwerpunkt wie bei der englischen Formel vom „proper law of the contract“ oder bei der schweizerischen Suche nach dem „Recht der charakteri­ stischen Leistung“. Umgekehrt gibt es unter den streng objektiv klingenden Anknüpfungsmomenten leicht manipulierbare, die praktisch der Parteiautono­ mie nahekommen und 'das IPR zum „football in private hands“ machen251. Ein drittes, krasses Beispiel bietet die Behandlung der Rechte an Mobilien in Italien und in Österreich: Während nach dem Gesetzeswortlaut solche Rechte dort von dem Recht des Lageortes beherrscht werden (Art. 20 Disp. prel. C. civ.) und hier „mit der Person des Eigentümers unter den gleichen Gesetzen“ stehen (§ 300 ABGB), wird tatsächlich in beiden Ländern auf dieselbe Weise unterschieden: Sachenrechtlich gilt die lex rei sitae, familien- und erbrechtlich die lex patriae. Aber nicht nur innerhalb der Anknüpfungen, sondern auch zwischen schein­ bar ganz verschiedenen Rechtsfiguren des IPR zeigt sich eine Funktionsgleich­ heit. So hat schon Martin Wolff darauf hingewiesen, daß das international verbreitete „Heimwärtsstreben“ in Frankreich besonders mit Hilfe des ordre public erfolgt, in England im Wege einer prozessualen Qualifikation, in Deutsch­ land durch einseitige Kollisionsnormen252. Ebenso dient im Bereich des zwin­ genden Schuldrechts in vielen Ländern der ordre public zu jener Durchbre­ chung der normalen schuldrechtlichen Anknüpfungsregeln, die wir in Deutsch­ land durch ausdrückliche Sonderanknüpfung der Vorschriften des Währungsund Feindhandelsrechtes usw. erzielen. Schließlich beobachten wir dasselbe Phänomen im Verhältnis des IPR zu sei­ nen Nachbardisziplinen. So führt die kollisionsrechtliche „Anpassung“ in Fäl­ len der gleichzeitigen Anwendung mehrerer Rechtsordnungen praktisch zur Anwendung eines ähnlichen Mischrechtes oder Sonderrechtes, wie es anderswo als Fremdenrecht oder auch im Wege der internationalen Rechtsvereinheitlichung als Spezialrecht für absolut internationale Sachverhalte geschaffen wird. Bis­ weilen sehen wir eine derartige Fungibilität sogar zwischen IPR und Interna­ tionalem Prozeßrecht, indem das anglo-amerikanische Recht Fragen der „juris­ diction“ in den Vordergrund stellt (und dann den zuständigen Richter nach seiner lex fori entscheiden läßt), wo für den Kontinentaleuropäer die Frage des anwendbaren Rechtes im Vordergrund steht. 251 Kronstein, siehe unten N. 523.

252 Oben N. 198.

Bei einer Analyse dieser Erscheinungen können wir zunächst formal unterscheiden zwischen echten Kompromissen, wenn nämlich zwei Rechtsordnungen von widerstreitenden Prinzipien ausgehend im Wege der Ausnahmeregelungen sich so weit annähern, daß sie sich in der Mit­ te treffen, und anderseits den eigentlichen Fällen der Funktionsgleich­ heit, in denen ganz verschiedene, sozusagen auf ungleichen Ebenen wir­ kende Institutionen dasselbe praktische Bedürfnis befriedigen. Beispiele von Kompromissen bieten die oben an erster Stelle genannten Anknüp­ fungen; echte Fungibilität sehen wir etwa beim „Heimwärtsstreben“ und bei der Anpassung. Jedoch sollte man rechtspolitisch sich nicht mit der bloßen Feststel­ lung der Funktions- und womöglich Ergebnisgleichheit begnügen, son­ dern darauf sehen, welche rechtliche Konstruktion jeweils als sachlich angemessenere, einfachere und daher zur allgemeinen Annahme geeigne­ tere erscheint.

II.

Die Vergleichung materiellen Rechts kann für das IPR eine dreifache Bedeutung haben. 1. Unmittelbar kommt ihr für das IPR eine ähnliche Rolle zu wie der Rechtstatsachenforschung für das materielle Recht. Denn das IPR hat als „Recht über Rechten“ mit den einzelnen materiellen Rechtsordnun­ gen, deren Anwendungsbereich es abgrenzen soll, sozusagen als seinem „Rohstoff“ zu tun. Sowohl für die Aufstellung von Kollisionsnormen wie für ihre Auslegung und ihre Anwendung im Einzelfall ist die Kenntnis ausländischen Rechtes — und zwar gerade in seinen Abwei­ chungen wie Übereinstimmungen gegenüber dem inländischen materiel­ len Recht, also die Rechtsvergleichung - nicht nur nützlich, sondern geradezu unentbehrlich. Näheres dazu ist bei den einzelnen Institutio­ nen des IPR zu sagen (siehe unten §§13 ff.: Qualifikation, § 20: Maxi­ men der Anknüpfung, § 29: gewöhnlicher Aufenthalt, § 47: Anpassung, § 49: Ordre public, § 52: Ersatzrecht). Nur zur Methode sei hier allge­ mein bemerkt, daß der Richter im Einzelfall sich meistens mit einer bi­ lateralen Rechtsvergleichung zwischen dem inländischen und einem be­ stimmten ausländischen Rechte begnügen muß, während eine multilate­ rale oder gar universale Rechtsvergleichung die Aufgabe der Wissen­ schaft und des Gesetzgebers bleibt.

2. Mittelbar ist die materielle Rechtsvergleichung insofern bedeutsam für das IPR, als nur mit ihrer Hilfe die gemeinsamen Rechtsgrundsätze ermittelt werden können, die bisweilen anstelle einer nationalen Rechts­ ordnung anzuwenden sind und damit die Aufgabe des IPR wesentlich erleichtern (vgl. dazu oben § 2 II 4).

3. Subsidiär für das IPR - sozusagen als sein Surrogat - soll die Rechtsvergleichung nach einer neuerdings zur Diskussion gestellten Leh­ re fungieren. Nach Zweitert soll der Richter, wenn im Einzelfall „eine Kollisionsregel für eine bestimmte Frage nicht besteht oder zu erhebli­ chen Zweifeln Anlaß gibt“, die jeweils in Betracht kommenden Rechts­ ordnungen miteinander vergleichen und die „bessere“ Regel anwenden, d. h. diejenige, die nach Ansicht des Richters das betroffene Rechtsgut am wirksamsten schützt bzw. bei einer Kollision mehrerer Rechtsgüter den Konflikt auf die ausgewogenste Weise löst253. Aber wenn der Rich­ ter bei jedem „erheblichen Zweifel“ auf eine kollisionsrechtliche Lösung verzichtet - ist dann eine Weiterentwicklung des IPR durch richterli­ che Bildung neuer oder durch Differenzierung alter Kollisionsnormen oder durch Klärung von Streitfragen überhaupt noch möglich? Außer­ dem kann sehr zweifelhaft sein, welche Rechtsordnungen „in Betracht kommen“: nur diejenigen, auf welche ein traditionelles Anknüpfungs­ moment verweist, oder alle, zu denen der Sachverhalt eine räumliche oder sonstige Beziehung besitzt, oder gar jede, die (nach zufälliger Kenntnis einer Partei oder des Richters) eine „fortschrittlichere“ Lösung anbietet? Schließlich ist der von ZWEIGERT empfohlene Maßstab für die richterliche Wertung - „ein fortschrittliches Rechtsdenken..., denn nur durch fortschrittliches Denken wird die Entwicklung des Rechts Schritt halten mit der rapiden Veränderung sozialer Probleme“254 — nicht eindeutig. Die soziale Wirklichkeit verläuft oft in Wellen oder Zickzacklinien, wodurch „Fortschritt“ ein relativer Begriff wird255, nicht zu reden von der Möglichkeit eines fortschreitenden Verfalls. Man kann die Auffassung vertreten, im internationalen Rechtsverkehr werde - wie im wirtschaftlichen Wettbewerb die bessere Ware - die bessere Lösung sich auf die Dauer gegen allen Formalismus des IPR durchset­ zen256. Aber das kann man nicht zur rechtlichen Maxime für den Ein­ zelfall machen. ZwEIGERT, RabelsZ 37 (1973) 444, 446 f. 254 ZWEIGERT a.a.O. 447. 255 Vgl. etwa zum Familienrecht die „ketzerischen Gedanken“ von Jemolo, FamRZ 1972, 473 ff. 256 Eugen Langen, International Commercial Arbitration Most Energetically 253

5 10: Geschichte

I. Eine idealtypische Stufentheorie - nach Art der Wirtschaftslehre von Friedrich List und anderen — geht davon aus, daß die soziale und kulturelle Entwicklung in verschiedenen Räumen und Zeiten immer wieder nach einer gewissen inneren Gesetzlichkeit verläuft und demge­ mäß überall gleiche oder ähnliche Stufen aufweist. Ihr Wert ist weniger ein historischer - für die Erkenntnis, „wie es wirklich gewesen ist" -, sondern ein systematischer. So ist auch die folgende Aufreihung ver­ schiedener Möglichkeiten der Behandlung von Fällen mit Außenbezie­ hungen gemeint. Insbesondere ist mit ihr kein Werturteil verbunden. Nicht nur gebührt jeder Zeit - wie ihre eigene sonstige Kultur - ihr eigenes Recht; sondern es gibt auch Gründe, daß in einem Lande zu glei­ cher Zeit nebeneinander für manche Fälle die eine und für andere eine abweichende Methode verwandt wird. Wie die primitiveren Wirschafts­ stufen (der Sammler und Jäger, der Viehzüchter, Ackerbauer, Hand­ werker usw.) auch in der hochentwickelten Industriegesellschaft noch fortbestehen, so haben in der rechtlichen Behandlung internationaler Sachverhalte die verschiedenen „Stufen" nebeneinander Lebensrecht. Im folgenden werden sechsmal eine prozessuale und eine materiell­ rechtliche Lösung nebeneinander gestellt, wobei jeweils die erste als die primitivere, aber nicht einfach als die schlechtere bezeichnet werden kann.

1. Die ältesten Formen der Behandlung von Sachverhalten mit Au­ ßenbeziehungen bilden die Rechtlosstellung von Fremdlingen und die Ignorierung fremder Rechtsakte und -Verhältnisse, nämlich durch Ver­ weigerung der inländischen Gerichtszuständigkeit oder durch entspre­ chende materielle Normen. Als Beispiele für eine solche Einstellung noch in neuester Zeit seien genannt: die Lehre von der Unzuständigkeit inländischer Gerichte zur Entscheidung über ausländische Rechtseinrichtungen, die der inländischen Rechtsordnung unbe­ kannt sind257, etwa die Beschränkung der Zuständigkeit englischer Gerichte in

Supports the Development of Supranational Law and Thus World Peace Through Law, in: World Peace Through Law, The Washington World Conference (1967) 311

(318).

.

. .

257 So Riezler, Internationales Zivilprozeßrecht und prozessuales Fremdenrecht

Ehesachen auf „Christian marriages" (d. h. auf unbedingt monogame und grundsätzlich auf Lebenszeit geschlossene Ehen)258; das Prinzip der Nichtan­ wendung fremden „öffentlichen“ Rechts, das freilich viel von seiner früheren Schärfe verloren hat259 (vgl. unten § 23 II 2); die besonders in England übliche Nichtanwendung ausländischer „penal laws“ (einschließlich der Nichtanerken­ nung etwa einer französischen Entmündigung eines Verschwenders oder der Wirkungen einer sonstwie in concreto nachteiligen Bevormundung260 und Nichtanerkennung von „all disabilities caused by religious vows, religious be­ lief, race, or cast“261).

2. Das gegenteilige Extrem ist die völlige Gleichstellung ausländischer und inländischer Sachverhalte in prozessualer und materiellrechtlicher Hinsicht unter ausschließlicher Anwendung des inländischen Rechtes. Hier werden die fremden Menschen und Rechtsakte zwar rechtlich an­ erkannt, aber nicht in ihrer Eigenart gewürdigt. Aus dem geltenden Recht gehören hierher die sog. „speziellen Vorbehalts­ klauseln“ wie Art. 7 III EGBGB, der für gewisse Inlandsgeschäfte den nicht voll geschäftsfähigen Ausländer wie einen Inländer behandelt, oder (nach vor­ herrschender Meinung) Art. 12, der eine im Ausland begangene unerlaubte Handlung eines Deutschen zugunsten des Täters einem Inlandsdelikt gleich­ stellt. (Näheres zu den speziellen Vorbehaltsklauseln unten § 51 I.)

Die ausschließliche Anwendung der lex fori als solcher kann beson­ ders dann berechtigt sein, wenn eine inländische Zuständigkeit nur bei enger Beziehung des Falles zum Inland gegeben ist, z. B. für Immobiliarklagen262.

3. Eine weitere Möglichkeit besteht in der besonderen Behandlung der Fälle mit Außenbeziehung, und zwar durch Schaffung von Sonder­ gerichten nach Art des römischen praetor peregrinus oder von materiel­ lem Sonderrecht. Auf dieser Stufe werden die Besonderheiten der Fälle (1949) 233 ff., und zwar nicht nur für Gestaltungsakte (vgl. insofern unten § 57 III), sondern anscheinend auch für Feststellungsurteile, z. B. bezüglich einer italienischen affiliazione (a.a.O. 234). 258 So noch in Sowa v. Sowa, [1961] P. 70 (C. A.); siehe aber seither Matrimonial Proceedings (Polygamous Marriages) Act 1972 (c. 38) = Matrimonial Causes Act 1973 (c. 18), sec. 47. 259 Führend das Urteil BGE 80 (1954) II 53 (61 ff.), das nach dem vorwiegenden Zweck der ausländischen Norm unterscheidet: wenn sie dem Schutz privater Interes­ sen dient, ist sie anzuwenden. 260 Siehe etwa In re Langley's Settlement Trusts, Lloyds Bank> Ltd. v. Langley, [1962] Ch. 541 (C. A.). 261 M. Wolff, Priv. Int. L. 173. 262 Vgl. oben § 3 I 2 b bei N. 74 f. sowie unten § 57 I.

mit Außenbeziehung gegenüber den rein inländischen Fällen wohl in Rechnung gestellt, aber das fremde Recht und die fremde Gerichtsbar­ keit werden immer noch ignoriert. Beispiele solchen Sonderrechts siehe oben § 3 I 1 b.

4. Der erste Schritt zur Beachtung einer fremden Rechtshoheit ist die sog. Anerkennung fremder Entscheidungen und sonstiger formeller Rechtsakte (Urkunden, Beweiserhebungen usw.) in Fällen, in denen für diese Akte keine inländische Zuständigkeit gegeben war oder ist. Es handelt sich um eine Gleichstellung dieser Akte mit entsprechenden in­ ländischen Vorgängen durch Zubilligung inlandsrechtlicher Wirkungen, insbesondere durch Vollstreckung von Leistungsurteilen (Näheres unten §58 V). Die hierbei übliche Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit des fraglichen Urteils nach den betreffenden fremden Vorschriften bedeutet zugleich den Anfang der Anwendung fremden Rechtes. Ihr folgt die Anwendung fremder Normen auf andere abgeschlossene Sachverhalte, die sich im Ausland zugetragen haben und im Inland nur incidenter zur Sprache kommen. Über die Behandlung von Vorfragen siehe unten § 46.

5. Die nächste Stufe ist die Billigung einer ausländischen Zuständig­ keit auf Kosten der inländischen durch nationale oder übernationale Re­ geln über die Zuständigkeit. Ihr Gegenstück ist die mehr oder weniger gleichberechtigte Anwendung fremden materiellen Rechtes durch inlän­ dische Gerichte. Diese erheischt ein besonderes Rechtsanwendungsrecht - eben das IPR im technischen Sinne -, das für jeden Rechtsfall die An­ wendung entweder des eigenen oder eines bestimmten fremden Rechtes vorschreibt. Die Tendenz geht hierbei von einer Anwendung fremden Rechtes im Zuge der bloßen Rechtserkenntnis (Feststellungs- und Lei­ stungsurteile) zur Vornahme auch von Gestaltungsakten (Entmündigung, Ehescheidung, Akte der Freiwilligen Gerichtsbarkeit) nach fremden Recht. 6. Eine noch weitergehende Anpassung an die Besonderheiten der nicht rein inländischen Fälle bedeutet die Bildung gemischter Gerich­ te (oder gemischter Schiedsgerichte), welche sich nicht unbedingt für die Anwendung der einen oder andern Binnenrechtsordnung zu ent­ scheiden brauchen, sondern - zunächst aufgrund einer Generalklausel von „natürlicher Gerechtigkeit“, „Billigkeit“ oder dergl. - von Fall zu

Fall oder auch auf weite Sicht ein eigenes Mischrecht entwickeln können263. Das fallweise entwickelte Mischrecht ist der Anfang eines gemeinsamen Sonderrechts für Sachverhalte, die typischerweise über den Bereich einer einzigen Rechtsordnung hinausgreifen. Das modernste Beispiel gemeinsamen Sonderrechts bietet das Einheitliche Kaufgesetz264. Ein älteres (seit 1949 obsoletes) Beispiel bildeten die ägyptischen „Codes mixtes", die für Fälle mit Beteiligung von Angehörigen verschiedener Staaten galten. Im einzelnen kann solches einheitliches Sonderrecht in allen Formen des in § 2 behandelten „Privatrechts auf internationaler Ebene“ ent­ stehen.

Wenn ein derartiges Sonderrecht auf das allgemeine Recht der be­ teiligten Rechtsordnungen zurückwirkt (wie das Einheitliche Kaufge­ setz im Falle seiner Bewährung es sicherlich tun wird), befinden wir uns im Übergang zu einem absolut geltenden Einheitsrecht, das nicht mehr auf internationale Fälle beschränkt ist. Insgesamt sind es also zweimal drei Lösungsmöglichkeiten, die wir für Sach­ verhalte mit Außenbeziehungen vorfinden: zweimal führt der Weg - prozes­ sual gesehen - von der Unzuständigkeit über die Bejahung der eigenen Zu­ ständigkeit zu einer Sonderzuständigkeit, und jedesmal wird zugleich eine neue materiellrechtliche Lösung erreicht: Rechtlosigkeit, Gleichstellung, inländisches Sonderrecht; Anerkennung von Rechtsakten zuständiger fremder Stellen, Rechtsanwendungsrecht, gemeinsames Sonderrecht.

II.

Die Kenntnis der wirklichen Geschichte des IPR ist für die Gegen­ wart vor allem insofern von Bedeutung, als das Vokabular des heuti­ gen IPR zum Teil nur aus dieser Geschichte verstanden werden kann. Ferner gibt es eine Reihe historischer Legenden, deren objektive Richtigkeit zwar völlig unerheblich ist für das geltende Recht, auf die aber in der kollisionsrechtlichen Literatur nun einmal gern ange­ spielt wird. Schließlich wird gerade neuestens dem modernen (SaviGNYschen) IPR eine bestimmte historische Herkunft zugeschrieben, um seine Unbrauchbarkeit für eine veränderte Gegenwart darzu­ tun265 (als wenn es keinen Funktionswandel von Rechtsinstituten gäbe!). Kurzum: Der denkende Jurist sollte sich der geschichtlichen 263 Zur ganz außergerichtlichen (und außerrechtlichen?) Regelung privater Vor­ kriegsverträge nach den beiden Weltkriegen siehe Vorauflage S. 12 mit N. 28 und 29. 264 Oben N. 32. 265 Vgl. oben bei N. 87.

Herkunft der Termini und Rechtsinstitute bewußt sein, mit denen er arbeitet, aber nicht dem Irrtum verfallen, es seien aus der Vergangen­ heit - soweit sie hinter die Entstehungsgeschichte der geltenden Ge­ setze zurückreicht - zwingende Schlüsse für die Gegenwart oder gar für die Zukunft des Rechtes abzuleiten. Wie Jacob Burckhardt zu dem Sprichwort „Historia vitae magistra" gesagt hat: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“266 III. Eine Periodisierung der Geschichte tut ihr unvermeidlich Gewalt an, weil dadurch die Kontinuität des Lebens sowie die Mannigfaltig­ keit der zu jeder Zeit mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte und Persönlichkeiten mißachtet werden. Insbesondere ist es sehr heikel, Antworten früherer Autoren auf Fragen ermitteln zu wollen, die es in der jetzigen Formulierung damals noch nicht gab. Mit diesen Vor­ behalten seien folgende Aussagen gewagt. 1. Die Antike hat kaum Kollisionsrecht im heutigen Sinne gekannt, allenfalls unsichere Ansätze von Abgrenzung des Anwendungsbereichs der eigenen Normen, interlokalem Recht, Fremdenrecht und prozessua­ lem Sonderrecht. Die Römer behalfen sich im wesentlichen mit dem ius gentium, d. h. jenem Teil ihres eigenen Rechts, den sie für Gemeingut aller Völker hielten267. Im übrigen gab es damals noch nicht die Vorstel­ lung von der Vollständigkeit der Rechtsordnung und daher kein „Ver­ bot der Rechtsverweigerung“; die Gerichte mußten nicht über jede vor­ kommende Rechtsfragen entscheiden.

2. Im frühen Mittelalter galt in Europa - besonders im Franken­ reich - überwiegend der sog. Grundsatz der persönlichen Rechte, wonach jeder gemäß seinem „Stammesrecht" zu beurteilen war. Ob die „professio iuris“ - Bekenntnis der Stammes- und damit Rechts­ zugehörigkeit einer Person am Anfang einer Urkunde oder zu Beginn des Prozesses — immer den Tatsachen entsprach oder auf eine freie 266 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Einleitung. 267 Gegen die verbreitete Bezeichnung des ius gentium als „Fremdenrecht“, das nur für den Rechtsverkehr mit und zwischen Ausländern galt, siehe H. P. Dopffel, Die Wurzeln der Regel locus regit actum im römischen Altertum (Diss. Hamburg 1966) 50 N. 77. Vgl. Kaser, Das römische Privatrecht2 I (1971) 202 ff.

Rechtswahl hinauslaufen konnte, bleibe dahingestellt. Feste Regeln für die Behandlung von Sachverhalten, an denen Angehörige ver­ schiedener Rechtsordnungen beteiligt waren, haben sich nicht heraus­ gebildet. Das System verfiel mit der Vermischung der Bevölkerung und dem Vordringen rein territorial geltender Rechte. 3. Vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein spricht man von der „Statutentheorie“, die zuerst für die statuta (lokalen Gesetze) der italienischen Stadtrepubliken, sodann für die französi­ schen coutumes (regionalen Gewohnheitsrechte) und schließlich für die Gesetze der mehr oder weniger souveränen neuzeitlichen Territo­ rialstaaten den jeweiligen Anwendungsbereich spekulativ bestimmte. Die glatte Dreiteilung in statuta personalia (mit Geltung für alle Do­ mizilanten des Territoriums), statuta realia (für die im Territorium belegenen unbeweglichen Sachen) und statuta mixta (für Rechtshand­ lungen im Territorium) hat in dieser Reinheit wohl niemals gegolten.

Innerhalb der Statutentheorie werden folgende Hauptschulen un­ terschieden. a) Die italienischen und französischen Glossatoren (d. h. Interpre­ ten des Corpus Iuris) entwickelten ihre Lehre vor allem im Anschluß an die erste Bestimmung des Codex Justinians268, wonach alle Völ­ ker, „die unter unserer milden Herrschaft stehen“, der katholischen Religion angehören sollen - also nur die Untertanen, nicht die Fremden! Hatte Magister Aldricus (um 1180) erklärt, der Richter habe jeweils dasjenige Gesetz anzuwenden, „quae potior et utilior videtur“ (ohne daß er zwischen Inhalt und Nähe zum Sachverhalt un­ terschied), so heißt es in der Glossa ordinaria des Accursius (um 1250), wenn ein Bologneser in Modena verklagt werde, dürfe er nicht nach dem dortigen Recht beurteilt werden, „weil er diesem nicht un­ tersteht“. b) Die Postglossatoren oder Kommentatoren des 14. und 15. Jahr­ hunderts verfeinerten die Lehren der Glossatoren auf dem bewährten scholastischen Weg der Unterscheidungen. Am berühmtesten von ih­ nen sind Bartolus (Professor in Bologna um 1350) und sein Schüler Baldus. Mit den italienischen Juristen wetteifern die französischen von Toulouse bis Orleans. 268 Codex I, 1: Cunctos populos.

c) Unter den Franzosen des 16. Jahrhunderts ragen Dumoulin (Molinaeus) und D‘ Argentre hervor. Der eine war ein Gegner des bodengebundenen Lehnsrechtes und deshalb Anwalt der Personalität der Gesetze. Ob er in seinen Ausführungen über Ehe- und sonstige Ver­ träge das Prinzip der freien Rechtswahl durch die Parteien (Partei­ autonomie) erfunden hat, ist umstritten269. Der andere war ein später Verteidiger des Lehnsrechtes und neigte deshalb zur Einordnung aller für Grundstücke erheblichen Gesetze als Realstatuten (Territorialität des Rechtes), womit er im Ergebnis den größeren Einfluß gewann.

d) Die Niederländer nach 1650 waren vor allem auf die Wahrung der Souveränität ihres Landes bedacht und betrachteten daher die Anwendung fremden Rechtes nur als Sache der „comitas", d. h. des freundlichen Entgegenkommens gegenüber dem Ausland. Ihr hervor­ ragendster Vertreter ist Ulricus Huber, der auch in England und Nordamerika viel beachtet wurde270. e) In Deutschland fand die Statutentheorie einerseits vom 16. bis 18. Jahrhundert einige tüchtige Anhänger (darunter Hert oder Hertius um 1690271), anderseits ihren Zerstörer in Carl Georg Wächter (1841/42): Er wies aufs gründlichste ihre Unzulänglich­ keit nach, ohne positiv etwas anderes empfehlen zu können als die Maßgeblichkeit der lex fori in dem dreifachen Sinne, von dem oben (§ 7 II) die Rede war272. 4. Erst seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das moderne IPR.

a) Als seine Begründer gelten drei Autoren: der Amerikaner Story (Commentaries on the Conflict of Laws, 1834) mit einer ausführlichen 269 Verneinend Gamillscheg, Der Einfluß Dumoulins auf die Entwicklung des Kollisionsrechts (1955) HO ff.; bejahend Wicki, Zur Dogmengeschichte der Parteiau­ tonomie im IPR (Winterthur 1965) 17 f., bespr. durch Dierk Müller, RabelsZ 32 (1968) 557 f. 270 Vgl. oben N. 18. 271 Vgl. oben N. 18. 272 Wächter, Über die Collision der Privatrechtsgesetze verschiedener Staaten: AcP 24 (1841) 230 ff.; 25 (1842) 1 ff., 161 ff., 361 ff. Später hat Wächter, Pan­ dekten I (1880) 146 ff., sich mit Savigny auseinandergesetzt, der ein „eigentlich bloß legislatives Prinzip“ ausgesprochen habe. Aber einerseits hat auch Savigny den Vorrang gesetzlicher Vorschriften für Kollisionsfälle anerkannt (25 f.), und anderseits bezieht sich Wächter selbst (subsidiär) auf die „Natur der Verhältnisse“ (147). Der wahre Gegensatz ist der von absolutem „Territorialitätsprinzip“ (a.a.O.) - vgl. unten § 23, besonders II 1 - und „völkerrechtlicher Gemeinschaft“ (Savigny 27).

Analyse der Rechtsprechung; der Deutsche Friedrich Carl von Sa­ vigny (System des heutigen Römischen Rechts VIII, 1849), Urheber der „kopernikanischen Wende“ in der Fragestellung, nämlich vom Ge­ setz zum Sachverhalt, zum „Rechtsverhältnis“, für das er jeweils den „Sitz“ bestimmen wollte273; schließlich der Italiener Mancini als er­ folgreicher Verfechter des Nationalitätsprinzips (seit 1850) und als er­ ster Befürworter kollisionsrechtlicher Staatsverträge274. Als Folge der SAVIGNYschen Wenlde in der Fragestellung hat auch der Ge­ brauch des Wortes „Statut^ sich geändert: Früher bezeichnete es das einzelne Gesetz (als Ausgangspunkt der kollisionsrechtlichen Betrachtung) - heute die jeweils maßgebende Rechtsordnung (also den Endpunkt dieser Betrachtung): Statut der Geschäftsfähigkeit ist das für die Geschäftsfähigkeit maßgebende Recht, Schuldstatut das für ein Schuldverhältnis, Sachstatut das für eine Frage des Sachenrechts, Erbstatut das für die Beerbung maßgebende Recht usw.

b) Das gemeinsame Kennzeichen des ganzen 19. Jahrhunderts ist die Nationalisierung des IPR, das bis dahin - trotz der verschiedenen na­ tionalen Schulen - im Prinzip als gemeines europäisches Recht gegolten hatte. Diese Nationalisierung entsprach dem Zuge der Zeit zum ge­ schlossenen Einheitsstaat und begann mit den großen Kodifikationen (dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, dem Code civil von 1804 und dem österreichischen ABGB von 1811). Die konsequente Be­ handlung des IPR als Zweig des nationalen Rechtes erfolgte jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts (nach der italienischen Kodifizierung des IPR in den sog. Preleggi zum Codice civile von 1865 und etwa zur Zeit der Vorbereitung des deutschen Einführungsgesetzes zum BGB von 1896) durch die positivistischen „Nationalisten“. Zur Überbrückung der nationalen Gegensätze empfahl Mancini - wie gesagt - den Ab­ schluß von Staatsverträgen. (Die erste Haager Konferenz für IPR fand 273 Siehe auch oben §41 sowie unten § 12 I, ferner KOLLEWIJN, Quelques considerations i propos de la doctrine de Savigny: Ned. T. Int. R. 15 (1968) 237 ff. Ob die kollisionsrechtliche Anknüpfung aus der „Natur“ der Sache oder einer freiwilligen „Unterwerfung“ hergeleitet wird oder aus den „Interessen der Beteiligten“, macht kei­ nen wesentlichen Unterschied; Savigny verwendet alle drei Begründungen (Belege bei Neuhaus, Savigny und die Rechtsfindung aus der Natur der Sache: RabelsZ 15 [1949-50] 364 [365 f., 373 ff., 379]). 274 Seine berühmte Turiner Vorlesung von 1851 „Della nazionalitä come fondamento del diritto delle genti“ enthält allerdings nur einen Satz zum IPR; siehe AcP 160 (1961) 498 N. 21. Wichtiger sind sein Einfluß auf die italienische Kodifikation des IPR von 1865 und sein Gutachten über die Nützlichkeit von Staatsverträgen zur Vereinheitlichung des IPR in Clunet 1 (1874) 221 ff., 285 ff. (gekürzt in Rev. dr. int. leg. 7 [1875] 329 ff.; ital. Version in Dir. Int. 13 [1959] I, 367 ff.).

1893 statt.) Einzelprobleme, die sich aus dem Nebeneinander verschiede­ ner Kollisionsrechte ergeben, traten erst nach und nach ins Bewußtsein, so der Renvoi (durch den Fall Forgo 1878/82275), das Qualifikations­ problem (entdeckt durch Kahn 1891 und Bartin 1897), die Vorfrage (Melchior 1931 und Wengler 1934). Eine einprägsame Periodisierung des europäischen Kollisionsrechts bis zum frühen 19. Jahrhundert und eine Kennzeichnung der seitherigen Strömungen gibt Niederer, nämlich beidemal mit den Schlagworten Personalität, Universa­ lität und Territorialität278 275 . Jedoch 276 277liegen diese Kriterien zugegebenermaßen auf verschiedenen Ebenen277: Personalität bezeichnet hier den Geltungs- oder den Anwendungsbereich des materiellen Rechts, Universalität die Geltung des IPR, Territorialität bald das eine, bald das andere. c) Im 20. Jahrhundert entwickelt sich ein neuer Internationalismus. Nach dem Scheitern der Versuche von Zitelmann und Franken­ stein, ein universales IPR aus völkerrechtlichen Prämissen bzw. den Prinzipien der Personalhoheit und der Territorialhoheit zu entwikkeln278, sowie nach Enttäuschungen mit der staats vertraglichen Verein­ heitlichung des IPR bemüht man sich, auf dem Boden der nationalen IPR-Systeme zu einer „coordination des systemes“ zu gelangen279: durch Ausbau des Renvoi, rechtsvergleichende Qualifikation, unselbständige Anknüpfung der Vorfrage, Eindämmung des ordre public, staatsver­ tragliche Regelung der internationalen Zuständigkeit, erleichterte Aner­ kennung ausländischer Entscheidungen. Namentliche Hervorhebung verdient unter den deutschen Wissenschaftlern Ernst Rabel, der seine im materiellen Recht erprobte Methode der Rechtsfindung durch Rechtsvergleichung - also Rechtsvergleichung nicht nur im Dienste der Gesetzgebung und der allgemeinen Rechtstheorie, wie es sie schon im 19. Jahrhundert gab, sondern im Dienste der Rechtsprechung — auch auf das IPR angewandt hat280; ferner Wilhelm Wengler: er hat mit der Sonderanknüpfung des „zwingenden Schuldrechts“281 die seit Savigny zurückgedrängte Betrachtung des IPR vom Gesetz her (vgl. oben § 4 II) wieder in das System eingeordnet - ohne sie zu verabsolutieren — und 275 Siehe oben N. 207. 276 Niederer, Einführung in die allgemeinen Lehren des IPR3 (1961) 18-74. 277 A.a.O. 72. 278 Zitelmann, IPR I und II (1897; 1912); Frankenstein, IPR (Grenzrecht) I-IV (1926-1935). 279 Vgl. oben N. 160. 280 Rabel, Qualifikation 267 f., 287 f. (vgl. unten § 15 II 3). 281 Oben N. 103.

damit die Aussicht eröffnet, auch Fragen des Internationalen Verwal­ tungsrechts mit allseitigen, übernational ausgerichteten Kollisionsnormen anzugehen (oben § 4 IV). Eine andere Tendenz unseres Jahrhunderts geht dahin, jenseits des mehr oder weniger abstrakten Spieles der Verweisungsregeln die prakti­ sche Anwendung des danach maßgebenden Rechts und deren konkretes Ergebnis schärfer ins Auge zu fassen. Freilich haben die Versuche, ein befriedigendes materielles Ergebnis für den Einzelfall nicht erst auf der „zweiten Stufe“ der Anpassung und des ordre public (siehe oben § 5 II 2), sondern möglichst von vornherein zu erzielen, bisher zu keiner an­ nehmbaren systematischen Lösung geführt. Im ganzen besteht kein Anlaß, das Ende des modernen, neuerdings schon gern als „klassisch“ bezeichneten IPR zu verkünden. Was heute stirbt, das sind allenfalls ein paar aus der Statutentheorie überkommene starre Regeln (wie die allgemeine Geltung der lex loci actus für Verträge und für Delikte), ein übertriebener Schutz wohlerworbener Rechte so­ wie das Staatsangehörigkeitsprinzip. Das kontinentaleuropäische IPR ist elastisch genug, um noch manchen Wechsel der Zeit zu überstehen, auch wenn sein Wirkungsbereich durch andere Formen der Behandlung inter­ nationaler Sachverhalte - wie Zuständigkeitsregelung, materielles Son­ derrecht und Rechtsvereinheitlichung - merklich eingeengt wird.

Nach den grundlegenden Erörterungen dieses I. Kapitels treten wir nun in die Einzelheiten ein, und zwar betrachten wir zunächst die Kolli­ sionsnorm von ihrem Tatbestand her (II. Kapitel), sodann ihre Rechts­ folge: die als „Anknüpfung“ bezeichnete Berufung eines Rechts zur An­ wendung (III.-V. Kapitel), endlich die eigentliche Anwendung frem­ den Rechts (VI. Kapitel). Das letzte (VII.) Kapitel ist dem Verfahrens­ recht gewidmet.

II. Kapitel: Der Tatbestand der Kollisionsnorm S 11: Kollisionsnormen

I. Die Bezeichnung „Kollisionsnormen“ verwenden wir mit dem herr­ schenden Sprachgebrauch nicht nur für solche Normen, die eine wirkli­ che Kollision, einen Konflikt zwischen mehreren in casu sich für an­ wendbar erklärenden Rechtsordnungen voraussetzen. (Eine Kollisions­ norm in diesem engeren Sinne wäre etwa Art. 28 EGBGB über den Vor­ rang der lex rei sitae vor der lex patriae.) Vielmehr gebrauchen wir das Wort als Synonym für Rechtsanwendungs-, Verweisungs- oder Anknüp­ fungsregeln und ebenso „Kollisionsrecht“ als Synonym für Rechtsan­ wendungs- und Verweisungsrecht. Dazu gehören in einem weiteren Sin­ ne auch die bloßen Hilfs- oder Ergänzungsnormen des Kollisionsrechts (unselbständige Kollisionsnormen). Diese können entweder für grund­ sätzlich alle selbständigen Kollisionsnormen gelten (so die allgemeine Vorbehaltsklausel zugunsten des ordre public in Art. 30 EGBGB) oder sich an gewisse Gruppen selbständiger Kollisionsnormen anschließen (wie der genannte Art. 28 EGBGB an bestimmte familien- und erbrecht­ liche Vorschriften) oder gar nur an einzelne von ihnen (so z. B. die ein­ schränkenden Vorschriften der Artt. 7 III 2 und 11 II EGBGB, nach denen Artt. 7 III 1 bzw. 111 auf bestimmte Rechtsgeschäfte keine An­ wendung finden). Erst recht beschränken wir das Wort „Kollisionsnorm“ (rgle de conflit) nicht auf die lückenlose, vollständige Normierung einer Frage282; dafür mag man das Wort „Regelung“ verwenden.

Als Kollisionsnorm bezeichnen wir also jede kollisionsrechtliche Vor­ schrift. Das Gegenstück sind die materiellrechtlichen oder materiellen Normen, auch „Sachnormen“ genannt oder „Normen des Sachrechts“ (nicht zu verwechseln mit dem „Sachenrecht“ im Sinne des dritten Bu­ ches des BGB). Hier gewinnt das Wort 3,materiell“y das sonst als Gegensatz zu „formell“ (die Form betreffend) oder zu „prozessual“ gebraucht wird, eine dritte, weiteste Bedeutung: Gegenüber dem Kollisionsrecht sind auch Form- und Prozeß vor­ 282 So Trammer, RabelsZ 22 (1957) 401, 404 und in: Law and International Trade, Festschrift Schmitthoff (Frankfurt a. M. 1973) 367. 7 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

Schriften „materielles“ Recht. Anderseits spricht man auch von „materiellem Kollisionsrecht“ im Gegensatz zu Kollisionsnormen für die Form von Rechts­ geschäften oder zu prozessualen Kollisionsnormen (insbes. Zuständigkeits- und Anerkennungsregeln). - Der Franzose nennt das materielle Recht „droit inter­ ne“ im Gegensatz zum „droit international“, der Engländer spricht von „sub­ stantive“ oder „municipal“ oder „domestic law“. (Das domestic law ist also nicht identisch mit unserm „heimischen“, d. h. inländischen Recht im Gegen­ satz zum ausländischen.) Dagegen meint der Italiener mit „norme interne di diritto internazionale privato“ die inländischen Kollisionsnormen. - Welche der verschiedenen üblichen Bezeichnungen weniger mißverständlich ist als eine andere, darüber kann man streiten.

Auf der Grenze zwischen Kollisions- und Sachnormen liegen die Be­ stimmungen über den Anwendungsbereich von (nationalem oder inter­ nationalem) Sonderrecht für internationale Sachverhalte: Diese Bestim­ mungen gehören zum Sachrecht, soweit sie das Sonderrecht vom allge­ meinen nationalen Recht abgrenzen (dann sprechen wir von ausländi­ schen Tatbestandsmerkmalen), dagegen zum Kollisionsrecht, wenn sie die Anwendung des nach allgemeinem IPR maßgebenden Rechtes aus­ schließen. Oft erfüllen sie beide Funktionen zugleich283.

II.

Neben den ausdrücklichen gibt es auch versteckte Kollisionsnormen, die in anderen Normen enthalten sind („versteckt“ nicht im Sinne be­ wußter Verheimlichung, sondern nur im Sinne der objektiven Verbor­ genheit).

1. Vor allem können sie in Zuständigkeitsnormen verborgen sein. Schon im Jahre 1903 hat Th. Niemeyer gesagt, in den Vereinigten Staaten seien die Voraussetzungen der Zuständigkeit für Ehescheidun­ gen „derart geregelt, daß in ihnen der Schwerpunkt für die Kollisions­ fragen liegt und sich materielle Kollisionsnormen geradezu dahinter ver­ stecken“284 (vgl. unten § 37: Versteckte Rückverweisung). 2. Ferner kann in einer Sachnorm die zugehörige Kollisionsnorm ver­ steckt sein. Zum Beispiel enthält § 244 BGB - Fremdwährungsschulden 288 Zu dieser Ambivalenz von field-of-application provisions siehe etwa Siesby, Sretlige Lovkonflikter (Diss. Kopenhagen 1965), Summary 378, 387 f.; Kropholler, EinheitsR 189 ff. mit weiteren Nachweisen. 284 Theodor Niemeyer, NiemZ 13 (1903) 448.

können mangels ausdrücklicher anderer Abrede im Inland in deutscher Währung erfüllt werden - unausgesprochen die Kollisionsnorm, daß diese Vorschrift ohne Rücksicht auf das Schuldstatut gelten will285. Oder wenn ein Gesetz sagt, daß eine an sich unabdingbare Vorschrift bei Fehlen einer bestimmten Inlandsbeziehung nicht verbindlich sein soll (vgl. § 92c HGB betr. die Handelsvertreter, ähnlich Art. 2 Nr. 1 der VO vom 5. 12. 1939, RGBl. I 2501, für die Verfrachterhaftung), so kann darin eine Kollisionsnorm des Sinnes versteckt liegen, daß bei Vor­ handensein der betreffenden Inlandsbeziehung unbedingt das inländi­ sche Recht zur Anwendung kommen soll, also unter Ausschluß der Wahl eines andern Rechtes durch die Parteien286. Generell ist in Nor­ men, die ein ausländisches Tatbestandselement aufweisen - beispiels­ weise in fremdenrechtlichen Vorschriften, die ja nur für Ausländer gel­ ten - in der Regel die Kollisionsnorm enthalten, daß sie bei Vorliegen dieses Tatbestandselementes immer anwendbar sein sollen. Jedoch gibt es 'auch Gegenbeispiele: reine Sachnormen mit ausländischem Tatbe­ standselement. So gelten die §§ 1944 III, 1954 III BGB (Ausschlagungs- und Anfechtungs­ frist bei Auslandswohnsitz des Erblassers oder -aufenthalt des Erben) allein bei deutschem Erbstatut. Ähnlich ist § 2251 BGB (Seetestament an Bord eines deutschen Schiffes außerhalb eines inländischen Hafens) sinngemäß nur nach Maßgabe des Art. 11 EGBGB über die Form der Rechtsgeschäfte anzuwenden, also nicht für Ausländer in fremden Territorialgewässern287. Man kann in sol­ 285 Gegen diese h. M. spricht nicht die dispositive Natur des § 244 BGB (anders Birk, AWD 1973, 433): Die Geltung der inländischen Währung weicht nur dem aus­ drücklichen Willen der Parteien, aber nicht ohne weiteres einem fremden Vertragssta­ tut. - Erweiterung der einseitigen Kollisionsnorm zur allseitigen hieße hier nicht etwa Geltung der jeweiligen Zahlungsort-Währung (so anscheinend F. A. Mann, Kollisi­ onsnorm und Sachnorm mit abgrenzendem Tatbestandsmerkmal, in: Funktionswandel des Privatrechts, Festschrift L. Raiser [1974] 499, 504), sondern Geltung des jeweiligen Rechts des Zahlungsortes. 288 Das Vorliegen einer solchen Norm wird für § 92c HGB bejaht von MAKArov, Grundriß des IPR (1970) 16, während der in der Vorauflage (S. 49 N. 121) ge­ nannte Hans Jakob Maier inzwischen in SchwJZ 1972, 355 N. 9 seine frühere Auffassung aufgegeben hat; für die VO von 1939 wird es nach deren Wortlaut als möglich erklärt von Necker, Der räumliche Geltungsbereich der Haager Regeln (1962) 60. Dagegen in beiden Fällen ablehnend der BGH, siehe einmal BGH 30. 1. 1961, IPRspr. 1960-61 Nr. 39b, zum andern BGH 26. 9. 1957, BGHZ 25, 250 (265) = IPRspr. 1956-57 Nr. 57a (S. 212), und 21. 12. 1970, IPRspr. 1970 Nr. 112b (S. 372). 287 Vgl. zum letzten Beispiel Raape, IPR 4. - Kritisch zur Einführung von un­ bedingtem Sonderrecht in Staatsverträgen, deren Inhalt nicht nur gegenüber Vertrags­ staaten gilt, Hubert Bauer, Les traits et les rgles de d.i.p. matriel: Rev. crit. 55 (1966) 537 ff. (bespr. in RabelsZ 31 [1967] 769 ff.) auf S. 569 ff. Scharf ablehnend F. A. Mann (oben N. 285).

chen Fällen von bedingtem Sonderrecht für internationale Sachverhalte spre­ chen im Gegensatz zu unbedingtem Sonderrecht. In diesem Sinne enthält das Einheitliche Kaufgesetz (oben N. 32) zwar nach seinem Art. 2 unbedingtes Sonderrecht, dagegen bei Geltung des Vorbehalts zugunsten bestehender IPR­ Abkommen (nach Art. IV des Rahmenabkommens) nur bedingtes Sonderrecht.

3. Schließlich kann eine Kollisionsnorm in einer andern IPR-Norm versteckt sein, insbesondere eine allgemeine Kollisionsnorm in einer spe­ ziellen (Ausnahme-) Vorschrift. Wenn z. B. Art. 12 EGBGB bestimmt: „Aus einer im Auslande begangenen unerlaubten Handlung können ge­ gen einen Deutschen nicht weitergehende Ansprüche geltend gemacht werden, als nach den deutschen Gesetzen begründet sind“, so ist damit indirekt gesagt, daß im allgemeinen die Ansprüche aus einer unerlaub­ ten Handlung nach dem Recht des Begehungsortes zu beurteilen sind. III. Die Struktur der selbständigen Kollisionsnormen gleicht derjenigen anderer selbständiger Rechtsnormen. Wie diese verknüpfen sie eine oder mehrere bestimmte Voraussetzungen (die durch den Tatbestand der Norm umschrieben werden) mit einer rechtlichen Wirkung (der Rechts­ folge). Dies geschieht entweder nach dem bekannten Schema „Wenn (der konkrete Sachverhalt den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht), dann (tritt die im Gesetz bezeichnete Rechtsfolge ein)“288 - oder um­ gekehrt in der Form, daß für eine bestimmte Rechtsfolge die Vorausset­ zungen festgelegt werden.

1. Die Rechtsfolge der Kollisionsnorm - um diese Seite kurz vor­ wegzunehmen - ist unbestritten nicht unmittelbar materiellrechtlicher Art (wie etwa eine Zahlungspflicht oder ein Kündigungsrecht), sondern sie besteht in der Maßgeblichkeit einer bestimmten Rechtsordnung. Des nähern wird diese maßgebliche Rechtsordnung bald konkret be­ zeichnet („dieses Gesetz“, „die deutschen Gesetze“ oder „die inländi­ schen Gesetze“), bald wird sie nur generell umschrieben unter Bezug­ nahme auf ein Element des Sachverhaltes, das sog. Anknüpfungsmerk­ mal oder -moment, auch Anknüpfungsgrund oder -tatsache genannt289 288 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft3 (1975) 238: Jeder Rechtssatz besagt: „Immer dann, wenn ein konkreter Sach verhalt (S) den Tatbestand (T) verwirklicht, gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge (R).a 289 Der Ausdruck „Anknüpfungsbegriff“ wird besser vermieden, weil darunter

(etwa „das Recht des Staates, dem die Person angehört“ - welcher Staat dies ist, muß dann von Fall zu Fall festgestellt werden). Diese Verschiedenheit der Ausgestaltung ist nicht spezifisch für die Kollisi­ onsnormen. Auch in den Normen des materiellen Rechts ist die Rechtsfolge bald genau bezeichnet („Der überlebende Ehegatte erbt die Hälfte des Nach­ lasses“), bald durch Bezugnahme auf ein Element des Sachverhalts umschrieben („Kinder erben zu gleichen Teilen“, also je nach ihrer Zahl).

Im Kollisionsrecht bezeichnet man Normen, die nur von der Anwen­ dung einer einzigen Rechtsordnung (durchweg der inländischen) spre­ chen, als „einseitige“ Kollisionsnormen (auch: Abgrenzungsnormen), da­ gegen die anderen, nach denen ebenso wie die inländische auch diese oder jene ausländische Rechtsordnung zum Zuge kommen kann, als „all­ seitige“. (Die vielfach als synonym für „allseitig“ gebrauchten Worte „zweiseitig“ oder „mehrseitig“ sollte man den Kollisionsnormen in Staatsverträgen vorbehalten, die wirklich nur für zwei oder sonst eine beschränkte Zahl von Rechtsordnungen gelten290.) Unter den allseitigen Kollisionsnormen bezeichnen die „unvollkommen allseitigen“ Normen nur für bestimmte Fälle das anwendbare fremde Recht (so Art. 13 I EGBGB: er regelt die Eingehung der Ehe nur für den Fall, daß einer der Verlobten ein Deutscher ist oder die Ehe im Inland geschlossen wird). Dagegen enthalten „vollkommen allseitige“ (kurz: vollständige) Kollisi­ onsnormen keine derartige Beschränkung (z. B. Art. 7 I EGBGB über die Geschäftsfähigkeit einer Person). Oft lassen sich formell einseitige Kollisionsnormen ohne weiteres zu voll­ ständigen erweitern (so die einseitigen Anfangssätze der Artt. 14 f., 18-20 und 22 EGBGB). Bisweilen bereitet dies jedoch Schwierigkeiten, weil der Ge­ setzgeber nicht nach festen Prinzipien verfahren ist, sondern Ausnahmen einge­ streut hat, bei welchen nicht klar ersichtlich ist, ob sie nur die Anwendung in­ ländischen Rechtes begünstigen sollen (sog. singuläre oder Exklusivnormen) oder ob sie unter entsprechenden Umständen auch die Anwendung ausländi­ scher Gesetze rechtfertigen. Umstritten ist die Ausdehnungsfähigkeit etwa bei Artt. 14 II, 19 Satz 2 und 20 Satz 2 EGBGB, wonach für gewisse familien­ rechtliche Fragen die deutschen Gesetze maßgebend bleiben, wenn zwar die Hauptpersonen die deutsche Reichsangehörigkeit verloren, aber eine andere auch der entscheidende Teil des Tatbestandes, der meist begrifflich gefaßte „Anknüp­ fungsgegenstand“, verstanden werden kann. 290 Drobnig, Die Kollisionsnormen in den Rechtshilfeverträgen der Staaten des Ostblocks: OER 6 (1960) 154 (165). Vgl. Lübchen, Internationale Rechtshilfe in Zivil- und Handelssachen (Ost-Berlin 1969) 65: „zweiseitige Kollisionsnormen im en­ gen Sinne des Wortes.“

Person sie behalten hat291, sowie bei Art. 22 II über die Zustimmung des deut­ schen Kindes und seiner Angehörigen zur Legitimation oder Adoption. Als „negativ einseitigea Kollisionsnormen möchten wir diejenigen bezeich­ nen, die nur die Anwendung des inländischen Rechts ausschließen, aber nicht im entsprechenden Fall die Anwendung einer ausländischen Rechtsordnung be­ schränken. Dies kann in der Weise geschehen, daß die Anwendung eines be­ stimmten Gesetzes auf Fremde entgegen den allgemeinen kollisionsrechtlichen Grundsätzen untersagt wird („Dieses Gesetz gilt nicht für Ausländer, auch wenn diese im übrigen dem inländischen Rechte unterstehen“). Über eine ande­ re Form, nämlich „zweistufige“ Kollisionsnormen, siehe unten § 16 III 2 b.

2. Exkurs. Von einem „System einseitiger Kollisionsnormen“ kann man dort sprechen, wo die Kollisionsnormen nicht nur — wie in Deutschland nach dem EGBGB - überwiegend einseitig formuliert sind, aber in der Anwendung zu allseitigen erweitert werden können, sondern wo der Anwendungsbereich auch ausländischen Rechtes nach dessen eigenen Kollisionsnormen bestimmt wird292. Wir haben dieses System oben (§ 4 II) nach Abwägung des Pro und Contra nur für die sog. Eingriffsnormen empfohlen, bei denen positive und negative Kom­ petenzkonflikte (Normenfülle und Normenmangel) weniger gefährlich sind. Für andere Bereiche müßte es in einem System einseitiger Kollisi­ onsnormen noch besondere Zusatzregeln (Kollisions- oder Konfliktsnor­ men in dem oben zu I bezeichneten engern Sinne) geben293; diese laufen entweder auf eine Bevorzugung des inländischen materiellen Rechts hin­ aus (zu Lasten des internationalen Entscheidungseinklangs) oder auf eine analoge Anwendung der inländischen einseitigen Kollisionsnormen als ultima ratio. Man mag ein solches System maßvoller und realistischer finden als das entgegengesetzte, besonders vom geltenden italienischen und griechi­ schen IPR vertretene System der ausschließlichen Anwendung eigener allseitiger Kollisionsnormen ohne jede Rücksicht auf fremdes IPR294. Den Vorzug vor beiden Methoden verdient die Verbindung allseitiger, 291 Dazu Aubin, RabelsZ 23 (1958) 676 ff. 292 Ältere Vertreter dieses Systems bei WIETHÖLTER (oben N. 13) 4-42. Heuti­ ger Wortführer ist Quadri, Lezioni di d.i.p.5 (1969) 238 ff. 293 Hauptsächlich wegen dieser Teilung des IPR, welche die einheitliche interessen­ juristische Bearbeitung hemme, wird das System einseitiger Kollisionsnormen verwor­ fen von Wiethölter (oben N. 13) 121. 294 Insofern ist die zunächst etwas verwirrende Bemerkung von EvRIGENIS, in: Fs. Wengler II (oben N. 161) 278 N. 31, berechtigt: „... la qualification d’unilatraliste convient d’avantage ä la rgle de conflit traditionellement appele bi­

vom Sachverhalt her konzipierter Kollisionsnormen mit einer gewissen Rücksichtnahme auf fremdes Kollisionsrecht (vgl. oben § 6 III).

3. Der Tatbestand der Kollisionsnorm umfaßt meist einen ganzen Komplex von Gegenständen, umschrieben durch den sog. Rahmen-, Sy­ stem-, Sammel-, Rechts- oder Verweisungsbegriff, auch Anknüpfungs­ oder Verweisungsgegenstand genannt (z. B. „die Geschäftsfähigkeit“ in Art. 7 EGBGB, „die Form eines Rechtsgeschäfts“ in Art. 11, „die Einge­ hung der Ehe“ in Art. 13)295. Bei der einseitigen Kollisionsnorm, in welcher die Rechtsfolge mehr konkre­ tisiert wird als in der allseitigen, bedarf auch der Tatbestand entsprechend »grö­ ßerer Konkretheit: Während eine allseitige Kollisionsnorm etwa für Grund­ stücksgeschäfte das Recht „des Lageortes“ als maßgebend bezeichnen und dabei stillschweigend voraussetzen kann, daß jedes in den Rechtsverkehr einbezogene Grundstück im Geltungsgebiet einer bestimmten Rechtsordnung liegt, hat eine entsprechende einseitige Kollisionsnorm ausdrücklich zu sagen, in welchem Ge­ biet das Grundstück liegen muß (z. B. in Deutschland, wenn das deutsche Grundstücksrecht anwendbar sein soll).

Eine stillschweigende Voraussetzung jeder Kollisionsnorm und daher nicht besonders im Tatbestand zu nennen ist die Tatsache, daß in der an­ wendbaren Rechtsordnung eine materielle Norm der gemeinten Art überhaupt besteht. Ist z. B. ein Ausländer ohne Testament und ohne feststellbare Angehörige gestorben, so kann man sein deutsches Vermögen nur dann dem Rechte seines Heimatstaates unterstellen, wenn diese Rechtsordnung für erblose Nachlässe, die sich nicht in dem betreffenden Lande befinden, eine Bestimmung enthält296.

Das Vorliegen dieser Voraussetzung im Einzelfall ist ebensowenig selbstverständlich wie die Möglichkeit, den Inhalt der fremden Rechts­ ordnung zu ermitteln. Aber die Bedeutung beider Umstände liegt auf der Hand und bedarf daher in einer Definition der Kollisionsnorm kei­ ner Hervorhebung. (Darüber, was beim Fehlen anwendungsfähiger Be­ stimmungen der an sich zur Anwendung berufenen Rechtsordnung zu geschehen hat, siehe unten § 52: Ersatzrecht.) laterale..celle-ci etant une rgle qui d^termine unilatralement, c’est--dire par la seule volont de l’Etat du for, le domaine d’application de toute loi, nationale ou trangre." 295 Als „Funktionsbegriff“ (im Gegensatz zu „Systembegriff“) bezeichnet KROPholler, Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger (1966) 56, den in diesem Abkommen verwendeten Anknüpfungsgegenstand „Schutzmaßnahme“. 296 Vgl. dazu unten N. 377.

Ebenso bedarf es keiner Hervorhebung, daß jede Kollisionsnorm das konkrete Vorliegen des verwendeten Anknüpfungsmomentes voraussetzt (z. B. daß der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine Staatsangehö­ rigkeit besaß); fehlt es daran, so ist eine Hilfskollisionsnorm mit einer Ersatz-Anknüpfung (z. B. Wohnsitz oder Aufenthalt) erforderlich. Problematischer und demgemäß umstritten ist dagegen die Frage, was der Tatbestand der Kollisionsnorm im übrigen umfaßt: ob er denselben Gegenstand hat wie die entsprechende Sachnorm, nämlich ein typisches Lebensverhältnis, oder ob sein Gegenstand die Rechtsfrage ist, welche ein Lebensverhältnis dieser Art mit einer bestimmten materiellen Rechtsfolge verknüpft. Davon ausführlich unten in § 14: Gegenstand der Qualifikation. IV.

Der Anwendungsbereich des Kollisionsrechts umfaßt logisch alle pri­ vatrechtlichen Sachverhalte, unabhängig von ihrem nationalen oder in­ ternationalen Charakter. Dies kommt bei den rein inlandsrechtlichen Fällen nur nicht zum Bewußtsein, da bei ihnen das Ergebnis, die An­ wendung der materiellen lex fori, von vornherein feststeht297. Die ge­ genteilige Auffassung, daß der normale, eindeutig inlandsrechtliche Fall nicht erst der kollisionsrechtlichen Subsumtion unterliege, diese vielmehr nur in den problematischen Fällen geboten sei, scheitert an der Unmög­ lichkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen „eindeutig“ und „proble­ matisch“, d. h. zwischen ganz abgelegenen, offensichtlich unerheblichen Außenbeziehungen und möglicherweise erheblichen. Z. B. wird der mitteleuropäische Jurist in einem Erbrechtsfall die Herkunft des Vaters des Erblassers aus einem fremden Lande oder die eigene Religions­ zugehörigkeit des Erblassers für offensichtlich unbeachtlich halten, während der erste Umstand nach englischem Kollisionsrecht die für den Mobiliarnachlaß entscheidende domicile-Anknüpfung begründen kann und der zweite nach orientalischen Anschauungen für das gesamte Erbstatut maßgebend ist. Ander­ seits mag für Juristen außerhalb des deutschen Rechtskreises die Anknüpfung der Unterhaltspflicht des Vaters gegenüber seinem unehelichen Kinde an die Staatsangehörigkeit der Mutter zur Zeit 'der Geburt, wie Art. 21 EGBGB sie vorschreibt, als gar nicht in Betracht kommend erscheinen, zumal wenn die Mutter nicht förmlich „die Mutterschaft anerkannt“ hat. 297 Zugespitzt sagt daher W. Goldschmidt, Zur ontologisch-logischen Erfas­ sung des IPR: OstZOffR 4 (1952) 121 (122): „Man ersieht..., daß das nationale Pri­ vatrecht nur ein besonderer Anwendungsfall des IPR ist.“

Obwohl also den eigentlichen Stoff des IPR nur die Sachverhalte mit einer Außenbeziehung bilden, erfassen die Kollisionsnormen notgedrun­ gen im Prinzip alle Fälle. Eine ausdrückliche Beschränkung auf „internationale“ Sachverhalte kommt bei staats vertraglichen Kollisionsnormen vor, z. B. in dem Vor­ entwurf eines (EG-) Übereinkommens über das auf vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Art. 1 I)298. Mangels einer Definition des internationalen Sachverhalts könnte da­ nach etwa ein englisches Gericht den Inlandsunfall zweier Ausländer als rein inländischen Sachverhalt ansehen, weil die üblichen englischen An­ knüpfungen für Delikte - Tatort und Gerichtsort - beide auf England verweisen; das Übereinkommen würde aber unter Umständen die An­ wendung des gemeinsamen Heimatrechtes zulassen (Art. 10 II, III).

V. Ein Tertium neben Kollisions- und Sachnormen gibt es nicht. Zwar ist die Abgrenzung zwischen beiden Arten von Normen oft schwierig299. Aber wenn neuerdings öfter von materiellem IPR oder von Sachnormen im IPR gesprochen wird300 301 oder 302von „regles d’application immediate"801, so bezeichnet man diese besser als „leggi con apposita delimitazione della sfera d‘efficacia"302, d. h. als Sachnormen mit einer eigenen (ausdrücklichen oder stillschweigenden) einseitigen Kollisionsnorm. Diese 298 Vgl. zum folgenden die Kritik von Siehr, Zum Vorentwurf eines EWG-Übereinkommens über das Internationale Schuldrecht: AWD 1973, 569 (571 f. unter b), so­ wie in European P.I.L. of Obligations (oben N. 215) 43 f. 299 Deshalb vergleicht Siesby (oben N. 99) 14 N. 12 die Internationalisten et­ was respektlos mit den Hunden des russischen Biologen Pawlow, die auf bestimmte Töne abgerichtet wurden und bei zu geringen Intervallen der Töne ganz unruhig wur­ den: „Lawyers dealing with typical substantive rules or typical conflict rules are usually quite happy and confident. Confronted with rules which can not be classified in either of these groups the lawyers seem to get rather disturbed." Vgl. oben I a. E. 300 Siehe etwa H. Bauer (oben N. 287) 538 mit Nachweisen in N. 2. 301 So Francescakis, La theorie du renvoi et les conflits des systmes (1958; bespr. in RabelsZ 24 [1959] 587 ff.) 11-16 und seither öfter, besonders Conflits de lois (Principes generaux), in: Rep. dr. int. I (1968) 470 ff. (bespr. in RabelsZ 33 [1969] 194 ff.) nos. 69 ff. 302 De Nova, Dir. Int. 13 (1959) 13 ff. (franz, in: Melanges Maury I [1960] 377 ff.) mit Nachtrag ebd. 500 ff. - Die Verdeutschung „selbstbegrenzte Sachnor­ men“ bei Andreas Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht (1969) 43, ist mißverständlich; denn diese Normen haben sich nicht ein für allemal „selbst begrenzt“.

Normen schließen die Anwendung von Kollisionsrecht nicht schlecht­ hin aus, sondern ersetzen nur die regulären Kollisionsnormen durch spezielle303. Sie ändern mithin nichts an dem Grundsatz, daß die An­ wendung jeder materiellen oder Sachnorm von einer entsprechenden Rechtsanwendungs- oder Kollisionsnorm abhängt, auch wenn man sich in vielen Fällen dessen nicht bewußt ist. Diese speziellen Kollisionsnormen gleichen auch darin den allgemei­ nen, daß sie sich nicht nur auf eine einzelne Bestimmung beziehen kön­ nen304. So gilt § 98 II des deutschen Kartellgesetzes (GWB - unten N. 901) für alle Normen dieses Gesetzes. Es ist sogar eine Aufgabe der Wissenschaft, aus den Einzelfällen der „application immediate“ allgemei­ ne Regeln herauszuschälen: Wir möchten wissen, für welche Art von Sachnormen üblicherweise besondere Anwendungsregeln gelten, und auch, welche Inlandsbeziehungen bei verschiedenen Typen jener Sach­ normen bestehen müssen, damit ihre Anwendung gerechtfertigt ist. Da­ mit nähern sich diese Regeln weiter den üblichen Kollisionsnormen an. Schließlich können die einseitigen Regeln über den Anwendungsbe­ reich ebenso wie etwa die meisten einseitigen Kollisionsnormen des EGBGB als allseitige Normen ausgelegt werden. So kann aus dem er­ wähnten § 98 II GWB gefolgert werden, daß in Deutschland ein auslän­ disches Kartellgesetz anwendbar ist, wenn eine wettbewerbsbeschränken ­ de Abrede sich in dem betreffenden fremden Land auswirken würde305. 306 Ob im Einzelfall der Schritt von der einseitigen Anwendung inländi­ scher zur gleichberechtigten Anwendung ausländischer Normen getan wird, hängt nur vom Grad der Entwicklung zur Internationalität in der einzelnen Rechtsdisziplin ab: Im reinen Privatrecht ist dieser Schritt mit Ausnahme einzelner Vorbehaltsmaterien längst vollzogen; für das Devi­ sen-, Steuerrecht und Verkehrsstrafrecht wird er durch verschiedene Staatsverträge angestrebt. Die Technik einseitiger Kollisionsnormen schließt diesen Schritt zur Anwendung fremden Rechts ebensowenig aus, wie umgekehrt die Technik der allseitigen Kollisionsnormen eine gene303 Vgl. Maury, Rev. crit. 48 (1959) 603: „les dites regles d’application immdiate nous apparaissent comme des regles de rattachement particulieres... unilaterales.“ - Von einer „unwritten (,built-in‘) conflict rule referring to the lex fori, a special rule derogating from the general rule“ spricht Verheul, Ned. T. Int. R. 18 (1971) 347. 304 In diesem Fall spricht man auf englisch von „localising“ oder „spatially conditioning rules“ - siehe etwa Kelly, Int. Comp. L. Q. 18 (1969) 251. 306 Vgl. außer den in RabelsZ 33 (1969) 195 N. 5 Genannten auch Habscheid, Territoriale Grenzen der staatlichen Rechtsetzung, in: BerDGesVölkR 11 (1973) 47 (62).

teile Verweisung auf die lex fori (z. B. für Verfahrensfragen) verhin­ dert. Auch dispensiert die Beifügung einer einseitigen Kollisionsnorm in einem nationalen Gesetz nicht ohne weiteres von einem einschlägigen IPR-Abkommen. Vielmehr muß man jeweils prüfen - wie dies im Fall Boll^ geschehen ist ob das Gesetz etwa wegen seines Inhalts das Abkommen nicht berührt oder ob das Abkommen einen Vorbehalt des nationalen ordre public zuläßt (vgl. unten § 51 VI: Staatsvertragliche Vorbehaltsklauseln) und ob das Gesetz diesem Vorbehalt entspricht. Insgesamt lassen sich also die „regles d’application immediate“ durchaus in das kollisionsrechtliche System einfügen. Erst recht bereiten keine Schwierigkeiten die „regles de droit international priv materiel“, von denen bei Ausarbeitung des Haager Adoptionsabkommens von 1965 die Rede war307. Es handelt sich um international einheitliche Sach­ normen, die in ein hauptsächlich dem IPR gewidmetes Abkommen aufgenom­ men werden sollen.

VI.

Nicht zum eigentlichen IPR - wenngleich es sich oftmals mit ihm berührt - gehört das Rangkollisionsrecht, wie Kegel es nennt308. 309 Sol­ ches gilt z. B. im Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht, staatlichem und kirchlichem Recht, gemeinem und partikulärem Recht, modernem Gesetzes- und traditionellem Gewohnheitsrecht, also zwi­ schen Rechtsnormen, die aus ungleichartigen Quellen fließen. Dabei wird der Vorrang der einen oder der anderen Art von Rechtssätzen hier nicht anhand räumlicher, persönlicher oder zeitlicher „Anknüpfungsmomen­ te“ bestimmt, sondern entweder ganz generell (so in der alten deutschen Regel „Stadtrecht bricht Landrecht“) oder - wie vielfach im Verhält­ nis von staatlichem und religiösem Recht - nach Sachgebieten differen­ ziert. So überlassen viele Staaten (außer in Mitteleuropa und im kommunistischen Rechtskreis) die Form der Eheschließung wenigstens fakultativ dem religiösen Recht; umgekehrt anerkennt das kanonische Recht für die vermögensrechtlichen Wirkungen der Ehe die Zuständigkeit der weltlichen Gesetzgebung und Ge­ richtsbarkeit30®. 300 Vgl. oben N. 178 . 307 Act. Doc. 10 II (1965) 97 f. 308 Kegel, IPR 20. 309 Vgl. einerseits Neuhaus, Staatliche und kirchliche Eheschließung in rechts­

Bisweilen wird nun ein „horizontaler“ Konflikt (internationaler, in­ terlokaler oder interpersonaler Art) überlagert von einem derartigen Rangkonflikt, etwa zwischen partikulärem und (subsidiärem oder vor­ rangig geltendem) gemeinem Recht oder im Falle des sog. „conflit colo­ nial“ zwischen „Eingeborenen“- und Europäerrecht310. Die Verken­ nung dieser Sachlage führt bei der Untersuchung ausländischer oder hi­ storischer Kollisionsrechte leicht zu Mißverständnissen.

S 12: Typenbildung oder Individualisierung?

I. Die Fragestellung, ob im IPR eine Typenbildung erfolgen soll oder möglichst für jeden individuellen Fall die ihm angemessene Rechtsord­ nung („the proper law“) bestimmt werden soll, setzt voraus, daß es kei­ nesfalls eine unterschiedslose Einheitslösung für alle Kollisionsfälle gibt311. Nach Savigny läßt sich zwar die Aufgabe des IPR mit einem Satz „dahin bestimmen, daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet [d. h. räum­ liche Geltungsgebiet einer Rechtsordnung] aufgesucht werde, welchem dieses Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterwor­ fen ist (worin dasselbe seinen Sitz hat)“312. Er selbst nennt aber den Satz, daß der „Sitz“ jedes Rechtsverhältnisses ermittelt werden müsse, einen „formellen Grundsatz“313, da er zuvor das Wort „Sitz“ nur als einen andern Ausdruck für die festzustellende „Verknüpfung mit einer bestimmten Örtlichkeit, einem ein­ zelnen Rechtsgebiet“ eingeführt hat314. Die Versuche, einen (einheitlichen) ma­ teriellen Grundsatz für die Entscheidung aller vorkommenden Kollisionsfragen aufzufinden, erscheinen ihm von vornherein als bedenklich, „weil ja die einzel­ vergleichender Sicht: FamRZ 1955, 305 (307 ff.; vgl. unten N. 869), dazu rechts­ politisch ders., Zur Reform (oben N. 93) 63 ff.; anderseits can. 1016 Halbs. 2, 1961 C. I. C., dazu Neuhaus, Zum Kollisionsrecht des C. I. C.: RabelsZ 30 (1966) 40 (41). 310 Allerdings hat z. B. die französische Rechtsprechung in Algerien den Vorrang des französischen Rechts im sog. conflit colonial weitgehend verschleiert; PeterPaul Schuster, Das Kollisionsrecht Algeriens (1970), bespr. in RabelsZ 35 (1971) 343. 311 Anders im Staatsangehörigkeitsrecht, wo es schlechthin eine einzige (allseitige) Kollisionsnorm gibt: Erwerb und Verlust einer Staatsangehörigkeit richten sich stets nach dem Recht des betreffenden Staates. Siehe unten N. 573. 312 Savigny 27 f. 313 A.a.O. 120. 314 A.a.O. 108.

nen Rechtsverhältnisse von so sehr verschiedener Natur sind, daß sie schwer­ lich auf eine gemeinsame durchgreifende Regel über ihren Wohnsitz zurückge­ führt werden können“315. Eben mit der Bezugnahme auf die „Natur“ der Rechtsverhältnisse wird anderseits deutlich, daß nicht völlig auf die jeweiligen Umstände 'des Einzelfalles abgestellt werden soll. Vielmehr konkretisiert Savi­ gny die Aufgabe des IPR dahin, „für jede Klasse der Rechtsverhältnisse ein bestimmtes Rechtsgebiet, dem es angehört, also gleichsam einen Sitz des Rechtsverhältnisses, aufzusuchen“316.

Auf dem SAVIGNYschen Grundsatz der Bildung von „Klassen“ oder Typen der „Rechtsverhältnisse “ - unter Festlegung besonderer An­ knüpfungsmerkmale für jeden Typus - beruht der größte Teil des mo­ dernen Kollisionsrechts. Sollte man aber nicht statt dessen für jedes ein­ zelne Rechtsverhältnis, jeden konkreten Sachverhalt nach seinem indivi­ duellen „Sitz“ suchen, also nach der Rechtsordnung, zu welcher jeweils nach den Umständen des Einzelfalls die engste Beziehung besteht? In diesem Sinne hat z. B. die englische Rechtsprechung seit langem im Inter­ nationalen Vertragsrecht den Widerstreit der Anknüpfungen an den Abschluß­ ort, den Erfüllungsort und (bei See-Frachtverträgen) an die Flagge relativiert durch die Formel vom „proper law of the contract“, das von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände zu bestimmen sei317. Ebenso ist in Amerika für Verträge eine Theorie des „Schwerpunktes“ oder der „Mehrheit der Anknüpfungen“ (center of gravity bzw. grouping of contacts) entwickelt worden, nach welcher nicht der Wille der Parteien und nicht der Abschlußoder Erfüllungsort maßgebend sein soll, sondern der Ort, „der die kennzeich­ nendste Beziehung zu der streitigen Angelegenheit hat“, unter Abkehr von „starren allgemeinen Regeln“318. Dieselbe Auffassung ist unabhängig von der englischen und amerikanischen Lehre auch in Kontinentaleuropa mit der Be­ gründung verfochten worden, die Schwierigkeiten des IPR seien „so verwickelt 315 A.a.O. 121. 316 A.a.O. 118. Mit Recht kommt daher Coing, Rechtsverhältnis und Rechtsinsti­ tution im allgemeinen und internationalen Privatrecht bei Savigny, in: Eranion Maridakis III (1964) 19 ff., zu dem Schluß (28): „Savignys internationalprivatrechtliche Theorie ist im Grunde viel weniger eine Theorie vom Sitz der Rechtsverhältnisse als eine Theorie der Analyse der konkreten Rechtsverhältnisse auf Rechtsinstitute oder Klassen von Rechtsverhältnissen.“ 317 Vgl. etwa die ausdrückliche Bezugnahme auf die Gesamtheit der Umstände (für einen Chartervertrag) in The Assunzione, [1954] P. 150, 170, 180 (C.A.). Die Anwendung des „proper law“ befürwortet auch im Deliktsrecht Morris (un­ ten N. 676) und für die Ehegültigkeit etwa Sykes, The Essential Validity of Marriage: Int. Comp. L. Q. 4 (1955) 159 ff. 318 Grundlegend das Urteil von Judge Fuld in Auten v. Auten, 124 N. E. 2d 99 (N. Y. 1955). - Diese Theorie ist nicht identisch mit der in § 4 III erwähnten inhaltli­ chen Abwägung der beteiligten Rechtsordnungen.

und so umfassend, daß es ganz unmöglich ist, im voraus allgemeine Regeln über die Entscheidung derselben aufstellen zu wollen“319.

II.

Die Entscheidung zwischen Typenbildung und Individualisierung muß zugunsten der letzteren die Tatsache berücksichtigen, daß gerade im IPR die Mannigfaltigkeit der Fälle sich einer streng typisierenden Normierung entzieht. Überdies wird aus dem vielfältigen Material ver­ hältnismäßig wenig publiziert, so daß in Wissenschaft und Gesetzgebung schon infolge mangelnder Anschauung der Wirklichkeit die Gefahr rein begrifflich gewonnener oder traditionell erstarrter, nicht wirklich sachge­ mäßer Anknüpfungsregeln sehr groß ist. Bezeichnenderweise ist die indi­ vidualisierende englische und amerikanische Rechtsprechung auf dem Gebiet des Vertragsrechtes als Reaktion gegen rein mechanische Anknüp­ fungen (an den Abschluß- oder den Erfüllungsort) entstanden, die auf die verschiedenen Vertragsarten keine Rücksicht nahmen. Schließlich ist allgemein die Gerechtigkeit bisher vielleicht zu sehr darin gesehen wor­ den, daß „Gleiches gleich behandelt“ wird320. Anderseits dürfen wir nicht übersehen, daß wenigstens im Zivilrecht - im Strafrecht mag es anders sein - oftmals nicht nur ein gleicher (ganz ähnlicher), sondern derselbe (identische) Fall, z. B. die Frage nach der Volljährigkeit eines bestimmten Menschen oder nach seiner Beer­ bung, von verschiedenen Stellen beurteilt werden muß und daß dann die Gleichmäßigkeit der Behandlung, d. h. die nationale und internationale Entscheidungsgleichheit, wichtiger sein kann als das Streben des Rich­ ters nach Fallgerechtigkeit, das auch bei größter Redlichkeit und Sach­ kenntnis subjektive Elemente enthält. Rechtssicherheit heißt nicht allein Schutz vor Willkür, sondern auch vor gutgemeinter Subjektivität in der Bewertung; ja, der Richter soll selbst ihren Anschein vermeiden. Dies ist der Grund seiner Anlehnung an die erkennbaren Wertungen des Geset­ zes oder der Präjudizien auch dort, wo eine strenge Bindung nicht be­ steht, und deshalb soll er „bewährter Lehre und Überlieferung“ folgen (Art. 1 III ZGB). Gerade im IPR würden bei einer stark individualisie­ renden Rechtsprechung sehr leicht „Heimwärtsstreben “ (oben § 7 III)

319 So der Däne Georg Cohn, Existenzialismus und Rechtswissenschaft (Basel 1955) 119. 320 Über die Grenzen des Gleichheitssatzes siehe auch unten § 49 II.

und materiellrechtliche Erwägungen die Entscheidungsgleichheit beein­ trächtigen. Außerdem verbietet die Prozeßökonomie, daß jedem Einzelfall so viel Aufmerksamkeit zugewandt wird, wie die Abwägung aller jeweils in Betracht kommenden Umstände sie verlangt; die Masse der zivilrechtli­ chen Fälle - anders mag es wiederum im Strafrecht oder gar im Völ­ kerrecht mit seinen causes clbres sein - muß nach einfachen Regeln entschieden werden können, ohne daß der einzelne Richter, Beamte usw. die oft verwickelten Erwägungen des Gesetzgebers jedesmal nach voll­ zieht321. Hinzu kommt das Interesse an der Voraussehbarkeit der Ent­ scheidungen, die u. a. zur Vermeidung von Prozessen führt und so dem Rechtsfrieden dient. Daher gehört in gewissem Maße zum Privatrecht, einschließlich des IPR, eine Generalisierung auf Kosten der punktuellen Fallgerechtig­ keit: Man muß durch Bildung fester Regeln auf den typischen Fall ab­ stellen, dagegen im atypischen Ausnahmefall dem Einzelnen das Ertra­ gen einer gewissen Unbilligkeit um der allgemeinen Ordnung willen zumuten322 und nur als Notventil eine Ausweichklausel vorsehen. Mit gu­ tem Grund läßt der vielzitierte Art. 1 II Schweizer ZGB den Richter bei Lücken im Gesetz „nach der Regel [!] entscheiden, die er als Gesetz­ geber aufstellen würde“, also nicht etwa schlechthin nach der Billigkeit im Einzelfall. Es ist jedoch zu differenzieren: Im Bereich des Vertragsrechtes, mit dem die erwähnten englischen und amerikanischen Entscheidungen zu tun haben, ist die Frage des anwendbaren Rechts meistens nur in einem einzigen Prozeß zwischen den unmittelbaren Vertragsparteien von Bedeutung; daher kann die Festlegung des Vertragsstatuts eher der (nachträglichen) Entscheidung des Richters über­ lassen werden. Auch spielen hier - analog dem Grundsatz der Vertragsfreiheit - selbst beim Fehlen einer eindeutigen Rechtswahl der Parteien ihr vermutli­ cher oder hypothetischer Wille und ihre Erwartungen eine berechtigte Rolle (unten § 34). Auf dem Gebiet des Personen-, Familien- und Erbrechts dagegen handelt es sich überwiegend um zwingendes Recht und um absolute, gegen je­

321 Vgl. Kropholler, JZ 1971, 694 (zum Deliktsstatut): „Viele Gerichte wären einfach überfordert, wenn sie die kollisionsrechtliche Gerechtigkeit durch ein unökono­ misches Abwägen der Umstände jedes Einzelfalles verwirklichen sollten... Dem Er­ fordernis der Anwendung verfeinerter Regeln im IPR müssen sie sich jedoch stellen“ (Hervorhebungen im Original). 322 „Perfection is not for this world“, sagt Reese, Choice of Law - Rules or Approach?: Cornell L. Rev. 57 (1971/72) 315 (322).

dermann und weit in die Zukunft wirkende Rechtsverhältnisse, die einer fe­ sten, eindeutigen Regelung bedürfen. Anderseits ist das Personen- und Familienrecht besonders empfindlich gegen unbillige, durch rein mechanische Anknüpfungen bedingte Entscheidungen. Während im Geschäftsverkehr der Inhalt einer Entscheidung für die Beteiligten oft weniger wichtig ist als die Tatsache der Entscheidung (d. h. als die Rechts­ sicherheit), steht im Personen- und Familienrecht die Angemessenheit des Er­ gebnisses obenan; das zeigen die vielfachen gesetzlichen Durchbrechungen des Staatsangehörigkeitsprinzips im deutschen EGBGB, die häufigere Anwendung der Vorbehaltsklausel des ordre public und die Bekämpfung von Gesetzesum­ gehungen durch die Rechtsprechung. Man wird sich also gerade hier um eine zugleich sichere und gerechte Lösung bemühen müssen.

Zwischen starren, mechanischen Anknüpfungsregeln einerseits und ei­ ner Justiz von Fall zu Fall gilt es, den Mittelweg eines Kollisionsrechts zu finden, das von einer gewissen Typenbildung ausgeht und dabei zu einer maßvollen Rücksichtnahme auf die Besonderheiten des Einzelfalls bereit ist - also eine Regelbildung mit Ausweichklausel (Näheres unten § 24 a. E. und § 49). Viel gewonnen ist bereits, wenn die grobe Klassifi­ zierung etwa der Schuldverhältnisse in vertragliche und außervertragli­ che (oder vertragliche, deliktische und gesetzliche) Obligationen durch eine Differenzierung innerhalb dieser Gruppen verfeinert wird oder wenn man im Erbrecht unterscheidet zwischen verheirateten Erblassern (deren Vermögen güterrechtlich gebunden sein kann) und unverheirateten323. Ferner sollte die Klassifizierung nicht rein deduktiv nach nationalen Rechtsbegriffen erfolgen, sondern aufgrund konkreter Rechtsverglei­ chung324, am besten nach Sachverhalten oder Klageansprüchen. Mit an­ deren Worten: an die Stelle der „Systembegriffe“ sollten beim Aufbau der IPR- (wie der Zuständigkeits-) Normen möglichst Sachbegriffe tre­ ten.

323 Vgl. Vorschläge... Erbrecht 1 (§ A), 6 ff.; dazu Neuhaus, Um die Reform des deutschen Internationalen Erbrechts: FamRZ 1970, 12 (13), sowie unten N. 379 a. E. 324 Vgl. Rabel, Qualifikation 258: „Ein gesunder und zukunftsreicher Zug geht dahin, auf induktivem Wege für jeden juristischen Typus die ihm entsprechenden Kollisionsnormen zu finden.“

§ 13: Qualifikation I.

Der Ausdruck Qualifikation ist in das Vokabular der deutschen Kol­ lisionsrechtler aus dem Französischen gekommen. Während im Deut­ schen das Wort Qualifikation im allgemeinen das Vorhandensein einer Befähigung oder Eignung bezeichnet, meint es dort vor allem die Fest­ stellung der Qualität, Beschaffenheit oder Eigenschaft eines Gegenstan­ des (die wir eher „Qualifizierung“ nennen oder im naturwissenschaftli­ chen Sprachgebrauch „Bestimmung der Art“). Die anglo-amerikanischen Juristen sprechen treffend von „Classification“ oder „characterization" (während „qualification" bei ihnen meistens eine Einschränkung be­ zeichnet). Gemeint ist also soviel wie Kennzeichnung, Beurteilung, Ein­ ordnung325 326 oder Subsumtion. Qualifikation ersten Grades oder primäre Qualifikation ist die Sub­ sumtion unter eine Kollisionsnorm des Forums. Als Qualifikation zwei­ ten Grades oder sekundäre Qualifikation bezeichnet man die Subsum­ tion unter diejenige Rechtsordnung, welche durch diese Kollisionsnorm für anwendbar erklärt wird. Des näheren kann der Ausdruck „Qualifikation zweiten Grades^ jedoch drei verschiedene Bedeutungen haben: Subsumtion unter das Kollisionsrecht der fremden Rechtsordnung, insbesondere zwecks Feststellung, ob eine Rück- oder WeiterverWeisung vorliegt (siehe unten § 35); Subsumtion unter die materiell­ rechtlichen System- oder Rahmenbegriffe der anzuwendenden Rechtsordnung (Personenrecht, Schuldrecht, Sachenrecht usw.) zur Abgrenzung, welche einzel­ nen Normen dieser Rechtsordnung zur Anwendung berufen sind (siehe unten § 44)326; schließlich Subsumtion unter die einzelnen Sachnomen der betreffenden Rechtsordnung im Zuge der Anwendung dieses Rechts (siehe unten § 46: Vor­ frage - Substitution)327. In allen drei Fällen ist es denkbar, daß die sekundäre 825 „Kategorisierung" sagt Lagger, Foreign Court-Theorie und Renvoifrage im englischen IPR (Diss. Basel 1968) 7. 326 Nur diese Auswahl der anwendbaren Normen bezeichnet der neue portugiesi­ sche Cdigo civil von 1966 (Art. 15) als Qualifikation. Die Erklärungen des Autors dieser Bestimmung, Ferrer Correia, Das Problem der Qualifikation im portugie­ sischen IPR: Z. f. Rvgl. 11 (1970) 114 ff., und von Garcia Velasco, Concepcin del d.i.p. en el nuevo C6digo civil portugues (Salamanca 1971) 127-132, die sog. pri­ märe Qualifikation stelle überhaupt kein echtes Problem dar bzw. sei ohne die sekun­ däre nicht endgültig, treffen nur für bestimmte Fälle zu. Näheres in RabelsZ 35 (1971) 391 f. 327 Für einen Sonderfall der dritten Art spricht von Qualifikation K. Vogel, Qualifikationsfragen im Internationalen Verwaltungsrecht: Arch. öff. R. 84 (1959) 54 8 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

Qualifikation zu einem Ergebnis führt, das von der primären Qualifikation ab­ weicht, wenn nämlich das anwendbare Recht einen gleichlautenden Begriff mit anderm Inhalt verwendet als das Kollisionsrecht des Forums (etwa die Abgren­ zung von persönlichen und güterrechtlichen Ehewirkungen anders zieht als die­ ses). Ein logischer Widerspruch ist darin grundsätzlich nicht zu sehen, da es sich ja um verschiedene Stadien der Beurteilung desselben Falles handelt, wie auch innerstaatlich z. B. die Handlungsfähigkeit einer juristischen Person für Zwecke des Verfahrensrechts und für Zwecke des materiellen Rechts nicht gleich behandelt werden muß.

Im folgenden wird mit „Qualifikation“, wenn nichts anderes gesagt ist, die primäre Qualifikation gemeint. Die Subsumtion unter einen Rechtssatz bedeutet im Zweifelsfall zu­ gleich eine Auslegung dieses Rechtssatzes, insbesondere seine Abgren­ zung gegenüber einem andern. Stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Testierfähigkeit unter Art. 7 EGBGB fällt, der die Geschäftsfähigkeit behandelt, oder unter Artt. 24 f. über die Erbfolge, so bedeutet die Qua­ lifikation der Testierfähigkeit zugleich eine Auslegung des Art. 7 und seine Abgrenzung gegen Artt. 24 f.328 Jedoch sind Qualifikation und Auslegung - sprachlich betrachtet - des­ halb nicht synonym 328 329; sie sind vielmehr korrelative Begriffe wie Subsumtion und Auslegung. Es ist also ein falscher Sprachgebrauch, von der Qualifikation einer Kollisionsnorm oder ihrer Bestandteile zu sprechen, wie wir ja auch nicht von der Subsumtion einer Regel oder eines sonstigen Obersatzes sprechen, son­ dern nur von ihrer Auslegung (durch die Subsumtion eines Sachverhalts oder andern Untersatzes). Doppelt falsch ist die - leider verbreitete - Bezeich­ nung Qualifikation für die Auslegung der Anknüpfungsmomente wie „Wohn­ sitz“, „Handlungsort“ usw., weil diese Auslegung gar nicht im Zuge der Subsumierung (also durch Unterlegung eines Untersatzes) „von unten her“, sondern umgekehrt durch Entfaltung oder Konkretisierung des gesetzlichen Begriffes „von oben her“ erfolgt. (64), nämlich „bei der Anwendung von [inländischen] Sachnormen, die auf ausländi­ sches Recht verweisen“, d. h. ausländische Rechtsverhältnisse erfassen wollen. 328 Wenn Rabel, Conflict I 44 (= 2. Aufl. 50) die Parole „from characterization to interpretation“ ausgab, so wollte er damit wohl nicht diesen Zusammenhang leugnen, sondern nur von einer rein logischen Einordnung abraten zugunsten einer mehr teleo­ logischen Betrachtung. Die Unterscheidung von Raape, IPR 103 f./107 ff., zwischen Abgrenzung und Qualifikation - je nachdem, ob mehr die Auslegung der Kollisions­ norm oder die Subsumtion der einzelnen Sachnorm im Vordergrund steht - verdun­ kelt die Zusammengehörigkeit beider Aspekte. 329 Bartin, der den Ausdruck „Qualifikation“ in die IPR-Literatur eingeführt hat, sagt in Rec. des Cours 31 (1930-1) 601 beiläufig: „... definition ou qualification, c’est la mme chose“ - aber nicht: „... la mme notion“!

Formell vergleichbar ist die kollisionsrechtliche Qualifikation mit der Feststellung der Gesetzgebungskompetenz für bestimmte Fragen in ei­ nem Bundesstat. Auch dabei handelt es sich um die Subsumtion unter weitgefaßte Sammelbegriffe und damit um deren Abgrenzung voneinan­ der, z. B. von „Verlagsrecht“ (Art. 73 Nr. 9 GG - ausschließliche Ge­ setzgebung des Bundes), „das bürgerliche Recht“ (Art. 74 Nr. 1 - kon­ kurrierende Gesetzgebung des Bundes und der Länder) und „die allge­ meinen Rechtsverhältnisse der Presse“ (Art. 75 Nr. 2 - Zuständigkeit des Bundes für Rahmenvorschriften)330. II.

Die praktische Bedeutung der Qualifikation ist umstritten. Aber da die Auslegung vielfach eine Fortbildung des Rechts durch Lückenfül­ lung bedeutet, ist die Methode der Subsumtion und damit der Auslegung in einem so lückenhaft geregelten Rechtsgebiet wie dem IPR sehr wich­ tig. Die wissenschaftliche Erörterung des Problems der Qualifikation hat sich an der speziellen Frage entzündet, ob eine international einheit­ liche Auslegung gleichlautender Kollisionsnormen verschiedener Staaten möglich ist. Auch innerhalb der einzelnen Kollisionsrechte kann jedoch die Qualifikation zweifelhaft sein, wie das obige Beispiel der Testierfä­ higkeit zeigt331. Im Grenzfalle berührt sich die Qualifikation mit der richterlichen Schöpfung einer neuen Kollisionsnorm - z. B. wenn die italienische affiliazione wie eine Adoption nach dem Recht des Anneh­ menden oder wie eine Vormundschaft nach dem Recht des Kindes be­ handelt wird332 oder die Haftung des falsus procurator als deliktische nach dem Recht des Begehungsortes, als vorvertragliche (aus culpa in contrahendo) nach dem Recht des Vertrages, als gesetzliche Anscheins­ haftung nach dem Recht des Erklärungsortes333. Auch der Gesetzgeber

330 Vgl. dazu Helga Hoppe, Die Qualifikation von Rechtssätzen, Eine Unter­ suchung anhand der kanadischen Bundesverfassung und die parallele Problemstellung im IPR (1970), bespr. in RabelsZ 35 (1971) 337 f. 331 Bei den erstgenannten internationalen Divergenzen wird von einem Qualifika­ tionskonflikt „stricto sensu“ gesprochen, bei rein nationalen von einem solchen „lato sensu“; CPN, Rev. roum. sei. soc. 10 (1966) 101 ff. Zwischen Qualifikationskon­ flikt und Qualifikationsproblem unterscheidet im gleichen Sinne Heierli (oben N. 160) 11. 332 Vgl. etwa Gerhard Luther, RabelsZ 23 (1958) 785 f. 333 Vgl. Kropholler, Die Anscheinshaftung im internationalen Recht der Stellvertretung: NJW 1965, 1641 (1645 f.); er selbst empfiehlt die dritte Lösung.

macht vielfach den Inhalt einer Kollisionsnorm davon abhängig, wie die zu regelnde Frage rechtlich einzuordnen ist334. Im übrigen vermeidet man durch eine vernünftige Qualifikation unbrauchbare Ergebnisse, die nachträglich durch Anpassung (unten § 47) oder gar mit Hilfe der Vor­ behaltsklausel des ordre public (unten § 49) korrigiert werden müßten. Freilich wäre es übertrieben, schlechthin alle offenen Anknüpfungsfragen im Wege der Subsumtion unter eine der vorhandenen Anknüpfungsregeln beant­ worten zu wollen335. Auch scheint es mir unrichtig, mit Hilfe der Qualifikation die Anwendung allzu fremdartigen ausländischen Rechtes (wie z. B. des Rechts der Polygamie) ohne Anrufung der Vorbehaltsklausel des ordre public schon daran scheitern zu lassen, daß man seine Einordnung in die Begriffe des natio­ nalen Kollisionsrechts für unmöglich erklärt336.

Teilweise wird die Existenz eines selbständigen Qualifikationspro­ blems überhaupt verneint und die Auffassung vertreten, das Gericht müsse „immer die Normen anwenden, deren Befolgung sich vom kon­ kreten Sachverhalt her als notwendig erweist“337; mit andern Worten: der Richter soll von Fall zu Fall so qualifizieren, daß er zur Anwen­ dung desjenigen Rechtes gelangt, dessen Anwendung ihm erwünscht scheint. Etwas vorsichtiger meint ein amerikanischer Autor, ein gewisser 334 Vgl. etwa die Motive zum 1. Vorentwurf zum BGB von Gebhard bei Nie­ (oben N. 92) 219 f.: „Die Entscheidung der Frage [welchem Rechte der Un­ terhaltsanspruch eines unehelichen Kindes gegen den möglichen Erzeuger unterstehen soll] ist durch die rechtliche Konstruktion des Unterhaltsanspruches des unehelichen Kindes bedingt. - 1. Führt man den Anspruch auf eine Deliktsobligation zurück, so ist... das Recht am Orte des vollzogenen Beischlafs maßgebend... - 2. Knüpft man den Anspruch an das natürliche Vaterschaftsverhältnis oder, was im wesentlichen dasselbe sein dürfte, an den Akt der Erzeugung, so hat das Gesetz des Staates zu ent­ scheiden, dem der Erzeuger zur Zeit der Geburt beziehungsweise der Erzeugung des Kindes angehört... - 3. Stützt man die dem Konkumbenten auferlegte Unterhalts­ pflicht auf eine Fürsorge für das Kind im gleichzeitigen Interesse der Mutter und des eventuell zum Unterhalt des Kindes genötigten Heimatsstaates beziehungsweise seiner Organe, so ist die Anerkennung der Gesetze des Staates, dem die Mutter zur Zeit der Geburt und mit ihr das Kind angehört, geboten.“ 335 Diese Übertreibung meinte anscheinend Neuner, Der Sinn der international­ privatrechtlichen Norm, Eine Kritik der Qualifikationstheorie (Brünn 1932), mit dem Schlagwort „die Qualifikationstheorie“ (besonders 131). 336 So etwa Francescakis, La theorie du renvoi (oben N. 301) 21 ff. nos. 17 f., und in: Melanges Maury I (1960) 122; danach bedeutet die Qualifikation „une Opera­ tion d’internationalisation", die Zulassung zu den „institutions du commerce interna­ tional“. 337 BYSTRICK, Zum Problem der Qualifikation, in: Fragen des IPR (Ost-Berlin 1958) 36 (37, 71); gegen die „bürgerliche“ Lehre und Praxis der Qualifikation auch Wiemann, Die Bedeutung des IPR in der DDR: St. u. R. 3 (1954) 743 (757 f.), sowie Popescu in: Fragen des IPR (siehe oben) 76. Der geistige Vater dieser und ähnlicher Lehren ist wohl Neuner (vgl. oben N. 335). meyer

Grad von Unsicherheit im IPR gebe dem Recht dafür Geschmeidigkeit; er spricht von einer „plausible choice of alternatives through the me­ dium of characterization“338. Solche Auffassungen führen bestenfalls dazu, allzu starre Kollisionsnormen im Einzelfall zu umgehen, anstatt sie generell aufzulockem339. Schlimmstenfalls erfolgt eine unredliche Qualifikation mit dem Ziel, möglichst oft das eigene Recht anzuwenden. Höchst bedenklich scheint mir z. B., wenn ein Schiedsgericht die Befugnis zur Vertretung einer juristischen Person des Inlands und die Form dieser Ver­ tretung als Fragen der Handlungsfähigkeit der juristischen Person qualifiziert und sie damit auf Kosten des an sich naheliegenden Vollmachts- bzw. Form­ statuts (d. h. beidemal eines fremden Ortsrechtes) dem inländischen Recht unter­ stellt, dagegen die Zulässigkeit einer Schiedsklausel für den Vertragspartner der juristischen Person nicht etwa dementsprechend als Frage der Handlungs­ fähigkeit des Partners nach dessen Heimatrecht, sondern nach dem Recht am Sitze des Schiedsgerichts beurteilt, also wiederum nach der lex fori340. 341 Wir ziehen es daher vor, auch die Probleme der Qualifikation nicht im ungewissen zu lassen, sondern sie genau zu analysieren. Auf die Bedeutung der kollisionsrechtlichen Qualifikation für die zivilrecht­ liche Dogmatik sei nur am Rande hingewiesen. Erst im kollisionsrechtlichen Grenzfall zeigt sich bisweilen das Wesen eines Rechtsinstituts841, und mitunter enthüllt sich bei der Qualifikation auch die Unklarheit einer Konzeption342. 338 F. Harper, Colum. L. Rev. 59 (1959) 456. 339 So Harper a.a.O. bezüglich der Anknüpfung des Deliktsstatuts. 340 So die Praxis der Moskauer „Außenhandels-Arbitrage-Kommission“ nach dem Bericht von RAMSAIZEW, RwInfD 1958, 133 ff. und Rev. crit. 47 (1958) 459 ff. (deutsche bzw. französische Übersetzung aus Sovetskoe gosudarstvo i pravo 1957) un­ ter II, VI und a. E.; vgl. ders., Die Außenhandelsarbitrage in der UdSSR (Ost-Ber­ lin 1961) 17 f., 21. Eine seitherige Änderung dieser Praxis ist nicht ersichtlich, siehe Waehler, Die Außenhandelsschiedsgerichtsbarkeit in der Sowjetunion, in: Pfaff (oben N. 123) 432 (476, 456). 341 Vgl. Beitzke, AcP 157 (1958) 262; Jahr, Internationalprivatrechtliche Bei­ träge zur allgemeinen Zivilrechtswissenschaft, in: Rechtsvergleichung und Rechtsver­ einheitlichung, Festschrift... Heidelberg (1967) 179 ff. Ähnlich Fridman, Where Is a Tort Committed?: Toronto L. J. 24 (1974) 247 (278): Die Frage nach dem kollisions­ rechtlichen Anknüpfungsmoment „Tatort“ gibt Anlaß, über ein wesentliches Moment des Deliktsrechtes nachzudenken. - Anderseits wies schon K. Neumeyer (nach L. Schnorr von Carolsfeld, Internationalrechtliche Fragestellungen zur Dogma­ tik des deutschen Zivilprozeßrechtes, in: Festschrift Lent [1957] 245 [270]) seine Schüler „immer wieder darauf hin..., daß die Bewährung einer dogmatischen Kon­ struktion im internationalrechtlichen Sektor zwar keinen völligen Beweis, wohl aber einen entscheidenden Hinweis auf deren Richtigkeit bedeute“; ähnlich Hans Stoll, in: Festschrift Bötticher (1969) 365: „Das Kollisionsrecht ist geradezu der Prüfstein für die prozeßrechtliche oder materiellrechtliche Natur eines Rechtsinstituts.“ 342 So beim Streit über die güter- oder erbrechtliche Qualifikation des Zugewinn­

§ 14: Gegenstand der (Qualifikation Welches ist der Gegenstand der Qualifikation, d. h. was bildet den Sachverhalt, der als „Untersatz“ dem Tatbestand einer Kollisionsnorm als dem „Obersatz“ subsumiert wird: ein Rechtsverhältnis, ein Lebens­ verhältnis, eine materiellrechtliche Norm oder eine Rechtsfrage? Wir kommen damit wieder auf die oben (§11 III a. E.) zurückgestellte Fra­ ge, was das wesentliche Tatbestandselement der Kollisionsnorm ist; denn der Obersatz, unter den subsumiert wird, und der Untersatz, der subsu­ miert wird, müssen gleichartig sein.

I. Allgemein ist folgendes zu sagen: 1. Nach Savigny herrschen die Rechtsregeln über „Rechtsverhält­ nisse^3. Demgegenüber ist oftmals betont worden, daß erst die an­ wendbare Rechtsordnung ein Lebensverhältnis zum Rechtsverhältnis stempelt, was zumindest für die Grenzfälle von rechtlichem und bloß gesellschaftlichem Verhalten zutrifft.

2. Als eigentlichen Gegenstand der Kollisionsnorm und somit der Qualifikation hat man daher das „Lebensverhältnis“ (die soziale Bezie­ hung) bezeichnet und demgemäß erklärt, die Kollisionsnorm habe densel­ ben Gegenstand wie die Sachnorm (nur bestimme sie die materielle Rechtsfolge nicht direkt, sondern indirekt durch Bezeichnung der maß­ gebenden Rechtsordnung). Zweifellos ist das Lebensverhältnis der „Ur­ stoff“344 der Kollisionsnorm wie der Sachnorm. Aber die Sachnorm kann unmittelbar an eine Tatsache, z. B. an die Geburt eines Menschen, die verschiedensten Rechtsfolgen knüpfen. Die Kollisionsnorm dagegen knüpft nie an die Tatsache als solche die Anwendbarkeit einer bestimm­ ten Rechtsordnung, vielmehr muß wenigstens von einer bestimmten Art materieller Rechtsfolgen die Rede sein.343 ausgleichs nach § 1371 BGB i.d.F. des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. 6. 1957 dazu etwa Eike von Hippel, RabelsZ 32 (1968) 348 ff. - und beim vorzeitigen Erbausgleich nach § 1934d BGB i.d.F. des Nichtehelichengesetzes vom 19. 8. 1969 dazu Siehr, Auswirkungen des Nichtehelichengesetzes auf das Internationale Privatund Verfahrensrecht (1972) 146. Beide Gesetze haben sich die kollisionsrechtliche Probe auf ihre Neuerungen erspart, indem sie keine Kollisionsnormen aufstellten. 343 Savigny 1 ff. 344 Rabel, Qualifikation 244.

So gilt im deutschen autonomen Kollisionsrecht des EGBGB bei der Geburt eines Kindes für dessen Rechtsfähigkeit: das Heimatrecht des Kindes (analog Art. 7 EGBGB); für die rückwirkende Bestätigung der Erbfähigkeit des nasci­ turus: das Heimatrecht des Erblassers (Artt. 24 f.); für den Status des Kindes als eines ehelichen oder unehelichen: das Heimatrecht des (wirklichen oder fik­ tiven) Ehemannes der Mutter (Art. 18); für die wichtigsten Beziehungen des unehelichen Kindes zu seinen Eltern: das Heimatrecht der Mutter (Artt. 20 f.); für die Unterhaltsbeziehungen zu den weiteren Verwandten: deren Heimat­ recht (h. M.); für die Möglichkeit, nach der Geburt adoptiert zu werden: das Heimatrecht des Adoptanten (Art. 22); für die Ansprüche der Mutter auf Ur­ laub nach der Entbindung: das Recht des Beschäftigungsortes (h. M.); für ihren Anspruch auf private Versicherungsleistungen: das jeweilige Vertragsstatut (h. M.); für die Fortsetzbarkeit der ehelichen Gütergemeinschaft beim Tode des Ehemannes nach Geburt des ersten Kindes: das Heimatrecht des Mannes zur Zeit seiner Eheschließung (herrschende Auslegung des Art. 15); für den Fortfall des Ehehindernisses der Wartezeit und für die Notwendigkeit eines Auseinandersetzungszeugnisses bei einer künftigen Eheschließung der Mutter: ihr jeweiliges Heimatrecht (Art. 13); usw.

3. Auch kann man nicht generell die Sachnorm, welche ein Lebens­ verhältnis und eine Rechtsfolge miteinander verknüpft, zum Gegenstand der Kollisionsnorm und damit der Qualifikation erklären. Denn in der Regel - bei der Fragestellung vom Sachverhalt her (oben § 4 I) - steht gar nicht von vornherein eine bestimmte Sachnorm in Rede, vielmehr soll erst die Anwendung des Kollisionsrechts ergeben, welche Sachnorm jeweils heranzuziehen ist - so in dem berühmten Beispiel des privat­ schriftlichen Testaments eines Niederländers im Ausland: ob die verbie­ tende niederländische Norm (Art. 992 B. W.) gilt oder die gestattende des Ortsrechtes (§ 2247 BGB). Bisweilen fehlt sogar eine Norm über­ haupt, weil es den geltend gemachten Anspruch in den beteiligten Rechtsordnungen nicht gibt345. * 4. Gegeben ist in der Regel nur die Rechtsfrage, die mit Hilfe der Sachnormen beantwortet werden soll (und insofern gewissermaßen ein Spiegelbild dieser Normen darstellt). Näherhin wird bald nach den Rechtsfolgen aus einer bestimmten Tatsache (z. B. aus der Geburt eines Kindes) gefragt, bald umgekehrt nach den tatsächlichen Voraussetzun­ gen einer bestimmten Rechtsfolge (z. B. einer gültigen Ehe oder einer Ehescheidung), manchmal auch ganz konkret, ob eine bestimmte Tatsa345 So Gamillscheg, Überlegungen zur Methode der Qualifikation, in: Fest­ schrift K. Michaelis (1972) 79 (84).

ehe eine bestimmte Rechtsfolge hat (z. B. ob die Nichterfüllung eines Vertrages zum Schadenersatz verpflichtet)346. Der seit Zitelmann übliche Ausdruck „Wirkungsstatut“ für das jeweils an­ wendbare Recht ist daher zu eng, weil mitunter gar nicht eine Wirkung, son­ dern Voraussetzungen (z. B. einer Ehescheidung) bestimmt werden347. Der latei­ nische Ausdruck „lex causae“ - im Gegensatz zur lex fori, dem eigenen Recht des Gerichtes - ist gerade in seiner Farblosigkeit richtiger, wenn man causa einfach als „Rechtsfall“ auffaßt und nicht etwa darunter den Rechtsgrund im Gegensatz zur Form oder zum Vollzugsgeschäft versteht348.

Das Gesetz wählt im allgemeinen möglichst weit gespannte und farb­ lose Begriffe für den Tatbestand seiner Kollisionsnormen, ohne zwischen Voraussetzungen eines Anspruchs und Wirkungen eines Ereignisses zu unterscheiden. Vollends ist es gleichgültig, ob die Rechtsfrage von einem Richter, Standesbeamten, Notar, privaten Schiedsrichter oder Rechtsbe­ rater gestellt und beantwortet wird; denn das Auftauchen der Rechts­ frage als solcher löst die Anwendbarkeit der Kollisionsnorm aus nicht bereits das Lebensverhältnis als factum brutum und nicht die Exi­ stenz der Sachnorm, aber auch nicht erst die Anrufung des Richters. Wichtig ist nur, im Rahmen welcher Rechtsordnung (nach welchem Kollisionsrecht) die Frage beantwortet werden soll. Grundsätzlich ist es also die jeweilige Rechtsfrage, die unter eine Kol­ lisionsnorm subsumiert oder qualifiziert wird - mag auch in concreto nur ein einzelnes Element zweifelhaft sein, etwa ein Anspruch oder der Charakter eines Gegenstandes als unbewegliches oder bewegliches Ver­ mögen. Und eine typisierte Rechtsfrage bildet das wesentliche Tatbe­ standselement der regulären Kollisionsnorm. Auf das Grundschema „Wenn ..., dann ..(oben § 11 III) gebracht, lautet somit die ideale Kollisionsnorm: „Wenn die und die Rechtsfrage zu beantworten ist, dann ist jene Rechtsordnung maßgebend.“

348 Freilich gibt es noch andere Arten von Rechtsfragen als die hier gemeinten nach Voraussetzung und Rechtsfolge, z. B. die Frage nach der Auslegung einer Norm oder nach ihrer Geltung für Sachverhalte, die der historische Gesetzgeber noch nicht ins Auge fassen konnte. Anderseits wären als Gegenstand der Qualifikation „Antrag“ (der ein Verfahren voraussetzt), „Anspruch“ oder „(subjektives) Recht“ zu begrenzt; und „Fall“ oder „Rechtsfall“ - wie Heierli (oben N. 160) 9 bzw. 13 sagt - be­ tont zu sehr die konkreten Gegebenheiten anstatt das eigentlich rechtliche Element. Der Rechtsfrage gleichgestellt werden kann das „hypothetische Rechtsverhältnis“: Vallindas, La structure (oben N. 16) 355. 347 Vgl. Raape, IPR 40. 348 Zum Kausalstatut in dem letztgenannten Sinne siehe unten § 31 III.

II.

Wenn nun im Einzelfall eine bestimmte Sachnorm des reinen Privat­ rechts im Vordergrund steht - etwa ein Verbot privatschriftlicher oder gemeinschaftlicher Testamente so müssen wir, um eine reguläre Kol­ lisionsnorm anwenden zu können, zunächst feststellen, welche Rechts­ frage die Sachnorm beantwortet, und dann diese Rechtsfrage einer Kol­ lisionsnorm subsumieren (sie also qualifizieren). Denn man kann - im Beispiel - nicht sagen: „Das italienische Verbot gemeinschaftlicher Te­ stamente untersteht dem Heimatrecht“, sondern nur: „Ob die Errichtung eines gemeinschaftlichen Testaments gestattet oder verboten ist, unter­ steht dem Heimatrecht.“ Dabei ist freilich zu beachten, daß scheinbar ähnliche Sachnormen verschiedener Rechtsordnungen je nach ihrem Sinnzusammenhang sehr wohl verschieden zu qualifizierende Rechtsfra­ gen beantworten können. Z. B. kann eine Pflicht des Ehemannes, seine nicht erwerbstätige Frau aus seinem Einkommen zu unterhalten, einerseits zu den güterrechtlichen Wirkun­ gen der Ehe gehören (wenn ihm etwa die Verwaltung und Nutznießung des Frauenvermögens zusteht), anderseits zu den persönlichen Ehewirkungen (be­ sonders wenn eine gleiche Pflicht auf Seiten der Frau besteht). Ebenso kann ein Verbot der Gesellschaft zwischen Ehegatten bald als persönliche Ehe Wirkung auftreten (im Interesse der Stellung des Mannes als Familienhaupt), bald als gü­ terrechtliche Wirkung (im Interesse sauberer Güterrechtsverhältnisse)349. Man kann hier von einer Doppelqualifizierung der Unterhaltspflicht bzw. des Ver­ botes einer Ehegattengesellschaft sprechen und demgemäß die gestellte Rechts­ frage - in verschiedener Nuancierung - zwei verschiedenen Rechtsordnun­ gen zur Beantwortung unterstellen. Möglich ist sogar eine Tripelqualifika­ tion350.

III.

Bei den Eingriffsnormen, die eine Fragestellung des Kollisionsrechts „vom Gesetz her“ rechtfertigen, ist dagegen eine Qualifikation von Normen erforderlich. Entscheidend ist dabei nicht einfach die Formulie­ rung der Kollisionsnorm, sondern ihr Sinn. 340 Vgl. einerseits Ferid, Das Französische Zivilrecht (1971) II 1203 (4 B 159), anderseits Selb, Martin Wolff und die Lehre von der Qualifikation nach der lex cau­ sae im IPR: AcP 157 (1958) 341 (346). 350 So bei der Prozeßkostenvorschußpflicht unter Ehegatten, siehe unten N. 375 a. E.

Wenn also eine Kollisionsnorm - insbesondere eine einseitige - vom Ge­ setz auszugehen scheint, so ist zunächst zu prüfen, ob sie nicht ihrem Sinne nach umformuliert werden kann in eine reguläre, in welcher statt des Gesetzes der Sachverhalt im Vordergrund steht. Zum Beispiel kann Art. 3 III Code ci­ vil, welcher lautet: „Les lois concernant l’tat et la capacit des personnes r6gissent les Franais ...“, umgegossen werden in die Regel „L’tat et la capacit des Fran^ais ... sont rgis par la loi nationale“. Eine derartige Umformulierung ist aber dann nicht möglich, wenn es wirklich in erster Linie um die Gesetze und nicht um gewisse Sachverhalte geht. Angenommen, eine Kollisionsnorm lautet: „Staats- oder wirtschaftspolitisch begründete Leistungsverböte finden unabhängig vom vereinbarten Vertragsstatut (nur) dann Anwendung, wenn eine Erfüllungshandlung ganz oder zum Teil im Verbotsland erfolgen sollte.“861 Hier würde eine andere Formulierung - etwa „Die Erlaubtheit einer Erfüllungs­ handlung beurteilt sich unabhängig vom vereinbarten Vertragsstatut nach dem Recht des Staates, in dem die Handlung erfolgen soll“ - einen ganz anderen, weiteren Sinn haben, nämlich auch die Vereinbarkeit mit einem Verbot unmo­ ralischer Verträge oder mit bloßen Schutzbestimmungen zugunsten des Schuld­ ners umfassen. Gelegentlich gehen auch Kollisionsregeln, die nicht Eingriffsnormen betref­ fen, von Normen oder Rechtsinstituten aus, z. B. das Haager Vormundschaftsab­ kommen von 1902 und das Haager Minderjährigenschutzabkommen von 1961352 - freilich auf Kosten des reibungslosen Zusammenspiels mit den nor­ malen Kollisionsregeln353 351 . 352

In diesen Fällen muß man feststellen, welche konkreten Normen in Betracht kommen, und dann ist jede von ihnen zu qualifizieren, d. h. daraufhin zu prüfen, ob sie dem gemeinten Typ entspricht (im obigen Beispiel: ob sie ein Leistungsverbot staats- oder wirtschaftspolitischer Art darstellt).

Im Ergebnis ist also die Frage nach dem Gegenstand der Qualifika­ tion je nachdem verschieden zu beantworten, ob eine reguläre, vom Sach verhalt her formulierte (oder entsprechend umzuformulierende) Kollisionsnorm vorliegt oder aber eine vom Gesetz ausgehende Kollisi­ onsregel. Im ersten Falle ist Gegenstand der Qualifikation (wie der Kol­ lisionsnorm) eine materielle Rechtsfrage, dagegen im zweiten Falle eine materielle Norm. 351 Vgl. ZWEIGERT, RabelsZ 14 (1942) 295. 352 Vgl. Kropholler (oben N. 295) 45 - 51 363 Siehe unten § 16 III 1 vor N. 397.

§15: (^ualifikationsstatut

Q^ualijikationsstatut ist die Rechtsordnung, die für die Qualifikation maßgebend ist.

I. Grundsätzlich ist der Maßstab für die Qualifikation allein derjenigen Rechtsordnung zu entnehmen, unter deren Kollisionsnormen eine Rechtsfrage oder Norm subsumiert werden soll. Denn jede Rechtsord­ nung hat in erster Linie selbst über ihre Auslegung zu befinden. Ob z. B. die Testierfähigkeit zur Geschäftsfähigkeit im Sinne des deutschen Art. 7 EGBGB gehört, ist eine Frage des deutschen Rechtes. Soweit also ein Gericht sein eigenes Kollisionsrecht anwendet, erfolgt die Qualifikation grundsätzlich nach der lex fori. Soweit ein Gericht dagegen ausnahms­ weise fremdes Kollisionsrecht anwendet (etwa bei der Feststellung einer Rückverweisung, siehe unten § 35), hat die Qualifikation nach dem be­ treffenden fremden Rechte zu erfolgen. Wenn eine fremde Kollisionsnorm eine Vokabel verwendet, die auch im in­ ländischen Recht vorkommt, so wurde diese früher kurzerhand im inländischen Sinne ausgelegt, ob es nun um ein Tatbestandsmerkmal jener Kollisionsnorm ging (wie die „Form“) oder um ein Anknüpfungsmoment („Wohnsitz“). Heute legt man jedoch auch fremde Kollisionsnormen regelmäßig so aus, wie sie in dem betreffenden Lande verstanden werden.

II.

Diese eigentlich selbstverständliche Rechtslage wird durch drei scheinbare Ausnahmen kompliziert: 1. Eine Rechtsordnung kann die Konkretisierung des von ihr verwen­ deten Begriffs ausdrücklich oder stillschweigend einer andern Rechts­ ordnung überlassen („Begriffsverweisung^/54. Bisweilen steht diese zweite Rechtsordnung von vornherein fest. So sah die französische Rechtsprechung in Art. 999 C. c. „eine versteckte Hilfsnorm zur Bestim­ mung des Charakters des Testaments als eines öffentlichen, die auf die lex loci actus verweist“355. Möglich ist auch eine Verweisung an die364 365 364 Schnitzer, IPR I 99. 365 Rabel, Qualifikation 251; vgl. Batiffol, D.i.p.4 (1967) 727 no. 653 bei N.

Rechtsordnung, „die es angeht", also eine „offene Verweisung“ (vgl. § 4 II 1 a). Das zeigt das Recht der Staatsangehörigkeit: Über Erwerb und Verlust jeder fremden Staatsangehörigkeit entscheidet unbestritten das Recht des betreffenden Staates356. Ebenso wird in denjenigen Kollisi­ onsrechten, welche bewegliches und unbewegliches Vermögen unter­ scheiden, die Zuordnung einer Sache oder eines Rechtes zum unbewegli­ chen Vermögen (ihre Qualifikation als unbewegliches Vermögen) in der Regel dem Recht des Landes überlassen, das die Sache oder das Recht seinem Rechtsgebiet zuschreibt. Ob etwa Maschinen, wenn sie Zubehör eines Grundstücks sind, oder eine Hypothek samt Hypothekenbrief oder die Anteile an einer Grundstücksgesell­ schaft als unbewegliches Vermögen gelten, hängt davon ab, ob das Recht des betreffenden Grundstücks oder eines der beteiligten Grundstücke sie als unbe­ weglich bezeichnet357. Bei dieser Formel ist zwar ein Konflikt hinsichtlich der Belegenheit (zu diesem Ausdruck siehe unten § 31) gelegentlich möglich, da mehrere Rechtsordnungen denselben Gegenstand in ihrem Gebiete lokalisieren können (man denke an ein Bauwerk, das auf der Grenze errichtet ist, oder an verpachtetes Grundstückszubehör, das sowohl vom Recht des Verpächterwie dem des Pächtergrundstücks beansprucht wird). Aber ein Qualifikations­ konflikt ist ausgeschlossen, da als beweglich eben nur gilt, was von keiner Seite als unbewegliches Vermögen beansprucht wird358. Hier dient also die Quali­ fikation nach dem Recht, welches den Gegenstand für sich in Anspruch nimmt, der internationalen Entscheidungsgleichheit.

Jedoch darf man aus der Sonderregel für Immobilien keinen allgemei­ nen Grundsatz machen. Zwar ist es kein Verstoß gegen die Logik, keine petitio principii, die endgültige Entscheidung über die Berechtigung ei­ ner Qualifikation (als unbeweglich, als güterrechtlich, als erbrechtlich usw.) derjenigen Rechtsordnung zu überlassen, die gegebenenfalls zur Anwendung berufen ist (Qualifikation nach der lex causae). Auch die Be­ jahung oder Verneinung einer bestimmten Staatsangehörigkeit nach dem Recht des betreffenden Staates wird ja allgemein akzeptiert. (Beidemal handelt es sich sozusagen um eine bedingte Zuweisung, eine Offerte.) Ferner ist das Argument Martin Wolffs zugunsten der allgemeinen Qualifikation nach der lex causae gewiß sehr nobel: „Sie enthält sich ei35. Seit dem Inkrafttreten des Haager Testamentsabkommens für Frankreich am 19. 11. 1967 gilt der Art. 999 C. c. nur noch für ältere Erbfälle. 356 Siehe unten N. 573. 357 Ebenso Clarence Smith, Classification by the Site in the Conflict of Laws: Mod. L. Rev. 26 (1963) 16 (29 - für farm horses). 358 Smith a.a.O. 33: Ein Gegenstand ist beweglich, wenn „the law of no relevant site regards it as annexed to that site“.

ner unbeholfenen eigenen Kennzeichnung auslandsrechtlicher Gebilde. Indem sie sich der ausländischen Einordnung unterwirft, verhindert sie, daß ausländisches Recht dem Geiste dieses Rechts zuwider angewendet wird.“359 Aber diese Auffassung würde in der Konsequenz dazu füh­ ren, daß jede Rechtsordnung ihren Anwendungsbereich selbst bestimm­ ten müßte - also zu dem oben abgelehnten System einseitiger Kollisi­ onsnormen (vgl. § 11 III 2). Insbesondere dürften die entstehenden posi­ tiven und negativen Kompetenzkonflikte nicht durch allgemeine Kolli­ sionsnormen des Forums, sondern nur von Fall zu Fall durch richterli­ che Anpassung (siehe dazu unten § 47) bereinigt werden. Das hieße je­ doch, einen großen Teil der Regelung internationaler Sachverhalte auf Kosten der Rechtssicherheit einer generellen Normierung entziehen. Oder man müßte, wie zwischen unbeweglich und beweglich, zwischen allen wichtigen Tatbestandsmerkmalen der Kollisionsnormen eine Rang­ folge festlegen. Aber welches Rangverhältnis soll etwa zwischen Ge­ schäftsfähigkeit, persönlichen Ehewirkungen und Ehegüterrecht gelten (die hinsichtlich der Verfügungsfähigkeit einer Ehefrau konkurrieren können) oder zwischen Vertrag, Delikt und familienrechtlichem Ver­ hältnis (die beim Verlöbnisbruch in Betracht kommen)? Die Qualifika­ tion nach der lex causae würde vielfach auf eine Qualifikation nach mehreren, einander widersprechenden Rechtsnormen hinauskommen. Geht man davon aus, daß Ansprüche nach ausländischem öffentlichem Recht im Inland nicht klagbar sind (siehe unten § 23 II 2), so würde eine Qualifikation nach der lex causae360 beispielsweise dazu führen, daß die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen oder Umlagen einer ausländi­ schen Zwangsvereinigung in Deutschland eingeklagt werden kann, wenn nur das ausländische Recht die Ansprüche als privatrechtliche bezeich­ net, während umgekehrt Ansprüche aus dem Recht eines totalitären Staates, der alle Gesetze für öffentliches Recht erklärt, stets unerzwing­ bar wären. Ein kollisionsrechtliches Abkommen kann die Qualifikation entweder des­ halb der lex causae überlassen, weil man sich über einen einheitlichen Begriff 359 M. Wolff, IPR 54. Ohne seine gewichtige Parteinahme wäre das Urteil von Niederer, Die Frage der Qualifikation als Grundproblem des IPR (Zürich 1940) 27, wohl zutreffend: „Die Theorie der Qualifikation nach dem Wirkungsstatut hält sich ... vor allem darum am Leben, weil jeder Vertreter der lex-fori-Theorie gerne ... [jene Theorie] als Gegensatz zu seiner eigenen Lösung zitiert, um die lex-fori-Theorie damit gewissermaßen antithetisch hervorheben zu können.“ 360 Diese vertreten etwa Beitzke, AcP 151 (1950/51) 272, sowie Gamill­ scheg, Int. ArbeitsR 58.

nicht einigen konnte, oder aber, weil es unterschiedliche Rechtsanschauungen der beteiligten Staaten erfassen will361.

2. Die Begriffe des Kollisionsrechtes stimmen nicht notwendig mit den materiellrechtlichen Begriffen derselben Rechtsordnung überein (Autonomie des IPR). Wie das Prozeßrecht, das Strafrecht, das Steuer­ recht die grundsätzliche Selbständigkeit ihrer Begriffe gegenüber dem bürgerlichen Recht durchgesetzt haben, ebenso kann auch das Kollisi­ onsrecht eine gewisse Autonomie der Begriffsbildung (im Rahmen der gesamten Rechtsordnung) beanspruchen362. So wird zur „Form“ der Eheschließung im deutschen Kollisionsrecht - abweichend vom mate­ riellrechtlichen Begriff der Form - nicht nur die Art und Weise der Er­ klärung und Beurkundung des Ehekonsenses gerechnet, sondern auch das vorangehende Aufgebot. Die kollisionsrechtlichen Rahmenbegriffe müssen sogar über die entsprechenden materiellrechtlichen Begriffe hin­ ausgehen, weil sie nicht nur inländische, sondern auch ausländische Rechtserscheinungen erfassen sollen. Als „Ehea im Sinne der Artt. 13 ff. EGBGB kann nicht nur die nach deut­ schem Recht, also in der Regel durch Konsenserklärung vor einem deutschen Standesbeamten geschlossene Ehe gelten, sondern es müssen ebenfalls die im Ausland, womöglich vor oder von einem Religionsdiener oder in sonstiger Form oder überhaupt formlos geschlossenen gesetzlichen Verbindungen gemeint sein, auch wenn sie leichter als nach deutschem Recht aufgelöst werden können oder nicht einmal monogam sind (jedoch nicht bloße Konkubinate ohne recht­ liche Verbindlichkeit, selbst wenn der überlebende Teil einer solchen Gemein­ schaft gewisse gesetzliche Vorteile genießt).

Es ist das große Verdienst Rabels, in seinem berühmten Aufsatz über das Problem der Qualifikation (1931) die Unterscheidung von ma­ 361 Im letzteren Sinne das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 laut Insti­ tutsgutachten G 137/66, IPG 1965-66 Nr. 28 (dort auf S. 304). Anderer Ansicht allerdings Kropholler (oben N. 295) 49 N. 53, der „den sachlichen Anwendungs­ bereich der Konvention für variabel“ erklärt und von „autonomer“ Qualifikation spricht. Beide Auffassungen führen zum gleichen Ergebnis: Das Abkommen erfaßt auch die niederländische „Vormundschaft“ eines geschiedenen Elternteils. - Die Frage ist im deutsch-niederländischen Verhältnis seit dem 18. 9. 1971 nur noch von histori­ scher Bedeutung infolge der Ersetzung des Abkommens durch das Haager Minderjäh­ rigenschutzabkommen (laut dessen Art. 18 I). 362 Diese „Autonomie“ des IPR hat allerdings - entgegen de Yanguas MESsia, Les tendances autonomistes contemporaines en d.i.p., in: Melanges Maury I (1960) 563 (573) - nicht unmittelbar mit der Frage nach dem internationalen oder nationalen Charakter der Quellen des IPR zu tun; sie wäre auch dann begründet, wenn es nur nationale Kollisionsnormen gäbe.

teriellrechtlichen und kollisionsrechtlichen Begriffen klar ausgesprochen zu haben: „Nicht die Sachnormen, sondern die Kollisionsnormen des Richters bestimmen die Qualifikation“; „der Schnitt zwischen der [ma­ teriellen] lex fori und dem Kollisionsrecht ist unabweislich."863 Für manche Kollisionsnormen gibt es überhaupt keine einzelne materielle Rechtsordnung, auf welche die Auslegung sich ausschließlich stützen könnte; man denke an staatsvertraglich vereinbarte Kollisionsnormen, aber auch an zentrales Kollisionsrecht in einem Staate mit mehreren gleichberechtigten Teilrechtsordnungen, z. B. das Schweizer NAG von 1891 bis zum Erlaß des ZGB von 1907 oder die polnischen Gesetze von 1926 über die internationalen und über die interlokalen Privatrechtsver­ hältnisse bis zur Rechtsvereinheitlichung in Polen nach dem zweiten Weltkrieg. Praktisch entwickeln sich die Rahmenbegriffe des IPR schrittweise im Wege der Rechtsprechung, und zwar in der Regel immerhin von den entsprechenden Begriffen des inländischen bürgerlichen Rechts aus364; wir können sagen, daß sie sich um einen nationalen Begriffskern „her­ umkristallisieren“365. Und wenn sie sich in ihrer Entwicklung durch aus­ ländisches Rechtsgut anreichern, so bleibt doch die Entscheidung, was noch unter den Begriff des nationalen Kollisionsrechts fallen soll und was nicht, grundsätzlich Sache des inländischen Rechtes. Jedoch ist Vorsicht gegenüber einer Erweiterung des inländischen Begriffs durch rechtsvergleichende Qualifikation dann am Platze, wenn die in Rede stehende Kollisionsnorm in der Wahl ihrer Anknüpfung speziell auf den inlän­ dischen Typ der betreffenden Institution zugeschnitten ist und für ausländische Formen nicht paßt. Beispielsweise beruht die deutsche Kollisionsnorm über die Adoption mit ihrer grundsätzlichen Anknüpfung an die Person des Annehmen­ den (Art. 22 I EGBGB) offensichtlich auf derselben „patriarchalischen“ Auf­ fassung der Adoption als eines Institutes im Interesse kinderloser Erwachsener wie ursprünglich das materielle Adoptionsrecht des BGB. Man darf nun nicht z. B. die italienische Pflegekindschaft (affiliazione) mit der Begründung als eine Art der Adoption qualifizieren (und daher gemäß Art. 22 EGBGB dem Personalstatut der Pflegeeltern unterstellen), daß in den meisten neueren 883 Rabel, Qualifikation 249, 287. 884 Gamillscheg, Int. ArbeitsR 19 N. 43, stellt die Faustregel auf: Eine Quali­ fikation zu anderen Zwecken ist bis zum Beweis des Gegenteils auch für das IPR brauchbar. In diesem Sinne ist die übliche Formel, ein fremdes Rechtsinstitut sei so einzuordnen, wie es als inländisches vermutlich eingeordnet wäre, als erste Orientie­ rung nützlich. 385 Wengler, ZvglRW 55 (1942/44) 326.

Adoptionsgesetzen die Adoption ebenso wie die Pflegekindschaft vor allem dem Wohle elternloser Kinder diene. Vielmehr muß man erwägen, die deutsche Kollisionsnorm über die Adoption so einschränkend wie möglich auszulegen, un'd muß jedenfalls die italienische Pflegekindschaft nach Analogie der Vor­ mundschaft (Art. 23 EGBGB) dem Personalstatut des Kindes unterstellen366.

Seltene Ausnahmen sind nationale Kollisionsnormen, die ausdrücklich auch ein ausländisches, im Inland nicht bekanntes Rechtsinstitut berück­ sichtigen. So erwähnt Art. 16 des griechischen ZGB neben der Ehescheidung auch die im griechischen Recht unbekannte und von griechischen Gerichten nicht einmal für Ausländer auszusprechende Trennung von Tisch und Bett, damit der grie­ chische Richter bei Bedarf über die Anerkennung einer ausländischen Trennung zu urteilen weiß. - Das tunesische Dekret vom 12. 7. 1956/24. 6. 1957 nennt in seinem kollisionsrechtlichen Art. 4 eine Reihe von Instituten, die es im inter­ nen tunesischen Recht nicht gibt (z. B. Güterstand und Legitimation)367.

3. Die grundsätzliche Zugehörigkeit der kollisionsrechtlichen Rah­ menbegriffe zum nationalen Recht schließt nicht aus, daß diese Begriffe — wie das gesamte Kollisionsrecht — von einer allmählichen internatio­ nalen Vereinheitlichung erfaßt werden. Das kann nicht nur durch aus­ drückliche Rechtsetzung (Staatsverträge oder übereinstimmende natio­ nale Gesetze, siehe oben §§ 2 II, 6 III) geschehen, sondern auch auf dem stilleren Wege der wissenschaftlichen und richterlichen Auslegung und Fortbildung. „RechtsVergleichung als universale Interpretationsmetho­ de“368 ist ja auch für das materielle Recht als Mittel der organischen Rechtsangleichung oder -Vereinheitlichung erkannt worden; erst recht kann sie im Kollisionsrecht diese Rolle spielen. Das Kollisionsrecht be366 Vgl. zu der gleichgelagerten Frage im italienischen IPR: RabelsZ 26 (1961) 187. - Nach F. Vischer, IPR, in: Schweizerisches Privatrecht I (1969) 509 (625) = D.i.p. (Traite de droit prive suisse 1/4; 1974) 127, rechtfertigt sich die Anknüpfung an die Person des Adoptierenden „im Hinblick darauf, daß das Kind durch die Adoption in den Rechtskreis des Adoptierenden eintritt“. Aber durch diesen Umstand mag wohl das eigene Personalstatut des Kindes sich ändern, jedoch ist eine Spaltung zwischen dem Personalstatut des Kindes (das nach Art. 22 II EGBGB immerhin mit zu berück­ sichtigen ist) und dem Adoptionsstatut m. E. bedenklich; vgl. unten § 20 II, vorletzter Absatz. 367 Jambu-Merlin, Le droit prive en Tunisie (1960) 183, 268. Historisch er­ klärt sich diese Regelung daraus, daß vom Erlaß des Dekrets bis zu seiner zweiten Änderung durch Dekret vom 27. 9. 1957 das französische Recht, das die betreffenden Institute enthält, als Personalstatut der nicht-islamischen und nicht-jüdischen Tunesier galt (Art. 1 II des Dekrets vom 12. 7. 1956) ; vgl. Jambu-Merlin a.a.O. 180 f. 368 ZWEIGERT, RabelsZ 15 (1949-50) 5 ff.

nötigt ohnehin zur Entfaltung seiner Rahmenbegriffe die Anschauung ausländischen Rechtes, also die Rechtsvergleichung (oben § 9 II 1). Warum sollte nicht - trotz verschiedener nationaler „Kristallisations­ kerne“ - im Ergebnis die Berücksichtigung derselben Rechtsinstitute in allen Kollisionsrechten zu international einheitlichen Rahmenbegriffen führen? Rabel hat diesen Gedanken in die apodiktischen Worte gekleidet: „Eine all­ gemein brauchbare Rechtsvergleichung erreicht... [internationale] Einheitlich­ keit der Qualifikation.“389 Mit der Ungeduld des Genies, das den zweiten Schritt fast gleichzeitig mit dem ersten tut, hat er an den Gedanken der Eman­ zipation des Kollisionsrechts vom materiellen Recht sogleich den zweiten, noch kühneren angeschlossen und gesagt: „Erlösen wir die Kollisionsrechte aus den Fesseln der [materiellen] lex fori, so werden sie sich dank der Rechtsverglei­ chung einander anpassen.“* 370 Er hat sich damit den Vorwurf zugezogen, seine Theorie verlasse den sicheren Boden des nationalen Rechts. Aber es geht ja nicht um eine Abkehr vom positiven Kollisionsrecht, sondern um eine Lücken­ füllung aus der Natur der Sache. Auch wenn man daran festhält, daß das IPR nicht nur an seine eigene Gesetzlichkeit gebunden ist, sondern zugleich an die Wertentscheidungen der nationalen Rechtsordnung als ganzer, bleibt doch ein weites Feld nicht spezifisch nationaler Begriffsbildung, für welche eine rechts­ vergleichende Qualifikation gestattet und geboten ist.

III. Im übrigen verliert der Streit um das Qualifikationsstatut dort an Be­ deutung, wo die früher vorwiegende rechtskonstruktive Qualifikation durch eine funktionelle Qualifikation ersetzt wird, d. h. durch eine Qualifikation gemäß der Funktion der einzelnen Institute im Rechtsle­ ben. Denn da die Lebensverhältnisse und die daraus resultierenden Pro­ bleme in der modernen Welt weit mehr übereinstimmen als die rechts­ konstruktiven Formen ihrer Bewältigung371, kann eine funktionelle Qualifikation sich leichter über die Grenzen der einzelnen Rechtsord­ nungen erheben als eine konstruktive372. 389 Rabel, Qualifikation 267. 370 Rabel a.a.O. 287. 371 Vgl. oben §915 nach N. 250. 372 Vgl. schon Hans Lewald, Regles generales des conflits de lois: Rec. des Cours 69 (1939-III) 1 ff. (auch als Buch: Basel 1941), 81 (bzw. 80): „Le caractere technico-juridique attribue Institution en cause par le droit etranger est indifferent, pourvu que cette Institution corresponde, quant ä sa fonction juridique, a celle envisage par la regle de conflit." 9 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

So empfiehlt sich für die Abgrenzung von prozessualen und materiellrecht­ lichen Fragen anstelle der meist national gefärbten rechtkonstruktiven Quali­ fikation eine solche nach dem funktionellen Zusammenhang. Daher sollte man einerseits die Frage nach einer Schadenersatzpflicht für Prozeßhandlungen und nach der Tragung der Prozeßkosten373, selbst wenn man sie an sich als ma­ teriellrechtlich ansieht, hinsichtlich der Rechtsanwendung zum Prozeßrecht schlagen. Anderseits sind die Fragen, die mit bestimmten Instituten des mate­ riellen Rechts verbunden sind, als dessen Zubehör zu behandeln, so in der Re­ gel Partei- und Prozeßfähigkeit, Prozeßführungsrecht und -pflicht, Klagbar­ keit und Zulässigkeit von Unterlassungsklagen, Klagausschlußfristen, Verjäh­ rung, Beschränkung der zulässigen Beweismittel (in welcher ein mittelbarer Zwang zur Beachtung gewisser Geschäftsformen schon vor dem Prozeß liegen kann374), Beweislast und Umfang der Rechtskraft375. 376 Die deutschen Lohn­ pfändungsgrenzen (§§ 850 ff. ZPO) werden in Deutschland als Verfahrensrecht auch bei der Pfändung wegen fremdrechtlicher Ansprüche angewandt; in an­ deren Ländern, die keine entsprechenden Regeln besitzen, können sie aber als materiellrechtliche Begrenzung insbesondere deutscher Unterhaltsansprüche qualifiziert werden378. Auch der Streit um Heimfall- oder Erbrecht des Fiskus an Nachlässen, für die sonst kein Erbe da ist (bona vacantia), sollte auf funktioneller Basis entschie­ den werden: Mag das Recht des Staates nach seinem Ursprung und in manchen Rechtsordnungen auch nach seiner heutigen rechtlichen Ausgestaltung ein Ho­ heitsrecht sein (das sinngemäß die im eigenen Gebiet befindlichen Vermögen erfaßt), so liegt seine Hauptaufgabe doch - wie die eines sonstigen Erbrechts - in der Ordnung des Nachlasses. Kollisionsrechtlich ist es daher diesem gleichzustellen377. 373 ZPO §§ 89 I 3, 302 IV 3, 600 II, 717 II 1 und 945 bzw. S§ 91 ff. Zum Pro­ zeßkostenvorschuß unter Ehegatten siehe unten N. 375. 374 Siehe aber zum Niedergang des Legalbeweises und Vordringen richterlicher Be­ weiswürdigung in Frankreich und Italien, wodurch der indirekte Formzwang entfällt, Frey, Anwendung ausländischer Beweismittelvorschriften durch deutsche Gerichte: NJW 1972, 1602 ff. 375 Zur Exemplifizierung am deutschen Recht siehe RabelsZ 20 (1955) 237 f. Nach Kallenborn, Die Prozeßkostenvorschußpflicht unter Ehegatten im interna­ tionalen und ausländischen Privatrecht (1968) 135 ff. (zustimmend bespr. durch Pe­ ter Schlosser, RabelsZ 35 [1971] 585 ff.), ist diese Pflicht wegen ihres engen funktionellen Zusammenhangs mit dem Armenrecht in der Regel ebenfalls nach der lex fori zu beurteilen (zustimmend auch OLG Stuttgart 19. 12. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 45); Ehewirkungs- und Ehegüterstatut sollen sekundär zum Zuge kommen (ein Fall der Tripelqualifikation, siehe oben § 14 II a. E). 376 Vgl. (für die Niederlande) Jessurun D’OLIVEIRA, FamRZ 1969, 632-635. 377 Wenn der Staat des Erbstatuts sich um ausländisches Nachlaßvermögen nicht kümmert, kann darin eine versteckte Rückverweisung (vgl. unten § 37) auf die lex rei sitae liegen. Dies dürfte besonders für das englische Recht gelten; der in der Voraufla­ ge als Beleg für das Gegenteil zitierte Fall In re Turton"s Estate^ 192 N. Y. S. 2d 254

Über die Abgrenzung von Form und Inhalt siehe unten § 17.

Ohne funktionelle Qualifikation führt die verschiedene rechtliche Ausgestaltung von Lösungen derselben Sachprobleme in einzelnen Rechtsordnungen leicht zur Subsumtion unter verschiedene Kollisionsnor­ men und damit - wie in einem System einseitiger Kollisionsnormen zu positiven und negativen Kompetenzkonflikten (Normenhäufung und Normenmangel, vgl. oben § 4 II 1 b). Das vielleicht wichtigste Beispiel einer rechtskonstruktiven statt funktionei­ len Qualifikation bildet in der bisherigen deutschen (wie ausländischen) Praxis die Behandlung der vermögensrechtlichen Ansprüche des überlebenden Ehegat­ ten, wo scharf unterschieden wird zwischen güterrechtlichen Ansprüchen (ge­ mäß Art. 15 EGBGB nach dem Heimatrecht des Ehemannes zur Zeit der Ehe­ schließung zu behandeln) und den erbrechtlichen Ansprüchen (die nach Artt. 24 f. dem Heimatrecht des erstverstorbenen Ehegatten zur Zeit seines Todes unterstehen) - unbekümmert darum, daß beide Arten von Ansprüchen doch denselben Zweck haben, nämlich den überlebenden Ehegatten abzufinden und zu versorgen, und daß daher oft der eine Anspruch mit Rücksicht auf das Vor­ handensein eines anderen entfällt (zum Beispiel im deutschen Recht bei der fortgesetzten Gütergemeinschaft378).379 Die funktionelle Qualifikation bestände hier darin, daß man das Güterstatut auf die VermögensVerhältnisse zu Lebzei­ ten beider Ehegatten beschränkt, dagegen die Abwicklung des Güterstandes nach dem Tode eines Gatten (also etwaige Fortsetzung der Gütergemeinschaft, Auseinandersetzung des Gesamtguts, Teilung des Zugewinns und Erbrecht des Überlebenden) völlig dem Erbstatut des Erstversterbenden überläßt. Freilich sind auch dann gewisse Schwierigkeiten denkbar (ebenso wie bei einem Wech­ sel des Güterstandes während der Ehe, siehe unten § 40 I); aber grobe Unbillig­ keiten - weil etwa das Güterrecht die Ehefrau zu Lebzeiten benachteiligte im Hinblick auf einen Vorteil nach dem Tode des Mannes, den ihr das Erbstatut nun vorenthält - dürften seltener sein als nach der bisherigen Praxis879. (Surr. Ct. N. Y. Cty. 1959), in dem die Regierung von Britisch-Honduras in New York belegenes Vermögen als bona vacantia beanspruchte, war wohl eine Ausnahme (vgl. IPG 1973 Nr. 37, Hamburg G 156/72). 378 § 1483 I 3 BGB. 379 Rabel hat zunächst in Qualifikation 283 N. 4 diese Lösung de lege ferenda erwogen, aber in Conflict I2 410 und IV 366 hat er resigniert. Nur für den Konflikts­ fall vertreten die im Text empfohlene Lösung Michaeli, IPR (Stockholm 1948) 93, und Kegel, in: Festschrift H. Lewald (Basel 1953) 285, dieser mit dem treffenden Zusatz: „Überhaupt würde ich grundsätzlich mehr zu einer internationalprivatrechtli­ chen Hilfe neigen, weil die Störung (Anwendung von Teilen verschiedener Rechtsord­ nungen) durch das IPR verursacht ist.“ In die gleiche Richtung tendiert Schnit­ zer, IPR I 116. Eine entsprechende Änderung der deutschen Praxis ist jedoch m. E. nicht angebracht. Denn um der Kontinuität des Rechtes willen sind radikale Änderun­ gen der Rechtsprechung nur dann zu verantworten, wenn sie auch der lex ferenda ent-

IV. Eine weitere Relativierung erfährt die Frage, ob bei der Qualifikation auf dieses oder jenes materielle Recht zu sehen ist, durch eine am Ergeb­ nis orientierte teleologische Qualifikation^, Es ist nach heutiger Me­ thodenlehre durchaus legitim, bei der Auslegung eines gesetzlichen Tat­ bestandes auch die mit ihm verbundene Rechtsfolge ins Auge zu fassen und auf ein billiges Ergebnis auszugehen. Das entspricht der uralten Re­ gel, daß statuta onerosa oder gar odiosa enger auszulegen sind als be­ günstigende Gesetze. Für das IPR soll damit nicht gesagt sein, daß der materielle Inhalt der im Einzelfall konkurrierenden Rechtsordnungen dafür maßgebend sein soll, welche von ihnen zur Anwendung kommt (vgl. oben § 4 III). Aber welche Anknüpfung bei dieser oder jener Qua­ lifikation gilt - ob Ortsrecht oder Personalstatut zur Anwendung kommt, ob Vater- oder Kindesrecht -, kann wichtiger sein als die „Na­ tur“ eines Rechtsinstitutes. V gl. die obigen Beispiele funktioneller Qualifikation, in denen bereits mitbe­ rücksichtigt ist, welche Anknüpfung im einen oder im andern Fall zum Zuge kommt. Ein weiteres Beispiel bietet die islamische Anerkennung eines Kindes, die entgegen ihrer formellen Natur als bloße Feststellung der (angeblichen) ehelichen Abstammung nicht gemäß Art. 18 EGBGB nach dem Heimatrecht 'des Vaters zur Zeit der Geburt des Kindes, sondern wie Legitimation und Adoption nach dem Heimatrecht zur Zeit der Anerkennung beurteilt wird881.

Natürlich hat auch diese Methode ihre Grenzen; z. B. kann man nicht jede beliebige Rechtsfolge einfach deshalb als prozessual qualifizieren, weil man ohne Bemühung des ordre public zur Anwendung der lex fori gelangen möchte (vgl. unten N. 1029). Von der Abgrenzung verschiedener Kollisionsnormen kommen wir zu dem Problem der Teilfrage.

sprechen. Als solche empfiehlt sich aber eine Überwindung der Spannung zwischen Güter- und Erbstatut in dem Sinne, daß für die Beerbung eines verheirateten Erb­ lassers das Ehewirkungsstatut gilt (wie die Erbrechtskommission des Deutschen Rates für IPR vorgeschlagen hat; vgl. dazu FamRZ 1970, 13). 380 In etwas anderm Sinne gebraucht den Ausdruck Kropholler, EinheitsR 331, nämlich für eine Qualifikation, die „auf die Ziele der Kollisionsnorm sowie auf Zweck und Funktion der Institute des materiellen Rechts abstellt.“ 381 So das Institutsgutachten G 194/73 vom 30. 7.1974.

5 16: 7eilfrage - Erstfrage

I.

Als Teilfrage kann man im Kollisionsrecht die Frage nach der Beur­ teilung wesentlicher Bestandteile einer Rechtsfigur bezeichnen382, seien diese Bestandteile nun für das betreffende Institut spezifisch (z. B. die Deliktsfähigkeit für die unerlaubte Handlung) oder seien sie für mehre­ re Rechtsfragen gemeinsam geregelt (z. B. die Geschäftsfähigkeit für ob­ ligatorische und dingliche Rechtsgeschäfte). Man kann den Begriff der Teilfrage aber auch weiter fassen und statt von einer einzelnen Institution von einem größeren Rechtskomplex aus­ gehen, so daß als Teilfrage z. B. die Testierfähigkeit oder die Beschrän­ kung der Erbenhaftung innerhalb des umfassenden Rechtsgebietes Erb­ recht erscheint oder die Zulässigkeit der Auslandsscheidung im Ehe­ recht. Schließlich kann man - wie bei andern Fragen des Kollisions­ rechts - statt von der Rechtsordnung vom konkreten Lebensverhältnis ausgehen und einen Einzelaspekt eines internationalen Sachverhalts als Teilfrage bezeichnen, z. B. das Verhältnis eines Kindes zu seiner Mutter innerhalb des Gesamtkomplexes seiner familienrechtlichen Situation. Diese Unterschiede der Fassung sind nicht wesentlich. Die Hauptsa­ che ist der Gedanke, daß Teilfragen in der Regel nicht aus dem Ganzen, zu dem sie gehören, herausgelöst werden sollen, weil sonst ungereimte Ergebnisse entstehen können383. Die Bestandteile einer Rechtsfigur und auch eines größeren Rechtskomplexes, ja des gesamten Privatrechts sind vielfach so aufeinander abgestimmt, daß im Einzelfalle nicht ohne wei­ teres dieses oder jenes Stück durch die entsprechende Regelung einer an­ dern Rechtsordnung ersetzt werden kann. Form und Inhalt, Vorausset­ zungen und Wirkungen eines Rechtsgeschäfts, aber auch einzelne Wir­ kungen untereinander und sogar die verschiedenen Teile einer Privat­ rechtsordnung - z. B. Vertrags- und Deliktsrecht, Schuld- und Sachen­ recht - stehen oft in einem inneren Sinnzusammenhang, der leicht ver­ 382 So Serick, Die Sonderanknüpfung von Teilfragen im IPR: RabelsZ 18 (1953) 633 ff. 383 Gleichgültig ist dabei, ob die Abspaltung durch Aufstellung einer gesonderten Kollisionsnorm geschieht (wie durch Art. 7 EGBGB für die Geschäftsfähigkeit, durch Art. 11 für die Form der Rechtsgeschäfte) oder in einer einzigen Kollisionsnorm durch getrennte Anknüpfung (z. B. in Art. 13 I für die Ehefähigkeit usw. jedes Verlobten). Niederer, Einführung (oben N. 276) 208, spricht im ersten Fall von exogener, im zweiten Fall von endogener Spaltung. - Auch macht es wenig aus, ob nur ein kleiner Teil abgespalten oder das Lebensverhältnis sozusagen halbiert wird.

lorengehen kann, wenn Fragmente verschiedener Rechtsordnungen auf denselben Fall angewandt werden. (Vgl. oben § 15 III letzter Absatz über den Zusammenhang von Güterstand und Erbrecht.) Insbesondere ist zu warnen vor der Entleerung eines Begriffs durch Abspaltung wesent­ licher Einzelheiten. So wird die Anerkennung eines im Ausland begrün­ deten Status zu einer inhaltslosen Phrase, wenn man den Status als sol­ chen und seine Wirkungen zu scharf trennt384. Z. B. geht es nicht an, zwar den Bestand einer Ehe, die anderswo nach dorti­ gem Recht gültig geschlossen ist, als „Status“385 anzuerkennen, das Zusammen­ leben der Eheleute aber als unwesentliches „incident“ zu untersagen, wie es bis vor kurzem anscheinend im Süden der Vereinigten Staaten teilweise gegenüber den im Norden oder im Ausland geschlossenen Rassenmischehen geschah386. Dogmatisch noch grotesker, aber praktisch erträglicher ist der Begriff des „di­ visible divorce“ (divisibility of marriage), d. h. die Anerkennung gewisser nach­ barstaatlicher Ehescheidungen zwar hinsichtlich des „Status“ (d. h. praktisch: Zulässigkeit einer Wiederheirat), aber nicht hinsichtlich einer einzelnen Wir­ kung, nämlich der Unterhaltspflicht gegenüber dem Ehegatten387. - Anderseits ist die Schließung einer neuen Ehe zu bedeutsam für viele daraus folgende Rechtsverhältnisse, als daß man ihre Zulässigkeit stets dem Scheidungsstatut der ersten Ehe unterstellen könnte, wenn dieses vom Personalstatut des Wie­ derheiratenden abweicht388. 384 Vgl. Jochem, FamRZ 1975, 302: „Wo keine Wirkungen, da auch kein Status. Die Anerkennung eines Status ist bloßer Verbalismus, wenn nicht zugleich Wirkungen anerkannt werden.“ - Immerhin kennt den Unterschied zwischen „den rechtlichen Eigenschaften an sich und den daraus hervorgehenden Rechtswirkungen“ bei „gewissen Eigenschaften der Person, z. B. Adel, Volljährigkeit etc.“ schon Wächter (oben N. 272) 175 ff. unter Berufung auf „die ältere Schule“. 385 Zum englischen Begriff des „Status“ siehe unten § 26 a. A. 386 Siehe Leflar (oben N. 110) 530: „The right to cohabit is a usual incident to the marital Status, but not a necessary one.“ Anscheinend wollte man auf diese Weise die offene Nichtanerkennung nachbarstaatlicher Eheschließungen vermeiden und den Partnern solcher Ehen immerhin ihre vermögensrechtlichen Ansprüche aus der Ehe be­ lassen. 387 Siehe z. B. Vanderbilt v. Vanderbilty 147 N. Y. S. 2d 125 (Ist Dep., 1955), 354 U. S. 416 (1957). Man umgeht auf diese Weise die Regel, daß nach der Scheidung keine Unterhaltsansprüche mehr geltend gemacht werden können, die nicht schon im Schei­ dungsurteil vorbehalten sind. Dagegen gibt es keine partielle Scheidung in dem Sinne, daß nach mehrmaligem Eheschließungsakt der Ehegatten eine Scheidung nur „eine der mehreren“ Ehe auflöst; vgl. AG Lüneburg 27. 10. 1955, IPRspr. 1954-55 Nr. 193, sowie Thynne v. Thynne, [1955] P. 272 (Held, that a decree of divorce dissolved the marriage Status and not the marriage ceremony). 388 Vgl. etwa OLG Hamm 5. 10. 1972, IPRspr. 1972 Nr. 44 (Verfassungsbeschwer­ de hiergegen abgelehnt durch Beschluß des BVerfG 23. 1. 1973, RabelsZ 37 [1973] 566 f.), und OLG Hamm 10. 8. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 36 (beide Urteile mit weiteren Nachweisen): keine Befreiung eines Italieners von der Beibringung eines italienischen

Auch besteht die Gefahr der Zerstörung des Sinnzusammenhangs ge­ genseitiger Rechtsverhältnisse, wenn z. B. in der Ehe eines Sowjetrussen mit einer Französin wohl die Frau nach ihrem Recht dem Manne gegen­ über, aber nicht der Mann nach seinem Heimatrecht der Frau gegenüber zum Zusammenleben verpflichtet ist oder das in Deutschland errichtete gemeinschaftliche Testament eines Franzosen und seiner deutschen Frau nicht den Mann, aber die Frau bindet oder wenn unter Geschwistern verschiedener Staatsangehörigkeit die Schwester zwar den Bruder, aber der Bruder nicht seine Schwester zu unterhalten hat oder dergl.889 An­ derseits ist eine Doppelbeanspruchung zu befürchten, falls beispielsweise Schuldverhältnis und zugehöriges Sicherungsrecht nach verschiedenen Rechtsordnungen beurteilt werden und nach dem einen Statut etwa der ursprüngliche Gläubiger, nach dem andern ein Rechtsnachfolger den Schuldner belangt. Ohne Rücksicht auf solche Erwägungen hält die deutsche Rechtsprechung theoretisch an der Spaltung gegenseitiger Rechtsbeziehungen hartnäckig fest: Wenn bei Schuldverträgen kein wirklicher oder hypothetischer Parteiwille auf ein einheitliches Vertragsstatut verweist, soll für die Verpflichtungen jeder Sei­ te das Recht des Erfüllungsortes (also ihres Wohnortes oder ihrer geschäftli­ chen Niederlassung) maßgebend sein, bei Verlöbnissen und Unterhaltsbezie­ hungen sogar immer das Heimatrecht des jeweiligen Beklagten389 390. Das dürfte weniger auf geistiger Trägheit beruhen als auf der Abneigung, sich generell festzulegen, zumal man auf diese Weise öfter zur Anwendung der lex fori ge­ langt (vgl. unten § 30 II 3).

Das Gegenteil der Aufspaltung in Teilfragen ist die Unterstellung ei­ ner prima facie selbständigen Frage unter das Recht eines benachbarten Instituts. Ein Beispiel solcher Anknüpfung nach dem Zusammenhang bietet die Gläu­ bigeranfechtung außerhalb des Konkurses: Das Anfechtungsrecht wird der lex causae des materiellen Anspruchs unterstellt, zu dessen Befriedigung die An­ fechtung geltend gemacht wird391. Ehefähigkeitszeugnisses, wenn er von einer deutschen Frau gemäß Art. 17 III EGBGB nach deutschem Recht geschieden worden ist. Siehe auch unten N. 959. 389 Zum Geschwisterunterhalt siehe unten § 47 III Mitte. Über die gegenseitigen Verpflichtungen der Verlobten siehe unten § 24 II 5. 390 Im Ergebnis kommt die Judikatur nach Karl F. Kreuzer, Das IPR des Warenkaufs in der deutschen Rechtsprechung (1964) 285, „zur Anwendung zweier Rechte auf ein einheitliches Vertragsverhältnis... in keiner Entscheidung. Seit nahezu vierzig Jahren hat es in der deutschen Rechtsprechung zum IKR [Internationalen Kaufrecht] keinen derartigen Fall mehr gegeben.“ 391 Fragistas, RabelsZ 12 (1938-39) 457, zustimmend M. Wolff, IPR 170. - Sollte dasselbe für die Haftung des Vermögensübernehmers nach § 419 BGB gelten?

II. Zu unterscheiden von der Teilfragenbildung ist die Differenzierung der kollisionsrechtlichen Fragestellung für verschiedene Lebensverhält­ nisse, die nur rechtsbegrifflich miteinander verwandt sind. So bemüht man sich seit Beginn des Jahrhunderts, bei der Bestimmung des Ver­ tragsstatuts nach Vertragstypen zu differenzieren392; und seit den fünf­ ziger Jahren geht die Diskussion um eine entsprechende Auflockerung des Deliktsstatuts unter Berücksichtigung besonderer Typen von uner­ laubten Handlungen und besonderer Gegebenheiten des Einzelfalls393. Problematisch wird die Abgrenzung zwischen berechtigter Differen­ zierung und unerwünschter Bildung von Teilfragen allerdings dort, wo eine Reihe von LebensVerhältnissen untereinander in lockerer Verbin­ dung stehen, besonders im Bereich des Familien- und Erbrechts. Denn die Schließung einer Ehe, ihre persönlichen und güterrechtlichen Wir­ kungen, die Abstammung der Kinder, die Beziehungen der Eltern zu ih­ ren Kindern, Ehescheidung und Erbfolge - sie alle hängen irgendwie miteinander zusammen, und doch kann man nicht sämtliche persönli­ chen und familiären Rechtsverhältnisse des Menschen von der Wiege bis zur Bahre oder gar die gesamten Rechtsverhältnisse einer ganzen Fa­ milie immer demselben Recht unterstellen394. Daran ändert auch die Forderung nach dem Schutz wohlerworbener Rechte nichts. Wieweit es möglich ist, wenigstens von der Existenz eines für unsere Rechtsordnung gültig zustande gekommenen Rechtsverhältnisses bei der Beantwortung aller getrennt anzuknüpfenden Fragen auszugehen, ist später zu prüfen (siehe § 46: Vorfrage).

III. Für die Behandlung von Teilfragen kann man, ohne auf Einzelheiten einzugehen, drei Richtlinien aufstellen.

1. Ein allgemeines Verbot der Sonderanknüpfung von Teilfragen oder auch nur ein Gebot, die gesetzlichen Vorschriften über solche An­ 392 Vgl. Makarov, Die Resolution des „Institut de Droit international" über das internationale Obligationenrecht von 1908 und deren Einfluß auf die nationalen Kodifikationen des Kollisionsrechts, in: Fs. Lewald (oben N. 379) 299 ff. 393 Siehe unten § 30 III 2. 394 Vgl. Frhr. von Schwind, Von der Zersplitterung des Privatrechts durch das IPR und ihrer Bekämpfung: RabelsZ 23 (1958) 449 (454-456).

knüpfungen möglichst eng auszulegen, ist nicht einmal de lege ferenda zu rechtfertigen. Auch der Hinweis, daß mit der Zahl der Einzelan­ knüpfungen das Risiko der Entscheidungsdisharmonie zunehme, schlägt nicht durch; hier wie anderswo darf das Ideal des Entscheidungsein­ klangs nicht zur Simplifizierung führen. Die altbewährten Sonderan­ knüpfungen für die allgemeine Geschäftsfähigkeit (die sich nicht nach dem oft selbstgewählten Statut des jeweiligen Rechtsgeschäftes, sondern in erster Linie nach der Person des Handelnden richtet: Art. 7 EGBGB) und für die Form der Rechtsgeschäfte (siehe unten §17) zeigen deutlich, daß die einheitliche Beurteilung eines Rechts- oder Lebensverhältnisses nach einem und nur einem Recht nicht immer der oberste Gesichtspunkt sein kann; vielmehr ist die gesonderte Beurteilung einer Teilfrage nach der ihr angemessenen Rechtsordnung unter Umständen wohl berech­ tigt395. Ein Beispiel für die berechtigte Abspaltung einer Teilfrage auch ohne aus­ drückliche Gesetzesvorschrift bildet die selbständige Anknüpfung der staats­ oder wirtschaftspolitisch begründeten Leistungsverbote und ähnlicher Eingriffs­ normen für Schuldverhältnisse (siehe oben § 4 II). Deren Gleichstellung mit dem gewöhnlichen Schuldrecht hat sich in der Praxis immer wieder als ver­ fehlt erwiesen, so daß es zu häufiger Anwendung der Vorbehaltsklausel des ordre public kam, bis die Wissenschaft die Notwendigkeit einer eigenen An­ knüpfung herausgestellt hat. Jedoch ist Zurückhaltung gegenüber der Sonderanknüpfung von Teilfragen am Platz, und man muß in jedem Fall vorsichtig prüfen, ob nicht durch punktuelle Verfeinerung ein größerer Zusammenhang unnö­ tig zerstört wird396. Ein abschreckendes Beispiel unglücklicher Zersplitterung bietet die Unter­ scheidung des Haager Minderjährigenschutzabkommens vom 5. 10. 1961 zwi­ schen Schutzmaßnahmen (Art. 1) und ex-lege-Gewaltverhältnissen (Art. 3); sie führt zu den schwierigsten Abgrenzungsfragen (so wenn neben einer gesetzli­ chen Regelung des Sorgerechts ergänzende oder korrigierende gerichtliche 305 Wenn Gamillscheg, Int. ArbeitsR 113, davon spricht, daß für die Abspal­ tung von Form und Geschäftsfähigkeit kein zwingendes Bedürfnis bestehe, so meint er das nur für den Arbeitsvertrag (vgl. a.a.O. 99 zur Form). 396 Diese Sorge ist weniger notwendig in Ländern, wo die verschiedenen in Be­ tracht kommenden Rechtsordnungen auf dem Boden desselben gemeinen Rechts stehen und daher Spannungen durch Systemdivergenzen, wie sie sich bei der Kombination verschiedener europäischer Rechtsordnungen leicht ergeben, kaum zu befürchten sind; vgl. etwa die große Zahl getrennt anzuknüpfender Teilfragen („issue-splitting") im De­ likts- und Vertragsrecht des amerikanischen Restatement2, §§ 156-164 bzw. 198-207.

Maßnahmen in Betracht kommen397) und mitunter zu Normenmangel (da z. B. für ein in Deutschland lebendes türkisches nichteheliches Kind das nach Artt. 1, 2 maßgebende deutsche Recht nur ein gesetzliches und das nach Art. 3 maß­ gebende türkische Recht nur ein gerichtlich bestelltes Sorgerecht vorsieht398).

2. Bisweilen empfiehlt sich ein Kompromiß zwischen der Sonderan­ knüpfung, die angesichts der Eigenart einer Teilfrage ratsam scheint, und der Unterwerfung unter ein allgemeines Statut, die der Wahrung des Zusammenhangs mit anderen Fragen dient. a) Als solcher Kompromiß ist zunächst die Wahl einer sehr ähnlichen Anknüpfung zu nennen. So knüpft Art. 21 EGBGB die Verpflichtungen des Vaters eines unehelichen Kindes gegenüber dem Kinde und der Mutter ebenso wie die Beziehungen zwi­ schen Mutter und Kind an die Staatsangehörigkeit der Mutter - mit der ein­ zigen Abweichung, daß Art. 21 unwandelbar auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes abstellt. Raape spricht hier von einem „Prinzip des Zusammen­ hangs“, von einer „akzessorischen Anknüpfung“399. 400

b) Eine andere Möglichkeit ist die zweistufige Anknüpfung^*. Für eine Einzelfrage, z. B. für die Gültigkeit der Errichtung oder Aufhebung einer Verfügung von Todes wegen oder für die Beschränkung der Er­ benhaftung, wird zunächst ein übergeordnetes Hauptstatut festgestellt (hier: das Erbstatut - erststufige oder Hauptanknüpfung). Sodann wird nur für den Fall, daß in concreto als Hauptstatut das inländische Recht zuständig ist, eine Sonderanknüpfung bestimmt (im ersten Beispiel etwa das Heimatrecht des Erblassers bei Errichtung, im zweiten das Wohn­ sitzrecht, vgl. Art. 24 III 1 bzw. Art. 24 II EGBGB - zweitstufige oder bedingte Anknüpfung); bei ausländischem Hauptstatut dagegen bleibt es dem fremden Kollisionsrecht überlassen, ob es eine entsprechende Rege­ lung trifft (die gegebenenfalls als Rück- oder Weiterverweisung gemäß Art. 27 EGBGB zu beachten ist, siehe unten § 35). Ebenso bestimmt Art. 7 II EGBGB nur für Deutsche, d. h. bei deutschem „Hauptstatut“ der Geschäftsfähigkeit, daß eine früher nach anderem Heimatrecht er­ worbene Volljährigkeit nicht verlorengeht. Mit Recht zieht Raape aus 397 Siehe etwa zur Kindesherausgabe Kropholler, FamRZ 1972, 516 f. 398 IPG 1973 Nr. 24 (Hamburg G 166/73) S. 231 f. 399 Raape, IPR 43 bzw. 361. Den ersten Ausdruck verwendet Fragistas (oben N. 391) für den Fall der identischen Anknüpfung (a.a.O. N. 1). 400 In einem andern Sinne als der folgende Text spricht von „zweistufiger“ oder „stufenweiser“ Anknüpfung Trenk-Hinterberger, NJW 1973, 1560: er meint eine alternative Anknüpfung zugunsten des Gläubigers.

Artt. 7 II und 24 III die Lehre, „daß der Gesetzgeber... dem neuen Heimatstatut nicht vorgreifen soll“401. Die zweistufigen Normen sind „negativ einseitige“ Kollisionsnormen, die im Gegensatz zu den positiv einseitigen Kollisionsnormen nicht die Zuständigkeit nur der inländischen, sondern die Zuständigkeit allein einer fremden Rechts­ ordnung festlegen und die Feststellung der inländischen Zuständigkeit für den entsprechenden Fall dem ausländischen Kollisionsrecht überlassen. Während die sog. Exklusivnormen (die nicht der Verallgemeinerung fähigen positiv ein­ seitigen Kollisionsnormen, siehe oben § 11 III 1) verschiedentlich für eine Teil­ frage beim Vorliegen gewisser Inlandsbeziehungen das primär maßgebende ausländische Recht zugunsten des inländischen Rechts ausschalten — z. B. Art. 7 III EGBGB für die Geschäftsfähigkeit, Art. 13 III für die Form der Ehe­ schließung, Art. 16 für die Einzelheiten 'des ehelichen Güterrechts -, wird hier umgekehrt beim Vorliegen gewisser Auslandsbeziehungen das primär maßge­ bende inländische Recht zugunsten ausländischen Rechts beiseite gesetzt.

3. Wo das Kollisionsrecht ein einheitliches Lebensverhältnis in mehre­ re Teilfragen zerlegt, muß das Kollisionsrecht auch für die richtige Zusammenjügung der Antworten sorgen. Wenn etwa für die Teilnahme eines Minderjährigen am Rechtsverkehr seine eigenen Handlungen nach dem Statut der Geschäftsfähigkeit beurteilt werden, dagegen die Handlungen seiner Eltern oder Adoptiveltern nach dem Eltern­ Kind-Statut bzw. Adoptionsstatut und die Handlungen eines Vormunds nach dem Vormundschaftsstatut, so muß das Kollisionsrecht bestimmen, in welcher Reihenfolge diese drei Statute zum Zuge kommen sollen, damit nicht etwa drei verschiedene Personen namens desselben Minderjährigen auftreten können402. 401 Raape, IPR 35. - Ähnlich empfiehlt die Familienrechtskommission des Deut­ schen Rates für IPR die Fortgeltung einer alten Güterstandsvereinbarung, wenn deut­ sches Recht Ehewirkungsstatut wird, mit der Begründung, „daß nur das neue Ehewir­ kungsstatut selbst die Aufrechterhaltung ausländischer Güterrechtsverträge bestimmen kann“ (Vorschläge ... Eherecht 23). 402 Art. 23 EGBGB trifft diese Bestimmung sehr unvollkommen, indem er für die Vormundschaft über einen Ausländer nur voraussetzt, daß „der Ausländer nach den Gesetzen dieses Staates [dem er angehört] der Fürsorge bedarf“, ohne auf eine mögli­ che elterliche Gewalt zu achten, die nach dem abweichenden Heimatrecht eines Eltern­ teils bestehen kann. Man denke z. B. an ein eheliches Kind argentinischer Eltern, das in Brasilien geboren und aufgewachsen ist und daher nur die brasilianische Staatsange­ hörigkeit besitzt: wenn der eine Elternteil gestorben ist und der andere zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt wird, so besteht nach dem brasilianischen Heimat­ recht des Kindes (Artt. 394/406 C. c.) wegen Wegfalls der elterlichen Gewalt ein Fürsorgebedürfnis, während nach dem argentinischen Eltern-Kind-Statut erst eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren die elterliche Gewalt berührt (vgl. Art. 308 C. c./Art. 12 C. pen.). Selbstverständlich geht hier die Rücksicht auf das durch Art. 19

Oder wenn die Novation eines Schuldverhältnisses kollisionsrechtlich aufgeteilt wird in die Aufhebung des bisherigen und die Begründung eines neuen Schuld­ verhältnisses, so muß das Kollisionsrecht die Verbindung zwischen den beiden Statuten herstellen, indem es anordnet, daß die Aufhebung des alten Schuld­ verhältnisses nicht ohne die Begründung des neuen erfolgt und umgekehrt. Ebenso ist in folgenden Fällen die Reihenfolge der Anwendung zweier Statute festzustellen, falls man nicht zu einer einheitlichen Anknüpfung gelangt: im Verhältnis von güter- und erbrechtlicher Teilung des Vermögens eines Verstor­ benen (vgl. oben § 15 III letzter Absatz), von Erbrecht des Fiskus und Heim­ fallrecht, im Verhältnis der Unterhaltspflicht des Zahlvaters eines unehelichen Kindes und des „mit Standesfolge" festgestellten Vaters oder der Unterhalts­ pflicht von leiblichen und von Adoptiveltern.

IV. Im Gegensatz zu den logisch nebeneinander stehenden Teilfragen ist die von Melchior als „Teil der Hauptfrage“403, von Jochem404 treffend als „Erstfrage“ bezeichnete Erscheinung eine präjudizielle Fra­ ge, und zwar eine solche, die sich bei der kollisionsrechtlichen Anknüp­ fung stellt. Die Erstfrage betrifft ein im Tatbestand der Kollisionsnorm vorausgesetztes Rechtsverhältnis. So setzen die Fragen nach den persönlichen Rechtsbeziehungen von Ehegat­ ten (Art. 14 EGBGB), nach dem Ehegüterrecht (Art. 15) oder nach Scheidung der Ehe (Art. 17) das Bestehen einer Ehe voraus, desgleichen die Frage nach der ehelichen Abstammung eines Kindes, wenn dabei an die Staatsangehörig­ keit des „Ehegatten der Mutter“ angeknüpft wird. Ferner wird bei den Fragen nach der Rechtsstellung eines ehelichen oder eines unehelichen Kindes (Artt. 19-22 EGBGB) die Feststellung der Ehelichkeit (durch Abstammung, Legiti­ mation oder Adoption) bzw. ihres Mangels vorausgesetzt. Weitere Beispiele solcher präjudizieller Fragen bieten405 bei der condictio indebiti das Nichtbeste­ hen der bezahlten Schuld, bei Schadenersatz- oder Unterlassungsansprüchen wegen unerlaubter Handlung die Innehabung des angeblich verletzten Rechtes durch den Kläger. Schließlich setzt die Beerbung den Tod bzw. die Todes­ oder Verschollenheitserklärung voraus.

Diese Erstfragen werden oft vermengt mit den von Melchior und Wengler so genannten Vorfragen, die erst nach vollzogener kollisi­ onsrechtlicher Anknüpfung der Hauptfrage bei der Anwendung des für berufene Eltern-Kind-Statut dem offenbar einen solchen Fall nicht berücksichtigenden Wortlaut des Art. 23 vor. 403 Melchior, Die Grundlagen des deutschen IPR (1932) 259. 404 Jochem, FamRZ 1964, 393 f. 405 Diese Beispiele bringt Melchior (oben N. 403) 259 f.

diese maßgebenden materiellen Rechts auftauchen (darüber unten § 46: Vorfrage). Ja, es mag bisweilen als bloße Sache der Formulierung erscheinen, ob eine Erstfrage vorliegt oder nicht. Fragt man z. B. nach dem Erbrecht „des überlebenden Ehegatten“, so wird das Bestehen einer Ehe vorausgesetzt, desgleichen bei der Frage nach der Legitimierung ei­ nes Kindes „durch nachfolgende Eheschließung“; die Existenz der Ehe ist also Erstfrage. Fragt man dagegen in diesen Fällen mit dem deut­ schen EGBGB schlechthin nach der Beerbung eines In- oder Ausländers (Artt. 24 f.) bzw. nach der Legitimation eines unehelichen Kindes (Art. 22), so bleibt es dem materiell maßgeblichen Erb- bzw. Legitima­ tionsrecht überlassen, ob es dem Bestehen einer Ehe hier Bedeutung bei­ legen will (Vorfrage). Anderseits könnte entgegen dem EGBGB z. B. das Verhältnis eines Kindes zu seiner Mutter ohne vorherige Prüfung seines Status als eheliches oder uneheliches Kind stets einheitlich angeknüpft werden, die Ehelichkeit könnte also Vorfrage anstatt Erstfrage sein. Bei näherem Zusehen handelt es sich hier aber doch um Sachfragen: Welche Elemente einer Rechtsfigur sind so wichtig und eigenständig, daß sie schon bei der kollisionsrechtlichen Anknüpfung geklärt sein müssen? Im einzelnen sind zwei Gruppen von Erstfragen zu unterschei­ den. Die gewöhnliche Erstfrage wird aus einem einheitlichen Tatbestand herausgelöst und aus logischen oder praktischen Gründen vorweg ange­ knüpft und entschieden, z. B. bei Ehewirkungen und Ehescheidungen die Frage nach der Existenz einer Ehe, bei der condictio indebiti das Nicht­ bestehen der Schuld. Dagegen wird die differenzierende Erstfrage wie ich sie nennen möchte — deshalb eingeführt, damit zwei verwandte Tatbestandstypen voneinander unterschieden und jeweils anders ange­ knüpft werden können, z. B. die Rechtsverhältnisse ehelicher und unehe­ licher Kinder (Artt. 19 bzw. 20 f.) oder die Abstammung der Kinder ver­ heirateter und nicht verheirateter Mütter (Art. 18 erfaßt nur die erste Gruppe)406, Legitimation durch Eheschließung und auf andere Weise (diese Unterscheidung trifft Art. 22 wohl zu Recht nicht), Beerbung un­ verheirateter und verheirateter Personen (vgl. oben N. 379 a. E.). Zu beantworten ist sowohl die gewöhnliche wie die differenzierende 406 Ob Kindern nicht verheirateter Mütter der Status eines ehelich geborenen Kin­ des schlechthin nicht zuerkannt werden kann - so BGH 22. 1. 1965, BGHZ 43, 213 (219) = IPRspr. 1964-65 Nr. 81b (S. 269)-oder ob z. B. Brautkinder, Kinder post­ mortal Getrauter oder nach islamischem Recht anerkannte Kinder in analoger Anwen­ dung von Art. 18 gemäß dem Heimatrecht des hypothetischen Ehemannes der Mutter als ehelich gelten können (siehe Neuhaus, FamRZ 1965, 542 f. und 1966, 146 f.), mag hier dahinstehen. Vgl. dazu unten § 46 II bei N. 957.

Erstfrage jeweils nach Maßgabe desselben Kollisionsrechts, das für die Anknüpfung der Hauptfrage gilt. Aber in der Regel ist eine andere Kol­ lisionsnorm einzuschalten (so für das Bestehen der Ehe in allen genann­ ten Fällen Art. 13 EGBGB, für die Ehelichkeit eines Kindes Art. 18 über die eheliche Abstammung oder Art. 22 über Legitimation und Adoption); ausnahmsweise kommt dieselbe Kollisionsnorm zweimal zum Zuge (z. B. bei der Klage aus Eigentum, wenn dessen Erwerb zweifel­ haft ist). Insgesamt zeugen auch Teil- und Erstfrage von dem nicht bloß technischen, sondern materiellrechtlichen Gehalt des IPR. Wir kommen auf die hier ange­ schnittenen Fragen unter einem anderen Aspekt zurück in dem Abschnitt „An­ passung“ (unten § 47).

5 17: Form und Inhalt

Das praktisch wichtigste Beispiel der Abspaltung einer Teilfrage bil­ det die gesonderte Anknüpfung der Form von Rechtsgeschäften. Die alte Regel „locus regit actum“ - also die Maßgeblichkeit des Ortsrech­ tes - gilt für die Geschäftsform fast überall in der Welt wenigstens al­ ternativ, auch wenn im übrigen für Rechtsgeschäfte nicht das Recht des Abschlußortes, sondern das des Erfüllungsortes oder das Personalstatut eines Beteiligten oder das von ihm gewählte bzw. von mehreren verein­ barte Recht maßgebend ist.

I. Ihre Rechtfertigung findet die Sonderanknüpfung der Form im Ge­ danken der Verkehrserleichterung: Soweit die Mitwirkung einer Behör­ de oder einer Amtsperson in Betracht kommt, wird diese in der Regel nur nach den Vorschriften ihres eigenen, des Ortsrechtes tätig werden; aber auch im übrigen soll der Handelnde sich nach dem Ortsgebrauch richten dürfen, da er die Formvorschriften der lex causae oft schwer er­ mitteln kann. Bei dem natürlichen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt bedeutet der Verzicht auf die Form der lex causae eine erhebliche Konzession, besonders wenn das Ortsrecht nicht einfach andere, sondern geringere Formerfordernisse aufstellt. Diese Lockerung des „rigor iuris“ erfolgt sozusagen als Ausgleich für die besonderen Schwierigkeiten und

Tücken des internationalen Rechtsverkehrs, damit die Zahl der ungülti­ gen Rechtsgeschäfte nicht zu groß wird. Umstritten ist die Frage, ob die Sonderanknüpfung der Form auch gegen den Willen der inhaltlich maß­ gebenden Rechtsordnung erfolgen soll. De lege lata ist dies in Deutsch­ land zu bejahen. Aber de lege ferenda muß man sich fragen, ob die An­ erkennung der Ortsform die Entscheidungsdisharmonie mit der lex cau­ sae immer lohnt.

II. Die Formulierung des Art. 1112 EGBGB - „Es genügt jedoch die Beobachtung der Gesetze des Ortes, an dem das Rechtsgeschäft vorge­ nommen wird“ - klingt mit ihrer Betonung der bloß subsidiären Gel­ tung des Ortsrechtes etwas lehrbuchhaft und ist historisch wohl aus dem nachwirkenden Einfluß Savignys zu erklären, der die Regel locus re­ git actum ausdrücklich als eine „bloße Begünstigung und Erleichterung“ gegenüber der „von dem allgemeinen Standpunkt“ anzunehmenden Gel­ tung des Wirkungsstatuts bezeichnet407. Warum bestimmt das Gesetz nicht einfach - wie der österreichische Entwurf von 1971408 in seinem § 7 - die alternative Geltung von lex causae und lex loci? Immerhin kann die gewählte Formulierung Anlaß geben, das Ortsrecht nur bei tatsächlicher Beachtung seiner Formvorschriften anzuwenden, dagegen die Folgen einer Verfehlung beider Formen (ob dann völlige oder par­ tielle Nichtigkeit des Geschäftes eintritt oder eine bloß abgeschwächte Geltung oder eine sonstige Sanktion) in jedem Fall nach der lex causae zu beurteilen409.

III. Die Abgrenzung des Begriffs der Form bereitet vielfach Schwierigkei­ ten. Bei einer forciert teleologischen Auslegung könnte man meinen: „Form ist alles das und nur das, was dem Ortsrecht unterstellt werden kann und soll.“ Dabei erhebt sich jedoch alsbald die Frage, von wel­ chem Standpunkt diese Wertentscheidung zu treffen ist: ob von der je­ weiligen lex fori aus (zu Lasten der internationalen Entscheidungshar­ 407 Savigny 358 bzw. 349. 408 Text in Z. f. Rvgl. 12 (1971) 161 ff.; dazu Neuhaus, ebd. 13 (1972) 81 (84). 409 Vgl. Raape, IPR 218: «... man soll sich vom Wirkungsstatut nicht weiter entfernen, als nötig ist.“

monie) oder von der lex causae her (was zur Bevorzugung der an­ spruchsvollsten Rechtsordnung auf Kosten des Verkehrs führt). Deshalb ist um der inländischen Rechtssicherheit wie der internationalen Ent­ scheidungsgleichheit willen grundsätzlich von dem normalen Gebrauch des Wortes „Form“ auszugehen410. Korrekturen aus praktischen Erwä­ gungen bleiben vorbehalten (unten IV). Negativ läßt sich wohl folgendes sagen:

1. Jedenfalls hat die Abgrenzung von Form und Inhalt nicht im Wege eines gegenseitigen Abwägens beider Begriffe zu erfolgen. Denn der Begriff des Inhalts ist nicht positiv zu definieren, sondern nur subtraktiv von der Form her: Ebenso wie als bewegliches Vermögen nur und alles gilt, was nicht unbewegliches Vermögen ist411, wie als Vormund­ schaft nur gilt, was nicht Elternrecht ist412, so hat im Verhältnis von Inhalt und Form eines Rechtsgeschäftes der Begriff der Form den logi­ schen Vorrang, sozusagen die Kompetenzkompetenz.

2. Nicht zur „Form eines Rechtsgeschäftes“ gehört die Frage, ob überhaupt ein Rechtsgeschäft erforderlich ist bzw. genügt oder ein Ho­ heitsakt benötigt wird. Zwar mag es als bloße Formalität ohne ernstli­ chen sachlichen Unterschied erscheinen, ob eine Adoption durch gericht­ lich bestätigten Vertrag oder direkt durch Gerichtsbeschluß erfolgt, ob eine Ehetrennung oder -Scheidung durch Erklärung vor dem Standesbe­ amten, der sie nur registriert, oder durch gerichtliches Urteil bewirkt wird, das vielleicht auf gemeinsamen Antrag ergehen muß, ob eine juri­ stische Person durch Vertrag und Eintragung entsteht oder durch Ver­ leihung einer Urkunde. Aber Formfragen im Sinne der Regel locus regit actum sind das schon deshalb nicht, weil die Person des Erklärenden je­ weils verschieden ist. 3. Die Qualifikation einer Norm als Form Vorschrift wird nicht durch ein materiellrechtliches Motiv des Gesetzgebers ausgeschlossen. Denn die meisten Formvorschriften haben ein materielles Motiv, ausgenommen Vorschriften, die bloß der Klarstellung oder der Sicherung des späteren 410 Gegen eine Qualifikation als Inhalt oder Form je nach dem mehr oder weniger zwingenden Charakter oder nach der zugehörigen Sanktion (bei Ehevoraussetzungen) Pälsson, Marriage and Divorce in Comparative Conflict of Laws I (Leiden 1974) 322 f. 411 Vgl. oben § 15 II 1 bei N. 358. 412 Vgl. etwa Knöpfel, FamRZ 1959, 484 f. (zum Haager Vormundschaftsabkom­ men; dort allerdings umstritten, siehe KOLLEWIJN, Clunet 88 [1961] 874).

Beweises dienen. Insbesondere sind der Schutz der freien Willensbil­ dung des Erklärenden vor unlauterer Beeinflussung und der Schutz vor Übereilung typische Motive für Formvorschriften, desgleichen die Ver­ hinderung verbotener Rechtsgeschäfte413. Die Anordnung ausdrückli­ cher, schriftlicher, holographischer, öffentlicher oder höchstpersönlicher Erklärung erfolgt meistens aus dem einen oder dem andern dieser Grün­ de414. * * 4. Sicherlich ist eine Form, die beim objektiven Beobachter den Ge­ danken an eine Beeinflussung des einen Teils durch den anderen nahe­ legt, etwa die Gemeinschaftlichkeit der Errichtung eines Testaments, immer noch als Form anzusprechen. Über den tatsächlichen Grad der Freiheit oder Unfreiheit des Willens im Einzelfall ist damit nichts ge­ sagt, so wie der Unterschied zwischen mündlicher, privatschriftlicher oder öffentlicher Abgabe einer Erklärung nichts über den Grad der tatsächlichen Überlegtheit sagt. 5. Auch die Tatsache, daß eine bestimmte Form bei den Beteiligten gewisse inhaltliche Vorstellungen hervorruft (z. B. ein gemeinschaftli­ ches Testament den Gedanken an eine gegenseitige Bindung), ändert nicht ihren Charakter als bloße Form. Man denke nur daran, daß in der Volksanschauung vielfach jede mündliche Vereinbarung für weniger rechtsverbindlich gehalten wird als eine schriftliche. Wenn also die Be­ teiligten Form und Inhalt nicht klar zu unterscheiden wissen und daher bei Abgabe einer Erklärung in den Formen des Ortsrechts meinen, es müßten nunmehr auch materiellrechtlich die Wirkungen des betreffen­ den Rechtes eintreten, so hebt das die Unterscheidung von Form und In­ halt nicht auf. 413 Vgl. die Aufzählung von Karl Heldrich, Die Form des Vertrages: AcP 147 (1941) 89 (91 ff.), der folgende Zwecke von Formvorschriften unterscheidet: 1. Abschlußklarheit, 2. Inhaltsklarheit, 3. Beweissicherung, 4. Übereilungsschutz, 5. Er­ kennbarkeit für Dritte, 6. fachmännische Beratung, 7. Überwachung im Sinne des Ge­ meinschaftsinteresses, 8. Erschwerung des Vertragsschlusses im Interesse der Gemein­ schaft. (Die Nummern 1, 2 und 5 habe ich im Text mit „Klarstellung“ zusammenge­ faßt.) Bei H.-F. Thomas, Formlose Ehen (1973) 123 ff., werden daraus Schutzfunk­ tionen (für Nrn. 4 und 6), Klarstellungsfunktionen (für Nrn. 1 und 2), Beweisfunktio­ nen (Nr. 3), Publizitätsfunktion (Nr. 5) und Kontrollfunktion (Nrn. 7 und 8); hinzu kommt bei ihm die mehr historische Solennitätsfunktion. 414 Vgl. BGH 19. 12. 1958, BGHZ 29, 137 (141 f.) = IPRspr. 1958-59 Nr. 112 (S. 392), zur Eheschließung: „Die Sicherung des Beweises, der Hinweis auf die Bedeu­ tung der abzugebenden Erklärung und die Verhinderung übereilter und verbotener Rechtsgeschäfte sind ... Sinn und Zweck aller Form Vorschriften.“ 10 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

6. Selbst wenn die Form eines Rechtsgeschäfts ausnahmsweise nicht nur die Gültigkeit oder Ungültigkeit des erklärten Willens berührt, son­ dern eine Modifizierung des Inhalts bewirkt, so daß andere Wirkungen eintreten, als wenn die Person ihre Erklärung in einer sonstigen, zur Verwirklichung ihres erklärten Willens ebenfalls ausreichenden Form abgegeben hätte — auch in einem solchen Fall der „qualifizierenden Form“ sind Form und Inhalt zu trennen. Z. B. dürfte jeder deutsche Richter ohne Zögern auf ein gemeinschaft­ liches Testament deutscher Ehegatten, das diese in Österreich nach den dort geltenden, vom deutschen Recht im einzelnen abweichenden Form­ vorschriften errichtet haben, bezüglich der bindenden Wirkung die §§ 2270 f. BGB anwenden und nicht etwa § 1248 Satz 2 ABGB; ebenso sind die Wirkungen eines von Österreichern in Deutschland in deutscher Form geschlossenen Ehevertrags nach österreichischem Recht beurteilt worden416. Ein anderes Beispiel: Wenn nach dem Recht der Dominikanischen Re­ publik die kirchliche Eheschließung katholischer Ehegatten den Verzicht auf eine spätere Scheidung nach bürgerlichem Recht einschließt416 (während nach der standesamtlichen Eheschließung, welche fakultativ möglich ist, die Scheidung erfolgen kann), so tritt für deutsche Brautleu­ te, die dortzulande heiraten, nur diese materiellrechtliche Wirkung der kirchlichen Eheschließung nicht ein, weil Deutsche dem deutschen Schei­ dungsrecht unterstehen (Art. 17 EGBGB); dagegen ist die kirchliche Eheschließung als Form den deutschen Brautleuten zugänglich. Ander­ seits dürfte für dominikanische Brautleute eine kirchliche Eheschließung auch dann die bezeichnete Wirkung haben, wenn die Trauung in einem Staate wie England erfolgt, wo die (dort ebenfalls fakultativ zulässige) kirchliche Eheschließung keine Bedeutung für das Scheidungsrecht be­ sitzt. IV.

Unter den Korrekturen der Grenzziehung aus praktischen Erwägun­ gen gibt es sowohl Erweiterungen des Formbegriffs (1-3) als auch Ein­ schränkungen dieses Begriffs oder schlicht Durchbrechungen der Regel locus regit actum (4-6). 415 OLG München 23. 10. 1915, OLGRspr. 32, 50.418 418 Art. XV Abs. 2 des Konkordats vom 16. 6. 1954. - Der in der Vorauflage (S. 92 N. 215) genannte, gleichlautende Art. XXIV des portugiesischen Konkordats vom 7. 5. 1940 (vgl. Art. 1790 des Cdigo civil von 1966) ist 1975 aufgehoben worden.

1. Wenn ein materieller Vorgang als Äquivalent einer vorgeschriebe­ nen Form gilt, so ist er — entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch - kollisionsrechtlich als Form zu qualifizieren; so z. B. im französi­ schen Recht die Übergabe bei der Handschenkung417 418 oder nach anglo­ amerikanischem Common Law die consideration beim Versprechen418. 2. Auch die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer bestimmten Form gehören an sich nicht zur Form, sind aber nach dem Sinn der Regel locus regit actum dem Formstatut zu entnehmen - also gegebenenfalls dem Ortsrecht -, z. B. die Zulässigkeit der mündlichen Bürgschafts­ erklärung nur für Kaufleute (§ 766 BGB, §§ 350 ff. HGB), der standes­ amtlichen Eheschließung nur für Nichtkatholiken (Art. 43 II span. C6digo civil), des handschriftlichen Testaments nur für Volljährige (§ 2247 IV BGB)419. Das Formstatut kann freilich die Vorfrage, wer Kauf­ mann, Nichtkatholik, Volljähriger ist, durch sein Kollisionsrecht einem andern Statut zuweisen (in jedem der genannten drei Beispiele etwa dem Heimatrecht); jedoch muß nicht die lex causae des Rechtsgeschäfts als solche berücksichtigt werden.

3. Zur Eheschließungsform zählt im Kollisionsrecht traditionell — wie schon gesagt (oben § 15 II 2) - auch das Aufgebot, - Schwieriger steht es um die religiöse Eheschließung, die im deutschen IPR als Sache der Form gilt, dagegen in einigen andern Ländern (insbesondere Spanien und Griechenland) zum materiellen Recht gezählt wird. An sich ist die Art und Weise der Erklärung des Ehekonsenses - vor einem Priester oder vor einem weltlichen Standesbeamten - offenbar eine Sache der Form. Daran ändert auch die in Spanien und Griechenland herrschende katho­ lische bzw. orthodoxe Auffassung der Ehe als Sakrament nichts; denn sie ver­ anlaßt beide Länder nicht etwa, dem kirchlichen Eherecht einen absoluten Vorrang einzuräumen, sondern auch sie beachten dieses Recht nur nach Maß­ gabe der staatlichen Rechtsanwendungsnormen (z. B. nicht bei der Eheschlie­ ßung von Ausländern im Ausland)420. Hinzu kommt aber bei der ostkirchlichen Eheschließung (im Gegensatz zu can. 1094 ff. Codex Iuris Canonici), daß der Priester nicht nur die Konsenserklärungen entgegennimmt, sondern daß sein 417 Vgl. Ferid, Franz. Zivilrecht (oben N. 349) I 678, 680 (2 F 494, 500). 418 Vgl. etwa ZWEIGERT/Körz (oben N. 35) II (1969) 72 ff. 419 Im letzten Punkt gebe ich die abweichende Auffassung der Vorauflage (S. 91) mit Rücksicht auf das inzwischen in Kraft getretene Haager Testamentsabkommen vom 5. 10. 1961 (Art. 5 Satz 1) hiermit auf. 420 Vgl. allgemein Neuhaus, Zum Verhältnis von staatlichem und religiösem Eherecht: FamRZ 1966, 121 ff. 10*

Segen über das Brautpaar als mitbegründend für die Ehe angesehen wird, sozu­ sagen als drittes Element der Eheschließung neben den beiden Konsenserklä­ rungen. Damit stellt die Beteiligung des Priesters nach griechischem Recht wenn man sie rechtsbegrifflich betrachtet - ein materielles Element dar. Trotzdem wird sie in Deutschland verständlicherweise „funktionell“ als Frage der Form qualifiziert, weil sie praktisch unserer standesamtlichen Form der Eheschließung gleichkommt421. Eine unterschiedliche Behandlung von kirchli­ cher und standesamtlicher Trauung im Kollisionsrecht liefe auf die oben (§14 I 3) als Regel abgelehnte Qualifikation divergierender Rechtssätze hinaus anstelle der einheitlichen Rechtsfrage: Muß die Eheschließung religiös oder standesamt­ lich erfolgen? Das rechtspolitische Problem, ob die Verteidigung der Zivilehe für Ausländer die Preisgabe der internationalen Entscheidungsgleichheit wirk­ lich wert ist oder umgekehrt im Interesse der Entscheidungsgleichheit die Regel locus regit actum durchbrochen werden soll, wird besser offen ausgetragen und nicht als rein analytische Qualifikationsfrage „getarnt“422.

4. Das niederländische Verbot, ein Testament im Ausland anders als in öffentlicher Form zu errichten (Art. 992 B.W.), und die Erstreckung des italienischen Verbots gemeinschaftlicher Testamente (Art. 589 C. civ.) auf Auslandstestamente von Italienern sind einfache Durchbre­ chungen der Regel locus regit actum und nicht etwa als materielle Be­ schränkungen der Testierfähigkeit oder des Testamentsinhaltes aufzufas­ sen. (Weiteres zum gemeinschaftlichen Testament oben III 4 ff.)423. 5. Wenn neuerdings empfohlen wird, Schutzformen für Konsumenten­ verträge unbedingt ebenso anzuknüpfen wie die materiellen Schutzbe­ stimmungen solcher Verträge424, also den Grundsatz locus regit actum 421 Die grundlegende Entscheidung RG 6. 4. 1916, RGZ 88, 191 (193), beruft sich u. a. auf Zitelmann, IPR II (1912) 609, der aber nicht begründet, weshalb er nicht nur „die äußere Gestalt“, sondern auch den „Inhalt“ der Mitwirkung eines Geistlichen zur Form der Eheschließung zählt, ferner auf das Haager Eheschließungs­ abkommen, dessen Wortlaut die oben im Text gemachte Unterscheidung nicht aus­ schließt. 422 Daher möchte ich anstelle einer Qualifikation aller vom Wirkungsstatut als „Grundpfeiler“ eines Instituts betrachteten Elemente als zum Inhalt gehörig (so in FamRZ 1966, 122 gemäß Anregungen von Nussbaum und Gamillscheg) jetzt sagen (wie schon in Z. f. Rvgl. 13 [1972] 86): Es entspricht der besonderen Bedeutung der Eheschließung und der Unerwünschtheit hinkender Ehen, die Ortsform jedenfalls dann nicht genügen zu lassen, wenn sie von dem Personalstatut beider Verlobten nicht anerkannt wird. 423 Vgl. auch Neuhaus/Gündisch, Gemeinschaftliche Testamente amerikanischer Erblasser: RabelsZ 21 (1956) 550, besonders I: Zum deutschen IPR (550-564). 424 Lando, On the Form of Contracts and the Conflict of Law, in: Fs. Schmitthoff (oben N. 282) 253 (258 f.).

insofern auszuschließen, so handelt es sich dabei sicherlich nicht um eine Frage der Qualifikation. Daß hier Formvorschriften in Rede stehen, ist unbestritten. Vielmehr geht es um eine weitere positivrechtliche Ausnah­ me von jenem Grundsatz, die entweder im Wege der Gesetzgebung ein­ geführt werden muß oder im Wege der teleologischen Reduktion, d. h. durch die eingeschränkte Anwendung eines Gesetzes, dessen ratio (hier: favor negotii) von einem andern gesetzlich anerkannten Zweck (hier: Konsumentenschutz) überboten wird. 6. Dagegen wird der Ausschluß der Ortsform für Verfassungsakte ei­ ner juristischen Person (z. B. Gründung oder Satzungsänderung einer GmbH) wiederum durch eine materiellrechtliche Qualifikation der no­ tariellen Prüfung und Beratung versucht425. Ob die Beurkundung durch einen ausländischen Notar genügt, wird dann zu einer Frage der Substitution - siehe unten § 46 IV, insbes. bei N. 963. Insgesamt sind Form und Inhalt also in der Regel klar zu trennen426. Eine Verschiebung der rein begrifflichen Grenzziehung aus praktischen Gründen erfolgte bisher eher zugunsten als zu Lasten des Bereiches der Form.

425 Behrens in: Hachenburg, GmbHG7 I (1975) Allg. Einl. Rdz. 99. 426 Eine „absolute Form“ oder „die Form als Absolutum“, die kein bloßes Attribut des Rechtsgeschäftes, sondern mit ihm identisch ist - siehe Flume, Das Rechtsge­ schäft2 (1975) 244 ff. -, muß gegebenenfalls als Inhalt qualifiziert werden. Ob sie heute überhaupt noch vorkommt, ist mir trotz der Beispiele von Flume a.a.O. 245 zweifelhaft; denn Wechsel und Scheck sind Anweisungen mit „qualifizierender Form“, und eine formlose Eheschließung gibt es nicht nur im Common Law, sondern auch nach deutschem Recht (vgl. unten N. 1080).

III. Kapitel: Allgemeines zur Anknüpfung S 18: Anknüpfungsmomente

I. Zweck der kollisionsrechtlichen Anknüpfung ist es, die für die Beant­ wortung der jeweils gestellten Rechtsfrage maßgebliche Rechtsordnung zu bestimmen. Angeknüpft wird immer - wenn wir vom Wortsinn aus­ gehen - etwas Neues (der neue Faden) an etwas Bestehendes, Vorhan­ denes. So wird im Kollisionsrecht die Maßgeblichkeit einer Rechtsord­ nung an ein Element des konkreten Sachverhalts angeknüpft, an das Anknüpfungsmoment (den Anknüpfungspunkt). Es ist also sprachlich weniger gut, von der Anknüpfung an eine Rechtsord­ nung zu reden: nicht an das Heimatrecht wird angeknüpft, sondern an die Heimat (die Staatsangehörigkeit), nicht an das Ortsrecht, sondern an den Ort usw. Der Wunsch nach Abwechslung und Kürze im Ausdruck rechtfertigt kei­ ne Sprachwidrigkeiten. (Aus demselben Grunde geht es auch nicht an, die maßgebende Rechtsordnung, welche durch die Anknüpfung bestimmt wird, als „verwiesene“ Rechtsordnung zu bezeichnen: nicht die Rechtsordnung wird verwiesen, sondern der Richter wird auf oder an sie verwiesen.)

II.

Im einzelnen enthält jedes Anknüpfungsmoment drei Elemente: ein Subjekt (Person, Sache, subjektives Recht oder Ereignis), ein Attribut dieses Subjekts (z. B. Staatsangehörigkeit, Wohnsitz oder Wille der Per­ son; Lage- oder Registerort der Sache; Ort des Ereignisses) sowie einen Zeitpunkt (der nicht immer ausdrücklich genannt ist)427. 1. Das maßgebende Subjekt kann jeweils - wenn es eine Person ist - ent­ weder nach seiner Rolle in dem zu beurteilenden Sachverhalt bestimmt werden (als Urheber einer Willenserklärung, als Vertragspartner, Schädiger oder Ge­ schädigter, Eigentümer, Vater, Mutter, Kind, Erbe) oder nach seiner Prozeß­ rolle (als Kläger oder Beklagter); in Betracht kommt auch eine Behörde (ins­ bes. das Gericht) oder eine Amtsperson. Als Sache kann nicht nur die res litigiosa Anknüpfungssubjekt sein, sondern z. B. auch ein Schiff (etwa als Tatort). Dient ein Ereignis als Anknüpfungssubjekt, so kann dies die Abgabe einer Er­ 427 Frei nach Trammer in Fs. Schmitthoff (oben N. 282) 368 f., der das Attri­ but als „base“ und das Subjekt als „complment" bezeichnet.

klärung sein, die Erfüllung einer Verpflichtung, eine unerlaubte Handlung oder auch eine Prozeßhandlung. 2. Das Attribut stellt in der Regel die Beziehung zwischen dem Subjekt und einer bestimmten Rechtsordnung her. Diese Beziehung kann auf eine Rechts­ ordnung als solche führen (z. B. die Rechtswahl der Parteien, die „lex fori“ des zuständigen Gerichts) oder zunächst auf einen Staat (so die Staatsangehörig­ keit einer Person, die Staatszugehörigkeit oder Flagge eines Schiffes, die Wäh­ rung einer Forderung, die Einwirkung eines Verfahrens auf einen nationalen Markt) oder auch nur auf einen bestimmten Ort (z. B. Wohnsitz, Belegenheit, Ort der Registerführung bzw. registrierter Heimatort eines Fahrzeugs, Hand­ lungsort). 3. Über das zeitliche Element der Anknüpfung siehe unten § 39: Statuten­ wechsel.

III.

Bei der Anwendung erweisen sich alle Anknüpfungen, die auf einen Staat als ganzen führen, dann als mehrdeutig und daher ergänzungsbe­ dürftig, wenn dieser Staat mehrere territoriale oder personale Teil­ rechtsordnungen besitzt (unten § 41: Interlokales Privatrecht, § 42: In­ terpersonales Recht); dasselbe gilt für streng örtliche Anknüpfungen in dem Falle, daß an dem betreffenden Ort mehrere rein personale Rechts­ ordnungen nebeneinander gelten. Davon abgesehen kann ein Anknüp­ fungsmoment im Einzelfall mehrfach verwirklicht sein (mehrfacher Wohnsitz oder Handlungsort, mehrfache Staatsangehörigkeit, mehrfa­ che Währung einer Obligation). Anderseits kann das Anknüpfungsmo­ ment fehlen (besonders bei Wohnsitz- oder Staatenlosigkeit der An­ knüpfungsperson) oder nicht eindeutig festzustellen sein (z. B. der Standort eines Schiffes oder Flugzeugs in einem bestimmten Augen­ blick). In all diesen Fällen bedarf es einer Hilfsanknüpfung - sei es eine spezielle (für eine einzelne Norm, z. B. in Art. 19 Satz 1 EGBGB: Anknüpfung an die Person der Mutter, falls der Vater gestorben ist), sei es eine generelle (z. B. Art. 29 für alle Fälle der Staatenlosigkeit einer Anknüpfungsperson) -, außer wenn bei mehrfacher Verwirklichung der Anknüpfung mehrere Rechtsordnungen anwendbar sein sollen (vgl. unten § 19: Kumulation). Nicht selten wirft die Feststellung des Anknüpfungsmoments eine neue kollisionsrechtliche Frage auf, weil der betreffende Begriff von Land zu Land verschieden ausgelegt wird (z. B. „Wohnsitz“) oder gar ein anderes Rechtsverhältnis voraussetzt (so der Begriff „Ehemann“ das

Bestehen einer gültigen Ehe). Grundsätzlich gilt hier wie bei der Qualifi­ kation, daß die Begriffe einer Kollisionsnorm vom Standpunkt desjeni­ gen Rechtes ausgelegt werden müssen, dem die Kollisionsnorm angehört. Eine Ausnahme besteht, wie schon gesagt, für die Staatsangehörigkeit, die in der Regel nach dem Rechte desjenigen Staates beurteilt wird, des­ sen Staatsangehörigkeit in Betracht kommt (siehe jedoch unten § 27 III 2). Dagegen wird für den Wohnsitz das Recht des Landes, in welchem ein Wohnsitz liegen soll oder kann - die sog. lex territorii -, heute nur selten berücksichtigt (vgl. unten § 28 II). Das Anknüpfungsmoment führt in einen circulus vitiosus (circulus inextricabilis), wenn es die maßgebende Rechtsordnung für ein Rechts­ verhältnis bezeichnen soll, durch das es selbst bedingt ist, wenn z. B. die Staatsangehörigkeit oder der Wohnsitz eines Kindes als Anknüpfungs­ moment für das Bestehen eines Kindschaftsverhältnisses oder für die Zu­ teilung der elterlichen Gewalt (Personensorge) verwendet wird und da­ bei die Staatsangehörigkeit bzw. der Wohnsitz von dem Vorliegen eines Kindesverhältnisses oder von der elterlichen Gewalt (oder deren Betäti­ gung) abhängt428. In Fällen eines solchen Zirkels muß ein fester Aus­ gangspunkt geschaffen werden durch eine materiellrechtliche Vermu­ tung (etwa zugunsten der Ehelichkeit oder gegen das Bestehen einer un­ ehelichen Vaterschaft).

IV. Der Versuch einer autonom-rechtsvergleichenden Begriffsbildung zeigt sich besonders in der Anknüpfung an den „gewöhnlichen Aufent­ halt“ - darüber unten § 29. Ein krasses Beispiel mangelnder Autonomie des Kollisionsrechts bildet das Scheitern der vom englischen Private International Law Committee im Jahre 428 So § 21 RechtsanwendungsG der DDR vom 5. 12. 1975: „Die Abstammung ei­ nes Kindes sowie die Feststellung und Anfechtung der Vaterschaft bestimmen sich nach dem Recht des Staates, dessen Staatsbürgerschaft das Kind mit der Geburt er­ worben hat“; dazu § 4 StaatsbürgerschaftsG vom 20. 2. 1967: „Die Staatsbürgerschaft der DDR wird erworben durch a) Abstammung. ..“ Wie nun, wenn die Mutter z. B. eine Französin ist, die die Mutterschaft nicht anerkannt hat - nach welchem Recht bestimmt sich die Abstammung? - Kein circulus vitiosus entsteht dagegen, wenn ein Kind primär die Staatsangehörigkeit des Geburtslandes erwirbt und eine Verdrängung dieser Staatsangehörigkeit durch diejenige eines Elternteils, der das Kind später aner­ kennt, nur bei Wirksamkeit der Anerkennung nach dem primären Heimatrecht des Kindes möglich ist (so z. B. nach Art. 21 Code de la nationalite franaise i. V. m. Art. 311-14 Halbs. 2 C. c. i.d.F. vom 3. 1. 1972: Kinder unbekannter Mütter).

1954 vorgeschlagenen und von den meisten Kollisionsrechtlern Englands unter­ stützten Reform des englischen Domizilrechts: Ausschlaggebend waren nach den Berichten steuer-psychologische Erwägungen, da das englische Einkommen­ steuergesetz für die unbeschränkte Steuerpflicht ebenfalls an das Domizil an­ knüpft und man bei einer Erweiterung dieses Begriffes ausländische Kaufleute von der geschäftlichen Niederlassung in England abzuschrecken fürchtete429.

§19: Kumulation

Unter dem Stichwort „Kumulation“ werden vielfach alle Fälle zu­ sammengefaßt, in denen eine Kollisionsnorm nicht nur ein einziges An­ knüpfungsmoment verwendet430. Solche Normen widersprechen dem Ideal der Einfachheit des Kollisionsrechts und können Ausdruck der Entschlußlosigkeit sein; manchmal bedeuten sie jedoch eine wünschens­ werte Differenzierung. Die Verwendung mehrerer Anknüpfungsmomente in einer Kollisions­ norm - von Ficker hübsch als „Kombination oder Verknüpfung von Anknüpfungen “ bezeichnet431 - kann auf zwei ganz verschiedene Ar­ ten erfolgen:

I. Möglich ist die Häufung einmal in einengendem Sinne: Eine bestimm­ te Rechtsordnung soll nur dann zur Anwendung kommen, wenn mehre­ re Umstände gleichzeitig auf sie hinweisen, z. B. Staatsangehörigkeit und Wohnsitz im Inland (so das dänische Recht für die Wechselfähig­ keit432), die Staatsangehörigkeit beider Ehegatten (so das polnische Recht für die Form der Eheschließung im Ausland433) oder der inländi­ sche gewöhnliche Aufenthalt von Vater, Mutter und Kind (so das fran­ zösische Recht für die Wirkungen der „possession d’etat“ eines eheli­ 429 Michael Mann, The Domicile Bills: Int. Comp. L. Q. 8 (1959) 457 ff.; vgl. Henrich, Der Domizilbegriff im englischen IPR: RabelsZ 25 (1960) 456 (493 ff.). 439 Direkte Kumulation - zur indirekten siehe unten § 47 bei N. 972. 431 H. G. Ficker, in: Festschrift Nipperdey I (1965) 297 (304 ff.). 432 Art. 79 des dänischen Wechselgesetzes in Verbindung mit dem allgemeinen Wohnsitzprinzip des dänischen IPR. 433 Art. 15 II des polnischen IPR-Gesetzes von 1965.

chen Kindes434). Man spricht hier auch von „kombinierten Anknüp­ fungen“435. Natürlich ergeben solche Normen keine Regelung für alle denkbaren Fälle; sie sind daher nur dann brauchbar, wenn ein Fehl­ schlägen der Anknüpfung (Normenmangel) in Kauf genommen werden kann, d. h. wenn diese Anknüpfungen entweder sich auf Eingriffsnor­ men (z. B. Devisenvorschriften) beziehen, die ja ohne Schaden für das in Rede stehende Lebens Verhältnis wegbleiben können (siehe oben § 4 II 1 b), oder bloße Zusatznormen sind (so die genannten familienrechtlichen Regeln436) oder durch eine andere Norm ergänzt werden (so im däni­ schen Beispiel437).438 Besonders verlockend ist die Anwendung jeweils der Rechtsordnung, auf welche „die relativ meisten der in Betracht kom­ menden Umstände“ hinweisen (sog. „grouping of contacts“). Aber da­ mit wird die Voraussehbarkeit der Entscheidungen zerstört, falls nicht feste Regeln über Auswahl und Bewertung der „in Betracht kommenden Umstände“ aufgestellt werden. II.

öfter erfolgt die Häufung der Anknüpfungsmomente in dem erwei­ ternden Sinne, daß nicht nur eine, sondern mehrere Rechtsordnungen an­ gewandt werden sollen oder können, und zwar (1) fakultativ, (2) alter­ nativ, (3) subsidiär, (4) kumulativ, (5) gekoppelt oder (6) getrennt. 1. Bei der fakultativen Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen wird es den Beteiligten freigestellt, welcher Rechtsordnung sie sich be­ dienen wollen, falls die mehreren Anknüpfungsmomente in concreto auf verschiedene Rechtsordnungen verweisen. Beispielsweise konnten nach Art. 7 des polnischen IPR-Gesetzes von 1926 die Parteien ein Schuldverhältnis wahlweise dem Recht des Heimatstaates, des Wohnsitzes, des Abschlußortes oder des Erfüllungsortes unterwerfen488. Nach Art. 22 II des Schweizer NAG kann der Erblasser die Erbfolge statt dem Rechte seines Wohnsitzes dem Recht seines Heimatkantons unterstellen. Beide­ 434 Art. 311-15 C. c. 435 RabelsZ 23 (1958) 436. 438 Primär maßgebend ist für die Form der Eheschließung nach Art. 15 I des pol­ nischen Gesetzes die lex loci actus, für die filiation nach Art. 311-14 C. c. das Perso­ nalstatut der Mutter. 437 Die Wechselfähigkeit bestimmt sich grundsätzlich für Ausländer nach Heimat­ recht, für Inländer im Ausland nach Wohnsitzrecht. 438 Nach Art. 25 I des Gesetzes von 1965 können sie noch weitergehend jede Rechtsordnung wählen, die „mit dem Schuldverhältnis in einem Zusammenhang steht“.

mal handelt es sich um eine beschränkte Parteiautonomie - siehe dazu unten §33.

2. Bei der alternativen Anwendbarkeit zweier Rechtsordnungen hängt es von deren materiellem Inhalt ab, welche von beiden zur An­ wendung kommt. In der Regel hat der Richter dabei diejenige Rechts­ ordnung anzuwenden, die für ein bestimmtes materielles Ergebnis gün­ stiger ist, insbesondere für den Bestand eines Rechtsverhältnisses oder ei­ nes Anspruchs. So läßt Art. 111 EGBGB für die Form der Rechtsgeschäfte die Beobachtung der Gesetze, die für den Inhalt des Geschäftes maßgebend sind, oder der Ge­ setze des Vornahmeortes genügen. - Über die Problematik solcher Begünsti­ gung eines bestimmten materiellen Ergebnisses durch das IPR siehe unten § 22: Favor negotii.

3. Die subsidiäre Anwendung einer zweiten oder auch dritten Rechts­ ordnung erfolgt aufgrund einer Ersatzanknüpfung, wenn die Hauptan­ knüpfung bzw. die vorangehende Ersatzanknüpfung versagt. Beispiels­ weise knüpft Art. 29 EGBGB bei einer staatenlosen Person statt an die Staatsangehörigkeit an „ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder mangels ei­ nes solchen ihren Aufenthalt“ an. Kommt die vorrangige Anknüpfung voraussichtlich seltener zum Zuge als die subsidiäre, so kann letztere auch als Normalanknüpfung an die Spitze der Kollisionsnorm gestellt und dann erst gesagt werden, daß die andere Anknüpfung im Falle ihres Zutreffens vorgeht; so etwa Art. 311-14 I und II C.c. über die filia­ tion. Eine Verbindung beider Formulierungen bietet Art. 25 I Disp. prel. C. civ.: „Aus Vertrag entstehende Schuldverhältnisse bestimmen sich, wenn die Ver­ tragschließenden ein gemeinsames Heimatrecht besitzen, nach diesem, andern­ falls nach dem Recht des Ortes, an dem der Vertrag geschlossen wurde. Der abweichende Wille der Vertragsparteien bleibt in jedem Falle vorbehalten.“ Neuerdings werden ganze „Leitern“ oder „Kaskaden“ von Ersatzan­ knüpfungen empfohlen439. Man wird sich von Fall zu Fall fragen müs­ sen, ob eine so komplizierte Anknüpfung notwendig ist. In gewissem Maße sind Ersatzanknüpfungen unvermeidlich, da es keine vollkomme­ ne Anknüpfung gibt. 439 Siehe etwa die Vorschläge der Familienrechtskommission des Deutschen Rates für IPR: Vorschläge... Eherecht 2-4 = RabelsZ 25 (1960) 340 f., dazu Kegel ebd. 208 ff., 214. - Das im französischen Schrifttum bevorzugte Bild der Kaskade gibt besser das „Gefälle“ subsidiärer Anknüpfungen wieder.

4. Die kumulative (häufende) Anwendung mehrerer Rechtsordnun­ gen auf dieselbe Rechtsfrage ist in zwei Formen denkbar: a) Bei der positiven^ anspruchbegünstigenden Kumulation der Wir­ kungen treten alle Rechtsfolgen ein, die auch nur eine der beteiligten Rechtsordnungen vorschreibt. In praxi kommt eine solche Kumulation hauptsächlich in der Form vor, daß derselbe Anspruch mit verschiede­ ner rechtlicher Begründung nach mehreren Rechtsordnungen eingeklagt werden kann. So kann nach deutschem IPR die uneheliche Mutter einen Ersatzanspruch gegen den Erzeuger ihres Kindes aufgrund der Schwängerung als solcher nach ihrem Heimatrecht geltend machen (Art. 21 EGBGB) und bei Vorliegen beson­ derer, ein Delikt ergebender Umstände möglicherweise auch nach dem Recht des Begehungsortes (Art. 12)440. Kritisch ist zu dieser anspruchbegünstigenden Kumulation wieder auf die Problematik jedes einseitigen „favor“ hinzuweisen (unten § 22).

b) Dagegen treten bei der negativen, anspruchbegrenzenden Kumula­ tion der Voraussetzungen nur diejenigen Rechtsfolgen ein, die im Ein­ zelfall nach allen beteiligten Rechtsordnungen begründet sind; es setzt sich also diejenige Rechtsordnung durch, welche den Eintritt einer Rechtsfolge ablehnt oder die geringere Wirkung anordnet. (Diese im Kollisionsfall obsiegende Rechtsordnung die „schwächere“ zu nennen und demgemäß die anspruchbegrenzende Kumulation - wie die Kop­ pelung, siehe unten 5 - als „Grundsatz des schwächeren Rechts“ zu be­ zeichnen, scheint mir wenig glücklich.) Diese Art der Kumulation wird z. B. in Artt. 12 und 21 EGBGB für deliktisehe bzw. Unterhaltsansprüche vorgeschrieben (in beiden Fällen können gegen einen Deutschen „nicht weitergehende Ansprüche geltend gemacht werden, als nach den deutschen Gesetzen begründet sind“), ferner in Art. 17 IV für die Ehescheidung (Kumulation von Heimatrecht und lex fori)441. Im letzten Fall ist jedoch die negative Kumulation insofern etwas gemildert, als die Scheidung im Einzelfall nicht nach beiden Rechtsordnungen aufgrund derselben Tatsa­ chen begründet sein muß. - So oder so handelt es sich um eine sachlich kaum zu rechtfertigende Erschwerung des internationalen Rechtsverkehrs.

Die anspruchbegrenzende Kumulation ist in der Regel nur bei sol­ chen Rechtsfragen möglich, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Besteht eine gegenseitige Pflicht der Ehegatten zusammenzule­ 440 Vgl. Neuhaus, Verpflichtungen 18. 441 Umgekehrt Art. 7h NAG: Kumulation von lex fori und Heimatrecht.

ben: ja oder nein? Erwirbt die Ehefrau den Namen des Mannes: ja oder nein? Aber die Frage „Welchen Namen erhält das Kind?“ ist nicht mit Ja oder Nein zu beantworten und daher nicht durch kumulative An­ wendung zweier Rechtsordnungen zu entscheiden442. Nun läßt sich jede Rechtsfrage so umformulieren, daß sie doch mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Wer das Recht in eine Summe von Befehlen (Ge- oder Verboten) und Gestattungen auflöst, welche die entsprechenden Pflichten und subjektiven Rechte erzeugen, wird stets mit Ja oder Nein zu be­ antwortende Fragen nach dem Bestehen solcher Pflichten oder Rechte stellen können. An die Stelle der Frage nach dem Familiennamen des Kindes treten dann etwa zwei getrennte Fragen: Führt ‘das Kind den Namen des Vaters: ja oder nein? Führt es den Namen der Mutter: ja oder nein? Dabei ist jedoch zu bedenken, daß manche Lebensverhältnisse nach der Auffassung aller beteiligten Rechtsordnungen einer positiven Regelung bedürfen und mit der bloß negati­ ven Feststellung, daß mangels inhaltlicher Übereinstimmung dieser Rechtsord­ nungen keine Rechtsfolge eintritt, nicht abzutun sind. Wenn das uneheliche Kind nach dem Heimatrecht des Vaters den Namen der Mutter und nach dem Heimatrecht der Mutter den Namen des Vaters führt, so geht es nicht wohl an, im Wege der Kumulation der Voraussetzungen ihm beide Namen abzuspre­ chen.

Außerdem ist eine Kumulation bei denjenigen Fragen möglich, auf die mit einem Mehr oder Weniger geantwortet werden kann, z. B. nach der Höhe eines Anspruchs oder nach der Länge einer Frist. Aber schon bei einer Kombination zweier quantitativer Größen - z. B. hoher Unter­ halt für kurze Zeit oder geringer für längere Zeit - geht die Rechnung nicht mehr ohne weiteres auf. Wenn die beteiligten Rechtsordnungen nicht verschiedene Rechtsfol­ gen vorsehen, sondern die gleiche (etwa eine Ehescheidung oder die Un­ terhaltspflicht einer bestimmten Person) unter verschiedenen Vorausset­ zungen, führt die Kumulation der Voraussetzungen bisweilen zur Ab­ weisung einer Klage, die nach jeder einzelnen Rechtsordnung begründet wäre. Insofern enthält die anspruchbegrenzende Kumulation ebenso wie die anspruchbegründende ein materiellrechtliches Element, das dem Sinn der beteiligten Rechtsordnungen geradezu widersprechen kann. Eben daher ist es im deutschen IPR z. B. umstritten, ob in Zukunft die Ehe­ scheidung möglich sein soll, wenn sie nach dem Recht nur eines Teiles, oder erst dann, wenn sie nach dem Recht beider Ehegatten begründet ist: im einen 442 Vgl. Makarov, Die Gleichberechtigung der Frau und das IPR: RabelsZ 17 (1952) 382 (387).

Fall tritt eine Erleichterung, im anderen eine Erschwerung der Ehescheidung ein443.

Denkbar ist schließlich eine Kumulation im Sinne der Schaffung eines richterlichen Mischrechtes aus mehreren Rechtsordnungen444.

5. Von gekoppelter (oder distributiver445) Anwendung mehrerer Rechtsordnungen sprechen wir, wenn mehrere Voraussetzungen ein und derselben Rechtsfolge nach verschiedenen Rechtsordnungen beurteilt werden. Das Musterbeispiel bildet Art. 13 EGBGB: „Die Eingehung der Ehe wird... in Ansehung eines jeden Verlobten nach den Gesetzen des Staates beurteilt, dem er angehört.“ Der Unterschied zu der soeben un­ ter 4 b) erwähnten anspruchbegrenzenden Kumulation zeigt sich „in den Fällen ..., in denen die in Frage stehenden Rechtsordnungen keine posi­ tiven, sondern negative Voraussetzungen für den Eintritt einer Rechts­ folge aufstellen. Während die Kumulation in diesen Fällen den Eintritt einer Rechtsfolge außerordentlich erschweren würde, weil jeder einzelne Umstand von zwei Rechtsordnungen beanstandet werden kann, trifft dies für die Koppelung nicht zu“446. Wenn z. B. die Braut nach dem Heimatrecht des Mannes noch nicht ehefähig ist, wohl aber nach ihrem eigenen Heimatrecht, so kann nach Art. 13 EGBGB die Ehe geschlossen werden, während im Falle der Kumulation ein Ehehinder­ nis vorläge. Allerdings ist zu beachten, daß es auch sog. zweiseitige Ehehinder­ nisse (oder Doppelverbote) gibt, z. B. in England das Hindernis des mangelnden Ehealters: es genügt nicht, daß der englische Nupturient selbst ehefähig ist, sondern auch der ausländische Partner muß das nach englischem Recht erfor­ derliche Alter erreicht haben447. Ihrer Natur nach („notwendig“) zweiseitig 443 Die erste Lösung vertritt z. B. Kegel, IPR 329, die zweite (falls beide Ehe­ gatten Ausländer sind) Siegrist (oben N. 155) 105. Im Sinne der Erschwerung auch die belgische Rechtsprechung vor dem Gesetz vom 27. 6. 1960 (unten N. 594), siehe L. Serick/Harries, RabelsZ 25 (1960) 554. 444 Mit einer gewissen Vergröberung sagt infolgedessen Graulich, Ann. Dir. Comp. 33 (1958) 12 f., die Kumulation bedeute entweder Rechtsverweigerung oder Schaffung künstlichen Rechts. 445 So z. B. Graulich (vorige Note) 7; ders., Principes de d.i.p. (Paris 1961) 108. 446 Siegrist (oben N. 155) 82. 447 Siehe Pugh v. Pugh, [1951] P. 482: Die Ehe eines in England domizilierten Engländers, der in Österreich eine 15jährige Ungarin geheiratet hatte, wurde entgegen dem österreichischen und dem ungarischen Gesetz nach englischem Recht für nichtig erklärt. - Das im Text der Vorauflage gebrachte Beispiel des deutschen Verbots der Doppelehe - auch der ausländische Partner darf vom Standpunkt der deutschen Rechtsordnung nicht verheiratet sein - kann dagegen als Ausfluß des deutschen ordre

sind alle Ehehindernisse der Verwandtschaft, während etwa ‘das Ehehindernis des vorangegangenen Ehebruchs einseitig formuliert sein kann als Verbot nur für den früher verheirateten Teil448. Bei den zweiseitigen Ehehindernissen kommt die Koppelung im Ergebnis der anspruchbegrenzenden Kumulation fast gleich.

Die Koppelung ist im Falle des Art. 13 durch die materiellrechtliche Regelung vorgezeichnet, daß nämlich die Eheschließung auf der Abgabe zweier gültiger Erklärungen beruht. Ebenso ist bei allen schuldrechtli­ chen Verträgen die Geschäftsfähigkeit jedes Partners nach seinem eige­ nen Recht zu prüfen. Eine Unbilligkeit ist darin nicht zu sehen. Immerhin bedeutet es im Ergebnis eine Erschwerung der Eheschließung, daß durch die Koppelung die zweiseitigen Ehehindernisse mehrerer Rechtsordnun­ gen zum Zuge kommen. 6. Eine getrennte Anwendung mehrerer Rechtsordnungen auf dassel­ be Rechtsverhältnis (auch Spaltung oder Zerlegung genannt) erfolgt dann, wenn das Rechtsverhältnis in mehrere Einzel- oder Teilfragen aufgeteilt wird, die jeweils einer besonderen Rechtsordnung unterstellt werden. Da hier schon der Tatbestand der Kollisionsnorm gespalten ist, wurde dieser Typ bereits oben behandelt (siehe § 16). Alle Arten der Beachtung mehrerer Rechtsordnungen haben den of­ fenbaren Vorzug, daß sie die einseitige „Nationalisierung“ internationa­ ler Sachverhalte vermeiden. Vielmehr gestatten sie, widersprechende Gesichtspunkte bei der Anknüpfung zu berücksichtigen, so daß keine der in Betracht kommenden Rechtsordnungen zurückgesetzt wird. Auf diese Weise kann nicht nur der Gleichberechtigung der Geschlechter im Internationalen Familienrecht Genüge getan werden; manchmal wird auch verhindert, daß ein Rechtsverhältnis von der einen Rechtsordnung als gültig und von der andern (wegen Nichtberücksichtigung ihrer Vor­ schriften) als ungültig angesehen wird - es sei denn, daß die eine Rechtsordnung gerade ihre alleinige Anwendung verlangt. Daher kom­ men diese Anknüpfungen besonders dann in Betracht, wenn typischer­ weise annähernd gleich starke Verknüpfungen des Sachverhalts mit zwei oder mehr Rechtsordnungen vorliegen. Jedoch sind auch die vorste­ hend angedeuteten Bedenken und Schwierigkeiten zu beachten, zu denen public gedeutet werden, da es auch für zwei Ausländer gilt, die in Deutschland heira­ ten wollen. 448 Andere zweifelhafte Fälle bei Scholl, Ehehindernisse und Eheverbote im IPR der Bundesrepublik Deutschland: StAZ 1974, 169 ff.

noch die Notwendigkeit kommt, gegebenenfalls den Inhalt mehrerer Rechtsordnungen zu ermitteln. Man mag daher die Beachtung mehrerer Rechtsordnungen bald mit Bedacht wählen (wie in Artt. 13 I, 17 IV EGBGB), bald als unvermeidlich ansehen (z. B. für die gegenseitigen ge­ setzlichen Unterhalts- und Erbansprüche von Geschwistern mit ver­ schiedenem Personalstatut). Doch hüte man sich, sie leichtfertig (etwa einem Prinzip der Gleichheit zuliebe) im Wege der Rechtsprechung ein­ zuführen.

5 20: Maximen der Anknüpfung

Welche Anknüpfung soll der Gesetzgeber oder bei einer Lücke des po­ sitiven Rechts der Richter wählen? Diese Frage ist die praktisch wich­ tigste des ganzen IPR. Die Antwort hängt davon ab, warum wir frem­ des Recht anwenden. Nach dem oben (in § 8) über IPR und Völker­ recht Gesagten ist wohl klar, daß nicht nach völkerrechtlichen Maßstä­ ben die „zuständige“, sondern nach privatrechtlichen Gesichtspunkten die angemessene oder geeignetste Rechtsordnung gesucht werden muß. Ferner kann in der Regel nicht das materielle Ergebnis für den Einzel­ fall ausschlaggebend sein (vgl. oben § 5 II 1); dieses Ergebnis ist erst in zweiter Linie, nämlich bei der Entscheidung zwischen alternativen An­ knüpfungen zu berücksichtigen (siehe unten § 22: Favor negotii) oder bei Ausschaltung der normalerweise maßgebenden Rechtsordnung durch den ordre public (unten § 49) sowie schließlich in Notfällen (vgl. § 47: Anpassung und § 52: Ersatzrecht). Unter den verbleibenden Maximen für die Anknüpfung müssen wir vor allem zwischen den formalen und den materialen unterscheiden. I.

Als formale Maximen der Anknüpfung und überhaupt des IPR be­ zeichnen wir diejenigen Grundsätze, die mit der allgemeinen Struktur des Verweisungsrechts Zusammenhängen - ohne Rücksicht auf Inhalt und Zweck der jeweils in Rede stehenden Rechtsverhältnisse — und die demgemäß vielfach nicht zu einer bestimmten Anknüpfung führen, son­ dern auf verschiedene Weise befolgt werden können. Man vergleicht sie gern mit den Regeln des Straßenverkehrs: gleichgültig ob rechts oder

links gefahren wird - die Hauptsache ist, daß alle auf derselben Seite fahren. Es handelt sich im ganzen um sechs solche Maximen, die jeweils einen Teilaspekt der Rechtssicherheit enthalten (d. h. der Klarheit sowie Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes im Gegensatz zur materiellen Gerechtigkeit):

1. Eindeutigkeit: Es soll für jeden regelungsbedürftigen Sachverhalt eine und nur eine Rechtsordnung bestimmt werden, also weder Nor­ menmangel noch Normenhäufung eintreten (vgl. oben § 4 II 1 b). In diesem Zusammenhang kann auch die Einfachheit der Rechtsanwendung genannt werden449. 450 Sie kommt zunächst der Rechtspflege zugute, aber mittel­ bar (als Zeit- und Kostenersparung sowie als geringeres Irrtumsrisiko) auch den Parteien und der Allgemeinheit. Jedoch liegt die Gefahr übermäßiger Simplifizierung auf der Hand.

2. Durchsetzbarkeit: Die für anwendbar erklärte Rechtsordnung soll auch in dem Staate, in welchem ein inländisches Urteil gegebenenfalls durchgesetzt (vollstreckt) werden muß, als maßgebend anerkannt sein, weil sonst die inländische Entscheidung unter Umständen wirkungslos bleibt. Dieser Gesichtspunkt führt zu einer gewissen Beachtung auslän­ dischen Kollisionsrechts und gilt besonders für fest lokalisierte Gegen­ stände (vor allem Grundstücke), bei denen von vornherein feststeht, in welchem Land die betreffenden Entscheidungen durchgesetzt werden müssen (siehe unten § 38: Näherberechtigung). Gerade hier zeigt sich die Abhängigkeit auch des IPR von der allgemeinen Geistes- und Rechtsentwicklung^. Der philosophische Idealismus des 19. Jahr­ hunderts und sein juristischer Ableger, die Begriffsjurisprudenz, führten im IPR zu recht abstrakten Anknüpfungen. So trat an die Stelle des Wohnsitzes, des realen Mittelpunktes der Lebensverhältnisse, die Staatsangehörigkeit; an die Stelle des Lageortes der einzelnen Nachlaßgegenstände trat der Begriff des einheitlichen Nachlasses; neben dem Ort der Vornahme eines Rechtsgeschäftes erschien der künftige Erfüllungsort oder die Staatsangehörigkeit der handeln­ den Personen oder „das den Gegenstand des Rechtsgeschäftes bildende Rechts­ verhältnis“; die Anknüpfung an die wechselnden jeweiligen Verhältnisse wur­ de öfter durch die Unwandelbarkeit eines Statuts ersetzt. Das realistische 20. Jahrhundert zeigt hier teilweise eine rückläufige Tendenz zugunsten der nächstliegenden Rechtsordnung (also im Ergebnis zugunsten der Anwendung 449 So Leflar, Choice-Influencing Considerations in Conflicts Law: N.Y.U.L. Rev. 41 (1966) 267 (288 ff.): „simplification of the judicial task". 450 Vgl. Neuhaus, Zeit- und Geistesströmungen im IPR: OstZOffR 6 (1953-55) 53 ff. 11

Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

der lex fori). Freilich kann eine Übersteigerung des Gedankens der Durchsetz­ barkeit im Sinne der Gleichsetzung von Macht und Recht zur Zerstörung des IPR (wie jeden Rechtes) führen451.

3. Voraussehbarkeit, Vertrauensschutz oder Berechenbarkeit der Ent­ scheidung (diese drei Ausdrücke kommen weitgehend auf dasselbe hin­ aus): Die maßgebende Rechtsordnung soll nicht erst durch den Richter bestimmt werden, sondern schon vorher feststehen aufgrund von Krite­ rien, mit denen die Parteien rechnen durften oder mußten. Am besten ist auf die Umstände abzustellen, die den Beteiligten schon bei Vornahme der streitigen Rechtsgeschäfte usw. bekannt waren. (In diesem Sinne spricht man besonders von „Vertrauensschütz“, ohne daß es auf das tat­ sächliche größere oder geringere Vertrauen der Parteien - das schwer beweisbar ist - ankommen kann.) Zumindest sollen die Parteien vor Erhebung einer Klage bzw. vor streitiger Einlassung auf den Prozeß ihre Chancen abschätzen können. (Daran denkt man bei dem Wort „Be­ rechenbarkeit“.) a) Für den Einzelnen geht es hier vor allem darum, Dispositionen auf lange Sicht treffen zu können. Dabei darf man freilich die Kenntnis der Laien vom positiven IPR oder auch nur von seiner Fragestellung nicht überschätzen; man wird vielmehr davon ausgehen müssen, daß die mei­ sten Menschen bestenfalls das materielle Recht der ihnen zunächstliegen­ den Rechtsordnung (d. h. ihres Heimatstaates oder ihres gewöhnlichen Aufenthaltes) kennen und daß sie nicht daran denken, es könnte eine andere Rechtsordnung mit anderen als den ihnen bekannten Bestimmun­ gen Anwendung finden.

b) Vom Standpunkt der Allgemeinheit scheint die Voraussehbarkeit der Entscheidung weniger wichtig. Die Allgemeinheit, der Staat, nimmt an dem einzelnen Privatrechtsverhältnis meistens erst dann Interesse, wenn es zur Entscheidung vor Gericht kommt; insofern scheint es früh genug, wenn nunmehr das maßgebende Recht klargestellt wird. Aber die Gewißheit der Parteien, nach welcher Rechtsordnung sie sich in ihrem Verhalten zu richten haben (und zwar gerade dann, wenn ein Prozeß 1 Warnend richtet sich Bland, Int. Comp. L. Q. 8 (1959) 577 ff., gegen „the major premiss’ that power [im Sinne von kollisionsrechtlicher Zuständig­ keit] resides where judgments can be made effective" (578), denn „logic like this, if pushed to its ultimate conclusion, would mean, in most cases, the sovereignty of the lex fori“ (583). Vgl. KOLLEWIJN, Ned. T. Int. R. 7 (1960) 385, gegen den Satz „Macht wird von uns in Recht verwandelt“: „Das weckt bei uns, vor allem in dieser Sprache, unangenehme Erinnerungen.“ 46

inarticulate

vermieden werden soll), ist zugleich eine wichtige Voraussetzung der allgemeinen Autorität des Rechtes in Handel und Wandel und damit des Rechtsfriedens. In der verbreiteten Auffassung der Rechtssicherheit als bloße Berechenbar­ keit eines künftigen Urteils und ihrer entsprechenden Geringwertung steckt im­ mer noch ein Stück des römischen aktionenrechtlichen Denkens, welches das Recht nur im Prozeß sieht, während es für heutige, wenigstens kontinentaleu­ ropäische Vorstellungen unabhängig vom Prozeß zu wissen gilt, was rechtens ist. Im innerstaatlichen Verkehr mag für dieses Wissen die allgemeine Rechts­ vorstellung eine so große Rolle spielen, daß das Gesetz sich zum Teil geradezu auf Treu und Glauben oder die Verkehrssitte beziehen kann. Aber im Bereich des IPR ist mit Rücksicht auf seine weitgehende Unbekanntheit die wün­ schenswerte Klarheit für die Parteien öfter als sonst nur durch eine feste Nor­ mierung zu schaffen. Besonders wichtig ist die Voraussehbarkeit dort, wo sich für die Beteiligten aus dem Widerspruch mehrerer in Betracht kommender Rechtsordnungen eine Pflichtenkollision ergeben könnte, wo also die eine Rechtsordnung befiehlt, was die andere verbietet (vgl. oben § 6 I bei N. 146). Aber selbst in den Fäl­ len, in denen eine richterliche Rechtsgestaltung von dem vorherigen Verhalten der Parteien unabhängig ist, sollten diese die Verfahrenschancen übersehen können.

Jedoch darf man nicht um der vermeintlichen Rechtssicherheit willen eine rein mechanische Anknüpfung wählen, die in vielen Fällen zu of­ fensichtlich unbilligen Ergebnissen führt. Denn eben wegen dieser Er­ gebnisse hat sie keine Aussicht auf allgemeine Anerkennung und Durch­ setzung und dient daher am Ende doch nicht der Rechtssicherheit452. 4. Ausschließung einer Gesetzesumgehung: Besonders für die Gebiete des zwingenden Rechts (Familienrecht, Pflichtteils- oder Noterbrecht) sind Anknüpfungen zu bevorzugen, die von den Beteiligten nicht will­ kürlich gesetzt werden können, weil sonst unangenehme Vorschriften (z. B. zur Erschwerung der Ehescheidung) umgangen oder gesetzliche Vorteile (z. B. Unterhaltsansprüche) erschlichen werden können. Dieser Gedanke spricht besonders gegen die so oft aus Gründen der Rechtsklar­ heit propagierte Geltung der lex loci actus für Rechtsgeschäfte aller Art. Näheres zur Gesetzesumgehung unten § 25: Fraus legis. 452 Vgl. Judge Frank in Siegelman v. Cunard White Star, 221 F. 2d 189, 206 (2d Cir. 1955), unter Berufung auf Cavers, Rheinstein und Goodrich: „It is generally agreed that the decisions of conflict-of-laws cases by mechanized rules ... cannot be defended on the ground that they promoted certainty and uniformity, since such results have not been thus achieved.“ 11*

5. Internationale Entscheidungsgleichheit: Es soll eine Anknüpfung gewählt werden, die von dem jeweiligen Verfahren unabhängig ist; sie muß nicht unbedingt die international verbreitetste, aber international annehmbar sein (siehe oben § 6 III 2, IV). 6. Interne oder innere Entscheidungsgleichheit, auch „materielle Har­ monie“ genannt: Jede inländische Entscheidung soll nicht nur mit einem eventuellen ausländischen Urteil über denselben Sachverhalt, sondern erst recht mit anderen inländischen Entscheidungen in Einklang stehen. Das gilt nicht nur für den Fall, daß genau dieselbe Frage - z. B. nach der Gültigkeit einer Ehe - einmal als Hauptfrage (etwa bei einer Fest­ stellungsklage) und einmal als Vorfrage (etwa für einen Unterhaltsan­ spruch) in Rede steht. (Siehe darüber unten § 46: Vorfrage.) Vielmehr ist auch an verschiedene Rechtsfragen aus einem einheitlichen Lebens­ verhältnis zu denken (siehe oben § 16: Teilfrage); denn überall, wo auf Einzelfragen eines zusammenhängenden Lebensverhältnisses verschiede­ ne Rechtsordnungen angewandt werden, besteht die Gefahr von Über­ schneidungen und Gegensätzen zwischen diesen Rechtsordnungen, so daß sich Rechtsunsicherheit und Ungerechtigkeiten, teilweise auch mate­ rielle Nachteile ergeben können453. Als Mittel, den internen Entschei­ dungseinklang zu sichern, ist im Bereich der Anknüpfung die Wahl glei­ cher oder wenigstens sehr ähnlicher Anknüpfungsmomente zu nennen. Wenn wir die genannten sechs Maximen überschauen, so können wir sie paarweise als verwandt zusammenordnen: Eindeutigkeit und Durchsetzbarkeit, Voraussehbarkeit und Ausschließung einer Gesetzesumgehung, äußere und in­ nere Entscheidungsgleichheit; und innerhalb jedes Paares können wir das eine Mal mehr das öffentliche Interesse an der Unverbrüchlichkeit der Rechtsord­ nung betont finden (bei der Eindeutigkeit, der Ausschließung einer Umgehung, der internen Harmonie), das andere Mal mehr das private Interesse der Betei­ ligten (bei der Durchsetzbarkeit, der Voraussehbarkeit, der internationalen Entscheidungsgleichheit). Jedenfalls dienen auch diese „formalen“ Maximen ebenso wie das „formelle“ Prozeßrecht und die FormVorschriften des materiel­ len Rechts - auf ihre Weise dem Rechtsgedanken.

II.

Die materialen Maximen der Anknüpfung verlangen für jeden Ein­ zelfall eine bestimmte, „richtige“ Anknüpfung - auch wenn oft gestrit­ 453 Über das „Prinzip des Zusammenhangs“ oder die „akzessorische Anknüpfung“ siehe oben bei N. 399.

ten wird, welche das jeweils ist. Wie überall, wo der Inhalt von Recht und Gerechtigkeit näher bestimmt werden soll, gibt es zwei Arten der Argumentation: die statisch oder ontologisch begründete aus der „Natur der Sache“454 und die dynamische oder teleologische aus dem „Zweck der Norm“, dem Interesse. 1. Von der „Natur der Sachea her scheint die „richtige“ oder „ge­ rechte“ Anknüpfung zunächst diejenige zu sein, welche zu der „räum­ lich nächstgelegenen“ Rechtsordnung führt. Diese Formel betont jedoch zu stark das räumliche Element der Rechtsordnungen, das in Wahrheit, wie die Existenz rein personaler Rechtsordnungen zeigt, gar nicht ent­ scheidend ist (vgl. unten § 42). Es besteht bei dieser Fragestellung nach der räumlich nächstgelegenen Rechtsordnung die Versuchung, in dem Bestreben nach „Lokalisierung“ von Rechtsverhältnissen und Rechten die handgreiflichste, sichtbarste Beziehung als die maßgebende zu be­ zeichnen, z. B. dem Abschluß- oder Erfüllungsort eines Vertrages mehr Bedeutung beizulegen als inhaltlichen Elementen (wie der vereinbar­ ten Währung, dem rechtlichen Gepräge) oder etwa den Begehungsort ei­ nes Deliktes über dessen Zusammenhang mit einem bestimmten Rechts­ verhältnis zu stellen. Das würde aber bedeuten, in einem gedanklichen Kurzschluß die räumlichen Schatten von Rechtsordnung und Rechtsver­ hältnis, nämlich Rechtsgebiet bzw. Lage- oder Handlungsort, mit deren Wesen, ihrer „Natur“, zu verwechseln. Mit Recht ist gegenüber der For­ mel des Schweizer Bundesgerichts von der Maßgeblichkeit des Rechtes des engsten räumlichen Zusammenhangs455 kritisch darauf hingewiesen worden, daß der Bereich des Gesetzes „kein primär räumlicher, sondern ein sozialer ist“456. Anderseits darf die Anknüpfung einer Rechtsfrage nicht rein kon­ struktiv-begrifflich nach der juristischen Natur erfolgen. Die Rechtsver­ gleichung lehrt uns, daß die rechtliche Ordnung der gleichen Lebensver­ hältnisse in den verschiedenen Rechtssystemen mit Hilfe sehr verschie­ dener Begriffe und Konstruktionen erfolgen kann, die weitgehend histo­ risch zufällig sind; die Verknüpfung des IPR mit diesen nationalen Konstruktionen würde daher die internationale Vereinheitlichung des 454 Zur Bedeutung der kollisionsrechtlichen Analyse auch für die Dogmatik des materiellen Rechts siehe oben § 13 a. E. 455 Nach Schnitzer, IPR II 635, ständige Praxis seit 1936/37. Siehe zuletzt BGE 100 (1974) II 450 (Alleinvertretungsvertrag). 456 Rene Schmid, SchwJZ 53 (1957) 234, unter Bezugnahme auf ältere Litera­ tur.

Kollisionsrechts unnötig erschweren. Auch die häufig gebrauchten For­ meln von der „most real Connection“457 oder der „most significant rela­ tionship“458 zwischen dem Sachverhalt und einer einzelnen Rechtsord­ nung können irreführen, wenn darunter die auffälligste oder quantita­ tiv stärkste (durch die größte Zahl einzelner contacts vermittelte), mas­ sivste Beziehung verstanden wird. Es kommt vielmehr darauf an, wel­ che Rechtsordnung den Kern des Falles am besten erreicht und deshalb am treffendsten den Sachverhalt regeln bzw. die Rechtsfrage beantwor­ ten kann. An der Spitze aller Formulierungsversuche steht hier wohl die Formel von Schnitzer, daß der „charakteristische Inhalt" jedes Rechts­ verhältnisses - insbesondere bei SchuldVerhältnissen die „charakteristi­ sche Leistung“ - für die Anknüpfung bestimmend sein soll (Näheres dazu unten § 24). Eine versteckte Bezugnahme auf die Natur der Sache enthält die früher oft gebrauchte Formel von der Rechtsordnung, der die Beteiligten sich „unterwor­ fen^ haben, sofern damit nicht eine gezielte, durch rechtsgeschäftlichen Akt er­ folgende Unterwerfung (wie bei der ausdrücklichen Rechtswahl) gemeint ist, sondern eine bloß präsumtive oder mittelbare Unterwerfung durch irgendeine Handlung (z. B. Wohnsitznahme, Erwerb von Rechten in einem Lande), als deren natürliche Folge die Unterworfenheit unter die betreffende Rechtsord­ nung angesehen wird. Im Grunde handelt es sich hier entweder um eine bloße Tautologie (man unterwirft sich derjenigen Rechtsordnung und begründet da­ mit ihre Maßgeblichkeit, die nach der Natur der Sache ohnehin maßgebend ist), oder die freie Unterwerfung ist gar nicht als Auswahlprinzip, sondern nur als Rechtfertigung für die Geltung des Gesetzes gemeint459. (Kritisch dazu un­ ten in § 33: Parteiautonomie unter II a. E.)

2. Von dem Zweck der Norm oder den Interessen ist neuerdings viel die Rede. a) Die Bestimmung der Zwecke und Interessen ist wandelbar und oft subjektiv gefärbt. Gegenüber ihrer einseitigen Betonung seien des­ 457 So schon Westlake, A Treatise on Private International Law2 (1880) § 212 (die erste Auflage von 1858 ist mir nicht zugänglich); heute in der englischen Recht­ sprechung vorherrschend: Dicey/Morris 744 (zu Rule 146) mit Nachweisen. 458 So besonders das amerikanische Restatement2, § 145 (Torts) und § 188 (Contracts). 459 So sprechen z. B. englische Entscheidungen von der „Unterwerfung“ unter die lex loci celebrationis matrimonii im Sinne der Zumutbarkeit der Anwendung dieses Rechtes; siehe etwa Gatus v. Gatus, The Times 19. 7. 1960: Wenn Flüchtlinge aus Ju­ goslawien und Rumänien sich in Österreich von einem orthodoxen Priester trauen las­ sen, so „unterwerfen“ sie sich damit dem österreichischen Recht, nach welchem diese Trauung absolut unwirksam ist! Mit Recht sagt Kollewijn, Ned. T. Int. R. 8 (1961) 174: „Es ist höchst merkwürdig, wie zäh diese jahrhundertealte Fiktion ist.“

halb zwei Vorbehalte angebracht. Erstens kann in der Regel nicht die besondere Interessenlage jedes Einzelfalles analysiert werden, sondern es können nur typische Interessen beachtet werden (siehe oben § 12: Ty­ penbildung). Zweitens liegt es in der Natur jeder „Interessenjurispru­ denz", daß sie leicht die handgreiflichen Einzelinteressen überbewertet und das allgemeine, langfristige Interesse an Gleichmäßigkeit und Stabi­ lität der Rechtsübung, an Rechtssicherheit vernachlässigt460. (1) Am stärksten ist im Konfliktsfall das Interesse des Staates an der Anwendung seines eigenen Rechts. Dabei geht es bald um die allgemeine Bindung der Rechtsunterworfenen an diesen Staat (z. B. von Auswan­ derern durch das Staatsangehörigkeits- oder von Einwanderern durch das Wohnsitzprinzip), bald um deren Schutz vor den Nachteilen frem­ der Gesetze, bald um die Durchsetzung wirtschaftspolitischer Zwecke, insbesondere bei den sog. Eingriffsnormen (siehe oben § 4 II). Ein ent­ sprechendes Interesse des Staates, das eigene Recht nicht angewandt zu sehen, kommt praktisch kaum vor; denkbar wäre etwa, daß einzelne be­ günstigende Normen nur für Inländer oder benachteiligende Vorschrif­ ten nur für Ausländer gelten sollen. Ferner kann das politische Interesse die Anwendung eines bestimmten unter mehreren in Betracht kommenden fremden Rechten fordern: bis­ weilen die Anwendung der Gesetze eines Staates, mit dem Gegenseitig­ keit vereinbart ist, bisweilen desjenigen Staates, der an der Sache ein „international-typisches“ Interesse hat461, wie es unter entsprechenden Umständen auch der Forumstaat besitzt. (2) Unter den übrigen, spezifisch privatrechtlichen Zwecken und In­ teressen sind vor allem die persönlichen Interessen der Beteiligten zu nennen. Sie können übereinstimmen (z. B. bei der Rechtswahl für ei­ nen Vertrag) und können sich widersprechen; im letzten Fall muß die Kollisionsnorm sich entweder für eine Seite entscheiden (z. B. für den Schenker gegenüber dem Beschenkten, für den Verletzten gegenüber dem Delinquenten, nach dem Schweizer Charles Knapp möglichst für den „Schwachen“462), oder sie hat einen Ausgleich zu suchen (etwa Gleichberechtigung von Mann und Frau - siehe oben § 5 III). 460 Treffend Reichert-Facilides, Rechtsfragen des Wettbewerbs zwischen inlän­ dischen und ausländischen Versicherern, in: Festschrift Klingmüller (1974) 375 (386): „Nimmt man das IPR für wirtschaftspolitische Ziele in Dienst, so ist zu for­ dern, daß dies im Rahmen seiner immanenten Ordnungsvorstellungen geschieht und daß insbesondere den Postulaten nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit... Rech­ nung getragen wird.“ 481 ZWEIGERT, RabelsZ 14 (1942) 291.482 482 Ch. Knapp, in: Mlanges Guisan (Lausanne 1950) 198 ff., bespr. in RabelsZ 17 (1952) 509 ff.

(3) Jedoch sind auch objektive Interessen zu berücksichtigen wie Sicherheit und Bequemlichkeit des Geschäftsverkehrs, die gerade im in­ ternationalen Bereich besonders geschützt werden463, oder die Einheit der Familie oder die Vermeidung einer rechtlichen Zersplitterung von Nachlässen. (Über den Schutz wohlerworbener Rechte und den favor negotii siehe die beiden folgenden Paragraphen.) b) Die Möglichkeit einer Förderung materialer Zwecke durch das IPR wird immer wieder mit dem Hinweis bestritten, daß der Inhalt der schließlich zur Anwendung kommenden Rechtsordnung bei der An­ knüpfung meistens gar nicht in den Blick tritt. So hat man in der deut­ schen Diskussion über die Gleichberechtigung der Frau hervorgehoben, das vom EGBGB für maßgebend erklärte Heimatrecht des Mannes kön­ ne für die Frau günstiger sein als ihr eigenes464. Demgegenüber hat Makarov mit Recht dargelegt, daß die Entscheidung für das Perso­ nalstatut einer bestimmten Person, unabhängig von dessen konkretem In­ halt, einfach deshalb als Bevorzugung dieser Person erscheinen kann, weil das Personalstatut die unter Umständen von ihr selbst gewählte, ihr gewohnte und ihr am besten bekannte Rechtsordnung darstellt465. Das wirkt sich besonders dann aus, wenn die zur Wahl stehenden materiellen Regelungen im ganzen gleichwertig, aber im Detail verschieden sind. Es handelt sich hier nicht nur um psychologische, sondern auch um sub­ stantielle Vorteile für die Anknüpfungsperson (zwar nicht in jedem Ein­ zelfalle, aber doch in der Tendenz). Entsprechendes gilt für die An­ knüpfung an den Handlungsort dieser oder jener Person (z. B. des Offe­ renten oder Akzeptanten beim Vertrag). Umgekehrt kann die Wahl ei­ ner unpersönlichen Anknüpfung eine betont neutrale Wirkung haben. Schließlich ist der oben erwähnte Gedanke der materiellen Harmonie zu beachten: Wenn auf möglichst viele Rechtsbeziehungen eines Menschen

483 Siehe für das französische IPR Silz, La notion de forme en d.i.p. (1929) 33, 3-98, im deutschen IPR Artt. 7 III 1, 11 I 2 und 16 EGBGB, Art. 91 II 1 WechselG, Art. 60 II 1 ScheckG. 464 So zuerst Dölle, in: Fs. Kaufmann (oben N. 27) 40, vorsichtiger ders., IPR2 (1972) 57: „Die Frau kann u. U. ein Interesse daran haben, nicht dem Recht des Mannes unterworfen zu sein, sondern ihrem eigenen.“ 465 Makarov, Die Gleichberechtigung (oben N. 442) 385. Daß das Heimatrecht einer Person überdies „auf Personen ihrer Nationalität ausgerichtet“ und „von einem Gesetzgeber ihrer Nationalität geschaffen“ sei (Müller-Freienfels, JZ 1957, 144), trifft nicht immer zu, z. B. dann nicht, wenn der Heimatstaat altes Recht eines andern Staates übernommen hat oder wenn er auf das Wohnsitzrecht verweist.

oder innerhalb einer Familie oder eines Unternehmens dieselbe Rechts­ ordnung Anwendung findet, so liegt das regelmäßig in deren Interesse.

c) Auch die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Verfolgung mate­ riellrechtlicher Ziele mit Hilfe des Kollisionsrechts wird bisweilen be­ zweifelt. Insbesondere wurde gesagt, daß „es nicht zu den Funktionen einer Kollisionsnorm gehört, einen für das eigene Sachrecht anerkannten Grundsatz dadurch außerhalb des eigenen Rechtsanwendungsbereiches zur Geltung zu bringen, daß man ihn bei der Bestimmung der maßge­ benden Rechtsordnung entscheidend sein läßt“, und mit dieser Begrün­ dung wurde es abgelehnt, „ein inlandsrechtliches Prinzip in einen Be­ reich zu projizieren, für den andere Maximen die Vorherrschaft verlan­ gen müssen“466. Aber das inländische IPR, das dem Richter die anzu­ wendende Rechtsordnung vorschreibt, gehört ebenso wie die Vorschrif­ ten über das von ihm einzuschlagende Verfahren mit zu dem inländi­ schen Rechtsanwendungsbereich, der den inländischen Wertungen unter­ liegt. So ist im Internationalen Kindschaftsrecht - um nur dieses Beispiel zu nen­ nen - der Gesichtspunkt des Kindeswohls auch für die Anknüpfung zu beach­ ten. Zwar entfallen hier die oben (unter b) genannten drei MAKARovschen Ge­ sichtspunkte für die Wahl des Personalstatuts. Aber es bleibt der Gedanke der materiellen Harmonie: Es sollte alles geschehen, um eine einheitliche rechtliche Behandlung zumal auch des unehelichen Kindes zu erreichen, damit dieses nicht unter einem Vielerlei der in Betracht kommenden Rechtsordnungen mit ihren unvermeidlichen Überschneidungen und Gegensätzen zu leiden hat; denn beim Kind ist das Verhältnis zu seinen Eltern von größter Bedeutung für seine gesamte Rechtsstellung, und deshalb ist der Einklang aller diesbezüglichen Normen mit seinem Personalstatut besonders wichtig, während für die Eltern das Verhältnis zum Kinde im allgemeinen nur eine begrenzte Bedeutung hat, weshalb hier insbesondere der Gesichtspunkt zurücktreten mag, mit welcher Regelung die Eltern rechnen konnten.

Allerdings ist zuzugeben, daß ein für das Sachrecht akzeptierter Grundsatz nicht unbedingt im gleichen Maße auch für das IPR rich­ tunggebend sein muß, sondern daß hier unter Umständen „andere Maxi­ men die Vorherrschaft verlangen müssen“, insbesondere die zu I ge­ nannten formalen Gesichtspunkte; denn die genannten materialen Inter­ essen sind nur typische Interessen, die nicht in jedem Einzelfall auf dem Spiele stehen. 466 Dölle, in: Fs. Kaufmann (oben N. 27) 39 f.; wiederum vorsichtiger IPR2 (1972) 44 f.

ders.,

III. Eine allgemeine Rangordnung der verschiedenen formalen und mate­ rialen Maximen der Anknüpfung läßt sich nicht aufstellen, weil deren relatives Gewicht von Fall zu Fall verschieden sein kann467. Vor allem läßt sich - hier wie sonst - zwischen Rechtssicherheit und Gerechtig­ keit keine generelle Entscheidung treffen. Vielmehr sind die einzelnen Gesichtspunkte, die einander widerstreiten mögen oder auch zusammen­ fallen können (wie in dem oben angeführten Beispiel des Kindschafts­ rechtes die Gesichtspunkte des Kindeswohls und der materiellen Harmo­ nie zusammenfallen), jeweils abzuwägen und nach Möglichkeit auszu­ gleichen. Auf einige öfter genannte, aber in Wahrheit wenig tragfähige Maxi­ men soll im folgenden besonders eingegangen werden.

§21: Schutz wohlerworbener Rechte

Der Begriff der wohlerworbenen Rechte (droits acquis, vested rights) spielt im IPR eine dreifache Rolle: einmal als Begründung für die An­ wendung ausländischen Rechtes überhaupt, zum andern für die Aus­ wahl der jeweils anzuwendenden Rechtsordnung, schließlich im Rahmen der allgemeinen Vorbehaltsklausel. I. Als Grundlage der Anwendung ausländischen Rechtes wird dieser Be­ griff besonders im anglo-amerikanischen Rechtskreis herangezogen. Dort herrschte lange Zeit die Vorstellung, ein Gericht könne immer nur inländisches Recht anwenden. Man suchte deshalb eine gedankliche Brücke, um den Gerichten die Berücksichtigung fremden Rechtes an­ nehmbar zu machen, und fand sie in der Erklärung, der Richter habe die nach ausländischem Recht erworbenen subjektiven Rechte anzuer­ kennen (oder gar: die inländische Rechtsordnung verleihe dem Inhaber 467 Anders „unter europäischem Blickwinkel“ Elke Suhr, Das Recht des Perso­ nalstatuts im Zeichen der europäischen Integration (Diss. Hamburg 1967, bespr. in Ra­ belsZ 32 [1968] 555 f.) 58-66; sie erarbeitet dort folgende Rangordnung der Gerech­ tigkeitsziele des IPR: internationaler Entscheidungseinklang, territoriale Rechtssicher­ heit, Wahl des inhaltlich angemessensten Rechtes.

eines im Ausland erworbenen Rechtes ein dem fremden Recht nachgebil­ detes inländisches Recht). Siehe dazu unten § 43 I. II.

Als Anknüpfungsmaxime sagt der Grundsatz, daß möglichst diejenige Rechtsordnung gewählt werden soll, welche zur Anerkennung der nach einem ausländischen Recht erworbenen subjektiven Rechte führt468. 1. Gegen die Anerkennung von „wohlerworbenen“ Rechten hat be­ reits Savigny den entscheidenden Einwand mit den Worten formu­ liert: „Dieser Grundsatz führt auf einen bloßen Zirkel. Denn welche Rechte wohlerworben sind, können wir nur erfahren, wenn wir zuvor wissen, nach welchem örtlichen Rechte wir den vollzogenen Erwerb zu beurtheilen haben.“469 Wollte man jedes subjektive Recht, das nach ir­ gendeiner Rechtsordnung besteht, als „wohlerworben“ betrachten und es demgemäß anerkennen, so liefe das auf das System einseitiger Kollisi­ onsnormen hinaus: anwendbar wäre jede Rechtsordnung, die sich selbst für zuständig erklärt (vgl. dazu oben § 4 I und II). Auch wenn wir einige Einschränkungen machen - nämlich daß die betreffende Rechtsordnung sich nicht ganz willkürlich für zuständig er­ klären darf und daß ihre Anwendung nicht dem Geltungswillen des in­ ländischen Rechtes widersprechen soll -, so bleiben doch Widersprüche zu dem herrschenden System allseitiger Kollisionsnormen. Denn der Richter müßte anstatt von der inländischen Kollisionsnorm von der Prüfung aller in Betracht kommenden ausländischen Rechtsordnungen ausgehen, um zu ermitteln, ob eine von ihnen ein subjektives Recht ge­ schaffen hat. Selbst wenn vorausgesetzt wird, daß die betreffende frem­ de Rechtsordnung im Augenblick des Rechtserwerbes tatsächlich ange­ wandt worden ist (so daß man nicht lange nach ihr suchen muß) und daß seinerzeit gar keine Beziehung zum Inland bestanden hat470, so 468 Eine neue Version, wonach ein im Inland einmal als gültig anerkanntes Rechts­ verhältnis auch alle entsprechenden Rechtsfolgen haben soll, betrifft das Problem der Vorfrage (unten § 46). 469 Savigny 132. Vgl. Horwitt v. Horwitt^ 90 F. Supp. 528, 530 (D. Conn. 1950): „It is of no great help to say that the rights cannot be changed because they are ,vested*, for by ,vested* we mean essentially that we will not allow them to be changed.“ - Die Ehrenrettung von Zirkelschlüssen durch Arthur Kaufmann, Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung, in: Festschrift Gallas (1973) 7 ff., be­ rührt m. E. nicht die folgenden Ausführungen. 470 Francescakis, Theorie du renvoi (oben N. 301) 189 ff., 262.

müßte der inländische Richter beim Widerstreit (positiven Konflikt) zweier ausländischer Rechte ohne Rücksicht auf das eigene Kollisions­ recht für diejenige Rechtsordnung Partei nehmen, nach welcher ein sub­ jektives Recht entstanden ist. Angenommen z. B., eine minderjährige Niederländerin hat entgegen den Vorschriften ihres Heimatrechts (Art. 6 Wet A. B., Art. 35 I B. W.) in Schott­ land nach dreiwöchigem Aufenthalt gemäß dortigem Recht ohne elterliche Zu­ stimmung geheiratet471. Dann müßte nach dem Grundsatz der wohlerworbenen Rechte der deutsche Richter zugunsten des schottischen Rechtes gegen das nie­ derländische Heimatrecht entscheiden. Warum 'das?472

Zum mindesten müßte man Fälle der Gesetzesumgehung ausschließen, weil bei ihnen der Gedanke des Vertrauensschutzes entfällt. Unter dem­ selben Gesichtspunkt könnte man daran denken, nur bewußt erworbene Rechte zu schützen. Beides führt aber zu schwierigen Abgrenzungs- und Beweisfragen, die eine gleichmäßige, objektive Anwendung des Grund­ satzes in Frage stellen. Einzelne Autoren haben daher den Grundsatz noch weiter einge­ schränkt und eine Abweichung vom inländischen Kollisionsrecht nur für den Fall gefordert, daß zur Zeit der Entstehung des betreffenden Sach­ verhalts alle oder wenigstens die Mehrzahl der vernünftigerweise in Be­ tracht kommenden Rechtsordnungen ein anderes Recht für maßgebend erklärten, als es das inländische Kollisionsrecht tut473. Aber in diesem 471 Vgl. zu diesen sog. Gretna-Green-Ehen etwa Knickenberg, StAZ 1960, 45 ff. (historisch); Erdsiek, NJW 1960, 2232 f. (besonders zur heutigen Bedeutung). Beide erwähnen nicht, daß in ganz Schottland die formlose Eheschließung durch Er­ klärung „de praesenti“ nach Common Law, zu der es auch keiner Zeugen bedurfte, erst mit Wirkung vom 1. 7. 1940 beseitigt wurde; siehe Marriage (Scotland) Act 1939, sec. 5, i.V.m. Postponement of Enactments (Miscellaneous Provisions) Act 1939 und Marriage (Scotland) Act 1939 (Commencement) Order 1940. 472 Noch weiter geht der Belgier Graulich, Principes (oben N. 445) 175 ff.: er will Entstehung und Untergang eines Rechtsverhältnisses, wenn sie sich außerhalb der inländischen „Rechtssphäre“ vollziehen, unter Ausschaltung des inländischen Kollisi­ onsrechts und ohne Rücksicht auf etwa interessierte dritte Rechtsordnungen nach dem Kollisionsrecht der Entstehungssphäre beurteilen. Praktisch bedeutet das eine unbe­ gründete Bevorzugung der lex loci actus auf Kosten des normalerweise etwa maßgebli­ chen Heimatrechts. 473 Meijers, Het vraagstuk der herverwijzing: W.P.N.R. 69 (1938) 77 ff., 89 ff., 101 ff., 113 ff. (115) = Verzamelde privaatrechtelijke opstellen II (1955) 366 (395) = La question du renvoi: Bull. I. J. I. 38 (1938) 191 (225 f.); Francescakis, Rev. crit. 43 (1954) 568 ff.; Makarov, Rev. crit. 44 (1955) 439 ff. Näheres RabelsZ 21 (1956) 730 f. sowie seither bei Francescakis, Theorie du renvoi (oben N. 301) 192 ff. - Ein gesetzliches Beispiel bildet Art. 21 II des (nicht in Kraft getretenen) einheitlichen IPR der Benelux-Staaten (Vertrag vom 3. 7. 1969, Anlage); er verweist auf das IPR „des pays que ce rapport juridique concernait essentiellement".

Fall wird man regelmäßig mit Hilfe einer systemgerechten Konstruktion zum gleichen Ergebnis gelangen, nämlich mit der akzeptierten Weiter­ verweisung (siehe unten § 35 II, § 36 III l)474. 2. Zum andern ist die Theorie der wohlerworbenen Rechte wegen ih­ rer Beschränkung auf subjektive Rechte bedenklich. Oft ist es schwer, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen subjektivem Recht (einschließ­ lich aufschiebend oder auflösend bedingtem Recht) und bloßer Anwart­ schaft, Erwartung oder sonst einem „Reflex objektiven Rechts“. Außer­ dem ist nicht einzusehen, weshalb etwa im Widerstreit zwischen Gläubi­ ger- und Schuldnerinteresse das Verlangen des Gläubigers nach einer fremden Leistung den Vorzug haben soll gegenüber dem Verlangen des Schuldners nach Freiheit oder warum in Konflikten zwischen Individu­ um und Gemeinschaft der Anspruch des Individuums, der öfter die Ge­ stalt eines subjektiven Rechtes annimmt als das Interesse der Gesamt­ heit, dementsprechend öfter vorgehen sollte475. Schließlich gibt es Pri­ vatrechts Verhältnisse, bei denen überhaupt kein subjektives Recht in Er­ scheinung tritt oder die fremde Rechtsordnung gerade zur Abwehr eines nach inländischem Recht begründeten subjektiven Rechtes angerufen wird, z. B. bei Formfehlern und andern Mängeln eines Rechtsgeschäfts, insbesondere bei Fehlen oder Beschränkung der allgemeinen oder beson­ deren Geschäftsfähigkeit (Handlungsfähigkeit, Testierfähigkeit, Wech­ selfähigkeit). Eine Auflösung aller Rechtsverhältnisse in eine Summe subjektiver Rechte würde oftmals Zusammengehöriges auseinanderrei­ ßen (besonders bei Dauer- und anderen komplexen Rechtsverhältnissen) und nicht der Billigkeit entsprechen. III. Im Rahmen der allgemeinen Vorbehaltsklausel (siehe unten § 49: Ordre public) kann der Schutz wohlerworbener Rechte gesichert wer­ den, ohne daß es dazu einer besondern Regel bedarf. Zu denken ist vor allem an die Ablehnung fremder rückwirkender Gesetze. (Ob auch eine 474 Anderseits muß in einem Lande, in welchem die Beachtung der Rück- oder Weiterverweisung gesetzlich verboten ist, diese neue Theorie als Umgehung des Ren­ voi-Verbots angesehen werden. So sagt Quadri, Dir. Int. 13 (1959) I 112, die These von Francescakis (vorige Note) könne als eine wahre Mine unter Normen wie Art. 30 Disp. prel. C. civ. betrachtet werden. 475 Vgl. zur Aufhebung wohlerworbener Rechte das Zitat aus RGZ 104, 58 unten N. 886.

inländische materielle Norm aus Billigkeitsgründen zurückgesetzt wer­ den kann, ist eine Frage der internen allgemeinen Rechtslehre.)

IV. Insgesamt erscheint die Theorie der wohlerworbenen Rechte als un­ klar und einseitig. Auch wenn man von dem speziellen Erfordernis eines subjektiven Rechtes absieht und somit einen allgemeinen Grundsatz des „abgeschlossenen Sachverhalts“ entwickelt476, entfallen nicht die zuerst (unter II 1) genannten Bedenken gegen die Durchbrechung des norma­ len Kollisionsrechts. Der berechtigte Kern aller dieser Theorien ist der schon oben (§ 20 I 3) genannte Gedanke des Vertrauensschutzes, der so­ wohl als Auslegungsregel wie auch rechtspolitisch bei der Schaffung neuer (gesetzlicher oder richterlicher) Kollisionsnormen Beachtung ver­ dient, sofern nicht darüber andere Anknüpfungsmaximen vernachlässigt werden. Einen „Grundsatz“ des Schutzes wohlerworbener Rechte oder abgeschlossener Sachverhalte aber, den man gegen die positiven Kollisi­ onsregeln ausspielen könnte, kennt das geltende deutsche IPR nicht, und es besteht auch kein Bedürfnis nach einer entsprechenden Ausnahme­ klausel, weil sich dieser Schutz mit Hilfe des üblichen Kollisionsrechts hinreichend verwirklichen läßt.

S 22: Favor negotii - Günstigkeitsprinzip

Der favor negotii, die Begünstigung der Gültigkeit eines Rechtsge­ schäftes oder Rechtsverhältnisses, ist uns aus dem materiellen Recht als favor matrimonii und favor testamenti bekannt477; soweit er eine Be­ weiserleichterung enthält, steht er im Gegensatz zu der allgemeinen Re­ gel, daß eine Änderung der bestehenden Rechtslage (also auch das Zu­ standekommen eines Rechtsgeschäftes) nicht vermutet wird. Im Kollisi­ 478 Dies tun die in N. 473 genannten Autoren. 477 Einen intertemporalen favor testamenti enthält in Deutschland § 51 III TestamentsG vom 31. 7. 1938 (RGBl. I 973) (der bei der Wiedereinführung des formellen Testamentsrechtes in das BGB aufrechterhalten wurde, BGBl. 1953 I 33): „Bei Erbfäl­ len, die sich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes ereignen, sind an die Gültigkeit eines Testaments keine höheren Anforderungen zu stellen, als nach diesem Gesetz für ein Testament der betreffenden Art zulässig ist, auch wenn das Testament vor dem In­ krafttreten dieses Gesetzes errichtet ist. Dies gilt entsprechend für Erbverträge.“

onsrecht spricht man von favor negotii hauptsächlich - aber nicht al­ lein - bei der Form der Rechtsgeschäfte (Art. 1112 EGBGB: „Es ge­ nügt jedoch die Beobachtung der Gesetze des Ortes, an dem das Rechts­ geschäft vorgenommen wird“). I.

Die Begünstigung kann auf drei Arten erfolgen (die in Art. 1112 Zu­ sammentreffen) : 1. Es wird eine bequeme Anknüpfung gewählt, die auf eine leicht zu ermittelnde und von den Beteiligten meist befolgte Rechtsordnung führt (im Beispiel des Art. 11: das Recht des Handlungsortes). Ob man hier von favor negotii spricht oder statt dessen von favor gerentis (Begün­ stigung des Handelnden)478, ist eine Frage des Blickpunktes: Vor und bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts liegt es im Interesse des Handeln­ den, daß ihm die Befolgung derjenigen Vorschriften gestattet wird, die er am mühelosesten erkunden und einhalten kann. Nach der Vornahme des Rechtsgeschäftes liegt es im Interesse seiner Gültigkeit - auch wenn der Handelnde es gern für nichtig erklärt sähe -, diese Gültigkeit nach derjenigen Rechtsordnung zu beurteilen, deren Befolgung am nächsten lag. Hier handelt es sich um eine Art des Vertrauensschutzes - gleich­ gültig, welche Partei im Einzelfall auf die Gültigkeit des Geschäftes ver­ traut479.

2. Eine Teilfrage (vgl. oben § 16: Teilfrage) wird von der Hauptfra­ ge abgespalten, damit sie einem günstigeren Statut unterstellt werden kann, das für die Hauptfrage nicht in Betracht kommt. So wird durch Art. 11 I 2 EGBGB nur die Form des Rechtsgeschäftes den Gesetzen des Abschlußortes unterstellt, wahrend im übrigen (für die materiel­ len Voraussetzungen und Wirkungen) im Personen- und Familienrecht die Staatsangehörigkeit oder der Wohnsitz, im Vertragsrecht der Wille der Partei­ en oder der Erfüllungsort maßgebend ist. Ferner wird nach Art. 24 III 1 EGBGB die Gültigkeit der von einem Eingebürgerten vor seiner Einbürgerung errichteten Verfügung von Todes wegen nicht nach dem allgemeinen Erbstatut 478 So ZWEIGERT, Zum Abschlußort schuldrechtlicher Distanzverträge, in: Fest­ schrift Rabel I (1954) 637. 479 Mit Recht bemerkt hierzu Lando, On the Form (oben N. 424) 257: „A legis­ lator who wants informal contracts to be valid when made must also wish to facilitate the making of such contracts... A favor negotii calls for a favor gerentis. “

beurteilt (d. h. nach dem deutschen Heimatrecht zur Zeit des Todes: Art. 24 I EGBGB), an das er bei der Errichtung im allgemeinen noch nicht dachte, son­ dern nach dem Heimatrecht zur Zeit der Errichtung.

Auch diese zweite Form des favor negotii unterscheidet sich nicht von der Durchsetzung anderer materiellrechtlicher Interessen im Kollisions­ recht; z. B. erfolgt auch der Schutz der nicht oder nur beschänkt Ge­ schäftsfähigen nach Art. 7 I durch eine Sonderanknüpfung der Ge­ schäftsfähigkeit als Teilfrage. 3. Durch alternative Anknüpfung werden zwei verschiedene Rechts­ ordnungen zur Verfügung gestellt, und das Rechtsgeschäft ist gültig, wenn es auch nur einer von beiden entspricht. Außer wiederum in Art. 1112 EGBGB finden wir diese Alternative etwa in Art. 92 III WechselG = Art. 62 III ScheckG, wonach für die Form von Er­ klärungen zwischen Inländern neben dem Ortsrecht das gemeinsame Heimat­ recht gilt, sowie bezüglich der allgemeinen und besonderen Geschäftsfähigkeit von Ausländern im Inland in Art. 7 III EGBGB und Art. 91 II WechselG = Art. 60 II ScheckG, wonach Heimatrecht und Ortsrecht konkurrieren480. (In den letzteren Fällen spricht man statt vom favor negotii oft vom Schutz des Verkehrsinteresses oder der Sicherheit des Geschäftsverkehrs.) Eine ganze Rei­ he von Anknüpfungen stellt das Haager Abkommen über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anwendbare Recht vom 5. 10. 1961 in Art. 1 bereit. Berechtigt ist die alternative oder gar vielfache Anknüpfung, die ent­ gegen dem Grundsatz des klassischen IPR die Wahl zwischen mehreren Rechtsordnungen von deren materiellem Inhalt abhängig macht und da­ mit den Richter besonders belastet, bezüglich der Form der Rechtsge­ schäfte aus denselben Erwägungen wie die Sonderanknüpfung der Form (oben § 17 I). Auch soweit die Gültigkeit eines Vertrages von der Ge­ schäftsfähigkeit des Vertragsgegners abhängt, ist es oft schwer, das in erster Linie maßgebende fremde Recht zu kennen, so daß die ausschließ­ liche Anwendung dieser Rechtsordnung dazu führen würde, daß im in­ ternationalen Verkehr öfter als im Binnenverkehr ein Rechtsgeschäft ungültig wäre481. 480 Diese Kollisionsnormen für die Geschäftsfähigkeit haben ihr Vorbild bereits in § 26 der Einleitung zum preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, der allerdings nur für wohnsitzlose Ausländer galt. 481 Eine materielle Begünstigung der „Sicherheit im Rechtsverkehr“ für internatio­ nalrechtliche Fälle schafft BGH 28. 1. 1960, IPRspr. 1960-61 Nr. 186, nämlich eine erleichterte Annahme der passiven Parteifähigkeit eines ausländischen Unternehmens, wenn dem inländischen Geschäftspartner diesbezügliche Erhebungen kaum möglich sind und die Ermittlung der im Ausland wohnenden Hintermänner (Gesellschafter usw.) nicht zumutbar ist.

Auf anderer Ebene - nicht mehr im Bereich der Auswahl, sondern in dem der Anwendung des maßgeblichen Rechtes - liegt die Begünstigung der Gül­ tigkeit von Rechtsgeschäften durch eine Vermutung der formellen und viel­ leicht auch materiellen Rechtmäßigkeit behördlicher oder sonstwie amtlicher (besonders notarieller) Akte. Wieweit auch bei privaten Rechtsgeschäften, die nach ausländischem Recht zu beurteilen sind, im Zweifel die Gültigkeit vermu­ tet werden darf, läßt sich wohl nicht generell sagen.

II.

Eine Nachahmung des anspruchbegünstigenden favor negotii finden wir in der deutschen Rechtsprechung zum Deliktsrecht, die schon seit 1888 zugunsten der Ansprüche des Verletzten alternativ das Recht des Handlungs- oder das des Erfolgsortes anwendet482. Ferner bestimmte der österreichische IPR-Entwurf 1913/14, der die Verpflichtungen des unehelichen Vaters normalerweise dem Heimatrecht der Mutter zur Zeit der Geburt unterstellte, zusätzlich (in § 27 II): „Haben der Vater und die Mutter zur Zeit der Geburt des Kindes im Inlande den Wohnsitz, so sind die inländischen Gesetze anzuwenden, sofern sie für die Mutter oder das Kind günstiger sind.“ Die Begründung war in der zitierten Entscheidung des Reichsgerichts rein begriffsjuristisch: Bei einem Delikt, „dessen Thatbestand sich örtlich an zwei verschiedene Punkte knüpft, ... sind daher beide Orte als Orte der Begehung des Deliktes anzusehen, und daraus ergiebt sich, daß letzteres mit seinen hier streitigen Folgen von dem an dem einen und dem anderen Orte bestehenden Rechte beherrscht wird“483. Ob dabei ein favor laesi im Spiele war oder ein­ fach das Vorbild der Rechtsprechung zum forum delicti im Straf- und Zivil­ prozeß484, ist ungewiß. - Dagegen wurde die genannte österreichische Vor­ schrift ausdrücklich „aus öffentlichen Rücksichten“ empfohlen, „um nicht für uneheliche Mütter und Kinder ausländischer Staatsangehörigkeit die inländi­ sche Armenpflege in Anspruch nehmen zu müssen“485.

Neuerdings häufen sich die Vorschläge, die ein bestimmtes materielles Ergebnis begünstigen. Charles Knapp hat schon 1950 allgemein im IPR den „Schutz der Schwachen“ gefordert486. Heute wird besonders 482 RG 20. 11. 1888, RGZ 23, 305, zuletzt BGH 23. 6. 1964, IPRspr. 1964-65 Nr. 51 (Prüfungspflicht des Richters). 483 RG a.a.O. 306. 484 Vgl. die Bezugnahme auf die entsprechenden Entscheidungen in RG 15. 5. 1891, RGZ 27, 418 (420). 485 So die Begründung (S. 58) - Fotokopie in der Bibliothek des Instituts. 486 Siehe oben N. 462. 12 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

ein favor legitimitatis propagiert - die Begünstigung der Ehelichkeit ei­ nes Kindes - oder ein ganz auf das konkrete Ergebnis abstellender fa­ vor infantis487. III.

Grundsätzlich ist vom System des klassischen IPR her gegen die Wahl einer bequemen Anknüpfung und gegen die Abspaltung einer Teilfrage nichts einzuwenden, wenn sie im Einzelfall wohlüberlegt sind. Bei der alternativen Anknüpfung ist oft schwer zu überblicken, welches Recht nicht nur punktuell, sondern insgesamt einer Partei günstiger ist; inso­ fern ist ein Wahlrecht der zu begünstigenden Partei, das sie auf eigene Gefahr ausübt, einer richterlichen Entscheidung vorzuziehen488. Im üb­ rigen ist hier zu unterscheiden. 1. Es kann sich um eine bloße Verlegenheitslösung handeln, weil der Gesetzgeber bzw. die Rechtsprechung sich zwischen zwei ungefähr gleich naheliegenden Anknüpfungen oder zwischen einer traditionellen und einer modernen Anknüpfung nicht generell entscheiden mag. Zu diesen Verlegenheitslösungen gehört m. E. die alternative Anknüpfung an Handlungs- und Erfolgsort im Deliktsrecht. Die Wahl der dem Verletzten günstigeren Rechtsordnung braucht dabei nicht aus „Sympathie“ mit ihm er­ klärt zu werden489. Sie entspricht vielmehr der auch im materiellen Recht vor­ dringenden Gefährdungshaftung, welche das Risiko einer Handlung auch ohne „Verschulden“ des Handelnden diesem selbst und nicht einem andern auf­ bürdet.

2. Die gezielte Begünstigung eines bestimmten materiellen Ergebnisses (favor negotii, favor divortii ...) bzw. einer beteiligten Person (favor prolis usw.) ist je nachdem anzuerkennen oder abzulehnen, ob sie auf ei­ ner spezifisch internationalrechtlichen Erwägung beruht oder nicht. Ei­ nerseits mag das IPR den besonderen Schwierigkeiten des Rechtsver­ kehrs abzuhelfen versuchen. 487 Auf dieser Linie liegen, wenn ich recht sehe, auch die „principles of preference“ von Cavers, The Choice-of-Law Process (1965) und öfter, der freilich viel vorsich­ tiger differenziert. 488 So van Hoogstraten, L’tat präsent de la Conference de La Haye de D.I.P., in: The Present State of International Law [ILA-Festschrift] (Deventer 1973) 371 (385). 489 So aber Kegel, IPR 268.

Außer der schon erwähnten Regel locus regit actum (oben 13) liegt auf die­ ser Linie der Gedanke von Kegel, bei verschiedenem Personalstatut der Ehe­ gatten die Ehescheidung nach dem scheidungsfreundlicheren Recht mit der Be­ gründung zuzulassen: „Internationale Ehen scheitern besonders leicht, man sollte daher ihre Auflösung erleichtern.“490

Anderseits wird eine schlichte Bevorzugung derjenigen unter zwei oder gar mehr in Betracht kommenden Rechtsordnungen, die zu dem „günstigsten“ Ergebnis führt, auf die Wahl der „materiell angemessen­ sten“ Rechtsordnung hinauskommen, deren Ablehnung oben (§ 5 II 1) begründet worden ist. Eine generelle Begünstigung der inhaltlichen Gül­ tigkeit von Rechtsgeschäften - also Einschränkung allen zwingenden Rechts - ist schon gar nicht zu empfehlen491. Aber selbst die Förde­ rung der Legitimität von Kindern (damit die Folgen einer im Prinzip beibehaltenen Unterscheidung von „legitimen“ und „illegitimen“ Kin­ dern möglichst selten zu spüren sind) oder allgemein die vage Formel vom „Kindeswohl“ oder die vom „Schutz der Schwachen“ - solche leicht eingängigen, jedoch problematischen und kaum faßbaren Maxi­ men rechtfertigen allein nicht die Aufweichung des klassischen IPR-Systems, das auf seiner ersten Stufe mit guten Gründen eine materielle Ab­ wägung zwischen den verschiedenen nationalen Regelungen vermeidet und erst auf der zweiten Stufe die etwa notwendigen Korrekturen an­ bringt.

5

23: Territorialität

Das „Prinzip der Territorialität“ - oft als Schlagwort gebraucht, wo eine klare Begründung für die gewählte Anknüpfung fehlt - um­ schließt zwei ganz verschiedene und jeweils in sich der Differenzierung bedürftige Bedeutungen des Wortes Territorialität: einmal Territoriali­ tät als (räumliche) Bestimmung des Anwendungsbereichs im Gegensatz zu Personalität, zum andern Territorialität als (wiederum räumliche) Beschränkung der tatsächlichen Wirkung (d. h. der Durchsetzbarkeit) im Gegensatz zu Universalität. Die zweite wird auch prozessuale Terri­ 490 Kegel, IPR 329. 491 Mit Recht sagt Samtleben, RabelsZ 38 (1974) 649: „Mag die Billigkeit in manchen Fällen für die Gültigkeit einer Legitimation, einer Adoption o. ä. sprechen, so kann doch gleiches nicht gelten, wenn es sich etwa um die Gültigkeit von Freizeich­ nungsklauseln oder um die Aufrechterhaltung einer unter Zwang zustande gekomme­ nen Ehe handelt.“

torialität oder territorialit judiciaire genannt, weil sie die Anwendung der betreffenden Normen vor fremden Gerichten beschränkt, die erste hingegen materielle Territorialität oder territorialite juridique, weil es hier um die materielle Maßgeblichkeit geht. „Extraterritorialitäta (nicht zu verwechseln mit der völkerrechtlichen Exter­ ritorialität oder Gerichtsfreiheit, siehe unten § 54 II mit N. 1092) und „extra­ territorial“ werden für Personalität und Universalität dort gebraucht, wo die Überschreitung der Grenzen des Ursprungslandes besonders hervorgehoben werden soll.

I.

Territorialität als räumliche Bestimmtheit des Anwendungsbereichs (im Gegensatz zu Personalität) kommt sowohl einzelnen Normen wie ganzen Rechtsordnungen zu. 1. Eine Norm ist territorial, wenn die zugehörige kollisionsrechtliche Anknüpfung ein räumliches Element aufweist und demgemäß der An­ wendungsbereich der Norm, d. h. die Gesamtheit der Fälle, in denen sie als lex causae maßgebend sein soll, räumlich (örtlich) bestimmt ist492. Dies trifft beispielsweise für eine sachenrechtliche Vorschrift zu, die nur als lex rei sitae Anwendung findet, oder für eine Formvorschrift, die nur als lex loci actus angewandt wird. Bisweilen ergibt sich 'die räumliche Beschränkung bereits aus einem Tatbe­ standsmerkmal der Sachnorm (vgl. oben bei N. 287), desgleichen besteht sie von vornherein bei gewerblichen Schutzrechten, die (ausdrücklich oder stillschwei­ gend) nur für das Inland verliehen werden. Man kann hier von Selbstbeschrän­ kung sprechen493.

Welche räumliche Anknüpfung im Einzelfall gemeint ist - welches Anknüpfungssubjekt, welches räumliche Attribut und welcher Zeit­ punkt (vgl. oben § 18 II) -, sagt das Wort „territorial“ freilich nicht. (Ebenso läßt der Gegenbegriff des „personalen“ Gesetzes die einzelnen Elemente der Anknüpfung unbestimmt.) Neben den rein territorialen Anknüpfungen an den Lage- oder Bestimmungsort einer Sache oder an den Ort einer Handlung einerseits und den rein persönlichen Anknüp­ 492 Vogel (oben N. 87) 2 f. spricht von „Anwendungsbereich im transitiven [ge­ meint ist wohl: zielenden, dynamischen] Sinne“ einer „Anwendung auf..oder auch vom „Feld“. 493 So Weigel, Gerichtsbarkeit, internationale Zuständigkeit und Territorialitäts­ Prinzip im deutschen gewerblichen Rechtsschutz (1973) 109.

fungen an die Zugehörigkeit einer Person zu einem Staat, einer Rasse usw. anderseits gibt es auch gemischte Anknüpfungen, insbesondere an den Herkunfts-, Wohn- oder Aufenthaltsort einer Person; sie werden je nachdem, welcher Anknüpfung sie gegenüberstehen, bald als territoriale und bald als personale bezeichnet. Auf dieser Unklarheit beruhte ein großer Teil des Wirrwarrs in der sog. Sta­ tutentheorie (oben § 10 III 3). Z. B. ist ein Gesetz, das ausschließlich für die im Territorium befindlichen Angehörigen dieses Territoriums gelten soll, also nicht für die Inländer im Ausland und nicht für die Ausländer im Inland, we­ der mit dem Ausdruck „territorial“ noch mit „personal“ deutlich zu charakte­ risieren. Dasselbe gilt für ein Gesetz, das alle genannten Gruppen erfassen soll494. Schließlich gibt es Anknüpfungen, die weder territorial noch personal sind, etwa die vereinbarte Währung eines Vertrages oder sein Zusammenhang mit einem andern Vertrag, die Zugehörigkeit einer Sache zu einem ausländi­ schen Grundstück oder Betrieb.

In jedem Fall bedeutet das Wort Territorialität nur die Feststellung oder Postulierung einer räumlichen Verknüpfung, aber weder deren Be­ gründung noch ihre deutliche Abgrenzung.

2. Eine Rechtsordnung ist territorial, wenn die zugehörige Gerichts­ organisation und demgemäß ihr Geltungsbereich - der Bereich ihrer Verbindlichkeit als lex fori - territorial bestimmt ist495. Dies gilt ins­ besondere für das Recht der modernen Staaten im Gegensatz etwa zu den Stammesrechten des frühen Mittelalters oder zu religiösen Rechts­ ordnungen (Näheres unten § 42 Einl.). Auch hier gibt es Mischformen, also Rechtsordnungen, welche nur für eine bestimmte Personengruppe in einem bestimmten Territorium gelten.

Zwischen Territorialität von Rechtsordnungen und von Normen be­ steht kein strenger Zusammenhang. Vielmehr fallen Geltungs- und An­ wendungsbereich der Gesetze vielfach auseinander - sonst käme es viel seltener zur Anwendung fremden Rechtes. So findet nach dem EGBGB deutsches Personen-, Familien- und Erbrecht trotz der grundsätzlichen Territorialität des deutschen Rechtes weitgehend personal auf Deutsche 494 Insofern ist es kein Widerspruch, wenn (nach Kahn, Abhandlungen I 242 ff.) den lois d’ordre public Bouhier (1742) personale und Mancini territoriale Wir­ kung zuschrieb. 495 Vogel (oben N. 87) 2 spricht hier von „Anwendungsbereich im intransitiven [statischen] Sinne“ einer „Anwendung schlechthin“ (ohne deutliche Abgrenzung von der intransitiven Territorialität in dem unten zu II behandelten Sinne; vgl. N. 497).

im Ausland und nicht auf Ausländer in Deutschland Anwendung; um­ gekehrt findet sich die territoriale Anknüpfung an den Ort einer Hand­ lung auch in primär personalen Rechtsordnungen. Die vorstehende Verwendung der Worte „Anwendungsbereich“ (auf den das Gesetz angewandt wird) und „Geltungsbereich“ (in dem es anzu wenden ist) entspricht dem Sprachgebrauch der Bundesrepublik Deutschland, in deren Ge­ setzen oft vom „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ oder dem „Geltungsbe­ reich dieses Gesetzes“ in einem räumlichen Sinne die Rede ist. Allerdings läßt sich die Unterscheidung von Anwendung und Geltung aus sprachlichen Grün­ den nicht konsequent durchführen, da z. B. für den Willen oder Anspruch eines Gesetzes, in bestimmten Fällen angewandt zu werden, die Bezeichnung „An­ wendungswille“ nicht in Betracht kommt, sondern nur „Geltungswille“ oder „Geltungsanspruch“. Auch sonst wird „gelten“ oft der Einfachheit halber an­ statt „angewandt werden“ gebraucht496. - Gleichheit von Anwendungs- und Geltungsbereich besteht bei strikter Territorialität einer Norm.

II.

Territorialität als räumlich beschränkte Wirkung (im Gegensatz zu Universalität) bezieht sich nicht auf den Geltungs- oder Anwendungs­ bereich, sondern auf den Bereich der tatsächlichen Wirkung (Durchsetz­ barkeit) einer Norm, eines Rechtsaktes oder eines Rechtsverhältnisses, d. h. auf die Anerkennung außerhalb ihres Ursprungslandes. Dabei müs­ sen wir wiederum unterscheiden: 1. Absolute Territorialität bedeutet: Im inländischen Verfahren wird nur inländisches Recht angewandt, eine ausländische Rechtserscheinung wird als solche grundsätzlich ignoriert497. Diese primitive Auffassung wird in unserer Zeit besonders noch für hochpolitische Gesetze vertre­ ten; z. B. war sie in den dreißiger Jahren für die damals noch neuen und vielfach als stoßend empfundenen Devisenvorschriften üblich, und sie ist es jetzt noch für entschädigungslose Enteignungen. Aber auch im Be­ reich des reinen Zivilrechts kann die exzessive Anwendung der Vorbe­ haltsklausel des ordre public (im Ausland oder im Inland) zur Entste­ hung „hinkender Rechtsverhältnisse“ führen, die nicht über die Grenzen hin anerkannt werden (vgl. unten § 48: Hinkende Rechtsverhältnisse). 498 Anderseits spricht Art. 144 II GG davon, daß „die Anwendung dieses Grund­ gesetzes in einem der... Länder Beschränkungen unterliegt“ - offenbar, um die Be­ deutung der alliierten Vorbehalte (bezüglich der Geltung in Berlin) abzuschwächen. 497 Vogel (oben N. 87) 15 N. 7: „intransitive Territorialität“.

2. Relative Territorialität: Dem ausländischen Recht wird nur für das betreffende Land unmittelbare Wirkung zuerkannt, für das Inland eventuell eine mittelbare Wirkung498. In diese Kategorie fällt vor allem die vielberufene Territorialität des öffentlichen Rechts als Grund seiner beschränkten Anwendung außerhalb des Ursprungslandes. Nicht der Anwendungsbereich des öffentlichen Rechts ist notwendig territorial (so kann die Militärdienstpflicht eines Staates sich auch auf solche Bürger erstrecken, die sich in einem andern Staate aufhalten, sie kann also per­ sonal gemeint sein), noch besteht eine absolute Territorialität der Wir­ kung (z. B. werden ausländische Staatsangehörigkeitsgesetze ohne weite­ res im Inland angewandt, ebenso ausländische Verkehrsvorschriften bei der zivilrechtlichen Beurteilung eines im Ausland erfolgten Unfalls499 usw.). Vielmehr ist nur die unmittelbare Wirkung, d. h. die Möglichkeit der Durchsetzung mit hoheitlichem Zwang (einschließlich der gerichtli­ chen Einklagung), auf das Gebiet des betreffenden Staates beschränkt soweit nicht besondere Staatsverträge bestehen -, während privatrecht­ liche „Reflexwirkungen“500 auch im Inland festgestellt und geltend ge­ macht werden können501. Voraussetzung ist nur, daß die öffentlich­ rechtliche Vorschrift nicht den ordre public des Urteilsstaates verletzt (dies tut z. B. eine Maßnahme des Wirtschaftskrieges, wenn der Urteils­ staat selbst der Betroffene oder mit dem betroffenen Staate verbündet oder auch neutral ist) und daß sie nicht mehr als einen angemessenen Anwendungsbereich beansprucht. Welcher Anwendungsbereich aber je­ weils angemessen ist, insbesondere wieweit personale oder territoriale 498 Vogel, DVerwBl. 1964, 88: „fiktive transitive Territorialität“, „weil jene Norm in der Weise angewandt wird, als ob sie nur Sachverhalte innerhalb ihres eigenen Staa­ tes regeln wollte“; vgl. Vogel (oben N. 87) 123 N. 174: „Frage nach dem transiti­ ven Anwendungsbereich, der einer solchen Norm im Gebiet eines anderen Staates bei­ gemessen wird.“ 499 Dieses Beispiel bringt Schnitzer, IPR I 192. 500 Walter Lewald, in: Beiträge zum bürgerlichen Recht (= Deutsche Landes­ referate zum III. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, 1950) 127 (bzw. 435), präzisiert durch Drobnig, RabelsZ 18 (1953) 659 ff. 501 Siehe etwa F. A. Mann, öffentlich-rechtliche Ansprüche im internationalen Rechtsverkehr: RabelsZ 21 (1956) 1 ff. - Konsequent vertritt auch gegenüber privat­ rechtsgestaltendem öffentlichem Recht des Auslands eine „inaktive Neutralität“, die „den inländischen Staat möglichst aus dem Streit zwischen den Privatparteien einer­ seits und dem fremden Staat anderseits heraushält“ und den faktischen Streitstand „anerkennt“, Johannes Schulze, Das öffentliche Recht im IPR (1972), beson­ ders 191 f., 207. Dagegen für eine großzügigere Haltung, insbes. gegenüber ausländi­ schen Ansprüchen aus dem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, Rainer Frank, öffentlich-rechtliche Ansprüche fremder Staaten vor inländischen Gerichten: RabelsZ 34 (1970) 56 ff.

Anknüpfungsmomente zu verwenden sind, läßt sich für das öffentliche Recht ebensowenig in einem einzigen Satze sagen wie für das Privat­ recht502. Solche relative Territorialität kommt z. B. Enteignungsmaßnahmen zu: Die­ se können zwar keine Gegenstände erfassen, die sich zur Zeit der Enteignung außerhalb des enteignenden Staates befinden (falls nicht der Belegenheitsstaat ausnahmsweise zustimmt); aber bei nachträglicher Verbringung einer im ent­ eignenden Lande erfaßten Sache in ein anderes Land verlieren sie nicht ihre Wirkung. Ebenso kann die Nichtigkeit eines durch öffentlichrechtliche Maß­ nahmen (z. B. durch Embargovorschriften) verbotenen Rechtsgeschäftes auch im Ausland geltend gemacht werden. Dasselbe gilt für sonstige zivilrechtliche Wirkungen öffentlichen Rechts, etwa für die befreiende Wirkung der durch ein Devisengesetz vorgeschriebenen Zahlung an eine Clearingstelle oder an eine andere öffentliche Kasse statt an den privaten Gläubiger im Ausland oder auch für die gegenseitigen Ansprüche aus einem Zwangsmietvertrag. Ein anderes Beispiel relativer Territorialität bietet der Schutz geistigen und gewerblichen Eigentums. Dieser Schutz wirkt an sich - soweit nicht ein inter­ nationales Abkommen etwas anderes bestimmt - nur für das betreffende Land, auch wenn eine entsprechende Selbstbeschränkung (vgl. oben I 1 vor N. 493) nicht vorliegt; ein ausländisches Schutzrecht kann daher im Inland nicht verletzt werden. Aber aufgrund der Verletzung eines ausländischen Schutzrechtes in dem betreffenden Lande kann auch im Inland auf Schaden­ ersatz geklagt werden.

3. Relative Universalität: Das ausländische Rechtsverhältnis wird ei­ nem entsprechenden inländischen Rechtsverhältnis gleichgestellt - sei es durch besonderen Akt, sei es automatisch - und hat daher im Inland dieselben Rechtswirkungen wie dieses. Hier sind beispielsweise die durch das Madrider Markenabkommen von 1891 geschützten Handelsmarken zu nennen, die nach ihrer Entstehung in einem Vertragsland (und ihrer internationalen Registrierung) auch in jedem andern 502 Speziell für das Devisenrecht ist die Erkenntnis des angemessenen Anwendungs­ bereiches erschwert durch den irritierenden Einfluß einerseits des Abkommens von Bretton Woods über den Internationalen Währungsfonds vom 22. 7. 1944 (BGBl. 1952 II 638), das im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander die gegenseitige Anerken­ nung der Devisengesetze, soweit sie durch den „Monetary Fund“ gebilligt sind, offen­ bar begünstigt (siehe dazu Gold, RabelsZ 19 [1954] 601 ff.; 22 [1957] 601 ff.; 27 [1962-63] 606 ff.; 38 [1974] 683 ff.), und anderseits durch die devisenrechtsfeindlichen Entscheidungen früherer Jahre sowie die Urteile zum Devisenrecht der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR, das die Gerichte der Bundesrepublik naturgemäß nur so weit anerkennen wollen, wie die Billigkeit gegenüber den betroffenen Privatpersonen es erfordert. (Zu letzterem vgl. Drobnig, NJW 1960, 1088 ff.) Für die Entfaltung eines „normalen“ Internationalen Devisenrechts bleibt unter diesen Umständen wenig Raum.

Vertragsland mit den Wirkungen eines dort entstandenen Rechtes anerkannt werden. Ferner wird die Rechtsfähigkeit ausländischer juristischer Personen vielfach nur in dem Umfang anerkannt, in welchem eine entsprechende inlän­ dische Vereinigung oder Stiftung die Rechtsfähigkeit besitzen kann. Aus dem Bereich des Internationalen Zivilprozeßrechts gehören in diese Kategorie der relativen Universalität die anerkannten ausländischen Verfahren bzw. Urteile, soweit sie nicht nach dem Rechte des Urteilslandes, sondern nur im Rahmen der Vorschriften des Anerkennungslandes die Einrede der Rechtshängigkeit be­ gründen, vollstreckt werden usw. (Näheres unten in § 58: Anerkennung unter V).

In allen genannten Fällen erfolgt sozusagen an der Landesgrenze eine Transformierung der Akzidentalien eines Aktes oder Rechtsverhältnis­ ses, während die Substanz bestehen bleibt. Damit vergleichbar sind jene Rechtsinstitute, die nur deliktsrechtlichen Schutz genießen: Das Rechtsinstitut als solches mag universal anerkannt wer­ den, aber sein Schutz ergibt sich aus dem jeweiligen Deliktsstatut.

4. Absolute Universalität: Das ausländische Rechtsverhältnis hat im Inland dieselben Rechtswirkungen wie in seinem Ursprungsland. Dies ist im modernen IPR der Regelfall (z. B. für personenrechtliche Verhältnis­ se, für Verträge sowie für Gestaltungsurteile) und kommt dem Ideal der internationalen Rechtsgemeinschaft am nächsten. Verglichen mit den oben (in § 10 I) dargestellten Typen der Behandlung in­ ternationaler Sachverhalte entspricht die absolute Territorialität der dort zu 1 und 2 genannten Rechtlosigkeit oder völligen Gleichstellung ausländischer Sachverhalte mit inländischen, dagegen entsprechen die relative Territorialität und die relative Universalität der zu 4 genannten Anerkennung fremder Rechtsakte, die absolute Universalität der zu 5 genannten Gleichberechtigung fremden Rechts, während nationales und internationales Sonderrecht (3 und 6) in einem andern Bereiche liegen.

Im Grunde beruht der Gegensatz von Territorialität und Universali­ tät auf dem Unterschied von verliehenen, d. h. durch die einzelne Rechtsordnung erst geschaffenen oder wesentlich ausgestalteten, und „natürlichen“, von der Rechtsordnung bloß bestätigten und in Einzel­ heiten festgelegten Rechten und Rechtsverhältnissen. Erstere werden na­ turgemäß öfter territorial beschränkt, während letztere zur Universali­ tät tendieren. Der radikale Positivismus wird zwar alle Rechte - ein­ schließlich der auf Anerkennung einer ausländischen Rechtslage beruhen­ den - nur als verliehene und daher streng territoriale Rechte aufzufas­

sen versuchen. Doch kann auch er nicht umhin, die natürliche Einheit vorstaatlicher Lebens Verhältnisse zu beachten und etwa die „hinkende Ehe“, die in einem Staate als gültig anerkannt wird und im andern nicht, als etwas Unerwünschtes anzusehen (vgl. unten § 48: Hinkende Rechtsverhältnisse). Dagegen ist die territoriale Begrenzung staatlicher Eingriffe (etwa einer Enteignung) durchaus unbedenklich. Im einzelnen ist freilich die Ausbildung der dargestellten Klassen und die Zugehörigkeit dieses oder jenes Rechtsinstituts zu einer von ihnen historisch bedingt. Auch kann die Qualifizierung eines Rechtes mit der Zeit wechseln. So geht die Tendenz beim sog. geistigen Eigentum vom staatlich verliehenen Pri­ vileg zum „natürlichen“, universal geschützten Recht (auch wenn die Ausge­ staltung im einzelnen territorial gebunden bleibt)503. Umgekehrt war etwa die Sklaverei schon vor ihrer gänzlichen Ächtung von einem allgemein anerkann­ ten Rechtsverhältnis zu einem territorial beschränkten herabgesunken.

Auch für den Wirkungsbereich der Rechtsverhältnisse enthält das Wort „Territorialität“ jedenfalls nur die Bezeichnung einer Rechtslage und weder ihre Begründung noch ihre Präzisierung (ob absolute oder re­ lative Territorialität gemeint ist). III. Das Verhältnis der beiden Arten von Territorialität ist im Idealfall das der Kongruenz, also der Übereinstimmung, insbesondere des selbst­ gewählten Anwendungsbereichs mit dem anerkanntem Wirkungsbereich außerhalb des Ursprungslandes: Der Personalität entspricht die absolute (oder wenigstens relative) Universalität, der materiellen Territorialität die relative prozessuale Territorialität (während die absolute prozessuale Territorialität schlechthin verkehrsfeindlich ist). Eine Divergenz kann einerseits dadurch entstehen, daß eine Rechtsordnung den ihr einge­ räumten ausländischen Wirkungsbereich nicht ausfüllt (wenn z. B. für Engländer, die in Deutschland ohne private Erben gestorben sind, das deutsche IPR einem englischen Staatserbrecht universale Wirkung zuzu­ erkennen bereit ist, das englische Heimfallrecht aber nur die territoriale Anwendung auf Nachlässe in England beansprucht). Hier muß die re­ sultierende Lücke entweder mit Hilfe der Rückverweisung (unten 503 Bei der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften hat der Übergang vom Konzessionszum Normativsystem eine ähnliche Wirkung, auch wenn ein „natürliches“ Recht auf Zuerkennung der Rechtsfähigkeit (Prinzip der freien Körperschaftsbildung) nicht an­ genommen wird.

§§ 35 ff.) oder durch ein Ersatzrecht (unten § 52) ausgefüllt werden. Häu­ figer ist der umgekehrte Fall gegeben, daß die beanspruchte extraterrito­ riale Anwendung (etwa von Enteignungsmaßnahmen) im Ausland nicht anerkannt wird. Dann kann der Geltungsanspruch einfach wirkungslos bleiben (ein außerhalb des enteignenden Staates liegendes Grundstück wird nicht berührt); ferner kann im Wege des Kompromisses immerhin eine geringere als die beanspruchte Wirkung anerkannt werden (z. B. eine Enteignung als Leistungshindernis für den Enteigneten); schließlich kann der Konflikt auf dem Rücken einer Privatperson ausgetragen wer­ den (wenn etwa der Schuldner einer enteigneten Forderung im Enteig­ nungsland zur Zahlung an den neuen Gläubiger und im Ausland zur Zahlung an den alten Gläubiger gezwungen wird). IV.

Der Territorialismus als Prinzip vertritt eine möglichst weitgehende Territorialität in den beiden Grundbedeutungen von Anti-Personalität und Anti-Universalität, indem er den Menschen nicht als selbständigen Mittelpunkt von Rechten und Pflichten ansieht, sondern ihn unter Aus­ schließung fremder Rechtsordnungen auch bei nur loser Inlandsberüh­ rung der inländischen Territorialgewalt unterwirft. Solcher Territorialismus findet sich als Überbleibsel feudaler und absolutisti­ scher Anschauungen am stärksten noch im englischen IPR604. Dieser auffällige Widerspruch zu dem sonst so freiheitlichen Geist des Engländers ist wohl ebenso wie ähnliche, wenngleich schwächere Züge im Kollisionsrecht der Ver­ einigten Staaten und Frankreichs - nur damit zu erklären, daß hier gerade die innere Freiheit im Staate und die nationale Geschlossenheit des Staates nach außen den Bürger im Verkehr mit der übrigen Welt sich voll mit der Staatsgewalt identifizieren lassen. In Italien und Deutschland hingegen, die jahrhundertelang von absolutistischer Kleinstaaterei und vielfacher Fremdherr­ schaft heimgesucht waren und dabei der geistlichen und weltlichen Tradition des römischen Universalismus stets enger verbunden blieben, erhielt und ent­ wickelte sich überterritoriales Denken so lebendig, daß es auch in den Jahr­ zehnten der nationalstaatlichen Einigung nicht untergehen konnte. So atmet das IPR Deutschlands und Italiens - namentlich in der Rechtsprechung504 505 mehr freiheitlichen Geist als das jener alten Nationaldemokratien. 504 Vgl. im einzelnen RabelsZ 15 (1949-50) 183 ff. (Besprechung des Aufsatzes von Wortley, The Concept of Man in English Private International Law) - leider bis heute gültig, nur wurde der dort erwähnte Lord Kingdown’s Act von 1861 inzwischen durch den Wills Act 1963 aufgehoben. 505 Über das gesetzliche IPR Italiens von 1942 vgl. RabelsZ 15 (1949-50) 22 ff.

§ 24: Das Recht des charakteristischen Inhalts

Die relativ treffendste allgemeine Formel für die Anknüpfungen bietet, wie schon gesagt (oben § 20 II 1), die Lehre von Schnitzer, daß für ein Rechtsverhältnis in der Regel das Recht seines charakteristi­ schen Inhalts gelten soll506. Schnitzers Verdienst besteht m. E. darin, daß er die charakteristische Lei­ stung nicht nur (wie seine Vorläufer) als Mittel zur Bestimmung des Schuld­ nerwohnsitzes oder Erfüllungsortes ansieht, sondern daß er - auch über den Bereich des Schuldrechts hinaus - den charakteristischen Inhalt des Rechts­ verhältnisses zum unmittelbaren Anknüpfungsmoment, ja zum Kernpunkt der Theorie der Anknüpfung macht. Er selbst sagt: „SAVIGNY hatte bereits den richtigen Grundsatz gefunden, ein jedes Rechtsverhältnis derjenigen Rechtsord­ nung zuzuordnen, der es seinem Wesen nach angehört. Aber er führte diesen Grundsatz nicht durch .. ., [sondern] unterstellte ganze Rechtsgebiete ohne Rücksicht auf die Eigenart der einzelnen zu regelnden Kategorie einem im vorhinein bestimmten Anknüpfungspunkt.“507 Jedenfalls ist Schnitzers ob­ 506 Schnitzer, IPR I 52-54, vgl. auch II 639-648 (zuerst in der 2. Aufl. [1944] I 38 f. bzw. II 513-521). Vor ihm hat Harburger, Ann. Inst. Dr. int. 19 (1902) 141 (= d. abrge IV [1928] 790), von der „differentia specifica" jedes Vertra­ ges gesprochen, anhand deren man bei synallagmatischen Verträgen die maßgebende lex debitoris bestimmen könne, sodann Franz Leonhard, Erfüllungsort und Schuld­ ort (1907) 2 und öfter (siehe sein Register), vom „Merkmal, das am charakteristisch­ sten“, vom „charakteristischen Ort“, um den Leistungsort einer Schuld zu bestimmen, ähnlich Baron Nolde, Ann. Inst. Dr. int. 32 (1925) 133 (vgl. 68), von der „Obliga­ tion principale, caracteristique“ und Homberger, Die obligatorischen Verträge im IPR nach der Praxis des Schweizerischen Bundesgerichts (1925) 17, 50, von der „typi­ schen (charakteristischen) Leistung“, beide zur Bestimmung des Erfüllungsortes eines gegenseitigen Vertrages. Auch nach Szäszy, A szerzödö felek jogszabälyvälaszto joga a nemzetközi kötelmi jogban (Das Recht der Autonomie der kontrahierenden Parteien im Internationalen Obligationenrecht, Budapest 1929) 263 f., soll de lege ferenda auf zweiseitige Schuldverträge bei verschiedenem Wohnsitz der Parteien das Wohnsitzrecht derjenigen Partei anzuwenden sein, die zu der für das Schuldverhältnis charakteristi­ schen Hauptleistung verpflichtet ist (§1112 seines Gesetzentwurfs, deutsche Überset­ zung in NiemZ 44 [1931] 64 f.). Daß bei derartigen Verträgen, wenn ein Geldbetrag und eine bestimmte Leistung ausgetauscht werden, die letztere im allgemeinen für den Vertrag charakteristisch ist, betont Batiffol, Les conflits de lois en matierc de contrats (1938) no. 93, S. 84. 507 Schnitzer, RabelsZ 38 (1974) 325 f. - Andeutungsweise findet sich die charakteristische Beziehung als allgemeines Anknüpfungsmoment schon bei K. Neu­ meyer, Ann. Inst. Dr. int. 32 (1925) 99: „11 s’agit, en droit international prive, d'isoler parmis les relations locales que subit le fait, le rapport le plus caracteristique et de determiner par ce rapport le droit applicable.“ Aber auch er hat seinen Gedanken nicht konsequent durchgeführt, sondern z. B. (a.a.O. unter 1) für gegenseitige Verträge die Spaltung bejaht. Das Schweizer Bundesgericht sprach erstmals in BGE 67 (1941) II 179 (181) vom

jektive Formel besser als die rein subjektiv gefaßte Frage nach dem Recht, „dessen Anwendung die Parteien billigerweise erwarten konnten und muß­ ten“508. Denn entweder kommt man mit dieser Frage zur Spaltung der grenz­ überschreitenden Rechtsverhältnisse - da jede Partei von ihrem Recht aus­ geht oder es bleibt völlig ungewiß, welche objektive Anknüpfung gelten soll.

I. Allgemem gesagt, ist das „Recht des charakteristischen Inhalts“ dieje­ nige Rechtsordnung, zu welcher ein Rechtsverhältnis nicht nur durch eine einzelne Äußerlichkeit (wie den Abschlußort oder eine zufällige ge­ meinsame Staatsangehörigkeit der Beteiligten) und auch nicht nur durch das Zusammentreffen mehrerer solcher Umstände (grouping of contacts), sondern durch seinen wesentlichen Inhalt die engsten Beziehun­ gen hat. Der Ausdruck ist im Gegensatz zu den alten Formeln vom „Sitz“ oder „Schwerpunkt“ eines Rechtsverhältnisses oder vom „engsten räumlichen (oder: sachlichen) Zusammenhang“ nicht bloß formal, er umfaßt vielmehr durch die Betonung des charakteristischen Inhalts ein konkretisierendes Moment. „Charakteristisch“ ist derjenige Inhalt, der dem Rechtsverhältnis das Gepräge gibt - sei es nun ein typisches oder ein atypisches Rechtsverhältnis. Mit der Anknüpfung an diesen charak­ teristischen Inhalt sollen andere Beziehungen und Interessen nicht für unwesentlich erklärt werden; aber das IPR muß nun einmal in der Re­ gel eine Beziehung als die relativ wichtigste behandeln.

II. Im einzelnen ist zur Bestimmung des charakteristischen Inhalts fol­ gendes zu sagen:

1. Bei gegenseitigen Verträgen ist normalerweise, wenn sich Naturalund Geldleistung gegenüberstehen, die Naturalleistung als der charakte­ ristische Inhalt anzusehen, also beim Kaufvertrag die Leistung des VerVertragspartner, „dessen Verpflichtungen als typisch im Vordergrund stehen“; dagegen erwähnt es „die für das streitige Rechtsgeschäft charakteristische Leistung“ zuerst in einer Entscheidung vom 27. 2. 1945 (Schw. Jb. Int. R. 5 [1948] 112) als ein Krite­ rium, das „neuestens empfohlen“ wird (113), und es übernimmt den Ausdruck in BGE 78 (1952) II 190 (191): „Für das Darlehen ... weist die engste räumliche Bindung re­ gelmäßig auf das Domizilland des Darleihers, weil seine Leistung die charakteristi­ sche“ ist. 508 So Heini, ZSchwR 88 (1969) 603, unter Hinweis auf BGE 11 (1885) 364.

käufers, beim Miet- oder Pachtvertrag diejenige des Vermieters bzw. des Verpächters, bei Werk- und Dienstvertrag (einschließlich Arbeitsver­ trag) die Arbeitsleistung. Bei Abzahlungsverträgen oder gar allgemein bei Konsumentengeschäften wird neuerdings unter Berufung auf die zahlreichen und zunehmenden Schutzvorschriften zugunsten des Konsu­ menten teilweise dessen Rolle für die vertragstypische erklärt509. Je­ doch wird dabei m. E. das natürliche Verhältnis von Haupt- und Ge­ genleistung vernachlässigt510; dem berechtigten Anliegen dieser Mei­ nung muß auf andere Weise Rechnung getragen werden (siehe unten III2a.E.). Eine Umkehrung der Hauptregel erfolgt z. B. bei gewerbsmäßigem Ankauf von Gegenständen, wenn die Gewerbsmäßigkeit dem Geschäft das Gepräge gibt (etwa in Antiquariaten). Jedoch entscheidet in diesen Fällen nicht einfach die Massenhaftigkeit als solche oder das mit ihr verbundene Interesse des be­ treffenden Vertragsteiles an einheitlicher Behandlung aller Geschäfte; vielmehr müssen die Verträge entsprechend geprägt sein (z. B. stets am Sitze dieser Par­ tei oder nach einheitlichem Formular abgeschlossen werden). Ebenso kann das internationale Unternehmen mit Arbeitern und Handelsvertretern in verschie­ denen Ländern nicht ohne weiteres diesen gegenüber die Anwendung des an seinem Hauptsitz geltenden Rechtes beanspruchen, desgleichen nicht der Groß­ händler, der die Produktion verschiedener kleiner Fabriken aufkauft, zumal in diesen Fällen auch die Gegenseite berufsmäßig beteiligt ist. - Bei Tauschver­ trägen ergibt sich meist aus den Umständen, insbesondere wenn eine Wertdiffe­ renz verrechnet wird, daß eine Leistung die Hauptleistung und die andere nur Entgelt ist511. - Für den Darlehnsvertrag ist an sich die Überlassung des Kapi­ tals charakteristisch; jedoch überwiegt oft umgekehrt die Gewährung einer Anlagemöglichkeit (z. B. bei Sparverträgen) oder die Emission von Schuldver­ schreibungen (bei großen Anleihen)512. 509 Vgl. Siehr, AWD 1973, 576, unter Berufung auf Giger, Geldleistung als vertragstypenbestimmender Faktor, in: Revolution der Technik - Evolutionen des Rechts, Festgabe Oftinger (1969) 63 ff., und auf Lando, Consumer Contracts and Party Autonomy in the Conflict of Laws, in: Mlanges de droit compar ... Malm­ ström (1972) 141 (154). 510 Von der Leistung der „partie la plus agissante“ spricht Louis-Lucas, in: Mlanges Dabin II (1963) 762. 511 Vgl. Schnitzer, IPR II 1042: „Wird z. B. ein Grundstück oder ein Ge­ schäftsbetrieb gegen eine Hypothek oder gegen Juwelen abgetauscht, so wird man an­ nehmen können, daß die Hypothek oder die Juwelen nur an Geldes Statt angenom­ men werden.“ 812 Mit dieser Betonung des objektiven Gepräges unterscheidet sich der vorstehende Text im Ansatz, aber kaum in den Ergebnissen von meinen Ausführungen in OstZOffR 6 (1953-55) 62, wo ich mehr auf das subjektive Moment abstellte, für welche Partei der Vertrag die größere Bedeutung habe.

2. Im Deliktsrecht steht weder die unerlaubte Handlung als solche im Vordergrund (wie dies im Strafrecht der Fall ist) noch der definitive Schaden oder gar seine Wiedergutmachung, sondern die Schädigung. Problematisch kann nur deren Lokalisierung oder die Feststellung einer anderweitigen rechtlichen Einbettung sein (vgl. unten § 30 III: Bege­ hungsort) .

3. Im Sachenrecht gibt die betreffende Sache den Ausschlag. Im Erb­ recht dominiert normalerweise die Person des Erblassers, dessen Nach­ laß geregelt werden muß, jedoch bei der Erbfolge in Sondervermögen (insbes. in landwirtschaftliche Güter) dieses Vermögen. 4. Im Ehe- und Kindschaftsrecht vollzieht sich seit längerem eine Wendung von der patriarchalischen Betonung der Person des Eheman­ nes und Vaters als „Haupt der Familie“ zur Gleichberechtigung der Ehegatten und zur Sorge für das Kindeswohl (vgl. unten § 27 IV‘3). Demgemäß hat sich auch die Adoption in den letzten Jahrzehnten all­ mählich gewandelt (selbst wo sie formell nach wie vor als Vertrag gere­ gelt ist): Von den Interessen des Annehmenden und seiner Familie ist das Schwergewicht auf den Angenommenen übergegangen, so daß nicht mehr wie früher die Person des Annehmenden dem Adoptionsverhältnis das Gepräge gibt, sondern das Adoptivkind513. (Vgl. dazu oben § 15 II 2 vor N. 366.) 5. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Leistungsfähigkeit der Formel vom „charakteristischen Inhalt“ des Rechtsverhältnisses bietet das Verlöbnis bei verschiedenem Personalstatut der Brautleute514. Seinen charakteristischen Inhalt findet man ohne künstliche Konstruktionen bei der Braut. Trotz aller Emanzipation der Frau und aller verfassungsmäßigen Gleichberechtigung der Geschlechter setzt immer noch bei dem Verlöbnis - wo es überhaupt noch eine Rolle spielt - in der Regel die Frau moralisch und auch wirtschaftlich (etwa bei einer Vorentscheidung für Haushalt und Kinder statt beruflicher Karriere) mehr aufs Spiel. Daher ist es nur angemessen, während des Verlöb­ nisses und bei seiner etwaigen Auflösung ihr Personalstatut maßgebend sein zu lassen515. Diese Lösung ist auch für solche Rechtsordnungen annehmbar, die 513 Siehe etwa Glässing, Voraussetzungen der Adoption (1957) 44 Heinisch, Be­ endigung und Nichtigkeit der Adoption (1960) 7, 14. 514 Zum Versagen anderer Anknüpfungsversuche siehe die Vorauflage (S. 125 f.). 515 Zustimmend G. Holleaux (oben N. 150) 637; Vischer, IPR (oben N. 366) 584 = D.i.p. 81; nur subsidiär Pälsson (oben N. 410) 138.

nach der Eheschließung den Mann als Haupt der Familie ansehen; denn von einer Vorauswirkung der Ehe in der Art, daß schon das Eheversprechen einen Vorrang des Mannes begründet, ist wohl nirgends die Rede.

III.

Freilich ist die Formel vom charakteristischen Inhalt kein Passepar­ tout. 1. Manchmal ist es zweifelhaft, welches der charakteristische Inhalt eines Rechtsverhältnisses ist. Soll z. B. beim Verlagsvertrag die Liefe­ rung des Werkes oder seine Vervielfältigung und Vertreibung den Aus­ schlag geben516? Wie steht es mit Kooperationsverträgen? Erst recht kann bei gemischten Verträgen die Feststellung einer charakteristischen Leistung schwer, wenn nicht unmöglich sein. 2. Außerdem ist nach der Feststellung eines solchen Charakteristi­ kums der Weg zu einer einzelnen Rechtsordnung - also die Bestimmung des Anknüpfungsattributs (siehe oben § 18 II 2) und -Zeitpunkts - bis­ weilen unsicher. Zur Lokalisierung persönlicher und dinglicher Rechts­ verhältnisse sei verwiesen auf die Ausführungen über das Personalstatut (unten §§ 26 ff.) und über die Belegenheit der res in transitu (unten § 31 II 3). Insbesondere ist die von Schnitzer suggerierte Verbindung der charakteristischen Leistung mit dem Wohnsitz oder der gewerbli­ chen Niederlassung dessen, der sich zu ihr verpflichtet, keineswegs zwingend517. Das zeigt beispielsweise der Fall eines Darlehens, das kurz vor der geplanten Auswanderung beider Teile nach dem gleichen Land in dessen Währung gege­ ben wird und mangels ausdrücklicher Vereinbarung sicherlich dem Rechte die­ ses Landes (und nicht dem Recht des alten Wohnsitzes) zu unterstellen ist518. Verträge über Grundstücke werden allgemein dem Recht des Lageortes und nicht dem Wohnsitzrecht des Verkäufers unterstellt, falls nicht beide Parteien 516 Vgl. dazu ZWEIGERT/PUTTFARKEN, Zum Kollisionsrecht der Leistungsschutzrech­ te: GRUR/Int. 1973, 573 (577 f.) 517 Vgl. Schnitzer, IPR II 1041 (Nachtrag zu II 619), wo er die Ausführungen von S. 645 mit Recht abschwächt, aber auch die folgende Note. 518 Vgl. die Entscheidung des Schweizer Bundesgerichtes BGE 78 (1952) II 190. Schnitzer selbst sagt dazu (IPR II 707), daß „der im Abbau befindliche Wohnsitz nicht mehr Schuldort“ sei. Im übrigen hat er schon vor dieser Entscheidung gerade für Darlehnsverträge ausdrücklich erklärt, es handle sich bei seinem Grundsatz nicht um ein Axiom, das Allgemeingültigkeit beanspruche: IPR3 (1950) II 625.

im gleichen Lande wohnen. Auch sonst entscheidet öfter der Ort der realen Er­ füllung anstatt des Wohnsitzes oder der Niederlassung des Hauptschuldners, z. B. beim Arbeitsvertrag der Betriebsort, beim Handelsvertretervertrag das Arbeitsfeld, beim Seefrachtvertrag der Bestimmungsort; ebenso sollte man die Leistungen von Versandgeschäften (seien es Waren oder z. B. Fernunterricht) dort lokalisieren, wo sie den Kunden angeboten werden und diesen zur Verfü­ gung stehen sollen519.

3. Schließlich ist mitunter überhaupt nicht der Inhalt eines Rechts­ verhältnisses so wichtig wie dessen Beziehung zu einem andern Rechts­ verhältnis (z. B. bei Einzellieferungungen im Rahmen eines Vertriebs­ vertrages, bei der Weiterveräußerung von Waren oder Lizenzen sowie bei der Rückversicherung520) oder auch ein gemeinsames Personalstatut der Beteiligten. Auch wenn der betreffende Umstand das Rechtshältnis nicht direkt beeinflußt, kann doch die Beziehung zu der entsprechenden Rechtsordnung den Vorrang verdienen. Für alle solche Fälle ist eine Ausweichklausel angebracht, wonach die reguläre Anknüpfung zurücksteht, wenn nach den Umständen des Ein­ zelfalles eindeutig eine noch engere Beziehung zu einer andern Rechts­ ordnung besteht (vgl. dazu unten § 49 V). Immerhin kann die For­ mel vom charakteristischen Inhalt überall dort, wo nicht bereits das Gesetz oder eine Vereinbarung der Parteien ein anderes Recht als maß­ gebend bestimmt hat, zunächst einmal als Wegweiser zu einer angemes­ senen Anknüpfung benutzt werden.

5 25: Fraus legis

Als Feind der sachlich angemessenen Anknüpfung erscheint die fraus legis oder Gesetzesumgehung521. 519 Damit dürfte dem Anliegen der oben in N. 509 genannten Autoren im Ergebnis entsprochen werden. 520 Demgemäß bevorzugen englische Entscheidungen für die Rückversicherung - im Gegensatz zum einfachen Versicherungsvertrag - das Recht des Versicherten; Monachos, Re-Insurance in English Private International Law: J. Bus. L. 1972, 206 ff. 521 Die unterschiedliche Beachtung dieses Problems in verschiedenen Rechtsordnun­ gen - stark in Frankreich, zweifelhaft in Deutschland, am geringsten in England betont Kropholler, Schutz Minderjähriger (oben N. 295) 118 N. 116. 13 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

I. Das Problem stellt sich im IPR bei jedem Versuch, die Anknüpfung im Einzelfall um eines privaten Vorteils willen zu beeinflussen, da­ mit das an sich anwendbare Gesetz durch ein günstigeres ersetzt wird. Bald sollen unerwünschte Rechtsfolgen eines gegebenen oder künftigen Sachverhalts umgangen, bald erwünschte Rechtsfolgen ohne das Vorlie­ gen entsprechender Voraussetzungen erschlichen werden522. Dies kann in vier verschiedenen Formen geschehen: a) durch Mißbrauch einer for­ mell zulässigen Rechtswahl (dazu unten § 33 III 2 a und IV 1); b) durch Ausnützung des Formalismus mancher Systembegriffe des IPR, indem die Parteien ihren Geschäften je nach Bedarf ein kauf-, kredit-, patent- oder gesellschaftsrechtliches Gewand verleihen523; c) durch Manipulierung der Anknüpfungstatsachen, besonders der „mobilen" Anknüpfungsmomente wie Handlungs- und Aufenthaltsort, aber auch Wohnsitz und Staatsangehörigkeit (seltener: Lageort beweglichen Ver­ mögens); d) durch Begründung der Entscheidungszuständigkeit eines fremden Staates, der von einem andern Kollisionsrecht ausgeht. In dem letzten Falle - um diesen vorwegzunehmen - ist bisweilen eine Wirkung im Ausgangsstaat gar nicht beabsichtigt, z. B. bei Heirat oder Scheidung in einem fremden Staate ohne anschließende Rückkehr in die Heimat oder bei Vermögensanlage in einem Staate, der die Aus­ schaltung des an sich maßgebenden Ehegüter- und Erbrechts zuläßt524. Mitunter genügt den Parteien auch ein halber Erfolg, z. B. die im Aus­ land erlangte Schließung einer im Heimatland zwar anfechtbaren, aber formell gültigen Ehe, deren Anfechtung sie nicht ernstlich befürchten; auch in diesem Falle liegt keine fehlgeschlagene (sog. unechte) Umge­ hung vor. In den Umgehungsfällen der zu b) und c) genannten Art kann man von einer versteckten Rechtswahl durch fraudulöse Anknüpfung spre­ chen525. Dabei ist jedoch zu unterscheiden: 522 Treffend spricht Gamillscheg, RabelsZ 37 (1973) 813, von einer Vertauschung von Ursache und Wirkung der Anknüpfung. 523 Vgl. den Abschnitt „The Rules of Conflict of Laws - a Football in Private Hands“ bei Kronstein, Crisis of „Conflict of Laws“: Georgetown L.J. 37 (1948/49) 483 (487 ff.), ohne die Zwischenüberschrift abgedruckt bei Kronstein, Recht und wirtschaftliche Macht (1962) 289 (293 ff.), bespr. in RabelsZ 15 (1949-50) 358. 524 Vgl. Wyatt v. Fulrath, 211 N.E. 2d 637, 639 (N.Y. 1965), wo „as a matter of public policy“ die völlige Unterstellung nach New York verbrachten Vermögens unter das dortige Recht anerkannt wird. 525 Ob man sagt, in diesen Fällen werde die normalerweise anwendbare Kollisions­

1. Mitunter wird eine bestimmte Qualifikation oder ein Anknüp­ fungsmoment nur vorgetäuscht. Z. B. wird ein Kartellvertrag als Liefer­ vertrag frisiert, wenn nur für Verträge dieser Art die Rechtswähl frei ist. Oder für eine Urkunde wird durch falsche Ortsangabe ein ausländi­ scher Errichtungsort vorgetäuscht, weil in dem betreffenden Land be­ quemere Formvorschriften gelten als am Ort der tatsächlichen Errich­ tung526. Oder es wird ein dauernder Aufenthalt im Gebiet eines günsti­ geren Eheschließungs- oder Scheidungsrechtes vorgegeben, damit dieses zur Anwendung kommt. Dann genügt die Aufdeckung des wahren Sachverhalts, und die beabsichtigte Gesetzesumgehung ist vereitelt. Da­ her wollen hier manche gar nicht von einer fraus legis sprechen. (Ob freilich ein bereits erschlichener Staatsakt wieder rückgängig gemacht bzw. im Ausland als nicht geschehen behandelt werden kann, läßt sich nicht generell sagen.)

2. Wird dagegen die fragliche Qualifikation (durch entsprechende in­ haltliche Gestaltung des Vertrages) bzw. das fragliche Anknüpfungsmo­ ment tatsächlich verwirklicht, aber allein zu dem Zwecke, daß ein be­ stimmtes Recht anwendbar wird, so kommt es darauf an, ob die Kollisi­ onsnorm, auf welche sich die Parteien berufen, nach ihrem Sinn und Zweck auch für einen solchen Fall gelten will oder nicht. Nur im letz­ tem Falle ist gegen die Manipulation anzugehen. Beispielsweise ist die Regel „locus regit actum“ in Deutschland für die Form der Eheschließung (wegen des religionspolitischen Gewichtes der Entscheidung zwischen religiöser und ziviler Form) als Anerkennung ‘der jeweiligen Territo­ rialhoheit zu verstehen: Jedes Land kann selbst bestimmen, in welcher Form auf seinem Gebiete die Ehe geschlossen werden darf. Wenn also zwei Deutsche nur deshalb im Ausland nach dortigem Recht in religiöser Form heiraten, weil sie aus Gewissensgründen die Zivilehe vermeiden wollen, so ist das unbedenk­ lich. Im allgemeinen genügt die Wahrung der Ortsform aber nur wegen der praktischen Schwierigkeit, die Form ‘der lex causae im Ausland einzuhalten (vgl. oben § 17 I). Deshalb würde der formlose Abschluß eines vermögens­ rechtlichen Vertrages im Nachbarstaat, um gemäß dem dortigen Recht einen norm umgangen, oder ob man von einer Umgehung der fraglichen materiellen Norm spricht, ist praktisch unerheblich. Korrekt müßte es wohl heißen: umgangen wird die Rechtsfolge der Kollisionsnorm, d. h. die Anwendbarkeit der betreffenden materiellen Norm. 526 Den Ausdruck „Scheingeschäft“ möchte ich jedenfalls in diesem Zusammenhang nicht gebrauchen, da das Geschäft als ganzes durchaus ernst gemeint ist und nur ein einzelnes Moment (nämlich das für die Anknüpfung bestimmende) vorgetäuscht wird.

ahnungslosen Partner leichter auf eine unüberlegte Erklärung festlegen zu kön­ nen oder um alle Beurkundungskosten zu sparen, nicht mehr dem Sinn der an­ gerufenen Kollisionsnorm entsprechen, sondern eine Gesetzesumgehung darstel­ len. Das gleiche gilt für den bewußt kurzfristigen Erwerb von Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit in einem Lande zu dem alleinigen Zweck, nach dem dort geltenden Rechte sich scheiden zu lassen oder zu heiraten (während ein dau­ ernder Wechsel des Personalstatuts zu diesem Zweck eher erträglich erscheint), ferner für eine Veränderung des die Erbfolge bestimmenden Anknüpfungsmo­ mentes (je nachdem: Staatsangehörigkeit, Wohnsitz oder auch Belegenheit des Vermögens), wenn damit nur eine Erweiterung der Testierfreiheit auf Kosten naher Angehöriger erstrebt wird. Die letztgenannten erbrechtlichen Fälle sind allerdings insofern heikel, als das gewöhnliche Indiz einer Umgehung, die spä­ tere Rückkehr in das alte Rechtsgebiet, nach dem Tode des Erblassers ja ent­ fällt.

II. Die Bekämpfung der Gesetzesumgehung setzt vor allem einen entspre­ chenden Willen voraus. Bisweilen wird nämlich eine Gesetzesumgehung amtlich geduldet oder offen gutgeheißen, weil sie als einzige Abhilfe ge­ gen ein allgemein als unbillig empfundenes Gesetz gilt, zumal wenn es sich um ein ausländisches Gesetz handelt. Desgleichen wird eine beson­ ders kostspielige Umgehungsform, deren unsozialen Charakter man be­ dauern mag, die aber wegen der Seltenheit ihrer Benutzung weniger ge­ fährlich ist als eine allgemein zugängliche Art, oft stillschweigend ak­ zeptiert. Ferner kann die Hinnahme eines fait accompli das kleinere Übel sein, z. B. bei Entführung eines Kindes durch einen nicht sorgebe­ rechtigten Elternteil (legal kidnapping), wenn die zwangsweise Rück­ führung des Kindes nach mehreren Monaten dieses seelisch schwer schä­ digen würde. Schließlich ist der Gedanke der Rechtssicherheit nicht au­ ßer acht zu lassen. So würde es im obigen Beispiel des Vertragsschlusses im Nachbarstaat zu un­ erträglicher Rechtsunsicherheit führen, wenn die Gültigkeit jedes in erleichter­ ter oder billigerer Ortsform geschlossenen Vertrages von Amts wegen (etwa bei Registrierung eines gesellschaftsrechtlichen oder Immobiliargeschäftes oder gar in einem späteren Prozeß) anzuzweifeln wäre. - Jedoch ist im Bereich des Eherechts nicht jede im Ausland erfolgte Gesetzesumgehung mit 'der Begrün­ dung hinzunehmen, eine erschlichene Eheschließung oder Scheidung sei besser als eine hinkende (vgl. dazu § 48: Hinkende Rechtsverhältnisse, besonders N. 987).

Die Bedeutung der Duldung oder gar Gutheißung einer Gesetzesum­ gehung wird gelegentlich unterschätzt527. Ein besonders aktuelles Beispiel amtlich geduldeter Gesetzesumgehung bildet das sog. „Ausflaggena von Schiffen, d. h. die Übereignung an eine Tochterge­ sellschaft, die zur Umgehung arbeits- (und steuer-)rechtlicher Vorschriften in einem Lande mit „billiger Flagge“ gegründet wird und von der die Mutterge­ sellschaft das Schiff dann chartert. Es gilt dies als kleineres Übel gegenüber der Konkurrenzunfähigkeit.

Will man die Gesetzesumgehung wirkungsvoll bekämpfen, so reichen dazu Strafbestimmungen - wo solche überhaupt in Betracht kommen - nicht immer aus; denn eine mäßige Kriminal- oder Ordnungsstrafe wird von manchem in Kauf genommen, wenn er nur sein Ziel erreicht, z. B. eine Scheidung oder Eheschließung. Die ebenfalls als Sanktion vor­ geschlagene Aufbürdung auch aller lästigen Konsequenzen eines fraudu­ lösen Aktes ist oft bei der Gesetzesumgehung bereits einkalkuliert528. Und die Nichtigerklärung des Umgehungsgeschäftes529 versagt gegen­ über rein tatsächlichen Umgehungshandlungen wie der Verlegung des Handlungsortes ins Ausland. Man muß vielmehr, um der Gesetzesumge­ hung zu begegnen, sie einfach unwirksam machen, d. h. das umgangene lästige Gesetz dennoch anwenden und das erschlichene günstige Gesetz 527 Eine bewußte Nachsicht und nicht etwa ein Unvermögen, der Umgehung beizu­ kommen, war wohl seinerzeit der Grund für eine gewisse österreichische und italieni­ sche Rechtsprechung gegenüber Auslandsscheidungen gebürtiger Inländer (sog. siebenbürgische und Fiume-Scheidungen, siehe Makarov, Allg. Lehren 211 ff., 218 ff.). Vgl. auch v. Schilling, RabelsZ 5 (1931) 639: „Soll ein Katholik, dem Kirche und Heimatstaat die Ehescheidung untersagen, nirgends in der ganzen Welt das unerträg­ lich gewordene Eheband lösen können ...?“ - Über die offizielle Förderung der Um­ gehung des Schweizer Ehehindernisses der Wartefrist (Art. 150 ZGB) siehe RabelsZ 21 (1956) 727 N. 4, dazu die Mitteilungen SchwJZ 1960, 180, 228 und 248. - Zum Un­ terhaltsanspruch des unehelichen Kindes gegen seinen Vater sagt Satter, DR (Wiener Ausgabe) 1943, 17 (für das interlokale Recht), daß eine „willkürliche Beeinflussung der kollisionsrechtlichen Entscheidung in normalen Fällen den Rechten des Kindes zu­ statten kommt, ihr Ergebnis somit vom sozialen Standpunkt einwandfrei, ja geradezu wünschenswert erscheint“. Ähnlich Rabel, Conflict I2 676 (hinsichtlich des Geburtsor­ tes als Anknüpfungsmoment): „The danger that, before giving birth, the mother may move to a locality where the law is unfavorable to her or the child, is negligible; an improvement for the child is welcome.“ 528 Ein Beispiel solcher indirekter Bestrafung bietet die englische Entscheidung Re Emery3s Investments Trusts} [1959] Ch. 410: Ein Ehemann kann sich nicht darauf be­ rufen, daß die Eintragung von Wertpapieren auf den alleinigen Namen seiner Frau nur zur Umgehung einer ausländischen Steuer erfolgt sei. 529 Vgl. etwa Art. 1208 C. c. argent.: „Die Verträge, die in der Republik zur Verlet­ zung der Rechte und Gesetze einer fremden Nation geschlossen sind, haben keinerlei Wirkung.“

nicht anwenden, als wenn die fraudulöse Erklärung oder Handlung nicht vorläge. Dafür gibt es theoretisch drei Möglichkeiten.

1. Die „fraus legis“ kann als besonderer Tatbestand (des Kollisions­ rechts wie des übrigen Rechtes) normiert werden530. Zu diesem Tatbe­ stand gehört jedoch - wenn man nicht den normalen Gebrauch des Wortes „Umgehung“ durch eine ungewöhnlich weitgehende Defini­ tion umgehen will - eine Umgehungs- oder Erschleichungs^^sicA^531. Eine derartige Absicht ist oft schwer zu beweisen; denn wie ein englischer Richter schon vor Jahrhunderten sagte: „Die Gedanken eines Menschen sollen nicht zum Gegenstand eines Beweises gemacht werden, denn der Teufel kennt nicht die Gedanken des Menschen.“532 Für eine fraudulöse Absicht kann man auch keine weitgehenden Vermu­ tungen aufstellen, weil „quisquis bonus praesumitur“. Darüber hinaus ist die Absicht nicht als generelles Kriterium geeignet; denn einerseits ist nicht die Gewitztheit als solche zu bestrafen533, und anderseits emp­ fiehlt es sich oft, nicht nur die planmäßige, sondern auch die zufällige Vereitelung der Gesetzeszwecke zu verhindern534. Diese Lösung befrie­ digt also nicht. 530 Vgl. Art. 13 III des liechtensteinischen Sachenrechts: „Ortsveränderungen, wel­ che in der offenbaren Absicht der Gesetzesumgehung vorgenommen wurden, sind nicht zu berücksichtigen.“ Allgemein sagt Art. 21 portug. C. c.: „Bei Anwendung der Kon­ fliktsnormen sind unerheblich die faktischen oder rechtlichen Situationen, welche mit der fraudulösen Absicht geschaffen worden sind, die Anwendbarkeit desjenigen Geset­ zes zu vermeiden, das unter anderen Umständen zuständig wäre.“ 531 Nach Maridakis, in: Mlanges Maury I (1960) 239, soll es nicht auf die Absicht der Umgehung ankommen, vielmehr soll allein die Sittenwidrigkeit der Herbeiführung einer Anknüpfungstatsache zur Folge haben, daß der Betreffende keine Vorteile aus diesem Tatbestand ziehen kann. Aber in der Regel wird die Sittenwidrigkeit eben in der Umgehungsabsicht liegen, während in anderen Fällen kein zwingender Grund be­ steht, die sittenwidrige Handlung, z. B. die Flucht eines Bankrotteurs ins Ausland, ge­ rade durch Verweigerung einer kollisionsrechtlichen Folge zu ahnden (im Beispiel etwa durch Nichtanerkennung der Formgültigkeit seines im Ausland errichteten Testamen­ tes). 632 Brian, C. J., in Y.B. 17 Edw. 4, Pasch., fo. 2, pl. 2 (1477), zitiert u. a. bei MEgarry, Miscellany-at-Law, A Diversion for Lawyers and Others4 (London 1969) 242. 633 Mit Recht sagt Schnitzer, IPR I 257: Es ist „nicht ohne weiteres verwerflich, wenn die Parteien ihrerseits Gestaltungsmöglichkeiten finden, an die das Gesetz nicht gedacht hat“. Welchen Anteil an der Entwicklung z. B. des römischen Rechts haben die nachgeformten Rechtsgeschäfte! (Vgl. Rabel, SavZ/Rom. 27 [1906] 290 ff.) 534 Ausgenommen sind natürlich die Fälle, in denen der Gesetzgeber ausdrücklich nur die vorsätzliche Umgehung ahnden will. Vgl. etwa § 1 I 2 des nationalsozialisti­ schen Blutschutzgesetzes (RGBl. 1935 I 1146) und § 3 I 2 EhegesundheitsG (ebd. 1246), welche beide die im Ausland geschlossene verbotswidrige Ehe nur bei Umge­

2. Die Vorbehaltsklausel des ordre public (Art. 30 EGBGB, vgl. un­ ten § 49) ermöglicht die Nichtanwendung eines ausländischen Gesetzes unabhängig von der Absicht der Beteiligten, wenn „die Anwendung ge­ gen die guten Sitten oder gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes ver­ stoßen würde“. Das setzt freilich eine gewisse Wichtigkeit der Sache voraus535. Meist wird die Vorbehaltsklausel gegen die Anwendung ei­ nes ausländischen Gesetzes im Hinblick auf dessen Inhalt angerufen, aber sie trifft auch den Fall, daß die Anwendung nur wegen besonderer Umstände als anstößig erscheint. Voraussetzung ist jedoch nach bisheri­ gem Recht, daß ein ausländisches Gesetz in Rede steht; die traditionelle Vorbehaltsklausel betrifft nicht den Fall, daß jemand die Anwendung inländischen Rechtes erschleichen will. Auch die Bekämpfung einer sol­ chen Erschleichung ist aber normalerweise erwünscht aus Gründen der Billigkeit, der Entscheidungsgleichheit mit dem Staat, dessen Recht um­ gangen werden soll und der diese Umgehung in der Regel nicht duldet, sowie aus Gründen der Selbstachtung des Staates, damit das Inland nicht in den Ruf eines „Paradieses“ für die Umgehung fremder Gesetze kommt. (Der letzte Gesichtspunkt ist in Deutschland z. B. gegenüber manchen Scheidungsklagen und Adoptionsbegehren von Ausländern er­ örtert worden.) - Auch diese Lösung ist also unzulänglich. 3. Eine teleologische Gesetzesanwendung, die bei Diskrepanz zwi­ schen Wortlaut und Zweck des Gesetzes zugunsten des Zweckes ent­ scheidet, kann auf eine besondere Rechtsfigur der fraus legis und auf den ordre public (und damit auf die Durchbrechung des regulären kolli­ sionsrechtlichen Systems) verzichten und ohne Unterscheidung zwischen Absicht und Zufall oder zwischen in- und ausländischem Recht stets dem Willen des Gesetzgebers zum Siege verhelfen. Hier führt das Pro­ blem der Gesetzesumgehung auf die allgemeine Frage der Gesetzesan­ wendung in Fällen ungewöhnlicher Tatbestandsverwirklichung, insbe­ sondere zu der Frage, ob im Kollisionsrecht eine nur ganz flüchtige An­ knüpfung genügt. Wenn z. B. ein Deutscher einem andern Deutschen während eines gemeinsa­

hungsabsicht für nichtig erklärten (Näheres bei Külper, Die Gesetzgebung zum deut­ schen IPR im „Dritten Reich“ [Diss. Hamburg 1975] 51 ff. mit N. 153 ff. sowie 96 ff. mit N. 271 ff.). Noch zurückhaltender Art. 7f Schweizer NAG, der nur bei einer „of­ fenen“ Absicht, die Nichtigkeitsgründe des schweizerischen Rechts zu umgehen, die im Ausland nach dem dort geltenden Recht geschlossene Ehe nicht anerkennt. 535 So mit Recht Verplaetse, Reappraisal of the Concept of Evasion of Law in the Private International Law: Rev. hell. 11 (1958) 264 (277).

men Spaziergangs über die französische oder die holländische Grenze eine mündliche Bürgschaftserklärung gegeben hat, die nach dem Ortsrecht (Art. 2015 C. c. bzw. Art. 1861 B. W.) gültig, dagegen nach dem deutschen Recht (§ 766 BGB) nichtig ist, so wäre es unbefriedigend, ihm den Schutz des deut­ schen Vertragsstatuts zu entziehen - unabhängig von einer bösen Absicht des Partners. Entsprechendes gilt bei einem Kaufvertrag über ein ausländisches Grundstück, der während einer Besichtigungsfahrt in einem Transitland ent­ gegen dem Vertragsstatut privatschriftlich geschlossen wird536.

Voraussetzung dieser Lösung ist allerdings ein klares Urteil über den Zweck der jeweiligen Kollisionsnorm sowie die Bereitschaft, bei Verfol­ gung dieses Zweckes sich notfalls - aufgrund einer entsprechenden Ge­ neralklausel oder ohne sie - über den bloßen Wortlaut des Gesetzes hinwegzusetzen, sei es durch ausdehnende bzw. restriktive Anwendung, sei es durch Analogie bzw. teleologische Reduktion537. Wo diese Vor­ aussetzungen fehlen, wird man zur Abwehr einer konkreten Gesetzes­ umgehung auf eine der beiden vorgenannten Rechtsfiguren zurückgrei­ fen müssen. III.

Als wirksamste Vorbeugung gegen die Gesetzesumgehung auf dem Ge­ biete des Kollisionsrechts erscheint einerseits eine Formulierung der Kol­ lisionsnormen, die zwischen dem gemeinten Inhalt und dem Wortlaut keine Differenz läßt, anderseits (wie schon oben § 20 I 4 erwähnt) die Wahl von Tatbestands- und Anknüpfungsmerkmalen, die einer Manipu­ lierung völlig entzogen sind. Beides sind freilich unerreichbare Ideale: Man kann nicht die ratio einer jeden Norm restlos in deren Wortlaut zum Ausdruck bringen (zumal diese ratio sich im Laufe der Zeit wan­ deln kann, vgl. § 26 II nach N. 567), und man darf nicht die Anknüp­ fungsmomente allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Unabhängigkeit von fraudulösen Manipulationen wählen538.

538 Zur Beurkundung im Ausland zwecks Gebührenersparung siehe unten bei N. 963. 537 Die Bedeutung der letzteren beiden betont besonders Westerhoff, Gesetzesum­ gehung und Gesetzeserschleichung (Diss. Hamburg 1966) 88 ff., 205 ff. 588 Vgl, die amerikanische Entscheidung Larson v. Gallogly^ 361 F. Supp. 305, 309 (D.R.I. 1973), dazu Note, N.C.L.Rev. 52 (1973/74) 1279 ff.: Das Erfordernis zweijährigen Aufenthalts vor einer Scheidung, das wirklichen Wohnsitz im Inland si­ chern soll, wurde für verfassungswidrig erklärt, da es eine zu mechanische Anknüp­ fung auf Kosten der Freizügigkeit darstelle.

IV. Kapitel: Zu einzelnen Anknüpfungen

S 26: Anknüpfung des Personalstatuts L

Der Begriff „Personalstatut“ bezeichnet nach dem heutigen deutschen Sprachgebrauch (dessen Entstehung oben § 10 III 4 nach N. 274 ange­ deutet ist) diejenige Rechtsordnung, welche für alle persönlichen Rechts­ verhältnisse eines Menschen oder auch einer juristischen Person oder ei­ ner sonstigen Personengesamtheit maßgebend ist. Das Wort ist scharf zu trennen von der englischen Bezeichung „personal Status“, die den per­ sönlichen Status oder Stand umschreibt, d. h. eine Stellung in der Rechtsgemeinschaft, sei es der Personenstand als Verheirateter oder Le­ diger, als eheliches, uneheliches oder legitimiertes Kind, sei es die Stel­ lung als Staatsbürger oder Ausländer, als Geschäftsfähiger oder in der Geschäftsfähigkeit Beschränkter, als Gemeinschuldner, als Hochverrä­ ter, der die bürgerlichen Ehrenrechte verwirkt hat, als Vormund oder auch die Stellung als juristische Person. Der schillernde französische Ausdruck „Statut personnel" schließlich bezeichnet bald das Personal­ statut im deutschen Sinn (auch „loi personnelle" genannt), bald wie das englische Wort „Status“ die persönliche Rechtsstellung („etat et capacite“), bald die Gesamtheit der Sachgebiete, die dem Personalstatut unter­ stehen (also einen Anknüpfungsgegenstand). Die Abgrenzung, welche Fragen nach dem Personalstatut beurteilt werden (dem „Statut personnel“ angehören), ist in den einzelnen Kollisi­ onsrechten verschieden. In Deutschland gehören dazu im wesentlichen die Fragen des Personen-, Fa­ milien- und Erbrechts. - Besonders weit geht traditionell Italien, das im Co539 Diesen letzten Sprachgebrauch zeigt z. B. das deutsch-persische Niederlassungs­ abkommen vom 17. 2. 1929 (RGBl. 1930 II 1006), für dessen Auslegung nach Art. 10 I der französische Wortlaut maßgebend ist: Im Schlußprotokoll heißt es zu Art. 8 III, „daß das Personen-, Familien- und Erbrecht, das heißt das Personalstatut, die folgen­ den Angelegenheiten umfaßt: Ehe ..usw. Falsch ist die amtliche deutsche Übersetzung von Art. 12 I der Genfer Flüchtlings­ konvention vom 28. 7. 1951 (BGBl. 1953 II 560): „Das Personalstatut jedes Flücht­ lings bestimmt sich nach dem Recht...“, wo es auf englisch heißt: „The personal Sta­ tus of a refugee shall be governed by the law ..und auf französisch: „Le Statut per­ sonnel de tout refugie sera regi...“ Ausführlich hierzu Makarov, Personalstatut und persönlicher Status, in: Fs. Heidelberg (oben N. 341) 115 ff.

dice civile von 1865 (in Fortführung der alten Maxime „mobilia ossibus inhaerent“, diesem Relikt aus der Zeit des Überwiegens von „fahrender Habe“ und Bargeld gegenüber Warenlager und Bankdepot) auch das Mobiliarsachenrecht dem Personalstatut unterstellte (Disp. prel. Art. 7 I) und heute noch die Schen­ kung, die vertraglichen Schuldverhältnisse sowie die Form der Rechtsgeschäfte wenigstens alternativ nach dem (gemeinsamen) Heimatrecht der handelnden Personen beurteilt (Artt. 24-26 Disp. prel. C. civ. von 1942). - Wohl die ge­ ringste Bedeutung hat das Personalstatut in den Ländern des Common Law, Hier ist sein Anwendungsbereich in dreifacher Hinsicht eingeschränkt: durch die unbedingte Geltung der lex rei sitae für Immobilien - auch bezüglich der Geschäftsfähigkeit sowie im Familien- und Erbrecht durch die Maßgeblich­ keit der lex loci actus für die sonstige Geschäftsfähigkeit (umstritten) und weithin für die Erfordernisse der Eheschließung; endlich durch die lex fori, be­ sonders im Ehescheidungs- und Adoptionsrecht.

Wenn neuerdings auf dem europäischen Kontinent der Bereich des Personalstatuts zu schrumpfen scheint540, so kann dabei zum Teil ein­ fach ein Wechsel in der Anknüpfung des Personalstatuts von der Staats­ angehörigkeit zum gewöhnlichen Aufenthalt vorliegen, der sich sozusa­ gen vom Rande her vollzieht (besonders in Unterhaltsfragen und für ge­ richtliche Maßnahmen, so nach den neueren Haager Abkommen), wäh­ rend im Zentrum, bei der gesetzlichen Regelung von „etat et capacite“, das alte Prinzip noch unerschüttert scheint. Statt von einer Auflösung des Personalstatuts spricht man wohl besser von seiner schrittweisen „Umpolung“541.

II.

Welches die beste Anknüpfung für das Personalstatut ist, bildet seit etwa hundert Jahren die bekannteste Streitfrage des IPR, nämlich seit­ dem in einer Reihe von Staaten neben dem Domizil^ das lange Zeit gleichbedeutend war mit dem Bürgerrecht und auch die Grundlage der Rechts- (und Gerichts-)Unterworfenheit darstellte, ein besonderer Be­ griff der Staatsangehörigkeit entstanden ist542. 640 Siehe Batiffol, Une Evolution possible de la conception du Statut personnel..., in: XXth Century Comparative and Conflicts Law, Legal Essays in honor of Hessel E. Yntema (1961) 295 ff. 541 Daß „ein abrupter Übergang von dem einen Grundsatz zum anderen weder wünschenswert noch realisierbar“ sei, betont Kievel (oben N. 232) 190; deshalb könne „die Einheitlichkeit des Personalstatuts notwendigerweise nicht aufrechterhal­ ten werden“. 542 Zu den Auseinandersetzungen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts - beson­ ders im deutschen Rechtskreis - siehe die Nachweise in RabelsZ 35 (1971) 392 f.

Eine dritte Anknüpfung, nämlich an die Volkszugehörigkeit im nationalpoli­ tischen Sinne, wurde von Mancini in die italienische Kodifikation von 1865 eingeführt, nämlich mit dem Wort „nazione", das jedoch in der Praxis alsbald im Sinne der Staatsangehörigkeit ausgelegt wurde543. Im „Dritten Reich“ wur­ de eine Anknüpfung an die (deutsche) Volkszugehörigkeit - obwohl sie „die folgerichtige Durchführung des Satzes der Volksgemeinschaft gewesen wäre“544 - ausdrücklich abgelehnt, teils unter Berufung auf den Buchstaben des Geset­ zes545, teils mit der grundsätzlichen Erklärung, Deutschland habe „nicht die Absicht, fremden Staaten und Völkern seine Auffassung von Volk, Recht und Staat aufzudrängen“546, teils „aus realen, außenpolitischen und historischen Ge­ gebenheiten heraus“, d. h. zur Vermeidung von Konflikten mit dem ohnehin kritischen Ausland547. Selbst die Gesetzgebung für die im zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete vermied es in der Regel, an die Volkszugehörigkeit anzu­ knüpfen548. Nach dem Kriege diente die Volkszugehörigkeit der volksdeutschen Vertriebenen ebenfalls nicht unmittelbar als Anknüpfungsmoment, sondern nur als Grund für ihre Gleichstellung mit den deutschen Staatsangehörigen549. Heu­ te vertreten Zionisten die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit für Juden ohne israelische Staatsangehörigkeit550.

Der Gegensatz von Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip geht mitten durch das Recht der meisten Länder551. 648 Vgl. Fusinato (oben N. 68) 549 (= Estratto 31). 544 Vgl. etwa Reu, Anwendung fremden Rechts (1938) 13. 548 RG 13. 1. 1936, RGZ 150, 61 (62 f.). 646 Horst Müller, DJZ 1936, 1068 N. 4, vgl. 1070. 547 Reu, in: Mlanges Streit II (Athen 1940; nur in Sonderdrucken erschienen) 303; ähnlich ders., oben N. 544, S. 13. - Näheres zum ganzen bei Külper (oben N. 534) 435 ff. mit N. 1081 ff. sowie 450 ff. mit N. 1122 ff. 648 So betraf die VO über die Anwendung deutschen Rechts auf Elsässer vom 19. 6. 1941 (VOB1. des Chefs der Zivilverwaltung S. 445) nach § 1 I 1 alle „Personen, die die französische Staatsangehörigkeit aufgrund der Anlage zu den Artikeln 51-79 des Versailler Diktats erworben haben oder ihre Staatsangehörigkeit von solchen Personen ableiten“. Ausnahmen bildeten auf dem Gebiete des Zivilrechts § 24 der VO über die deutsche Gerichtsbarkeit im Generalgouvernement vom 19. 2. 1940 (VOB1. I 57), der die deutschen Volkszugehörigen hinsichtlich des Personen- und Familienrechts den deutschen Staatsangehörigen gleichstellte, sowie die VO des Reichskommissars für die Ukraine über die Anwendung deutschen Eherechts auf Volksdeutsche vom 30. 6. 1942 (VOB1. 58), und diese betraf nach ihrem §11 nur diejenigen Volksdeutschen, „die keine andere als die ehemals sowjetische Staatsangehörigkeit besitzen“. 549 Das FamRÄndG vom 11. 8. 1961 gibt durch seinen Art. 9 Nr. II 5 insofern eine rückwirkende authentische Interpretation des Art. 116 GG (vgl. Dierk Müller, RabelsZ 30 [1966] 58 f.). Für Fälle aus der Zeit vor dem 24. 5. 1949 siehe die Vor­ auflage (N. 304). 550 Vgl. die israelische Entscheidung Kure v. Kurschen, Rev. crit. 57 (1968) 457 mit Anm. Wengler, dazu Perles, Rspr. z. Wiedergutmachung 1970, 344 f. 551 Schon deshalb war das immer wieder angeführte Wort des Argentiniers ZEBA­

So lassen viele Kollisionsrechte, die im allgemeinen an die Staatsangehörig­ keit anknüpfen, für Staatenlose und für Ausländer mit mehrfacher Staatsange­ hörigkeit, zum Teil auch für Flüchtlinge, welche noch ihre alte Staatsangehö­ rigkeit besitzen, sowie für Angehörige von Staaten, in denen mehrere Privat­ rechtsordnungen nebeneinander gelten, den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt entscheiden552. Anderseits beurteilen Länder des Wohnsitzprinzips wie Dänemark und Norwegen speziell die Wechsel- und Scheckfähigkeit ge­ mäß den Genfer Abkommen von 1930/31 (oben N. 44) nach dem Heimat­ recht. Die Sowjetunion kombiniert beide Prinzipien in der Form, daß sie (eben­ so wie früher das zaristische Rußland) auf Inländer im Ausland das Heimat­ recht und auf Ausländer im Inland das Wohnsitzrecht anwendet553. Praktisch ähnlich halten es großenteils Deutschland mit den vielen Ausnahmen des EGBGB zugunsten des deutschen Rechts554 und auch die Schweiz^5, die übri­ gens zum Teil je nach Sachgebieten zwischen Staatsangehörigkeit und Wohn­ sitz wechselt556. Frankreich, dessen Art. 3 III C. c. als Urbild der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit gilt557, knüpft ‘das Ehegüter- und Mobiliarerbrecht an den Wohnsitz (während für die Immobiliarerbfolge die lex rei sitae gilt), neuerdings ebenso die Ehewirkungen (samt Ehescheidung und ehelicher Ab­ stammung der Kinder) bei verschiedener Staatsangehörigkeit und gemeinsamem aus dem Jahre 1909, daß 500 Millionen Menschen Angehörige von Staaten des Domizilprinzips seien gegenüber nur 460 Millionen Angehörigen von Ländern des Staatsangehörigkeitsprinzips (zitiert nach Cassin, Rec. des Cours 34 [1930-IV] 725), von vornherein problematisch. Etwas genauer unterscheidet de Winter, Rec. des Cours 128 (1969-III) 358, wieviele Menschen einem Staat mit Wohnsitzprinzip, mit Staatsangehörigkeitsprinzip oder mit dem einen für Ausländer und dem andern für In­ länder angehören, nämlich (für 1968) 1450, 1600, 350 Millionen. Im übrigen interes­ siert ja nicht jene große Mehrzahl der Menschen, die in ihrem Heimatstaat lebt und für die daher Heimatrecht und Wohnsitzrecht zusammenfallen, sondern nur die kleine Minderheit, für welche es wirklich einen Unterschied macht, ob an die Staatsangehö­ rigkeit oder an den Wohnsitz angeknüpft wird. 552 Man kann diese subsidiären Anknüpfungen als „Brücken“ zwischen den Staats­ angehörigkeits- und den Domizilstaaten bezeichnen, die man nicht abbrechen soll (so KOLLEWIJN, Ned. T. Int. R. 7 [1960] 386). Aber es sollten nur provisorische Brücken sein, bis die Kluft geschlossen ist. 553 Nur für das Erbrecht gilt seit dem 1. 5. 1962 das Wohnsitzprinzip absolut: Art. 127 der „Grundlagen der Zivilgesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken“ vom 8. 12. 1961. 554 Vgl. die Zusammenstellung von Braga, Staatsangehörigkeitsprinzip oder Wohn­ sitzprinzip?: RabelsZ 18 (1953) 227 (236 f.). 555 NAG Art. 28 Nr. 2 einerseits, Art. 32 i.V.m. Artt. 1 ff. anderseits. 556 Ersteres gilt allgemein für den „Familienstand“: NAG Art. 8, zu dem später Artt. 7e (Eheschließung) und 7h (Ehescheidung) hinzugekommen sind, im Gegensatz zu Artt. 1, 7, 9, 10, 22 I; gemischt Artt. 8a-8c (Adoption) nach dem Gesetz vom 30. 6. 1972 (AS II 2819). 557 Ob historisch zu Recht, bleibe hier dahingestellt; immerhin erklärte noch Foelix, Traite du d.i.p.2 (1847) no. 28 a.E.: „Les expressions de ,lieu du domicile de l’individu’ et de „territoire de sa nation’ ou ,patrie* peuvent etre employees indifferemment.“ llos

effektivem Wohnsitz der Ehegatten558. England, der stärkste Verfechter des Domizilprinzips, berücksichtigt die (britische, jetzt zum Teil auch ausländi­ sche) Staatsangehörigkeit in seinen Gesetzen über die Legitimation559, über die Testamente560, über die Form der Eheschließung im Ausland561 sowie über die Anerkennung ausländischer Scheidungs- und Trennungsurteile562, ferner in der Rechtsprechung über Sorgerechtssachen563; außerdem nähert sich sein Domizil­ begriff so stark dem Begriff der Staatsangehörigkeit, daß amtlich erklärt wer­ den konnte, syrische Staatsangehörige, die sich im Gebiet des Vereinigten Kö­ nigreichs samt Kolonien aufhalten, seien in ‘der großen Mehrzahl der Fälle als in Syrien domiziliert anzusehen564. Man kann dem Streit um die beste Bestimmung des Personalstatuts nicht dadurch entgehen, daß man auf eine generelle Regel verzichtet und nur von Fall zu Fall - in Analogie zu dem englischen Begriff des „proper law of the contract" - nach einem „proper law of the person“ sucht. Denn gerade das Personalstatut ist für eine ganze Kette familienund erbrechtlicher Verhältnisse maßgebend, die großenteils nicht nur zwischen den unmittelbar Beteiligten, sondern erga omnes wirken; seine Anknüpfung sollte daher um der Rechtssicherheit willen möglichst ein­

heitlich bestimmt werden565. Jedoch genügt es, in den einzelnen Kollisionsnormen des Familienrechts nur die Anwendung des „Personalstatuts^ dieser oder jener Person in diesem oder jenen Zeitpunkt vorzuschreiben und die genaue Bestimmung dieses Be­ griffs einer Hilfsnorm zu überlassen (wie sie heute in Deutschland Art. 29 558 Batiffol/Lagarde, D.i.p.5 II (1971) nos. 620/623, 637/639, (638), 432 (443, 462); zur Ehescheidung siehe jetzt Art. 310 C.c. i.d.F. vom 11. 7. 1975. 559 See. 9 Legitimacy Declaration Act 1858, jetzt sec. 45 (1) Matrimonial Causes Act 1973. 560 Früher secs. 1 und 2 des sog. Lord Kingsdown’s Act 1861, jetzt sec. 1 Wills Act 1963. 561 Foreign Marriage Act 1892. 502 Sec. 3 (1) (b) Recognition of Divorces and Legal Separations Act 1971 (c. 53). 563 Dicey/Morris, Rules 57 (1) (a) und (3), 58; vgl. Dopffel, RabelsZ 22 (1957) 228. - Die in der Vorauflage (S. 136 N. 315) außerdem genannte Entscheidung Re Greaves, decd., The Times 29. 3. 1957, [1957] C.L.Y. Nr. 497, die auf den englischen Mobiliarnachlaß eines britischen Staatsangehörigen mit ägyptischem domicile englisches Recht anwandte, wird von Dicey/Morris (laut Table of cases) mit Schweigen über­ gangen. 564 Note der Britischen Gesandtschaft in Damaskus an die syrische Regierung vom 1. 11. 1946, Rev. crit. 38 (1949) 378, vgl. auch unten N. 586. 585 Dies ist mein Hauptbedenken gegen eine Anknüpfung nur des persönlichen Ehe­ rechts nach der Staatsangehörigkeit (also Trennung von Bestand und Wirkungen der Ehe!), wie sie z. B. Elke Suhr (oben N. 467) 126 vorschlägt und ihr folgend ZWEIgert, Einige Auswirkungen des Gemeinsamen Marktes auf das IPR der Mitgliedstaa­ ten, in: Probleme des europäischen Rechts, Festschrift Hallstein (1966) 555 (562).

EGBGB für die Staatenlosen darstellt). Ja, der Gesetzgeber mag in einem Land mit Staatsangehörigkeitsprinzip, wenn er dieses Prinzip einstweilen - etwa mit Rücksicht auf das IPR der Nachbarstaaten - beibehalten, aber den Status quo nicht gesetzlich zementieren will, einen späteren Übergang der Rechtspre­ chung zum Wohnsitz- oder Aufenthaltsprinzip dadurch offenhalten, daß er auf die Hilfsnorm verzichtet oder sie hinreichend unbestimmt faßt566.

Summarisch gesagt, enthalten die Anknüpfung an die Staatsangehö­ rigkeit und die an den Wohnsitz nur Annäherungswerte, Indizien für die eigentlich gemeinte Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung, ohne die­ ses wirkliche Prinzip der Anknüpfung klar zu erfassen567. Dabei wech­ seln die Argumente zugunsten des einen und des anderen Prinzips mit der Zeit und zum Teil auch von Land zu Land. So wird das Domizil bald aus der Gebietshoheit bzw. aus dem Bestreben nach Assimilierung von Einwanderern gerechtfertigt, bald mit dem Hinweis auf die tatsäch­ lichen Lebensverhältnisse oder auf die Bedürfnisse des Verkehrs. Und das Staatsangehörigkeitsprinzip, das im vorigen Jahrhundert unter der Fahne des subjektiven Rechts auf Beachtung der Nationalität vordrin­ gen konnte, wird heute u. a. mit dem Hinweis auf die politischen Flüchtlinge bekämpft, die ihre alte Staatsangehörigkeit oft wie eine lä­ stige Fessel mitschleppen, da insbesondere autoritäre Staaten ihre Perso­ nalhoheit auf möglichst viele Menschen erstrecken und niemanden aus dieser Bindung entlassen wollen. Im einzelnen wird auf die widerstreitenden Anknüpfungen in den fol­ genden Paragraphen eingegangen.

III.

Für juristische Personen und andere Personengesamtheiten entspricht der Staatsangehörigkeit die Staatszugehörigkeit oder Nationalität. Da diese jedoch im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit natürlicher Personen nicht gesetzlich geregelt noch sonstwie klar definiert zu sein pflegt, scheidet sie als allgemeines Anknüpfungsmerkmal aus. Dem Wohnsitz entspricht der Sitz, wobei zwischen dem satzungsmäßigen Sitz und dem tatsächlichen Sitz der Verwaltung unterschieden wird. Jedoch kommt 506 Vgl. (zu § 8 des SCHWINDschen Entwurfs eines österr. IPR-Gesetzes, unten N. 1204) Neuhaus, Z. f. Rvgl. 13 (1972) 84. 567 Vgl. Rheinstein, U. Chi. L. Rev. 26 (1958/59) 186, wo er sinngemäß sagt: Im IPR wird immer wieder aus konkreten Erfahrungen eine allgemeine These gemacht und dann aufgrund anderer Fälle eine Gegenthese aufgestellt - bis man merkt, daß beide je für einen begrenzten Bereich passen!

auch der Sitz nicht als ausschließliches Anknüpfungsmerkmal für das Gesellschaftsstatut in Betracht; denn das Sitzrecht kann zwar die Aner­ kennung der Rechtsfähigkeit einer nach anderem Recht gegründeten Ge­ sellschaft verweigern oder gewähren (und allenfalls die Haftung ihrer Gründer und Vertreter festlegen), aber nicht das innere Leben und das Wirken der Gesellschaft abweichend von dem in ihrer Satzung berück­ sichtigten Gründungsstatut bestimmen. Eigentliches Personalstatut einer juristischen Person ist also immer ihr Gründungs- oder Inkorporationsrecht; dem entspricht die Gründungs­ theorie. Die Sitztheorie stellt nur das zusätzliche Erfordernis auf, daß der Sitz, und zwar durchweg der Verwaltungssitz, im Gründungs­ staat liegen muß568. 569 Gewiß kann selbst der Verwaltungssitz - er ist nicht identisch mit dem Ort der wesentlichen Entscheidungen, die von einer ausländischen Muttergesellschaft ausgehen können - manipuliert werden; aber wenn nicht einmal dieses Minimum von tatsächlicher Be­ ziehung zum Gründungsland gefordert wird, erhöht sich die Gefahr ei­ ner Umgehung strenger Gründungs- und sonstiger Kontrollbestimmun­ gen und dadurch die Gefahr eines Wettbewerbs, welches Land die unso­ lidesten Gesellschaften zuläßt (das in Amerika so genannte „race for the bottom"). Da somit die reine Gründungstheorie liberaler ist als die Sitztheorie, mag es überraschen, daß sie nicht nur im Bereich des Common Law, sondern auch zwischen den Staaten^ des Ostblocks gilt589. Doch gehen diese Staaten damit kein großes Risiko ein; denn angesichts der Monopolisierung ihres Außenhan­ dels steht praktisch fast nur die Rechtsfähigkeit staatlicher Außenhandelsorga­ ne in Rede, für die eine Divergenz von Gründungs- und Sitzland nicht in Be­ tracht kommt.

Eine dritte Art der Anknüpfung, nämlich nach der Staatsangehörig­ keit der maßgeblichen Mitglieder (sog. Kontrolltheorie), spielt fast nur im Fremdenrecht eine Rolle und soll deshalb hier nicht näher erörtert werden.

568 Rabel, Conflict II 38: „The requirement of domicil is additional to that of inCorporation and does not by any means replace it.“ 569 Siehe etwa Art. 26 des Vertrages zwischen der DDR und Jugoslawien über den Rechtsverkehr vom 20. 5. 1966 (GBl. DDR 1967 I 8); dazu Neuhaus, Sozialistisches IPR?: RabelsZ 31 (1967) 543 ff. - Vgl. jetzt § 8 RechtsanwendungsG der DDR vom 5. 12. 1975 (GBl. I 748).

§ 27: Staatsangehörigkeit I.

Das Wort 3iStaatsangehörigkeitsprinzipK bezeichnet wie sein Gegen­ stück „Domizilprinzip“ nicht immer ein Prinzip im strengen Sinne, son­ dern oft die bloße Tatsache, daß die persönlichen Verhältnisse eines Menschen dem Recht des Staates unterstehen, welchem er (oder eine an­ dere Person) angehört oder in einem bestimmten Zeitpunkt angehört hat. Im gleichen Sinne spricht man vielfach auch vom „Heimatprinzip“, und das Recht des betreffenden Staates wird als „Heimatrecht“ bezeich­ net. Allerdings kam und kommt das Wort „Heimatrecht“ auch in anderer Be­ deutung vor: früher im Sinne der Heimatberechtigung, die jedem Bürger in sei­ ner Heimatgemeinde „das Recht des ungestörten Aufenthaltes und den An­ spruch auf Armenversorgung“ gewährte570, heute als (postuliertes völkerrecht­ liches) „Recht auf die Heimat“, das sich insbesondere gegen die Vertreibung aus der angestammten Heimat richtet. II.

Als Begründung für das Staatsangehörigkeitsprinzip wird bisweilen angeführt, daß personen- und familienrechtliche Verhältnisse (wie Voll­ jährigkeit, Eheschließung, Abstammung oder Legitimation) die wichtig­ sten Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit seien und daß sie deshalb dem Recht des betreffenden Staates unterlie­ gen müßten. Dieser Argumentation ist vor allem prinzipiell zu wider­ sprechen, da sie das Internationale Personen- und Familienrecht zu einer bloßen Dienerin der Staatsangehörigkeit macht; das Staatsangehörig­ keitsrecht mag bei Bedarf für seine privatrechtlichen Vorfragen eigene Kollisionsnormen aufstellen571. Außerdem ist die angegebene Begrün570 Gesetzgebung und Literatur für die Donaumonarchie und ihre Nachfolgestaaten bei Korkisch, RabelsZ 17 (1952) 417 N. 2. Zur Aufhebung in Österreich siehe Art. II der VO vom 30. 6. 1939 (RGBl. I 1072), in der Tschechoslowakei Korkisch a.a.O. N. 3, in Jugoslawien (implicite) Eisner, RabelsZ 17 (1952) 247. - Vgl. für den Nord­ deutschen Bund und das Deutsche Reich § 5 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. 11. 1867 (BGBl. 1867, 55) in der bis 1924 geltenden Fassung: „Unterstützungswohn­ sitz (Heimathsrecht)“; dazu unten N. 616. 571 Siehe bei Makarov, Quellen des IPR2 I (1953 f.) unter Ägypten, Brasilien, Deutschland, Frankreich (der dort angeführte Art. 27 C. nat. ist durch Gesetz vom 9. 1. 1973 ersatzlos gestrichen - kritisch dazu Lagarde, Rev. crit. 62 [1973] 441 f.), Ja­ pan, Liechtenstein, Österreich, Portugal (jeweils a.E. unter B).

düng weithin falsch, da viele Voraussetzungen des Erwerbs oder des Verlustes der Staatsangehörigkeit nach einem fremden Heimatrecht be­ urteilt werden, nämlich dem bisherigen des Erwerbers oder dem einer andern ausländischen Person. Nahe lag das Staatsangehörigkeitsprinzip, solange die europäischen Mächte allgemein ihre im Ausland lebenden Bürger - besonders in weniger entwickel­ ten Ländern - nicht der einheimischen Gerichtsbarkeit überlassen wollten und deshalb durch ihre diplomatischen oder konsularischen Vertreter standesamtli­ che, familien- und erbrechtliche Befugnisse ausübten. Diese Erscheinung ist of­ fenbar im Rückgang begriffen.

Unter dem Gesichtspunkt einer möglichst sachgemäßen Anknüpfung der personen- und familienrechtlichen Verhältnisse ist das Staatsangehö­ rigkeitsprinzip sozusagen die Goldwährung des IPR. Dieses Bild darf freilich nicht als positive Stellungnahme mißverstanden werden. Be­ kanntlich sichert das Gold nicht als solches (durch seinen Metallwert) die Währung, wie man früher wohl geglaubt hat, sondern sein Zu- und Abfluß ist nur ein leicht erkennbares, aber nicht immer zutreffendes In­ diz für ein reiches oder knappes Güterangebot, auf das es im Grunde für den Wert der Währung ankommt. Ebenso knüpft man an die Staatsan­ gehörigkeit heute im IPR nicht mehr deshalb an, weil dieses politische Band der Zugehörigkeit zu einem Staate wirklich die Grundlage der persönlichen und familiären Rechtsverhältnisse darstellte - das anzu­ nehmen wäre nationalstaatliche Romantik, die schon durch die vielfa­ chen Abweichungen der Grenzen von Staats- und Zivilrechts-Gebieten (besonders nach Gebietsabtretungen und Neubildung von Staaten) wi­ derlegt wird572. Vielmehr bedeutet die Staatsangehörigkeit nur einen Annäherungswert, ein Indiz für die eigentlich gemeinte Zugehörigkeit zu einer Zivilrechtsordnung. Dabei kann dieses Indiz völlig falsch sein; denn die Gründe für Erwerb und Verlust einer Staatsangehörigkeit sind von Land zu Land und von Fall zu Fall so verschieden, daß die tatsäch­ liche Beziehung des Staatsangehörigen zu der betreffenden Rechtsord­ nung im Einzelfall völlig ungewiß ist: Bald entscheidet über die Staats­ angehörigkeit die Eingliederung in eine Familie durch Abstammung, Adoption oder Eheschließung, bald ein bloß räumliches Moment (wie Geburts- oder Aufenthaltsort), außerdem wird der eigene Wille des Be­ 572 Ähnlich bereits KOLLEWIJN, Ontaarding van het nationaliteitsbeginsel in het mo­ derne internationaal privaatrecht (Weitevreden 1929, italienische Übersetzung in Dir. Int. 13 [1959] I 508 ff.). Er bezeichnet als „pure nationalistiese romantiek" den Ge­ danken an eine Übereinstimmung von national geprägtem Recht und Rechtsbewußtsein (3 bzw. 509). 14 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

troffenen in sehr unterschiedlichem Maße beachtet. Trotzdem hat die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im Vergleich zur Wohnsitzan­ knüpfung - wie die Goldwährung früher gegenüber Projekten einer In­ dexwährung - immerhin den Vorteil der internationalen Einheitlich­ keit. Denn es ist heute allgemein anerkannt, daß der Besitz oder Nicht­ besitz einer Staatsangehörigkeit grundsätzlich nach dem Recht desjeni­ gen Staates zu beurteilen ist, dessen Staatsangehörigkeit in Rede steht573, *so daß über das Vorhandensein einer bestimmten Staatsange­ hörigkeit im allgemeinen Entscheidungsgleichheit herrscht. (Zu den sel­ tenen Ausnahmen sogleich.) III.

Im einzelnen gibt es jedoch eine Reihe von Komplikationen:

1 . Zunächst stößt die Feststellung der Staatsangehörigkeit mitunter auf große Schwierigkeiten, sei es infolge Verworrenheit der objektiven Rechtsquellen (besonders im Zusammenhang mit Entstehung und Unter­ gang von Staaten, mit GebietsVeränderungen und Vertreibungen), sei es infolge Ungeklärtheit der persönlichen Verhältnisse, von denen der Er­ werb oder Verlust einer Staatsangehörigkeit abhängt, nämlich Abstam­ mung, Gültigkeit einer Ehe, Freiwilligkeit des Erwerbs einer andern Staatsangehörigkeit usw. Manchmal kann man sich mit der Vermutung des Fortbestandes der für einen früheren Zeitpunkt festgestellten Staats­ angehörigkeit helfen, aber bisweilen bleibt die Staatsangehörigkeit völlig ungeklärt. Bei politischen Gebilden mit mehrstufiger Staatsangehörigkeit - Bundes­ staaten und mancherlei „Unionen", besonders ehemaligen Kolonialreichen ist mitunter zweifelhaft, ob von der Gesamt- oder unmittelbar von der Einzel­ Staatsangehörigkeit auszugehen ist. Wenn z. B. ein amerikanisches Ehepaar aus New York in Nevada geschieden worden ist, hat dann im Sinne des Art. 7 § 1 I 3 FamRAndG574 „ein Gericht des Staates entschieden, dem beide Ehegatten an­ gehört haben“?575 576 573 Siehe etwa Makarov, Allg. Lehren 161 ff. Eine innere Begründung dieses Satzes sehe ich nicht, insbes. genügt nicht der Hinweis, daß das Staatsvolk eines der konstitu­ tiven Elemente jeden Staates ist - denn danach müßte jeder Staat auch sein Territo­ rium ohne Rücksicht auf mögliche Überschneidungen mit anderen Staaten selbst ab­ grenzen können. 674 Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften vom 11. 8. 1961 (BGBl. I 1221). 576 Mit Recht verneinend Gräber, FamRZ 1963, 495, und Kleinrahm/PArtikel, Die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Ehesachen2 (1970) 94 N. 105.

2 . Sodann ist es möglich, daß ein Land für einzelne Zwecke eine „fiktivea oder „funktionelle^ fremde Staatsangehörigkeit konstruiert, die nur für das Inland gilt und also von dem Grundsatz abweicht, das Vor­ handensein einer fremden Staatsangehörigkeit nach dem Recht des be­ treffenden Staates zu beurteilen576. (Das Wort „fiktiv“ ist hier nicht im Sinne der Wirkungslosigkeit zu verstehen, sondern nur im Sinne einer juristischen Fiktion: ein Sachverhalt wird so behandelt, als wenn ein an­ derer Sachverhalt gegeben wäre.) Beispiele hierfür finden sich allerdings weniger im Bereiche des IPR als im öffentlichen Fremdenrecht, So werden in England während eines Krieges die durch einen feindlichen Staat vollzogenen Ausbürgerungen - z. B. die Ausbür­ gerung jüdischer Emigranten durch Deutschland im Jahre 1941577 - aus Furcht vor feindlichen Agenten nicht beachtet578. Ferner hat Guatemala nach Eintritt in den Krieg gegen Deutschland (1941) einen im Oktober 1939 erfolg­ ten Erwerb der liechtensteinischen und gleichzeitigen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nicht anerkannt579.

Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Staatsangehörigkeit in ihrem eigentlichen Sinn als öffentlichrechtliche Beziehung eines Men­ schen zu dem betreffenden Staate580 und der Staatsangehörigkeit als bloßem Anknüpfungsmoment. 676 Makarov hat den Begriff der „fiktiven“ Staatsangehörigkeit in der 1. Auflage seiner Allg. Lehren (1947) für alle Fälle der Konstruktion einer fremden Staatsangehö­ rigkeit geprägt (61 ff.), aber in der 2. Aufl. die Fälle einer nur für bestimmte Zwecke normierten, mit van Panhuys als „funktionell“ bezeichneten Staatsangehörigkeit da­ von ausgenommen (12 ff. mit weiteren Beispielen, 60). 677 11. VO zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 1941 (RGBl. I 722). 678 R. v. The Home Secretary, ex parte L.} [1945] K. B. 7 (10), dazu Makarov, in: Festschrift Raape (1948) 261 ff.; Lowenthal v. Att.-General, [1948] 1 All E. R. 295 (Ch. D.); Oppenheimer v. Cattermole, [1973] Ch. 264 (C. A.); [1975] 1 All E. R. 538 (H. L.). 679 Fall Nottebohm, Cour Internationale de Justice 6. 4. 1955, C. I. J. Rep. 1955, 4; vgl. Makarov, Nottebohm-Fall, in Strupp(-Schlochauer), Wörterbuch des Völker­ rechts2 II (1961) 635 ff. Daß Nottebohm „ titre de ressortissant ennemi“ verhaftet wurde, hat Guatemala in dem Verfahren zugegeben: International Court of Justice, Pleadings, Nottebohm Case vol. I (1955) 210. Die Beschlagnahme und Konfiskation seines Vermögens dagegen erfolgte unter Bezugnahme auf eine englische „schwarze Li­ ste“ bzw. aufgrund der Tatsache, daß N. (wie andere, seither in Guatemala eingebür­ gerte Plantagenbesitzer, die mit ihm enteignet wurden) am 7. 10. 1938 Deutscher ge­ wesen war (a.a.O. 212; vgl. O. Böhmer, Deutsches Vermögen im Ausland II [1954] 161 N. 11). Die vom Internationalen Gerichtshof allein behandelte Frage, ob Guate­ mala die Ausübung des diplomatischen Schutzrechtes durch Liechtenstein ablehnen durfte, liegt in einem andern Bereich. 580 Vgl. etwa Helen Silving, Nationality in Comparative Law: Am. J. Comp. L. 5 (1956) 410 ff.; Papke, Über den rechtlichen Inhalt der deutschen Staatsangehörigkeit: NJW 1960, 2326 ff.; Wengler, Betrachtungen zum Begriff der Staatsangehörigkeit, 14*

Das Recht von Guatemala kann nicht entscheiden, ob ein Deutscher durch eine (formell nicht fehlerfreie) Einbürgerung in Liechtenstein dortiger Staats­ bürger mit allen Rechten und Pflichten eines solchen wird und ob er gleich­ zeitig aus dem deutschen Staatsangehörigkeitsverband ausscheidet; das bleibt - im Rahmen des Völkerrechts - den beiden beteiligten Staaten überlassen. Aber Guatemala kann sehr wohl bestimmen, daß ein solcher Mann (oder sonst ein früherer Deutscher) den Maßnahmen gegen Deutsche unterliegt, und es könnte ihn auch privatrechtlich als Deutschen behandeln. Eine „fiktive“ Staatsangehörigkeit ist daher als Anknüpfungsmoment durchaus denkbar.

3. Auch sonst enthält das Anknüpfungsmoment der Staatsangehörig­ keit unter Umständen Abweichungen vom Völker- oder staatsrechtlichen Begriff der Staatsangehörigkeit581, ebenso wie der Begriff des „Inlands“ im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR nach den be­ sonderen Bedürfnissen des Kollisionsrechts ausgelegt wird. Einige Beispiele aus dem zweiten Weltkrieg und der Zeit danach enthält die Vorauflage (S. 141 f.). Sie können unter veränderten Verhältnissen - bei Strei­ tigkeiten um die Zugehörigkeit eines Gebietes oder um die Staatsangehörigkeit großer Bevölkerungsgruppen - jederzeit wieder paradigmatische Bedeutung er­ langen.

4. Besondere Schwierigkeiten bereiten für die Anknüpfung nach wie vor die »Doppelstaater“ oder »Mehrstaater“, also die Personen mit dop­ pelter (oder gar dreifacher) Staatsangehörigkeit, deren Zahl bei dem in­ ternationalen Nebeneinander von ius soli und ius sanguinis sowie von Patriarchat und Gleichberechtigung der Frau bzw. Mutter nicht gering ist582. Bei mehrfacher fremder Staatsangehörigkeit wird heute meistens

in: Internationalrechtliche und staatsrechtliche Abhandlungen, Festschrift Schätzel (1960) 545 ff.; Makarov, Allg. Lehren 159 f. 581 Staatsangehörigkeit im Sinne des Völkerrechts und Staatsangehörigkeit im Sinne des Landesrechts unterscheiden wiederum: Castren, ZaöRV 11 (1943) 330 f.; Mosler, Wirtschaftskonzessionen bei Änderungen der Staatshoheit (1948) 40; Wengler (vorige Note) 547, 556 f.; ferner die bei Makarov, Allg. Lehren 10 (vgl. 29), Genannten. 582 In der Bundesrepublik gab es 1971 allein über 5000 Personen mit mehrfacher fremder Staatsangehörigkeit (Stat. Jb. 1973, 52). Die Zahl der deutsch-ausländi­ schen Doppelstaater ist statistisch nicht erfaßt. Sie wird neuestens kräftig vermehrt, obwohl nach der Präambel zum Europäischen Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit vom 6. 5. 1963, das die Bundesrepublik ratifiziert hat (BGBl. 1969 II 1954, 2232), „möglichst weitgehende Verringerung dieser Fälle ... dem Ziele des Eu­ roparats entspricht“; denn das Bundesgesetz vom 20. 12. 1974 (BGBl. I 3714) verleiht ab 1. 1. 1975 allen Kindern eines deutschen Elternteils die deutsche Staatsangehörig­ keit, und zwar auf Verlangen auch den seit dem 1. 4. 1953 geborenen. Der jährliche

die „aktuelle“ oder „effektive“ Staatsangehörigkeit bevorzugt, d. h. die­ jenige, die durch Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, durch Aus­ übung des Wahlrechts oder Erfüllung der Wehrpflicht in dem betreffen­ den Lande oder auf sonstige Weise als die wirksamere erscheint. Ist je­ doch eine der beteiligten Staatsangehörigkeiten die inländische, so soll nach der außerhalb Deutschlands noch herrschenden Meinung stets die­ se gelten und die daneben bestehende fremde Staatsangehörigkeit ein­ fach ignoriert werden. Dies ist eine sehr bequeme Lösung. Sie führt zwar in der Mehrzahl der Fälle zum gleichen Ergebnis wie die Beachtung der effektiven Staatsangehörigkeit, da es im Lande der weniger effektiven Staatsangehörigkeit selten zu einem Verfahren kommt; aber es bleiben doch viele Fälle übrig, in denen aus dem unbedingten Vorrang der in­ ländischen Staatsangehörigkeit sich Unbilligkeiten und internationale Entscheidungsungleichheit ergeben583. Berechtigt mag ein solcher Vor­ rang im Bereich des öffentlichen Rechts sein584. Auch die Bevorzugung einer Staatsangehörigkeit, die der Mehrstaater mit einer andern Person gemeinsam hat, ist dann unbillig, wenn diese Staatsangehörigkeit nicht seine effektive ist, insbesondere wenn er sie bei der Eheschließung ipso iure erworben hat.

5. Schließlich reicht die Entscheidung über die Staatsangehörigkeit nicht immer zur genauen Bestimmung der maßgebenden Rechtsordnung aus. Vor allem gilt das, wenn der betreffende Staat mehrere (regional oder personal abgegrenzte) Zivilrechtsordnungen nebeneinander be­ Nachwuchs an deutschen Doppelstaatern dürfte danach etwa ebenso groß sein wie die Zahl der Kinder aus Ehen zwischen männlichen fremden Staatsangehörigen und deut­ schen Frauen, nämlich über Zehntausend (vgl. die Zahlen für 1963 - 1971 in: Wirt­ schaft und Statistik 1973, 409). Zum folgenden ausführlich Makarov, Allg. Lehren 293 ff. 583 Entscheidend für die Überwindung der alten Auffassung in der Bundesrepublik Deutschland Ferid, Zur kollisionsrechtlichen Behandlung von Inländern mit zugleich ausländischer Staatsangehörigkeit: RabelsZ 23 (1958) 498 ff. Zustimmend außer der überwiegenden Lehre z. B. BGH 20. 12. 1972, BGHZ 60, 68 = IPRspr. 1972 Nr. 59b (S. 161), und OLG Düsseldorf 17. 5. 1974, IPRspr. 1974 Nr. 182 b; ablehnend OLG Hamm 15. 7. 1975, FamRZ 1975, 168. Vgl. auch BGE 89 (1963) I 303 und niederländ. Hoge Raad 9. 12. 1965, Rev. crit. 55 (1966) 297 = Ned. T. Int. R. 14 (1967) 294, die beide eine im andern Heimatstaat eines Doppelstaaters erfolgte Ehescheidung anerkennen. Weitere rechtsvergleichende Hinweise bei Jayme, FamRZ 1975, 697 N. 8. 584 Makarov, Allg. Lehren 304; ähnlich Kollewijn, Clunet 88 (1961) 882. Auch eine gerichtliche Zuständigkeit für Inländer mag großzügig gewährt werden, so­ lange sie nicht als ausschließliche gemeint ist.

sitzt585 (Näheres unten §§ 41 f.). Außerdem ist an die verschiedenen Möglichkeiten eines Souveränitätswechsels zu denken (Untergang und Neubildung von Staaten, Gebietsabtretungen). Denn jede Norm des IPR, mag sie auch an einen früheren Zeitpunkt anknüpfen, will zu­ nächst einmal auf geltendes Recht verweisen; älteres Recht kann auch für die Beurteilung zurückliegender Sachverhalte - grundsätzlich nur kraft der intertemporalen Normen einer lebenden Rechtsordnung angewandt werden (zur Begründung siehe unten § 39 III 1). Hier zeigt sich die Schwäche des Staatsangehörigkeitsprinzips gegenüber allen streng örtlichen Anknüpfungen586. Wohnort, Belegenheit und Hand­ lungsort führen nämlich ohne weiteres aus der Vergangenheit in die Ge­ genwart. Man kann in Fällen der Staatensukzession einen rein formellen Standpunkt einnehmen und sagen: Solange der alte Heimatstaat überhaupt noch existiert, soll seine Rechtsordnung maßgebend sein, auch wenn dasjenige Teilgebiet, in welchem die Anknüpfungsperson speziell beheimatet war, inzwischen abgetre­ ten oder selbständig geworden ist; nach dem Untergang des Heimatstaates aber soll ausnahmsweise ein nicht mehr geltendes Recht zur Anwendung kommen, nämlich das Recht des untergegangenen Staates in seiner letzten Gestalt587. M. E. entspricht diese streng völkerrechtliche Interpretation des Wortes „Staat“, welche alle Subtilitäten der Lehre von der Staatensukzession zu be­ rücksichtigen zwingt, nicht dem Sinn des IPR. Vielmehr sollte man in der Re­ gel auf das heutige Recht des Gebietes abstellen, in welchem die Anknüpfungs­ person im Falle einer rein innerstaatlichen Verschiedenheit der Rechtsgebiete zu lokalisieren wäre. Denn für das IPR muß es gleichgültig sein, ob z. B. das 585 In diesen Fällen wollte schon Mancini anstelle der Staatsangehörigkeit den tat­ sächlichen Wohnsitz maßgebend sein lassen; siehe Nadelmann, Am. J. Comp. L. 17 (1969) 424 = Dir. Int. 23 (1969) I 133. De lege lata - wenn einmal das Staatsange­ hörigkeitsprinzip gilt - scheint mir das sehr kühn, weil damit dieses Prinzip u. a. ge­ genüber allen Staaten mit Sonderrecht für ethnische oder religiöse Minderheiten entfie­ le (Griechenland, Israel, alle islamischen Länder!) - am Ende auch gegenüber Spanien wegen der Foralrechte sowie Frankreich wegen des droit local von Elsaß-Lothringen? 586 Der englische Wohnsitzbegriff, der sich auf ein Rechtsgebiet als ganzes erstreckt, kommt hier wiederum (vgl. oben N. 564) dem Begriff der Staatsangehörigkeit nahe; siehe das Beispiel bei M. Wolff, Priv. Int. L. 112: Ein Mann ist im Jahre 1910 aus Posen ausgewandert - hat er nach 1920 ein deutsches oder ein polnisches domicile of origin? Ähnliche Fragen stellten sich z. B. nach der Abspaltung Pakistans von Indien. Zur Spaltung Deutschlands nach 1945 siehe unten § 41 IV. - Auch der deutsche Wohnsitzbegriff bezieht sich nach Henry Neuhaus, Der Wohnsitz im deutschen und englischen bürgerlichen Recht (Diss. Hamburg 1930) 11 f., und nach Braga, RabelsZ 18 (1953) 241 f., als Anknüpfungspunkt für das Personalstatut - entgegen § 7 BGB - auf ein Rechtsgebiet. Das kann jedoch m. E. nicht allgemein gelten, sondern nur für den Grenzfall, daß jemand innerhalb dieses Gebietes seinen Wohnort ständig wechselt. 587 So Makarov, RabelsZ 22 (1957) 212-217.

heutige Österreich mit dem der Zwischenkriegszeit und mit dem kaiserlichen Österreich identisch ist, ob das alte Serbien bei seinem Zusammenschluß mit den südlawischen Gebieten der Donaumonarchie nach dem ersten Weltkrieg untergegangen ist, ob die baltischen Republiken bei Aufnahme in die Sowjet­ union im Jahre 1940 ihre staatliche Identität bewahrt haben oder nicht. Nur bei einer nachträglichen Option für ein anderes Gebiet588 sollte die Zugehörig­ keit zu diesem schon für den Zeitpunkt der Rechtsänderung fingiert werden.

IV.

Zu den genannten Unklarheiten des Staatsangehörigkeitsprinzips kommen die Fälle, in denen es überhaupt versagt oder zu offenbar un­ billigen Ergebnissen führt. 1. Hier sind zunächst die Staatenlosen (und die ihnen gleichzustellen­ den Personen definitiv ungeklärter Staatsangehörigkeit) zu nennen, de­ ren Zahl nach den beiden Weltkriegen erheblich zugenommen hat589. Theoretisch ließen sich die Fälle der Staatenlosigkeit wie der mehrfachen Staatsangehörigkeit vollständig vermeiden durch ein internationales Abkommen mit nur zwei Bestimmungen: „1. Verlust einer alten und Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit sind nur gleichzeitig und im Einklang mit den Gesetzen beider beteiligten Staaten möglich. 2. Als erste Staatsangehörigkeit erwirbt je­ der Mensch diejenige des Staates, auf dessen Territorium er geboren wird oder sein erster nachgewiesener Aufenthalt liegt, es sei denn, daß er im Einklang mit dem Recht dieses Staates nach dem Recht eines und nur eines andern Staates dessen Staatsangehörigkeit erwirbt.“ Aber praktisch besteht für absehbare Zeit keine Aussicht, daß ein solches Abkommen geschlossen und von allen Staaten angenommen wird. Schon der Gesetzgeber des EGBGB hat eingesehen, daß für Staatenlose eine Anknüpfung an die frühere Staatsangehörigkeit dann nicht hilft, wenn jemand von Geburt an keinem Staate angehört hat, und für diesen Fall hat er eine Hilfsanknüpfung vorgesehen (Art. 29 a. F.). Im übrigen entsprach die Maßgeb­ lichkeit der früheren Staatsangehörigkeit dem bis 1913 geltenden Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1870, nach welchem man die deutsche Staatsan­ gehörigkeit bereits durch zehnjährigen Auslandsaufenthalt verlieren, aber auch leicht wiedererlangen konnte (§ 21). Im Hinblick auf die staatenlos geworde­ nen russischen Emigranten und andere Opfer der Wirren nach dem ersten 588 Insoweit folge ich Staudinger (-Gamillscheg), vor Art. 13 EGBGB, Rdz. 207, 209. 689 In der Bundesrepublik Deutschland waren am 31. 12. 1971 über 52 000 Einwoh­ ner „Staatenlose und ohne Angabe“ (Stat. Jb. 1973, 52).

Weltkrieg wurde die Anknüpfung an die frühere Staatsangehörigkeit im Jahre 1938 ganz aufgegeben590.

2. Aber auch für Personen mit rein formeller Staatsangehörigkeit ist diese als Anknüpfungsmerkmal ungeeignet. Das hat sich vor allem bei Flüchtlingen aus totalitären Staaten gezeigt, die oft aus ihrer alten Staatsangehörigkeit nicht entlassen werden, obwohl sie mit dem neuen Regime ihrer Heimat und mit dessen Gesetzen nichts zu tun haben wol­ len. Auch viele sonstige Ausländer behalten ihre alte Staatsangehörigkeit formell noch jahrelang bei, zumindest bis zum Erwerb der Staatsange­ hörigkeit ihrer neuen Heimat, während sie von vornherein willens oder wenigstens bereit sind, nach deren Gesetzen zu leben. Bisweilen könnte hier durch eine beschleunigte Einbürgerung geholfen werden; aber auf solche Weise die Staatsangehörigkeit zur Dienerin des Privatrechts zu machen, wäre ebenso falsch wie die oben (zu II) abgelehnte umgekehrte Rangordnung.

3. Ferner ist das Staatsangehörigkeitsprinzip für Eheleute bzw. El­ tern mit verschiedener Staatsangehörigkeit - deren es im Zeichen der Emanzipation der Frau eine immer größere Zahl gibt - dadurch abge­ wertet, daß es nicht mehr die kollisionsrechtliche Familieneinheit ge­ währleistet. Solange Ehefrau und Kinder fast ausnahmslos die Staatsan­ gehörigkeit des pater familias teilten, galt ein gemeinsames Personalsta­ tut aller Familienmitglieder für die meisten der miteinander zusammen­ hängenden personen-, familien- und erbrechtlichen Verhältnisse einer Familie, sozusagen von der Wiege bis zur Bahre. Spannungen konnten sich nur dann ergeben, wenn im Falle eines Wechsels der Staatsangehö­ rigkeit teils das alte, teils das neue Heimatrecht maßgebend war (z. B. nach Artt. 14, 15 EGBGB für die persönlichen Ehewirkungen das jetzi­ 590 Das Gesetz über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 12. 4. 1938 (RGBL I 380) hat in sei­ nem § 25 den Art. 29 EGBGB neu gefaßt. Bei der Ausarbeitung dieser Vorschrift im Jahre 1935 wirkte nach Külper (oben N. 534) 379 ff. mit N. 951 ff. auch die Rück­ sicht auf ausgebürgerte österreichische Nationalsozialisten mit, die nach altem Recht in Deutschland nicht geschieden werden konnten - vgl. RG 13. 1. 1936 (oben N. 545), Fall des Tiroler Gauleiters Hofer warum die Neufassung erst 1938 Gesetz wurde, bleibt offen. - Die Aufhebung des Gesetzes von 1938 durch Art. 9 Nr. I 9 des FamRÄndG vom 11. 8. 1961 sollte den Art. 29 EGBGB nicht berühren; ausführlich dazu Makarov, JZ 1962, 476 f. (mit dem Schlußsatz: „Immerhin möchte man für ein an­ dermal etwas mehr gesetzgeberische Korrektheit in Zweifel erregenden Fällen wün­ schen“).

ge, für das Ehegüterrecht das frühere). Seitdem aber die Frau eine ande­ re Staatsangehörigkeit besitzen kann als der Mann, ist die kollisions­ rechtliche Familieneinheit nur noch dann ohne weiteres gegeben, wenn Anknüpfungsperson für alle familienrechtlichen Verhältnisse der Ehe­ mann und Vater ist. Hand in Hand mit der Schwächung des Patriar­ chats auf den Gebieten des Staatsangehörigkeits- und Wohnsitzrechts geht aber die kollisionsrechtliche Emanzipation, die Befürwortung einer stärkeren Berücksichtigung des Personalstatuts der Frau unter dem Mot­ to der Gleichberechtigung und der Kinder unter dem Stichwort der stär­ keren Beachtung des Kindeswohls. Die Anfänge dieser Entwicklung zeigten sich in Deutschland bereits in den Schutzklauseln des EGBGB zugunsten deutscher Frauen und Kinder (Artt. 14 II, 17 III, 19 Satz 2, 22 II), die später noch ausgebaut wurden (Artt. 17 III n. F., 18 II).

In der Tat spricht gegen die alleinige Maßgeblichkeit des Heimat­ rechts des Mannes schon die Tatsache, daß dieser am meisten versucht ist, sich den Verpflichtungen gegenüber der Familie zu entziehen, und daß daher der Mann am ehesten aus einer rechtlichen Bevorzugung miß­ bräuchlich Vorteile ziehen könnte, insbesondere im Wege arglistigen Wechsels oder Nicht-Wechsels der Staatsangehörigkeit.

4. Endlich wird selbst bei »normalen1 Ausländern, die ihre Staatsan­ gehörigkeit beizubehalten wünschen und die mit einem Angehörigen des gleichen Staates verheiratet sind, die Anwendung der privatrechtlichen Gesetze ihrer Heimat dann als unberechtigt empfunden, wenn die betref­ fenden Personen auf absehbare Zeit nicht in ihr Heimatland zurückkeh­ ren wollen und mit der Anwendung dieser Gesetze gar nicht rechnen. Insgesamt ist die Zahl der zu 2 bis 4 genannten ausländischen Staats­ angehörigen zusammen mit derjenigen der Staatenlosen und Mehrstaa­ ter zu groß, als daß man sie alle nur als „Ausnahmeerscheinungen“ an­ sehen und als „Normalfall" das Interesse jedes Menschen an der An­ wendung seines Heimatrechtes betrachten dürfte. V.

Demgemäß zeigt sich seit mehreren Jahrzehnten ein Niedergang des Staatsangehörigkeitsprinzips. Während um die Jahrhundertwende dieses Prinzip in Kontinentaleuropa absolut vorherrschte, hat es seit dem Ende

des ersten Weltkrieges nicht nur grundsätzlich durch die Überwindung des extremen Nationalismus an Durchschlagskraft verloren, sondern ist auch praktisch in der Gesetzgebung und Rechtsprechung verschiedener Länder zurückgedrängt worden591, 592 besonders 593 aber im internationalen Bereich. So hat das Institut de Droit international in seiner Brüsseler Resolution von 1948592 entgegen seiner traditionellen Anhänglichkeit an das Staatsangehörigkeits­ prinzip in einer klaren „rvolution“593 für die Ehescheidung den Anknüpfungs­ punkt der Staatsangehörigkeit weitgehend preisgegeben zugunsten des gewöhn­ lichen Aufenthalts594. Ferner hat die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. 7, 1951 (oben N. 539) nach dem Vorbild der in ihrem Art. 1 lit. A Nr. 1 genann­ ten älteren Abkommen über einzelne Kategorien von Flüchtlingen nunmehr allgemein für Flüchtlinge die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit durch diejenige an den Wohnsitz ersetzt. Vor allem hat die Haager Konferenz für IPR, die früher völlig auf dem Staatsangehörigkeitsprinzip aufbaute, seit ihrer 7. Tagung im Jahre 1951 in allen neuen Konventionen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit mehr oder weniger eingeschränkt zugunsten des Wohnsit­ zes oder gewöhnlichen Aufenthalts. Hervorgehoben sei nur die Begründung zu dem Abkommen über das auf die Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kin­ dern anwendbare Recht vom 24. 10. 1956, in der es beschwichtigend heißt, das Recht der rsidence habituelle sei nicht als Familienstatut, sondern als Kollisi­ onsregel sui generis aus Gründen sozialer und humanitärer Art gewählt wor­ den595: Welche eindrucksvollere Kritik des Staatsangehörigkeitsprinzips im In­ ternationalen Familienrecht kann es geben, als daß es für den Unterhaltsan­ spruch des Kindes gegen seine Eltern, der nach dem Recht wohl aller beteilig­ ten Länder ein familienrechtlicher Anspruch ist, nicht zu sozial und humanitär vertretbaren Lösungen führe! Dagegen haben das Europäische Niederlassungsabkommen vom 13. 12. 1955 (oben N. 40) sowie auch der EWG-Vertrag vom 25. 3. 1957 (BGBl. II 766) hier keine Bedeutung. Wenn das erstgenannte Abkommen des Europarats in Art. 4 den Staatsangehörigen jedes Vertragsstaates im Gebiet der ande­ 691 Vgl. etwa die Nachweise bei Braga (oben N. 554) 228 und die Beispiele für „Korrekturen der reinen Staatsangehörigkeitsanknüpfung “ bei Ficker (oben N. 431) 304-314. 592 Ann. Inst. Dr. int. 42 (1948) 281 f. = Tableau (oben N. 158) Nr. 133. 593 Makarov, ebd. 264. 594 Zur Begründung wurden in der Präambel der Resolution angeführt „la multiplication des personnes dont la nationalite ou le domicile est incertain, la rupture de l’unite de nationalite des poux, les mariages de guerre, les dchances de nationalite pour des motifs politiques et autres causes analogues“. Von dieser Resolution ist sicht­ lich das belgische Gesetz über die Scheidung von Ausländern vom 27. 6. 1960 (Montieur 9. 7. 1960, S. 5281) inspiriert worden; vgl. L. Serick/Harries, RabelsZ 25 (1960) 555. 595 Doc. La Haye 8 (1957) 127.

ren Vertragsstaaten 'die gleiche Behandlung wie den Inländern „im Genuß und in der Ausübung sämtlicher bürgerlicher Rechte“ zusichert, so richtet sich das nur gegen eine fremdenrechtliche Schlechterstellung (etwa durch Erwerbsbe­ schränkungen), jedoch nicht gegen die Anwendung des Heimatrechts von Aus­ ländern596. Der EWG-Vertrag aber, der in Art. 7 I „jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ verbietet, betrifft allein das Wirtschaftsle­ ben und daher kaum die Fragen des Personalstatuts, die typisch zur Privat­ sphäre gehören597. Nur eine einseitige Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit in Vermögensfragen zum Zweck eines wettbewerbsverzerrenden Inländerschut­ zes wäre mit dem EWG-Vertrag nicht vereinbar598.

Insgesamt erfolgt der Zusammenbruch des Staatsangehörigkeitsprin­ zips in Mitteleuropa unaufhaltsam. Die meisten Juristen - einschließ­ lich der Gerichte - haben es nur noch nicht bemerkt, sondern sprechen von einzelnen Durchbrechungen, etwa aufgrund der Verfassung599 600 oder aufgrund des ordre public (dessen gehäufte Anrufung schon seit langem als ein Indiz für die Unzulänglichkeit einer Kollisionsnorm erkannt ist, siehe unten § 49 I 2 vor N. 1002)600. Aber wozu taugt eine Regel noch, die im Ernstfall - d. h. hier: bei schwerwiegenden Unterschieden zwi­ schen Heimat- und Wohnsitz- oder Aufenthaltsrecht - immer wieder durchbrochen wird? 596 Makarov, Der Gleichbehandlungsgrundsatz und das IPR, in: Eranion Maridakis III (1964) 231 (233-239); Elke Suhr (oben N. 467) 24-29. 597 Vgl. Makarov (vorige Note) 235 ff.; Beitzke, Probleme der Privatrechtsanglei­ chung in der EWG: Z. f. Rvgl. 5 (1964) 81 (89); Suhr (oben N. 467) 19-23. Allen­ falls kann die Geschäftsfähigkeit anstatt dem Heimatrecht den Gesetzen des jeweiligen Abschlußortes unterstellt werden; das wäre jedoch - entgegen Drobnig, Verstößt das Staatsangehörigkeitsprinzip gegen das Diskriminierungsverbot des EWG-Vertrages?: RabelsZ 34 (1970) 636 (649 f.) - keine juristisch gebotene, sondern eher eine politi­ sche Entscheidung aus der Dynamik der Europäischen Gemeinschaft, indem das etwas unbestimmte Tadelswort „Diskriminierung“ ausgedehnt würde von der zunächst wohl nur gemeinten Benachteiligung von Ausländern auf jede Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit. 598 Die übliche Zurechnung des einseitigen Inländerschutzes zum kollisionsrechtli­ chen ordre public (siehe aber unten § 51 I) macht sie nicht zu einem Teil der im EWG-Vertrag mehrfach vorbehaltenen „öffentlichen Ordnung“; vgl. Meise, Zur Rela­ tivität der Vorbehaltsklausel im internationalen und interlokalen Privatrecht (Diss. Hamburg 1965, bespr. in RabelsZ 31 [1967] 364 f.) 266/263 f., ferner ZWEIGERT, in: Fs. Hallstein (oben N. 565) 556 f. Daß speziell Art. 12 EGBGB eine diskriminierende Inländerschutzklausel sei, be­ streitet jedoch Kropholler, RabelsZ 33 (1969) 615 N. 47: Art. 12 beschränke seinen Schutz nur deshalb auf Deutsche, weil in Deutschland nur deren Heimatrecht als gleichzeitige lex fori mühelos festzustellen sei. 599 Vgl. BVerfG 4. 5. 1971 (oben N. 133): Nichtanwendung des spanischen Verbotes der Eheschließung mit einem geschiedenen Ausländer. 600 Vgl. die treffende Bemerkung von Jochem, unten N. 636.

VI.

Noch bedeutsamer ist die Diskreditierung des klassischen IPR durch das Staatsangehörigkeitsprinzip601. Das krampfhafte Festhalten an die­ ser überkommenen „Goldwährung“ - insbesondere durch Angehörige der älteren Generation - führt immer wieder vor die mißliche Wahl zwischen einem unangemessenen Ergebnis oder einem Umgehungsmanö­ ver, d. h. einer Durchbrechung des kollisionsrechtlichen Systems an an­ derer Stelle. Bestenfalls gelingen diese Manöver und lassen dann das IPR als formalistisch oder gar rabulistisch erscheinen602. Oder aber sie werden durchschaut und erwecken dann den bedenklichen Eindruck, als müsse das kollisionsrechtliche System einmal mehr „vom sozialen und menschlichen Gesichtspunkt aus“ zugunsten der lex fori durchbrochen werden603. So und so wird das klassische IPR ausgehöhlt. Die Krise des Staatsangehörigkeitsprinzips führt auf diese Weise in die allgemeine Krise des IPR: Das überständige Staatsangehörigkeitsprinzip gefährdet das ganze Kollisionsrecht604. Daher sollte die Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber weiter säumig ist, den Mut zur Abhilfe finden und in Analogie zu den bereits geltenden zahlreichen Ausnahmen vom Staats­ angehörigkeitsprinzip dieses in weiteren Fällen einer mehr oder weniger ineffektiven Staatsangehörigkeit (siehe oben IV 2) getrost verlassen.

§28: Domizil

I. Die Termini „Domizil“ und „Wohnsitz“ werden hier wie üblich syn­ onym gebraucht, obwohl es manchmal naheliegt, das deutsche Wort für 801 Insofern fällt in Deutschland „dem Staatsangehörigkeitsprinzip eine ähnliche Rolle zu wie der lex loci delicti in den Vereinigten Staaten“ (Juenger, NJW 1973, 1523): der unvernünftige „Massenimport“ fremden Rechtes führt zur „Revolution“. 602 Von „Zaubereien“ und „Trickfertigkeit“ der Internationalprivatrechtler spricht Wiethölter, BerDGesVölkR 7 (1967) 141. 603 Vgl. die Schweizer Entscheidung Dal Bosco vom 3. 6. 1971, BGE 97 I 389 = RabelsZ 36 (1972) 358 mit Anm. Neuhaus, wo mit der zitierten Begründung (Erw. 12 Abs. 3) die Beachtung des Heimatrechts abgelehnt wurde. - Auch die Entscheidung des BVerfG vom 4. 5. 1971 (oben N. 133) war vermutlich - obwohl die Begründung das nicht ausspricht - dadurch bedingt, daß der Spanier schon seit 1962 in Deutsch­ land lebte; vgl. RabelsZ 36 (1972) 138. 604 - einschließlich des natürlichen Zusammenhangs zwischen IPR und Internationa­ lem Verfahrensrecht! (Näheres in § 57: Gleichlauf unter III 3 b, besonders N. 1167.)

den deutschen oder die mit ihm verwandten kontinentaleuropäischen Begriffe zu verwenden, dagegen das Fremdwort den stark abweichenden englischen und amerikanischen vorzubehalten. Die beiden letzteren haben im Gegensatz zum deutschen Wohnsitzbegriff ge­ meinsam, daß es weder ein doppeltes Domizil noch Domizillosigkeit gibt, daß ein Domizil nicht auf begrenzte Zeit begründet werden kann und daß man ein Domizil nicht an einem einzelnen Ort, sondern in einem Rechtsgebiet als gan­ zem besitzt. Im übrigen bestehen zwischen dem englischen und dem amerikani­ schen Begriff erhebliche Unterschiede. Wenn es auf diese ankommt, kann wie­ derum durch die Schreibweise und Aussprache unterschieden werden, da in England - soweit ich sehe - die Form „domicile“ überwiegt, dagegen in den Vereinigten Staaten „domicil“.

II.

Die Feststellung des Wohnsitzes oder Domizils erfolgt fast allgemein nicht nach dem Recht des Landes, in welchem dieses Anknüpfungsmo­ ment verwirklicht sein soll (der lex territorii), sondern nach der lex fori, genauer: im Sinne derjenigen Rechtsordnung, welche die Anknüpfung verwendet. Dieser Unterschied zur Staatsangehörigkeit ist berechtigt, seit der Wohnsitz nicht mehr wie die Staatsangehörigkeit ein materielles Rechtsverhältnis bezeichnet (Untertanenverhältnis oder Wohnberechti­ gung), sondern allein noch als Anknüpfungsmoment dient. Nur Staats­ verträge, welche bei Anknüpfung an den Wohnsitz keinen eigenen Wohnsitzbegriff kennen und dennoch die internationale Entscheidungs­ gleichheit sichern wollen, sind auf die lex territorii angewiesen605. Als bloßes Anknüpfungsmoment könnte der Wohnsitz je nach dem Zweck der Verwendung im Einzelfall verschieden aufgefaßt werden. Wenn es besondere Domizilbegriffe des Völkerrechts, des Wahlrechts, des Steuerrechts, des Devisenrechts, des Sozialhilferechts (den früher so genannten „Unterstützungswohnsitz“) usw. gibt und wenn sogar inner­ halb des bürgerlichen und des Prozeßrechts der Wohnsitzbegriff nicht immer denselben Inhalt hat606, dann kann man auf den Gedanken kommen, auch innerhalb des IPR den Begriff des Wohnsitzes von Fall 605 Siehe etwa das Haager Testamentsabkommen, Art. 1 III: „La question de savoir si le testateur avait un domicile dans un lieu determine est rgie par la loi de ce meme lieu.“ Daß danach unter Umständen mehrere, in verschiedenen Ländern belegene Wohnsitze des Erblassers zu beachten sind, entspricht der Tendenz dieses Abkommens zur Häufung der möglichen Anknüpfungen. Ähnlich Art. 52 I und II des EG-Zustän­ digkeitsabkommens (oben N. 48) zum Wohnsitz als Voraussetzung der Zuständigkeit. 606 Siehe zu alledem Braga (oben N. 554) 240 f., ferner § 30 III 1 SozialhilfeG vom 11. 12.1975 (BGBl. I 1305): Wohnsitz nicht ohne Wohnung.

zu Fall verschieden auszulegen607. Aber das würde nicht nur die Rechtssicherheit (im Sinne der Voraussehbarkeit der Entscheidung) ge­ fährden, sondern müßte auch die materielle Harmonie (vgl. oben § 20 I 6) beeinträchtigen, wenn dadurch benachbarte, innerlich zusammenhän­ gende Rechtsfragen (wie Geschäftsfähigkeit und vormundschaftsgericht­ liche Maßnahmen oder Ehegüter- und Erbrecht) verschiedenen Rechts­ ordnungen unterstellt würden. Selbst eine maßvolle Flexibilität - unter Beachtung dieser Gefahren - wird vielfach durch gesetzliche Fixierun­ gen verhindert.

III.

Vor- und Nachteile des Domizilprinzips sind nicht einfach abzuwä­ gen. Insbesondere trifft es nicht zu, daß die Domizilanknüpfung im Verhältnis einander besonders nahestehender Staaten bevorzugt werde: Der lateinameri­ kanische Codigo Bustamante überläßt die Entscheidung zwischen Staatsange­ hörigkeit und Wohnsitz als Anknüpfungsmoment für das Personalstatut den einzelnen Staaten (Art. 7), und sowohl das Benelux-Abkommen von 1969 als auch die zahlreichen zweiseitigen IPR-Abkommen zwischen Staaten des Ost­ blocks608 beruhen zum größeren Teil auf dem Staatsangehörigkeitsprinzip. Im übrigen kann ein „zweispuriges“ Kollisionsrecht mit getrennten Anknüpfungen für Nachbar- und entferntere Staaten de lege ferenda wegen der Gefahr von Überschneidungen ebensowenig begrüßt werden wie bilaterale Verträge (siehe oben § 8 III 1) oder eine Trennung von IPR und interlokalem Recht (unten § 41 I 2).

1. Der handgreiflichste Unterschied des Wohnsitzes von der Staatsan­ gehörigkeit liegt in seinem beschränkten räumlichen Substrat. Während die Staatsangehörigkeit den Menschen mit einem ganzen Staatsgebiet verknüpft, bezieht sich der Wohnsitz zunächst nur auf eine bestimmte Wohnung und kann daher in Staaten mit mehreren Teilrechtsordnungen zur Verbindung mit jedem kleinsten Rechtsterritorium oder »Gesetz es Sprengel“609 benutzt werden610. 607 So verteidigte Lord Denning bei der Oberhaus-Diskussion über eine Reform des englischen Domizilrechts die vielfach angefochtenen Entscheidungen Winans v. Att.General, [1904] A. C. 287, und Ramsay v. Liverpool Royal Infirmary, [1930] A. C. 588 (vgl. die Wiedergabe bei Henrich [oben N. 429] 478 f.), nach M. Mann (oben N. 429) 462 als „decided on good sense, domicile being read in relation to the actual problem in each case". 608 Vgl. zu diesen etwa Drobnig, Am. J. Comp. L. 5 (1956) 496; ders., OER 6 (oben N. 290) 183 f. 609 Savigny 97: „Gesetzsprengel“. 610 Mit einem weiter gefaßten Domizilbegriff, der sich sofort auf ein Rechtsgebiet

Anderseits kann eben das streng räumliche Element des Wohnsitzbe­ griffs leicht zu einer allzu sinnfälligen Auffassung vom „Mittelpunkt der Lebensverhältnisse“ führen, zu einer Überschätzung der geographi­ schen auf Kosten der ideellen Beziehungen eines Menschen zu einer Rechts­ ordnung. Um djese Gefahr zu vermeiden, ist z. B. Italien als das klassische Land der heimattreuen Auswanderung und einer ebenso assimilationsfeindlichen, weil so­ zial gehobenen Einwanderung der schärfste Gegner des Domizilprinzips. Aber auch die traditionellen Kolonialmächte, deren Kaufleute, Unternehmer, Beam­ te oft für Jahrzehnte nach Übersee gingen, ohne zu dem Recht der dortigen Völker eine innere Beziehung zu gewinnen, lehnten den kontinentalen Wohn­ sitzbegriff als Anknüpfungsmoment ab611.

2. Ein unbestreitbarer Vorzug des Domizilprinzips besteht darin, daß es öfter zur Anwendung der lex fori führt, weil der Wohnsitz häu­ figer als die Staatsangehörigkeit mit dem Gerichtsstand übereinstimmt. Auf diese Weise werden u. a. die großen praktischen Schwierigkeiten der Anwendung ausländischen Rechts vermieden612. Das ist besonders in Fragen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit bedeutsam wegen ihrer engen Verflechtung von materiellem und Verfahrensrecht613. 3. Dagegen wird dem Domizilprinzip mit Recht vorgeworfen, daß es die Gesetzesumgehung (vgl. oben § 25) erleichtert. Wer irgendeine lästi­ ge Bestimmung des zwingenden Personen-, Familien- oder Erbrechts etwa ein Ehehindernis, eine Erschwerung der Scheidung, eine Pflicht­ teilsvorschrift — zu umgehen wünscht, braucht unter dem Domizilprin­ zip sich nur in einem Lande mit großzügigeren Bestimmungen niederzu­ lassen, was in der Regel (wenn auch nicht immer) leichter und rascher zu bewerkstelligen ist als ein Wechsel der Staatsangehörigkeit. Über­ ais ganzes bezieht, können im Falle einer Spaltung dieses Rechtsgebietes gewisse Schwierigkeiten entstehen, siehe oben N. 586. 611 Nach Henry Neuhaus (oben N. 586) 20 verhielt sich die englische Rechtspre­ chung des 19. Jahrhunderts gegenüber der Möglichkeit eines Domizilerwerbes in einem nichtchristlichen Land überhaupt ablehnend oder verlangte wenigstens eine tatsächliche Assimilierung. 612 Umgekehrt formuliert den gleichen Gedanken Kühne, ZvglRW 73 (1972/73) 102, nämlich als „Zweifel, ob der internationalprivatrechtliche Gerechtigkeitsgehalt der lex patriae im Vergleich zur lex domicilii einen solchen Aufwand [die vielfache Anwendung fremden Rechtes] rechtfertigt“. 613 Zu dieser Verflechtung vgl. etwa den grundlegenden Aufsatz von Eduard Wahl, Zum internationalen Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Personen- und Familiensachen: RabelsZ 10 (1936) 40 (42 f.), sowie unten § 57 III: Gleichlauf.

haupt wird die Wohnsitzanknüpfung (im kontinentalen Sinne) vielfach als zu flüchtig angesehen, um das Personalstatut zu regieren, und alle in Europa unternommenen Versuche, sie allein durch das Erfordernis einer bestimmten Zeitdauer zu verfestigen, tragen den Charakter der Will­ kür614.

4. Der größte Nachteil des Domizilbegriffs als Anknüpfungsmoment liegt in seiner unterschiedlichen Ausprägung von Land zu Land. Wenn der Wohnsitz schon - im Gegensatz zur Staatsangehörigkeit - meist nach der lex fori bestimmt wird, dürften zur Erzielung internationaler Entscheidungsgleichheit die nationalen Wohnsitzbegriffe nicht so stark divergieren. Zwar stimmen im Kern alle Rechtsordnungen darin über­ ein, daß zum selbständigen Erwerb eines Wohnsitzes „factum“ und „ani­ mus“ gehören, d. h. der tatsächliche Aufenthalt am betreffenden Ort und der Wille, dort für lange Zeit - wenngleich mit möglichen Unter­ brechungen - zu bleiben. Aber alles weitere ist verschieden. Keine Einigkeit besteht insbesondere über folgende Fragen: ob der Auf­ enthalt mit einer festen Niederlassung verbunden sein muß oder ob das Umherziehen innerhalb eines bestimmten Bereiches genügt; was für ein Bezirk als Wohnsitz gilt (eine politische Gemeinde, ein Gerichtssprengel, ein Rechts­ territorium als ganzes); wie stark und auf welchen Zeitraum gerichtet der ani­ mus manendi sein muß und ob dieser Wille bei einer gewissen Dauer des Auf­ enthalts (unwiderlegbar?) vermutet wird; welcher Wille zur Aufgabe eines Wohnsitzes erforderlich ist. Hinzu kommen noch eine Reihe gesetzlicher Be­ schränkungen und Fiktionen, die sich besonders darauf beziehen, ob man einen neuen Wohnsitz begründen kann, ohne den bisherigen aufzugeben, und umge­ kehrt den bisherigen aufgeben kann, ohne einen neuen zu begründen (ob man mehrere Wohnsitze bzw. keinen haben kann); ob es für bestimmte Zwecke (wie Handelsgeschäfte) einen besonderen Wohnsitz gibt615; wieweit Beamte 614 Nach dem polnischen Gesetz über das interlokale Recht von 1926 (Art. 2) war eine Wohnsitzänderung ursprünglich erst nach einem Jahr zu beachten, seit der Novel­ le vom 8. 10. 1945, die unter dem Eindruck der großen Binnenwanderung von Ost nach West erging, nach einem Monat. Die Nordischen Staaten stellen in ihrem Ab­ kommen vom 6. 2. 1931/26. 3. 1953 für die Eheschließung auf einen zweijährigen Wohnsitz ab, in ihrem Abkommen vom 19. 11. 1934 für die Erbfolge auf einen fünf­ jährigen Wohnsitz (jeweils Art. 1). Frankenstein, Projet d’un Code Europeen de d.i.p. (Leiden 1950), fordert für den Erwerb eines „domicile statutaire" einen ständigen Auf­ enthalt im Heimatstaat von einem Jahr bzw. im Ausland von drei Jahren (Artt. 58-60). 615 Diese Frage ist von der vorangehenden (nach der Zulässigkeit eines mehrfachen Wohnsitzes) verschieden! Vgl. Restatement2 § 11 II: „Every person has a domicil at all times and, at least for the same purpose [!], no person has more than one domicil at a time.“

und Soldaten einerseits, Ehefrauen und beschränkt geschäftsfähige Per­ sonen anderseits in der Wahl ihres Wohnsitzes frei sind und - wenn nicht - ob sie einen gesetzlich fixierten Wohnsitz haben (einen unabänderlichen oder ver­ änderlichen) oder ob jemand anders ihren Wohnsitz bestimmen kann und wer dies ist.

All diese Regelungen machen nicht nur für jede einzelne Rechtsord­ nung den Versuch einer geschlossenen Definition des Wohnsitzbegriffs unmöglich; sie weichen auch von Land zu Land so sehr voneinander ab, daß eine internationale Rechtsvereinheitlichung und demgemäß eine Entscheidungsgleichheit bei Verwendung der Wohnsitzanknüpfung als aussichtslos erscheint. Neuerdings hat man daher vielfach als Ersatz für den Wohnsitzbe­ griff den nicht gesetzlich vorbelasteten Begriff des „gewöhnlichen Auf­ enthalts“ gewählt.

5 29: Gewöhnlicher Aufenthalt

Die Feststellung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ist im Gegensatz zu der des Wohnsitzes und der Staatsangehörigkeit wohl nirgends gesetz­ lich klar geregelt, noch ist sie durch eine stehende Rechtsprechung vor­ gezeichnet616. Denn die Erklärungen, es genüge „die bloße Tatsache ei­ nes nicht nur vorübergehenden Verweilens, eines Verweilens von einer gewissen Dauer und Regelmäßigkeit“617, den gewöhnlichen Aufenthalt 616 Die älteste mir bekannte gesetzliche Verwendung des Ausdrucks findet sich in § 2 I 1 der Allgemeinen bürgerlichen Processordnung für das Königreich Hannover vom 4.12.1847 (Neudruck 1971): „Der allgemeine Gerichtsstand wird durch den Wohnsitz oder durch den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Beklagten begründet.“ Spä­ ter bestimmte § 10 des norddeutschen Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. 6. 1870 (BGBl. 360): „Wer innerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem vier und zwanzigsten Lebensjahre [dem Volljährigkeitsalter des preußischen ALR] zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, erwirbt dadurch in demselben den Unterstützungswohnsitz.“ Die Haager Konferenz hat das französische Gegenstück „residence habituelle“ zu­ erst in das Zivilprozeßabkommen vom 14. 11. 1896 (RGBl. 1899, 285) aufgenommen (Art. 15 I: Das Armutszeugnis muß von den Behörden der „residence habituelle“ aus­ gestellt sein), und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme der Materialien auf die deutsch-französische Übereinkunft wegen Bewilligung des Armenrechts vom 20. 2. 1880 (RGBl. 1881, 81) Art. 2 I: gewöhnlicher Aufenthaltsort - residence habituelle; siehe Act. La Haye 2 (1894) 108. 617 RG 20. 11. 1917, RGZ 91, 287 (288), zu § 6 II des damals geltenden ErbschaftssteuerG vom 3. 6. 1906. 15 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

habe jemand „dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Land nicht nur vorüberge­ hend verweilt“618, sind bloße Umschreibungen mit anderen Worten, die einer mehr oder weniger willkürlichen Auslegung fähig sind. Die Haager Konferenz für IPR hat im Jahre 1928 für Staatenlose die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt deshalb vorgeschlagen, „weil damit ein klar faßbarer tatsächlicher Vorgang bezeichnet wird, während die Wahl des Wortes ,Wohnsitz* einen Rechtsbegriff einge­ führt hätte, der in den einzelnen beteiligten Rechtsgebieten in verschie­ denartigem Sinne gebraucht wird“619. In Wirklichkeit ist auch der ge­ wöhnliche Aufenthalt nicht etwas rein Tatsächliches - das wäre nur der physische Aufenthalt denn das Wort „gewöhnlich“ führt ein mehrdeutiges Element ein, das von der Rechtsprechung verschieden auf­ gefaßt werden kann, wie sich sogleich zeigen wird. Der Vorzug gegen­ über dem Begriff des Wohnsitzes liegt vielmehr darin, daß der gewöhn­ liche Aufenthalt nicht bereits durch die nationalen Rechtsordnungen in unterschiedlichem und z. T. recht kompliziertem Sinne festgelegt ist, sondern einer international einheitlichen und realistischen Auslegung fähig ist620. In formeller Hinsicht können wir für eine Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts als Anknüpfungsmoment des Personalstatuts von Staatsangehörig­ keit und Domizil lernen, daß derartige Anknüpfungen nicht begrifflich defi­ niert zu werden brauchen, sondern daß es genügt, die Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust zu bestimmen (wie im deutschen Recht in §§ 3 ff. des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes sowie in §§ 7-11 BGB). Das ein­ mal erworbene Personalstatut kann dann auch bei Wegfall des ursprünglichen Erwerbstatbestandes fortbestehen, solange nicht ein besonders normierter Grund für eine Änderung vorliegt. Dabei sind Verlust eines alten und Erwerb eines neuen Personalstatuts zweckmäßigerweise so miteinander zu verbinden, daß sowohl mehrfaches Vorliegen als auch Fehlen der Anknüpfung vermieden werden (vgl. etwa Artt. 23 II und 24 Schweizer ZGB zum Wohnsitz).

Im einzelnen sollten für die Auslegung der natürliche Wortsinn und der Zweck dieser Anknüpfung maßgebend sein. 618 So u. a. § 14 SteueranpassungsG vom 16.10. 1934 (RGBl. I 925), zuletzt (unter Ersetzung von „Land“ durch „Gebiet“) § 30 III 2 SozialhilfeG (oben N. 606). 619 Volkmar, JW 1928, 858. Vgl. Act. La Haye 6 (1928) 110, 131, 141, 158. 620 Dieser Vorteil wird durch das Protokoll zum (fremdenrechtlichen) Europäischen Niederlassungsabkommen vom 13. 12. 1955 (BGBl. 1959 II 998, 1016) preisgegeben, in­ dem es bestimmt: „La residence habituelle s’apprciera selon les regles applicables dans le pays dont l’intress est ressortissant.“

1. Seinem Wortsinn nach bezeichnet der „gewöhnliche Aufenthalt“ eines Menschen nicht einen objektiv ordentlichen, normalen Aufenthalt im Gegensatz etwa zu einem un- oder außergewöhnlichen; vielmehr geht es um den Ort, an welchem die betreffende Person sich gewöhnlich, in der Regel aufhält, mag dieser Aufenthalt nach objektiven Maßstäben noch so ungewöhnlich sein (z. B. abgelegen und unwohnlich). Ein Mo­ ment der Dauer gehört dazu. Aber im Gegensatz zu den angeblich syno­ nymen Ausdrücken „dauernder Aufenthalt“ und „ständiger Aufenthalt“ weist die Bezeichnung „gewöhnlicher Aufenthalt“ bereits auf die Mög­ lichkeit von Unterbrechungen hin. Es genügt ein regelmäßiger Aufent­ halt621. Auch eine innere Gewöhnung ist nicht erforderlich. Beachtlich ist dagegen die voraussichtliche Fortdauer: Wer an einem Ort vermut­ lich jahrelang bleiben wird, kann dort eben mit Rücksicht auf diesen Umstand schon bei seinem Eintreffen einen gewöhnlichen Aufenthalt er­ werben, auch wenn er kurz danach stirbt oder infolge nicht vorausgese­ hener Umstände für dauernd an seinen früheren Aufenthaltsort zurück­ kehrt oder anderswohin übersiedelt. Wenn dagegen ein Aufenthalt ohne oder gar gegen den Willen der betreffenden Person (bzw. dessen, der ih­ ren Aufenthalt bestimmt) sich länger hinzieht, so wird der Aufenthalt erst später (rückwirkend) zu einem gewöhnlichen. Anderseits genügt nicht die bloße Absicht, sich an einem Orte dau­ ernd niederzulassen, und auch nicht der Antritt der Reise dorthin, so­ lange das Ziel nicht erreicht ist (denn eine Reise kann freiwillig oder un­ freiwillig unterbrochen werden oder zu einem anderen Ziele führen). Vielmehr gehört zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts die wenigstens zeitweilige physische Anwesenheit (außer für Neugeborene - siehe unten N. 647).

2. Der Zweck des Anknüpfungsmomentes „gewöhnlicher Aufenthalt“ kann zur Klärung verschiedener Zweifelsfragen dienen. a) Er ist bei Bemessung der Verbundenheit mit dem Aufenthaltsort zu beachten, die den gewöhnlichen vom einfachen (oder vorübergehen­ den) Aufenthalt unterscheidet, und auch für die damit zusammenhän­ gende Frage, ob ein Mensch einen mehrfachen oder jahreszeitlich wech­ 621 Vgl. Cruse v. Chittumy [1974] 2 All E.R. 940 (Fam.D.), wohl die erste einschlä­ gige englische Entscheidung (Held: ...The word ,habitually [resident]* denoted a regu­ lär physical presence which had to endure for some time). - Nach BGH 5. 2. 1975 (oben N. 234) schadet nicht einmal ein jährlich neunmonatiger Auslandsaufenthalt ei­ nes Kindes in einem Internat, wenn dieser nur als vorübergehende Notlösung gedacht ist.

selnden gewöhnlichen Aufenthalt haben kann. Der Zweck der Anknüp­ fung ist aber nicht überall derselbe. So sehr man es bedauern mag, wenn der Ausdruck „gewöhnlicher Aufenthalt“ in verschiedenen Sachbereichen eine unterschiedliche Bedeutung erhält und wenn daher dieselbe Person unter Umständen auf nahe verwandten Sachgebieten verschiedenen Rechtsordnungen untersteht — es ist hier doch zu unterscheiden622. (1) Als Hauptanknüpfung für das Personalstatut oder zur Bestimmung einer ausschließlichen Zuständigkeit soll der gewöhnliche Aufenthalt das­ selbe bedeuten wie ursprünglich der Wohnsitz, nämlich den Schwerpunkt der persönlichen Lebensverhältnisse, der als solcher eine gewisse Stabilität aufweist und zur Vermeidung von Doppelanknüpfungen am besten nur an einem einzigen Orte angenommen wird. Insbesondere ist beim Aus­ einanderfallen von familiärem und beruflichem Lebensmittelpunkt der erste unbedingt vorzuziehen, selbst wenn jemand an dem letzten Orte mehr Zeit verbringt623; aber auch für ledige und getrennt lebende Per­ sonen und für ältere Ehepaare mit wechselndem Aufenthalt wird man stets einen Hauptsitz, z. B. im Land der Staatsangehörigkeit, feststellen können624. (2) Anders überall dort, wo der gewöhnliche Aufenthalt als zusätzli­ che Anknüpfung nur neben dem Wohnsitz oder der Staatsangehörigkeit (oder neben dem gewöhnlichen Aufenthalt einer anderen Person) ver­ wendet wird, um die Anwendung von Eingriffsnormen zu begründen oder einen nicht notwendig ausschließlichen Gerichtsstand zu schaffen (z. B. im Steuer- oder Sozialhilferecht). Da ist bald eine losere Bindung ausreichend und unter Umständen auch ein mehrfacher oder alternieren­ der gewöhnlicher Aufenthalt möglich, bald mag umgekehrt die Annah­ me eines gewöhnlichen Aufenthalts planmäßig erschwert werden625. 622 Vgl. Claus Christof Maack, Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im gel­ tenden Bundesrecht (mschr. Diss. Göttingen 1954) 137-140. 623 Ähnlich die deutsche Steuerrechtsprechung nach Hartmann, Der gewöhnliche Aufenthalt im Steuerrecht: Betrieb 1974, 2427 (2428): „Entscheidend ist vor allem der Mittelpunkt der persönlichen Lebensinteressen, wobei private Interessen die beruflichen bzw. geschäftlichen Interessen in der Bedeutung überwiegen.“ 624 Mit Recht sagt Hans Stoll, RabelsZ 22 (1957) 190: „Daß auch bei Berücksich­ tigung aller Umstände des Einzelfalles die Beziehungen zu zwei oder gar mehreren Rechtsgebieten gleich nahe erscheinen können, ist graue Theorie. Im Leben kommt so etwas nicht vor.“ Positivrechtlich wird die Unmöglichkeit eines mehrfachen gewöhnli­ chen Aufenthalts nach § 76 II öst. JN (= § 606 II der deutschen ZPO i. d. F. von 1941, jetzt § 606 a Nr. 2) vom Schweizer Bundesgericht in BGE 84 (1958) II 479 dar­ auf gegründet, daß das Gesetz sagt: „... hat er seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland“ (und nicht etwa „keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland“). 625 Ein Beispiel der letzten Art bilden etwa die Ausführungen von E. Schneider,

Für Fälle, in denen eine losere Bindung ausreicht, kann auch ein etwas me­ chanisch wirkendes zeitliches Kriterium benutzt werden und mangels anderer Anhaltspunkte eine Bestimmung des Codex Iuris Canonici als Vorbild gelten, nämlich can. 92 § 2 über das „Quasidomizil“826. Das kanonische Quasidomizil verknüpft ebenso wie das kanonische Domizil die betreffende Person mit den „legibus conditis pro peculiari territorio“ (can. 13 § 2), wobei wohl nicht an ein regionales Partikularrecht, sondern an einzelne Ge- und Verbote gedacht ist. Es wird erworben „durch ein Verweilen, das entweder mit der Absicht ver­ bunden ist, dort wenigstens für den größeren Teil eines Jahres zu verbleiben, wenn nichts von dort abberuft, oder das sich tatsächlich über den größeren Teil eines Jahres hingezogen hat“626 627; als „Jahr“ ist dabei nicht ein Kalender­ jahr, sondern der Zeitraum von 365 Tagen zu verstehen (can. 32 § 2), so daß in jedem Falle ein Aufenthalt von gut 6 Monaten genügt628.

b) Ebenfalls vom Zweck der Anknüpfung her ist die umstrittene Fra­ ge zu beantworten, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt freiwillig sein muß oder ob auch der erzwungene Aufenthalt eines Straf- oder Kriegsgefan­ genen, in einem Konzentrations- oder Arbeitslager, infolge Verschlep­ pung, Entführung oder Ausweisung zu einer Veränderung des gewöhnli­ chen Aufenthalts führen kann. Die Verbringung eines Menschen an einen Ort nur zum Zwecke der Tötung oder unter sonstigen Umständen, die jede Teilnahme am Rechtsverkehr dieses Ortes ausschließen, mag eine öffentlichrechtliche Zuständigkeit oder einen Ent­ schädigungsanspruch in dem betreffenden Gebiet begründen, aber nicht einen Wechsel des Personalstatuts. Es wäre absurd, etwa die Beerbung eines Staaten­ losen davon abhängig zu machen, in welchem Teilgebiet Polens das Vernich­ tungslager Treblinka oder das Konzentrationslager Auschwitz gelegen hat (ob im kongreßpolnischen, österreichischen oder preußischen Rechtsgebiet) oder wel­ ches Recht dort während der deutschen Besetzung tatsächlich galt; vielmehr FamRZ 1960, 54 f., der das Gefängnis offenbar deshalb nicht als gewöhnlichen Auf­ enthalt einer Frau anerkennt, damit für die Ehescheidungsklage des Mannes der subsi­ diäre Gerichtsstand an seinem eigenen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 606 II ZPO) zum Zuge kommt. 626 Das kanonische Recht hat bekanntlich auch in anderen Punkten das deutsche wie überhaupt das Recht aller europäischen und amerikanischen Staaten beeinflußt. Zum Kontext der zitierten canones vgl. Neuhaus, C.I.C. (oben N. 309) 50. 627 Can. 92 § 2: „Quasi-domicilium acquiritur commoratione ..., quae vel coniuncta sit cum animo ibi manendi saltem ad maiorem anni partem, si nihil inde avocet, vel sit reapse protracta ad maiorem anni partem.“ 628 Dies entspricht im Ergebnis auch dem § 14 I 2 SteueranpassungsG (oben N. 618), welcher unabhängig von der unmittelbar vorher gegebenen Umschreibung des ge­ wöhnlichen Aufenthalts sagt: „Unbeschränkte Steuerpflicht tritt jedoch stets dann ein, wenn der Aufenthalt im Inland länger als sechs Monate dauert.“ Ausländische Paralle­ len bei Wengler, Beiträge zum Problem der internationalen Doppelbesteuerung (1935) 27 N. 36.

muß in diesen Fällen das Recht des letzten freien Aufenthalts gelten629. 630 Auch wer z. B. als Strafgefangener mit seinem früheren Aufenthaltsort noch durch Angehörige oder einen andern Vertreter seiner persönlichen Interessen oder gar durch Urlaubsbesuche oder durch einen sonstwie offenkundigen animus illuc revertendi fest verbunden ist, behält dort für Zwecke des Privatrechts seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Wer 'dagegen zum früheren Aufenthaltsort keine Verbindung mehr hat und am Ort seines jetzigen, mehr oder weniger erzwun­ genen Aufenthalts familien- oder erbrechtliche Rechtsgeschäfte vornehmen kann, möge auch dem Recht dieses Ortes unterstehen. Unerheblich ist m. E. je­ denfalls die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Verbringung an den Zwangsaufenthalt sowie das Vorliegen eines Strafurteils, das in Analogie zu § 894 ZPO (Verurteilung zur Abgabe einer Willenserklärung) als Ersatz für den animus manendi aufgefaßt werden könnte830.

c) Einen „abgeleiteten“ oder sonstigen gesetzlichen gewöhnlichen Aufenthalt für Minderjährige oder andere abhängige Personen anzu­ nehmen, hieße die formellen Beschränkungen und Fiktionen wieder ein­ führen, die durch den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts gerade ver­ mieden werden sollen. Insbesondere kann das unrechtmäßig entführte Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt (z. B. im Sinne des Minderjähri­ genschutzabkommens) an dem Orte erwerben, an den es verbracht wor­ den ist, wenn es dort einigermaßen normale Kontakte zur Umwelt hat (z. B. dort zur Schule geht); eine prinzipielle Ignorierung illegal geschaf­ fener Tatsachen könnte leicht zum Nachteil des Kindes ausschlagen (vgl. oben § 25 II). Nebenbei wird durch den Verzicht auf ein abgeleitetes Personalstatut des Kindes der oben (§ 18 III a. E.) erwähnte circulus vitiosus vermieden, und damit entfällt auch das Hauptbedenken gegen die im Interesse des Kindes lie­ gende einheitliche Beurteilung seiner Angelegenheiten nach seinem eigenen Per­ sonalstatut. Zwar wird als weiteres Bedenken vorgetragen, daß dann mehrere Kinder derselben Eltern verschiedenen Rechtsordnungen unterstehen können und daher mitunter die einen gegenüber den anderen benachteiligt werden631; und diese Gefahr ist auch bei Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt nicht ganz ausgeschlossen, z. B. wenn bei Scheidung oder dauerndem Getrennt­ leben der Eltern auch eine Trennung der Kinder festgelegt ist. Jedoch scheint 629 Während hier das (Konzentrations-) Lager negativ als rechtlose Enklave im um­ gebenden Rechtsgebiet erscheint, kann in anderen Fällen ein (Militär-, Expeditions­ oder Ferien-) Lager positiv als Exklave des Heimatstaates behandelt werden, etwa zur Bestimmung des Delikts- oder des Eheschließungsstatuts. 630 Zu dem letzten Gedanken siehe RabelsZ 22 (1957) 191 N. 18. 631 So für Geschwister, die nach ius soli die Staatsangehörigkeit verschiedener Ge­ burtsländer erworben haben, Karl H. Neumayer, AcP 152 (1952/53) 341.

mir die Möglichkeit einer ungleichen Behandlung verschiedener Kinder das kleinere Übel gegenüber der Gefahr einer unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Rechtsverhältnisse desselben Kindes.

II. Hinsichtlich der praktischen Bedeutung der Anknüpfung an den ge­ wöhnlichen Aufenthalt stellen sich drei Fragen:

1. Ist diese Figur zur Auslegung des Wohnsitzbegriffs zu verwenden, wo Staats vertrage und Gesetze heute noch diesen enthalten? Sicherlich nicht, wenn der betreffende Text eine andere Definition des Wohnsitzes gibt, sei es unmittelbar, sei es mittelbar durch eine eigene Kollisions­ norm. In sonstigen Fällen aber darf die Frage wohl bejaht werden. a) Dies gilt vor allem für internationale Abkommen über Staatenlose. Wenn Art. 12 I der Genfer Flüchtlingskonvention (oben N. 539) und ebenso Art. 12 I des New Yorker Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. 9. 1954 (BGBl. 1976 II 474) die persönlichen Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge bzw. Staatenlosen dem Recht ihres „Wohnsitzes“ unterstellen, ohne diesen Begriff irgendwie zu definieren682, so ist damit jedem Vertragsstaat freie Hand gegeben, den Wohnsitzbegriff nach seinem Ermessen auszulegen. Es liegt aber im Interesse einer einheitlichen Anwendung der Abkommen, nicht einen nationalen Wohnsitzbegriff, sondern den internationalen Begriff des gewöhnli­ chen Aufenthalts zu verwenden. b) Auch für die Bestimmungen des EGBGB, welche das Staatsangehörig­ keitsprinzip zugunsten des Wohnsitzprinzips durchbrechen - sei es zugunsten eines deutschen Wohnsitzes (Art. 8: Entmündigung; Art. 15 II: Zulässigkeit ei­ nes Ehevertrags; Art. 16 I: Berufung auf einen besonderen Güterstand; Art. 25 Satz 2: Erbansprüche) oder zugunsten eines ausländischen (Art. 24 II: Erben­ haftung) -, besteht angesichts der grundsätzlichen Autonomie des Kollisions­ rechts keine Bindung an den Wohnsitzbegriff des BGB633; es ist nur sinnvoll, nicht einem rein formellen (fiktiven oder abgeleiteten) Wohnsitz solche Bedeu­ tung zu geben, sondern dem tatsächlichen Wohnsitz. 63 2 Sie folgen damit dem Abkommen vom 28. 10. 1933 (Art. 4 I), während das Ar­ rangement vom 30. 6. 1928 unter Nr. 2 die Anknüpfung an den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt empfohlen hatte (Fundstellen siehe RabelsZ 24 [1959] 586 N. 1).833 833 Anders BGH 15. 4. 1959, RabelsZ 25 (1960) 313 = IPRspr. 1958-59 Nr. 49, unter I 2 a. E., mit der sehr formalen Begründung: „Dagegen spricht jedoch entschei­ dend die Überlegung, daß eine derartige Änderung Sache des Gesetzgebers ist.“

2. Kann der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auch zur Lücken­ füllung benutzt werden (also zur richterlichen Fortbildung des Rechts)? Diese Frage besitzt in Deutschland höchste Aktualität, wenn man bei verschiedener Staatsangehörigkeit von Ehegatten die alleinige Anknüp­ fung der ehe- und kindschaftsrechtlichen Beziehungen an die Staatsan­ gehörigkeit des Ehemannes bzw. Vaters für verfassungswidrig hält. Auch die Anknüpfung an eine gemeinsame Staatsangehörigkeit der Ehegat­ ten bedeutet dann keine Gleichberechtigung der Geschlechter, wenn die Frau durch die Eheschließung ohne ihren Willen die Staatsangehörigkeit des Mannes erworben hat (vgl. oben § 27 III 4 a. E.). Hier kann ein Vorrang des Mannes im ausländischen Staatsangehörigkeitsrecht sich auf das inländische Kollisions­ recht auswirken.

Gegen eine ersatzweise Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt wird öfter eingewandt, das deutsche Internationale Familienrecht be­ stimme als Anknüpfungspunkt grundsätzlich die Staatsangehörigkeit und davon könne de lege lata nur in engen Ausnahmefällen abgewichen werden; zumal bei der Verschiedenheit der im Schrifttum gemachten Vorschläge sei es kaum möglich, eine rechtlich gesicherte Feststellung über einen andern Anknüpfungspunkt als die Staatsangehörigkeit des Mannes zu treffen. Demgegenüber hat Kropholler klargestellt, daß nach der deutschen Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung der letz­ ten Zeit der gewöhnliche Aufenthalt im IPR nicht mehr wie ehedem nur eine Nebenrolle spielt, sondern zu einem der tragenden Pfeiler, zu einem Prinzip des Kollisionsrechts geworden ist634. (Hinzuzufügen wäre sei­ nen Beispielen noch der verschleierte Übergang vom Staatsangehörig­ keits- zum Aufenthaltsprinzip unter dem Stichwort der Eigenständigkeit des Internationalen Verfahrensrechts635 und mit Hilfe der Vorbehalts­ klausel des ordre public636.) Daher biete es sich an, bei jedem Versagen des Staatsangehörigkeitsprinzips - z. B. auch für hinkende Ehen, die das Heimatrecht nicht anerkennt637 - auf den gewöhnlichen Aufenthalt abzustellen638. 834 Kropholler, Vom Staatsangehörigkeits- zum Aufenthaltsprinzip: JZ 1972, 16 f., unter Hinweis auf eine ähnliche Entwicklung in Frankreich. 635 Vgl. FamRZ 1967, 24 (zu den Vorschlägen der Familienrechtskommission des Deutschen Rates für IPR) sowie A. Heldrich, unten N. 1167. 638 Vgl. etwa Jochem (unten N. 1046) 123 N. 256, der zur Legitimation von Ehe­ bruchskindern eines Italieners nach BGH 17. 9. 1968, BGHZ 50, 370 = IPRspr. 1968-69 Nr. 127b, treffend feststellt, in dieser Entscheidung vollziehe sich „unter dem Deckmantel des Art. 30 EGBGB ... für den Bereich des Ehewirkungsstatuts der Übergang vom Staatsangehörigkeitsprinzip zur Aufenthaltsanknüpfung bei verschiede­ ner Staatsangehörigkeit der Ehegatten“. 637 Siehe unten § 48: Hinkende Rechtsverhältnisse, vorletzter Absatz.

Die volle Zustimmung zu dieser Schlußfolgerung hängt von der Ant­ wort auf die dritte Frage ab: 3. Empfiehlt sich die Anknüpfung des Personalstatuts an den ge­ wöhnlichen Aufenthalt auch de lege ferenda? Verzichten wir auf tagespolitische Argumente für und wider die ra­ sche Assimilation von Ausländern (insbesondere von Gastarbeitern) und auf eine soziale Differenzierung zwischen „rechtsnaher Oberschicht“ und „rechtsferner Unterschicht“ (wie will man da im Einzelfall die Grenze ziehen?), so lautet der Haupteinwand, die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt sei zu wenig stabil, um die ernsthafte Zugehö­ rigkeit zu einer Rechtsordnung zu verbürgen. Demgemäß sind mehrere Gegenvorschläge gemacht worden, die aber ihrerseits auf unüberwindli­ che Einwände stoßen. Der Gedanke an eine bindende Registrierung der Rechtszugehörigkeit eines Menschen oder auch nur an gewisse diesbezügliche Erklärungen839 ist meistens praktisch undurchführbar640 638 . * Generell 639 eine bestimmte Zahl von Jahren des Aufenthalts zu fordern841, erscheint willkürlich, zumal Beginn und Unterbre­ chungen der Frist mehr oder weniger mechanisch geregelt werden müßten642. Die Ersetzung des Ausdrucks „gewöhnlicher Aufenthalt“ durch „Mittelpunkt der Lebensverhältnisse“ (oder „Daseinsmittelpunkt“) führt auch nicht zum Ziele, da es sich um ein bloßes Bild handelt, das außerdem im rein geographi-

638 KROPHOLLER (oben N. 634) 17. - Speziell für national gemischte Ehen erledigt sich der Unterschied der Anknüpfungen - wie Mezger, Rev. crit. 50 (1961) 893 f., mit Recht betont - nicht etwa dadurch in der Regel von selbst, daß die Frau mit in das Heimatland des Mannes zieht. Denn viele der jungen Arbeiter usw., die in der Fremde heiraten, bleiben wenigstens für längere Zeit dort ansässig. 639 Etwa nach dem Vorbild von Art. 14 Nr. 2 Halbs. 2 und Nr. 3, 2°, Satz 2 (bis 1974: Art. 15 II 2) span. C. c. über Erwerb oder Beibehaltung der Zugehörigkeit zu einem Rechtsgebiet (vecindad) kraft Erklärung, gemäß dem niederländisch-indischen Gesetz Stbl. 1917 Nr. 12 über die Unterwerfung von Malaien unter das für Europäer geltende Privatrecht oder wie nach Art. 16 I EGBGB über die Eintragung eines aus­ ländischen Güterstandes im deutschen Güterrechtsregister. 640 Vgl. für Spanien R. Azpitarte Camy, Rev. Der. Esp. Am. 4 (1959) 954 (955): el Libro de vecindad civil estä siempre casi vacio.“ 841 Vgl. oben N. 614 zum Wohnsitz. 642 Allenfalls mag für spezielle Zwecke, z. B. für die Erhebung einer Scheidungs­ klage, zur Vermeidung von Mißbräuchen eine Mindestwartefrist gefordert werden. Vgl. etwa die Brüsseler Resolution des Institut de Droit international von 1948 (oben N. 592), welche für die Zuständigkeit zur Scheidung und Trennung von Tisch und Bett (unter 1 b) erklärt: „Im Sinne dieser Bestimmung wird der Aufenthalt nicht als „gewöhnlicher" betrachtet, wenn er weniger als drei Jahre vor Klageerhebung gedauert hat.“ Siehe aber oben N. 538.

sehen Sinne mißverstanden werden kann643. Erst recht bietet das Wort „Zuge­ hörigkeit“ keine Hilfe. Meinen früheren Vorschlag, den animus manendi vel eodem revertendi ent­ scheiden zu lassen, habe ich selbst von vornherein abgeschwächt durch eine Vermutung für diesen animus und durch die Bewertung der Staatsangehörig­ keit als Indiz644. Der Gedanke war: Der heimattreue Auswanderer, der nur auf beschränkte Zeit (und seien es Jahrzehnte) ins Ausland geht, um dort sein Glück zu machen, aber in seinem Herkunftsland verwurzelt bleibt, soll in sei­ nen familiären Angelegenheiten weiterhin dem Rechte der alten Heimat und nicht dem des Gastlandes unterstehen; auf diese Weise sollen ihm insbesondere Konflikte bei seiner Rückkehr erspart bleiben. Hingegen soll derjenige Aus­ wanderer, der nicht an eine Rückkehr denkt, sondern eine neue Heimat sucht, alsbald und nicht erst von der Einbürgerung an nach den Gesetzen des Auf­ nahmelandes leben. Aber mit Recht will de Winter nicht den subjektiven ani­ mus, sondern die objektiv feststellbaren sozialen Beziehungen maßgebend sein lassen. Er empfiehlt demgemäß die Anknüpfung des Personalstatuts an den „sozialen Wohnsitz“; dieser soll auch bei jahrelangem überwiegendem Aufent­ halt in einem Lande dort nicht gegeben sein, wenn eine Integrierung nicht er­ folgt ist, die äußeren Umstände vielmehr eine Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen zur alten Heimat anzeigen645. Die Frage ist nur, ob es dazu der neuen Vokabel „sozialer Wohnsitz“ bedarf, die zumindest in der deutschen Fassung wenig anspricht.

Mit Kropholler646 möchte ich annehmen, daß sich das berech­ tigte Anliegen de Winters, die objektiv feststellbaren sozialen Bezie­ hungen über das Personalstatut entscheiden zu lassen, durch eine ent­ sprechende Interpretation des vieldeutigen Ausdrucks „gewöhnlicher Aufenthalt“ erreichen läßt647. Dieser Ausdruck ist nun einmal durch 643 Das Wehrstrafgesetz i. d. F. vom 24. 5. 1974 (BGBl. I 1214) stellt in § la I Nr. 2 unter anderm darauf ab, daß jemand „seine Lebensgrundlage im räumlichen Gel­ tungsbereich dieses Gesetzes hat“. Dieses Bild kann allerdings leicht im rein materiellen Sinne der „Existenzgrundlage“, d. h. der Einkommensquelle verstanden werden. Erst recht ist der britische Vorschlag (bei Vorbereitung des Haager Ehescheidungsab­ kommens von 1970, siehe Graveson, Z. f. Rvgl. 8 [1967] 86), darauf abzustellen, mit welchem Lande jemand gefühlsmäßig und durch Umstände wie Heimat, Familie, Reli­ gion und Staatsangehörigkeit eng verbunden ist, doch wohl allzu unbestimmt, desglei­ chen die (bei derselben Gelegenheit vorgeschlagene, siehe Act. Doc. La Haye 11 II [1970] 20) neue Vokabel „juriscentre“. Unter der einen wie der anderen Formulierung würde allzu leicht jeder Staat sein bisheriges Anknüpfungsmoment verstehen. 644 RabelsZ 20 (1955) 61 f.; vgl. Vorauflage § 31, besonders S. 163. 645 de Winter (oben N. 128) 14 f.; ders., Nationality or Domicile: Rec. des Cours 128 (1969-III) 347 (430 und 436). Vgl. auch die Beispiele von Drobnig, Ra­ belsZ 37 (1973) 495 f., für mangelnde „Zugehörigkeit“ zu einem Rechtsgebiet trotz ge­ wöhnlichen Aufenthalts: die „in den anderen Staat entsandten Journalisten, Handels­ und diplomatischen Vertreter“. 646 Kropholler (oben N. 634) 16 N. 3. 647 Vgl. BGH 5. 2. 1975 (oben N. 234), wo „gewöhnlicher Aufenthalt“ mit

die Haager Konferenz als besondere Anknüpfung neben Staatsangehö­ rigkeit und Domizil weitgehend eingebürgert worden, und es erscheint einfacher, ihn zweckentsprechend zu interpretieren648, als einen andern, notwendig ebenfalls unvollkommenen Begriff neu einzuführen. Dies gilt umso mehr, als Gefahr im Verzug ist. Wenn nämlich nicht bald die Ge­ setzgebung oder die Rechtsprechung eine geordnete Überleitung des Per­ sonalstatuts vom Staatsangehörigkeits- zum Aufenhaltsprinzip vollzieht, droht eine zunehmende regellose Durchbrechung des bisherigen Prinzips zugunsten der lex fori649. Mit der Annahme des Aufenthaltsprinzips erübrigen sich auch alle Vorschlä­ ge, zwischen Personalstatut im engern und im weiteren Sinne zu unterscheiden (etwa zwischen Familienstatut und Statut ‘der Beziehungen zur Außenwelt650), die sich ohnehin schwer durchführen lassen.

Praktisch wird der Richter, Notar, Standesbeamte usw. zur Feststel­ lung des gewöhnlichen Aufenthalts zunächst nach Wohnort und Staats­ angehörigkeit fragen und nur, wenn der Wohnort nicht im Heimat­ staat liegt, weiterfragen nach dem Wohnort der Familie oder dem son­ stigen Hauptwohnort. Die Zahl der dann noch verbleibenden, wirklich problematischen Fälle dürfte sehr gering sein.

S 30: Handlungsort

Der Ort einer Handlung erscheint als kollisionsrechtliches Anknüp­ fungsmoment in drei Gestalten: als Vornahme- oder Abschlußort eines „Schwerpunkt der Bindungen“ gleichgestellt wird. Äußerstenfalls kann m. E. sogar ein zufällig im Lande A geborenes Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt ebenso wie seine Mutter im Lande B haben, obwohl es selbst noch nie dort war, und zwar nicht deshalb, weil dem Kinde der gewöhnliche Aufenthalt der sorgeberechtigten Person imputiert wird (wie ich in FamRZ 1967, 25 vorgeschlagen habe), sondern weil die objek­ tiven Bindungen der Mutter an das Land B auch das Kind erfassen. 648 Vgl. etwa die kühne Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ für Art. 16 der Genfer Flüchtlingskonvention durch OGH 24. 7. 1957, Ost. JZ 1957, 602: es komme nur darauf an, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Le­ bens mache. 649 Der Vorschlag des Europarats zur „Unification des concepts juridiques de ,domicile’ et de „rsidence"“ (Resolution des Ministerrats (72) 1 vom 18. 1. 1972) scheint mir für das IPR wenig hilfreich, da er als Besonderheit der „rsidence habituelle“ ge­ genüber der einfachen residence nur die größere Stabilität erwähnt, aber keinen Ver­ such enthält, ein qualitatives Moment wie den objektivierten animus manendi einzube­ ziehen, und sogar eine mehrfache residence habituelle zuläßt. 650 Vgl. Vorauflage § 30 II.

Rechtsgeschäfts (I), als Erfüllungsort eines Schuldverhältnisses (II) und als Begehungsort einer unerlaubten Handlung (III).

I.

Der Vornahmeort - d. h. der Ort, an dem irgendein Rechtsgeschäft vorgenommen wird - wird im deutschen Sprachgebrauch nicht scharf geschieden vom Abschlußort eines Vertrages im besonderen. 1. Die Bestimmung des Vornahmeortes ist nur bei Erklärungen unter Abwesenden problematisch (genauer gesagt: bei Erklärungen über eine Rechtsgrenze hinaus). Hier sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden. a) Für einseitige Erklärungen kommen als Vornahmeort sowohl der Aufenthaltsort des Erklärenden wie der Empfangsort in Betracht. Die Beachtung des Aufenthaltsortes entspricht vor allem dem Sinn der fa­ kultativen Geltung von „locus regit actum“: Dem Erklärenden soll die Benutzung der für ihn nächstliegenden Form gestattet sein. Anderseits liegt bei einem Rechtsgeschäft, das gegenüber einer Behörde oder sonsti­ gen Amtsperson vorzunehmen ist, der Gedanke an deren Sitz nahe, damit das Recht der Behörde als Ortsrecht angewandt werden kann; sonst wird leicht durch eine prozessuale Qualifikation des betreffenden Rechtsgeschäftes das Behördenrecht zum allein maßgeblichen gemacht und das Geschäftsstatut überhaupt ausgeschaltet. Wenn z. B. ein Deutscher mit Wohnsitz in der Schweiz stirbt und sein Nach­ laß dort (kraft testamentarischer Rechtswahl: Art. 22 II NAG) nach deut­ schem Recht abgewickelt wird, sollte eine Erbausschlagung, die von außerhalb der Schweiz an das Nachlaßgericht gelangt, sowohl in deutscher Form (d. h. mit öffentlicher Unterschriftsbeglaubigung: § 1945 BGB) als auch nach Schwei­ zer Art (in einfacher Schriftform: Art. 570 I ZGB) gültig sein können651. Vielleicht sollte man allgemein im Interesse des Empfängers die Form des Empfangsortes neben der des Abgabeortes genügen lassen652. Bei einer außergerichtlichen, privaten Scheidung einer Ehe durch einseitigen Akt ist zu unterscheiden, ob sie nach islamischem oder nach jüdischem Recht erfolgt. Der islamische „talaq“ wird durch die bloße Erklärung ohne Rücksicht auf deren Zugang wirksam und ist demgemäß allein am Erklärungsort zu loka­ lisieren. Nach jüdischem Recht dagegen bilden Übergabe und Annahme des 651 Entscheidungen aus neuerer Zeit sind mir nicht bekannt; kontroverse Literatur bei Palandt (-Keidel), BGB35 (1976) § 1945 BGB, Anm. 3b, und bei den dort Ge­ nannten; siehe auch Pinckernelle, in: Les rgimes matrimoniaux et les successions en d.i.p. (Bruxelles 1963) 276 N. 1. 652 So Lando (oben N. 509) 260.

Scheidebriefes den eigentlichen (konstitutiven) Scheidungsakt, und es ist da­ her allein auf deren Ort abzustellen853; vorbereitende Rechtshandlungen wie die Abfassung des Scheidebriefs sind hier ebensowenig entscheidend wie bei ei­ ner gerichtlichen Scheidung der Ort, von dem aus die Klage eingeleitet wird.

b) Für Verträge unter Abwesenden wird auf die Feststellung eines einheitlichen Abschlußortes heute insoweit verzichtet, als die Form schuldrechtlicher Verträge in Rede steht; denn hier soll jede Seite ihre Erklärung nach dem eigenen Ortsrecht abgeben können653 654. Bedeutsam bleibt die Frage nach dem Abschlußort bei anderen Verträgen, insbeson­ dere Eheschließung und vertraglicher Ehescheidung unter Abwesenden. (1) Die Eheschließung, die vor einem Standesbeamten, Religionsdiener oder einer sonstigen Amtsperson erfolgt, wird schon im Hinblick auf diese Amtsper­ son ausschließlich an deren Aufenthaltsort lokalisiert655. Insbesondere hindert die spezielle Vorbehaltsklausel des Art. 13 III EGBGB (Inlandsform für In­ landsehen) einen in Deutschland befindlichen Verlobten nicht, hier die Voll­ macht für eine ausländische Eheschließung durch einen Stellvertreter (sog. Handschuhehe) auszustellen; denn die genannte Vorschrift will nur innerhalb Deutschlands die Autorität der standesamtlichen Eheschließung gegenüber der kirchlichen, konsularischen oder gar privaten Heirat sichern656 und nicht etwa ‘die Eheschließung vor einem Standesbeamten oder Priester im Ausland er­ schweren (vgl. oben § 25 I 2). Dagegen wird man eine rein private Eheschlie­ ßung inter absentes (etwa die briefliche oder fernmündliche Schließung einer Common-Law-Ehe) im Sinne des favor negotii an demjenigen der beiden Er­ klärungsorte lokalisieren, an dem eine solche Eheschließung als wirksam aner­ kannt wird. (2) Für eine Ehescheidung durch privaten Vertrag unter Abwesenden dürfte das zur privaten Eheschließung Gesagte entsprechend gelten657.

2. Die Bedeutung des Vornahmeortes beschränkt sich nicht auf Form­ fragen, wenngleich die früher übliche allgemeine Beurteilung von Ver­ trägen oder wenigstens ihres gültigen Abschlusses nach dem Ortsrecht 653 Richtig JMinNRW 14. 11. 1973, IPRspr. 1974 Nr. 186, zustimmend OLG Düs­ seldorf 17. 5. 1974 (oben N. 583), während Kleinrahm/Partikel (oben N. 575) 148 bereits dann von einer Inlandsscheidung sprechen, „wenn ein Teil des gesamten Schei­ dungsvorganges im Inland geschieht“. 654 ZWEIGERT (oben N. 478) 631 ff. 855 Im Ergebnis ebenso BGH 19. 12. 1958 (oben N. 414), wie schon vorher Neu­ haus, RabelsZ 15 (1949-50) 580 ff., und KG 28. 10. 1957 (oben N. 226), ferner Neu­ haus, RabelsZ 25 (1960) 185 (Bespr. von Dieckmann, Die Handschuhehe deutscher Staatsangehöriger nach deutschem IPR). 658 Vgl. Raape, Die Form der Eheschließung nach internationalem Recht, in: Fest­ schrift Kiesseibach (1947) 144: „Gegen diese Arten von Eheschließungen, gegen die kirchlichen, konsularischen und Konsensehen, richtet sich Art. 13 III recht eigentlich.“ 657 Vgl. JMinNRW (oben N. 653) 194 unter II zu koreanischen Ehescheidungen.

mehr und mehr durch andere Anknüpfungen verdrängt worden ist. Auf folgende Regeln sei besonders hingewiesen.

a) Die Geschäftsfähigkeit für schuldrechtliche Verträge wird nach Art. 7 III EGBGB und verwandten Vorschriften (siehe oben § 7 III 1 a) anstatt dem Personalstatut jeweils dem Ortsrecht unterstellt, falls ein Ausländer ein Rechtsgeschäft im Inland vornimmt und das inländische Recht seiner Geschäftsfähigkeit günstiger ist658. b) Die Vollmacht unterliegt nach der in Deutschland herrschenden Meinung dem Recht des Wirkungs- oder Gebrauchsortes, also nicht des Ortes, an dem sie erteilt ist, sondern an dem das Hauptgeschäft im Na­ men des Prinzipals abgeschlossen wird659. Es erscheint das als ein ange­ messener Kompromiß zwischen den Interessen des Prinzipals und des Partners des Hauptgeschäfts: Der eine möchte das Recht des sog. Grundverhältnisses angewandt sehen, das der Vollmacht zugrunde liegt, der andere das Statut des Hauptgeschäftes660. Diese Lösung paßt auch für die Anscheinsvollmacht und für die Haftung des falsus procurator661.

c) Im Recht der Ehewirkungen gewinnt die Anknüpfung an den Ehe­ schließungsort zwangsläufig an Bedeutung, je mehr der Vorrang des Mannesrechts im Zeichen der Gleichberechtigung der Frau abgebaut wird (siehe oben § 27 IV 3). Denn eine gemeinsame Staatsangehörigkeit und auch ein gemeinsamer Wohnsitz (oder gewöhnlicher Aufenthalt) hat bei manchen Ehen nie bestanden, insbesondere nicht bei jenen Solda­ ten- und Auswandererehen, in denen eine gemeinsame eheliche Woh­ nung erst nach Entlassung des Mannes vom Militärdienst oder nach Si­ cherung der beruflichen Existenz des zunächst allein ausgewanderten 658 Eine Verallgemeinerung dieser Regel - also eine Ausschaltung der beiden ge­ nannten Bedingungen - ist neuerdings zur Vermeidung jeder Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit im Wirtschaftsleben von Drobnig (oben N. 597) vorgeschlagen worden. Freilich verläuft im Bereich des Common Law die Entwicklung der letzten Jahrzehnte bei der capacity to contract gerade umgekehrt von der lex loci contractus zur lex domicilii oder zum allgemeinen Vertragsstatut (dem „proper law of the con­ tract“); siehe etwa Dicey/Morris, Rule 149, sowie Restatement2 § 198. 659 Nachweise bei Gerhard Luther, Kollisionsrechtliche Vollmachtsprobleme .. .: RabelsZ 38 (1974) 421 (422 N. 5-8, speziell zur Terminologie 425). 860 Neuerdings empfiehlt Luther (vorige Note) 431 ff., besonders 438, neben dem Recht des Wirkungslandes kumulativ das Aufenthaltsrecht des Vertretenen zugrunde zu legen, wobei er jedoch m. E. die mit dieser „anspruchbegrenzenden Kumulation“ (siehe oben § 19 II 4b) verbundene Erschwerung des internationalen Geschäftsverkehrs unterschätzt. 861 Siehe Kropholler, Anscheinshaftung (oben N. 333) 1644-1646.

Teiles begründet werden sollte. Dagegen empfiehlt es sich nicht, auf den Eheschließungsort nachträglich zurückzugreifen, wenn eine Zeitlang ein gemeinsames Personalstatut der Ehegatten bestanden hat: Dieses sollte als Ehewirkungsstatut auch dann maßgebend bleiben, wenn beide Teile es zugunsten verschiedener Rechte verloren haben. Logischerweise sollte das Ehewirkungsstatut auch für die Ehescheidung gel­ ten. In diesem Sinne bestimmt z. B. das Recht des Eheschließungsortes mehr oder weniger über die Auflösbarkeit der Ehe nach den Verträgen von Monte­ video von 1889 (Art. 13 lit. b) und 1940 (Art. 15 lit. b) sowie nach den geltenden Ehegesetzen Argentiniens von 1888/89 (Art. 7 = Art. 164 C. c) und Boliviens von 1972 (C6digo de Familia Art. 132). Jedoch werden Deutschland und an­ dere Staaten, die das Haager Ehescheidungsabkommen gekündigt haben oder ihm gar nicht erst beigetreten sind, wohl nicht die Möglichkeit aufgeben wol­ len, zugunsten ihrer scheidungswilligen Bürger oder Einwohner deren Ehen ohne Rücksicht auf die internationale Entscheidungsgleichheit nach dem Recht des klagenden Teiles aufzulösen.

d) Die Anerkennung von Ehescheidungen hängt in der Bundesrepu­ blik Deutschland nach dem Wortlaut des Art. 7 § 1 FamRÄndG682 nur dann von einer Feststellung der zuständigen Landesjustizverwaltung ab, wenn die Entscheidung „im Ausland“ ergangen ist. Die Praxis wen­ det diese Begrenzung auch auf Privatscheidungen an. Meines Erachtens ist jedoch die Notwendigkeit des behördlichen Anerkennungsverfahrens für alle außergerichtlichen Scheidungen ohne Rücksicht auf den Wort­ laut des Gesetzes durch ein argumentum a minore ad maius zu begrün­ den: Wenn bereits gerichtliche Entscheidungen (des Auslands) nicht von untergeordneten Behörden und Gerichten zu prüfen sind, dann erst recht nicht die noch heikler zu beurteilenden außergerichtlichen Schei­ dungen663. Insgesamt bleibt von der ehemals so wichtigen Anknüpfung an den Abschlußort kein allgemeines Prinzip mehr übrig, aber doch eine nützli­ che Lösung für manche Sonderfälle. 862 Vgl. oben N. 574. 86 3 So auch OLG Stuttgart 4. (nicht 6.) 11. 1969, IPRspr. 1968-69 Nr. 238, und 18. 12. 1970, IPRspr. 1970 Nr. 125b. - Auf einem andern Blatt stehen die grundsätz­ lichen Bedenken gegen eine Feststellung der Anerkennungsfähigkeit ausländischer Ent­ scheidungen durch eine Verwaltungsbehörde, siehe RabelsZ 31 (1967) 580 sowie 35 (1971) 356 (Besprechung der 1. bzw. der 2. Auflage von Kleinrahm bzw. Klein­ rahm/Partikel, vgl. unten N. 904), ferner unten § 43 II a. E. mit N. 904 und § 58 IV mit N. 1189-1191.

II. Der Erfüllungsort ist vor allem durch Savignys Einfluß weithin als Anknüpfungsmoment für vertragliche Schuldverhältnisse an die Stel­ le des Abschlußortes getreten. Savigny argumentierte streng begrifflich: Er bestimmte den „Sitz“ der Obli­ gation grundsätzlich „nach dem Verhältniß des Schuldners, da die in der Per­ son des Schuldners vorhandene Nothwendigkeit einer Handlung das eigentli­ che Wesen der Obligation ausmacht“864. Während ihr Entstehungsgrund „an sich zufällig, vorübergehend, dem Wesen der Obligation und ihrer ferneren Entwickelung und Wirksamkeit fremd“ sei664 665, falle die Erfüllung „mit dem ei­ gensten Wesen der Obligation zusammen“666. *Im 668Zweifel lokalisiert er die Erfül­ lung am Wohnsitz des jeweiligen Schuldners687. Die Gefahr einer Zerreißung der gegenseitigen Schuldverhältnisse in zwei getrennte Obligationen688 beein­ druckt ihn nicht, vielmehr sagt er in einer Fußnote: „Es soll dabei nicht geleug­ net werden, daß in manchen Fällen diese absondernde Behandlung beider Hälften einer zweiseitigen Obligation ... Zweifel und Verwickelungen mit sich führen kann. Grundsätzlich aber ist sie darum nicht weniger richtig.“669

Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen und die Anknüpfung an den Erfüllungsort ihrerseits weitgehend verdrängt worden durch die Berufung auf den hypothetischen Parteiwillen, der für jeden Vertrag als ganzen bestimmt wird und in der Regel zum Wohn- oder Geschäftssitz des Schuldners der charakteristischen Leistung führt (siehe oben § 24 III). Immerhin spielt der Erfüllungsort noch in drei Fällen eine weniger grundsätzlich als praktisch begründete Rolle:

1. Manche Verträge werden als ganze am Ort ihrer realen Erfüllung lokalisiert (Beispiele oben § 24 III 2 a. E.), weil anscheinend der Wohn­ sitz (bzw. ein etwa vorhandenes Büro) des Hauptschuldners als unwich­ tig angesehen wird670. 664 Savigny 201. 665 A.a.O. 207. 666 A.a.O. 208. 667 Vgl. die Übersicht a.a.O. 226 f. - Über die verschiedene Bestimmung insbeson­ dere des Zahlungsortes als Erfüllungsort in den geltenden Rechtsordnungen siehe etwa Joseph Küng, Zahlung und Zahlungsort im IPR (Freiburg/Schweiz 1970) 69 ff. 668 Von „unseliger Spaltung“ spricht Pfaff (oben N. 175) 241. 669 Savigny 202 f. in Fußnote (b). 870 Eine Sonderfrage ist die nach dem „Zahlungsort“ im Sinne von Ani. VII zum Londoner Schuldenabkommen vom 27. 2. 1953 (BGBl. II 333, 456), welcher den „spezifisch ausländischen Charakter“ einer Forderung begründet. In dem Urteil des Schiedsgerichtshofes für das Abkommen vom 3. 7. 1958, IPRspr. 1958-59 Nr. 104, hat die Mehrheit der Richter den Begriff nach der „natürlichen Bedeutung“ des Wor­ tes ausgelegt, dagegen die deutsche Minderheit gemäß dem Vertragsstatut des konkre­ ten Falles (d. h. gemäß dem deutschen Recht, das dieses Wort nicht kennt, als gleich-

2. Bei Kauf- und anderen Lieferungsverträgen soll nach verbreiteter Meinung für die Modalitäten der Erfüllung das Recht des betreffenden Ortes gelten. Eine solche Abspaltung vom allgemeinen Schuldstatut dürfte besonders für die Abnahme der Ware (Untersuchung auf Män­ gel und deren Rüge, Notmaßnahmen bei Ablehnung) berechtigt sein, die oft mit Hilfe (halb-)amtlicher Stellen erfolgt671.

3. Der deutsche Bundesgerichtshof behält sich als ultima ratio, wenn er ein Gleichgewicht der Argumente zugunsten zweier in Frage kom­ mender Rechtsordnungen feststellt, den Rückgriff auf das Recht des Er­ füllungsortes vor - sei es, um in geeigneten Fällen zur Anwendung der deutschen lex fori zu gelangen (direkt, wenn es um die Leistung eines Beklagten mit inländischem Wohn- oder Geschäftssitz geht, oder indi­ rekt, im Wege der Rückverweisung z. B. auf das Recht des deutschen Abschlußortes), sei es aus Mißtrauen gegen die Bindung an eine Typen­ formel wie den Vorrang des Verkäuferrechtes. III.

Vom Begehungsorty Tatort oder Deliktsort spricht man im Recht der sog. unerlaubten (besser: schädigenden) Handlungen. 1. Bei Bestimmung des Begehungsortes einer solchen Handlung sind drei mögliche Deutungen dieses Begriffs zu unterscheiden: Handlungsort (im engern Sinne), Verletzungsort und Schadensort. a) Handlungsort ist der Ort, an dem der Täter sich bei Begehung der Tat befindet (wenn er schießt, einen Brief absendet, eine erforderliche Kontrolle unterläßt), eventuell auch eine bloße Vorbereitungshandlung setzt (die Waffe lädt, den Brief schreibt, die Kontrolle nicht vorplant). Diese Art der Lokalisierung stellt in der Hauptsache auf die Person des Täters ab und ist historisch wohl ein Relikt moralischer Beurteilung: der Täter soll durch die Schadensersatzpflicht bestraft, abgeschreckt, erzo­ gen werden. Praktisch führt die Anknüpfung an den Handlungsort dazu, daß riskante Unternehmen durch Haftungsausschlußgesetze dieses Ortes übermäßig begünstigt werden können.

b) Verletzungs- oder Erfolgsort (place of injury) ist derjenige Ort, an bedeutend mit „Erfüllungsort“). Vgl. auch BGH 2. 3. 1959, ebd. Nr. 105, und 12. 6. 1963, IPRspr. 1962-63 Nr. 56. 671 Vgl. etwa Kreuzer (oben N. 390) 113-119.

16 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

dem das unmittelbar betroffene Rechtsgut zur Zeit der Verletzung sich befindet bzw. lokalisiert wird (wo die Kugel trifft, der Brief gelesen wird, mangels Kontrolle sich ein Unfall ereignet). Dieser Ort ist in zivil­ rechtlicher Sicht der eigentliche Deliktsort, zumal wenn wir neben der alten Verschuldenshaftung auch die Gefährdungshaftung berücksichti­ gen: Nicht ein Unwert der Handlung (die ein höchst verdienstvolles Ex­ periment darstellen kann!), sondern die Verletzung eines schützenswer­ ten Rechtsgutes ist bestimmend für die Haftung672. Allerdings kann dieser Verletzungsort vom Standpunkt des Schädigers wie des Geschä­ digten sehr zufällig sein (die Kugel ist nur als Querschläger über die Grenze geflogen, der Brief wurde ins Ausland nachgesandt, das schlecht kontrollierte Fahrzeug verunglückte auf der Durchreise durch ein frem­ des Land). Immerhin ist er gegenüber dem Interesse jeder Partei, das ihr am ehesten bekannte eigene Recht angewandt zu sehen, eine typisch neutrale Anknüpfung - vergleichbar dem Gebrauchsort der Vollmacht (oben I 2 b). Theoretisch kann die Anknüpfung an den Verletzungsort zu Normenfülle oder Normenmangel führen, wenn mehrere in Betracht kommende Rechtsord­ nungen das geschützte Rechtsgut und damit den Verletzungsort verschieden bestimmen. Ein praktisches Beispiel dafür ist jedoch schwer zu finden. Wenn z. B. unlauterer Wettbewerb durch Täuschung nach der einen Rechtsordnung mehr im Interesse der Konkurrenten und nach der anderen überwiegend im In­ teresse der Konsumenten verboten ist, so ist Verletzungsort doch beidemal der betreffende Markt und nicht etwa der Geschäfts- bzw. Wohnsitz der Geschä­ digten872 873. Oder wenn gegen den Ehebrecher eine Schadenersatz- oder Unter­ lassungsklage bald wegen Ehestörung, bald wegen Beleidigung erhoben werden kann, ist als Verletzungsort doch wohl jedesmal der eheliche Wohnsitz anzuse­ hen, also weder der Ort des Ehebruchs noch der Aufenthaltsort des gekränk­ 872 Vgl. Ehrenzweig, Minn. L. Rev. 36 (1951/52) 2, der allerdings für Fälle der „admonitory fault liability“ bei der Anknüpfung an den Begehungsort bleiben will. - Ob im Falle einer künftigen allgemeinen Ablösung des zivilen Schadenersatzes durch Ver­ sicherungsleistungen wieder die Repressivfunktion des Deliktsrechtes in den Vorder­ grund treten wird (etwa in der Form der Privatstrafe), ist vorläufig noch nicht zu entscheiden. 678 Im Ergebnis folge ich hier Kamen Troller, Das IPR des unlauteren Wettbe­ werbs (Freiburg/Schweiz 1962), der auf den Ort der wettbewerbsmäßigen Interessen­ kollisionen abgestellt (50) und demgemäß Angriffe gegen die Absatzkapazität eines Unternehmens im Absatzgebiet und nur Angriffe gegen die Produktionskapazität (z. B. durch Abwerbung) am Produktionsort lokalisiert (131). Seine Begründung allerdings, es handle sich überhaupt nicht um Verletzungen eines Rechtsgutes, sondern nur um die Verletzung einer objektiven Verhaltensnorm (33, 127), würde m. E. eher eine Lokali­ sierung am Handlungsort rechtfertigen.

ten Ehegatten zur Zeit der Kenntnisnahme674. — Liegt der Verletzungsort in einem staatsfreien Raum, so kann ersatzweise das Flaggenrecht des Fahrzeugs als Ortsrecht gelten (vgl. unten § 32 III 1).

c) Schadensort ist der Platz, wo der endgültige Schaden eintritt (der Angeschossene im Krankenhaus liegt, der Briefempfänger an der Krän­ kung leidet, das verunglückte Fahrzeug vollends zusammenbricht). Diese Anknüpfung kommt dem Entschädigungszweck der Haftung in der Regel am nächsten, kann aber bei mehrfachem Schaden zu einer Zersplitterung des Anspruchs führen und zu völlig unabsehbaren Folgen für den Haftenden. Außerdem paßt sie nicht für deliktische Un­ terlassungsklagen, die keinen wirklich entstandenen Schaden vorausset­ zen. Insgesamt sollte in der Regel der Verletzungsort als Begehungsort gel­ ten, und zwar auch für mithaftende Dritte (z. B. den Eigentümer einer schädigenden Sache und den gesetzlichen Vertreter des Schädigers), da­ mit die materielle Harmonie gesichert ist. In außergewöhnlichen Fällen mag es Ausnahmen geben. (So kann bei einem Brief der Ort des norma­ len Zugangs maßgebend sein und nicht erst der des tatsächlichen Zu­ gangs, bei Herstellung mangelhafter Ware der Ort der regulären Aus­ händigung an den Kunden und nicht der Ort des Unfalls.) Eine an­ spruchbegünstigende Kumulation von Handlungs- und Erfolgsort (vgl. die deutsche Rechtsprechung oben § 22 II) ist als eindeutige Bevorzu­ gung des Verletzten gegenüber dem Schädiger um so weniger berechtigt, je öfter im Deliktsrecht auf Seiten des Schädigers kein Verschulden mehr vorausgesetzt wird, sondern bloße Gefährdungshaftung gilt. (Vgl. allgemein gegen die Begünstigung der „Schwachen“ im IPR oben § 22 a. E.)

2. Die Bedeutung des Begehungsortes als Anknüpfungsmoment wächst einerseits in dem Maße, wie neben der zivilrechtlichen Delikts­ haftung die Sondertatbestände des unlauteren Wettbewerbs und vor al­ lem die verschiedensten Fälle von Gefährdungshaftung zunehmen. Die internationalprivatrechtliche Anknüpfung der unerlaubten Handlung ist auch dann maßgeblich, wenn ein Strafrichter im sog. Adhäsionsverfahren zu­ gleich über die zivilrechtlichen Ansprüche des Verletzten entscheidet oder wenn das Zivilverfahren einem rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren 674 Beispiel nach Jayme, Die Familie im Recht der unerlaubten Handlungen (1971) 318-320. 16*

folgt und (im einen wie im andern Falle) eine im Ausland begangene Tat straf­ rechtlich nach der lex fori beurteilt worden ist675.

Anderseits ist die Auflockerung des Deliktsstatuts im Sinne einer Dif­ ferenzierung der Anknüpfung676 in den letzten Jahrzehnten kräftig fortgeschritten677, und das von Kropholler daraufhin mit über­ zeugenden Ausführungen entworfene neue Anknüpfungssystem gipfelt in den Sätzen: „Der Deliktsort ist in der systematischen Reihenfolge erst an vierter und letzter Stelle maßgebend ... Nur wenn keine Rechtswahl getroffen wurde, das Delikt nicht mit einem anderen Rechtsverhältnis in Zusammenhang steht und die Parteien auch keinen gemeinsamen ge­ wöhnlichen Aufenthalt besitzen, ist das Tatortrecht berufen.“678 Im­ merhin fügt er alsbald hinzu: „Faktisch dürfte die Maßgeblichkeit des Ortsrechts allerdings am häufigsten sein.“679

§31: Belegenheit

Das deutsche Wort „Belegenheit“ (mit dem Adjektiv „belegen“) hat sich als juristische Sonderform für „Lage“ (und „gelegen“) erhalten, zu­ mal „Lage“ oft in einem übertragenen, nicht mehr räumlichen Sinne ge­ braucht wird (z. B. Sachlage, Rechtslage). Lateinisch sprechen wir gern von der „lex rei sitae“, die Engländer dagegen häufiger von der „lex situs“. 675 So mit Recht Huss, L’action publique et l’action civile face aux conflits de lois, in: En hommage ä Jean Constant (Lüttich 1971) 95 ff., bespr. in RabelsZ 36 (1972) 595 f. In einer Fußnote (106 N. 24) weist H. übrigens auf den psychologischen Unter­ schied von Straf- und Zivilrichter hin: Der eine prüft vor allem die Schuld, der ande­ re die Kausalität der Tat für den eingetretenen Schaden. Ein Grund mehr, den Zivil­ richter möglichst wenig an ein Strafurteil zu binden.876 * * 879 876 Vgl. I. H. Hijmans, Algemeene Problemen van IPR (1937) 91-93; Morris, The Proper Law of a Tort: Harv. L. Rev. 64 (1950/51) 881 ff., bespr. in RabelsZ 16 (1951) 651 ff.; besonders Binder, Zur Auflockerung des Deliktsstatuts: RabelsZ 20 (1955) 401 ff. 677 Nachweise bei Kropholler, Deliktsstatut (oben N. 157) 604-607. So hat die Fortgeltung der kriegsbedingten VO über die Rechtsanwendung bei Schädigungen deutscher Staatsangehöriger außerhalb des Reichsgebiets vom 7. 12. 1942 (RGBl. I 706), die auf das gemeinsame deutsche Heimatrecht abstellt, trotz der in der Vor­ auflage (S. 5 N. 8) angeführten Gegenstimmen sich in der Praxis durchgesetzt; vgl. Kropholler a.a.O. 623. 878 Kropholler a.a.O. 650. 879 A.a.O. Vgl. aber 649 N. 171 zur entsprechenden Formulierung einer (gesetzli­ chen oder staatsvertraglichen) Kollisionsnorm.

I.

Begrifflich gibt es nur für körperliche Sachen eine reale Belegenheit. Dagegen ist die Belegenheit von Rechten und Rechtsverhältnissen ein bloßes Bild wie der „Sitz“ (und demgemäß werden „Sitz“ und „Bele­ genheit“ gelegentlich synonym gebraucht). Ein subjektives Recht - sei es ein dingliches Recht oder gar eine Forderung - hat als solches keinen Ort im Raum, man kann es nur mehr oder weniger willkürlich lokalisie­ ren. Selbst das Eigentum an einem Grundstück muß nicht notwendig dort lokalisiert werden, wo das Grundstück liegt, sondern man kann sich beispielsweise eine Regel denken, wonach abgetrennte Parzellen ei­ nes einheitlichen Besitztums für Zwecke der Verpfändung oder der Ver­ erbung als am Mittelpunkt des Besitztums belegen gelten680. II.

Für die Feststellung der Belegenheit ist zu beachten, daß an die Bele­ genheit von Rechten in drei ganz verschiedenen Zusammenhängen ange­ knüpft wird, und demgemäß ist zu unterscheiden. 1. Im Kollisionsrecht der staatlichen Zwangsmaßnahmen, also im In­ ternationalen Verwaltungs- und Vollstreckungsrecht, kommt es darauf an, wieweit der Staat mit hoheitlicher Gewalt über ein Recht verfügen, insbesondere es beschlagnahmen und enteignen kann. Hier sollte jedes Land bei der Anerkennung oder Nichtanerkennung fremder Maßnahmen und daher vernünftigerweise auch bei seinen eigenen Maßnahmen im Interesse einer internationalen Übereinstimmung auf einen Ort abstel­ len, an welchem das Recht in der Regel verwirklicht wird: Sachenrechte am jeweiligen Lageort der betreffenden Sache, unabhängig von einem etwaigen Registrierungsort681; Bargeld und sonstige Inhaberschuldver­ schreibungen, die mehr für den Umlauf als für die Einziehung bestimmt 680 Vgl. BGH 11. 12. 1956, BGHZ 22, 317 = IzRspr. 1954-57 Nr. 404b: Im nord­ westdeutschen Raum besteht ein Gewohnheitsrecht des Inhalts, daß im Nachbarland liegende, von einem Hof (Anerbengut) aus bewirtschaftete Grundstücke („Ausmärker­ grundstücke") rechtlich als Bestandteil dieses Hofes gelten und sich nach dem Recht des Landes vererben, in dem der Hof (das Anerbengut) liegt. 681 Eine staatsvertragliche Ausnahme besteht im Interesse des internationalen Ver­ kehrs für das rollende Material der Eisenbahnen: Nach Art. 56 § 3 des Berner Über­ einkommens über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 7. 7. 1970 (BGBl. 1974 II 381) kann dieses Material nur aufgrund der Entscheidung eines Gerichtes desjenigen Staates mit Arrest belegt oder gepfändet werden, dem die Eisenbahn angehört.

sind, an dem Orte, wo sie sich gerade befinden (zweifelhaft682); andere Forderungen am Sitz des Schuldners, auch wenn dieser sonstwo Vermö­ gen hat, in das vollstreckt werden könnte; Gesellschaftsrechte am Sitz der Gesellschaft und nicht etwa dort, wo eine Urkunde über das Gesell­ schaftsverhältnis aufbewahrt wird oder zirkuliert.

2. Im Recht der internationalen Zuständigkeit - in der streitigen und freiwilligen Gerichtsbarkeit - geht es nur um die Zweckmäßig­ keitsfrage, an welchem Orte die betreffenden Rechte am bequemsten er­ faßt werden. Hier wird daher anstelle der wechselnden Belegenheit des materiellen Substrates öfter der Ort der Registrierung oder auch der Wohnsitz des Inhabers entscheidend sein683.

3. Im eigentlichen IPR dient die Belegenheit als Anknüpfungsmo­ ment für das Statut dinglicher Rechte. Diese werden am besten nach der Rechtsordnung behandelt, in welche sie im ganzen eingebettet sind. Be­ sondere Schwierigkeiten bereiten hier die sog. „res in transitu", seien es grenzüberschreitende Verkehrsmittel (dazu unten § 32), seien es Waren auf dem Transport. Für beide Arten von Mobilien ist der tatsächliche „Lage"-Ort im Augenblick der Vornahme eines Rechtsgeschäftes (etwa einer Verpfändung) oft gar nicht mit Sicherheit festzustellen. Bei Wa­ ren auf dem Transport erscheint die Lokalisierung am Bestimmungsort (also eine fiktive Belegenheit) als die beste Lösung684. Als anschauliches Beispiel der unterschiedlichen Lokalisierung ein und dersel­ ben Sache je nach dem Zusammenhang sei der alte Fall der Baseler Droschken genannt, die nach dem Recht der Stadt Basel dort als Zubehör einer Fuhrhalterei „verliegenschaftet“ und mit dem Grundstück verpfändet worden waren, dagegen nach dem Recht von Baden, wo sie sich im fraglichen Zeitpunkt tat­ sächlich befanden, von anderen Gläubigern als Mobilien gepfändet wurden. Das OLG Karlsruhe hat hier nach dem Recht der tatsächlichen Lage im Au­ genblick der Pfändung geurteilt685. *In einem Erbstreit wäre es 'dagegen wohl angemessen gewesen, unabhängig von der zufälligen Lage beim Tode des Erb­ lassers das Baseler Recht des Grundstücks entscheiden zu lassen. 682 Vgl. KG 3. 2. 1961, IPRspr. 1960-61 Nr. 79. 883 In § 2369 II BGB wird für die Zuständigkeit zur Erteilung eines * (gegenständ­ lich beschränkten) Erbscheins außer auf den Ort der Registrierung auf den Ort der möglichen Prozeßführung abgestellt. Das ist ein Gerichtsstand des Zusammenhanges. 684 Vgl. Markianos, Die res in transitu im deutschen IPR: RabelsZ 23 (1958) 21, 38 ff. 685 OLG Karlsruhe 12. 12. 1892, PucheltsZ für franz. Civilrecht 25 (1894) 46 (49 f.).

In allen drei Fällen ist es eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob man ein Recht als möglicherweise an mehreren Orten belegen ansieht (etwa im Sinne einer fakultativen Zuständigkeit) oder es nur an einer einzigen Stelle lokalisieren will686. Eine reale Belegenheit eines Rechtes, an die man anknüpfen könnte, gibt es jedenfalls nicht.

III. Die Bedeutung der Belegenheit im eigentlichen IPR ergibt sich aus der Abgrenzung des (Einzel-)Sachstatuts für dingliche Rechte von zwei an­ deren Statuten: Einerseits steht es im Gegensatz zum Gesamtstatut, das ein Gesamtvermögen (im Familien- oder Erbrecht, eventuell im Han­ delsrecht) als solches erfaßt - dazu unten § 38: Näherberechtigung. Anderseits ist das Sachstatut zu unterscheiden vom Kausalstatut, d. h. dem Statut des Kausalgeschäftes, das einem Rechtserwerb oder -Verlust zugrunde liegt. Das Kausalstatut (nicht zu verwechseln mit der lex causae, siehe oben §14 14 vor N. 348) steht dem Sachstatut bei der Entstehung und Über­ tragung von dinglichen Rechten nicht alternativ gegenüber, sondern bei­ de ergänzen einander: Die Möglichkeit der Entstehung oder Übertra­ gung eines bestimmten dinglichen Rechtes sowie dessen Ausgestaltung im einzelnen richten sich zur Vermeidung von Rechtsverwirrung allein nach dem Sachstatut des betreffenden Gegenstandes. Die Verwirkli­ chung der Rechtsentstehung oder -Übertragung im Einzelfall muß da­ gegen (außer bei „abstrakten“ Vorgängen wie einer rechtsgeschäftlichen Übereignung oder Pfandbestellung) durch das Kausalstatut ausgelöst werden. So entsteht zwischen französischen Ehegatten, die nach französischem Ehe­ güterrecht leben, im Ausland keine Generalhypothek, wenn die ausländische lex situs diese nicht zuläßt, aber auch umgekehrt nicht zwischen ausländischen Ehegatten mit ausländischem Güterstand in Frankreich, wenn die ausländische lex causae etwas Derartiges nicht vorsieht. Ebenso kann ein Unternehmer in Deutschland aufgrund eines Werkvertrages, der dem englischen Recht unter­ steht, kein englisches „lien“, sondern nur ein „Unternehmerpfandrecht“ im Sinne des deutschen Sachstatuts erhalten - ob er es aber tatsächlich erhält,688 688 Vgl. Wengler, in: Festschrift der Jurist. Fakultät der F. U. Berlin (1955) 319 f.: Wenn eine Steuernorm auf den „Lageort“ abstellt, so wird man die Möglichkeit mehr­ facher Belegenheit eines Vermögensrechtes je nachdem als denkbar annehmen oder aber ablehnen, ob es sich um eine staatsvertraglich nicht gebundene Vorschrift oder um eine Bestimmung in einem Doppelbesteuerungsabkommen handelt.

hängt vom englischen Kausalstatut ab (nämlich davon, ob dessen Regeln über das lien auch die Entstehung eines deutschen Pfandrechtes tragen, was wohl zu bejahen ist). Entsprechendes gilt bezüglich der Rechte des Erben am Nachlaß für das Verhältnis von Sachstatut (bzw. bei Forderungsrechten des Erblassers: Forde­ rungsstatut) und Erbstatut: Das eine bestimmt, ob ein dinglicher Nießbrauch zulässig ist; dagegen hat das andere nicht nur zu sagen, ob ein solches Recht in concreto entstehen soll, sondern auch, ob es ex lege entsteht oder ob eine beson­ dere Bestellung erforderlich ist, die gegebenenfalls wiederum nach dem Sach­ statut zu erfolgen hat687. 688 Übrigens gilt eine parallele Unterscheidung für den Übergang einer Forde­ rung: Ob sie den Inhaber wechseln kann oder höchstpersönlich ist, entscheidet das Statut der Forderung; in welchen Fällen sie übergeht, bestimmt sich nach dem Statut der jeweiligen causa688. Zum Statutenwechsel siehe unten § 39 III 3 a. E.

5 32: Flagge

I. Internationaler See- und Luftverkehr gehören mit Recht zu den bevor­ zugten Gebieten der internationalen Rechtsvereinheitlichung, weil in der See- und Luftfahrt die spezifisch internationalen Sachverhalte schon mengenmäßig nicht nur Randerscheinungen darstellen. Jedoch weist das Netz der internationalen Verträge räumlich und gegenständlich so viele Lücken auf, daß die Existenz von Kollisionsrecht nicht überflüssig ist. Das Privatrecht der Raumflugkörper dürfte eine ähnliche Entwicklung nehmen689. Dabei sind die Besonderheiten des See-, Luft- und Welt­ raumverkehrs gegenüber dem Landverkehr auf Straßen und Schienen nicht so ausgeprägt, daß jede Gemeinsamkeit zu leugnen wäre. Gewiß 687 Anders Ferid, Franz. Zivilrecht (oben N. 349) II 1413 N. 71: „Wie der Nieß­ brauch entsteht, ist eine von der lex rei sitae, nicht vom Erbstatut zu entscheidende Frage.“ 688 Vgl. Beemelmans, Das Statut der cessio legis ...: RabelsZ 29 (1965) 511 (512, 522): Zessionsgrund-Statut. 689 Die erste einheitliche privatrechtliche Bestimmung für diese ist - soweit ich sehe - ein Haftungsausschluß, nämlich Art. 13 des Sonderübereinkommens zu dem Über­ einkommen zur vorläufigen Regelung für ein weltweites kommerzielles Satelliten-Fernmeldesystem vom 20. 8. 1964, BGBl. 1965 II 1499 (1519) - vgl. jetzt Art. 18 des Be­ triebsübereinkommens über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „Intelsat“ vom 20. 8. 1971, BGBl. 1973 II 308 (325).

kann die Tatsache, daß Schiffe und Flugzeuge häufiger als Landfahr­ zeuge sich in fremden Hoheitsgebieten oder außerhalb jeden Hoheitsge­ bietes aufhalten und dort Gegenstand privatrechtlicher Geschäfte wer­ den, die partielle Ersetzung der jeweiligen lex rei sitae als Sachstatut durch das Recht der Flagge rechtfertigen (Näheres unten III); die da­ durch erzielte größere Kontinuität liegt im Interesse einheitlicher An­ knüpfung aller Rechte am Schiff bzw. Flugzeug und entspricht den neueren ausländischen Gesetzen sowie der heute überwiegenden Lehre. Jedoch besteht kein Anlaß, z. B. das grundsätzliche Verhältnis von Kau­ sal- und Sachstatut im Seerecht anders als sonst zu bestimmen (dazu un­ ten III a. E.). II. Als spezifische Anknüpfungen des See- und Luftverkehrs gibt es eine Gruppe von miteinander konkurrierenden Anknüpfungsmerkmalen, die zwar meistens, aber nicht notwendig zusammenfallen. Das bekannteste ist die Flagge oder Nationalität (Staatszugehörigkeit) eines Schiffes oder sonstigen nicht landgebundenen Fahrzeugs; sie wird in erster Linie durch die Staatsangehörigkeit des Eigentümers bestimmt690. Die ande­ ren möglichen Anknüpfungsmomente sind: der Registrierungsort, in des­ sen Register das Fahrzeug eingetragen ist; bei See- und Binnenschiffen der Heimathafen bzw. Heimatort, von dem aus die Schiffahrt betrieben wird; bei einem sonstigen Fahrzeug der Standort, von dem aus es seine Reisen zu unternehmen pflegt und zu dem es in der Regel wieder zu­ rückkehrt. Während z. B. bei Schiffszusammenstößen zuerst nach der Flagge gefragt wird, ist für die Eintragung dinglicher Rechte in das Schiffsregister dessen Ortsrecht maßgebend und für den Gerichtsstand des Reeders im allgemeinen der Heimathafen. Weitere Komplikationen sind möglich691. 690 Über die Einschaltung einer ausländischen Gesellschaft als Strohmann (sog. „Ausflaggen“) siehe oben § 25 II nach N. 527. 691 Vgl. etwa Art. 1 der Brüsseler Resolution des Institut de Droit international von 1963 über „Conflits de lois en matiere de droit aerien“ (Ann. Inst. Dr. int. 50 II 365 ff., dazu Makarov, RabelsZ 29 [1965] 454 ff.): „Au sens des articles suivants, la loi nationale d’un aeronef est celle de l’Etat sur les registres duquel cet aronef est immatricule. Toutefois, sauf en ce qui concerne les droits reels vises ä l’article 2, la loi nationale d’un aeronef affrt sans equipage par un entrepreneur qui est ressortissant d’un Etat autre que l'Etat d’immatriculation de l’aeronef est, pour la periode d'affrtement, celle de l’Etat dont l’affreteur est ressortissant.“

III. Hinsichtlich der praktischen Bedeutung dieser Anknüpfungen ist da­ nach zu unterscheiden, ob sie mit einem innerstaatlichen Handlungs­ oder Lageort konkurrieren oder nicht.

1. Auf, unter und über der hohen See oder dem staatsfreien Polareis sowie im Weltraum bieten die genannten Anknüpfungen einen nützli­ chen Ersatz für jedes rein örtliche Anknüpfungsmoment. Obwohl völ­ kerrechtlich das Schiff kein „territoire flottant", kein Bestandteil des hei­ matlichen Hoheitsgebietes ist692, werden sowohl Rechtsgeschäfte als auch unerlaubte Handlungen an Bord im allgemeinen so behandelt, als wären sie im Flaggenstaat erfolgt. Auch beim Zusammenstoß zweier Schiffe, Flugzeuge oder Raumkörper außerhalb eines nationalen Ho­ heitsgebietes läßt sich das geschädigte Fahrzeug als Verletzungsort und daher nach der oben (S 30 III) vertretenen Auffassung vom Begehungs­ ort sein Recht als lex loci delicti ansehen. Diese Lösung hat zudem den Vorzug, daß dabei kein Schädiger sich auf be­ sonders liberale Haftungsvorschriften seines Flaggenstaates berufen oder gar im Vertrauen auf solche Vorschriften rücksichtslos gegenüber kleineren Fahrzeu­ gen das Recht des Stärkeren in Anspruch nehmen kann. Anderseits ist nicht zu befürchten, daß durch die Erwartung noch so hoher Entschädigungsansprüche nach eigenem Recht jemand sich verleiten läßt, eine erhebliche Beschädigung seines Fahrzeugs zu riskieren. - Allerdings führt bei gegenseitigen Ansprüchen aus Beschädigung die Anknüpfung an die Flagge ‘des geschädigten Fahrzeugs nicht zu der wünschenswerten einheitlichen Beurteilung von Verschulden, Be­ weislast, Schadensteilung und Haftung für Dritte693, falls nicht der Schaden ei­ ner Seite deutlich überwiegt oder beide Rechte im wesentlichen übereinstim­ men.

Schließlich dient das Heimatrecht (sei es das Flaggen- oder das Regi­ sterrecht) als lex rei sitae für dingliche Rechte am Fahrzeug und für Ge­ genstände an Bord.

2. In und über fremdem Hoheitsgebiet - also in fremden Häfen und Territorialgewässern bzw. auf ausländischen Flugplätzen und über einem fremden Territorium - treten das Recht der Flagge und die andern ge­ nannten Anknüpfungen als fiktives Ortsrecht mit dem wirklichen Orts­ 892 Vgl. Verdross, Völkerrecht (oben N. 49) 281. 693 Die Notwendigkeit dieser Einheit betont BGH 29. 1. 1959, BGHZ 29, 237 (240) = IPRspr. 1958-59 Nr. 73 (S. 278).

recht in Konkurrenz. Vorbehaltlich abweichender Einzelregeln des posi­ tiven Rechts läßt sich sagen: Für einmalige Akte, die an einem klar fest­ stellbaren Ort erfolgen (Handlungen an Bord, Aktiv- und Passivunfälle des Fahrzeugs) ist das Recht dieses Ortes maßgebend. Dagegen für Dau­ errechtsverhältnisse (dingliche Rechte, Charterverträge, Arbeitsverhält­ nisse) sowie bei einmaligen Akten, für deren Zeitpunkt der Standort des Fahrzeugs nicht genau ermittelt werden kann, ist als Ortsrecht im Inter­ esse der Kontinuität bzw. der Rechtsklarheit am besten das Recht des Fahrzeugs anzuwenden694. Im übrigen gelten für das Verhältnis der verschiedenen Statute zuein­ ander - z. B. von Sach- und Kausalstatut - die allgemeinen Regeln. So müssen zur Entstehung eines Schiffsgläubigerrechtes wie jeden gesetzli­ chen Pfandrechts das Sachrecht und das Statut der zu sichernden Forderung Zusammenwirken; nur ist als Sachstatut hier nicht die lex rei sitae, sondern das Flaggenrecht anzusehen. Dieses Recht bestimmt, ob besitzlose und nicht im Schiffsregister eingetragene Pfandrechte entstehen können, während über die einzelnen Entstehungsgründe - ob z. B. Lieferungen an das Schiff geschützt sind - die jeweilige lex causae entscheidet. Das Flaggenrecht muß auch die Rangordnung der verschiedenen Rechte regeln. - Im Falle des Flaggenwech­ sels bleiben gemäß allgemeinen Grundsätzen die einmal begründeten Rechte bestehen, soweit ihre Existenz mit dem neuen Statut vereinbar ist (siehe unten § 39: Statuten wechsel). Bei arglistigem Flaggenwechsel, durch den lästige Schiffsgläubigerrechte abgeschüttelt werden sollen, mag nach den allgemeinen Regeln über die fraus legis (oben § 25) verfahren werden. - Auch „billige“ Flaggen sind kein spezielles Problem der Schiffsgläubigerrechte, sondern kön­ nen nach den allgemeinen Mißbrauchsregeln behandelt werden.

S 33: Parteiautonomie

I.

Der Terminus „Autonomie“ bezeichnet in Deutschland seit alters das Recht gewisser Körperschaften und hochadeliger Familien, sich selbst Gesetze zu geben. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde der Begriff ausgedehnt auf die Freiheit aller Rechtsgenossen, den Inhalt 694 Diesen Grundsätzen entspricht im wesentlichen die in N. 691 angeführte Reso­ lution des Institut de Droit international, die größtenteils auf Vorschlägen von Maka­ rov beruht und einstimmig angenommen wurde.

eines Rechtsgeschäftes (besonders eines Vertrages) entweder direkt durch Festlegung im einzelnen oder indirekt durch Wahl der maßgebenden Rechtsordnung zu bestimmen695. In diesem Doppelsinn von materiell­ rechtlicher und kollisionsrechtlicher Bestimmungsfreiheit verwendet der französische Sprachgebrauch noch heute den Ausdruck „autonomie de la volonte“696. 697 Im heutigen Deutschland wird überwiegend unterschieden: Man be­ zeichnet die privatrechtliche Autonomie im alten Sinn und die materiel­ le Vertrags- und Testierfreiheit als ^Privatautonomie^ , dagegen die kol­ lisionsrechtliche Freiheit der Rechtswahl (Verweisungsfreiheit) als »Parteiautonomie^1. Der zweite Name wird oft auch für eine Zwischen­ form verwendet, die besser »materiellrechtliche Verweisung heißt; durch sie werden im Rahmen der zwingenden Vorschriften des eigent­ lich anwendbaren Rechtes gewisse Normen einer anderen Rechtsordung zum Vertrags- oder sonstigen Geschäftsinhalt gemacht, und zwar nicht durch wörtliche Wiedergabe, sondern mittels summarischer Bezugnahme (italienisch: recezione negoziale). - Die Feinheiten der Terminologie sind historisch zufällig, aber man muß sie beachten, um Mißverständnis­ se zu vermeiden. Im übrigen ist zu unterscheiden zwischen der direkten Rechtswahl durch (ausdrückliche oder stillschweigende) Bestimmung der anwendba­ ren Rechtsordnung und der indirekten Rechtswahl durch freie Entschei­ dung zwischen zwei Anknüpfungsmomenten (z. B. zwischen zwei mögli­ chen Handlungsorten), wenn von dieser Entscheidung die Maßgeblich­ keit der einen oder der anderen Rechtsordnung abhängt. Im letzteren Fall kann man wieder unterscheiden zwischen redlicher und fraudulöser Verwirklichung des Anknüpfungsmomentes (vgl. oben 25 I 2). 695 Vgl. etwa Wächter (oben N. 272) 35. 696 Vgl. etwa Dalloz, Rep. Dr. civ. I (1951) 428 f., neuerdings einerseits ebd.2 (1970) s. v. Acte nos. 12 s., anderseits Rep. d.i.p. I (1968) 204. - Dieser von dem deutschen Emigranten Foelix (oben N. 557) no. 94 - trotz des Widerspruchs von Sa­ vigny 112 f. - vermittelte Sprachgebrauch wird in Frankreich begünstigt durch Art. 1134 I C. c.: „Les conventions legalement formees tiennent lieu de loi a ceux qui les ont faites." 697 Ebenso unterscheidet zwischen materieller „autonomie de la volonte“ und kolli­ sionsrechtlicher „autonomie des contractants“ Evrigenis, siehe Rev. crit. 61 (1972) 839. - Die englische Bezeichnung „choice of law“ hat wiederum eine allgemeinere Bedeu­ tung: sie bezieht sich zwar ebenfalls allein auf das Kollisionsrecht, umfaßt aber nicht nur die Rechtswahl durch die Parteien, sondern auch diejenige durch den Richter oder den Gesetzgeber, also den gesamten Bereich der Frage nach dem anwendbaren mate­ riellen Recht im Gegensatz zur „jurisdiction“, der internationalen Zuständigkeit im prozessualen Sinne.

II. Der Bereich der Parteiautonomie ist (wie im Internationalen Zivilpro­ zeßrecht der Bereich der Prorogation, also freien Gerichtswahl) im we­ sentlichen auf diejenigen Gegenstände beschränkt, für welche die Partei­ en auch materiellrechtlich Gestaltungsfreiheit genießen. Dagegen beste­ hen für die Materien des überwiegenden ius cogens im allgemeinen zwingende Kollisionsnormen (und unabdingbare Gerichtsstände), wenn nicht gar der höchste Grad des staatlichen Zwanges Platz greift, näm­ lich das Erfordernis staatlicher Mitwirkung bei der materiellen Rechts­ gestaltung, dem die bevorzugte Anwendung inländischen Rechts (bzw. eine ausschließliche inländische Zuständigkeit) entspricht. Demgemäß spielt die Parteiautonomie in der Hauptsache für schuldrechtliche Ver­ träge eine Rolle698 (vielfach einschließlich der Güterrechts Verträge699). Bisweilen gilt sie aber auch für andere Rechtsverhältnisse700; hervorge­ hoben seien die Behandlung deliktsrechtlicher Ansprüche701 sowie Ehe­ schließung und -Scheidung702. 698 - und zwar für die Form auch in der Weise, daß die Parteien die alternative Geltung des Ortsrechtes ausschließen können: BGH 3. 12. 1971, BGHZ 57, 337 = IPRspr. 1971 Nr. 11. 609 Daß „die Parteiautonomie im Ehegüterrecht modern zu werden scheint“, kon­ statiert Siehr, Die Reform des deutschen internationalen Privat- und Zivilverfahrens­ rechts: Schw. Jb. Int. R. 29: 1973 (1974) 171 (236 mit Belegen in N. 352). 700 Am weitesten geht unter den geltenden Gesetzen wohl § 7 I des japanischen IPR-Gesetzes von 1898: „Die Entstehung und die Wirkung von Rechtsgeschäften rich­ ten sich nach den Gesetzen des Landes, die nach dem Willen der Parteien maßgebend sein sollen.“ - Für juristische Personen liegt eine Zulassung freier Rechtswahl unter der Bedingung, daß die gewählte Rechtsordnung zustimmt, in der sog. Gründungstheo­ rie (oben § 26 III). - Zum Sachenrecht siehe etwa Drobnig, RabelsZ 32 (1968) 460-462 (sehr vorsichtig), sowie (weitergehend) Hans Stoll, RabelsZ 38 (1974) 452-457 (vgl. unten N. 834). 701 Vgl. Kropholler, Deliktsstatut (oben N. 157) 634-642. 702 In Frankreich haben die Parteien trotz Widerspruchs der Theorie (vgl. Georges Holleaux, FamRZ 1963, 638) nach der Praxis in gewissem Maße sowohl bei der Ehe­ schließung (Instruction generale relative ä Petat civil vom 21. 9. 1955, Artt. 473 ff., Rev. crit. 44 [1955] 595 f.) als auch bei der Ehescheidung (Cass. 12.5.1959 [Bisbal], Rev. crit. 49 [1960] 62) die Wahl, ob sie sich auf ihr Heimatrecht berufen oder nach französischem Recht beurteilt werden wollen. - In Belgien wurde die inländische Eheschließung eines Persers mit einer Belgierin als vertragliche Unterwerfung unter das belgische Eherecht behandelt: Trib. corr. Bruxelles 12. 6. 1953, Rev. crit. 43 (1954) 376. In manchen Ländern können die Verlobten durch die Wahl der Eheschließungs­ form zugleich das für ihre Ehe maßgebende materielle Ehegültigkeits- oder Schei­ dungsrecht in gewissem Umfang selbst bestimmen; vgl. für Italien, Portugal (bis 1975, siehe oben N. 416) und für die Dominikanische Republik FamRZ 1955, 308 bei N. 46-48, für Indien secs. 24 ff. des Special Marriage Act 1954, für England - soweit der Charakter einer Ehe als monogam oder polygam in Rede steht - Dicey/Morris,

Die Einschränkung der Vertragsfreiheit, die zum Schutze der Schwachen be­ sonders im Arbeitsrecht erfolgt, ferner im Bereich der sog. Konsumentenverträ­ ge (Abzahlungskauf-, Miet-, Versicherungs- und Kreditverträge für den priva­ ten Bedarf) und für die private Kapitalanlage, zieht Tendenzen zur entspre­ chenden Begrenzung der Parteiautonomie (wie auch der prorogatio fori) nach sich, jedenfalls für Verträge, die überwiegend von solchen Schutzbestimmungen geprägt sind703. 704 705 Sehr umstritten ist in den letzten Jahren die Zulässigkeit der Rechtswahl im Erbrecht1^, Wer im materiellen Erbrecht die Testierfreiheit als grundlegend und das gesetzliche Erbrecht im wesentlichen als Ausdruck des vermuteten Erb­ lasserwillens ansieht, wird auch zur möglichst weitgehenden Anerkennung der kollisionsrechtlichen Rechtswahl neigen. Wer dagegen die gesetzliche Erbfolge als das Normale und die testamentarische nur als beschränkte Ausnahme be­ trachtet, lehnt die Parteiautonomie im Erbrecht lieber ab. Aussicht auf allge­ meine Annahme hat wohl am ehesten die Kompromißlösung, dem Erblasser eine beschränkte Rechtswahl zwischen den drei verbreitetsten Anknüpfungen des Erbstatuts zu gewähren, nämlich zwischen der Staatsangehörigkeit, dem Wohnsitz (oder gewöhnlichen Aufenthalt) und - speziell für Immobilien dem Lageort706.

Soweit die Parteiautonomie ausgeschlossen ist, darf sie auch nicht etwa zugunsten des inländischen Rechts geltend gemacht werden. Der Richter kann also nicht die Unbequemlichkeit, etwa in Ehescheidungs­ oder Unterhaltssachen ausländisches Recht anzuwenden, dadurch ver­ meiden, daß er aufgrund eines wirklichen oder konstruierten Parteiwil­ Rule 36. - Über die Bedeutung des (mehr oder weniger) frei zu wählenden Ortes der Eheschließung für die Auflösbarkeit der Ehe siehe oben § 30 I 2 c. Kritisch zur Rechtswahl im Familienrecht für Deutschland u. a. Ansay/Martiny, Die Gastarbeiterfamilie im Recht, in: Ansay/Gessner, Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht (1974) 171 (206): sie befürchten, „daß sich der Gastarbeiter, selbst wenn er beim Heimatrecht bleiben will, gegenüber dem zur lex fori drängenden deutschen Richter kaum durchsetzen würde“. 703 Siehe etwa Lando (oben N. 509) und von Hoffmann (oben N. 106). 704 Siehe besonders Dölle, Die Rechtswahl im internationalen Erbrecht: RabelsZ 30 (1966) 205 ff., dazu der Bericht über eine Referentenbesprechung im Institut von Dierk Müller in RabelsZ 31 (1967) 337 ff. (wo es auf S. 338 in Abs. 4 versehentlich heißt, ich lehnte eine Rechtswahl „innerhalb“ des Testamentes ab anstatt „außerhalb“), ferner Kühne, Die Parteiautonomie im internationalen Erbrecht (1973), bespr. in Ra­ belsZ 39 (1975) 599 ff., sowie Siehr (oben N. 699) 258, beide mit weiteren Nachweisen. Eine mittelbare Wahl des Erbstatuts erfolgt in Indien durch die Form der Eheschlie­ ßung: Nach sec. 21 des Special Marriage Act 1954 regelt sich die Beerbung von Perso­ nen, die gemäß diesem Gesetz geheiratet haben, und ihrer Abkömmlinge nach dem Indian Succession Act 1925 (und nicht nach religiösem Recht). 705 Die Wahl eines früheren Heimat-, Wohnsitz- oder Aufenthaltsrechtes als Erb­ statut sollte sich jedenfalls nicht auf dessen frühere Fassung oder gar auf ein unterge­ gangenes Recht (z. B. das Baltische Privatrecht) beziehen können.

lens inländisches Recht mit der Erklärung anwendet, die Parteien hätten sich diesem „unterworfen“706. 707 708 Überhaupt ist gegenüber der vielfachen Verwendung des Wortes „Unterwerfunga107 eine gewisse Vorsicht geboten. Es mag dahinter die Auffassung stehen, daß für den (mündigen) Menschen als sittlich verantwortliche Persönlichkeit die Unterworfenheit seines Willens unter den Willen des Gesetzgebers nur dann moralisch gerechtfertigt ist, wenn diese Unfreiheit durch eine eigene freie Handlung bedingt ist. Aber es gibt auch eine schicksalhaft gegebene Ordnung, in die sich der einzelne unabhängig von seinem Willen oder Nichtwillen fügen muß. So wird der Mensch ohne sein Zutun in eine Rechtsgemeinschaft hinein­ geboren, und es braucht ihm weder gestattet zu sein, beliebig aus dieser auszu­ treten, noch etwa, sich in eine andere Gemeinschaft ohne deren Zustimmung hineinzudrängen708.

III.

Nach der Rechtjertigung der Parteiautonomie kann in zweierlei Sinn gefragt werden709: 1. Ihre äußere (positivrechtliche) Legitimation liegt nicht in einem allgemeinen Prinzip der persönlichen Freiheit710. Vielmehr ist diese Rechtfertigung allein im geltenden staatlichen Recht zu finden: Nur das maßgebende Kollisionsrecht kann die Wahl der anzuwendenden Sach­ normen dem Ermessen der Beteiligten anheimstellen, nicht aber umge­ kehrt die Willkür der einzelnen als erster Ausgangspunkt für die Be­ stimmung der maßgebenden Rechtsordnung dienen711. Das Kollisions­ 706 Die Notwendigkeit dieser Klarstellung betont aufgrund praktischer Erfahrun­ gen Ferid, StAZ 1952, 215 sowie 1953, 280 f. 707 Etwa bei Savigny, vgl. RabelsZ 15 (1949-50) 374 f.; siehe auch oben § 20 II 1 a. E. 708 Übertrieben daher die These von Puy Muoz, Doctrina social de la Iglesia sobre la emigraciön: Rev. Gen. Leg. Jur. (N.S.) 68 (1974) 247 (274 f.): „Todo hombre ... tiene derecho... a emigrar por su particular inters y... a integrarse plenamente, si tal es su voluntad, en el seno de la comunidad en que acta.“ 709 Vgl. hierzu sowie zu IV und V SUMAMPOUW (oben N. 56). 710 Insbesondere scheint es mir übertrieben, für die Bundesrepublik Deutschland eine kollisionsrechtliche Parteiautonomie ebenso wie die materiellrechtliche Privatauto­ nomie aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) her­ zuleiten. Denn die Freiheit der Willenserklärung impliziert nicht notwendig die Frei­ heit summarischer Bezugnahme auf fremdes Recht unter Ausschließung selbst zwingen­ den inländischen Rechts (vgl. unten IV 2). - Allgemein zur Bedeutung der Verfas­ sung für das IPR oben § 5 III. 711 Freilich kommt es auf die Feststellung, welches im Einzelfall das maßgebende Kollisionsrecht ist - eine Frage, die besonders vor internationalen Gerichten Zweifel-

recht selbst ist also der „archimedische Punkt“, von dem aus die Geltung des inländischen materiellen Rechts aus den Angeln gehoben werden kann712. Dabei besteht die Möglichkeit, fremdes Recht als maßgebend zu erklären, nicht nur für die rechtlichen Wirkungen von Rechtsgeschäf­ ten, sondern auch für deren Gültigkeit einschließlich der Gültigkeit eben der Erklärung über das maßgebende Recht. Die Prüfung dieser Erklärung (sei es ein einseitiger Akt, sei es ein Verweisungsvertrag) nach dem gewähl­ ten Recht bedeutet keine petitio principii713. Vielmehr ist die Erklärung das Tatbestandsmerkmal, an welches das Kollisionsrecht die Maßgeblich­ keit der gewählten materiellen Rechtsordnung anknüpft714, und zwar zu­ nächst die Erklärung als Faktum - der Anschein, der erweckt wurde715 für die Prüfung ihrer rechtsgeschäftlichen Gültigkeit und dann die gülti­ ge Erklärung für die Prüfung des ganzen Rechtsgeschäftes716. Nur die Deutung von Schweigen als Zustimmung zur Rechtswahl eines andern sollte zur Vermeidung von Überraschungen nicht einfach nach dem an­ geblich gewählten Recht erfolgen, sondern bei Einlassung in Vorver­ handlungen nach dem objektiven Vertragsstatut, mangels Einlassung nach dem für den Schweigenden bei Empfang der Erklärung maßgeben­ den Recht (seil, seines gewöhnlichen Aufenthalts oder Sitzes)717. 2.

Die innere (rechtspolitische) Berechtigung der freien Rechtswahl

haft sein kann meistens nicht an, da in der Regel alle in Betracht kommenden Kol­ lisionsrechte in diesem Punkt dem bestehenden internationalen Gewohnheitsrecht fol­ gen. Eben deshalb bekennen sich internationale (Schieds-) Gerichte mangels anderer all­ gemein anerkannter Regeln über das Vertragsstatut gerne zur unbeschränkten Partei­ autonomie (notfalls zum vermutlichen Parteiwillen, vgl. unten § 34); Nachweise etwa bei Hambro, in: Varia juris gentium, Liber amicorum Francois (Leiden 1959) 135-138. 712 Vgl. dazu und zum folgenden Dölle, RabelsZ 17 (1952) 170, 173 f. 713 Zu Unrecht nannte Judge Learned Hand in E. Gerli & Co. v. Cunard S. S. Co., 48 F. 2d 115, 117 (2d Cir. 1931), die Bestimmung des für die Wirksamkeit einer Vereinbarung maßgebenden Rechts durch die Parteien einen Versuch, sich an den eige­ nen Schuhbändern hochzuziehen (to pull on one’s bootstraps). 714 In diesem Sinne schon die 1. BGB-Kommission (1887) Protokoll 11 508 = HARTwieg/Korkisch, Die geheimen Materialien zur Kodifikation des deutschen IPR (1973) 95: „Der Wille der Parteien bilde nur die Voraussetzung, an welche diese Anerken­ nung [der Geltung des gewählten Rechtes] sich anknüpfe.“ 715 Raape, IPR 468; zustimmend BGH 29. 11. 1961, IPRspr. 1960-61 Nr. 40 (S. 137), aufgrund eines Gutachtens des Instituts. 716 Ein zwiespältiger Rechtsschein, so daß von zwei Rechtsordnungen keine den stärkeren Anschein für sich hat, zusammen mit divergierender Bewertung durch die beiden Rechtsordnungen - dieses theoretisch denkbare Dilemma wird praktisch kaum vorkommen. 717 Vgl. von Hoffmann, Vertragsannahme durch Schweigen im Internationalen Schuldrecht: RabelsZ 36 (1972) 510 (519 f.).

liegt zum Teil in dem alten Grundsatz „in dubio libertas": Wenn der Gesetzgeber sich nicht entschließen kann, den Beteiligten ein bestimmtes Statut aufzuzwingen (durch Festlegung einer nicht manipulierbaren An­ knüpfung) oder überhaupt eine Anknüpfung vorzuschreiben, gibt er ih­ nen die Freiheit der indirekten bzw. der direkten Rechtswahl. Trotzdem soll man nicht die Parteiautonomie eine bloße „Verlegenheitslösung“ nennen und sie dementsprechend unbedingt auf die sachlich nächstlie­ genden Rechte beschränken. Vielmehr besteht - wie schon zu II gesagt - ein gewisser Zusammenhang zwischen materiellrechtlicher und kolli­ sionsrechtlicher Freiheit: Nur und überall dort, wo die erste besteht, ist auch die zweite angebracht718. Dabei geht freilich die kollisionsrechtli­ che Freiheit über die materiellrechtliche hinaus, indem zwingende Be­ stimmungen sozusagen mitgezogen werden, sofern für sie keine Sonder­ anknüpfung lohnt (siehe unten IV). Hinzu kommt die praktische Erwä­ gung, daß die Parteien zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsord­ nung oft am besten befähigt sind. Denn die Parteien brauchen nicht — wie das Gesetz oder wie internationale Abkommen - generelle Normen für eine unbestimmte Zahl im einzelnen nicht voraussehbarer Fälle auf­ zustellen, sondern sie können den besonderen Umständen des jeweiligen Sachverhalts Rechnung tragen. Außerdem können die Parteien sogleich bei Vertragsschluß unter mehreren objektiv in Betracht kommenden Rechtsordnungen die maßgebende eindeutig bestimmen, während der Richter immer erst später zum Zuge kommt, wenn bereits Unsicherheit entstanden ist. Insofern ist es nicht berechtigt, aus dem allgemeinen Rückgang der materiellen Privatautonomie zugunsten staatlicher Rege­ lung sogleich zu folgern, daß jede Erweiterung der Parteiautonomie anachronistisch sei. Immerhin sind drei Vorbehalte angebracht: a) Vor allem besteht die Gefahr, daß die Vereinbarung der Parteien nicht auf eine gemeinsame Überzeugung gegründet wird, welches Recht am besten entscheide, sondern daß der stärkere Teil die Wahlfreiheit ausnutzt, um einseitig seine Interessen durchzusetzen. Die Parteiautono­ mie verliert ihren Sinn - ebenso wie die materiellrechtliche Vertrags­ freiheit -, wenn sie zur Herrschaft des Stärkeren über den Schwachen wird. Besonders gegenüber der formularmäßigen Festlegung des maß­ geblichen Rechtes bei Massenverträgen ist daher dieselbe Zurückhaltung geboten wie gegenüber einseitigen materiellrechtlichen Klauseln Allge­ 718 Von einer „Reflexwirkung“ des internen Rechts auf das IPR spricht JESSUD’OLIVEIRA, Ned. Jbl. 1974, 1379.

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17 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

meiner Geschäftsbedingungen: Sowohl die wirksame Aufnahme derarti­ ger Klauseln in den Vertrags willen beider Parteien ist genau zu prüfen wie ihre inhaltliche Zulässigkeit719. Aber eine allgemeine, sozusagen vorbeugende Ablehnung der Rechts wähl für alle diejenigen Gebiete des Vertragsrechtes, in denen öfter eine ungleiche Verhandlungsstärke (bar­ gaining power) der Parteien und damit die Gefahr eines Mißbrauchs im Einzelfall besteht, wäre übertrieben: Abusus non tollit usum.

b) Unbrauchbar ist die Parteiautonomie für Rechtsverhältnisse, an denen auch Dritte interessiert sind (z. B. für die Erteilung einer Voll­ macht), falls die getroffene Rechtswahl nicht nach außen manifestiert wird720. c) Schließlich ist die Parteiautonomie nutzlos, wenn die Parteien von ihr keinen (gültigen) Gebrauch machen. Selbst ein gesetzlicher Zwang, etwa bei der Eheschließung das Güterstatut zu wählen, macht eine ob­ jektive Anknüpfung nicht entbehrlich für die Fälle, in denen die Eheleu­ te im Ausland geheiratet haben oder ihre Erklärung ungültig ist. IV.

Zu Gegenstand und Tragweite der Rechtswahl ist zu sagen: 1. Man hat einem offenbaren Mißbrauch der Parteiautonomie entge­ genzuwirken versucht, indem man die Rechtswahl auf bestimmte ty­ pisch naheliegende Rechtsordnungen begrenzte721 oder „eine wesentliche Beziehung zu der gewählten Rechtsordnung“ forderte722. Aber unter Umständen haben die Parteien, besonders wenn alle typischen Anknüp­ fungen nur auf ihre beiden Heimatländer verweisen, ein berechtigtes In­ teresse daran, ihre Beziehungen gerade einer „neutralen“ Rechtsordnung 719 Ein krasses Beispiel berichtet Siesby, What Law Governs Shipowner’s Liabil­ ity for Passenger’s Injury?: Ark. f. Sjorett 3 (1956-59) 196 (224 N. 14a): Ein amerikanisches Schiffsbillett enthielt im Jahre 1946 die Vertragsklausel: „Im Falle ei­ ner Gesetzeskollision genießen Schiff und Verfrachter den Schutz des ihnen günstig­ sten Gesetzes.“ 720 Vgl. Makarov, Die Vollmacht im IPR, in: Scritti di diritto internazionale in onore di T. Perassi (Mailand 1957) II 37 (51 f.), neuerdings Luther (oben N. 659) 423 f. 721 Vgl. etwa Art. 7 des polnischen IPR-Gesetzes von 1926: Recht des Heimat­ staates, des Wohnsitzes, des Ortes der Vornahme des Rechtsgeschäftes, des Erfüllungs­ ortes, des Ortes der belegenen Sache. (Dagegen fordert das Gesetz von 1965 in Art. 25 I nur noch „einen Zusammenhang“ des gewählten Gesetzes mit dem Schuldverhältnis.) 722 So § 9 des tschechoslowakischen IPR-Gesetzes von 1948. (Das Gesetz von 1963 enthält keine entsprechende Beschränkung in § 9.)

zu unterstellen oder auch demjenigen Recht, das ihnen nach seiner in­ haltlichen Ausgestaltung am meisten zusagt723. Nur für reine Inlands­ fälle ohne räumliche oder persönliche Verknüpfungen mit dem Ausland mag die Wahl einer fremden Rechtsordnung verwehrt werden724. 2. Wo die Parteiautonomie zulässig ist, da erstreckt sie sich grund­ sätzlich auch auf das zwingende Recht, z. B. bei Verträgen auf die un­ abdingbaren Vorschriften des allgemeinen und besonderen Schuldrechts, auf besondere Schutzklauseln zugunsten der wirtschaftlich Schwachen, bei Testamenten auf die Pflichtteilsnormen. Gerade hierin zeigt sich der Unterschied zwischen der kollisionsrechtlichen Verweisung auf eine fremde Rechtsordnung als ganze und der bloß materiellrechtlichen Ver­ weisung auf einzelne Bestimmungen einer fremden Rechtsordnung im Rahmen der Vertrags- (oder Testier-)Freiheit, da diese materielle Gestal­ tungsfreiheit nur von den dispositiven Vorschriften entbindet. Aller­ dings sind von dem zwingenden Schuldrecht, das dem gerechten Interes­ senausgleich zwischen den Parteien dient, die oben (§ 4 II) erwähnten Ein­ griffsnormen zu unterscheiden, also die Normen des Kriegs-, Devisen- und Wirtschaftsrechts, für welche besondere Kollisionsregeln gelten725. Die­ 723 Von „sachlichen“ Anknüpfungen (im Gegensatz zu räumlichen und persönli­ chen) spricht in solchen Fällen Gamillscheg, Rechtswahl, Schwerpunkt und mut­ maßlicher Parteiwille im internationalen Vertragsrecht: AcP 157 (1958/59) 303 (312 f.). Als Beispiele nennt er die Wahl eines bestimmten Rechtes, „weil es besonders gut ausgebildet ist, weil es den internationalen Markt in dieser Geschäftsart beherrscht, weil es den Parteien von früheren Geschäften her bekannt ist, weil es das Recht ist, dem ein anderer Vertrag untersteht, an den dieser rechtlich oder auch nur wirtschaft­ lich (Rückgriffsansprüche!) angelehnt ist, weil es ein ,neutrales Recht* ist, dessen An­ wendung keiner der Parteien gegenüber der anderen einen unbilligen Vorteil gewährt, usw.“. Ähnlich die Aufzählung in BGE 91 (1965) II 44 (51 f.). 724 Indirekt so das Haager Abkommen von 1955 über das auf Warenkaufverträge mit internationalem Charakter anwendbare Recht, indem es die Parteiautonomie zwar unbeschränkt zuläßt (Art. 2), aber seinen Anwendungsbereich auf internationale Ver­ träge beschränkt (Art. 1 I) und dazu ausdrücklich bestimmt (in Art. 1 IV): „La seule dclaration des parties, relative ä l’application d’une loi ou ä la comptence d’un juge ou d’un arbitre, ne suffit pas ä donner ä la vente le caractere international...“ Ähn­ lich Gamillscheg (vorige Note) 313. - Eine stärkere (inhaltliche) Auslandsbezie­ hung oder eine schwächere (bloß subjektive) ist für die Zulässigkeit einer Rechtswahl erforderlich je nach dem Vorwiegen zwingender oder dispositiver Normen in der betreffenden Materie nach Trinkner, AWD 1973, 32 ff. Zur Bekämpfung einer Gesetzesumgehung siehe unten IV 2 bei N. 726. 725 Nur wo diese Unterscheidung nicht getroffen wird, neigt man zur Ablehnung der kollisionsrechtlichen Parteiautonomie überhaupt. Umgekehrt formuliert denselben Gedanken F. Vischer, in: Festgabe Gerwig (Basel 1960) 190: „Je weniger die Wahl­ freiheit der Parteien beschränkt wird, desto größer ist das Bedürfnis, als notwendiges Korrektiv die obligatorische Berücksichtigung der zwingenden Normen dritter Staaten zu fördern.“

se Normen nur dem Vertragsstatut zu entnehmen und somit die Parteien selbst wählen zu lassen, welchen Eingriffsnormen sie unterworfen sein wollen, wäre absurd. Außerdem ist die Wahl einer Rechtsordnung, zu der nach dem Inhalt und nach den Umständen des Vertrages keine sach­ liche Beziehung besteht, dann als Gesetzesumgehung unwirksam, wenn sie eine zwingende, für den konkreten Fall Geltung beanspruchende Norm derjenigen Rechtsordnung bzw. inhaltsgleiche entsprechende Normen aller derjenigen Rechtsordnungen ausschaltet, auf welche die wesentlichen objektiven Elemente des Sachverhalts verweisen726. Dieser in der Theorie oft als Argument gegen die freie Rechtswahl angeführte Fall kommt jedoch praktisch kaum vor.

3. Die Kollisionsnormen der gewählten Rechtsordnung sind im allge­ meinen nicht mitgewählt, sondern nur deren Sachnormen (vgl. unten § 36 II 3). Ob einseitige Bestimmungen über den Anwendungsbereich eines Gesetzes beachtlich sind, muß im Einzelfall danach entschieden werden, ob sie gemäß ihrem Sinn und Zweck nur ein Minimum oder ein Maximum der Anwendung festlegen wollen. Im ersten Fall ist eine dar­ über hinausgehende Anwendung kraft Rechtswahl ohne weiteres mög­ lich; im zweiten Fall ist die Anwendungsnorm wie ein materielles Tat­ bestandsmerkmal anzusehen727. In § 3 des tschechoslowakischen Gesetzbuchs über den internationalen Han­ del vom 4. 12. 1963 ist die Wahl eines andern inländischen Gesetzes als dieses Gesetzbuchs ausgeschlossen: „Wenn nach IPR die tschechoslowakische Rechts­ ordnung anzuwenden ist, insbesondere wenn die beteiligten Personen das tsche­ choslowakische Recht wählen oder das tschechoslowakische bürgerliche Recht als für die Regelung des Rechtsverhältnisses maßgebend bezeichnen, wird aus­ schließlich dieses Gesetz angewandt, falls es sich um eine Beziehung im inter­ nationalen Handel im Sinne dieses Gesetzes (§ 2) handelt.“ Formell bindet die­ se Norm nur den tschechoslowakischen Richter; jedoch wird im Interesse der internationalen Entscheidungsgleichheit auch ein ausländischer Richter sie in der Regel beachten.

4. Eine Kombination von Ausschnitten aus verschiedenen Rechtsord­ nungen sollte im Rahmen der Parteiautonomie ebenso zulässig sein wie 726 Vgl. Römer, Gesetzesumgehung im deutschen IPR (1955; bespr. in RabelsZ 21 [1956] 725 f.) 167-170. Über die verschiedenen Arten der rechtlichen Begründung siehe oben § 25 II 1-3. 727 Vgl. auch De Nova, Norme autolimitate e autonomia delle parti: Dir. Int. 25 (1971) 239 ff. = Fs. Wengler II (oben N. 161) 617 ff.

aufgrund der materiellen Vertragsfreiheit728; kennen doch auch Gesetz­ gebung und Rechtsprechung eine getrennte Anknüpfung einzelner Ver­ tragselemente (der Geschäftsfähigkeit, der Form, der Erfüllungs- oder Abnahmemodalitäten, teilweise der ganzen Vertragsentstehung) oder eine Spaltung von Leistung und Gegenleistung. Immerhin ist im Zweifel nur eine partielle materiellrechtliche Verweisung anzunehmen729. Je­ denfalls dürfen keine „rechtsfreien“ Lücken entstehen, vielmehr muß für jede möglicherweise auftauchende, im Vertrag nicht behandelte Rechtsfrage eine Rechtsordnung zuständig sein (siehe unten 6)730. 5. Durch kollisionsrechtliche Verweisung darf nur eine „lebende^ Rechtsordnung gewählt werden, die bei Bedarf der Fortentwicklung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung fähig ist; es geht also nicht an, jede spätere Änderung der gewählten Rechtsordnung von vornherein aus­ zuschließen und somit ihren Bestand, wie er zur Zeit des Vertragsschlus­ ses gilt, zu „versteinern“. Wenn im Einzelfall eine bestimmte Regelung unveränderlich gelten soll, muß sie durch materiellrechtliche Verwei­ sung in das Rechtsgeschäft aufgenommen werden. Im übrigen ist viel­ leicht bei revolutionärer Umgestaltung der gewählten Rechtsordnung zu fragen, ob nicht das Prinzip der bona fides „eine Änderung des Inhaltes des VerweisungsVertrages und damit eine Änderung der Anknüpfung in­ folge total veränderter Umstände bewirkt“731. 6. Der Vertrag der Parteien allein - unter Ausschluß jeder objekti­ ven Rechtsordnung - kann nicht als Rechtsgrundlage ihrer Rechte und Pflichten anerkannt werden; denn „in absence of any ,jus cogens' inter­ national trade would be ruled by jungle law“732. Zumindest müssen die von zivilisierten Nationen anerkannten „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (siehe oben § 2 II 4) als Grenzen der Privatautonomie gelten733. 728 Für die Zulässigkeit einer partiellen Rechtswahl auch BGH 3. 12. 1971 (oben N. 698). Vgl. als Beispiel noch LG Aurich 11. 7. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 10: Unter­ stellung nur des Vertragsabschlusses unter ein fremdes Recht. 729 Zurückhaltend auch die englische Praxis, vgl. Kahler v. Midland Bank, [1950] A.C. 24, 42 (Lord MacDermott): „The courts of this country will not split the contract... readily or without good reason.“ 730 Ausführlich zum ganzen Jobst-Hubert Wiesner, Die Zulässigkeit der kolli­ sionsrechtlichen Teilverweisung im internationalen Obligationenrecht (Diss. Regensburg 1971). 731 F. Vischer (oben N. 725) 190. 732 Tallon, J.Soc.P.T.L. 10 (1968-69) 271. 733 So mit Recht besonders Batiffol in seinem Wiener Vortrag „Zur Parteiauto­ nomie im IPR“: Z.f.Rvgl. 1 (1960) 49 (53-55). Indem Batiffol eine Bezugnahme der

V.

Die Erklärung der Rechtswahl kann ausdrücklich erfolgen oder auch mittelbar (stillschweigend), z. B. durch Verwendung typischer Begriffe einer bestimmten Rechtsordnung734 oder durch die Vereinbarung eines nationalen Schiedsgerichts, von dem die Anwendung seines eigenen Rechts zu erwarten ist735. Praktisch hat die stillschweigende Rechts­ wahl vor der ausdrücklichen den Vorteil, das Prestige des Partners zu schonen, dessen Recht auf diese Weise mittelbar von der Anwendung ausgeschlossen wird, z. B. des Exporteurs aus einem Entwicklungs­ land736. Eine Vereinbarung der maßgebenden Rechtsordnung kann auch nach­ träglich (mit rückwirkender Kraft) erfolgen - sei es erstmalig, sei es als Änderung einer früheren Vereinbarung -, sofern sie nicht zu Lasten Dritter geht737. Insbesondere kommt in Fällen der Spaltung einer bis­ Parteien auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“ billigt (55), widerlegt er übrigens implicite seine These, Gegenstand der Parteiautonomie sei nicht unmittelbar die Wahl der an­ wendbaren Rechtsordnung, sondern nur die Lokalisierung des Vertrages. Zwar spricht er auch für diesen Fall davon, daß der Vertrag „sich in einem hinreichend bestimmten Milieu präsentiert“; aber was soll man sich unter dem „Milieu“ der allgemeinen Rechtsgrundsätze konkret vorstellen? 734 Dagegen ist die Vertragssprache als solche ein schwaches Indiz, da sie durch die zufälligen Sprachkenntnisse der Verhandlungspartner bedingt sein kann und da grundsätzlich ein Entgegenkommen in der Sprache ohne kollisionsrechtliche Nachteile möglich sein muß. Vgl. de Vries, Choice of Language in International Contracts, in: International Contracts (New York 1962) 14 ff. 735 Daß jedoch nicht bereits die Berücksichtigung öffentlich-rechtlicher Bestim­ mungen eines Staates als Unterwerfung unter dessen Zivilrecht anzusehen ist, zeigt Henrich, Anm. zu BGH 19. 10. 1960: JZ 1961, 262 (263). Erst recht darf man nicht eine ausdrückliche Rechtswahl übergehen, um an ihrer Stelle eine abweichende „stillschweigende Unterwerfung“ anzunehmen: Gamillscheg, Rechts wähl (oben N. 723) 311. - Eine gute Übersicht über die möglichen Formen bietet Gisela RemppKrämer, Die stillschweigende Rechtswahl (mschr. Diss. Basel 1961) 37 ff., neuerdings Lalive, Les modes non formels d’expression de la volont en d.i.p.: Trav. Ass. Capitant 20:1968 (1972) 171 f. 736 Vgl. die Stellungnahme des Deutschen Rates für IPR zu dem Entwurf von 1951 (lies: Übereinkommen vom 15. 6. 1955) über internationales Kaufrecht vom 29. 2. 1956: RabelsZ 24 (1959) 151 (154), und dazu Petersen, ebd. 6. 737 Diese Einschränkung machen mit Recht Raape, Nachträgliche Vereinbarung des Schuldstatuts, in: Festschrift G. Boehmer (1954) 111 (115), und Gamillscheg (oben N. 723) 315, beide mit Beispielen. Bedenken gegen jede Rückwirkung äußert Pfister, Die nachträgliche Vereinbarung des Schuldstatuts: AWD 1973, 440 ff.; er will nur einen materiellrechtlichen Vertrag des Sinnes anerkennen, sich gegenseitig so zu stellen, wie wenn von Anfang an die neu vereinbarte Rechtsordnung gegolten hätte. Für den Regelfall einer beiderseitigen Unwissenheit über das „an sich“ anwendbare Recht scheint mir das zu skrupulös.

her einheitlichen Rechtsordnung (Beispiele unten § 40 II) eine Rechts­ wahl unter Umständen erst von diesem Zeitpunkt an in Betracht. Berufen sich in einem Prozeß beide Parteien auf Vorschriften der lex fori oder nehmen sie eine Anwendung der lex fori zunächst wider­ spruchslos hin, so ist das nicht ohne weiteres als Ausdruck einer nach­ träglichen Vereinbarung der Parteien anzusehen738. Zum einen können sie einfach übersehen haben, daß möglicherweise ausländisches Recht anzuwenden war; zum andern sind die ProzeßVertreter im allgemeinen jedenfalls dann nicht bevollmächtigt, von sich aus eine Vereinbarung über das anwendbare Recht zu treffen, wenn diese Vereinbarung sinnge­ mäß über den Prozeß hinauswirken müßte. Es bleibt also jeder Partei unbenommen, auch in einer späteren Instanz noch die Anwendbarkeit fremden Rechtes geltend zu machen739. Erst recht ist eine beiderseitige Berufung auf die lex fori ein schwaches Indiz für einen hypothetischen Parteiwillen.

§ 34: Hypothetischer Parteiwille

Als hypothetischer, vermutlicher oder mutmaßlicher Parteiwille wird eine Rechtswahl bezeichnet, welche die Parteien nicht wirklich getrof­ fen haben - weder ausdrücklich noch stillschweigend -, die sie aber vermutlich getroffen hätten, wenn sie sich der kollisionsrechtlichen Fra­ 738 Treffend sagt das Schweizer Bundesgericht in BGE 87 (1961) II 194 (201): Ein Verweisungs vertrag „setzt... voraus, daß die Parteien einen bewußten Rechtswahl­ Willen hatten und diesen äußern wollten“; zustimmend u. a. Tomaszewski, La dsignation, posterieure ä la conclusion du contrat, de la loi qui le regit: Rev. crit. 61 (1972) 567 (575, 601). Ähnlich BGE 91 (1965) II 44 (oben N. 56) in Erw. 3 sowie BGE 99 (1973) II 315, Erw. 3a; vgl. auch Jäggi, Zur Rechtswahl im Internationalen Vertragsrecht: SchwJZ 1974, 295. Zumindest müssen die schriftsätzlichen Erklärungen der Parteien nach Treu und Glauben als Angebot und Annahme zu deuten sein: BGE 91 (1965) II 442 in Erw. 1. Anders die überwiegende Praxis des BGH, siehe Dierk Müller-Gindullis, Das IPR in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1971) 46-48, und Liesecke, in: Die Anwendung ... (oben N. 192) 186. - Eine richterliche Befragung der Parteien im Zweifelsfall fordern Schnitzer, SchwJZ 1955, 290, und Hans Jakob Maier, NJW 1962, 1346, letzterer mit dem Zusatz: „Mir scheint dies weniger eine Frage der richterlichen Aufklärungspflicht als des rechtlichen Gehörs zu sein.“ Dazu Bolka, Z.f.Rvgl. 13 (1972) 251: „Wird diese Klärung aber unterlassen, besteht im nachhinein keine Möglichkeit mehr, einen entsprechenden Parteiwillen zu konstruieren.“ 739 Vgl. Walder, Passivität = lex fori?: SchwJZ 1975, 105 (108).

ge, welches Recht maßgeblich sein soll, bewußt gewesen und über die Antwort einig geworden wären740. Als Zeitpunkt der hypothetischen Rechts wähl ist im allgemeinen der Ver­ tragsschluß anzusehen. Nur im Falle der Spaltung einer bisher einheitlichen Rechtsordnung während des Bestehens eines VertragsVerhältnisses (vgl. oben § 33 V) ist auf den Zeitpunkt der Spaltung abzustellen.

I. Sinn und Wert der Anknüpfung an den hypothetischen Parteiwillen sind umstritten.

1. Ursprünglich sollten mit dieser Rechtsfigur die objektiven Vorteile der Parteiautonomie gegenüber einer starren Anknüpfung an den Erfül­ lungsort - nämlich die stärkere Beachtung der Besonderheiten des Ein­ zelfalles und die Behandlung gegenseitiger Vertragspflichten nach ein und demselben Recht - auf Fälle tatsächlich fehlender Rechtswahl er­ streckt werden. Bereits 1908 stellte das Reichsgericht klar, „daß es sich in Ermangelung einer Vertragsbestimmung nicht sowohl um die Feststel­ lung des konkreten Willens der Parteien als um die Ermittelung dessen handelt, was die Parteien bei vernünftiger und billiger Berücksichtigung aller Umstände, wäre ihnen die Frage entgegengetreten, mutmaßlich über das anzuwendende Recht bestimmt haben würden“741. Demgemäß soll der Richter den hypothetischen Parteiwillen nicht durch psychologi­ sche Schlüsse, sondern durch Abwägung der zutage liegenden Umstände des Falles ermitteln. Damit nähert sich diese Anknüpfung derjenigen an den objektiven „Sitz“ oder „Schwerpunkt“ des Rechtsverhältnisses. Im­ merhin wurde die Feststellung des vermutlichen Willens lange Zeit als Tatsachenfeststellung bezeichnet und demgemäß der Prüfung durch eine Revisionsinstanz entzogen742. Neuerdings vermeidet der Bundesge­ 740 Vgl. Prot. 8230 = Mugdan I 277: Die vorgesehene Kollisionsnorm müsse auch den Fall erfassen, „daß... die Parteien, wenn die Frage aufgeworfen wäre, ein be­ stimmtes Recht als das für sie maßgebende bezeichnet hätten.“ - Die sprachlichen Be­ denken von Kegel, IPR 257 f., gegen die synonyme Verwendung der Worte „hypothe­ tisch“ und „mutmaßlich“ - mutmaßlich sei das Gegenteil von sicher, hypothetisch das Gegenteil von real - scheinen mir überspitzt; denn in der Regel wird ein realer Wille mit Sicherheit, ein bloß hypothetischer nur mit Wahrscheinlichkeit festgestellt. 741 RG 4. 4. 1908, RGZ 68, 203 (205). Die anschließend mit „vgl.“ angeführten Belegstellen (RGZ 38, 144 u.a.m.) enthalten diesen Hinweis noch nicht. 742 Nachweise für RG und BGH bei Müller-Gindullis (oben N. 738) 51. Im englischen Recht ist die Unterscheidung von hypothetischem Parteiwillen und

richtshof diesen Nachteil, indem er unter Berufung auf die seit 1952 im­ mer wiederholte Formel, es handle sich bei dem hypothetischen Partei­ willen um „vernünftige Interessenabwägung auf rein objektiver Grund­ lage“743, nunmehr von „ergänzender Rechtsfindung“ spricht, die als solche revisibel sei744.

2. Daneben könnte die Bezugnahme auf den vermutlichen Willen der Parteien den Richter an die konkreten Parteiinteressen erinnern und ihn so davor bewahren, aus allgemeinen Erwägungen eine Rechtsordnung für maßgebend zu erklären, die gerade für diesen Vertrag von den Be­ teiligten niemals vereinbart worden wäre. Mit Recht sagt Savigny, es sei „gewiß nicht zu vermuthen, daß sich die Parteien einem örtlichen Recht haben unterwerfen wollen, das mit ihrer Absicht völlig im Wider­ spruch stände“745. Dies setzt freilich voraus, daß der Richter die Bezug­ nahme auf den vermutlichen Parteiwillen wirklich noch als Schranke ernst nimmt und nicht unter Berufung auf einen „vernünftigen“ Willen der Parteien ein durch ganz andere Erwägungen gefundenes Ergebnis geradezu gegen ihren Willen nur mehr fiktiv auf ihren vermutlichen Konsens stützt. So wird man den Parteien eines internationalen Kauf­ vertrages nicht ohne weiteres die Wahl eines nur im Lande der einen Partei geltenden Einheitsrechtes unterstellen dürfen746, zumal wenn im Lande der Gegenseite ein ebenso modernes Einheitsrecht gilt747. Insbe­ sondere ist das etwaige Interesse der Allgemeinheit an der Anwendung bestimmter materieller Normen auf andere Weise zu befriedigen, z. B. unmittelbar gesetzlicher Regelung in anderm Zusammenhang betont worden: Nach Leyser, Austr. L.J. 33 (1959/60) 213, gilt der gesetzliche Güterstand des ersten eheli­ chen Wohnsitzes bei einem Wechsel des Wohnsitzes je nachdem unwandelbar fort oder nicht, ob er aufgrund eines stillschweigenden Vertrages (so z. B. in Frankreich) oder ex lege (so etwa in den Niederlanden) maßgebend war. Allerdings ist mir zweifelhaft, ob die englischen Gerichte wirklich einen stillschweigenden Vertrag auch dann annehmen werden, wenn die Parteien gar keine rechtliche Vorstellung gehabt haben; in dem maßgebenden Falle De Nicols v. Curliery [1900] A.C. 21, lagen besondere Umstände vor (S. 41 des Urteils). Nach Dicey/Morris 647 (zu Rule 118) ist die Frage der Un­ wandelbarkeit des Güterstandes immer noch offen. 743 BGH 1. 2. 1952, BGHZ 5, 35 = IzRspr. 1945-53 II Nr. 402b. 744 Nachweise wie oben N. 742. 745 Savigny 249. Ähnlich BGH 27. 3. 1968, IPRspr. 1968-69 Nr. 170 (obiter). 746 So aber Oskar Hartwieg, Das Einheitliche Kaufgesetz und der hypotheti­ sche Parteiwille: ZgesHR 138 (1974) 457 (477). 747 Im Ausgangsbeispiel von Hartwieg a.a.O.: der amerikanische Uniform Commercial Code. Siehe zur Konkurrenz von Einheitsgesetzen auch oben § 7 II 3 d (1) nach N. 191.

durch die Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen (oben § 33 IV 2) oder durch die Vorbehaltsklausel (unten § 49)748.

3. In drei Fällen ist jedoch die Berufung auf den hypothetischen Par­ teiwillen geradezu bedenklich: Erstens, wenn feststeht, daß die Ver­ tragsparteien keine Entscheidung über das maßgebende Recht treffen wollten (etwa weil keiner Seite auch nur ein mittelbarer Verzicht auf die Anwendung ihres Heimatrechts zugemutet werden sollte) oder daß sie sich nicht einigen konnten und jede Seite eher auf den Vertragsab­ schluß verzichtet als nachgegeben hätte - dann ist die Annahme eines mutmaßlichen Parteiwillens unsinnig. Zweitens, wenn nach den Um­ ständen wahrscheinlich die stärkere Partei die Vereinbarung des ihr ge­ nehmen Rechts durchgesetzt hätte, obwohl die überwiegenden sachli­ chen Gründe für eine andere Rechtsordnung sprachen - dann wäre es unbillig, wollte der Richter sich zum Helfer der stärkeren Partei ma­ chen. Drittens endlich, wenn die Beziehungen des Vertrages zu verschie­ denen Rechtsordnungen (etwa den Heimatrechten beider Teile) sowie die beiderseitigen Interessen sich ungefähr die Waage halten - dann fordert die Rechtssicherheit (Voraussehbarkeit der Entscheidung), daß auf ein anderes Kriterium abgestellt wird.

II. Über das Verhältnis zur objektiven Anknüpfung kann man danach folgendes sagen: Der hypothetische Parteiwille ist eingeführt worden, damit die Ge­ richte bei mangelndem realem Parteiwillen eine elastische Anknüpfung besitzen, die der Eigenart des einzelnen Vertrages Rechnung trägt, ehe die starre objektive Anknüpfung an den Abschluß- oder den Erfüllungs­ ort zum Zuge kommt. Heute geht eine starke Tendenz dahin, das objek­ tive Vertragsstatut ebenfalls nicht starr, sondern mit Hilfe unterschied­ licher Anknüpfungen für einzelne Vertragstypen zu bestimmen, die an der durchschnittlichen Interessenlage orientiert sind (und nur noch tra748 Vgl. Gamillscheg, Rechtswahl (oben N. 723) 328 gegen BGH 22. 11. 1955, BGHZ 19, 110 = IPRspr. 1954-55 Nr. 22. Die Wendung „unter Berücksichtigung des allgemeinen Interesses“ kehrt wieder in BGH 28. 10. 1965, BGHZ 44, 183 = IPRspr. 1964-65 Nr. 49. - In der englischen Entscheidung Coast Lines, Ltd. v. Hudig & Veder Chartering N.V., [1972] 2 Q.B. 34, vermuteten zwei Richter des Court of Ap­ peal die Wahl eines dem Vertrag günstigen Rechts, der dritte umgekehrt die Befolgung inländischen zwingenden Rechts.

ditionsgemäß dem „hypothetischen Parteiwillen“ zugeschrieben wer­ den). Man darf aber auch diese Anknüpfungen nicht absolut setzen, son­ dern muß unter Umständen die Anwendung einer andern Rechtsord­ nung gestatten, wenn in concreto eine Mehrzahl von Umständen auf diese Rechtsordnung verweist oder wenn ein spezielles Interesse der Par­ teien an ihrer Anwendung ersichtlich ist. Dazu bedarf es einer Aus­ weichklausel, die einerseits für besonders gelagerte Einzelfälle eine ab­ weichende Anknüpfung zuläßt und anderseits den hypothetischen Par­ teiwillen im ursprünglichen subjektiven Sinn als eine Anknüpfungsmög­ lichkeit gelten läßt (vgl. unten § 49 V). Der hypothetische Parteiwille geht also jedenfalls der fixierten ob­ jektiven Anknüpfung vor. Aber während die alte Anknüpfung an den Erfüllungsort mehr und mehr zu einer ultima ratio geworden ist, die erst bei einem Fehlschlag der Suche nach dem hypothetischen Parteiwillen gewählt wird, sollte die moderne Typenanknüpfung die Regel sein und nur ausnahmsweise durch den hypothetischen Parteiwillen ersetzt wer­ den.

V. Kapitel: Sonderfragen der Anknüpfung § 35: Rückverweisung

Von Rückverweisung (im weiteren Sinne) oder Renvoi spricht man, wenn die nach einer Kollisionsnorm maßgebende fremde Rechtsordnung nicht angewandt sein will (wenn sie die Verweisung des ersten Rechts nicht akzeptiert), sondern ihrerseits ein anderes Recht als maßgebend bezeichnet, sei es das Ausgangsrecht (Rückverweisung im engeren Sinne, renvoi au premier degre), sei es das Recht eines dritten Staates (Weiter­ verweisung, renvoi au second degre). Im letztem Fall kann das Kollisi­ onsrecht des dritten Staates wiederum, anstatt die (Weiter-)Verweisung anzunehmen, auf das zweite Recht zurück- oder auf ein anderes Recht weiterverweisen, sei es ein viertes Recht (Weiterverweisung zweiten Grades) oder auch das Ausgangsrecht, aus dessen Sicht dann im Ergeb­ nis wiederum eine Rückverweisung im engern Sinne vorliegt (Zirkelver­ weisung, mittelbare Rückverweisung). Das Recht, auf welches zurückverwiesen wird, als „rückverwiesenes Recht“ zu bezeichnen, ist sprachlich nicht weniger falsch und noch mißverständlicher als die Bezeichnung „verwiesenes Recht“ für das Recht, auf welches eine Kolli­ sionsnorm verweist (vgl. oben § 18 I).

I. Das Problem der Rückverweisung lautet heute nicht mehr, ob die Rückverweisung prinzipiell - also in allen Fällen - zu beachten oder nicht zu beachten sei, sondern die Frage ist nur noch, in welchen Fällen der Rückverweisung Folge geleistet werden soll, ob insbesondere im Zweifel ihre Befolgung als Regel oder als Ausnahme zu gelten hat. Die radikale Theorie der „Gesamtverweisung“, wonach jede Kollisi­ onsnorm auf eine Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit unter Einschluß der Kollisionsnormen dieser Rechtsordnung verweist, also die Rück- und Weiterverweisung in allen Fällen zu beachten ist, war undurchführbar. Nach dieser Theorie müßte die Bezugnahme auf inländisches Recht eine sinnlose Bezugnahme der Kollisionsnorm auf sich selbst bedeuten, während im Falle der Verweisung auf fremdes Recht, falls weder dieses selbst noch ein von ihm (oder von einer dritten Rechtsordnung) bezeichnetes Recht die Verweisung annimmt, das Hin und Her bzw. der Kreislauf zwischen den verschiedenen

Kollisionsnormen kein Ende nähme. Auch die sauberste Auflösung dieses circu­ lus inextricabilis - nämlich keine Kollisionsnorm zweimal anzuwenden und daher die Verweisung auf inländisches Recht sowie jede „akzeptierte“ Verwei­ sung und jede unmittelbare oder mittelbare Rückverweisung als eine Verwei­ sung auf das interne Recht der betreffenden Rechtsordnung zu behandeln widerspricht dem Prinzip der Gesamtverweisung. Praktisch dient heute der Ausdruck „Gesamtverweisung“ ohne Rücksicht auf jene radikale Theorie zur Bezeichnung einer Verweisung, die im Einzelfall das fremde Kollisionsrecht einschließt, auch Kollisionsnorm- oder bedingte Verweisung genannt im Ge­ gensatz zur Sachnorm- oder unbedingten Verweisung. - Der Ausdruck „Sach­ normverweisung“ ist insofern irreführend, als bei der Verweisung auf das Recht eines Staates mit mehreren Teilrechtsordnungen dessen internes Kollisi­ onsrecht - interlokales, interpersonales Recht, siehe unten §§ 41 f. - zum Zuge kommen kann. Die neueren Haager Abkommen sprechen daher treffend statt von materieller Norm einfach von „innerstaatlichem Recht“ (loi interne).

Jedoch besteht auch kein Grund, die Beachtung der Rückverweisung schlechthin abzulehnen. Insbesondere bedeutet sie keine Preisgabe des eigenen Kollisionsrechts zugun­ sten fremder Kollisionsnormen, vielmehr ist der Befehl, in gewissen (und nur in diesen) Fällen eine fremde Kollisionsnorm zu beachten, ein Teil des inländi­ schen Kollisionsrechts. Freilich fällt dieser Befehl, einer fremden Kollisions­ norm zu folgen, um so schwerer, je mehr die inländische Kollisionsnorm von positiven Vorstellungen über eine sachgerechte Anknüpfung getragen ist (z. B. über die Bedeutung örtlicher Verhältnisse für eine Rechtsbeziehung oder über den Zusammenhang einer Rechtsfrage mit einer andern), je weniger sie also nur auf formalen Kompetenzvorstellungen, gedankenlos fortgeschleppter Tra­ dition oder schierer Verlegenheit beruht. Außerdem bezeugt jede Verweisung auf ausländisches Recht bereits als solche eine gewisse Desinteressiertheit der in­ ländischen Rechtsordnung: Wenn einmal auf die Anwendung inländischen Rechts verzichtet wird, so ist es vom inländischen Interessenstandpunkt in der Regel nicht wichtig, ob die eine oder die andere ausländische Rechtsordnung ange­ wandt wird oder am Ende doch das inländische Recht. Was aber die praktische Schwierigkeit der Ermittlung ausländischen Kollisionsrechts angeht, so hat das Institut der Rückverweisung gegenüber manchen anderen Formen der Beach­ tung fremden Kollisionsrechts - System einseitiger Kollisionsnormen, Schutz wohlerworbener Rechte, Zuständigkeitswechsel (vgl. oben §§11 III 2, 21 bzw. unten § 39 I 1) - immerhin den Vorzug, nicht alle möglichen fremden Rechts­ ordnungen gleichzeitig in Betracht zu ziehen, sondern am „fil conducteur“ der Verweisungen von einer Rechtsordnung zur andern schrittweise vorzugehen. Den Spott, die Gesamtverweisung erinnere „eher an einen Abzählvers als an eine Norm“749, kann man für diesen praktischen Nutzen in Kauf nehmen. 749 H. Meister, AcP 158 (1959/60) 22.

II. Die entscheidenden positiven Gesichtspunkte für die (beschränkte) Berücksichtigung der Rückverweisung sind das Ideal der internationalen Entscheidungsgleichheit und der Vorteil einer vermehrten Anwendung inländischen Rechts750. Entscheidungsgleichheit*. Zwar überbrückt die Anerkennung des Renvoi die Gegensätze der Kollisionsnormen nicht immer, doch führt sie wenigstens in vielen Fällen zu der wünschenswer­ ten internationalen Entscheidungsgleichheit, vor allem dann, wenn eine Weiterverweisung unmittelbar oder mittelbar auf ein Recht führt, das diese Verweisung akzeptiert. Anwendung inländischen Rechts: Die An­ erkennung der Rückverweisung im engern Sinne erfolgte wohl in allen Ländern751 zuerst durch die Rechtsprechung (unter Opposition der Theorie) im Interesse der Anwendung inländischen Rechtes — sozusa­ gen als Reaktion eines praktischen Nationalismus gegen einen verfrüh­ ten Rechtsuniversalismus -, und auch heute noch sparen sich die Ge­ richte auf diese Weise gern die zumeist schwierige und problematische Anwendung fremden materiellen Rechtes (vgl. oben § 7 III: Heim­ wärtsstreben). Diese Bevorzugung der inländischen Rechtsordnung ist vertretbar, wenn die Divergenz der beteiligten Kollisionsrechte anzeigt, daß die „Richtigkeit“ (Gerechtigkeit) der Anwendung ausländischen Rechtes offenbar nicht zweifelsfrei ist, und wenn gleichzeitig eben diese Divergenz einen internationalen Entscheidungseinklang doch nicht er­ reichen läßt. Denn die Anwendung fremden Privatrechts erfolgt ja nicht deshalb, weil man Ausländer vom Genuß des inländischen Rechtes aus­ schließen möchte (dazu genügt gegebenenfalls die einfache Nichtanwen­ dung einzelner inländischer Vorschriften)752; vielmehr dient die Ver­ 750 Ähnlich schon Gebhard (oben N. 92) 252: „Die Vorschrift [des jetzigen Art. 27 EGBGB] empfiehlt sich einerseits, weil sie die Kollisionen [des Staatsangehörigkeits­ prinzips] mit den Konsequenzen der Theorie vom Wohnsitz mindert, anderseits weil, ohne dem Prinzipe zu nahe zu treten, dem deutschen Rechte ein weiterer, die Sicher­ heit des inländischen Rechtsverkehrs fördernder Herrschaftskreis zugewiesen wird.“ Ausnahmsweise mag die uneingestandene Hoffnung mitspielen, daß die fremde Kol­ lisionsnorm entweder weiser sei als die eigene (vgl. unten N. 768) oder sich leichter in einem vernünftigen Sinn interpretieren lasse; letzteres meint wohl von Mehren, The Renvoi and Its Relation to Various Approaches to the Choice-of-Law Problem, in: Fs. Yntema (oben N. 540) 380 (385): „Renvoi... becomes a Trojan Horse, introducing by trick precisely those considerations excluded by a ... [traditional] analysis.“ 751 Zur Entstehung im französischen Recht (Fall Forgo) siehe oben bei N. 207. 782 So werden etwa in Polen die Vorschriften des ZGB, welche die Einheiten der „vergesellschafteten“ Wirtschaft vor anderen Personen bevorzugen, auf entsprechende außerpolnische Parteien nicht angewandt (mit der Begründung, daß diese Bestimmun-

Weisung auf fremdes Recht nur der internationalen Entscheidungsgleich­ heit und der Billigkeit. Hinzu kommt als ein weiteres, untergeordnetes Argument für die Beachtung der Rückverweisung noch ein praktischer Gesichtspunkt: Ausländische Vor­ schriften, die ohne eine bestimmte Berührung des Falles mit dem betreffenden Lande nicht angewandt werden wollen, sind bisweilen bei Fehlen dieser Bezie­ hung für eine Anwendung geradezu ungeeignet infolge ihrer Verquickung mit den zugehörigen Verfahrens- und öffentlichrechtlichen Vorschriften, von de­ nen sie ohne Verstümmelung nicht getrennt werden können (Beispiele unten § 44 II 2)753.

Dagegen hat die Rücksichtnahme auf das materiellrechtliche Ergebnis für den Einzelfall hier wie anderswo grundsätzlich auszuscheiden. Dies gilt insbesondere für die verschiedentlich vorgeschlagene Beachtung oder Nichtbeachtung der Rück- und WeiterVerweisung je nachdem, ob die Anwendung der einen oder der anderen in Rede stehenden Rechtsord­ nung zur Anerkennung der materiellen Gültigkeit eines Rechtsgeschäftes führt. Ein solcher einseitiger favor negotii ist abzulehnen (vgl. oben §22). Anders bei alternativer Geltung der Regel locus regit actum für die Form ei­ nes Rechtsgeschäftes (z. B. nach Art. 1112 EGBGB: „Es genügt... die Beob­ achtung der Gesetze des Ortes, an dem das Rechtsgeschäft vorgenommen wird“). Hier entspricht es dem gültigkeitsfreundlichen Sinn des Gesetzes, eine Rück- oder Weiterverweisung allein zugunsten der Gültigkeit des Geschäftes zuzulassen, so daß es im Ergebnis gleich ist, ob die Beteiligten sich an das ma­ terielle Recht des Vornahmeortes oder - etwa auf Anraten eines Notars - an dessen Kollisionsrecht gehalten haben.

III. Die Weiterverweisung sollte nach dem zu II. Gesagten stets dann be­ achtet werden, wenn sie auf eine Rechtsordnung führt, die sich ihrerseits für anwendbar erklärt. Das kann die dritte oder eine vierte Rechtsord­ nung sein. gen in erster Linie die Aufgabe haben, die Erfüllung von Planaufgaben zu sichern); siehe Lammich, Die Anwendung des innerstaatlichen Zivilrechts auf die Beziehungen des Außenhandels in Polen: OER 19 (1973) 223 (236). 758 Auch ohne solche Verquickung kann die Anwendung einer fremden Norm ver­ weigert (und damit das Ergebnis einer prinzipiell abgelehnten Rückverweisung in con­ creto erschlichen) werden, indem man die fremde Kollisionsnorm in die betreffende Sachnorm hineininterpretiert; so z. B. van Sasse van Ysselt, Pers. Statuut 1964, 2 (zum Namen der deutschen Frau eines Niederländers).

Hat z. B. ein deutsches Gericht über die Erbfolge nach einem Österreicher zu entscheiden, der Grundvermögen in Dänemark hinterlassen hat und mit Wohnsitz in der Schweiz gestorben ist, dann verweist die deutsche lex fori (analog Artt. 24, 25 EGBGB) auf das österreichische Recht, dieses für den Immobiliarnachlaß auf die dänische lex rei sitae754, und das dänische Recht ver­ weist auf das Schweizer Wohnsitzrecht755, *das auch seinerseits sich für maß­ gebend erklärt (Artt. 32, 22 NAG).

Es ist aber auch möglich, daß die dritte oder die vierte Rechtsordnung auf die zweite oder dritte zurückverweist und diese dann allgemein als maßgebend gilt. Wenn etwa im genannten Beispiel der Erblasser nicht Österreicher mit Wohnsitz in der Schweiz, sondern Schweizer mit Wohnsitz in Österreich war, verweist das Schweizer Heimatrecht auf das österreichische Wohnsitzrecht (Art. 28 Nr. 1 NAG), dieses wieder auf die dänische lex rei sitae und diese zu­ rück auf das österreichische Wohnsitzrecht. Unter der Voraussetzung, daß Österreich die Rückverweisung anerkennt (wie im vorigen Beispiel die Weiter­ verweisung - beides ist freilich zweifelhaft), dagegen Dänemark nicht758, und daß die Schweiz jedenfalls nicht die Weiterverweisung Österreichs auf das dänische Recht als endgültig behandelt757, ergibt sich wiederum Entschei­ dungseinklang (nämlich zugunsten des österreichischen Rechts).

In beiden Fällen erscheint es sinnvoll, daß das (deutsche) Ausgangs­ recht sich dem Entscheidungseinklang der sachlich nächstbeteiligten Rechtsordnungen anschließt. Jedoch ergeben sich Bedenken, ob die Prü­ fung der Anknüpfungs- und der Renvoi-Regeln mehrerer fremder Rechtsordnungen nicht ein zu hoher Preis für die Hoffnung auf interna­ tionale Entscheidungsgleichheit ist; ohnehin ist Sicherheit über das Ergebnis - angesichts des regelmäßigen Fehlens von Gesetzgebung, oft aber auch von Rechtsprechung und Literatur über solche Dreiecksfälle und erst recht über kompliziertere Konstellationen - meistens nicht zu erzielen. Man möchte daher die Beachtung nur einer Weiterverweisung als Faustregel ansehen, von der es notfalls, wenn sie sich unter besonde­ ren Umständen als unbillig erweisen sollte, eine Ausnahme geben mag. IV.

Im Falle der Rückverweisung im engern Sinne, wenn etwa das Hei­ matrecht auf das Wohnsitzrecht und das Wohnsitzrecht auf das Hei754 Siehe unten N. 944 a.E. 755 Allan Philip, Dansk international privat- og procesret (1971) 260. 758 Philip a.a.O. 48 . 757 Vischer, IPR (oben N. 366) 640 = D.i.p. 140.

matrecht verweist, ist Entscheidungsgleichheit nur dadurch zu erzielen, daß die beiden beteiligten Rechtsordnungen sich zur Rückverweisung verschieden verhalten. Wenn also eine Seite die Rückverweisung aner­ kennt, muß die andere sie ignorieren (oder sie muß außer der Rückver­ weisung des fremden Rechtes auch noch dessen Anerkennung der Rück­ verweisung beachten und somit im Wege des sog. „double renvoi“ doch wieder zur Anwendung des fremden materiellen Rechtes gelangen). In dem zweiten der oben zu III gegebenen Beispiele kommt es zur Entschei­ dungsharmonie, weil Österreich die Rückverweisung annimmt und Dänemark sie ablehnt.

Das ist paradox und daher für reine Theoretiker anstößig758; aber es ist doch wohl das kleinere Übel gegenüber der „konsequenten“ Dishar­ monie der Entscheidungen. Ein beinahe ideales Mittel, immer eine andere Stellung zur Rückver­ weisung einzunehmen als die Gegenseite, ist die von englischen Gerich­ ten entwickelte (aber nur selten angewandte) foreign-court-Theorie, nach welcher der Richter dasselbe materielle Recht anzuwenden hat wie ein Gericht des Landes, auf dessen Recht seine Kollisionsnorm ver­ weist. Jedoch ist diese Lösung nicht universal brauchbar: das Sy­ stem ist nur deswegen durchführbar, weil kein Land mit abweichenden Anknüpfungen denselben Standpunkt einnimmt759, denn andernfalls bliebe, wie Meijers sehr elegant gesagt hat, bei dieser „(x+l)maligen“ Rückverweisung die Zahl x der vom Gegenüber beachteten Rückverwei­ sungen - ob null, eins oder zwei - ewig unbestimmt760. Ein anderes, ebenfalls nur durch seine Einmaligkeit funktionierendes System ist für Deutschland empfohlen worden761. Aber ein derarti­ ger Vorschlag ist nicht annehmbar. Denn der Gedanke, Renvoi-Konflik­ 758 Vgl. etwa Lorenzen, Selected Articles on the Conflict of Laws (1947) 127: „I cannot approve a doctrine which is wor kable only if the other country rejects it.“ 759 M. Wolff, IPR 76; ders., Priv. Int. L. 201. 760 Meijers (oben N. 473) Wbl. 91 = Opstellen II 379 = Bull. 206. - Vgl. Siesby, Aspects (oben N. 99) 37: The „Situation would be similar to that of a young couple in a restaurant each of whom has declared to accept the other’s choice of wine. At least one of them must abandon this noble attitude before any wine can be cho­ sen.“ 761 Pagenstecher, Der Grundsatz des Entscheidungseinklangs im IPR, Ein Bei­ trag zur Lehre vom Renvoi (1951, bespr. in RabelsZ 17 [1952] 317) und öfter. Da­ nach sollen die deutschen Gerichte nicht nur eine Weiterverweisung (siehe oben III), sondern auch eine Rückverweisung im engern Sinne nur dann beachten, wenn sie zur Entscheidungsgleichheit führt, d. h. wenn die Rückverweisung von dem verweisenden Rechte seinerseits als renvoi-feindlich oder im Sinne des double renvoi gemeint ist. 18 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

te dadurch zu vermeiden, daß jedes Land ein eigenes System wählt, läßt sich bei der zahlenmäßigen Begrenztheit der möglichen Systeme nicht auf alle Länder der Welt oder auch nur Europas ausdehnen und stellt daher keine universale Lösung dar. Mag England gemäß seiner traditio­ nellen „splendid Isolationa eine Theorie anwenden, die ihrer Natur nach „strictly insular“ bleiben muß762 - Deutschland schuldet es seiner Stellung, die es in Wissenschaft und Praxis des IPR seit mehr als hun­ dert Jahren einnimmt, nicht einen rein individuellen Ausweg zu wählen, sondern eine Lösung anzubieten, die wenigstens im Prinzip für alle an­ nehmbar ist. Eine solche Lösung wurde bereits auf der Haager Konferenz von 1951 durch die deutsche Delegation vorgelegt; sie sei im weiteren mit ih­ rer Genesis dargestellt.

S 36: Renvoi-freundliche und -feindliche Anknüpfungen

I.

Die Renvoiregel des Art. 27 EGBGB - Anerkennung der Rückver­ weisung im engern Sinne bei fünf einzeln bezeichneten Verweisungen auf das Heimatrecht - beruht nach den Materialien, die jetzt endlich bekanntgeworden sind763, auf einem Kompromiß zwischen Auswärti­ gem Amt und Reichs-Justizamt (als Anhänger und Gegner des Renvoi) mit der ausdrücklichen Vereinbarung, daß im übrigen „die Frage der Rückverweisung als eine offene, der Wissenschaft und Praxis überlasse­ ne behandelt werde“764. Analogie und argumentum e contrario aus die­ ser Regelung sollten also ausgeschlossen sein. Im Laufe der Zeit bildete sich in Deutschland immerhin ein gewisser Konsens heraus: Alle Ver­ weisungen des EGBGB auf das Heimatrecht einer Person werden als Kollisionsnormverweisungen in dem Sinne angesehen, daß jedenfalls eine abweichende Sachnormverweisung des Heimatrechts anerkannt wird, sei es eine Rückverweisung im engern Sinne, sei es eine (einmalige) Weiterverweisung765. Alles übrige - insbesondere die Behandlung von 762 M. Wolff, siehe oben N. 759. 763 Oskar Hartwieg, Der Renvoi im deutschen Internationalen Vertragsrecht (1967; bespr. in RabelsZ 33 [1969] 162 f.) 85-104; Hartwieg/Korkisch, oben N. 714. 764 A.a.O. 99 bzw. 372. 785 Dies gilt auch im Falle des Art. 21 EGBGB, dessen Nichterwähnung in Art. 27

double renvoi und mehrfacher WeiterVerweisung sowie die Bedeutung des Renvoi im Internationalen Schuldrecht - blieb umstritten. II.

Die sachliche Rechtfertigung - im Unterschied zur historischen Er­ klärung - für die Beschränkung des Renvoi auf bestimmte Gruppen von Anknüpfungen ergibt sich allein aus dem Ziel der maximalen Ent­ scheidungsharmonie. Man hat zwar versucht, vom innern Sinn der An­ knüpfung her bald gewisse Kategorien (z. B. die Anknüpfungen für das Personal- und das Sachstatut im Gegensatz zu denjenigen des Vertragsund des Deliktsstatuts), bald gewisse einzelne Anknüpfungen (z. B. an die Staatsangehörigkeit oder an den Wohnsitz) für renvoi-freundlich oder -feindlich zu erklären. Aber „der innere Sinn der Anknüpfungen steht nicht objektiv fest; jede vorkommende Anknüpfung kann bald mit dieser und bald mit jener Begründung vertreten und sinngemäß [lies: sinnvoll] als von Natur aus rückverweisungsfreundlich oder rückver­ weisungsfeindlich betrachtet werden“766. Es sind vielmehr allein prak­ tische Erwägungen, welche die Behandlung (fast) nur der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit als renvoi-freundlich rechtfertigen. Vor allem muß die Grenze zwischen renvoi-freundlichen und -feindli­ chen Anknüpfungen so verlaufen, daß möglichst viele der einander wi­ derstreitenden und daher potentiell zur gegenseitigen Rückverweisung führenden Anknüpfungen auf jeweils eine verschiedene Stellung zum Renvoi fixiert werden und dadurch im Ergebnis die Entscheidungs­ gleichheit ermöglicht wird. Daraufhin seien im folgenden die wichtig­ sten Anknüpfungen durchgemustert. besonders aufgefallen war; siehe Neuhaus, Die Rückverweisung bei Alimentenklagen im deutschen IPR (mschr. Diss. Tübingen 1945), vgl. Verpflichtungen 42 ff. 786 Deutsche Stellungnahme zum Thema Renvoi vom 10. 10. 1951, RabelsZ 17 (1952) 273 ff. (französische Übersetzung in Doc. La Haye 7 [1952] 125 ff.) unter V 2, letzter Absatz. Vgl. beispielsweise für Staatsangehörigkeits- und Domizilanknüpfung einerseits Staudinger (-Raape) (oben N. 23) Einl. E VI 2 (S. 27): „Es verträgt sich mit dem Staatsangehörigkeitsprinzip die Rücksichtnahme auf das Wohnsitzprinzip. Hingegen ist dem letzteren die Rücksichtnahme auf das Staatsangehörigkeitsprinzip im Grunde zuwider.“ (Vorsichtiger Raape, IPR 77: „Sinnvoll ist sowohl die unbedingte Anknüpfung an die lex domicilii als auch die bedingte, d. h. eine solche unter Berück­ sichtigung des renvoi.“) Anderseits Eckstein (oben N. 161) 131 (im Anschluß an RAbel): „Der Richter mit Wohnsitzprinzip kann sagen: ich habe zu entscheiden wie der Richter des ausländischen Wohnsitzes; denn dieser ist der eigentlich zuständige. Dage­ gen kann der Richter mit Heimatprinzip nicht Gleiches sagen; denn das Heimatprin­ zip hat mit der Zuständigkeit kaum etwas zu tun.“

1. Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit hat man jedenfalls an­ ders zu behandeln als die Anknüpfungen an Wohnsitz, (gewöhnlichen) Aufenthalt und Handlungsort; insbesondere darf man die Anknüpfun­ gen an Staatsangehörigkeit und Wohnsitz - die am häufigsten einander gegenüberstehenden Anknüpfungen des Personalstatuts - nicht etwa beide für renvoi-freundlich erklären. Dazu ist rein empirisch festzustel­ len, daß der einmalige Renvoi (im Gegensatz zum double renvoi) bisher in der Welt vor allem dort anerkannt worden ist, wo er vom Heimat­ recht ausgesprochen wird, so daß man sich über die Renvoi-Freundlich­ keit dieser Anknüpfung eher wird international verständigen können. Als weiteres Argument, gerade die Anknüpfung an die Staatsangehö­ rigkeit für renvoi-freundlich zu erklären (und nicht etwa diejenige an das Domizil), wird folgender Umstand angeführt767. „Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist gegenüber Staaten mit mehreren regiona­ len Teilrechtsordnungen wie Großbritannien, USA, Kanada usw. nicht eindeutig und zwingt daher in diesen Fällen ohnehin zu einer zweiten Anknüpfung, um zur Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung zu gelangen.“ Überdies könnte die Bezeichnung der Wohnsitzanknüpfung als renvoi-freundlich zu einer gegenseitigen Verweisung zweier Rechts­ ordnungen mit verschiedenen Wohnsitzbegriffen führen, während ein entsprechender Konflikt bezüglich der Staatsangehörigkeit - daß also eine Person von zwei Staaten jeweils als Angehöriger des andern be­ trachtet wird - kaum vorkommen dürfte. Möglich bleiben allerdings Konflikte wegen der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit verschie­ dener Personen (des Mannes, der Frau, des Kindes) oder zu verschiede­ nen Zeiten (bei der Eheschließung, der Geburt eines Kindes, der Klage­ erhebung, der Testamentserrichtung oder beim Tode).

2. Eine Rückverweisung der lex rei sitae spielt für Deutschland prak­ tisch kaum eine Rolle, da das deutsche IPR nur für das (Einzel-)Sachstatut auf das Lagerecht verweist und insofern mit fast allen anderen Rechtsordnungen in Einklang steht. Jedoch für Staaten, in denen die lex rei sitae einen weitern Anwendungsbereich hat, empfiehlt es sich, ihre Rückverweisung zu beachten, und zwar sowohl unter dem Gesichts­ punkt der Rücksichtnahme auf die stärkere Rechtsordnung (vgl. unten § 38) wie auch im Interesse der materiellen Harmonie; denn die Anwen­ dung der materiellen lex rei sitae im Personen-, Familien- und Erbrecht 767 Deutsche Stellungnahme (vorige Note) unter V 2, vorletzter Absatz.

führt zur Aufspaltung der Geschäftsfähigkeit einer Person je nach dem Gegenstand des Geschäftes (ob z. B. über ein Grundstück mit Lage in diesem oder in jenem Lande verfügt werden soll) bzw. zur Aufspaltung des Vermögens oder Nachlasses je nach der Belegenheit der einzelnen Gegenstände768. Eben deshalb ist eine Rückverweisung des Heimat­ rechts auf die lex rei sitae wohl besser nicht zu beachten; desgleichen mag die Rückverweisung einer lex rei sitae auf die andere beiderseits unbeachtet bleiben. Wenn z. B. ein Franzose deutschen Grundbesitz vererbt, verweist die franzö­ sische lex patriae auf die deutsche lex rei sitae und umgekehrt; wird die Rück­ verweisung auf die lex rei sitae ignoriert, so kommt in beiden Ländern franzö­ sisches Recht zur Anwendung. - Eine gegenseitige Verweisung zweier Lage­ rechte ist gegeben, wenn in einem nachbarrechtlichen Streit das Recht jedes der beteiligten Grundstücke die Entscheidung dem Rechte des andern Grundstücks zuweist oder wenn dingliche Rechte an einer res in transitu am Absendeort nach dem Recht des Bestimmungsortes beurteilt werden und umgekehrt; zum Glück sind solche Fälle sehr selten.

3. Die Anknüpfung an den ausdrücklichen oder stillschweigenden Parteiwillen wird allgemein als renvoi-feindlich behandelt. Praktisch dürfte es überhaupt kaum vorkommen, daß die gewählte Rechtsordnung ihre eigene Anwendung ablehnt und zurück- oder weiterverweist. 4. Man könnte daran denken, auch die Anknüpfung an den hypothe­ tischen Parteiwillen für renvoi-feindlich zu erklären, da sie ebenfalls den konkreten Vertrag individuell würdigt, dagegen die generelle An­ knüpfung an den Erfüllungsort für renvoi-freundlich, zumal sie doch nur eine Verlegenheitslösung ist, die überdies zur Spaltung des Schuld­ verhältnisses führen kann und darum getrost einer fremden, vielleicht zur Einheit des Schuldverhältnisses zurückführenden Anknüpfung wei­ chen mag. Es müßte dann allerdings in jedem Einzelfall entschieden werden, ob der Erfüllungsort kraft hypothetischen Parteiwillens (als konkreter Schwerpunkt) oder nur als Hilfsanknüpfung bestimmend ist. Besser scheint mir, die Rückverweisung im Schuldrecht ganz auszu­ schließen und damit den Gerichten die Möglichkeit zu nehmen, unter Umständen durch Verneinung eines konkreten Schwerpunktes und An­ 768 Unter demselben Gesichtspunkt, daß eine „spaltende“ Anknüpfung nach Mög­ lichkeit nicht endgültig sein soll, ist wohl auch die deutsche Praxis zu verstehen, wel­ che die Anknüpfung an den jeweiligen Erfüllungsort als Gesamtverweisung behandelt (vgl. oben § 30 II 3). Siehe aber dagegen unten 4.

nähme einer Rückverweisung des Rechts des Erfüllungsortes zur lex fori zurückzukehren. Damit wird die oben (§ 34 II) erwähnte Tendenz ge­ fördert, immer einen (typischen oder individuellen) Schwerpunkt des Schuldverhältnisses zu finden und auf die allgemeinen Verlegenheitsan­ knüpfungen ganz zu verzichten.

III. Die Anwendung der Unterscheidung von renvoi-freundlichen und -feindlichen Anknüpfungen ist unproblematisch, wenn die zu beachtende fremde Verweisung eine Sachnormverweisung ist und ihre Anwendung zur Entscheidungsgleichheit führt, d. h. zu einer akzeptierten einmaligen Weiterverweisung oder einer Rückverweisung auf das Recht des Wohn­ sitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts. Schwieriger sind folgende Fälle.

1. Eine am Ende akzeptierte mehrfache Weiterverweisung - seil, auf ein drittes oder gar viertes Recht, vgl. die Beispiele oben § 35 III - er­ scheint unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungsharmonie als anneh­ menswert. Jedoch sind die praktischen Schwierigkeiten nicht zu bestrei­ ten (siehe a.a.O.). 2. Eine doppelte Rückverweisung (double renvoi - siehe oben § 35 IV) kann, wie gesagt, zur Entscheidungsharmonie führen, wenn nur der eine Staat sie befolgt, während der andere eine einfache Rückverwei­ sung annimmt. Aber diese Rechtsfigur ist doch wohl zu kompliziert, als daß sie den Gerichten zur Anwendung empfohlen werden könnte.

3. Die einmalige Rück- oder Weiterverweisung - ohne Rücksicht auf Erzielung einer Entscheidungsharmonie - mutet den Gerichten nur die Prüfung der Verweisungsnormen (nicht der Renvoiregeln) eines fremden Kollisionsrechtes zu, durch die sie im Falle der Rückverweisung im engern Sinne die Ermittlung des fremden Sachrechts sparen. Bei rich­ tiger Auswahl der renvoi-freundlichen Anknüpfungen (oben II) dürfte die Chance eines Entscheidungseinklangs zwischen allen beteiligten Rechtsordnungen groß genug sein, um diesen Aufwand zu lohnen. Ein besseres Verhältnis von Aufwand und Erfolg ist nicht zu erzielen, insbe­ sondere nicht die Ausschaltung jeder Unsicherheit, ob nicht im Einzel­ fall unnötig ausländisches Recht angewandt wird: Die Anwendung

fremden materiellen Rechts kann unnötig sein, wenn eine Rückverwei­ sung vorliegt, die Prüfung des fremden Kollisionsrechts, wenn keine Rückverweisung gegeben ist. IV.

Der deutsche Vorschlag an die Haager Konferenz von 1951769 ent­ spricht im wesentlichen den vorstehenden Erwägungen. Da er formell nur ein „Gegenentwurf“ zu drei Artikeln des niederländischen Entwurfes war, paßte er sich diesem in Aufbau und Begründung möglichst an. Insbesondere wiederholte er nicht dessen Artt. 3 und 4 über den Ausschluß des Renvoi bei ausdrücklicher oder stillschweigender Rechtswahl der Parteien und über den Vorbehalt des ordre public. Dabei waren die im folgenden kursiv ge­ setzten Teile des Textes als fakultativ gedacht, so daß sie von jeder unterzeich­ nenden Regierung zum Gegenstand eines Vorbehalts gemacht werden könnten, während die eingeklammerten Teile als überhaupt entbehrlich bezeichnet wur­ den („können ohne weiteres wegfallen“). Art. 1. Wenn das nach den Kollisionsnormen des Gerichtsortes als Hei­ matrecht einer Person oder als lex rei sitae anwendbare Recht auf ein an­ deres Recht verweist, so ist dieses andere Recht anzuwenden (gleichviel, ob es sich selbst für zuständig erklärt oder nicht), sofern nicht dieses letz­ tere als lex rei sitae anwendbar sein soll. (Dem Heimatrecht einer Person steht gleich das Recht der Flagge eines Schiffes oder das sonstige Heimatrecht eines Beförderungsmittels.) Art. 2. Wenn das nach den Kollisionsnormen des Gerichtsortes anwend­ bare Recht unmittelbar oder mittelbar auf ein anderes Recht verweist, so ist dieses andere Recht anzuwenden, falls es sich selbst für zuständig er­ klärt. Art. 5. Die vorstehenden Bestimmungen gelten nicht nur im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander, sondern in allen einschlägigen Fällen. Die Annahme dieses Entwurfes durch die Konferenz war schon deshalb nicht zu erwarten, weil er nicht rechtzeitig vorher hatte publiziert werden können. Immerhin liegt der im Haag 1951 zustande gekommene Kompromiß - der niederländische Entwurf wurde während der Konferenz durch einen neuen, insbesondere von Meijers inspirierten Entwurf ersetzt, der dann praktisch unverändert angenommen wurde770 -, so bescheiden er anmutet, bewußt oder unbewußt auf der Linie des deutschen Vorschlags. Denn er bedeu­ tet, kurz gesagt: Die Verweisung des Heimatrechts auf das Domizilrecht ist 789 Deutsche Stellungnahme (oben N. 766) unter IV. Text des im folgenden er­ wähnten niederländischen Entwurfes ebd. N.* = Doc. 44. 770 Act. La Haye 7 (1952) 226-236.

stets zu beachten, die Verweisung des Domizilrechts auf das Heimatrecht nur dann, wenn dieses selbst sich für anwendbar erklärt. - Das entsprechende Ab­ kommen vom 15. 6. 1955 erzielte jedoch nicht die zum Inkrafttreten erforder­ lichen fünf Ratifikationen.

Vielleicht wird das Problem des Renvoi sich im Laufe der Zeit mit der Verdrängung der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit durch die­ jenige an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt weithin erledi­ gen771. 772 Wenn aber noch einmal ein Versuch der staatsvertraglichen Re­ gelung unternommen wird, sollte der deutsche Vorschlag von 1951 nicht übersehen werden. V. Einige Nebenjragen verdienen besondere Erwähnung.

1. Kollisionsnormen in Staatsverträgen112 sind in der Regel renvoi­ feindlich773. Vereinzelte anderslautende Klauseln in solchen Verträ­ gen774 sind als Kompromißlösungen zu verstehen und nicht zur Nach­ ahmung geeignet. Die Haager IPR-Abkommen verweisen seit der VII. Konferenz von 1951 ausdrücklich auf die jeweilige „loi interne“. Aller­ dings wird diese Übung bedenklich, soweit nach dem Staatsvertrag das Recht eines Nichtvertragsstaates als Heimatrecht anzuwenden ist (z. B. nach Artt. 3, 13 I des Haager Minderjährigenschutzabkommens); denn in solchen Fällen kann die Entscheidungsgleichheit des Forumstaates mit dem Heimatstaat viel wichtiger sein als die Übereinstimmung mit den anderen Vertragsstaaten, zu denen der Einzelfall oft keine Beziehung hat. Etwas anderes ist die Rückverweisung durch einen Staatsvertrag, wenn die­ ser von den inländischen Gerichten zwar nicht unmittelbar angewandt wird (weil sie ihn nicht für einschlägig halten), aber gemäß der abweichenden Aus­ 771 Allerdings entfällt dann auch die Möglichkeit der oben (§ 16 III 2 b) so ge­ nannten zweistufigen Anknüpfung. 772 Vgl. hierzu Kropholler, EinheitsR 335 f. 773 Die New Yorker Entscheidung In re Schneiderns Estate, 96 N.Y.S. 2d 652 (Surr. Ct. N.Y.Cty. 1950) = RabelsZ 16 (1951) 620 mit Anm. ZWEIGERT, welche aus Art. VI des amerikanisch-schweizerischen Vertrages von 1850 eine Kollisionsnormver­ weisung auf die lex situs entnimmt, ist mit Recht kritisiert worden von ZWEIGERT a.a.O. 637 f. und von H. Lewald in: Fragen des Verfahrens- und Kollisionsrechtes, Festschrift Fritzsche (Zürich 1952) 174, 179. 774 Haager Eheschließungsabkommen, Art. 1 betr. Ehefähigkeit; Genfer Abkommen über das internationale Wechsel- bzw. Scheckprivatrecht (oben N. 44), jeweils Art. 2 I 2 betr. Wechsel- bzw. Scheckfähigkeit.

legung durch die Gerichte eines andern Vertragsstaates als Teil des Kollisions­ rechtes dieses Landes beachtet wird. So wurde unter dem Haager Vormund­ schaftsabkommen in Deutschland die Personensorge für Kinder aus geschiede­ nen Ehen von Niederländern teilweise infolge Rückverweisung dieses nur von den Niederlanden angewandten Abkommens dem deutschen Recht unter­ stellt775.

2. Ob konnexe Anknüpjungen - d. h. die Unterstellung verwandter Rechtsfragen unter dasselbe Recht - „renvoi-festa sind oder durch eine Teilverweisung gespalten werden können, läßt sich nicht allgemein sa­ gen. Wenn der innere Zusammenhang zweier Rechtsfragen das bloße Motiv ihrer gleichartigen oder gar nur ähnlichen Anknüpfung ist, kann das die Auflösung dieser Verbindung durch getrennte Anknüpfung im fremden Kollisionsrecht wohl nicht hindern776. Selbst die Unterstellung gewisser Sondervermögen unter ein einheitliches Ge­ samtstatut (Artt. 15, 19, 25 EGBGB: Ehe-, Kindes-, Nachlaß vermögen) ist gegen eine solche Auflösung (besonders durch eine Teil Verweisung bezüglich des unbeweglichen Vermögens auf die lex rei sitae) nicht prinzipiell gesichert. Erst recht ist die Verbindung der Unterhaltspflicht des Vaters gegenüber dem unehelichen Kinde mit seiner Verpflichtung, der Mutter die Kosten der Schwangerschaft und der Entbindung zu ersetzen (Art. 21 EGBGB), nicht ren­ voi-fest.

Anders steht es mit akzessorischen Anknüpfungen. Z. B. kann Art. 1111 EGBGB („Die Form eines Rechtsgeschäfts bestimmt sich nach den Gesetzen, welche für das den Gegenstand des Rechtsgeschäfts bildende Rechtsverhältnis maßgebend sind“) so ausgelegt werden, daß er nur die letztlich maßgebende Rechtsordnung meint und somit die Zusammengehö­ rigkeit von Form und Inhalt ausdrücklich festlegt und eine Abspaltung des Formstatuts (etwa bei zwingender Verweisung des Sachstatuts auf die lex loci actus) allemal ausschließt777. Entsprechendes gilt für die akzessorische Anknüp­ 775 AG Hamburg 25. 11. 1966 und 27. 1. 1967, IPRspr. 1966-67 Nr. 113, unter Berufung auf Drobnig, FamRZ 1966, 84 ff. (Zu der Frage, ob das Abkommen in Deutschland hätte unmittelbar angewandt werden müssen, siehe oben N. 361.) 778 Gegen die Auffassung von Raape, IPR 361-363, die Anknüpfung des Ali­ mentenstatuts in Art. 21 EGBGB sei „akzessorisch“ gegenüber dem Mutter-Kind-Sta­ tut (Art. 20) und deshalb sei eine Rückverweisung nicht zu beachten, siehe Neuhaus, Verpflichtungen 68 f. 777 Ebenso hat BGH 9. 6. 1960, IPRspr. 1960-61 Nr. 23, die Verjährung dem Forderungsstatut unterstellt und es an dessen Weiterverweisung teilnehmen lassen, ohne Rücksicht auf die abweichende Anknüpfung der Verjährung in der 2. und der 3. Rechtsordnung (siehe auch die nächste Note). Kritisch dazu Müller-Freienfels, in: Xenion Zepos II (1973) 501-503.

fung des Deliktsstatuts, wenn das Delikt mit einem andern Rechtsverhältnis in Zusammenhang steht (oben § 30 III 2). Ferner sollte die Unterstellung der Erbfolge nach einem verheirateten Erblasser unter das Ehewirkungsstatut (oben N. 379) renvoi-fest formuliert werden.

3. Eine Rückverweisung kraft abweichender Qualifikation liegt z. B. dann vor, wenn die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit einer verheira­ teten Frau statt als persönliche Ehewirkung als eine Frage des Güter­ standes behandelt und deshalb einer andern Rechtsordnung unterworfen wird. In solchen Fällen haben wir ebenso vorzugehen, wie wenn das fremde Kollisionsrecht eine Sondernorm aufgestellt hätte. Das gilt auch für die prozessuale Qualifikation, d. h. die Qualifikation als zum Ver­ fahrensrecht gehörig (etwa von Beweisvorschriften, der Aufrechnung oder der Verjährung); denn da für das Verfahren überall die lex fori gilt, führt die prozessuale Qualifikation zu einer Verweisung auf die lex fori778. - Es gibt sogar eine Rückverweisung bezüglich der Qualifikation, etwa wenn das englische Kollisionsrecht die Immobilien der lex rei sitae unterstellt und es dabei dem Kollisionsrecht jedes Landes überläßt, welche Gegenstände dieses als „unbeweglich“ für das eigene Recht beansprucht (vgl. oben § 15 II 1). 4. Über die Bedeutung eines ausländischen ordre public im Rahmen des Renvoi siehe unten § 51 V.

S 37: Versteckte Rückverweisung

I. Die Eigenart der sog. versteckten Rückverweisung besteht darin, daß sich diese Rückverweisung aus einer „versteckten Kollisionsnorm“ ergibt (vgl. zu diesem Begriff oben § 11 II), insbesondere aus einer Zuständig­ keitsnorm779. Wenn etwa ausländische Gerichte für bestimmte Materi­ en zwar stets die lex fori anwenden, aber ihre Zuständigkeit davon ab­ 778 Anders der BGH (vorige Note), indem er die Qualifikation der Verjährung apodiktisch der deutschen lex fori unterstellt und eine abweichende sekundäre Qualifi­ kation (oben § 13 I) nicht anerkennt. 779 Vgl. zum folgenden auch Hanisch, Die „versteckte“ Rückverweisung im in­ ternationalen Familienrecht: NJW 1966, 2085 ff.

hängig machen, daß die Parteien im Gerichtsbezirk domiziliert sind, so bedeutet das im Ergebnis die Anwendung der lex domicilii780. Liegt in einem solchen Falle der Wohnsitz nicht in dem fremden Staate, sondern im Inland, so werden die fremden Gerichte mangels Zuständigkeit gar nicht entscheiden. Wir können also nicht — wie im Falle der ausdrückli­ chen Rückverweisung — erklären, daß ein ausländisches Gericht in die­ sem Falle unser Recht anwenden würde. Aber wir können sagen, daß die Anwendung unseres Rechtes in diesem Fall dem Sinne des fremden Kollisionsrechts entspricht. Dies muß zur Feststellung einer Rückverwei­ sung genügen781. Tatsächlich hat die deutsche Rechtsprechung z. B. in Verfahren über die Scheidung von Engländern, die in Deutschland ihren Wohnsitz hatten, fast ausnahmslos das deutsche Recht angewandt782. II.

Schwierig ist das Problem der versteckten Rückverweisung auf die lex fori. 1. Eine ausdrückliche Verweisung auf die jeweilige lex fori kommt öfter in Staatsvertägen vor. Diese werden jedoch in der Regel nicht als fremdes Kollisionsrecht, sondern von den beteiligten Ländern unmittel­ bar als eigenes Kollisionsrecht angewandt783; sie führen dann zu keiner Rückverweisung. Wo aber nationale Kollisionsnormen auf die lex fori verweisen - allgemein für das Verfahren784, vereinzelt auch sonst785 —, können sie als einseitige Kollisionsnormen ausgelegt werden, welche nur bei inländischer Zuständigkeit die Anwendung des inländischen Rechts vorschreiben; denn kein Land wird ernstlich von ausländischen Gerichten fordern wollen, daß sie gerade ihr eigenes und nicht etwa sein 780 Vgl. das NiEMEYER-Zitat oben bei N. 284. 781 Vgl. Melchior (oben N. 403) 228: „Da in diesen [Unzuständigkeits-] Fällen nicht festgestellt werden kann, welches Recht der fremde Richter in denselben Fällen anwenden würde, kann man nur prüfen, welches Recht der deutsche Richter anzuwenden hat, um den allgemeinen Grundsätzen des fremden Rechts möglichst ge­ recht zu werden.“ 782 Dopffel (oben N. 203) 319 mit Nachweisen. 783 Eine Ausnahme ist oben in § 36 V 1 a.E. genannt. 784 So bedeutet Art. 27 Disp. prel. C. civ. (La competenza e la forma del processo sono regolate dalla legge del luogo in cui il processo si svolge) „nur die gesetzliche Be­ stätigung eines längst anerkannten Grundsatzes“, Riezler (oben N. 257) 93. 785 Siehe etwa §9 18 Satz 2, 27 II, 33 des thailändischen IPR-Gesetzes von 1938 für die Wirkungen des Verlöbnisses, die Scheidungsgründe und die Entziehung der el­ terlichen Gewalt.

oder ein drittes Recht anwenden. Eine ausdrückliche Rückverweisung auf die lex fori ist demnach im allgemeinen ausgeschlossen786. 2. Eine versteckte Rückverweisung auf die lex fori, so daß die An­ wendung der lex fori dem Sinn des fremden Rechtes entspricht, setzt zweierlei voraus. a) Zum einen muß feststehen, daß die Gerichte des betreffenden Lan­ des im Falle ihrer Zuständigkeit das eigene Recht einfach als lex fori an­ wenden und nicht z. B. als lex domicilii. Es darf also nicht bereits in den Zuständigkeitsnormen dieses Landes eine andere Kollisionsnorm ver­ steckt sein. Praktisch heißt das: Die internationale Zuständigkeit der Gerichte dieses Landes darf für Fälle der in Rede stehenden Art nicht nur von einem einzigen Kriterium abhängen, das zugleich als kollisions­ rechtliches Anknüpfungsmoment zu werten ist (etwa Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit, Belegenheit der Sache oder Handlungsort); viel­ mehr müssen entweder mehrere Momente die Zuständigkeit alternativ begründen (z. B. der Wohnsitz neben der Staatsangehörigkeit), oder das Anknüpfungsmoment muß prozessual bestimmt sein (etwa Wohnsitz des jeweiligen Beklagten, Zustellung der Klage im Inland).

b) Zum andern muß in dem betreffenden Lande auch eine gleicharti­ ge fremde Praxis anerkannt werden. Zwar hat kein Land ausländischen Gerichten direkt vorzuschreiben, welches Recht sie anwenden sollen; je­ doch kann ein Staat mittelbar zur kollisionsrechtlichen Praxis anderer Länder Stellung nehmen, indem er die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung davon abhängig macht, daß diese Entscheidung einer be­ stimmten Kollisionsnorm entspricht, sei es einer ausdrücklichen (so nach § 328 I Nr. 3 ZPO)787, sei es einer versteckten (indem er etwa nur Ent­ scheidungen des Heimatlandes anerkennt). Die Erfüllung der ersten Bedingung reicht für sich allein nicht hin, damit wir eine Rückverweisung auf unsere lex fori feststellen; denn sie 786 Von einer „stillschweigenden Rückverweisung“ spricht Boetius, NJW 1965, 2240, wenn „der Auslandsstaat, auf dessen Recht verwiesen wird, die Anwendbarkeit seines Rechts ausschließt, ohne gleichzeitig... eine andere Rechtsordnung zu bestim­ men“. M. E. liegt hier entweder eine versteckte Rückverweisung vor (siehe sogleich), oder es bedarf einer Ersatzanknüpfung (dazu unten § 52). 787 ZPO § 328 I: „Die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts ist ausgeschlossen:... 3. wenn in dem Urteil zum Nachteil einer deutschen Partei von den Vorschriften... [bestimmter Artikel des EGBGB] abgewichen ist.“ Vgl. zu den Einzelheiten dieser Bestimmung RabelsZ 24 (1959) 588 N. 4.

kann auf einer bewußten Bevorzugung des eigenen Rechts beruhen, etwa im Sinne einer speziellen Vorbehaltsklausel. Ebensowenig genügt, daß die nach unserm Kollisionsrecht maßgebende fremde Rechtsord­ nung mit der Anwendung der lex fori durch unsere Gerichte einverstan­ den ist. Die bloße Duldung der Anwendung dieses oder jenes Rechtes bedeutet noch keine Verweisung, zumal viele Staaten die Anerkennung fremder Entscheidungen überhaupt nicht davon abhängig machen, wel­ ches materielle Recht angewandt worden ist; selbst die Mißachtung aus­ drücklicher Kollisionsnormen eines Staates durch ein fremdes Urteil hat meistens nicht die Verweigerung der Anerkennung dieses Urteils zur Folge788. Wenn aber beide Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind - der fremde Staat also die Anwendung der lex fori bei sich selbst praktiziert und bei uns nicht ablehnt -, darf man wohl den Schluß ziehen, die An­ wendung unserer lex fori entspreche dem Sinn und Grundgedanken der fremden Rechtsordnung. Dabei schadet es nicht, wenn in dem fremden Lande gemäß der erwähnten Praxis vieler Staaten nicht nur die nach der jeweiligen lex fori ergangenen, sondern alle Urteile und sonstigen Entscheidungen der als zuständig erachteten Länder anerkannt werden. Denn darin liegt nicht eine Durchbrechung der im Inland praktizierten Regel, daß primär die lex fori maßgebend ist, sondern nur eine Erweiterung: das zuständige Gericht mag anstatt des eigenen materiellen Rechts nach seinem Ermessen auch ein anderes anwenden789. Anderseits muß das Vorliegen einer Rückverweisung auch nicht deshalb verneint werden, weil im konkreten Fall die Anerkennung der inländischen Entscheidung im „rück­ verweisenden“ Land voraussichtlich aus anderen Gründen scheitert als mangels hinreichender Beziehungen des Inlands zum Sachverhalt.

3. Problematisch ist die Annahme einer versteckten Rückverweisung auf die lex fori, wenn dem Inland in prozessualer und materiellrechtli­ cher Hinsicht nur eine fakultative Zuständigkeit eingeräumt wird. Hier möchte man auch beim Zusammentreffen der beiden zu 2 genannten Bedingungen eine Einschränkung machen und das Vorliegen einer Rück788 Letzteres konstatiert Dopffel (oben N. 203) 319 N. 136 auf meine Frage in RabelsZ 22 (1957) 751: „Kommt nicht die Erklärung, jede kollisionsrechtliche Ent­ scheidung eines anderen Landes anzuerkennen, einer Gesamtverweisung gleich?“ 789 Im Ergebnis gebe ich also auf die in FamRZ 1957, 430 offengelassene Frage, „ob es für eine Rückverweisung im Sinne des Art. 27 EGBGB genügt, wenn das an sich maßgebliche ausländische Recht stillschweigend oder ausdrücklich duldety daß in anderen Ländern die jeweilige lex fori angewandt wird, ohne die Anwendung zu for­ dern“, eine vermittelnde Antwort: Die Anwendung der lex fori muß dem Sinn und Grundgedanken des fremden Rechts entsprechen.

Verweisung bestreiten790. Die Annahme der Rückverweisung bringt dann nämlich die Gefahr widersprechender Entscheidungen mit sich: Über denselben Sachverhalt kann in unserm Land nach unserer, in dem fremden Land nach der dortigen lex fori entschieden werden, und die Beteiligten haben so die Möglichkeit, sich den günstigeren Gerichtsstand auszusuchen (indirekte Rechtswahl oder forum shopping, siehe oben § 6 I). Aber bisweilen erfolgt die Einräumung mehrerer Gerichtsstände wie ebenfalls schon in § 6 I erwähnt - bewußt unter dem Gesichts­ punkt der Begünstigung der Beteiligten (wenn z. B. eine Adoption so­ wohl im Gerichtsstand des Annehmenden wie in dem des Adoptivkindes erfolgen darf791). In anderen Fällen erscheint die Duldung einer sol­ chen indirekten Rechtswahl, zu der das ausländische Recht Gelegenheit gibt, immerhin als erträglich (z. B. bei der Scheidung englischer Ehegat­ ten792). Wir müssen hier nicht „päpstlicher als der Papst“ sein: Wenn die nach unserer Auffassung maßgebende Rechtsordnung die Entschei­ dung über den Einzelfall der jeweiligen lex fori überläßt und durch ihre Regeln über die Anerkennung ausländischer Entscheidungen den Partei­ en die Wahl zwischen mehreren Gerichtsständen erlaubt, so dürfen wir uns damit abfinden. Wird durch die Anwendung der lex fori in derarti­ gen Fällen „der erste Zweck der Beachtung einer Rückverweisung, die Entscheidungsharmonie, nicht oder nicht wesentlich gestört, so kommt der andere Grund, der Vorteil der Anwendung heimischen Rechts, voll zum Zuge“793.

5

38: Näherberechtigung - Selbstbeschränkung

I. Wenn man im Falle der Rückverweisung von einem „negativen Kom­ petenzkonflikt“ zweier Rechtsordnungen sprechen kann, die beide nach ihrem Kollisionsrecht nicht anwendbar sind, so besteht ein positiver Kom­ petenzkonflikt bei der sog. „Näherberechtigung“, der „Selbstbeschrän­ kung“ gegenüber der „stärkeren Rechtsordnung“ (auch als Vorrang des Einzel- oder Sachstatuts vor dem Gesamtstatut bezeichnet): Die 790 Diese Einschränkung habe ich in JZ 1954, 704 vertreten. 791 Siehe etwa Restatement2 § 78 mit Comment a). 792 Vgl. Dopffel (oben N. 203) 317-320. (Die seitherigen Änderungen des engli­ schen Rechts berühren die Problematik kaum.) 793 Gündisch, FamRZ 1961, 356.

reguläre inländische Kollisionsnorm, welche etwa auf das Heimatrecht einer Person verweist, wird durchbrochen, weil eine andere als die von ihr bezeichnete Rechtsordnung ebenfalls Anwendung beansprucht794. Beidemal - beim negativen und beim positiven Konflikt - wird im Interesse der Entscheidungsgleichheit die reguläre Verweisung nur be­ dingt ausgesprochen und auf eine fremde, von unserem Recht abwei­ chende Kollisionsnorm Rücksicht genommen: Im Falle der Rückverwei­ sung wird die Kollisionsnorm derjenigen Rechtsordnung mitberücksich­ tigt, die nach unserm IPR materiell maßgebend sein sollte - dagegen im Falle der Näherberechtigung das Kollisionsrecht eines dritten Lan­ des. Die Situation ist hier also ähnlich wie bei dem vielfach postulierten Schutz wohlerworbener Rechte (vgl. oben § 21 II 1) oder - allgemei­ ner gesagt - bei dem System einseitiger Kollisionsnormen (vgl. oben § 11 III 2): Auch dort werden fremde Rechtsordnungen danach gefragt, ob sie nach ihren eigenen Kollisionsnormen angewandt sein wollen. Der Unterschied liegt jedoch darin, daß hier nur eine bestimmte Rechtsord­ nung zusätzlich beachtet wird, also keine „offene Verweisung“ auf jede beliebige Rechtsordnung erfolgt. II.

In der Begründung für eine solche Abweichung von der Regel gehen zwei Gedanken ineinander über. Einmal handelt es sich um die sozusa­ gen „bereitwillige“ Anpassung an den Willen der eigentlich zuständigen, „näherberechtigten“ Rechtsordnung, neben welcher die von der regulä­ ren Kollisionsnorm bezeichnete Rechtsordnung nur eine sekundäre (hilfsweise oder ergänzende) Zuständigkeit haben soll; zum andern geht es um die „unwillig“ geübte „Selbstbeschränkung“ zugunsten einer stär­ keren Rechtsordnung, nämlich derjenigen, in deren Territorium eine Entscheidung entweder vollstreckt werden muß oder sonstwie der Aner­ kennung bedarf (Rechtsordnung des sog. Vollstreckungs- oder Anerken­ nungslandes)795. Grundsätzlich sind beide Gesichtspunkte scharf zu trennen. Man sollte also nicht von einer „Näherberechtigung des Aner­ 794 Andere Bedeutungen von „Näherberechtigung“ (etwa im Zusammenhang mit zwei zur Wahl stehenden Anknüpfungen, von denen die eine die bessere zu sein scheint) und von „Selbstbeschränkung“ (nämlich für den Verzicht auf eine allseitige Kollisionsnorm zugunsten bloß einseitiger Normierung oder bei tatbestandlicher Be­ schränkung einer Sachnorm, siehe oben § 23 I 1) sollen hier beiseite bleiben. 795 Im ersten Sinne besonders M. Wolff, IPR 81 f., im zweiten Melchior, Die Selbstbeschränkung des deutschen IPR: RabelsZ 3 (1929) 733 ff., vgl. Grundlagen (oben N. 403) 398 ff.

kennungslandes" sprechen. Denn der bloße Umstand, daß eine Entschei­ dung in einem bestimmten Lande vollstreckt werden muß oder sonstwie dort der Anerkennung bedarf, vermag bei sachlicher Betrachtung keinen Einfluß dieses Landes auf den Inhalt der Entscheidung zu rechtfertigen; das können höchstens diejenigen Umstände, aus denen sich die Notwen­ digkeit der Anerkennung durch das betreffende Land im einzelnen er­ gibt (z. B. der Wohnsitz eines Beteiligten, die Belegenheit der umstritte­ nen Sache), und diese Umstände berücksichtigt das IPR im Rahmen des Tunlichen ja ohnehin (insbesonders im Liegenschaftsrecht und im Fami­ lienrecht). Mit der Rücksichtnahme auf die stärkste Rechtsordnung soll vielmehr nur erreicht werden, daß die zu treffende Entscheidung nicht mehr oder weniger theoretisch bleibt und vielleicht zu einem „hinken­ den“ Rechtsverhältnis führt (vgl. unten § 48), sondern voll wirksam werden kann. Freilich ist im Einzelfall oft schwer auszumachen, ob auf eine näherberechtigte oder auf eine stärkere Rechtsordnung, ob also be­ reitwillig oder unwillig auf ein fremdes Kollisionsrecht Rücksicht ge­ nommen wird. Das direkte Gegenteil zum Nachgeben gegenüber einer stärkeren Rechtsord­ nung bildet die forcierte Durchsetzung des eigenen Standpunkts, z. B. in Erb­ teilungssachen durch Einkalkulierung einer gegenteiligen ausländischen Stel­ lungnahme796.

III. Für die Art und Weise, in der eine Kollisionsnorm bei der Verweisung auf das inländische oder ein sonstiges Recht die Haltung eines andern Staates respektieren kann, bieten sich zwei Möglichkeiten: Man kann die Durchsetzung der regulären Verweisung einerseits von dem Schwei­ gen, der Passivität des „näherberechtigten“ oder „stärkeren“ Staates ab­ hängig machen (also davon, daß er keine eigene Zuständigkeit bean­ sprucht) oder anderseits von seiner positiven Zustimmung. Das bekannteste Beispiel der ersten Art bildet Art. 28 EGBGB, nach wel­ chem die Anwendung eines familien- oder erbrechtlichen Gesamtstatuts be­ dingt ist durch das Fehlen eines Einzelstatuts nach dem Recht des Lageortes 796 Vgl. etwa Art. 11 II Disp. prel. C. civ. des Entwurfs von 1931 (Commissione Reale per la riforma dei Codici, Codice civile, Primo Libro, Progetto e Relazione, Rom 1931), welcher lautete: „Wenn infolge einer Bestimmung des Rechtes am Lageort des Vermögens die Anwendung des Heimatrechts des Erblassers ganz oder teilweise unmöglich ist, so regelt der Richter die Teilung derart, daß er das Heimatrecht soweit befolgt wie möglich, nötigenfalls durch Zu- und Abschläge.“

(Näheres unten IV 2 b). Als weiteres Beispiel aus dem deutschen Recht mag man Art. 23 EGBGB betr. die Vormundschaft über einen Ausländer nennen, welcher (zwar zunächst nur für die inländische Zuständigkeit, aber damit zu­ gleich) für die Anwendung inländischen Rechts auf die Führung der Vormund­ schaft voraussetzt, daß der Heimatstaat die Fürsorge nicht übernimmt. Ferner gehören hierhin: Art. 28 des Schweizer NAG, der die Anwendung des Hei­ matrechts auf Schweizer, welche im Ausland ihren Wohnsitz haben, davon ab­ hängig macht, daß diese „nach der ausländischen Gesetzgebung dem inländi­ schen Rechte nicht unterworfen“ sind; § 7 des österreichischen Entwurfs von 1913/14, wonach die Parteien ein Rechtsverhältnis einem bestimmten Rechte unterwerfen können, „insoweit nicht zwingende Vorschriften derjenigen Geset­ ze entgegenstehen, die nach den sonst entscheidenden Grundsätzen auf das Rechtsverhältnis anzuwenden sind“797; endlich die amerikanische Regel, daß eine nach dem Recht des Eheschließungsortes gültige Ehe überall anzuerkennen ist, wenn sie nicht einer „strong public policy“ des nächstbeteiligten Staates widerspricht798. Ein Beispiel der zweiten Art ist mir nur aus dem (parallel gelagerten) Recht der internationalen Zuständigkeit zur Hand, nämlich § 606b Nr. 1 ZPO, der die inländische Zuständigkeit für Ehesachen von Ausländern davon abhängen läßt, daß nach dem Heimatrecht des Mannes die zu fällende Entscheidung an­ erkannt werden wird.

IV. Auf welche fremden Kollisionsrechte soll nun das inländische IPR Rücksicht nehmen? 1. Man könnte versuchen, den positiven wie auch den negativen Kompe­ tenzkonflikt - also die Probleme der Näherberechtigung wie der Rückverwei­ sung - aufgrund einer einheitlichen Formel zu lösen: Im Konfliktsfall soll immer die Kollisionsnorm desjenigen Landes den Vorrang haben, welches die stärkere, wirksamere Beziehung zum Sachverhalt besitzt und daher ohnehin die größere Aussicht hat, seine Auffassung in concreto durchzusetzen799. Wenn etwa zwi­ schen Heimatstaat und Wohnsitzstaat ein Konflikt entsteht, weil jeder von beiden sich selbst oder jeder den andern für zuständig erklärt, so würde danach immer die Kollisionsnorm des Wohnsitzstaates zum Zuge kommen. Zur Durch­ 797 Ähnlich Art. 13 II des Benelux-IPR (oben N. 473): „Hat ein Vertrag seinen offenbaren Schwerpunkt in einem bestimmten Lande, so können die Bestimmungen dieses Landes, welche... die Anwendung jeden anderen Rechtes ausschließen, durch den Parteiwillen nicht ausgeschlossen werden.“ 798 Restatement2 § 283 (2). 799 Dieser Gedanke von Aubin wird angedeutet in der deutschen Stellungnahme zum Thema Renvoi (oben N. 766) unter II Abs. 2. 19 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

führung dieses Gedankens bedarf es einzig einer festen (am besten international zu vereinbarenden) Rangordnung der Anknüpfungsmomente nach der Reihen­ folge ihrer „Stärke“, etwa: Belegenheit der Sache - gegenwärtiger Wohnsitz der nächstbeteiligten Person - Staatsangehörigkeit dieser Person - Wohnsitz ei­ ner mittelbar beteiligten Person (Ehemann, Vater) usw. Gegen diese Lösung er­ heben sich jedoch drei Einwände: a) Die generelle Regelung des positiven Konfliktes wird dadurch erschwert, daß „der praktische Ansatzpunkt in diesen Fällen ein ganz anderer ist als im Falle der Rückverweisung. Während nämlich bei der Rückverweisung der Richter durch seine reguläre Anknüpfungsnorm auf die andere Rechtsordnung geführt wird, bedarf es beim positiven Konflikt dazu einer besonderen An­ knüpfung, wie sie etwa in dem genannten Art. 28 ausgesprochen ist“800. 801 Denn ohne eine solche besondere Anknüpfung müßte der Richter alle nur entfernt in Betracht kommenden Rechtsordnungen daraufhin prüfen, ob nicht etwa eine von ihnen sich für zuständig erklärt (vgl. oben § 4 II la).

b) Eine Rangfolge der Anknüpfungen nach ihrer Wirksamkeit wäre nur in den Grundzügen eindeutig (Lageort, Erfüllungsort, Wohnsitz, Staatsangehörig­ keit; Vorrang der unmittelbar beteiligten Person vor ihrem Vater, Ehegatten oder Vormund; Vorrang der Gegebenheiten zur Zeit der Klage vor früheren). Dagegen tauchen bei Einzelheiten sehr bald schwierige Fragen auf, für die es keine ohne weiteres einleuchtende Antwort gibt und über die deshalb eine in­ ternationale Verständigung kaum zu erhoffen ist. (Geht etwa der Abschlußort eines Vertrages dem Heimatrecht des Schuldners vor? Bei einem seerechtlichen Vertrage das Recht der Flagge einem bloß statutarischen Gesellschaftssitz der Schuldnerin? Der jetzige Wohnsitz des Vormundes der früheren Staatsangehö­ rigkeit des Mündels?) c) Schließlich wären die Ergebnisse nicht überzeugend. Weder wird man sich damit abfinden, daß beim positiven Konflikt stets die handgreiflichere Anknüpfung obsiegt (auch wenn sie in concreto gar nicht die stärkere ist, weil nämlich das Vollstreckungsobjekt sich anderswo befindet), noch verdient beim negativen Konflikt immer die kompliziertere, abstraktere Regelung den Sieg (z. B. das in England selbst umstrittene sog. revived domicile of origin gegen­ über einem Wohnsitz im kontinentalen Sinne; vgl. zum Gegensatz von ab­ strakter und nächstliegender Anknüpfung oben § 20 I 2).

2. Statt einer generellen Lösung für alle positiven (und negativen) Konflikte bedarf es vielmehr der Unterscheidung^1. 800 So die deutsche Stellungnahme a.a.O. (Hervorhebung von mir). Schon wegen dieser Verschiedenheit kann nicht davon die Rede sein, daß positive und negative Konflikte etwa aus Gründen der Parität nur gemeinsam geregelt werden dürften. 801 Nach Heierli (oben N. 160) 120 f. führen meine folgenden Vorschläge zur

. a) kein und Art. sen.

Im Falle der echten ^Näherberechtigung'' besteht im allgemeinen Zweifel, welche Rechtsordnung als näherberechtigt anzusehen ist, man kann daher leicht durch eine besondere Kollisionsnorm (wie 28 EGBGB bezüglich der sog. gebundenen Güter) auf diese hinwei­

b) Dagegen ist die „stärkste Rechtsordnung^ schwer zu bestimmen. Für die Vollstreckung eines Leistungsurteils kommt der Lageort des Streitgegenstandes in Betracht oder der Wohnsitz des Schuldners als Mittelpunkt seines pfändbaren Vermögens. Aber die zweite Anknüp­ fung ist keineswegs immer passend, da das geeignetste Pfändungsobjekt sich ja in einem andern Lande befinden kann als der Wohnsitz des Schuldners. Die Belegenheit der Streitsache hingegen ist im allgemeinen wandelbar, wenn es nicht um unbewegliches Vermögen geht; und selbst dann können sich erhebliche Abgrenzungs- und Verrechnungsschwierig­ keiten ergeben, falls die unbewegliche Sache nur einen Teil eines Ge­ samtvermögens darstellt, z. B. einer Erbschaft. Eine Generalklausel aber, welche den Richter ermächtigt, von Fall zu Fall den tatsächlichen Voll­ streckungsmöglichkeiten Rechnung zu tragen, würde ein bedenkliches Moment der Rechtsunsicherheit schaffen802. Es erscheint daher angebracht, den Vorrang der stärkeren Rechtsord­ nung aufzugeben803. Zumindest sollte man ihn auf unbewegliches Ver­ mögen beschränken804, und auch für dieses braucht die lex rei sitae „Neukonzeption des gesamten IPR“. Aber den von ihm erwähnten Grundsatz, wonach bei jeder Anknüpfung erwogen werden soll, welche Rechtsordnung dem konkreten Fall am nächsten stehe, vertrete ich hier nicht; vielmehr werden in diesem V. Kapitel für „Sonderfragen der Anknüpfung“ spezielle Regeln entwickelt. 802 Der italienische Gesetzgeber von 1938 lehnte eine entsprechende Vorschrift für das italienische Erbrecht (oben N. 796) u. a. mit der Begründung ab, daß sie „dem Richter eine ungerechtfertigte Willkür gestatten würde“; Näheres RabelZ 15 (1949-50) 31. - Das einheitliche IPR der Benelux-Staaten von 1969 (vgl. oben N. 473) berückisichtigt die lex rei sitae für Nachlaßgegenstände nur hinsichtlich des ding­ lichen Rechtserwerbs unter Vorbehalt einer rechnerischen Ausgleichung (Art. 10). 803 So auch Vorschläge ... Erbrecht 2, 14 f. 804 Diese Beschränkung fehlt im Wortlaut des deutschen Art. 28 EGBGB, welcher allgemein von „Gegenständen“ spricht. Jedoch sind praktisch keine Fälle bekannt ge­ worden, in denen die übrigen Voraussetzungen dieser Vorschrift für anderes als unbe­ wegliches Vermögen zutrafen. Keine Ausnahme bildet KG 21. 12. 1935, JW 1936, 2465: Bestellung und gesetzliche Herabsetzung einer güterrechtlich begründeten Ren­ tenschuld nach der lex rei sitae; denn hier kamen nicht andere güterrechtliche, sondern sachenrechtliche und Eingriffsnormen zum Zuge, die stets gesondert anzuknüpfen sind. Im Falle LG Hamburg 28.11.1972, IPRspr. 1972 Nr. 127, ist das Bestehen einer öster­ reichischen „besonderen Vorschrift“, nach welcher die Verfügungsbefugnis eines Testa­ mentsvollstreckers über österreichische GmbH-Anteile stets dem österreichischen

nicht schlechthin den Vorzug vor dem regulären Statut des Ehegatten-, Kindschafts- und Erbrechts zu erhalten, sondern nur insoweit, als das Recht des Lageorts für die betreffenden Immobilien besondere Vor­ schriften aufstellt. Als solche besonderen Vorschriften - von denen auch Art. 28 EGBGB spricht - sind drei Gruppen von Normen zu verstehen: (1) materiell­ rechtliche Vorschriften über Sondervermögen, etwa über Familien-Fideikommisse und Erbhöfe (insofern decken sich in Art. 28 Näherberech­ tigung und Rücksichtnahme auf die stärkere Rechtsordnung); (2) mate­ riellrechtliche Spezialbestimmungen für Grundstücke im Gegensatz zu beweglichem Vermögen (wie etwa § 884 BGB, welcher die Beschrän­ kung der Erbenhaftung gegenüber einem durch Vormerkung im Grund­ buch gesicherten Anspruch ausschließt); endlich (3) Kollisionsnormen, welche alle oder gewisse Rechtsverhältnisse in bezug auf Grundstücke einem andern Statut unterwerfen, als es für gleichartige Rechtsverhält­ nisse in bezug auf sonstiges Vermögen gilt, sei es nur im Erbrecht (Nachlaßspaltung, so z. B. in Frankreich), sei es auch hinsichtlich der Ge­ schäftsfähigkeit805, des Ehegüterrechts und der Verwaltung von Kin­ desvermögen (so nach Common Law). Eine Beschränkung auf jene Fäl­ le, in denen die lex rei sitae mit ihrer Sonderregelung politische oder wirtschaftspolitische Ziele verfolgt806, ist schon deshalb untunlich, weil die Ziele einer Rechtsnorm im Laufe der Zeit wechseln können, ohne daß dies immer klar festzustellen ist. Im übrigen kann eine Rücksichtnahme auf die stärkste Rechtsordnung derart erfolgen, daß der Richter den Erlaß eines Urteils, das auf Voll­ streckung im Ausland zielt und dort ganz sicher nicht anerkannt werden wird, wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses ablehnt, oder (nach Wengler807) durch eine Generalklausel, daß niemand verurteilt werden darf, eine Handlung im Ausland vorzunehmen, wenn die Befolgung des Urteils dort aller Voraussicht nach verhindert werden wird.

5 39: Statutenwechsel

Statutenwechsel ist im weiteren Sinne jeder Wechsel der materiell maßgebenden Rechtsordnung. Recht unterliegt, trotz der Ausführungen von H. Hoyer, Z.f.Rvgl. 16 (1975) 159, nicht eindeutig erwiesen. 805 Diesen Fall berücksichtigt jedoch Art. 28 EGBGB nicht. 806 So Kegel, IPR 165. 807 Wengler, AcP 158 (1959/60) 550.

I.

Ein solcher Wechsel kann folgende Ursachen haben:

1. Der Sach verhalt kommt vor die Gerichte eines andern Landes^ in welchem andere Kollisionsnormen gelten (Zuständigkeitswechsel; der für diesen Fall auch gebrauchte Name „Kollisionsnormenwechsel“ bleibt besser dem Fall 2 vorbehalten). Dann hat das nunmehr zuständige Ge­ richt grundsätzlich von seinem eigenen Kollisionsrecht auszugehen808.

2. Das Kollisionsrecht des Gerichtes ändert sich (z. B. durch Über­ gang vom Wohnsitz- zum Staatsangehörigkeitsprinzip oder umgekehrt), sei es anläßlich einer Reform des inländischen materiellen Rechts oder aufgrund eines Staatsvertrages, sei es nach einer Annexion, indem der erwerbende Staat sein eigenes IPR einführt, oder aus sonstigem Anlaß. Auf diese Fälle finden mangels besonderer Vorschriften - wie sie etwa bei einem Staatsvertrag sich aus diesem selbst ergeben809 - die Regeln des normalen intertemporalen Rechts entsprechende Anwendung810. 3. Die Anknüpfungstatsachen ändern sich (z. B. die Lage einer be­ weglichen Sache, der Wohnsitz einer beteiligten Person), und dadurch wird bei Anwendung der gleichen Kollisionsnormen eine andere Rechts­ ordnung maßgebend. Für diesen Fall - auch „conflit mobile“ genannt - hat Zitelmann das Wort „Statutenwechsel“ geprägt, und er soll im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen stehen. Die Bezeichnungen „Eingangsstatutenwechsel“ und „Ausgangsstatutenwech­ sel“ für die Fälle, in denen auf diese Weise inländisches Recht nachträglich an­ wendbar bzw. unanwendbar wird811, besagen nicht das Gemeinte, desgleichen 808 Gegen die Anwendung fremden Kollisionsrechts zum „Schutz wohlerworbener Rechte“ vgl. oben § 21 II 1. 809 Hierauf verweist Kropholler, RabelsZ 34 (1970) 780. 810 Ähnlich Kropholler a.a.O. Die Grenzen dieser Analogie, die sich aus der Ei­ genart des IPR gegenüber dem materiellen Recht ergeben, zeigt aufgrund einer Ana­ lyse der kontinentaleuropäischen und brasilianischen Rechtsprechung Giardina, Successione di norme di conflitto (1970) 99 ff. Danach wird neues Kollisionsrecht öfter als neues Sachrecht angewandt, besonders auf nur teilweise zurückliegende Sachverhal­ te (220 f.). Außerdem verallgemeinert G. den von Kahn nach der einheitlichen Kodi­ fikation des bis dahin zersplitterten deutschen IPR aufgestellten Grundsatz, daß altes Kollisionsrecht nicht anzuwenden sei, falls der Sachverhalt seinerzeit keine Beziehung zum Inland hatte; siehe Kahn, Das zeitliche Anwendungsgebiet der örtlichen Kollisi­ onsnormen: JherJb. 43 (1901) 299 (312) = Abhandlungen I 363 (374); Giardina 111 ff. (kritisch dazu Gothot, Rev. crit. 61 [1972] 527 f.). 811 So BayObLG 13. 1. 1961, IPRspr. 1960-61 Nr. 143, unter C II 1 c im An­ schluß an ein Gutachten von Ferid; ders., IPR (1975) 12.

nicht „indifferenter Statutenwechsel“812 für den Übergang von einem fremden Statut zum andern.

4. Durch Wechsel der politischen Zugehörigkeit eines Gebietes (Sou­ veränitätswechsel) erhält die betreffende Rechtsordnung einen andern Charakter: Ausländisches Recht wird inländisches oder umgekehrt, das Recht eines Gesamtstaates wird zum Recht eines selbständigen Gebietes usw. Diese Fälle spielen zum Teil für die Anwendung der allgemeinen und besonderen Vorbehaltsklauseln eine Rolle (vgl. unten § 51 III 2), teils handelt es sich um das Problem der Spaltung (unten § 40 II). Hervorgehoben sei hier der Fall, daß ein Staat mit mehreren regionalen Rechtsordnungen (Mehrrechtsstaat) das gesamte Territorium einer dieser Teil­ rechtsordnungen an einen oder mehrere andere Staaten verliert (wie Deutsch­ land im Jahre 1945 die erst seit 1938 angegliederten Gebiete des ABGB sämt­ lich verloren hat durch die Wiedererrichtung Österreichs, der Tschechoslowa­ kei und Jugoslawiens). Können dann die Bewohner der betreffenden Gebiete - einschließlich der im Ausland lebenden früheren Bewohner - trotz Beibehal­ tung der Staatsangehörigkeit des abtretenden Staates nach dem Staatsangehö­ rigkeitsprinzip weiter unter derselben Rechtsordnung leben? Oder fallen sie automatisch unter das im abtretenden Staat vorherrschende Recht, weil sie sonst unter einem „ausländischen“ Recht leben würden? Hier zeigt sich einmal mehr, daß das Staatsangehörigkeitsprinzip den besonderen Problemen der Mehrrechtsstaaten nicht gerecht wird, da es die konkrete Gebietszugehörig­ keit nicht gebührend berücksichtigt813.

5. Dem Statutenwechsel ähnlich ist der Fall, daß eine inhaltliche Än­ derung des materiell maßgeblichen Rechts (z. B. bei Inkrafttreten eines neuen Zivilgesetzbuches)814 erfolgt. Dann sind grundsätzlich die inter­ temporalen Grundsätze dieses Rechtes zu beachten (Näheres unter III).

II. Zu den Wirkungen des Statutenwechsels gehört auch die Möglichkeit, eine unter dem alten Statut abgewiesene Klage erneut zu erheben, und 812 Firsching, Einführung in das IPR (1974) 71. 813 Speziell bezüglich der Sudetendeutschen siehe die Vorauflage S. 142 mit N. 330. 814 Die französische Gegenüberstellung von conflit international transitoire (für diesen Fall) und conflit transitoire international (für den oben zu 2 genannten Fall) wäre zu verdeutschen „intertemporale internationale Kollision - internationale inter­ temporale Kollision“; besser verzichtet man auf diese zwar sehr feine, aber wenig an­ schauliche Gegenüberstellung.

zwar nicht nur bei Zuständigkeitswechsel (oben II), sondern auch bei einem Wechsel der Anknüpfungstatsache (oben I 3), da insofern eben ein veränderter Sachverhalt vorliegt815. Bei Änderung der einschlägi­ gen Kollisionsnorm (oben I 2) hängt es - wie bei einer Änderung des materiellen Rechts (oben I 5) - von dem (erkennbaren oder vermutli­ chen) Willen des Gesetzgebers ab, ob rechtskräftige Entscheidungen un­ berührt bleiben. In all diesen Fällen handelt es sich nicht um die sog. „kollisionsrechtliche Relativität der Rechtskraft“, d. h. die Nichtbeachtung inländischer Rechts­ kraft, soweit für eine Vorfrage ausländisches Kollisionsrecht maßgebend ist (siehe unten § 46 III N. 961). Vielmehr geht es hier um die Grenzen der Rechtskraft vom Standpunkt des eigenen Rechts. Dieses kann aber von der Bindung an rechtskräftige Vorentscheidungen nicht etwa alle Urteile freistel­ len, die nach einem andern als dem seinerzeit angewandten materiellen Recht ergehen; denn sonst müßte auch nach jeder Anwendung falschen Rechts eine neue Klage auf Entscheidung gemäß dem richtigen Recht zulässig sein.

III.

Das Hauptproblem ist die Rückwirkung eines Statutenwechsels. Dabei müssen wir drei Typen der betroffenen Sach verhalte unterscheiden: ab­ geschlossene, offene (schwebende oder „flüssige“) und gemischte Sach­ verhalte. 1. Abgeschlossene Sachverhalte kommen nach dem Statutenwechsel nur noch incidenter zur Sprache - z. B. eine durch den Tod aufgelöste Ehe nach dem Tode beider Ehegatten oder ein abgewickelter Erbfall (über nicht abgewickelte siehe unten 3). Hier taucht die Frage der Rückwirkung nur ausnahmsweise auf. Außer dem Falle des Zuständig­ keitswechsels (oben I l)816 ist die Möglichkeit zu erwähnen, daß bei ei­ ner Änderung des materiellen Rechts (oben 15) die maßgebende Rechts­ ordnung den Sach verhalt entgegen einer international üblichen Vermu­ tung neu beurteilt. Die Anwendung einer Rückwirkungsklausel der letztgenannten Art wird man in extremen Fällen unter Berufung auf den ordre public ablehnen können. Als Regel aber ist anzunehmen, daß Kollisionsnormen grundsätzlich auf geltendes fremdes Recht verweisen und daß daher - auch für die Beurteilung zurückliegender Sachverhal­ 815 So Kramer, Z.f.Rvgl. 12 (1971) 303, entgegen OGH 18. 6. 1970, ebd. 300. 816 Zur Rückwirkung neuen Kollisionsrechts (oben I 2) siehe N. 810.

te - älteres Recht nur aufgrund der jetzt geltenden intertemporalen Normen der maßgebenden Rechtsordnung angewandt werden kann. Für diese Regel spricht zunächst die theoretische Erwägung, daß völ­ lig außer Kraft gesetzte, in ihrem Ursprungslande nicht mehr anwend­ bare Vorschriften ebenso wie eine überholte Rechtsprechung nicht mehr Recht sind. Hinzu kommen zwei praktische Gesichtspunkte:

a) Das abgeschaffte, im Ursprungslande auch nicht mehr auf ältere Fälle angewandte Recht ist tot und versteinert, es entbehrt der immer neuen Auslegung und Anpassung durch eine eigene (und nicht nur durch ausländische) lebendige Rechtsprechung. Daran ändert auch nichts die schön klingende Erklärung, das abgeschaffte Recht lebe in den Men­ schen fort, die unter diesem Rechte aufgewachsen sind und vor seiner Aufhebung das betreffende Land verlassen haben. Denn solches Fortle­ ben in der Erinnerung und vielleicht auch im Handeln von Privatperso­ nen ist kein Ersatz für die Anwendung, verbindliche Auslegung und Fortbildung durch zuständige Gerichte.

b) Außerdem müssen wir dem fremden Gesetzgeber das Recht zur Bereinigung einer unklaren Rechtslage zugestehen sowie zur nachträgli­ chen Selbstkorrektur durch rückwirkende Gesetze, wie es auch der deut­ sche Gesetzgeber z. B durch das Gesetz über die Anerkennung freier Ehen rassisch und politisch Verfolgter von 1950 in Anspruch genommen hat817. Die Wirksamkeit einer solchen Selbstkorrektur des Gesetzgebers beim Zusammentreffen mit einem Wegfall der ursprünglichen Anknüp­ fungstatsache - also z. B. für die Ehen früherer Bürger - davon ab­ hängig zu machen, daß wenigstens eine andere, eine „Nachschub"-Anknüpfung zu dieser Rechtsordnung bestehe818, scheint mir de lege lata unberechtigt und wegen der Unbestimmtheit dieses Begriffes auch de lege ferenda bedenklich. - Im Fall des Souveränitätswechsels (oben I 4) trägt grundsätzlich der neue Staat die Verantwortung für das Recht des übernommenen Gebietes (vgl. oben § 27 III 5).

2. Den Gegenpol zu den abgeschlossenen Rechtsverhältnissen bilden die im Zeitpunkt des Statutenwechsels noch ganz offenen, jederzeit 817 Gesetz vom 23. 6. 1950 (BGBl. 226). - Mit Recht betont Castel, Can. B. Rev. 39 (1961) 621, daß die Annullierbarkeit einer Ehe kein „vested right" ist. Dem­ gemäß empfiehlt er, die rückwirkungsfeindliche Entscheidung Lynch v. Provisional Government of Paraguay (1871), L. R. 2 P. & D. 268 (vgl. Makarov, RabelsZ 22 [1957] 209 f.), nur für Enteignungsfälle gelten zu lassen (624). 818 Wengler, RabelsZ 23 (1958) 560 ff.

wandelbaren Rechtsverhältnisse, die ohne große Bedenken - wenn sie nur nicht allzu plötzlich geändert werden - einer neuen Ordnung un­ terstellt werden können, insbesondere Dauerrechtsverhältnisse, in denen Rechte und Pflichten immer neu entstehen und korrespondieren (z. B. die persönlichen Rechtsbeziehungen zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern). Hier ist der Statutenwechsel kaum etwas anderes als irgendeine Rechtsänderung, die im Laufe einer Reihe gleichartiger, rechtlich selbständiger Vorgänge eintritt. Bisweilen ergeben sich techni­ sche Anpassungsprobleme, z. B. beim Übergang von einem Sach- oder Güterstatut zu einem andern; im innerstaatlichen Recht werden diese bei Einführung eines neuen Gesetzes im allgemeinen durch Überleitungs­ bestimmungen geregelt, die jedoch beim internationalen Statutenwechsel nur dann analog zu verwerten sind, wenn das frühere Recht dieses Lan­ des ein gleiches oder ähnliches Rechtsinstitut kannte. Findet ein Rechts­ verhältnis in dem neuen Statut kein Gegenstück, so muß notgedrungen das fremde Ursprungsrecht maßgebend bleiben (analog der Fortgeltung alten Rechts nach den intertemporalen Vorschriften der Artt. 157 und 182 EGBGB betr. erwählten Wohnsitz bzw. Stockwerkseigentum, die es im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht mehr gab) - immer vorbehaltlich des ordre public des neuen Statuts und vielleicht mit einer gewissen Anpas­ sung (zu dieser siehe unten § 47). Z. B. wird die Polygamie eines Orientalen, der als Staatenloser oder Flücht­ ling unter deutsches Personalstatut tritt (eine Einbürgerung ist für ihn mangels kultureller Assimilation wohl ausgeschlossen!), ihre Unterhalts-, vermögensund erbrechtlichen Wirkungen behalten können, nicht aber ihre rein persönli­ chen. - Daß der sog. numerus clausus der Sachenrechte im BGB nicht für sol­ che Sachenrechte gilt, die nach einem andern Gesetz wirksam begründet sind, zeigt Art. 184 EGBGB810. Trotzdem geht die Praxis in Deutschland wie an­ derswo dahin, fremde Sachenrechte, die sich nicht in inländische überführen lassen, nicht anzuerkennen (bei Mobilien: vorbehaltlich ihrer Wiederherstel­ lung bei Verlassen des Landes)819 820.

3. Die eigentlich problematischen Fälle des Statutenwechsels sind jene gemischten Rechtsverhältnisse, bei denen ein im wesentlichen zurücklie­ gender Sachverhalt in die Gegenwart fortwirkt oder (umgekehrt ausge­ drückt) das gegenwärtige Rechtsverhältnis seine rechtlichen Grundlagen ganz in der Vergangenheit hat. 819 So mit Recht Jochen Schröder, Die Anpassung von Kollisions- und Sach­ normen (1961; bespr. in RabelsZ 26 [1961] 753 ff.) 124. 820 Vgl. etwa von Caemmerer, Zum internationalen Sachenrecht, in: Xenion Zepos II (1973) 25 ff.

a) Als Grundregel gilt hier - wie im einfachen intertemporalen Recht daß alle zurückliegenden Sachverhalte einschließlich ihrer bis­ herigen Wirkungen dem früheren Statut unterworfen bleiben, dagegen die künftigen Wirkungen sich nach dem neuen Statut richten. Dieser Grundsatz wird gemeinhin mit dem verwirrenden Namen der „unei­ gentlichen Rückwirkung“ bezeichnet; besser spricht man im Anschluß an Roubier von „sofortiger Wirkung“ (oder Wirkung ex nunc)821. Im Einzelfalle kann diese Regel zu Abgrenzungsschwierigkeiten füh­ ren, wenn aus einem zurückliegenden Sachverhalt erst später rechtliche Wirkungen entstehen sollen. Darf z. B. als Scheidungsgrund eine Tatsache gelten, die zur Zeit ihres Ein­ tritts kein Scheidungsgrund war?822 Soll die Gültigkeit eines Testamentes nach dem zur Zeit der Errichtung oder nach dem zur Zeit des Erbfalls gelten­ den Rechte beurteilt werden?823 Kann ein Unterhaltsanspruch aus unehelicher Abstammung geltend gemacht werden, wenn das zur Zeit der Zeugung oder der Geburt maßgebende Recht einen solchen Anspruch nicht kannte?824

b) Als positivrechtliche Ausnahme wird zur Vermeidung solcher Ab­ grenzungsprobleme und im Interesse einer einheitlichen Behandlung zu­ sammengehöriger Rechtsfragen bisweilen für ein komplexes Rechtsver­ hältnis ein fester Anknüpfungszeitpunkt festgelegt. 821 Mit dem Begriff des „effet immediat“ hat Roubier, Les conflits de lois dans le temps (1929/1933, 2. Aufl. unter dem Titel „Le droit transitoire“ 1960), die in der französischen Lehre und Rechtsprechung zu Art. 2 C. c. (La loi ne dispose que pour l’avenir; eile n’a point d’effet retroactif) bis dahin herrschende, vom subjektiven Recht ausgehende Zweiteilung in „droits acquis“, für welche stets das alte Gesetz fort­ gelten sollte, und bloße „expectatives“, die dem neuen Gesetz unterstellt wurden, er­ setzt durch die hier zugrunde gelegte objektive Dreiteilung: rtroactivit - effet immediat - survie de la loi ancienne. Vgl. Willi Utz, Der Grundsatz der Nicht­ Rückwirkung der Gesetze (mschr. Diss. Tübingen 1959). 822 Art. 17 II EGBGB trifft für diesen Fall die Kompromißregelung, daß die Tat­ sache nach dem alten Recht wenigstens ein Trennungsgrund gewesen sein muß. Die Frage verliert an Bedeutung, je stärker das materielle Scheidungsrecht nicht auf einzel­ ne zurückliegende Handlungen (Verschulden) abstellt, sondern auf den gegenwärtigen Zustand der Ehe (Zerrüttung). 823 Art. 24 stellt nur bei deutschem Erbstatut auf den Zeitpunkt der Errichtung ab, vgl. oben § 16 III 2 b. 824 Art. 21 unterwirft die Unterhaltspflicht des Vaters gegenüber dem uneheli­ chen Kinde dem Heimatrecht der Mutter zur Zeit der Geburt, und zwar auch hin­ sichtlich der Höhe. Zur Begründung der entsprechenden intertemporalen Vorschrift (Art. 208 EGBGB) wurde darauf hingewiesen, daß der Umfang der Unterhaltspflicht mit ihren strengeren oder weiteren Voraussetzungen zu korrespondieren pflegt; Prot. 9096 f. = Mugdan I 252. (Das Nichtehelichengesetz vom 19. 8. 1969 hat dagegen die nach altem Recht begründeten Unterhaltstitel mit einer Feststellung der Vater­ schaft nach neuem Recht gleichgestellt: Art. 12 § 3 I.) Vgl. auch unten § 40 III a:E.

So ist im EGBGB als maßgebend fixiert: für die Ehescheidung der Zeitpunkt der Klageerhebung (Art. 17 I) bzw. der Entscheidung (Art. 17 III)825; für Voraussetzungen und Wirkungen der Legitimation und Adoption der Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens (Art. 22); für die Erbfolge - mag die Abwicklung des Erbfalls sich im Einzelfall noch solange hinziehen - der Zeitpunkt des Todes des Erblassers (Artt. 24 f.)826.

Auch sonst kann die Grundregel der sofortigen oder ex-nunc-Wir­ kung vom positiven Recht in beiden Richtungen durchbrochen werden. Einerseits kann der Gesetzgeber auch zurückliegende Sachverhalte einer Neubewertung unterwerfen, wenn er die bisherige Regelung als sehr un­ billig empfindet (echte Rückwirkung)827. Anderseits wird öfter die Fortgeltung des alten Statuts für einmal begründete Rechtsverhältnisse festgelegt828, insbesondere die sog. „Unwandelbarkeit“ (siehe § 40). c) Ohne gesetzliche Grundlage kann ausnahmsweise eine Neubewer­ tung zurückliegender Sachverhalte zum Schutz eines seither begründeten Vertrauens der Beteiligten angemessen sein, wenn mit einem Wechsel der Anknüpfungstatsachen (oben I 3) ein Zuständigkeitswechsel (oben II) verbunden ist. Haben z. B. eingewanderte „Eheleute“ im neuen Heimat­ staat eine nochmalige Eheschließung oder Ehescheidung deshalb unter­ lassen, weil eine nach dem alten Heimatrecht ungültige oder geschiedene Ehe bzw. eine unwirksame Ehescheidung nunmehr als voll wirksam an­ gesehen wurde, so sollte diese Auffassung des neuen Heimat- und Wohnsitzstaates auch anderswo mit Wirkung von der Einwanderung oder Einbürgerung an respektiert werden, und zwar auch dann, wenn 825 Zu dem Streit, ob Art. 17 Abs. 1 EGBGB jetzt ebenso zu lesen ist wie Abs. 3, siehe OLG Celle 25. 9. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 51. 828 Die Preisgabe einer solchen Fixierung - z. B. durch Anwendung neuen Erb­ rechts auf die noch nicht abgewickelten Nachlässe der vor Inkrafttreten des Gesetzes verstorbenen Erblasser - ist nicht als „Rückwirkung“ anzusprechen. Den deutschen ordre public (Art. 30 EGBGB) gegen die entsprechenden Regelungen des jugoslawi­ schen, polnischen oder rot-chinesischen Nachkriegsrechtes anzurufen, verbietet schon der Hinweis auf die gleichartige Vorschrift des Art. XII Abs. 2 des Kontrollratsgeset­ zes Nr. 45 über die Aufhebung der Erbhofgesetze (Amtsbl. 256), die auch nach Been­ digung des Besatzungsregimes unbeanstandet fortgilt; so Firsching, Nachlaßrecht4 (1971) 39 N. 4. 827 Eine entsprechende Neubewertung der Rechtsverhältnisse von Staatenlosen und Flüchtlingen, die bisher noch ihrem alten Heimatrecht unterstanden, ist jedoch bei Ein­ führung des Art. 29 n. F. EGBGB (oben N. 590) und der späteren Sondergesetze aus Gründen der Rechtssicherheit unterblieben. 828 Z. B. der Fortbestand der einmal erworbenen Volljährigkeit und der bereits ausgeübten Testierfähigkeit bei der Einbürgerung in Deutschland: Artt. 7 II und 24 III 1 Halbs. 2 EGBGB.

die Beteiligten oder einer von ihnen inzwischen weitergewandert sind und jetzt ein drittes oder wieder das erste Personalstatut besitzen. Im einzelnen können hier aus der Rechtsprechung drei Gruppen von Fällen genannt werden: solche, in denen die Formgültigkeit einer Ehe in Rede stand820, solche, bei denen es um eine Entscheidung zur materiellen Ehegültig­ keit ging829 830, und Ehescheidungsfälle831. Die rechtliche Konstruktion ist freilich zweifelhaft, denn es gibt kein be­ sonderes „Statut der nachträglichen automatischen Heilung“ von Rechtsakten oder gar des „gegenwärtigen Familienstandes“ (als ledig, verwitwet usw.). Es ist vorgeschlagen worden, hier nicht vom eigenen Kollisionsrecht des Forums auszugehen, das auf das alte Heimatrecht verweist, sondern aufgrund eines „principe suprieur de droit international prive“ von dem Kollisionsrecht des zweiten Staates832. Aber besser ist es, vom Kollisionsrecht des Forums auszu­ gehen und die Fälle systemimmanent zu lösen: durch unselbständige Anknüp­ 829 Prince de Wrede c. dame Maldanert Cass. civ. 9. 5. 1900, S. 1901. I. 185 = Clunet 27 (1900) 613: Anerkennung der zweiten Ehe einer früheren Österreicherin trotz gültiger Schließung der ersten Ehe in Österreich, weil nach Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit durch das Ehepaar und nach Übertritt des Mannes zur Orthodoxie ein russisches Gericht die erste Ehe mangels nachträglicher orthodoxer Trauung annul­ liert hatte; LG Düsseldorf 30.1.1963, IPRspr. 1962-63 Nr. 63: deutsche Witwenren­ te für eine israelische Staatsangehörige, obwohl ihre Ehe in Deutschland nicht standes­ amtlich, sondern nur vor einem Rabbiner geschlossen war, weil Israel die Ehe aner­ kannte (vgl. OLG Koblenz 21. 10. 1975, Rspr. z. Wiedergutmachung 1976, 14). Anders LG Essen 4. 7. 1952, IPRspr. 1952-53 Nr. 98: Nichtehe bei Eheschließung in Deutschland in englischer Form trotz anschließenden Erwerbs der britischen Staats­ angehörigkeit und Übersiedlung nach England, sowie BSozG 15. 8. 1967, BSG 27, 96 = FamRZ 1967, 669 mit krit. Anm. Bosch = IPRspr. 1966-67 Nr. 76: Witwenrente trotz Wiederheirat vor englischem military chaplain in Deutschland und Übersiedlung nach England; anders auch OLG Hamm 30. 3. 1973, IPRspr. 1973 Nr. 56, dazu kri­ tisch Neuhaus, FamRZ 1973, 583: keine Berichtigung standesamtlicher Eintragungen, die von der Ungültigkeit der in Deutschland nur kirchlich geschlossenen Ehe eines Po­ len ausgehen, obwohl nach Übersiedlung der Ehegatten nach Polen die Ehe dort for­ mell anerkannt worden war. 830 RG 16. 5. 1931, RGZ 132, 416 = IPRspr. 1931 Nr. 59: keine Nichtigerklärung der Ehe eines protestantischen Österreichers mit einer jüdischen Russin trotz Nichtig­ keit nach beiden Heimatrechten, weil die Eheleute Italiener geworden waren und Ita­ lien die Ehe anerkannte. 851 Schwebel v. Ungar, 42 D.L.R. 2d 622 (Ont. C. A. 1963) = Rev. crit. 54 (1965) 321 mit Anm. Wengler, bestätigt durch 48 D.L.R. 2d 644 (S.C. 1964): Anerkennung der zweiten Ehe einer Israelin - obwohl die rabbinische Scheidung ihrer ersten Ehe sowohl nach dem damaligen ungarischen Heimatrecht der Ehegatten wie nach dem italienischen Ortsrecht nichtig war -, weil Israel die Scheidung anerkenne. Umgekehrt IPG 1965-66 Nr. 23 (Hamburg G 32/65): Witwenrente für deutsche Witwe trotz Scheidung der Ehe in Deutschland 1937, weil England, wohin die Eheleute ausgewan­ dert waren, die erzwungene Scheidung nicht anerkenne (von KG 30. 11. 1970, IPRspr. 1970 Nr. 57, trotz Vorlage der bestätigenden englischen Entscheidung In re Meyer [oben N. 120] im Ergebnis wohl mit Recht nicht akzeptiert, da der Sach verhalt zwei­ felhaft war). 832 Rigaux, Rec. des Cours 117 (1966-1) 429.

fung der Vorfrage, mit Hilfe der Vorbehaltsklausel des ordre public, eventuell durch Schaffung einer zusätzlichen Kollisionsnorm838. Das entscheidende Ele­ ment ist dabei m. E., daß eine vom Standpunkt des alten Heimatrechts gebote­ ne Handlung nach dem neuen, für das Verhalten der Beteiligten offenbar maß­ gebenden Recht unmöglich oder wenigstens entbehrlich war.

Ferner kann nach Verbringung einer beweglichen Sache in ein anderes Land die Begründung oder Übertragung eines dinglichen Rechtes, die nach dem bisherigen Lagerecht unwirksam war, nunmehr neu bewertet werden. So dürfte z. B. das Eigentum an einer von Deutschland nach Frankreich ver­ kauften Sache, das in Deutschland mangels Übergabe oder Übergabesurrogats beim Veräußerer blieb, mit Überschreiten der Grenze auf den Erwerber über­ gehen, da nach französischem Recht der Übereignungswille genügt. Ebenso kann ein Eigentumsvorbehalt, der in Italien unzulässig war, mit dem Übergang der Sache nach Deutschland wirksam werden. Beidemal ist allerdings erforder­ lich, daß die Einigung beim Grenzübertritt noch wirksam war884.

S 40: Unwandelbarkeit „Unwandelbarkeit“ eines Statuts bedeutet die alleinige Berücksichti­ gung der in einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Anknüpfungstat­ sachen ohne Rücksicht auf deren etwaige spätere Änderung. Sie ist die selbstverständliche, meist gar nicht erwähnte Regel für die Beurteilung punktueller Ereignisse wie Eintritt der Volljährigkeit, Vornahme eines Rechtsgeschäftes, Begehung einer unerlaubten Handlung. Ausnahmswei­ se gilt sie - und an diese Fälle denkt man bei dem Wort „Unwandel­ barkeit“ meistens - auch für Dauerrechtsverhältnisse, so nach Artt. 15, 21, 22 EGBGB für die güterrechtlichen Beziehungen der Ehegatten, für die Unterhaltspflicht des unehelichen Vaters834 835 und für das Adoptions­ verhältnis. 888 So Kropholler, RabelsZ 34 (1970) 781. Die unselbständige Anknüpfung der Vorfrage setzt freilich voraus, daß eine Hauptfrage vorliegt, die vom Kollisionsrecht des Forums dem Recht des neuen Heimatstaates unterstellt wird (z. B. ein Erbfall, eine Wiederheirat); die bloße Unterlassung einer Heirat bzw. Ehescheidung bietet dazu kei­ nen Ansatzpunkt. Und die Berufung auf den ordre public sollte hier wie so oft nur die Vorstufe der Bildung einer neuen Kollisionsnorm sein (siehe unten § 49 I 2). 834 Vgl. von Caemmerer (oben N. 820) 28 f. - anders Hans Stoll (oben N. 700) mit der kühnen Konstruktion einer Rechtswahl durch die Parteien, deren Wir­ kung bis zum Grenzübertritt der Sache durch die lex rei sitae blockiert ist. 835 Art. 21 EGBGB spricht (wie das BGB bis 1970) nur vom „Vater des uneheli-

I.

Als gesetzgeberische Motive der Unwandelbarkeit eines Statuts kom­ men hauptsächlich drei in Betracht: Bald soll (1) aus Gründen der äuße­ ren Rechtssicherheit ein abrupter, nicht durch Überleitungsvorschriften geregelter Übergang von einem Statut zu einem andern vermieden wer­ den (so in Art. 15 EGBGB für das Ehegüterrecht836). Bald sollen (2) aus Billigkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen wohlerworbene Rechts­ positionen geschützt werden (so in Art. 7 II EGBGB, welcher dem nach seinem Heimatrecht volljährigen Ausländer für den Fall der Einbürge­ rung in Deutschland die Erhaltung seiner Rechtsstellung zusichert) oder auch endgültige Vereinbarungen der Beteiligten durch eine stabile Rechtsgrundlage gefördert werden (z. B. begünstigt die Unwandelbar­ keit des Güterstatuts in Art. 15 EGBGB den Abschluß von Eheverträgen, die Unwandelbarkeit des Alimentenstatuts gemäß Art. 21 die Vereinba­ rung einer Kapitalabfindung). Endlich kann (3) die Unwandelbarkeit eines Statuts dazu dienen, eine Gesetzesumgehung durch arglistigen Wechsel der Anknüpfungstatsachen (Wechsel des Wohnsitzes, der Staatsangehörigkeit usw.) von vornherein unmöglich zu machen (als Beispiel ist wiederum Art. 21 EGBGB zu nennen836 837).

chen Kindes“, doch scheint es mir sprachlich unbedenklich, analog zu dem längst ein­ gebürgerten Ausdruck „uneheliche Mutter“ auch „unehelicher Vater“ zu sagen; ähnlich Nörgel, Der Sprachdienst 5 (1961) 141. - Die Neubildung „nichtehelich“ des Nicht­ ehelichengesetzes von 1969 wird mit dem angeblich pejorativen Klang der Vorsilbe „un“ begründet, die in Wahrheit nur eine kräftigere Verneinung enthält als bloßes „nicht“ (vgl. unauffällig, ungewöhnlich), und mit der Zweckmäßigkeit eines neuen Namens für einen neu geregelten Status, die natürlich nur innerstaatlich zutrifft. Die Beibehaltung der alten Bezeichnung im IPR unterstreicht dessen Autonomie. - Ob sachlich eine Unterscheidung zwischen ehelichen (legitimen) und unehelichen oder nichtehelichen (illegitimen) Kindern berechtigt ist, liegt auf einer anderen Ebene; dazu Archiv für kath. KirchenR 140 (1971) 308 sowie Stöcker, Abschaffung der Nichtehe­ lichkeit ...: Z.f. Rpol. 1975, 32 ff. 836 Zum intertemporalen materiellen Ehegüterrecht vgl. Artt. 200 1/218 EGBGB, wonach für den Güterstand der Ehen, die bei Inkrafttreten des BGB bestanden, das bisherige Landesrecht formell maßgebend blieb, damit eine detaillierte Übergangsrege­ lung durch die einzelnen Landesgesetzgeber erfolgen konnte; vgl. RabelsZ 17 (1952) 677 f. 837 Bei Art. 21 EGBGB bleibt immerhin die Möglichkeit, daß die Mutter vor der Niederkunft arglistig die Staatsangehörigkeit wechselt, um für das Kind und sich selbst mehr Ansprüche zu erlangen. Vgl. Neuhaus, Verpflichtungen 42 N. 1678, sowie oben N. 527 a.E.

II.

Der maßgebende Zeitpunkt der „unwandelbaren“ Anknüpfung ver­ schiebt sich gegenüber der gesetzlichen Normierung, wenn durch Spal­ tung einer bis dahin einheitlichen Rechtsordnung erst nachträglich ein Kollisionsproblem entstanden ist (sei es durch Gebietsabtretung, sei es durch Teilung eines Staates wie die Auflösung der österreichischen Mon­ archie 1918-1920, die Zonentrennung und Entstehung von zwei Staa­ ten in Deutschland, Korea und Vietnam nach dem zweiten Weltkrieg, die Teilung Irlands 1922, Indiens 1948 und Pakistans 1972). Die nor­ male Anknüpfung an den Augenblick der Geburt, der Eheschließung, des Vertragsschlusses usw. paßt hier nicht. Denn die Nichtbeachtung von späteren Änderungen der Anknüpfungstatsachen hat ja einzig den Zweck, einen Statutenwechsel zu vermeiden. Dieser Zweck entfällt aber, wenn und solange eine einheitliche Rechtsordnung besteht und daher eine Änderung der Anknüpfungstatsachen, die sich innerhalb des ein­ heitlichen Rechtsgebietes vollzieht, gar keinen Wechsel der maßgeben­ den Rechtsordnung nach sich ziehen kann. Erst vom Augenblick der rechtlichen Spaltung des bisher einheitlichen Rechtsgebietes an hat es Sinn, nach der Zugehörigkeit zum einen oder andern Teilgebiet zu fra­ gen. Man wird daher in der Regel an die Verhältnisse anknüpfen, die in diesem Zeitpunkt bestehen838. (Allerdings kann die Fixierung dieses Zeitpunktes bei einer schleichenden, durch die Rechtsprechung und son­ stige Praxis eingeleiteten Spaltung schwierig sein, z. B. in den genannten Fällen der Zonentrennung.) Auf Verhältnisse vor der Spaltung ist nur dann zurückzugreifen, wenn durch die Festlegung einer längeren oder sonstwie qualifizierten Zugehörigkeit zu einem Teilgebiet etwaige Zwei­ fel und Mißbräuche ausgeschaltet werden sollen oder wenn es sich um Personen handelt, die schon vor der Spaltung die unmittelbare Beziehung zu dem Lande verloren haben839. 838 So wird im Verhältnis zwischen Indien und Pakistan selbst das „domicile of origin“ entgegen seinem Namen nicht nach den Verhältnissen zur Zeit der Geburt be­ stimmt, sondern nach der Option bei der Teilung Indiens: Palmer v. Palmer, P.L.D. 1958 Lahore 699, 704 („After the Partition of the country, the domicile was split"); Garman v. Carman, P.L.D. 1960 (W. P.) Lahore 381. - Nach der Teilung Irlands wurde gelegentlich einem geborenen Iren, der im kritischen Zeitpunkt im Ausland ge­ lebt hatte, vom Gericht ein Wahlrecht eingeräumt: In re Egan, [1928] N.I. 159. 839 Immerhin zeigen diese Beispiele, daß es nicht unbedingt sinnlos ist, einer Tat­ sache, die zu ihrer Zeit „noch keine Unterscheidungskraft besaß“, nachträglich eine solche zuzuerkennen. Dies habe ich in RabelsZ 25 (1960) 379 nicht bedacht.

III. Rechtspolitisch ist die schnellebige, vielfachen Wandel mit sich brin­ gende Zeit seit dem ersten Weltkrieg für den Gedanken der Unwandel­ barkeit rechtlicher Regelungen wenig günstig. So wird die Unwandelbarkeit des Güterstandes in Deutschland de lege fe­ renda überwiegend verworfen840. Als Zeichen ihrer Fragwürdigkeit sei das unterschiedliche Ausmaß der Unwandelbarkeit nach verschiedenen Rechts­ ordnungen erwähnt: Während nach dem Baltischen Privatrecht (Art. XXIX der Einleitung) die Unwandelbarkeit allein zugunsten erworbener Rechte Drit­ ter galt, besteht sie nach Schweizer Recht (Art. 19 NAG) gerade umgekehrt nur im Verhältnis der Ehegatten untereinander, und nach amerikanischem Kol­ lisionsrecht - soweit man von solchem sprechen kann841 842 - unterliegt nur das bei der Eheschließung vorhandene Vermögen der vollen UnWandelbarkeit des Güterstandes, dagegen ist für jeden während der Ehe erworbenen Gegen­ stand der Zeitpunkt des Erwerbes maßgebend. Der angemessene Schutz der Ehefrau vor einer willkürlichen Änderung des Güterstandes durch den Ehe­ mann, der einseitig sein Personalstatut ändert, wird besser dadurch verwirk­ licht, daß an den gemeinsamen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten angeknüpft wird. Ferner hat die Wandelbarkeit des Güterstandes den Vorteil, die oft schwierige Unterscheidung zwischen persönlichen und gü­ terrechtlichen Wirkungen der Ehe entbehrlich zu machen. Schließlich nähert sie das Güterstatut dem Erbstatut an, für das die Verhältnisse beim Tode des Erblassers maßgebend sein müssen. Für die Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern (auch unehelichen) hat das Haager Abkommen von 1956 die Wandelbarkeit festgelegt (Art. 1 II); ebenso innerhalb der Bundesrepublik das Nichtehelichengesetz (oben N. 824)842. Der Gedanke der einmaligen Abfindungssumme, der in einer Zeit stän840 Die Vorschläge der Familienrechtskommission des Deutschen Rates für IPR empfehlen unter „Ehewirkungen“ nur noch für den vereinbarten Güterstand die Un­ wandelbarkeit: Vorschläge ... Eherecht 2 f. = RabelsZ 25 (1960) 340 f. (bespr. in FamRZ 1962, 415, 417). - Schon de lege lata hätte Art. 15 EGBGB nicht im Falle von Masseneinbürgerungen angewandt werden müssen, an die der Gesetzgeber von 1896 nicht gedacht hat; so RabelsZ 17 (1952) 677. Die Rechtsprechung bestand aber auf einer wörtlichen Auslegung (vielleicht im Hinblick auf den ungewöhnlichen Sach­ verhalt des ersten obergerichtlich entschiedenen Falles OLG Stuttgart 4. 12. 1957, IPRspr. 1956-57 Nr. 109: Das Ehepaar war kurz nach der Vertreibung geschieden worden und stritt über gerettetes altes Vermögen; vgl. zur Bedeutung eines zufälligen „Ausgangsfalles“ der Rechtsprechung auch Westerhoff, Methodische Wertung im Recht [1974] 196). Daher griff schließlich der Gesetzgeber mit einer eindeutigen Rege­ lung ein: Gesetz über den ehelichen Güterstand von Vertriebenen und Flüchtlingen vom 4. 8. 1969 (BGBl. I 1067). 841 Vgl. die vorsichtige Fassung von Restatement2 §§ 258 ff. 842 Bei Einführung des BGB war die Unwandelbarkeit des Alimentenstatuts auch

dig abnehmenden Geldwertes und zunehmender Besserstellung des unehelichen Kindes mehr dem Interesse des Vaters als dem des Kindes entspricht, hat of­ fenbar keine Zugkraft mehr.

IV.

Um so leichter können wir uns mit dem Wegfall einer Unwandelbar­ keit, die vom inländischen Kollisionsrecht eigentlich vorgeschrieben wird, in den Fällen der Rück- und Weiterverweisung abfinden, wenn das fremde Kollisionsrecht sie nicht kennt. Dasselbe gilt, falls das fremde intertemporale Recht keine Unwandel­ barkeit vorsieht. Zwar wird besonders für das Ehegüterrecht nach einem Staatsangehörigkeitswechsel die unveränderte Anwendung des früheren Heimatrechts gemäß seinem letzten Stand vor dem Statutenwechsel ver­ treten (sog. Versteinerungstheorie). Aber was oben (§ 39 III 1) gegen die Anwendung von überholtem Recht auf abgeschlossene Sachverhalte ge­ sagt wurde, gilt in verstärktem Maße für die Beurteilung fortdauernder Lebensverhältnisse, deren Recht normalerweise durch Rechtsprechung und Gesetzgebung weiterentwickelt wird. Gerade auf dem Gebiet des Ehegüterrechts vollzieht sich seit einigen Jahrzehnten allenthalben eine Wendung zur Gleichberechtigung der Frau. Man kann nicht eine Ehe­ frau, deren Mann während der Ehe die Staatsangehörigkeit gewechselt hat - sei es auch gemeinsam mit ihr ~, deshalb von den Vorteilen aller gesetzlichen Reformen sowohl des alten wie des neuen Heimatrechts ausschließen843. Dabei besteht zwischen Änderung des Gesetzestextes und bloßen Wandlungen der Rechtsprechung, die man schon deshalb be­ rücksichtigen wird, weil sie zeitlich meist nicht scharf abzugrenzen sind, großenteils nur ein formeller Unterschied, zumal wenn die Gesetzge­ bung einen Wandel der Rechtsprechung kodifiziert oder eine offene Streitfrage entscheidet. Es entspricht also weithin sowohl der Billigkeit wie der Rechtssicherheit, wenn die Unwandelbarkeit eines Statuts dem fremden intertemporalen Recht zu weichen hat.

von den landesrechtlichen Einführungsgesetzen respektiert worden; vgl. Neuhaus, Verpflichtungen 44 N. 176. 843 Ähnlich Silberberg, RabelsZ 36 (1972) 540. Vgl. Hof Amsterdam 21. 6. 1971, Ned. Jur. 1972, 673 (dazu Czapski, StAZ 1973, 77 ff.): Auch für Vermögen deutscher Ehegatten, die in den Niederlanden leben und dort 1935 eingebürgert sind, gilt als gesetzlicher Güterstand seit 1958 die deutsche Zugewinngemeinschaft. 20 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

S 41: Interlokales Privatrecht Die Verweisung auf „das Recht“ eines Staates ist dann mehrdeutig, wenn in diesem Staate mehrere territoriale (oder personale - dazu § 42) Teilrechtsordnungen nebeneinander gelten, wie es in vielen Staaten Europas und des anglo-amerikanischen Rechtskreises der Fall ist oder bis nach dem zweiten Weltkrieg war (Mehrrechtsstaaten, auch „Staaten mit komplexen Rechtssystemen“ genannt; ihre Bürger sind „Mehrrechtsstaater"). Dann bedarf die Anknüpfung an diesen Staat einer Konkreti­ sierung. Die herrschende Meinung weist diese Aufgabe dem sog. interlo­ kalen Recht zu. I. Zunächst sei empirisch folgendes bemerkt:

1. Der Name „interlokales Recht“ erinnert an die Zeiten, da in Itali­ en, Frankreich und Deutschland vielfach von Ort zu Ort verschiedenes Recht galt. Andere Bezeichnungen - wie interprovinziales, interkanto­ nales, interzonales Recht - sind zu sehr auf die politischen Verhältnisse einzelner Staaten zugeschnitten, um international brauchbar zu sein. Selbst der von vielen als völlig farblos empfundene Ausdruck „interre­ gional“ erscheint etwa einem Italiener deshalb als zu speziell, weil „re­ gione“ im italienischen Staatsrecht ein Terminus technicus ist, während andere das Wort „Region“ auf Gruppen benachbarter Staaten wie die nordischen oder die südamerikanischen Länder beziehen (und demge­ mäß von „regionaler Rechtsvereinheitlichung“ sprechen). Auch „Terri­ torium“ hat in manchen Bundesstaaten (z. B. Kanada und Australien) eine besondere Bedeutung; überdies enthält der sprachlich unschöne Ausdruck „interterritoriales Recht“ keine deutliche Unterscheidung vom internationalen Kollisionsrecht. Wir bleiben also notgedrungen bei dem Ausdruck „interlokales Recht“844.

2. Eine Typologie der Staaten mit mehreren territorialen Rechtsord­ nungen gibt wenig her. Unterscheidet man etwa von den Bundesstaaten und solchen politischen Ein­ heitsstaaten, die traditionell (wie Großbritannien) oder strukturell (so Polen 844 - trotz KoLLEWIJN, Clunet 88 (1961) 878 f., der die Bezeichnung „interlokal“ den Konflikten wirklich örtlicher Rechte (z. B. in Indonesien oder auf Neuguinea) vorbehalten wollte im Gegensatz zu den „regionalen“ Konflikten zwischen den Rech­ ten der verschiedenen Reichsteile der Niederlande (Mutterland, Surinam usw.).

nach dem ersten Weltkrieg) Mehrrechtsstaaten sind, die Staaten, die nur vor­ übergehend ihre Rechtseinheit durch Annexionen verloren haben (z. B. Italien nach 1918), so erweist sich die Unterscheidung als zweifelhaft, wenn man an Deutschland nach dem Anschluß Österreichs denkt: Damals betrachtete Deutschland die Rechtseinheit als nur vorübergehend verloren, und dennoch galt - im Gegensatz zu anderen Annexionsfällen - im Hinblick auf eine ge­ plante Gesamtreform des deutschen Rechtes die österreichische Rechtsordnung neben derjenigen des „Altreichs“ als völlig gleichberechtigt. Ferner hat bei­ spielsweise das im Jahre 1918 neu entstandene Lettland seine „strukturelle“ Mehrheit der Zivilrechtsordnungen schneller durch Schaffung eines einheitli­ chen Zivilgesetzbuchs (1937) überwunden als etwa Frankreich die „provisori­ sche“, zum Teil heute noch bestehende Fortgeltung deutschen Rechtes in ElsaßLothringen845. (Hier und auch in Italien lag nach dem ersten Weltkrieg bei der Behandlung der neu erworbenen Provinzen das Streben nach rascher und vollständiger Auslöschung der vorgefundenen Rechtstraditionen, um die fremdsprachige Bevölkerung möglichst zu assimilieren, im Widerstreit mit dem Respekt vor manchen Vorzügen des fremden Rechts - Grundbuch, GmbH, Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes -, deren Rezeption erwogen wur­ de.)

Insbesondere hilft eine solche Typologie nicht bei der Frage nach der einheitlichen oder in jedem Teilrechtsgebiet verschiedenen Auslegung der zentral gesetzten Kollisionsnormen. Vielmehr dürfte in praxi die Ausle­ gung solcher Kollisionsnormen weitgehend von den jeweiligen politi­ schen und sonstigen Gegebenheiten abhängen, die sich einer einfachen Systematisierung entziehen. So ist eine zentrale Auslegung dann nicht gut möglich, wenn keine zentrale umfassende Rechtsordnung besteht; es bleibt in diesem Falle (wie bei der Aus­ legung von staatsvertraglichem IPR) im wesentlichen dem guten Willen der einzelnen Gerichte überlassen, ob sie eine rechtsvergleichend einheitliche Ausle­ gung anstreben oder jeweils nach ihrer lex fori qualifizieren wollen. Und selbst dann, wenn eine umfassende zentrale Rechtsordnung besteht, hängt es oft vom relativen Gewicht der zentralen und der partikularen Gewalten ab, von der Nachgiebigkeit oder Intransigenz der beteiligten Instanzen, wie die Auslegung erfolgt. Dabei können sogar innerhalb ein und desselben Staates verschiedene Rechtsordnungen ein verschiedenes Maß von Selbständigkeit besitzen.

3. Eine positive Regelung hat das interlokale Recht durch ein eigenes, umfassendes Gesetz nur in Polen im Jahre 1926 erfahren846. Dieses Ge­ 845 Siehe Glenn, The Local Law of Alsace-Lorraine - A Half Century of Survival: Int. Comp. L. Q. 23 (1974) 769 ff. 846 Das französische Gesetz vom 24. 7. 1921 über die Kollisionen mit dem Recht

setz knüpft größtenteils an dieselben Personen, Orte usw. an wie das polnische IPR-Gesetz vom selben Tage847. Die Schweizer Kodifikation des interkantonalen Rechts im Bundesgesetz betreffend die zivilrechtli­ chen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter (NAG) von 1891 gilt auch für das IPR (Art. 32). In den meisten anderen Staaten werden umgekehrt die Normen des IPR analog als interlokales Recht angewandt, soweit nicht einzelne Spezialvorschriften bestehen; so aus­ drücklich Art. 16 (bis 1974: Art. 14) des spanischen Codigo civil und § 54 des tschechoslowakischen Gesetzes von 1948 über das internationale und interlokale Privatrecht848. Im anglo-amerikanischen Recht, das die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und daher das Problem der Konkretisierung dieser Anknüpfung in der Regel nicht kennt849, hat man bis in die Gegenwart hinein zwischen internationalem und interlo­ kalem Recht überhaupt nicht unterschieden, wenigstens nicht bei der An­ knüpfung; erst neuerdings wurde in den Vereinigten Staaten die Bedeu­ tung der Verfassung für den Zivilrechtsverkehr zwischen den Gliedstaa­ ten der Union stark hervorgehoben und dadurch ein Graben zwischen „interstate law“ und „international law“ aufgerissen850. II.

Grundsätzlich ist - entgegen der herrschenden Meinung - zu be­ zweifeln, daß das interlokale Recht eine selbständige Erscheinung dar­ stellt, die mit eigenen Anknüpfungs- und sonstigen Rechtsanwendungs­ regeln sozusagen eine Parallele zum IPR bildet. von Elsaß und Lothringen (oben N. 19) war auf einen Ausnahmefall (die befristete Geltung eines lokalen Sonderrechts) zugeschnitten und sah die Ergänzung durch die anerkannten Regeln des IPR vor (Art. 15 I 2). 847 Bei der Neufassung des IPR-Gesetzes im Jahre 1965 wurde das interlokale Recht nicht entsprechend geändert, weil es durch die zwischenzeitliche Vereinheitli­ chung des polnischen Privatrechts im wesentlichen gegenstandslos geworden ist. 848 Das IPR-Gesetz von 1963 enthält nur noch eine Verweisung auf ausländisches interlokales Recht (§ 34), ebenfalls infolge Vereinheitlichung des innerstaatlichen Rechts. 849 Ausnahmen im englischen IPR siehe oben bei N. 559 ff. 860 Hauptsächlich handelt es sich um die sog. „Full-Faith-and-Credit Clause“ in Art. IV Abs. 1 Satz 1 der Verfassung, welche die Einzelstaaten zur Anerkennung nachbarstaatlicher Akte und Verfahren verpflichtet, während im internationalen Ver­ kehr eine entsprechende Anerkennung nur aus comitas gentium (comity) gewährt wird. Kritisch zur Trennung von „intranational“ und „international conflict of laws“ etwa CHEATHAM/MAIER, Private International Law and Its Sources: Vand. L. Rev. 22 (1968/69) 27 (99-102). Siehe auch Restatement2 § 10, Comments c, d sowie Reporter’s Note.

1. Wenn das IPR des Forums auf das Recht eines fremden Staates mit mehreren territorialen Rechtsordnungen verweist, soll dessen inter­ lokales Kollisionsrecht entscheiden, welche Teilrechtsordnung maßge­ bend ist. Diese scheinbar einfache Regel führt jedoch dann zu keinem Ergebnis, wenn der fremde Staat ein im ganzen Lande einheitlich gel­ tendes oder wenigstens inhaltlich übereinstimmendes Kollisionsrecht nicht besitzt oder wenn das IPR des fremden Staates gerade den kon­ kreten Fall einer ausländischen Rechtsordnung unterstellen würde. Z. B. kann das Heimatrecht eines Briten (citizen of the United Kingdom and Colonies) oder eines Bürgers der Vereinigten Staaten mit ausländischem Domi­ zil nicht britischem bzw. amerikanischem Kollisionsrecht entnommen werden; denn ein einheitliches oder übereinstimmendes britisches Kollisionsrecht gibt es nicht (da jedenfalls das schottische IPR in Einzelheiten vom englischen ab­ weicht851), und die partikulären amerikanischen Kollisionsrechte beruhen sämtlich auf dem Domizilprinzip, kennen also kein Heimatrecht für Bürger mit ausländischem Wohnsitz. Ebenso scheitert die Konkretisierung nach dem Recht des fremden Staates dann, wenn etwa das Heimatrecht des Erblassers für die Frage der Testierfähigkeit auf den Ort der Testamentserrichtung oder auf seinen letzten Wohnsitz oder auf die Lage des Nachlasses abstellt und der betreffende Ort im Ausland liegt; die gleiche Situation kann sich ergeben, wenn das Recht des Landes, in welchem ein Schuldverhältnis zu erfüllen ist, seinerseits auf das Recht des Abschlußortes oder auf das gemeinsame Heimat­ recht der Kontrahenten verweist oder wenn schließlich am Tatort einer uner­ laubten Handlung das Heimat- oder Wohnsitzrecht des Täters oder des Haftpflichtigen oder des Verletzten für maßgebend angesehen wird852.

Falls nicht jeweils eine Rück- und Weiterverweisung anerkannt wer­ den soll, muß in den genannten Fällen das erkennende Gericht nach ei­ genem (Gesetzes- oder Richter-) Recht bestimmen, welches von mehreren Teilrechten des betreffenden Staates es anwendet. Ein anschauliches Beispiel bietet die ägyptische Rechtsprechung in Ehescheidungs- und Nachlaßsachen von Briten mit domicile in Ägypten, seitdem die britische Konsulargerichtsbarkeit in Ägypten aufgehoben ist (1949). Da das 851 So bezüglich der Jurisdiction für custody Orders, siehe Re P. (G.E.) (An Infant), [1965] Ch. 569, 583 (C.A.); Dicey/Morris 413 (Comment zu Rule 59 a.E.). 852 Schon Ago, Teoria del d.i.p. I (1934) 206 N. 1, bringt das Beispiel, daß ein italienisches Gericht über die Gültigkeit eines in Italien geschlossenen Vertrages zweier Polen mit Wohnsitz in Österreich entscheiden muß, ohne daß der Vertrag eine Rechts­ wahl enthält. Das italienische IPR verweist hier auf das gemeinsame Heimatrecht (Disp. prel. Art. 9 II, jetzt Art. 25 I), und zwar unter Ausschluß einer Rück- oder WeiterVerweisung (jetzt Art. 30); das polnische interlokale Recht verweist auf das Recht des gemeinsamen Wohnsitzes (Art. 11 I des Gesetzes von 1926), ebenso das pol­ nische IPR (Art. 9 I des Gesetzes von 1926, jetzt Art. 26 Satz 1).

ägyptische ZGB einerseits die Anwendung des Heimatrechts vorschreibt (Artt. 13 II bzw. 17 I) und für Angehörige von Mehrrechtsstaaten ausdrücklich die Beachtung des interlokalen Rechts dieser Staaten befiehlt (Art. 26), anderseits die Annahme einer Rückverweisung verbietet (Art. 27), haben die Gerichte fünf verschiedene Auswege gewählt: (1) Anwendung des englischen Rechtes im engern Sinne als des „Systeme principal en Grand-Bretagne“853, (2) Anwen­ dung des Rechtes des domicile of origin854, (3) Behandlung des Briten gleich einer Person unbekannter Staatsangehörigkeit nach ägyptischem Recht855, (4) Behandlung des Briten gemäß sec. 41 der (von England bei Beendigung der Konsulargerichtsbarkeit aufgehobenen) Egypt Order-in-Council vom 2. 10. 1937 (S. R. & O. Nr. 936), welche als ägyptisches Recht gelte, da die früheren britischen Konsulargerichte zwar im Namen der britischen Krone, aber der Sa­ che nach als ägyptische Gerichte judiziert hätten, und daher Anwendung engli­ schen Rechtes856, (5) Anwendung englischen Rechtes als des Rechts der briti­ schen Hauptstadt857. Der Rechtsberater der englischen Botschaft EDWARdes-Ker hatte858 859 - unter Berufung auf die englische Entscheidung In re O'Keefe^ und auf die zu 4) genannte Vorschrift - (6) die Anwendung des englischen Rechtes als des den Briten in Ägypten rechtlich nächstliegenden Systems gefordert und dabei auf eine Entscheidung der Cour d’Appel Ra­ bat860 hingewiesen, die aufgrund der entsprechenden britischen Konsularpra­ xis in Marokko ebenfalls englisches Recht angewandt hatte, weil das Gericht die frühere Konsulargerichtsbarkeit fortsetze. Noch anders lautete (7) der Vor­ schlag des englischen Private International Law Committee in seinem Fourth Report861, einem Briten mit ausländischem Domizil seien sämtliche Teilrechts­ ordnungen einschließlich z. B. des Rechtes von Britisch-Honduras als „leges pa­ triae“ für die Testamentserrichtung zur Wahl zu stellen; das geht jedoch m. E. selbst unter dem besonderen Gesichtspunkt des favor testamenti zu weit.

Auch die Haager Abkommen anerkennen seit 1960 die Möglichkeit des Fehlens eigener interlokaler (bzw. interpersonaler) Regeln eines „Systeme non unifie“ und konkretisieren für diesen Fall das Heimat­ 853 Trib. Kairo 31. 3. 1953, Rev. egypt. 10 (1954) 157.' 854 Trib. Alexandrien 20. 4. 1954, a.a.O. 154. 855 App. Kairo 22. 6. 1955, Rev. egypt. 11 (1955) 244. 856 App. Alexandrien 11. 4. 1957, Rev. egypt. 13 (1957) 137. 857 Kass. 1. 5. 1958, vgl. Rev. egypt. 14 (1958) 158 mit Anm. S. Antoine. Dieser Auffassung hat sich die Literatur angeschlossen, siehe El-Mikayis, Internationales und interreligiöses Personen-, Familien- und Erbrecht in der VAR: RabelsZ 33 (1969) 517 (519). 858 EDWARDES-KER, Rev. egypt. 11 (1955) 243. 859 In re O^Keefey [1940] Ch. 124. 860 Rabat 15. 3. 1955 (Fages c. Masia), Rev. crit. 44 (1955) 717 mit Anm. FRANCESCAKIS.

861 Formal Validity of Wills, Cmnd. 491 (1958), siehe insbes. § Ila.

recht summarisch „par le lien le plus effectif", das den Betreffenden mit einer der Teilrechtsordnungen verbindet862.

2. Für den inländischen Bedarf eines Mehrrechtsstaates ist die Tren­ nung von IPR und interlokalem Recht ebenfalls nicht durchführbar. Zwar sagt es sich leicht, im eigenen Staat könne der Richter großzügiger sein als gegenüber ausländischen Rechtsordnungen und demgemäß in interlokalen Fällen öfter das Ortsrecht oder gar die lex fori gelten lassen statt des Personalstatuts. Aber methodisch geht der Richter nun einmal nicht von kollidierenden Rechtsordnungen aus, sondern vom Einzelfall (dem „Lebensverhältnis“ oder der „Rechtsfrage“) und sucht für diesen Sachverhalt die anzuwendende Rechtsordnung (siehe oben § 4). Daher sieht er erst nach vollzogener Anknüpfung, welche Rechtsordnung an­ wendbar ist (und zwar in der Regel nur eine einzige). Vor allem aber würde es zu einem unlösbaren Widerspruch führen, wollte man für ei­ nen sowohl internationalen wie interlokalen Sachverhalt die maßgeben­ de Rechtsordnung nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten bestimmen. Wenn z. B. der Angehörige eines Mehrrechtsstaates im Ausland heiratet oder dort gegen einen Landsmann eine unerlaubte Handlung begeht, so kann man nicht gleichzeitig gemäß IPR das Heimatrecht anwenden und anderseits gemäß interlokalem Recht das Ortsrecht. Es muß und darf daher stets nur ein einheitliches System der An­ knüpfungen geben, und die einheitliche Anknüpfung begründet die Ein­ heit des Rechtsanwendungsrechtes ohne Spaltung in internationales und interlokales Kollisionsrecht. Daraus ergibt sich, daß in einem Mehrrechts­ staat ohne ein einheitliches IPR auch kein einheitliches System des inter­ lokalen Rechtes bestehen kann. Verwirrt wird die Lage, wenn eine der mehreren regionalen (oder persona­ len) Rechtsordnungen als „gemeines“ Recht den Vorrang vor der oder den an­ deren beansprucht und sich so die Problematik der „horizontalen“ Kollisionen vermischt mit derjenigen der „vertikalen“ zwischen Rechten verschiedener Stufen (z. B. in einem Bundesstaat oder im Verhältnis von Mutterland und ab882 So zuerst Art. 1 II des Testamentsabkommens und Art. 14 Minderjährigen­ schutzabkommen. Das Nachlaßabkommen vom 2. 10. 1973 verweist statt dessen auf den gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 36), was nur deshalb durchführbar ist, weil dieser Aufenthalt auch als Hauptanknüpfung gilt, also nicht etwa in einem andern Staat lie­ gen kann. - Das New Yorker (UN-)Abkommen vom 26. 10. 1973 über eine einheitli­ che Testamentsform sagt zur Vermeidung jeden Anstoßes nur, daß eine notwendige Konkretisierung „in Übereinstimmung mit dem Verfassungssystem“ des betreffenden Staates erfolgen soll (Art. XV); dazu Nadelmann, Am. J. Comp. L. 22 (1974) 373.

hängigem Gebiet - siehe oben § 11 a.E.). Diese Komplikationen können hier nicht im einzelnen behandelt werden.

III.

Legitimer Inhalt des interlokalen Rechts sind also nicht besondere Anknüpfungsregeln, sondern vor allem Konkretisierungen der interna­ tionalprivatrechtlichen Anknüpfungen. 1. Als Konkretisierung der Staatsangehörigkeits-Anknüpfung emp­ fiehlt sich für solche Angehörige von Bundesstaaten, die neben der Ge­ samt- eine Teilstaatsangehörigkeit besitzen, diese engere Staatsangehö­ rigkeit. Besteht sonst eine einheitlich geregelte Zugehörigkeit zu den ein­ zelnen Teilrechtsgebieten, so ist sie im Interesse der Entscheidungsgleich­ heit zu respektieren. Vgl. z. B. in Polen Artt. 2 und 3 des Gesetzes von 1926, in Spanien Artt. 14 f. (bis 1974: Art. 15) C.c. über die sog. „vecindad", d. h. die Zugehörigkeit zum Gebiet des gemeinen Rechtes (derecho comün) oder zum Gebiet eines par­ tikularen Foralrechts, die weder mit der politischen Provinz-Zugehörigkeit noch mit dem Wohnsitz identisch ist und auch bei Übersiedlung ins Ausland erhal­ ten bleibt.

Wenn dagegen eine solche Regelung fehlt (z. B. für Großbritannien mit Kolonien), dann bietet sich dem deutschen Richter als Kriterium der „Gebietszugehörigkeit“863 seit der Neufassung des Art. 29 EGBGB über die Staatenlosen der „gewöhnliche Aufenthalt“ und hilfsweise der „Aufenthalt“ an. Liegen beide nicht in dem betreffenden Staate, so ist das Recht des letzten (gewöhnlichen) Aufenthalts in diesem Lande und erst an letzter Stelle das Recht der Hauptstadt zu wählen; „in Fällen scharfer Spaltung... wird man an bekundeter Sympathie mit dem ei­ nen oder [dem] anderen Gebietsteil nicht vorbeigehen dürfen“864.

2. Als Recht der Flagge (Heimatrecht oder Recht der Staatszugehö­ rigkeit von Schiffen, Luft- und eventuell Landfahrzeugen) ist in Mehr­ rechtsstaaten das Recht des inländischen Registerortes, Heimathafens bzw. Standortes anzusehen (vgl. oben § 32 II). Eine feste allgemeine Re­ 863 Diese „wertfreie“ Bezeichnung wurde für das interzonale Recht statt „Zonen­ angehörigkeit“ empfohlen von U.-H. Lange, ROW 4 (1960) 231 N. 20a. 884 Kegel, in: Festschrift K. Arnold (1955) 77. Vgl. für das gespaltene Vietnam Derrida, Rev. int. dr. comp. 13 (1961) 74 N. 75.

gel ist angesichts der Verschiedenheit der einschlägigen Normen kaum aufzustellen865. 3. Für die örtlichen Anknüpfungsmomente (Wohnsitz oder gewöhnli­ cher Aufenthalt einer Person, Sitz einer Gesellschaft, Lage einer Sache, Ort einer Handlung usw.) ergibt sich die Konkretisierung regelmäßig von selbst. Dabei sollte es keine Rolle spielen, ob in der Formulierung der Anknüpfung unmittelbar „die Gesetze des Ortes“ genannt sind (so etwa in Art. 1112 EGBGB, vgl. Art. 24 II: „die an dem Wohnsitze ... geltenden Gesetze“) oder ob die Rede ist von den „Gesetzen des Staates, in dem ...“ (so Art. 29 EGBGB, vgl. Art. 28: „des Staates, in dessen Ge­ biete“). Ein Domizilbegriff, der nicht an einen Ort anknüpft, sondern an ein Rechts­ gebiet als ganzes, kann bei Spaltung dieses Gebietes in Teilgebiete zu gleichen Schwierigkeiten führen wie bei der Aufteilung unter mehrere Staaten (vgl. oben N. 586). 4. Dagegen ist bei kombinierter Anknüpfung des IPR an die gemeinsame Staatsangehörigkeit zweier Personen oder an zwei verschiedene Orte, wenn beide zu demselben Staate gehören, aber verschiedenen Teilrechtsordnungen unterstehen, wohl nur von Fall zu Fall nach dem Sinn der betreffenden Kolli­ sionsnorm zu entscheiden, ob eine der beiden Teilrechtsordnungen den Vorrang haben soll oder eine Ersatzanknüpfung zum Zuge kommt.

5. Außerdem brauchen die Mehrrechtsstaaten für ihren inneren Be­ darf einige Regeln darüber, ob Schutzklauseln für Inländer auch gegen­ über Angehörigen eines andern Teilrechtsgebietes gelten sollen und wie die Gerichte bei Anwendung einer benachbarten Teilrechtsordnung sich zu verhalten haben: prozessual (hinsichtlich der Ermittlung, Auslegung und Revisibilität ihrer Normen - vgl. unten § 43) sowie hinsichtlich des ordre public (hierzu siehe unten § 51 III). Auch insoweit bedarf es jedoch im allgemeinen keiner ganz selbständigen Regeln, sondern nur ei­ ner verständigen Auswahl, Interpretation und allenfalls Anpassung der in Auslandsfällen anzuwendenden Normen. Es handelt sich nicht um eine eigene Rechtsmaterie, sondern nur um eine Gabelung des gemeinsa­ men kollisionsrechtlichen Stammes. Darin erschöpft sich vernünftigerweise das interlokale Privatrecht, und es ist daher wohl berechtigt, daß dieses meistens nur als Anhängsel 885 Über Eheschließung an Bord von Schiffen mit britischer oder amerikanischer Flagge siehe Pälsson (oben N. 410) 295 ff.

des internationalen Kollisionsrechts erörtert wird. (In den Vereinigten Staaten von Amerika hat umgekehrt das „interstate law“ den Vorrang, weil es viel häufiger zum Zuge kommt866.) Der zunächst verlockende Gedanke, ein von „ Sou veränitäts"- Vorstellungen freies interlokales Recht als Vorbild für das IPR zu nehmen, erweist sich daher bei näherem Zusehen als nicht ergiebig.

IV. Das sog. interzonale Recht im gespaltenen Deutschland nimmt nur scheinbar eine Sonderstellung ein867, und zu Unrecht hat man für dieses Gebiet - de lege lata oder de lege ferenda - besondere Anknüpfungs­ regeln vertreten (etwa die Wandelbarkeit der nach dem EGBGB unwan­ delbaren Statute)868. Denn alle Erscheinungen, die angeblich dem in­ terzonalen Recht sein besonderes Gepräge geben, kommen auch in inter­ nationalem Rahmen vor, besonders bei den volksdeutschen Vertriebenen aus den Gebieten des ABGB: die Unzulänglichkeit der Staatsangehörig­ keitsanknüpfung, so daß es einer Konkretisierung bedarf, die Massen­ haftigkeit der Übersiedlung von dort nach hier, unsere besondere An­ teilnahme am Schicksal der betreffenden Menschen, die Spaltung einer früher einheitlichen Rechtsordnung (siehe oben § 40 II), die mehr oder weniger revolutionäre Änderung des früheren Rechtes nach 1945 (ohne daß im allgemeinen der Inhalt des neuen Zivilrechts geradezu stoßend wäre), die ablehnende Haltung der Umsiedler gegenüber dem jetzigen Regime ihrer alten Heimat, die langwährende Nichtanerkennung dieses Regimes durch unsere Regierung. Das einzige wirkliche Spezifikum un­ seres Verhältnisses zum Recht der sowjetischen Besatzungszone bzw. 868 Vgl. etwa Restatement2 § 10. 867 Der Name stammt aus der Zeit der Besatzungszonen und darf nicht verwech­ selt werden mit der Bezeichnung „Zone“ für eine überstaatliche Wirtschaftsgemein­ schaft, z. B. in „comercio intrazonal“ der lateinamerikanischen Freihandelszone! 868 Vgl. zum folgenden grundsätzlich die Besprechungen des Buches von Ficker, Grundfragen des deutschen Interlokalen Rechts (1952), durch Drobnig, RabelsZ 17 (1952) 485 ff., und Neuhaus, ebd. 507 f.; zum interzonalen Recht der 1960er Jahre, besonders zur Rechtsprechung des BGH: Neuhaus, Zur Anerkennung sowjetzonaler und ausländischer Scheidungsurteile: FamRZ 1964, 18 (18-20); zur neuesten Ent­ wicklung Drobnig, Der „Grundvertrag“ und die innerdeutschen Zivilrechtsbeziehun­ gen: RabelsZ 37 (1973) 485 ff., dem ich allerdings in zwei Punkten nicht zustimmen kann, nämlich in der Bezeichnung „entsprechende Anwendung der Regeln des IPR“ im interzonalen (jetzt „innerdeutschen“) Rechtsverkehr (491) anstatt „Konkretisie­ rung“ (siehe oben II 2 und III) und in der Erwünschtheit einer Vereinheitlichung von Kollisionsnormen durch zweiseitige Abkommen (495 f.; dazu oben § 8 III 1).

DDR, nämlich daß uns jede Abweichung von dem in Westdeutschland geltenden Rechte als solche mißfällt, weil sie die Spaltung Deutschlands vertieft - diesen Umstand können wir im Kollisionsrecht nicht geltend machen, da ja auch die Bundesrepublik das bisher gemeinsame Recht laufend ändert, und zwar teilweise in ähnlichem Sinne (Gleichberechti­ gung der Frau, Besserstellung der Kinder u.a.m.).

S 42: Interpersonales Recht

Von interpersonalem (intergentilem, interkonfessionellem) Recht spricht man, wenn in einem Lande für Angehörige verschiedener Perso­ nengruppen (Rassen, Stämme, Stände oder Konfessionen) unterschiedli­ che Sachnormen gelten und deren Anwendungsbereiche durch besondere Regeln abgegrenzt werden. Unterschiedliche Rechte je nach der Abstammung galten beispielsweise lange Zeit im Römischen und im Frankenreich und gelten heute noch in früheren und jetzigen Kolonialgebieten. Besonderes Privatrecht für die Angehörigen ei­ nes sozialen Standes - früher vielfach für Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern üblich - gibt es heute in Europa wohl nur noch für Mitglieder regie­ render Häuser. - Religiöses Recht, das meist nur auf die Angehörigen der be­ treffenden Religionsgemeinschaften anwendbar ist, gilt mit bürgerlicher Wir­ kung vor allem in den islamischen und südostasiatischen Ländern sowie in Is­ rael, und zwar im wesentlichen für das Personen-, Familien- und Erbrecht (während das Recht des Geschäftsverkehrs auch dort überall unter starkem eu­ ropäischem Einfluß steht), außerdem in vielen christlichen Ländern für Teile des Eherechts869. Die personalen Rechtsordnungen können auch über den Bereich eines Staates hinausgreifen (so die meisten religiösen Rechte). Sie können ferner ihrerseits 869 Fakultative kirchliche Eheschließung gilt z. B. im gesamten Bereich des Common Law, in den nordischen Staaten, in Italien, Brasilien, Kolumbien, Peru, der Dominikanischen Republik und Haiti, dazu für katholisch geschlossene Ehen kirchliche Jurisdiktion über ihre Gültigkeit in Italien, Unscheidbarkeit solcher Ehen in der Do­ minikanischen Republik und seit dem 1.4.1976 in Kolumbien; obligatorische kirchliche Eheschließung in Griechenland; allgemeine Verbindlichkeit des kirchlichen Eherechts für Katholiken in Spanien. Vgl. dazu Neuhaus, Staatliche und kirchliche Ehe­ schließung (oben N. 309; überholt durch die Einführung der fakultativen Zivilehe in den letzten Staaten der USA, allen kanadischen Provinzen und Kolumbien, der Schei­ dung in Italien und für Zivilehen in Kolumbien sowie durch die Aufhebung des Art. XXIV des portugiesischen Konkordats, siehe oben N. 417).

wieder personale oder territoriale Teilrechtsordnungen besitzen; z. B. gliedert sich das kanonische Recht der katholischen Kirche personal in das Recht der lateinischen Kirche und der orientalischen (unierten) Kirchen, territorial in das Recht der einzelnen Bistümer und Missionsbezirke870.

Die praktische Bedeutung des interpersonalen Rechts nimmt in Afrika und Asien einerseits in dem Maße zu, wie es nicht mehr durch ein Rang­ kollisionsrecht zwischen europäischem und „Eingeborenen“-Recht über­ lagert wird871. Anderseits bemühen sich viele der neuen Staaten um ein einheitliches nationales Recht.

I. Generelle Aussagen über die personalen Rechtsordnungen sind wohl noch schwerer zu machen als über die territorialen Teilrechtsordnungen. Hier wie dort sind die Phänomene so mannigfaltig, daß für eine gene­ ralisierende Betrachtung fast keine gemeinsame Substanz übrigbleibt. Im Hinblick auf die heutigen Verhältnisse im Orient liegt die Meinung nahe, daß personal abgegrenzte Rechtsordnungen stets außerstaatlichen Ursprungs und daher zur Überschreitung ihres vom Staat anerkannten Bereiches geneigt, aber praktisch an die staatlich gezogenen Grenzen gebunden seien. Jedoch paßt diese Verallgemeinerung nicht auf Rechtsordnungen, die vom Staate selbst als treu­ händerischem Gesetzgeber einer personal bestimmten Gemeinschaft kodifiziert worden sind, etwa die Stammesrechte dös frühen Mittelalters, die Standesrechte der beginnenden Neuzeit, das Kirchenrecht der Staatskirchen oder das Ein­ geborenenrecht mancher früheren Kolonie. Außerdem konzediert der Staat mitunter dem religiösen Recht einen außerordentlichen Anwendungsbereich. So wird in Spanien und in Griechenland das gesetzliche Gebot der kirchlichen Eheschließung für Angehörige der Staatsreligion (Artt. 42, 75 C.c. bzw. Art. 1367 ZGB) so aufgefaßt, daß es der allgemeinen Kollisionsnorm „locus regit actum“ (jeweils Art. 11) vorgeht. In Spanien wird sogar das Bestehen oder Nichtbestehen einer im Ausland von Ausländern geschlossenen Ehe nach kano­ nischem Recht beurteilt, wenn diese Frage anläßlich der (Wieder-)Verheiratung mit einem Spanier auftaucht. In Ägypten wurde noch in den fünfziger Jahren die Befugnis des islamischen Mannes, seine Frau zu verstoßen, auch für einen Ausländer, dessen Heimatrecht keine Verstoßung zuläßt, in Durchbrechung des geschriebenen IPR (Art. 13 II ZGB: „Die Verstoßung ist dem Heimatrecht des Ehemannes ... unterworfen . . /) als Sache des ordre public betrachtet872. 870 Vgl. etwa Neuhaus, C.I.C. (oben N. 309) 47 ff. 871 Vgl. zu dieser Überlagerung oben § 11 a.E. 872 Trib. Alexandrien 22. 7. 1956 nach Raape, IPR 305 N. 91a (rechtskräftig?), und wohl auch App. Kairo 12. 6. 1952 nach Salah-Eldin Abdel-Wahab/Brins-

Schließlich füllen die religiösen Rechtsordnungen bisweilen nicht einmal den ihnen zugewiesenen Raum aus; z. B. ist in manchen islamischen Staaten das ge­ samte Familien- und Erbrecht den Religionsgemeinschaften überlassen, aber die dadurch mitbegünstigten christlichen Kirchen besitzen fast durchweg kein aus­ gebildetes Unterhalts-, Ehegüter- und Erbrecht, die protestantischen Kirchen nicht einmal ein ausgeprägtes persönliches Eherecht, so daß aushilfsweise ir­ gendwelches andere Recht herangezogen werden muß873. Anderseits können sich personale Rechtsordnungen unter Umständen sehr wohl über die staatli­ chen Vorschriften hinwegsetzen, wenn z. B. Religionsgemeinschaften ein Trauungs- und eherechtliches Jurisdiktionsmonopol besitzen (wie bis zum zweiten Weltkrieg im größeren Teil Jugoslawiens, in Ostpolen und Litauen, heute noch zum Teil im Orient874). Man kann auch nicht sagen, daß die selbständigen personalen Rechtssysteme regelmäßig alle anderen Rechtsordnungen ignorieren. Man denke nur an das kanonische Recht mit seinen zahlreichen Verweisungen auf das ius civile875. 876 Es trifft nicht einmal zu, daß zwischen den personalen Rechtsordnungen und dem jeweiligen staatlichen Recht eine größere Fremdheit herrscht als zwischen den Rechtsordnungen verschiedener Staaten; z. B. stehen die kontinentaleuro­ päischen staatlichen Rechtssysteme dem kanonischen Recht und erst recht etwa das ägyptische, persische oder tunesische staatliche dem islamischen religiösen Recht in vieler Hinsicht näher als alle diese Rechtsordnungen dem anglo-amerikanischen Cornmon Law. Endlich ist das Verhältnis von personalem Recht und Gerichtsbarkeit sehr unterschiedlich: Manchen personalen Rechtsordnungen entspricht ein eigenes, staatlich voll anerkanntes Gerichtssystem (so weitgehend im Orient); andere Cornell L.Q. 45 (1959/60) 573 f. mit N. 34, sowie nach El-Mikayis (oben N. 857) 525. Ähnlich anscheinend heute noch die ägyptische Praxis zum Eheschließungs- und Erbrecht: GANNAG, Rev. crit. 64 (1975) 836. 873 Vgl. etwa zur Rechtsstellung der christlichen Marokkaner R. Serick, in: Fs. Gutzwiller (oben N. 62) 407 f. Nach Decroux, Rev. jur. et pol. d’outre-mer 50 (1961) 72, wollte der Kommissionsentwurf des marokkanischen Staatsangehörigkeitsge­ setzes von 1958 diese Bürger - wenigstens provisorisch - dem Schweizer ZGB unter­ stellen! - In Syrien und Libanon haben die Katholiken aller Riten im Jahre 1952 ih­ ren Regierungen den Entwurf eines Gesetzes über das Personenrecht für die katholi­ schen Religionsgemeinschaften vorgelegt (siehe Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht4, Republik Syrien, S. 102a ff.), der in den außerkanoni­ schen Materien anscheinend auf römisch-byzantinischem, islamischem und französi­ schem Recht beruht. 874 Vgl. etwa GANNAG (Beirut), Les difficults du contröle de la comptence de juridictions confessionnelles dans un Systeme juridique incompletement lacis: Rev. crit. 40 (1951) 227 ff.; ders., Observations sur les effets des jugements trangers de divorce dans un Systeme juridique non lacis: Rev. crit. 47 (1958) 673 ff. 876 Zu den verschiedenen Typen dieser Verweisungen (Anerkennung der staatli­ chen Zuständigkeit, rein faktische Anerkennung des staatlichen Rechts, Rezeption des jeweiligen staatlichen Rechts) und zu der Frage, welchen Staates Recht jeweils gemeint ist, siehe Neuhaus, C.I.C. (oben N. 309) 41-46. ley,

werden von den allgemeinen staatlichen Gerichten angewandt (so z. B. in Ägyp­ ten); teilweise besteht eine vom Staat nur partiell anerkannte besondere Gerichts­ barkeit.

II.

Zur Konkretisierung von Anknüpfungen ist folgendes zu sagen: Während in einem Staate mit mehreren territorialen Teilrechtsord­ nungen die Anknüpfung an einen bestimmten Ort eindeutig ist und die Anknüpfung an eine Person (oder an mehrere Personen oder Orte) un­ klar sein kann, ist es in einem Staate mit mehreren personalen Rechts­ ordnungen umgekehrt: Hier ist die Anknüpfung an die Staatsangehörig­ keit, den Wohnsitz oder Aufenthalt einer bestimmten Person ohne wei­ teres auf das Recht der engeren Gemeinschaft zu beziehen, der die Per­ son angehört; dagegen ist die bloße Bezugnahme auf das Recht eines Or­ tes in diesen Staaten mehrdeutig, wenn keine der personalen Rechtsord­ nungen als bevorzugtes „Ortsrecht“ gilt. Die Konkretisierung der An­ knüpfungen erfolgt im letzten Falle durch ein „Umschalten“ von dem rein örtlichen zu einem personalen Element. Diese Umschaltung kann durch das Recht des betreffenden Landes selbst erfolgen; so unterstanden in Niederländisch-Indien Grundstücke nur dann dem Eingeborenenrecht, wenn sie niemals der Niederländisch­ Ostindischen Kompanie gehört hatten und nicht vom Staate auf einen europäischen Eigentümer übertragen worden waren876. Aber meistens kennen die Staaten mit mehreren personalen Rechtsordnungen auch in ihrem IPR für die fraglichen Materien keine lokalen Anknüpfungen und haben daher kein Bedürfnis nach solchen Umschaltungsregeln. Dann steht der fremde Richter, den eine lokale Anknüpfung seines IPR auf das Recht dieses Staates verweist, vor der Wahl: Entweder hat er die Umschaltung selbst vorzunehmen - z. B. als Ortsrecht eines öf­ fentlich beurkundeten Rechtsgeschäftes oder einer Trauung das von der Urkundsperson bzw. von dem Trauenden befolgte Recht anzuse­ hen -, oder er muß notgedrungen eine Ersatzanknüpfung wählen, die vielleicht auf ein ganz anderes Recht führt, z. B. die Anknüpfung an die Person des jeweiligen Beklagten. Entsprechendes gilt, wenn das gemein­ same Recht zweier Orte oder das gemeinsame Recht zweier Personen mit verschiedenem Personalstatut angewandt werden soll.876 876

Intergentiel Recht (Den Haag und Bandung 1955) 200; vgl. GouWLaw Reform in Indonesia: RabelsZ 26 (1961) 535 (538).

KoLLEWIJN,

gioksiong,

III.

Historisch ist das „System der persönlichen Rechte“ (wie man be­ sonders das im Frankenreich seinerzeit bestehende Nebeneinander rein personaler Rechte zu nennen pflegt) zweifellos älter als die Territoria­ lität der Rechtsordnungen; denn von Natur aus bezieht sich das Recht auf Menschen und nicht auf ein Territorium877. Aber trotz vieler histo­ rischer Beispiele der Personalität hat sich daraus wohl niemals ein um­ fassendes, konsequentes Kollisionsrecht entwickelt878. Das m. W. einzige streng auf der Gleichberechtigung personaler Rechtsord­ nungen aufgebaute Kollisionsrecht, nämlich das intergentile Recht Niederländisch-Indiens, das auf dem Nebeneinander besonderer Rechtsordnungen für Europäer, „asiatische Ausländer“ (Chinesen) und Eingeborene beruhte (für letztere galt das in sich vielfach zersplitterte sog. Adatrecht), war eine künst­ liche Schöpfung der Kolonialverwaltung und der Wissenschaft879. Im Zeichen der Selbständigkeit und nationalen Einheit Indonesiens wird es schrittweise durch Schaffung von Einheitsrecht verdrängt (voraussichtlich zuletzt im Ehe­ recht).

Meistens ist man in ganz einfache Lösungen ausgewichen, etwa in den grundsätzlichen Vorrang einer beteiligten Rechtsordnung (so im conflit colonial) oder in die Entscheidung nach dem Recht des jeweiligen Be­ klagten. Insbesondere hat Mancinis Gedanke einer Personalisierung der modernen Territorialrechte durch das Staatsangehörigkeitsprinzip nur beschränkten Erfolg gehabt880. Gerade weil das Recht wesensmä­ ßig Ordnung zwischen Menschen ist, zeigt sich für Beziehungen, an de­ nen Angehörige verschiedener Rechtsgemeinschaften beteiligt sind, im­ 877 Pacelli, La personalitä e la territorialit delle leggi, specialmente nel diritto canonico (Rom 1912). Mit dieser Schrift hat der spätere Papst Pius XII. während der Arbeit am Codex Iuris Canonici die kanonistische Tradition von der Territorialität der Gesetze überwunden. Der Codex enthält demgemäß in can. 8 § 2 nur noch eine (historisch begründete) Vermutung: „Lex non praesumitur personalis, sed territorialis, nisi aliud constet.“ Zur Unzulänglichkeit dieser Unterscheidung siehe oben § 23 I 1. 878 So behandelt das oben § 15 II 2 a.E. genannte tunesische Dekret vom 12. 7. 1956 nur die Frage des Statut personnel. 879 Siehe etwa KOLLEWIJN (oben N. 876) 193-213; Lemaire, Kwesties bij de Studie van het intergentiel recht (1956; italienische Übersetzung in Dir. Int. 15 [1961] I 103-122), bespr. von KoLLEWIJN in Ned. T. Int. R. 4 (1957) 199 ff.; Gouwgioksiong (oben N. 876) 538-543; ders., Interpersonal Law in Indonesia: RabelsZ 29 (1965) 545 ff., wo er KOLLEWIJN, den ersten Inhaber eines besonderen Lehrstuhls für intergentiles Recht in Batavia (seit 1924), als den „Vater des intergentilen Rechts“ bezeichnet (546). 880 Vgl. zum italienischen IPR: RabelsZ 15 (1949-50) 25 f., 28.

mer wieder die Tendenz zu einer „neutralen“, also unpersönlichen An­ knüpfung, insbes. zur Anknüpfung an einen Ort oder ein Territorium. Die daraus erwachsene Auffassung von der Territorialität der Rechtsordnun­ gen hat sich im europäischen IPR schließlich so durchgesetzt, daß es z. B. im deutschen IPR zwar die rein territoriale Verweisung auf das Recht eines Ortes gibt (Artt. 11 I 2, 24 II EGBGB), dagegen nicht die rein personale Verweisung auf das Recht einer Person ohne ausdrückliche Zwischenschaltung des Staates, dem diese Person angehört oder in dem sie ihren Wohnsitz oder Aufenthalt hat. Hier wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß jeder Ort zu einem be­ stimmten Rechtsgebiet gehört, aber nicht jeder Mensch ohne weiteres zu einer bestimmten Rechtsgemeinschaft.

IV.

Speziell im Verhältnis von staatlichem und religiösem Recht muß je­ der moderne Staat grundsätzlich auf den Vorrang des staatlichen Kolli­ sionsrechts dringen881. Denn jede Glaubensgemeinschaft, die von der Wahrheit ihrer Lehre überzeugt ist, kann keinen andern Glauben als gleichberechtigt anerkennen und daher auch nicht dessen Rechtsbestim­ mungen. So behandelt z. B. der Islam zwar die vier Rechtsschulen inner­ halb des sunnitischen Bekenntnisses als gleichwertig; aber jedes andere religiöse Recht wird von ihm bestenfalls auf einer untergeordneten Ebe­ ne geduldet: im Zweifel hat das islamische Recht den Vorrang882. Da­ gegen kann der moderne Staat „über seinen Schatten springen“, d. h. sei­ ne eigene Rechtsordnung unter Umständen an die zweite Stelle setzen. Er hat sich daran gewöhnt, andere Staaten als absolut gleichberechtigt anzuerkennen; der Gedanke eines einzigen Universalreiches, dem von Rechts wegen die Herrschaft über die ganze Welt zukommt, wird heute selbst in China nicht mehr vertreten. Demgemäß kennt das staatliche IPR zweiseitige Kollisionsnormen, die das ausländische Recht auf die gleiche Stufe stellen wie das inländische. Nur das staatliche IPR kann daher die erstrebenswerte internationale Gleichberechtigung und Ent­ scheidungsharmonie sichern. Um den Vorrang des staatlichen IPR durchzusetzen, muß der Staat gegen­ über den religiösen Gerichten - sofern ihre Entscheidungen überhaupt bürger­ liche Wirksamkeit haben sollen - den Rekurs an die weltlichen Gerichte zu­ lassen. Denn in der Regel werden religiöse Gerichte dem staatlichen IPR nur 881 Vgl. zum folgenden Neuhaus, Zum Verhältnis... (oben N. 420). 882 Siehe etwa Schuster (oben N. 310) 21 f./25 einerseits, 27 ff. anderseits.

insoweit Gehorsam leisten, wie es mit ihrem eigenen Kollisionsrecht vereinbar ist (außer bei völliger Abhängigkeit von der Staatsgewalt).

Erst wenn der Staat den grundsätzlichen Vorrang des weltlichen IPR durchgesetzt hat, kann er im einzelnen den religiösen Rechten entgegen­ kommen und ihnen für gewisse Bereiche den Vorrang einräumen. Dabei mag er je nach den Umständen verschiedenen Religionsgemeinschaf­ ten ein unterschiedliches Maß der Anerkennung ihrer religiösen Normen und Akte gewähren. So ist die Anerkennung religiöser Eheschließungen nur bei ei­ ner gewissen Größe und Festigkeit der Organisation mit dem öffentlichen In­ teresse vereinbar. Außerdem kann je nach der Lehre der einzelnen Gemein­ schaften entweder ein rein weltliches Ehe- und Erbrecht (z. B. für Protestan­ ten) oder die Anerkennung wenigstens der religiösen Eheschließung (für Ka­ tholiken und Quäker) oder gar die Respektierung religiösen Erbrechtes (für Ju­ den und Mohammedaner) angebracht sein.

Mit der religiösen Neutralität des modernen Staates ist eine sachlich begründete Differenzierung nicht unvereinbar.

V. Die Zukunft der personalen Rechtsordnungen ist ungewiß. Die alten Stammesrechte scheinen auch im unabhängigen Afrika und Asien keine großen Chancen zu haben, da der Zug der Zeit dort offenbar vom Tri­ balismus zum einheitlichen Territorialstaat geht. Auch eine allgemeine Renaissance der religiösen Rechte ist wenig wahrscheinlich, vielmehr neigt die Mehrzahl der neueren religiösen Bewegungen eher zu einer Entrechtlichung der Religion. Anderseits besteht eine gewisse Tendenz des modernen Staates, sich auf die Ordnung des Wirtschaftslebens zu konzentrieren und den familiären Bereich dem Pluralismus der gesell­ schaftlichen Kräfte zu überlassen883. Jedenfalls haben wir einstweilen damit zu rechnen, daß territoriale und personale Rechtsordnungen nebeneinander bestehen und daß daher nur solche Anknüpfungen auch in einem Staat mit mehreren Teilrechts­ ordnungen eindeutig sind, die gleichzeitig einen bestimmten Ort und eine bestimmte Person bezeichnen.

883 Siehe Jemolo (oben N. 255) 473, 476. 21 Neuhaus, Grundbegriffe 2. Aufl.

VI. Kapitel: Die Anwendung fremden Rechtes 5 43: Der Vorgang der Anwendung fremden Rechtes Die Regeln über die Anwendung fremden Rechtes können schon deshalb nicht vom IPR als den Regeln zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts ge­ trennt werden, weil oft erst bei einer vorläufigen Subsumtion unter das zu­ nächst für anwendbar befundene Recht sich herausstellt, daß und inwieweit eine erneute Anknüpfung (Ersatzanknüpfung) erfolgen muß (Näheres in den folgenden Paragraphen).

I.

Ihrem Wesen nach ist die Anwendung fremden Rechtes - entgegen allen gekünstelten Theorien - wirklich Anwendung fremden Rechtes, nicht etwa Anwendung eigenen Rechtes in bloßer Nachahmung eines fremden (also nicht Anwendung einer von Fall zu Fall geschaffenen in­ ländischen Parallelnorm) und auch nicht eine Art der Rezeption (wie ein fremdes Gesetzbuch rezipiert wird oder das beibehaltene Recht eines annektierten Gebietes). Anderseits handelt es sich um die Anwendung von fremdem Recht und nicht die bloße Berücksichtigung einer Tatsache (wie eines Vertrages oder eines Handelsbrauchs). Zwar entfaltet ein aus­ ländischer Rechtsetzungsakt als solcher keine verbindliche Wirkung über den Hoheitsbereich des betreffenden Staates hinaus; vielmehr be­ darf es für die Anwendung fremden Rechtes eines entsprechenden Be­ fehls der inländischen Rechtsordnung. Aber nicht der staatliche Befehl macht das Wesen des Rechtes aus - sonst gäbe es kein außerstaatliches Völker-, Kirchen-, Welthandelsrecht -, sondern die Ordnungsfunktion, d. h. seine Bestimmung zur gerechten Regelung menschlichen Zusam­ menlebens. Die Eigenart der Anwendung fremden Rechtes zeigt sich vor allem darin, daß die fremden Normen - wohl unbestritten - auch im Inland aus dem Zusammenhang und Geist der fremden Rechtsordnung ausgelegt werden müssen884; eine bloße Tatsache (wie eine private Wil­ lenserklärung) und eine wirklich rezipierte - also nunmehr inländische - Rechtsnorm sind dagegen nach den Maßstäben des inländischen 884 Vgl. BGH 16. 6. 1969, IPRspr. 1968-69 Nr. 3 unter II 1: „Die jeweils an­ wendbare Rechtsordnung bildet ein einheitliches Ganzes, so daß selbst die Anwendung wörtlich übereinstimmender, in verschiedenen Ländern geltender Vorschriften nach ih­ rem Zusammenhang mit den anderen Sachnormen der jeweiligen Rechtsordnung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.“

Rechts zu werten. Ferner kommt ein inländisches Verfahren zur Über­ prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, d. h. zur Feststellung der inländischen Rechtserzeugungs- und Gültigkeitserfordernisse, für ausländische Rechtsnormen nicht in Betracht885. Der radikale Positivismus, dessen Grundsatz lautet: „Die Wurzel alles Rech­ tes ist die Macht des Staates“886, kann freilich die Trennung von Geltungsbe­ fehl und Rechtscharakter nicht vollziehen; er vermag die logische Geschlossen­ heit und Ausschließlichkeit der nationalen Rechtsordnungen nicht zu überwin­ den, weiß die gleichzeitige Fremdheit und Verwandtschaft der verschiedenen Rechtsordnungen, ihre Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit nicht zu er­ fassen. Er bedarf daher für die Anwendung fremden Rechtes einer Gedanken­ brücke: der inländische Richter erkenne nur die vom fremden Recht geschaffe­ nen „wohlerworbenen Rechte“ an (wie aber, wenn es sich nicht um subjektive Rechte handelt? vgl. oben § 21 II 2); der Richter schaffe Recht für den kon­ kreten Fall nach dem „Beispiel“ des fremden Rechtes (soll es vor dem Richter­ spruch kein objektives Recht geben? vgl. oben § 20 I 3); das fremde Recht werde „rezipiert“ oder dergl. Mit solchen Konstruktionen wird die differenzierte Wirklichkeit des Neben- und Miteinanders verschiedener Rechtsordnungen preisgegeben zugunsten der Geschlossenheit einer einspurigen Theorie; zugleich wird die Deutung der allseitigen Kollisionsnormen, die je nach Lage des Falles in- oder ausländisches Recht berufen, unnötig kompliziert.

II. Im Prozeß wird das ausländische Recht vielfach einer Tatsache gleichgestellt, was nach dem Gesagten weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Das ausländische Recht ist zwar keine Tatsache, sondern Recht, aber doch kein inländisches Recht und daher nicht unbedingt wie dieses zu behandeln. Immerhin spricht schon der Gesichtspunkt der in­ ternationalen Entscheidungsgleichheit (oben § 6) für die möglichst weit­ gehende Gleichstellung des ausländischen Rechtes mit der lex fori. Das schließt nicht aus, daß angesichts der notorischen Unkenntnis der mei­ sten Parteien (einschließlich ihrer Anwälte) von IPR und Auslandsrecht 885 So zuerst wohl Dölle, Über die Anwendung fremden Rechts: GRUR 1957, 56 (58). 886 So RG 14. 3. 1922 nach Bayer. Staatszeitung 1922, Nichtamtlicher Teil Nr. 62, zur Rechtfertigung der Zwangspensionierung von Beamten; jedoch findet sich der Satz nicht in der vom RG veröffentlichten Fassung RGZ 104, 58 = Bayer. Gemeindeund Verwaltungszeitung 1922, 603 ff., 626 ff., vielmehr heißt es dort nur (RGZ 104, 60): „Der Satz, daß wohlerworbene Rechte nur gegen Entschädigung aufgehoben wer­ den können, ist nur ein Grundsatz für den Gesetzgeber; greift ein Gesetz in solche Rechte ein, ohne Entschädigung anzuordnen, so hat der Verletzte keinen Entschädi­ gungsanspruch.“

der Richter zu Beginn eines Prozesses auf die betreffenden Probleme hinweist887. Umstritten sind folgende Besonderheiten.

1. In vielen Ländern besteht eine Antragslast der an der Anwendung fremden Rechtes interessierten Partei, d. h. solches Recht wird nur auf Verlangen angewandt888. Das ist verständlich in Sachen, die der Partei­ disposition unterstehen, aber bedenklich in Fragen zwingenden Rechts; außerdem ist diese Praxis unbillig, wenn die betreffende Partei sich über das in Frage kommende Recht nur schwer orientieren kann889. Grund­ sätzlich sollte das Gericht seine Kollisionsnormen selbst kennen und die Maßgeblichkeit ausländischen Rechtes von Amts wegen feststellen890. Daß die Parteien nicht von der Entscheidung des Gerichtes überrascht werden sollen, sondern die wesentlichen rechtlichen Gesichtspunkte vor­ her erörtert sein müssen, steht auf einem andern Blatt; denn das gilt auch bei der Anwendung inländischen Rechtes. 2. Der Nachweis ausländischen Rechtes, also die Feststellung seines Inhalts, wird vielfach dem Beweis von Tatsachen gleichgestellt und demgemäß ganz den Parteien aufgebürdet. Sicherlich kann der Grund­ satz „iura novit curia“ nicht ohne weiteres auf ausländisches Recht er­ streckt werden. Anderseits fällt die Ermittlung des fremden Rechts oft dem Gerichte leichter als rechtsunkundigen und armen Parteien, be­ sonders in Verfahren ohne Anwaltszwang. Jedenfalls kann das Gericht eine allgemein bekannte Rechtslage (etwa die Erlaubtheit des Roulette­ spiels in Monaco) vernünftigerweise nicht mangels formellen Beweisan­ tritts ignorieren891. Die richtige Mittellösung enthält wohl § 293 ZPO, 887 Gerhard Luther, Kollisions- und Fremdrechtsanwendung in der Gerichtspra­ xis: RabelsZ 37 (1973) 660 (673 f.), über die Auslandskammer des LG Hamburg. Ähnlich die Vorschläge von Schlesinger, A Recurrent Problem in Transnational Liti­ gation - The Effect of Failure to Invoke or Prove the Applicable Foreign Law: Cor­ nell L. Rev. 59 (1973/74) 1 (24 ff.): jedenfalls soll der Richter die Parteien auf den Inhalt des von ihm selbst ermittelten fremden Rechtes und auf seine Einstellung zur Ermittlungslast rechtzeitig hinweisen und mit ihnen darüber sprechen. 888 In Frankreich ist dieser Grundsatz dahin abgeschwächt, daß es dem Gericht „gestattet“ ist, fremdes Recht von sich aus anzuwenden: Cass. 2. 3. 1960 (Chemouni), Rev. crit. 49 (1960) 97; aber es besteht keine entsprechende Pflicht. 889 Nach Schlesinger (oben N. 887) 2 f. unterbleibt die Anrufung ausländischen Rechtes bald aus Unfähigkeit des Anwalts, bald aus Berechnung, bald aus Kostengrün­ den. 890 Zum Gedanken eines bewußt nur fakultativ anwendbaren Kollisionsrechtes sie­ he oben § 7 II a.E. bei N. 193 ff. 891 Vgl. Bray, J., in Saxby v. Fulton, [1909] 2. K.B. 208 (211), und dazu FURMston, Mod. L. Rev. 22 (1959) 317 f.

wie er seit langem ausgelegt wird: Grundsätzlich ist es Recht und Pflicht des Instanzrichters, den Inhalt des anwendbaren ausländischen Rechtes von Amts wegen zu erforschen, und zwar ohne Beschränkung auf die für Tatsachen geltenden formellen Beweisregeln; jedoch kann er die Unterstützung der Parteien in der Weise in Anspruch nehmen, daß er sie zu Hinweisen auffordert - auch in Verfahren mit Untersu­ chungsmaxime. 3. Die Revisibilität der Anwendung ausländischen Rechtes ist in den meisten Ländern ausgeschlossen892. Man kann dieses Verbot nicht ein­ fach mit der Bezeichnung ausländischen Rechtes als bloße Tatsache rechtfertigen. Aber ebensowenig darf man argumentieren, jede falsche Anwendung ausländischen Rechtes bedeute eine Verletzung des inländi­ schen Kollisionsrechts, das ja nicht nur die Anwendung des richtigen Rechtes, sondern auch dessen richtige Anwendung vorschreibe. Dann müßte nämlich auch jede Feststellung tatsächlicher Art revisibel sein, weil ein Irrtum des Richters die Pflicht zur richtigen Feststellung der Tatsachen verletze893. Mit einer gewissen Berechtigung wird die Revisibilität ausländischen Rechtes vielfach deshalb abgelehnt, weil das Revisionsgericht nicht für die richtige Entscheidung jedes Einzelfalles, sondern nur für die Siche­ rung der inländischen Rechtseinheit da sei. Anderseits darf man darauf hinweisen, daß den Untergerichten gerade bei der Anwendung ausländi­ schen Rechtes die Anleitung, Überwachung und Koordinierung durch ein zentrales Obergericht mit seinen besseren Informationsmöglichkeiten sehr zugute kommen würde und daß Urteile über ausländisches Recht gern in späteren Fällen als Präjudizien benutzt werden, weil man die selbständige Ermittlung des fremden Rechts sparen möchte894. Der bloße Prestigegesichtspunkt, daß die unvermeidlichen Irrtümer bei der 892 Das Revisionsverbot erstreckt sich gegebenenfalls auch auf die ausländischen Auslegungsregeln und allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. BGH 16. 6. 1969, oben N. 884), ferner auf sog. „Denkgesetze“; denn selbst wenn man die letzteren nicht nur als Auslegungshilfe ansieht (anders Grave/Mühle, MDR 1975, 274 ff.), geht doch die Zulässigkeit logischer Argumentation im Rahmen der verschiedenen Rechtsordnungen verschieden weit (vgl. oben N. 67). 893 - und in der Schweiz würde jede falsche Anwendung kantonalen Rechts eine Verletzung des interkantonalen und damit des Bundesrechtes darstellen. 894 Der englische Civil Evidence Act 1972 (c. 30) läßt in s. 4 (2) ausdrücklich die Feststellungen englischer Urteile über ausländisches Recht als (widerleglichen) Beweis des ausländischen Rechtes gelten. Daß diese Tendenz zu begrüßen und durch möglichst weitgehende Publizität einschlägiger Urteile zu fördern sei, bezweifle ich allerdings.

Anwendung ausländischen Rechtes dem Ansehen des obersten Gerichtes scha­ den könnten, ist der Justiz unwürdig und auch unzutreffend, da kein ernsthaft Urteilender die besonderen Schwierigkeiten der Anwendung fremden Rechtes verkennen wird. Überdies wird in Deutschland seit langem die Anwendung ausländischen Kollisionsrechts in der Revisionsinstanz nachgeprüft, wenn von dem fremden Kollisionsrecht die Anwendbarkeit materiellen inländischen Rechtes abhängt (dagegen merkwürdigerweise nicht die Anwendung ausländi­ scher Zuständigkeitsnormen, wenn von diesen die internationale Zuständigkeit inländischer Gerichte abhängt895), und man kann nicht sagen, daß das Anse­ hen des Reichsgerichts oder des Bundesgerichtshofs durch die Entscheidungen über ausländisches Recht Schaden gelitten habe.

Übrigens ist im deutschen arbeitsgerichtlichen Verfahren ausländi­ sches Recht unbeschränkt revisibel, „was der herrschenden Lehre zu § 549 ZPO viel von ihrer Glaubwürdigkeit nimmt“896. Das praktische Argument einer drohenden oder bereits ohnehin bestehenden Überla­ stung des Revisionsgerichtes schließlich wäre nur dann überzeugend, wenn die befürchtete Mehrbelastung dieses Gerichtes stärker ins Gewicht fiele. Der Revisibilität gleichzustellen ist die sog. Vorlegungspflicht in Fällen der beabsichtigten Abweichung von einer andern obergerichtlichen Entschei­ dung897.

4. Eine erwünschte, weil die Anwendung ausländischen Rechtes ver­ bessernde Differenzierung ist die Konzentrierung internationalrechtli­ cher Verjähren bei einzelnen Stellen898. Dabei kann man drei Formen unterscheiden. 895 BGH 19. 3. 1958, BGHZ 27, 47 = IPRspr. 1958-59 Nr. 1 (dazu Anm. in FamRZ 1958, 279), von BGH 21. 11. 1958, BGHZ 28, 375 (381) = IPRspr. 1958-59 Nr. 110 (S. 385), ausdrücklich mit dem Vorbehalt versehen: „Für die Rückverweisung hält der Senat an der Nachprüfbarkeit durch das Revisionsgericht fest.“ Dazu MEZger, Rev. crit. 48 (1959) 689: „On souponne la quatrieme chambre [welche diese bei­ den Entscheidungen erlassen hat] d’avoir voulu simplement eviter un conflit avec la huitieme chambre“ (weil diese noch am 14. 2. 1958 [IPRspr. 1958-59 Nr. 39] die alte These zur Rückverweisung vertreten hatte). 896 Gamillscheg, RabelsZ 24 (1959) 354; Nachweise bei Gamillscheg, Int. Ar­ beitsR 399 N. 16. 897 Dazu Jochen Schröder, NJW 1959, 1520. 898 Die Ausführungen in diesem und dem folgenden Abschnitt (III) entnehme ich großenteils wörtlich der Denkschrift vom 26. 8. 1970 „Zur Verbesserung der deutschen Zivilrechtsprechung in internationalen Sachen“: RabelsZ 35 (1971) 323 ff., die Karl Arndt, Ferid, Kegel, Lauterbach, Neuhaus und ZWEIGERT dem Bundesjustizmi­ nisterium vorgelegt haben. Vgl. dessen Antwort in RabelsZ 38 (1974) 759 ff., die frei­ lich die Dringlichkeit besserer Selbsthilfe der Justiz - angesichts der unten zu III dargelegten Fragwürdigkeit aller Hilfen von außen - offenbar nicht erkennt.

a) Die Zuweisung internationaler Sachen an Spezialgerichte wurde bereits im Jahre 1883 von Pierantoni (dem Schwiegersohn Mancinis) für Italien erörtert. Er dachte an die Schaffung etwa je eines Gerichtes erster und zweiter Instanz für auslandsrechtliche Fälle. Der Gedanke wurde jedoch von ihm selbst aus rechtlichen und praktischen Erwägungen verworfen899. Obwohl seither die internationalen Sachen sehr stark zugenommen haben, müßten sol­ che Gerichte zur vollen Auslastung doch unverhältnismäßig große Sprengel er­ halten, was insbesondere in familienrechtlichen Sachen für die beteiligten Par­ teien sehr lästig wäre. Außerdem stößt der Gedanke an Spezialgerichte we­ nigstens in Deutschland auf die Abneigung der Justizverwaltungen gegen eine übermäßige Spezialisierung der Richter, die deren Verwendbarkeit an anderen Stellen und damit auch eine ausgewogene Beförderungspolitik erschweren wür­ de.

b) Durch Änderung der örtlichen Zuständigkeit können internatio­ nalrechtliche Verfahren aus dem Zuständigkeitsbereich mehrerer Ge­ richte bei einem von diesen zusammengefaßt werden. Zu denken wäre etwa in Deutschland an eine Zusammenfassung jeweils bei dem Amtsge­ richt und dem Landgericht, in deren Bezirk das Oberlandesgericht sei­ nen Sitz hat900. Ähnliche gesetzliche Regelungen gibt es in Deutschland bereits für eine Reihe von Spezialmaterien, und zwar in der Form bun­ desrechtlicher Ermächtigungen an die Länder901. Eine unmittelbar bun­ 899 Pierantoni, Della prova delle leggi straniere nei giudizi civili: Filangieri 8 (1883) I 433 (453). Ähnlich Frankenstein, JW 1932, 416, mit der (wohl ungewollt paradoxen) Begründung: „Die Beschäftigung mit dem internationalen Privatrecht er­ fordert eindringliche Sachkenntnis, die man sich nur in jahrelanger Beschäftigung mit dieser schwierigsten aller Rechtsmaterien erwerben kann.“ Seine Forderung nach Kon­ zentration „an einer einzelnen Stelle“ ist wohl nicht wörtlich zu nehmen, der Weg über „organisatorische Maßnahmen“ der Justizverwaltung im Hinblick auf § 16 Satz 2 GVG (gleichlautend jetzt Art. 101 I 2 GG: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden“) dann nicht gangbar, wenn die Zuständigkeit auf andere Gerichte übertragen werden soll. 900 So schon Holldack, Grenzen der Erkenntnis ausländischen Rechts (1919) 62 N. 1: Es sei zu erwägen, „alle nach lex originis zu behandelnden Rechtsstreitigkeiten innerhalb jeden Oberlandesgerichtsbezirks in jeder Instanz einem bestimmten Forum zuzuweisen“; damit werde auch der Streit um die Revisibilität ausländischen Rechtes an Bedeutung verlieren. 901 Vgl. etwa für die weitere Beschwerde in Sachen der freiwilligen Gerichtsbar­ keit § 199 FGG, für Patent- und Warenzeichen-Streitsachen § 51 II PatentG bzw. § 32 I WarenzeichenG (beide vom 5.5.1936/2.1.1968); für Wertpapierbereinigungs­ sachen §§ 29 I 2, 34 V WertpapierbereinigungsG vom 19. 8. 1949 (GBl. 295); für Bin­ nenschiffahrtssachen § 4 des Gesetzes vom 27. 9. 1952 (BGBl. I 641); für Landwirt­ schaftssachen § 8 des Gesetzes vom 21. 7. 1953 (BGBl. I 667); für Zwangsversteigerungs- und Konkurssachen § 1 II ZVG und § 71 III KO i.d.F. der §§ 28 f. des RechtspflegerG vom 8. 2. 1957 (BGBl. I 18 mit Berichtigung S. 44); für Vereinssachen § 55 II BGB, eingefügt durch § 30 Nr. 3 RechtspflegerG; für Kartellsachen §§ 89, 93

desgesetzliche Konzentrierung dieser Art enthält gerade für internatio­ nalrechtliche Sachen das Personenstandsgesetz (§ 31 II/S 50 I 1 i.d.F. des NEG): „Kommt für die Legitimation die Anwendung ausländischen Rechts in Betracht, so ... sind [für die Entscheidung, ob die Legitima­ tion im Standesregister einzutragen ist] ausschließlich die Amtsgerichte zuständig, die ihren Sitz am Ort eines Landgerichts haben.“902 Als finanzieller Vorteil dieser Art der Konzentrierung ist vor allem die Möglichkeit einer rationellen Anschaffungspolitik für einschlägige Bücher usw. zu nennen. Aber auch die Kosten für Gutachten - besonders in Armensachen, die nicht von den Parteien bezahlt werden - sind eher zu vertreten, wenn die Gutachten wenigstens zum Teil auch in ähnlich gelagerten späteren Fällen ver­ wendet werden können.

c) Durch Maßnahmen der gerichtlichen Geschäftsverteilung - also ohne Gesetzesänderung - können innerhalb der zuständigen Gerichte die internationalen Sachverhalte bei einzelnen Abteilungen oder Richtern konzentriert werden903. Auf solche Weise können im Rahmen der ordentlichen Gerichts­ barkeit Schwerpunkte gebildet werden, an denen sich eine gewisse Er­ fahrung konzentriert, während heute die internationalrechtlichen Sa­ chen über alle Gerichte und meistens deren Abteilungen verstreut sind und daher vom Richter, wenn er nicht unmäßig viel Zeit auf sie ver­ wenden will, nicht sachgemäß behandelt werden können. Auch die Zu­ sammenarbeit mit den Anwälten sowie mit Übersetzern und Dolmet­ schern wird durch die Konzentrierung erleichtert. des GWB vom 27. 7. 1957/4. 4. 1974 (BGBl. I 870); für Baulandsachen § 159 II Bundes-BauG vom 23. 6. 1960 (BGBl. I 341); für Urheberrechtsstreitsachen § 105 UrheberG vom 9. 9. 1965 (BGBl. I 1273); für Verteilungsverfahren nach der Seerechtlichen Verteilungsordnung vom 21. 6. 1972 (BGBl. I 953) § 2 III, IV des Gesetzes; für Familien- und Vormundschaftssachen § 23c GVG (Art. 5 des 1. EheRG vom 14. 6. 1976, BGBl. I 1421). 902 Über die Bewährung dieser Regelung siehe Ferid, Überlegungen, wie der Mise­ re bei der Behandlung von Auslandsrechtsfällen in der deutschen Rechtspraxis abge­ holfen werden kann, in: Festschrift O. Möhring (1973) 1 (14) - Auszug bei ANsay/Gessner (oben N. 702) 144 ff. (153). 903 Ebenso für Österreich zuletzt (mit einem „ceterum censeo“) Hans Hoyer, Z. f. Rvgl. 15 (1974) 313. Dabei ist freilich eine vorzeitige Spezialisierung von Rich­ tern zu vermeiden; vgl. die Resolution der I. Studienkommission der Union Interna­ tionale des Magistrats (DRiZ 1974, 376 f.) unter 4 b: „Die dauernde Beschränkung des Richters auf ein Spezialgebiet sollte erst nach einer langen richterlichen Erfahrung einsetzen.“ Für den BGH empfiehlt Müller-Gindullis, Das IPR (oben N. 738) 156, „daß in jedem Senat ein Richter mit den Fragen des Kollisions- und Auslandsrechts, die im Zuständigkeitsbereich des Senats auftauchen, speziell betraut wird“.

Ein weiterer Vorteil der Konzentrierung ist darin zu sehen, daß sicherlich mehr Fälle mit Auslandsberührung als solche erkannt und veröffentlicht wer­ den. Denn bisher ist der durchschnittliche, im internationalen Recht unerfahre­ ne Richter geneigt, eine Auslandsbeziehung des gerade vorliegenden Falles eher zu übersehen, um Schwierigkeiten der Bearbeitung zu vermeiden; zum minde­ sten wird er das Ergebnis seiner Bemühungen nicht gern der kritischen Fach­ welt unterbreiten. Aber je mehr internationale Fälle als solche gewürdigt und dann womöglich publiziert werden, desto geringer wird die Gefahr der früher gelegentlich beklagten „Blutleere“, der mangelnden Fallanschauung unserer in­ ternationalrechtlichen Praxis und Wissenschaft. Keinen guten Ersatz für die angeregte Konzentrierung der internationalrecht­ lichen Sachen innerhalb der Justiz bietet es, wenn manche Angelegenheiten so in Deutschland die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Ehesachen (Art. 7 § 1 FamRÄndG 1961, vgl. oben N. 574) und die Befreiung auslän­ discher Nupturienten von der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses (§10 II EheG) - der Justizverwaltung übertragen werden; denn es handelt sich hier um Rechtsfragen und nicht um Ermessensfragen904.

III. Die Hilfen bei der Ermittlung ausländischen Rechts - neben eigenem Studium der fremden Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur sind für den Richter von unterschiedlichem Wert905. 906

1. Die Zuziehung eines besonderen Kenners des betreffenden auslän­ dischen Rechtes als »juge ad hoc