Die freie Kunst: Beiträge zu Hegels Wissenschaft der Logik, der Kunst und des Religiösen. Mit einem Anhang von Bernhard Haas: »Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts« [1 ed.] 9783428510214, 9783428110216

Hegels Kunstbegriff wird aus dem Zentrum seines Philosophierens, d. h. aus der Logik entwickelt. Es zeigt sich erstens,

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Die freie Kunst: Beiträge zu Hegels Wissenschaft der Logik, der Kunst und des Religiösen. Mit einem Anhang von Bernhard Haas: »Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts« [1 ed.]
 9783428510214, 9783428110216

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Bruno Haas . Die freie Kunst

Philosophische Schriften Band 51

Die freie Kunst Beiträge zu Hegels Wissenschaft der Logik, der Kunst und des Religiösen

Von

Bruno Haas

Mit einem Anhang von

Bernhard Haas Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19 . Jahrhunderts

Duncker & Humblot . Berlin

Die Philosophische Fakultät der Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2000 unter dem Titel ..Hegels Begriff der Kunst und die funktionale Analyse der Farben Blau, Weiß, Gold in der Malerei der italienischen Renaissance" als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D25 Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11021-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorbemerkung 1. Kurz und knapp zu schreiben, ist mein Wunsch. Der hieraus folgende Mangel an Ausführlichkeit, wird, hoffe ich, durch Konzision und Reichtum an Sache aufgewogen. Da es nicht darum geht, Recht zu behalten, wird auf rhetorischen Aufwand, zuweilen auf mögliche, vielleicht empfehlenswerte Reserven, verzichtet; wichtiger ist, die Gedanken möglichst scharf artikuliert auszusprechen, in der Hoffnung, es möchte geantwortet und gestritten werden. Ein jeder lese, was ihn interessiert. Man vertraue jedoch nicht darauf, irgendein Passus gebe des Autors "Meinung", oder die Quintessenz des Ganzen. Daß ein jedes genau und aus einem Interesse an der Sache gelesen werde, aus einem Interesse daran, wie ein Gedanke seinen Weg nimmt, dies wünsche ich dem Buch. 2. "Die freie Kunst" ist die überarbeitete Version meiner Promotionsschrift (Philosophische Fakultät der Universität Freiburg i. Br.). Der originale Titel lautete: "Hegels Begriff der Kunst und die funktionale Analyse der Farben Blau, Weiß, Gold in der Malerei der italienischen Renaissance". Es erhellt unmittelbar, wieso die Schrift in der ursprünglichen Form nicht publiziert werden konnte. Man kann den zweiten Teil der Promotionsschrift auf Mikrofilm in der Universitätsbibliothek Freiburg einsehen. In der Tat gehört seine Fragerichtung jedoch einem wesentlich umfangreicheren Ganzen an, das ich dereinst unter dem Titel "Die Malerei im Sinn der Transparenz" zu veröffentlichen hoffe. Dieses Buch analysiert die Kunst der Renaissance unter Zuhilfenahme von Werkzeugen, die in der vorliegenden Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Keineswegs jedoch fasse ich das Verhältnis der "freien Kunst" zur "Malerei im Sinn der Transparenz" (und anderen damit verbundenen Publikationen) bloß als dasjenige von Methodologie und Anwendung auf. Es ist unmöglich, zu dem Thema hier mehr als nur diese Reserve voranzustellen. Unmöglich, weil das Ausmaß der Frage erst dann erhellt, wenn auch ganz anderer Epochen Kunst im Umkreis der hier führenden Gesichtspunkte zur Sprache gekommen ist. Es scheint mir, hierbei mit Bereichen menschlicher Wirklichkeit derart in Berührung zu kommen, daß mir selbst davor graut. 3. Viel verdanke ich wissenschaftlich dem Verfasser des Anhangs, über dessen Bedeutung seine eigene Arbeit mehr Auskunft geben kann als mein Eulogium, viel meinem Doktorvater Friedrich A. Uehlein, seiner grenzenlosen Belesenheit und geduldigen Güte, viel dem Zweitgutachter Gottfried Boehm. Seine Aufsätze zur Hermeneutik des Bildes bilden aus meiner

Vorbemerkung

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Sicht nach wie vor die entscheidenden Herausforderungen an die traditionelle Kunstgeschichte, insofern diese es mit der Kunst etwa möchte zum Ernst kommen lassen. Eine freundliche und hilfsbereite Aufnahme fand meine Arbeit auch bei Friedrich-Wilhelm von Herrmann, dem Drittgutachter, dessen Kommentare zu Heideggers Werk und herausgebende Tätigkeit ja hinlänglich bekannt und anerkannt sind. Unter meinen akademischen Lehrern möchte ich besonders dem Romanisten Wolfgang Brand und den Philosophen Peter Baumanns, Hariolf Oberer und Andreas Wittek danken, deren jeder genug publiziert hat, sich selbst dem Publikum zu empfehlen. Ein besonderer Dank gilt dem Verleger, Herrn Prof. Dr. Simon, und den Mitarbeitern des Verlags Duncker & Humblot für ihre hervorragende und zuvorkommende Zusammenarbeit. Paris, den 8. 8. 2002

Bruno Haas

Inhaltsverzeichnis Die freie Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

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11.

Hegels Satz vom Sein .......... . . . ......... ... ......... . ... ... .... 1. Die Bedeutung dieses Satzes .............. .. ... . ..... .. .... . .... . a) Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises . . . . . . . . . . .. b) Das Sein als Moment ...... . ............ . ............. . ...... c) Die Idee als Methode und der Standpunkt des absoluten Idealismus . . ................... . .......... . . . ......... .. .......... 2. Hegels Begriff des Denkens als des Durchlaufens von Standpunkten .. a) Das Unterwegssein des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Standpunkthaftigkeit des sich stellenden Denkens . . . . . . . . . . .. 3. Exkurs: Die Dialektik des Etwas. . .. . . . .. . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . ... .. 4. Beweis von Hegels Satz des Seins ................................ a) Stellung dieses Satzes im Ganzen der Logik . ................... b) Begriff der Reflexion ................... . ............. . ...... c) Übergang des Seins in die Reflexion ........ . .................. aa) Das Sein ist das Sosein .. . . .................. .. .. .. .. . ... bb) Das Sosein ist Fürsichsein ..... . .............. . .... ... ... cc) Das Fürsichsein als Wesen ............................... d) Schuld ..................................................... 5. Erläuterung des Nichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Exkurs über die Logik der Quantität . ..... .... ........ . . .. ........

25 25 25 27 29 34 34 37 47 52 52 52 57 57 58 67 78 84 93

111. Die Kunst als Idee ........................ .. . . .................... 1. Was das Denken in der Begriffslogik sei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Über die Wesenslogik ..... . .................................. b) Das absolute Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Begriff .......................................... . .......... d) Warum überhaupt etwas ist .. ............ .. ........... .... .... e) Ausarbeitung der Frage nach der Kunst als Idee ................. 2. Die Kunst als Idee und absoluter Geist ............................ a) Die Kunst unter den Formen des absoluten Geistes ..... ... ... . .. b) Die Kunst als das sich durch sich selbst Bestimmende ...........

100 100 100 111 113 120 127 127 128 132

8

Inhaltsverzeichnis 3. Das Gute . .. ........... ..... ................................... a) Das Gute als Gegenstand der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Definition der Idee des Guten ................................. c) Beweis des spekulativen Satzes vom Guten - die Freiheit ........ d) Über den "freien Entschluß" der Idee .......................... 4. Das Schöne .................................................... a) Welchen Ort hat das Schöne im Ganzen der spekulativen Philosophie? ....................................................... b) Das Schöne als Möglichkeit des Guten ......................... c) Religion ................................... . ................ d) Die Zeitgestait der Religion . .. .. . ..... .. ... . ....... . .......... e) Das Schöne als Zeichen der Idee .............................. f) Identifikation des Schönen bzw. Kunsthaften .................... 5. Zeit ..................................................... .. .... a) Was heißt: die Zeit "interpretieren"? ........................... b) Die Zeit in ihrem Wesensbezug zum Sein und der Maßcharakter .. c) Irreversibilität ............ .. .............. . ........... . ..... . d) Die Kunst als vergangen-seiende Idee ......................... . e) Geschichte ................................................. .

139 139 141 148 158 165

IV. Über die Methode der Werkanalyse ..... ........ .............. . .... 1. Funktionalität ................................................... a) Einleitung .................................................. b) Funktion ............................. . ............... . ...... c) Das Prinzip ... .. ..................... . ...................... d) Welt ....... ... ........ ... ........ ....... ......... ...... .... 2. Vom Interessantesten ........ ... ............. .. .................. a) Heideggers Kunstwerkaufsatz aus der Sicht der Hegeischen Ästhetik .................................................... b) Erde und Parkplatz .......................................... c) Vom Parkplatz ...................................... . . ...... d) Heideggers Standpunkt und die Kunst ................ . . . . . . . . . . e) Hegel .. .. ..................................................

213 213 213 215 220 225 230

165 171 177 184 189 194 198 198 202 204 206 209

230 238 245 248 252

Anhang: Bernhard Haas: Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts ......... ..... ... . .............. . ....... . .... . ... 256 Bibliographie ......................................................... 273 Personen verzeichnis ................................................... 287 Sachwortverzeichnis ................ .. ............ .... ........... . ..... 291 Verzeichnis der griechischen Ausdrücke .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Die freie Kunst Nach I, 83 der Ästhetik l soll die Kunst ihren Zweck in sich selbst haben und nicht der moralischen Besserung dienen. Was anders soll aber das Selbstzweckhafte sein, wenn nicht das Gute; und wodurch wird das Gute, d.h. was sein soll, wirklich, wenn nicht durch die moralische Handlung? Hegel kennt also ein Gutes jenseits der Moral. Und die Frage ist, wie Gutes, Selbstzweckhaftes jenseits der Moral möglich sei. Wenn die Kunst ein Selbstzweck ist, so muß das Zweckhafte an ihr irgend gezeigt werden können. Der Zweck ist aber wohl ein Seinsollendes. Die Frage wäre also: Warum soll Kunst sein? Die Antwort würde lauten: um dieses und jenes willen. Aber Hegeliehrt ja, daß sie den Zweck in sich selbst habe. "Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben." (I, 88/ 89). Der Begriff des Guten, des Sittengesetzes, der Moralität kommt nicht in die nämliche Aporie. Denn er enthält eben das Seinsollende und Selbstzweckhafte: Das Gute soll sein, weil es sein soll; das ist sein Begriff. Deshalb hat Kant die Moral aus der Form des Seinsollens begründen können. Das moralische Sollen bedeutet in Kants Begriff zunächst gar nichts anderes, als überhaupt die Form des Sollens. Dieses formelle Sollen, weit gefehlt, daß es etwa leer wäre, kann nach Kant eine ganze Sittenlehre begründen, deren absolut gültiges Prinzip es als "Faktum der Vernunft" ist. Zur Faktizität des Sollens gehören zweierlei: ein aus der Form des Sollens abzuleitender Inhalt und die Verbindlichkeit oder Geltung des Sollens als Sollen überhaupt. Den Inhalt des Sollens bestimmt Kant, indem er es auf Subjekte bezieht (zum Sollen fähige, d.h. freie Subjekte) und diejenigen Bedingungen untersucht, unter denen ein Sollensgesetz, das für eine Vielheit freier Subjekte gelten soll, allein möglich ist. Es ergibt sich unmittelbar, daß das Sollen seiner logischen Form nach Kollisionen freier Handlungen ausschließen I

Die Ästhetik wird nach der ersten Auflage der posthumen Werkausgabe zitiert

(= Jubiläumsausgabe) mit Band- und Seitenzahl. Alle anderen Werke Hege1s werden

nach Henrichs Zitierweise mit Hilfe der von Hegel selbst gegebenen Kapitelunterteilungen und Absatznummern innerhalb der Kapitel zitiert, gefolgt von der Seitenzahl der kritischen Werkausgabe, soweit der betreffende Band schon existiert. Die übrigen Werke werden wiederum nach der Jubiläumsausgabe, Manuskripte und Nachschriften aber nach den jeweils einschlägigen kritischen Ausgaben zitiert (vgl. Liste der Abkürzungen).

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muß. - Woher ist es aber, daß das Sollen auch gilt? In der "Morgenröte" schreibt Nietzsche, die Unterwerfung unter die Moral sei selbst nichts Moralisches (Nr. 97). Kant behauptet mit seinem Faktumtheorem das Gegenteil. Er behauptet: Die Moral, und das moralische Sollen gilt an sich selbst; dies ist ein Vernunftfaktum, d. h. ein durch Vernunft gegebenes und deshalb auch durch Vernunft einsichtiges Faktum (also nicht ein Faktum, das durch äußere Erfahrung als etwas Fremdes gelernt werden müßte). Die Vernunft hat es mit dem Wahren zu tun. Nur eines kann wahr sein: entweder, daß die Moral an und für sich ungültig ist (Nietzsche), oder daß sie gilt (Kant). Ob ich das eine oder das andere für wahr erkenne, das ändert etwas für mich (als partikuläres Subjekt) und mein Handeln. Die Wahrheit also betrifft und bestimmt unser Handeln (eine sokratische Hauptthese). Wahrheit ist hier offenbar nicht adaequatio an vorfindliches Sein. Wahrheit gilt hier wie das Gute gelten soll. Der der Wahrheit in diesem Sinne fahige Mensch ist frei. Wer dies versteht, der hat sich schon für das Sollen entschieden, indem er dadurch erfahren hat, was Wahrheit und Sollen ist. Wer es aber nicht versteht, bzw. nicht verstehen will (Nietzsche)? Es gibt seit Nietzsche vielleicht Möglichkeiten, gegen diese Evidenz zurückzuhalten. Wir müssen dies hier offenlassen. Ein anderes ist hier zu fragen, nämlich wie sich das Sollen zum Bösen verhält. Nach Hegel impliziert der Begriff des Sollens, daß dasjenige, was sein soll, nicht schon ist. Die Welt, in der (nach Kant) das moralische Gesetz gilt, ist also notwendig teils böse. Inhalt des Sollens ist aber, daß das Böse nicht sei. Demnach widersprechen sich hier Inhalt und Form. Seiner Form nach fordert das Sollen das Nichtsein des Bösen, ohne dessen Sein es aber gar nicht ist (vgl. das Kapitel über "Verstellung" in der Phänomenologie des Geistes). Nach Kant dagegen wird das moralische Sollen in einem "heiligen Willen" vollendet wirklich. Heilig heißt ein Wille, der allein durch das moralische Gesetz bestimmt wird, also keine Freiheit der Wahl hat zwischen Gut und Böse. Die Frage ist nun, ob es für den heiligen Willen ein Sollen gibt, nämlich eine Erfahrung der Wahrheit, wie sie oben mit Blick auf Kants Faktumtheorem angedeutet worden. Wenn aber das Sollen seinem Inhalt nach in Bezug auf mögliche Kollision freier Handlungen bestimmt ist, so gibt es diesen Begriff offenbar nicht, wo es keine mögliche Kollision gibt. Wo immer daher der Wille durch die Erfahrung der Wahrheit des Sollens soll bestimmt werden können, da muß es irgend auch die Möglichkeit der Kollision, also des Bösen geben. Sollen gibt es also nur in einem prinzipiell endlichen Willen. Es zeigt sich somit: Der von Hegel notierte Widerspruch in Kants Begriff des Sollens besteht in der Tat; er gehört zur strukturellen Endlichkeit des menschlichen Willens. Mit dem Nachweis dieses Widerspruchs ist indessen Kants Begriff des Sollens vielleicht noch gar nicht aus den Angeln gehoben. Kants eigene Moralphilosophie reagiert in ihren Postulaten darauf (wie auch Hegel in der Phänomeno-

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logie des Geistes vennerkt). Das kann und braucht hier nicht entschieden zu werden. - Nach Hegel ist indessen dieser Widerspruch gewiß aufzuheben. D.h. der Gute muß erkennen, daß das Böse zu seinem Gutsein strukturell dazugehört, mit anderen Worten: das Böse muß verziehen werden. Wahre Verzeihung ist nicht Strafnachlaß, sondern Aufhebung des Böseseins selbst des Bösen und Gutseins des Guten. Die Verzeihung steht also jenseits von Gut und Böse. Mit der Verzeihung ist in der Phänomenologie des Geistes diejenige Sphäre eröffnet, in welcher die Kunst zuerst auftritt. 2 In Bezug auf die Kunst kann daher die Frage gar nicht mehr gestellt werden, was ihr Zweck sei, inwiefern sie sein solle usw.; denn diese Begriffe sind soeben in ihrer Dialektik zugrundegegangen bzw. in ihren Grund zurückgegangen, der die Verzeihung ist. "Indem wir nun als letzten Endzweck, der für die Kunst angegeben wurde, die moralische Besserung fanden, deren Prinzip aber auf einen höheren Standpunkt hindeutete, so werden wir diesen höheren Standpunkt uns auch für die Kunst vindizieren müssen." (Ästhetik, I, 89.) Und kein Versöhnen irgendwelcher Gegensätze, sei es des Verstandes und der Sinnlichkeit, sei es des Sollens und des Seins, sei es der Pflicht und der Neigung, ist die "Funktion" oder der "Zweck" oder das "Worumwillen" der Kunst. Die Kunst ist Selbstzweck, weil dieses die spezifische Art ihres Seins ist. 3 Diesen Begriff der Kunst nun zu vollenden, haben wir ihn noch auf Religion und Philosophie zu beziehen. Hegel selbst erweckt den Eindruck (v. a. in der Enzyklopädie), die Kunst sei eine unter drei Species des Genus "absoluter Geist". Die Kunst wäre dann definiert, d.h. abgegrenzt von anderem an ihren Ort gebracht. Dies ist aber nicht die Art, wie das Absolute, der absolute Geist, die Kunst, begriffen werden kann. Das Absolute nämlich ist, 2 Vgl. hierzu A. Banti, Il Problema dell'arte in Hegel, in: Derselbe, Filosotia dell' Arte, Rom 1962, S. 247-264. - Steht nicht auch bei Nietzsche die Kunst an einem Ort jenseits von Gut und Böse? 3 Durch die Bestimmung ihrer Seinsart ist zugleich das Wesen der Kunst schon angegeben. Da nun die Kunst nicht von außen her bestimmt wird, sondern sich selbst von sich her absolut bestimmt, so scheint das l'art pour l'art vorhanden zu sein; und gewiß ist Hegels Begriff der Kunst die wesentliche Grundlage und der Boden dieses Begriffs. Richtiger wird dies aber als die Autonomie der Kunst bestimmt, ein Hauptmotiv von Adornos Ästhetik. Die Autonomiethese unterscheidet sich vom "l'art pour l'art" unter anderem dadurch, daß sie ein kritisches Potential gegenüber dem "Ästhetizismus" enthält, oder enthalten kann. Diese Perspektive erhöht unser Interesse an Hegels "Logizismus" gerade im Hinblick auf seine Kunstphilosophie. Wir verhalten uns dadurch komplementär zu Annemarie Gethmann-Sieferts Interpretationsansatz, z. B. "Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik", Hegel-Studien Beiheft 25, Bonn 1984.

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nicht was an einen Ort gebracht und als durch diesen Ort bestimmt gedacht werden muß, sondern von woher vielmehr so etwas wie Ort und Ortung zuerst gedacht werden kann. Das Denken hat also nicht jene drei zu erörtern (d.h. subsumptionslogisch zu lokalisieren), sondern es hat sich selbst an diese Örter zu bringen. 4 - Die Orte von Kunst und Religion im Verhältnis zur absoluten Idee sind also, wohin sich Kunst und Religion selbst erörtern, wenn anders diese Ortschaften solche des Absoluten sein sollen. 5 Wir können sie daher auch Standpunkte des Absoluten nennen, dagegen die absolute Idee selbst kein Standpunkt, sondern Methode, Weg ist, auf dem alle Standpunkte durchlaufen werden (s. u.). Worin besteht nun der Standpunkt von Kunst und Religion; und was bedeutet es für sie, überhaupt einen Standpunkt einzunehmen? Zunächst bedeutet es überhaupt dies, daß diese Weisen des absoluten Geistes in eine andere Weise übergehen müssen, d. h. näher in diejenige Weise, die keine Weise mehr ist, sondern der alle Weisen zusammenschließende Weg der Methode. Derart aber sind beide in einem gewissen Sinne vergänglich. Auch die Religion geht also in dem Denken der absoluten Idee (d.h. der logischen Methoden-Idee) in ihre Wahrheit zurück. Zum Vergehen jedoch verhält sie sich anders als die Kunst. Auch vergangene Kunst gilt noch als Kunst (gerade vegangene Kunst gilt als solche). Vergangene Religion aber gilt nicht mehr; gegen den Gott vergangener Religion kann das Denken nicht mehr Demut sein. 6 Hegels Affirmation 4 Das Problematische der Enzyklopädie besteht darin, daß Hegel hier so etwas wie die Zusammenfassung eines Denkens gibt, dessen Tiefe aber in der Breite der Ausführung liegt. Als verfügbar erscheint derart ein Wissen, das sich in Wahrheit nicht zur Verfügung stellt. - Mehrere moderne Hegel-Interpretationen versuchen auch der anderen Werke Hegels durch ein solches Formalisieren Herr zu werden; so z. B. Pierre-Jean Labarriere, Structures et Mouvement dialectique dans la Phenomenologie de l'Esprit de Hegel, Paris 1968 und Johannes Heinrichs, Die Logik der "Phänomenologie des Geistes", Bonn 1974. Vgl. ferner Claus-Arthur Scheier, Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Architektonik des erscheinenden Wissens, München 1980; Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1987 (2 Bde) und Gustav Falke, Begriffene Geschichte. Das historische Substrat und die systematische Anordnung der Bewußtseinsgestalten in Hegels "Phänomenologie des Geistes". Interpretation und Kommentar, Berlin 1996. 5 Es kommt also alles darauf an, das Verhältnis von Kunst, Religion und Philosophie zum absoluten Geist nicht als das einer Disjunktion einfacher Spezifikationen aufzufassen, wie dies z. B. bei Klaus Düsing, Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35, 1981, S. 319-340 geschieht. Vgl. dagegen die kurzen Hinweise bei H.-G. Gadamer, "Die Stellung der Poesie im System der Hegeischen Ästhetik und die Frage des Vergänglichkeitscharakters der Kunst", in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert u. O. Pöggeler, Hegel-Studien Beiheft 27, Bonn 1986, S. 213223. 6 Vgl. die Einleitung zur Geschichte der Philosophie (nach dem Text der Heidelberger Nachschrift von 1817): "Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich

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der offenbaren Religion wendet sich daher zugleich gegen ihr Gelten. Denn wo die Demut nicht mehr ist (diese Haltung), da ist auch keine Religion; und diese lädt den Gedanken zum Übersteigen ihrer nicht ein. 7 An der Kunst dagegen ist der Gedanke keine Demut, ja die Kunst selbst ist es, was ihn einlädt, ihr Wesen zu denken und sie zu übersteigen. Diese Einladung aber ergeht an das Denken eben darin, daß die Kunst aus dem höchsten Rang im Leben des Geistes abdankt, und aufhört, die Götter zu beherbergen. Die derart das Denken einladende Kunst ist die vom Baum gebrochene Frucht, deren Welt nicht mehr ist, vom Schicksal dem Denken als wie von einem Mädchen in der Fruchtschale dargereicht (Phänomenologie des Geistes, Offenbare Religion), die Kunst der Antike als ein Vergangenes. Als dieses Vergangene aber bleibt die Kunst und hat ein Sein. Dieses Vergangensein der Kunst aber ist, dem eben zitierten Passus der Phänomenologie des Geistes zufolge, dasjenige wesentliche Schicksal, wonach die Kunst selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken. Und mit diesem Glauben wird nichts so spröde und hart sein, das sich ihm nicht eröffnete. Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben." (In der Ausgabe Moldenhauer/Michel Bd. 18, S. 13-14.) Da bleibt nur eine Religion ohne das "credo quia absurdum est", also überhaupt ohne Glauben wie Kierkegaard betont (Furcht und Zittern), dann auch ohne Mystik, nämlich ohne Geheimnis, weil dieses ja inzwischen begriffen, auf den Begriff gebracht ist. 7 Wie aber steht Hegel nun zum wirklichen Gelten der Religion? In der Geschichte der Philosophie bezeichnet er sich als Lutheraner. Nach dem Manuskript zur Philosophie der Religion ist das Philosophieren sogar "Gottesdienst" (I, S. 4), Die Schwierigkeit ist jedoch gegenüber einer Interpretation der (christlichen) Religion als Vorstellung des Absoluten ausgesprochen groß. Eine folgenschwere Andeutung macht Friedrich Uehlein diesbezüglich in seinem Buch "Die Manifestation des Selbstbewußtseins im konkreten ,Ich bin'. Endliches und unendliches Ich im Denken T.S. Coleridges", Hamburg 1982. Nach Coleridge enthält die Evidenz des Ich denke, insofern es als ein bestimmtes überhaupt nur einzelnes, spezielles Ich denke sein kann, zugleich die Evidenz seiner Entsprungenheit. Woraus es aber entsprungen, ist das reine Ich denke (womit in Anlehnung an Schelling treffend der Unterschied von persönlichem und reinem transzendentalem Ich beschrieben ist). Verschiedene Gründe führen Coleridge nun dazu, das reine Ich denke für transzendent zu halten, will sagen, für das persönliche transzendierend, so daß dieses jenes nicht geradewegs ist oder besitzt, sondern allenfalls zu ihm zurückfinden kann. Wodurch eine spezifisch demütig-religiöse Haltung zu ihm (nämlich zu Gott) im Rahmen einer streng transzendentalphilosophischen Begründung möglich wird. Was diesen Gedanken nun mit Hegel verbindet (diese Referenz auf S. 91) ist, daß auch Hegel das persönliche Ich und seine Evidenzen für bloße Momente hält in dem ganzen Prozeß des Begriffs (Gottes), so daß bei Hegel die Arbeit des Denkens im Ganzen, insofern persönliche Iche diese Arbeit tun, der "Gottesdienst" ist, nämlich der Dienst, in dem der Mensch, das endliche, persönliche Ich, sich transzendiert und zum absoluten Begriff oder Idee findet. Die für Hegels Stellung zur Religion entscheidende Frage ist aber, wie sich die "absolute Idee" zu Gott verhält.

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zum Denken ihres Wesens und in eins damit zum Denken der spekulativen Idee und ihrer enzyklopädischen Ausbreitung einlädt, die "Er-Innerung des in den Werken noch veräußerten Geistes", das wesentliche Schicksal, das der Kunst ihrem eigenen Wesen nach zustößt, bzw. das ihr vielmehr nicht zustößt, sondern das sie ist. Die Kunst ist das vergangen-Seiende. Vergangenheit bedeutet hier so viel als Nichtmehrsein, Außerkraftsein, durchgestrichene Gültigkeit. Diese Durchstreichung hat irgendwann statt gefunden, aber als das Ereignis des eigenen Wesens der Kunst. Daher bedeutet das Vergangensein der Kunst nicht, daß sie einst galt, ihr Gelten jetzt aber durchgestrichen, sondern, daß diese Durchstreichung die Wiederholung nur oder Rückkehr war zur wesentlichen Durchstreichung ihres Geltens (worauf zurückzukommen ist). Das weiß auch das Kunstwerk des Ideals in der Trauer des seligen Gottes. - Diese Ungültigkeit aber ist das vergangen-Sein der Kunst. Das Vergangene ist irreversibel das Vergangene, es kann sein vergangen-Sein nicht verlieren; was also vergangen ist, das ist und kann nicht aufhören zu sein. Dieses bedeutet zunächst nur, daß die in der Vergangenheit geschaffene Kunst (der Antike, der Renaissance usw.) Kunst bleibt, nicht dagegen, daß es in alle Zukunft möglich ist, Kunst zu schaffen. Wer aber heute Kunst schafft, schafft vergangen seiende Kunst. 8 8 Hegels These vom Vergangen sein der Kunst ist bekanntlich zum Stein des Anstoßes eines nicht enden wollenden Hin und Her geworden. Fast alle Kommentatoren versuchen, diese These abzuschwächen, indem sie sie vielmehr für eine Folge von Hegels hybridem Anspruch an die Philosophie erklären (z. B. Croce), oder indem sie sie hinwegdiskutieren (z. B. W. Oelmüller). Annemarie Gethmann-Siefert geht seit über zwei Jahrzehnten den Weg, diese These im Ausgang von Schriften des jungen Hegel zu revidieren (Eine Diskussion ohne Ende: Zu Hegels These vom Ende der Kunst. Kritik neuerer Ästhetik-Interpretationen, in: Hegel-Studien 16, 1981, S. 230-245, wo ein Gruppe englischsprachiger Beiträge, v.a. der Sammelband Art and Logic in Hegel's Philosophy, hrsg. v. Warren E. Steinkraus u. Kenneth L. Schmitz, New Jersey 1980 besprochen sind; "Hegels These vom Ende der Kunst und der Klassizismus der Ästhetik", in: Hegel-Studien 19, 1984, S. 205-258, dessen Thematik in "Die Funktion der Kunst in der Geschichte", Hegel-Studien Beiheft 25, Bonn 1984 wieder aufgenommen wird; vgl. auch die Einleitung zu Hothos Nachschrift der Ästhetik-Vorlesung von 1823, Hamburg 1998). Heidegger (Vom Ursprung des Kunstwerkes) und Adorno (Ästhetische Theorie) verzichten auf Revision oder Abschwächung jener These. Das sind keine schlechten Autoritäten. - Unter den zahlreichen Äußerungen zum Thema sind hervorzuheben: Jan Patocka ("Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst", in: Beispiele. Festschrift für Eugen Fink, hrsg. v. L. Landgrebe, Den Haag 1965, S. 46-61), der, eigenartig genug, die These vom Ende der Kunst für "metaphysisch" erklärt (i. S. Heideggers) und deshalb entfernt, darin aber die tiefere Wahrheit findet, daß die Kunst eben die Vergänglichkeit (Endlichkeit), dieses "Furchtbare", als das Wesen des Seienden enthülle, wodurch nun der Kunst auf andere Weise in der Tat ein "Ewigkeitswert" zuwächst (und sollte das nicht wiederum eminent "metaphysisch" gedacht sein?); Dieter Henrich ("Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel", in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion - Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. W. Iser, München 1966, S. 11-32), der die romantische Kunst-

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Dieser Gedanke der Kunst als Absolutes, d. h. auch dieser Gedanke des Absoluten, ist offenbar Hegels Beitrag zur Philosophie der Kunst. Hegel ist durch ihn der bis heute maßgebende Denker der Kunst geworden. 9 form (= moderne Kunst) eben we~en ihres von Hegel diagnostizierten Mangels an Integrität für das der Philosophie Uberlegene erklärt und auf diesem Weg die These vom Enden der Kunst zurücknimmt (letztlich ein Rekurs auf die "Hybris" des absoluten Wissens, auf den Spuren Adornos; vgl. auch D. Henrich, Zur Aktualität von Hegels Ästhetik: Überlegungen am Schluß des Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie, in: Stuttgarter Hegel-Tage 1970, hrsg. v. H.-G. Gadamer, Bonn 1974, S. 295-301; und diese Arbeiten aufgenommen bei Jörn Rüsen, "Die Vernunft der Kunst. Hegels geschichtsphilosophische Analyse der Selbsttranszendierung des Ästhetischen in der modernen Welt", in: Philosophisches Jahrbuch 80, 1973, S. 293319). Beachtlich ferner Hartwig Zander mit seiner zu wenig beachteten Arbeit "Hegels Kunstphilosophie. Eine Analyse ihrer Grundlagen und ihre Aktualität", Wuppertal 1970: Die Kunst sei, weil sie sinnliche Konkretion fordere, geschichtlich, im Gegensatz zur Philosophie, die es mit unvergänglichen Begriffen zu tun habe. Und in seiner geschichtlichen Vereinzelung lasse das Kunstwerk Geschichte auch erst entspringen (S. 184). Indem die Kunst aber in ihrem "Ende" aus der Objektwelt in sich selbst zurückkehre als in den Ursprung der Geschichtlichkeit, so mache sie sich erstens unvergänglich und rücke zweitens aus ihrer Rolle als Vorform des Absoluten heraus (S. 191). - Neuerdings zwei Beiträge dazu in V. Fabbri, J.-L. Vieillard, L'Esthetique de Hegel, Paris 1997: Philippe Soual, La vie infinie de l'art dans l'esthetique de Hegel (S. 105-142), wo das Ende der Kunst hinwegdiskutiert wird wie schon bei Curtis L. Carter, A Re-examination of the ,Death of art' Interpretation of Hegel's Aesthetics, in: Art and Logic in Hegel's Philosophy (1980), S. 83100, und Jacques D'Hondt, Hegel et la mort de l'art (S. 89-103). 9 Jacques Tarrniniaux hat in einer kurzen Studie (Speculation et difference. Remarques sur le statut speculatif de l'art, in: Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, hrsg. v. D. Henrich und R.-P. Horstmann, Stuttgart 1984, S. 262-273) sogar angedeutet, es mächte wohl ein gewisses "scheme esthetique" die Sprache nicht nur der Passagen über die Kunst selbst dominieren, sondern auch anderer Bereiche, und insbesondere die der Sittlichkeit und der absoluten Idee. Annemarie Gethmann-Siefert (v.a. Beiheft 25 der Hegel-Studien) deutet freilich die Entwicklung des Hegeischen Systems eher als fortschreitende Einschränkung dieses ästhetischen Schemas und die Systematik eigentlich als kunstfremd oder -feindlich. - Wenn Hegel hier als der Denker der Kunst bezeichnet wird, so versteht sich von selbst, daß damit nicht der "Inhaltsästhetiker" gemeint ist, den eine oberflächlich gewordene Philosophiegeschichte gegen den angeblich an der "Form" interessierten Kant ausspielt. Offensichtlich geht es nicht an, das, was Kant und Hegel etwa "Form" nennen, mit dem zu verwechseln, was man in der Kunst-Hermeneutik oft so nennt. Sogar Adorno sitzt dieser Verwechslung auf, wo er Hegels Festhalten am Figürlichen in den Bildenden Künsten gegen Kants Offenheit für die Abstraktion ausspielt. Im übrigen hat Kant (wie oft übersehen wird) nur sehr wenig über die Kunst selbst zu sagen (die in der Kritik der Urteilskraft allenfalls ein Nebenthema ist). Und das Beste zu diesem Thema findet sich nicht in den Analysen des Geschmacksurteils, sondern in der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft (§§ 58-59) auf wenigen Seiten. - Moderne Versuche, Kants Kunstphilosophie gegen Hegel wiederzubeleben, wie z. B. der von Rüdiger Bubner, gehen schon dadurch in die Irre, daß sie den Begriff des Kunstschönen und ästhetischen Wohlgefallens an der Kunst bloß aus Kants Analytik der ästhetischen Ur-

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teilskraft schöpfen, dabei die seit Nietzsche verpönte Moraltrommelei sich zwar vom Halse halten, dafür aber den von Kant nur knapp skizzierten Sinn des Begriffes der Kunst verfehlen und in diejenigen Aporien verfallen, denen Kant erst durch seine Dialektik der ästhetischen Urteilskraft entgeht. Denn es erhellt wie gesagt schlechterdings nicht, was irgendwelche Übereinstimmung reiner Erkenntnisvennögen mit dem empirischen Objekt "Kunstwerk" jeweils zu tun haben soll. D.h. die Identifikation der apriorischen Befunde in der empirischen Welt wird bei Kant erst in der Dialektik thematisch, wie unten näher gezeigt werden soll (vgl. Anm. 93). Auch ist die Theorie des ästhetischen Wohlgefallens immer ausgesprochen abstrakt geblieben, wenn es darum ging, einem einzelnen Kunstwerk etwas Konkretes abzugewinnen. - Drei weitere Philosophen der Kunst sind allerdings neben Hegel zu nennen und zu bedenken: Schelling, Heidegger, Adorno. Von ihnen ist Adorno gewiß derjenige, der Hegel am nächsten steht und für jede Hegel-Interpretation eine obligatorische Referenz. Schelling dagegen steht innerhalb der Kunstphilosophie isoliert da. Sein Einfluß ist heute gering, was sich aus den offensichtlichen Mängeln seiner "Philosophie der Kunst" recht gut verstehen läßt. Auch die Verteidigung, welche dieser Schrift Bernhard Barth angedeihen läßt, zeigt eigentlich nur das denkerische Defizit (Schellings Philosophie der Kunst. Göttliche Imagination und ästhetische Einbildungskraft, Freiburg München 1991). SO Z.B. wird Schellings Verneigung vor der Kunst als Korrektiv der Philosophie gegen Hegels Einnahme der Kunst durch Philosophie (und ergo gegen die These von ihrem Ende) ausgespielt und diesbezüglich sogar eine Filiation der Auffassung Adornos suggeriert (S. 52). Aber Schellings Gedanke enthält in Barths Rekonstruktion nichts von jenem Verzicht auf Einheit und Harmonie, die für Adorno die Kunst erst zum Korrektiv der Philosophie macht; und die daraus sich ergebende Abwendung des bedrohlichen Endes der Kunst ist doch nur Flucht vor dem durchaus Unheimlichen und höchst Reellen dieser These. Also nicht die "Philosophie der Kunst", sondern erst die Spätschriften Schellings, und besonders mächtig die "Weltalter", in ihrem Licht aber womöglich erneut auch die frühere Schrift haben allerdings ein großes, bisher weder gewürdigtes, noch gehobenes Gewicht in der Kunstphilosophie, beispielsweise Schellings Satz von der Zukünftigkeit der Kunst. Und das kann bei Schelling nicht bedeuten, daß in irgendeiner Zukunft wieder gegenwärtig sein werde die Kunst. Was Heidegger betrifft, so haben seine Schriften zur Kunst allerdings ein offensichtliches Gewicht und großen Einfluß ausgeübt. Bis heute aber ist es noch kaum gelungen, z. B. Heidegger und Hegel ins Gespräch zu bringen, ohne wenigstens einen der beiden Denker grob zu vereinnahmen (siehe z. B. die Studie von Andreas Großmann, Spur zum Heiligen. Kunst und Geschichte im Widerstreit zwischen Hegel und Heidegger, Hegel-Studien Beiheft 34, 1996). Unter diesen Umständen ist es immer noch gewissennaßen gefährlich, sich zu Heidegger affinnativ oder auch nur interessiert zu äußern. Solange das der Fall ist, kann von einer Aneignung oder gar Überwindung dessen, was Heidegger gedacht hat, natürlich keine Rede sein.

I. Einleitung Die Kunst also ist ein Gut jenseits von Gut und Böse. Dieses Gute kann auch das ontologisch Gute heißen, im Unterschied zum moralisch Guten Dieses Gute ist unmöglich eine ontische Bestimmung, also Bestimmung des Seienden, das die Kunst ist, im Hinblick auf sein "Wie", sondern notwendig ontologische Kategorie, d. h. Wesenszug des Seins selbst. Denn nur so kann die Kunst das ontologisch Gute sein jenseits von Gut und Böse, daß es zum Sein selbst gehört, daß auch Gutsein sei und gelte. Und so ist denn zu fragen: Was ist das Sein, daß im Sein an ihm selbst das Gute gilt?l Wir nehmen hier den Begriff des Seins weiter als Hegel ihn im Anfang der Logik zu nehmen scheint, hüten uns aber, mit Heidegger "Sein" gleich "Wirklichkeit" zu setzen (Heidegger, Negativität, in: Hegel, Bd. 68 der Gesamtausgabe). Es soll aber Hegels Begriff des Seins so erörtert werden, daß er in der ihm eigenen Evidenz erscheint, und zwar für ein Denken, welches nicht von vornherein auf Hegels Standpunkt steht, - wenn hier von einem Standpunkt überhaupt die Rede sein kann. Aus der Evidenz dieses Begriffes vom Sein ist sodann auf die Kunst zurückzukommen.

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Nach Aristoteles (Metaphysik, ist Gegenstand des ersten Philosophierens, d.h. des Philosophierens in seinem Ursprung, das Seiende bloß im Hinblick darauf, daß es ist. Nach Heidegger ist demgemäß Philosophie gleich Ontologie. Ontologie ist jedoch nicht Wissenschaft von einem vorausgesetzten Sein "an sich", sondern Wissenschaft von dem, was zum Sein als Sein dazugehört, d. h. wie und wodurch Sein überhaupt zu verstehen ist. (Es scheint demnach, daß an "Sein" etwas zu verstehen ist und daß zu "Sein" immer schon ein mehreres dazugehört.) In diesem Sinn ist auch Husserls Phänomenologie Ontologie; die "Epoche", ihre Grundhaltung, betrifft ja ausdrücklich das "Sein", indem sie das Sein aussetzt, d.h. in die Frage stellt. Phänomenologische Eidetik ist Betrachtung der Dinge im Hinblick auf ihr Sein. Das aber, wie etwas zu verstehen ist, ist sein Sinn; und 1 Es ist eine viel umstrittene Frage, inwieweit Hegels Ästhetik überhaupt in den systematischen Zusammenhang seines Philosophierens zu stellen ist. Hegels Logizismus hat den Ruf, das "Lebendige", "Freie", "Eigentümliche" der Kunst nur zu erdrücken, ihr Ende aus einem Vorurteil über die Sinnlichkeit heraus nur zu dekretieren usw. (besonders bekannt Benedetto Croces Aufsatz "La ,Fine delI' Arte nel sistema hegeliano", in: Critica 32, 1934, S. 425-434). Dagegen jüngst Brigitte Hilmer, "Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst", Hamburg 1997, besonders

S.35.

2 Haas

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I. Einleitung

deshalb fragt Sein und Zeit nach dem "Sinn von Sein". In der modemen Welt wieder einen Sinn zu stiften oder nach dem Sinn des Lebens zu suchen, ist dagegen kein Thema der Philosophie. 2 Insofern Philosophie das Seiende im Hinblick auf sein Sein betrachtet, um zu verstehen was es heißt, wenn wir das Wort "seiend" gebrauchen (Platon, Sophist), so hat sie es nicht mit Fakten oder Sachverhalten zu tun, die sind oder nicht sind, in Bezug auf die folglich Verifikation oder Falsifikation stattfinden kann. Nach Auffassung mancher Denker ist sie deshalb Ideologie; Hegel nennt sie aus dem nämlichen Grund Idealismus. Idealismus ist dann diejenige Philosophie, der es um ein Verstehen geht, nämlich um das Verstehen des Seienden bloß im Hinblick darauf, daß es ist. Hieran liegt es, daß Philosophie ein schweres Geschäft ist, denn man muß sie verstehen. Verstehen bedeutet da mehr als bloß ein Wissen, wie gewisse Termini, Formeln usw. angewendet werden, mehr auch als eine Fertigkeit, gewisse Operationen durchzuführen und Ergebnisse zu erzielen oder vorherzusagen. Verstehen ist ein Bei sich selbst Wissen, subjektiv in Hegels Sprache. Philosophie ist also und bleibt ihrem Wesen nach der Streit um die Wahrheit, insofern diese nicht fest gestellt und festgezurrt werden kann, sondern in jedem Verstehen von neuem und von Grund auf durchdacht sein (= wiederholt werden) muß? Was heißt es aber, nach dem Sein zu fragen, und über das Seiende zu philosophieren bloß im Hinblick darauf, daß es ist? Was ist "Betrachtung der Dinge im Hinblick auf ihr Sein" (Eidetik)? Daß das Seiende ist, ist offenbar nichts Spezifisches, sondern das Allgemeinste. Und doch ist das Sein des Seienden stets sein Eigenes, ja sein Eigenstes, so sehr, daß es dies nicht bloß hat, sondern ist. Das Sein ist das Seine (Schelling, Weltalter); seine Allgemeinheit ist daher Analogie (Aristoteles, Metaphysik, z. B. 8, 6). Von diesem Eigensten, das zugleich das Allgemeinste ist, handelt das reine Denken. Reines Denken ist nach Kant dasjenige, zu dem keine Erfahrung benötigt wird. Reines Denken ist apriorisch. Inwiefern bedarf es aber zum Denken des Seins keiner Erfahrung? D.h. inwiefern ist das Sein des Seienden an ihm selbst schon, d.h. als Eloo~ evident? Offenbar eben wegen 2 Nicolai Hartmann konnte in seiner Ontologie mit diesem Ausdruck nichts anfangen (Zur Grundlegung der Ontologie, Meisenheim a.G. 1948, S. 43-46). Für ihn bedeutet Sinn entweder Bedeutung (= Wortbedeutung) oder emphatisch den sinngebenden Wert. Aber weder das eine noch das andere hat Heidegger im Sinn. Sinn bedeutet da eher so etwas wie rQ6::rwc;, Richtung, also Ausrichtung, Eingerichtetheit von Sein als Sein. Und das hat allerdings auch mit so etwas wie "Sinn", d.h. "Welt", "Bewandtnis" zu tun. Also die Frage nach dem Sinn von Sein schließt ein die nach dem Sinn von Sinn, ja eröffnet sie erst in ganz neuartiger Weise (Weltphänomen, Sorge), indem sie das Sein von seiner Gerichtetheit ("Tropik" wenn man will) her, also auch im Hinblick auf mögliche "Orientierung" (= Sinn) faßt. 3 So auch Kant im "Streit der Fakultäten".

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seiner Allgemeinheit, nämlich insofern es nicht spezifiziert ist (alle Erfahrung spezifiziert). Dennoch gehört auch zum Denken des Seins Erfahrung, nämlich die Erfahrung, die das Denken selbst ist und die darin besteht, das Sein als Sein zu bemerken (VOeLv). Aber könnte nicht reines Denken statt als Denken des Seins als Denken des Allgemeinen verstanden werden? Reines Denken wäre dann "Logik" und genauer formale Logik, aus der aller Inhalt (auch der Inhalt "Sein") herausgenommen ist. Solche Logik wäre weder Ideologie noch Idealismus. Allein, wenn Philosophie ein Denken des Seienden ist im Hinblick auf sein Sein, dann muß "philosophische" Logik (bei Hegel: "spekulative", bei Kant "transzendentale") das Allgemeine wiederum im Hinblick auf sein Sein betrachten, also fragen, was denn und wie und warum "Allgemeinheit" überhaupt ist und zum Sein gehört; d. h. sie muß das Allgemeine verstehen und nicht bloß seinen korrekten Gebrauch erlernen. Von neuem also: Was heißt, das Seiende im Hinblick auf sein Sein bemerken, d.h. denken? Das Sein ist das Allgemeinste und zugleich Eigenste des Seienden. Es ist an ihm selbst, apriori vernehmlich. Das Sein als Sein vernehmen und bemerken ist Denken, d. h. zugleich Verstehen des Seienden in seinem Sein und dieses Seins selbst (des "Sinns von Sein"), ein Verstehen im Denken oder ein Bei sich selbst Verstehen ("subjektiv"). Was aber gibt es da zu verstehen oder zu durchdenken? Etwas in seinem Sein verstehen bedeutet: verstehen, was zum Seienden dazu gehört, damit es überhaupt ist. In Kants Sprache bedeutet dies, die Bedingungen der Möglichkeit eines Gegenstandes überhaupt erkennen. Daher Kant die transzendentale von der formalen Logik dadurch unterscheidet, daß die erstere auf den Gegenstand überhaupt restringiert sei, während die letztere sich über alle Gegenstände ohne Unterschied erstrecke. Aber nur weil transzendentale Logik auf den Gegenstand überhaupt restringiert ist, kann sie in der Folge sachhaltige Aussagen apriori über Gegenstände der Erfahrung begründen (Grundsätze der reinen Vernunft). Kants Rede von den Bedingungen der Möglichkeit eines Gegenstandes überhaupt deutet darauf hin, daß zum Sein des Seienden auch Möglichkeit gehöre, zur Möglichkeit aber Notwendigkeit (der Bedingung). Dies sind schon ontologische Kategorien. Transzendentale Logik ist die Wissenschaft von den Kategorien, die zum Sein des Seienden dazugehören. Denken ist demnach das Bemerken der Möglichkeit im Sein und dessen, was notwendig zu ihr gehört. Phänomenologische Eidetik variiert daher die Sache, betrachtet sie im Hinblick auf die Möglichkeit in dem, was dazugehört, daß solch Seiendes überhaupt sei. Nach Heidegger (Sein und Zeit, § 1) hat Aristoteles mit dem Gedanken der Analogie zuerst die "ontologische Differenz" als das Eigentümliche des 2*

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Seins gesagt. Damit ist nicht bloß gemeint der Unterschied zwischen Sein und Seiendem (kein Seiendes ohne Sein und kein Sein ohne Seiendes). Dieser Unterschied findet auch statt zwischen Sosein und Soseiendem, also bei allen möglichen Prädikaten (z. B. unterscheidet man das Leben vom Lebendigen usw.). Ontologische Differenz zeichnet vielmehr das Sein vor allem anderen Prädikat aus; sie ist der Unterschied von Sein und Seiendem derart, daß er zugleich Unterschied von Sein und Sosein ist, also Inkommensurabilität des Seins mit jeglichem anderen "Prädikat". D.h. Heideggers Begriff der ontologischen Differenz schließt in einer gewissen Hinsicht ein Kants Interpretation des Seins als Nicht-Prädikat (Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises, s. u.). Dieser Unterschied zwischen Sein und Sosein liegt etwa darin, daß "Sein" kein allgemeinstes, also abstrahiertes Prädikat ist, sondern analogisch je und je dem Seienden als das Eigenste angehört (d.h. eigentlich gerade nicht bloß "angehört", insofern es ja das Sein selbst des je Seienden ist). Im Bereich der ontologischen Differenz waltet nun nach Platons im Sophist entwickelten und von Aristoteles in Met. r aufgenommenen Gedanken der Widerspruch. Sein, d.i. das "seiend" oder das "ist", ra ov, ist überhaupt nur als Sein von Seiendem, insofern dies Seiende (ra ov) mit seinem "ist" nicht-identisch ist. Seiendes ist, insofern es nicht das "ist" ist. Oder Seiendes ist als Seiendes (ov y ov), insofern es das nicht ist, inwiefern es ist. Jedes Seiende ist daher auch das Nichtseiende (ra flTJ ov). Bzw. Seiendes ist immer unterschieden (von seinem "ist" und folglich auch von dem anderen Seienden). Wie kann aber Seiendes zugleich Nicht-Seiendes sein? Nach Platon nur so, daß es an dem Sein und am Nichtsein "teilhat", d.h. also nicht geradewegs das eine oder das andere ist. Die Teilhabe (Mithabe, fle(}e;l~) löst also den Widerspruch des Seins (die ontologische Differenz) auf; aber eigentlich ist fleoe;l~ nur ein anderer Titel für das nämliche Problem und behält als Titel einer Frage ganz andere Virulenz als die "participatio" späterer Philosophie, die nur noch als Lösung einer nun schon nicht mehr deutlichen Frage auftritt. Das, woran fle(}e;l~ stattfindet, ist das XOlVOV; Hegel nennt es später mit der Tradition, aber in einem neuen Sinne das "Allgemeine". "In der Philosophie ist der Gedanke, das Allgemeine der Inhalt, der alles Sein ist", schreibt Hegel in der Geschichte der Philosophie (Moldenhauer, I, 115). Dieser Satz ist nicht so verwaschen, wie er heute klingt. Er sagt: das Denken ist dasselbe wie das Allgemeine. Denken und Allgemeines sind der Inhalt der Philosophie. Dieser Inhalt ist "alles Sein", d.h. aber das Sein als das Sein, zu dem auch gehört, daß es "Alles" sei, das Sein im Ganzen. Das Allgemeine ist aber (nach Platon), wie der Widerspruch des Seins dennoch sein kann, und zugleich offenbar das Element des Denkens. Also der Widerspruch des Seins (die ontologische Differenz) erteilt mit dem Allge-

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meinen auch das Denken. Denken ist somit das eigene Geschehen der ontologischen Differenz (= des Widerspruchs des Seins). Menschliches Sein ("Dasein") wäre demnach als Sein in der ontologischen Differenz (d.i. im "Zwischen" von Sein und Seiendem) zuallererst Denken, d.h. aber Denken des "Allgemeinen" (nämlich dessen, was Hegel so nennt). Nach Platon ist also der Widerspruch des Seins die Allgemeinheit, das Element des Denkens als Denken. Nach Aristoteles aber ist Prinzip des Denkens, daß der Widerspruch vermieden werde (was schon beinhaltet, wie Fichte bemerkt, daß er gedacht werde). Um aber den Widerspruch zu vermeiden, muß gedacht werden ovvaf.u~, ein Sein, das doch nicht-ist, aber sein kann. Daß es überhaupt ein Sein gebe, muß Seiendes sein; und dieses muß anders sein als das "seiend" selbst. Also muß es auch anders sein als anderes Seiendes. Also jedes Seiende ist nur, insofern es nicht das "seiend" ist. Aber nur insofern es nicht das "seiend" ist, ist es (d.i. nur als das Nicht-"seiend" ist es das "seiend"). Das widerspricht sich offenbar. Dieser Widerspruch ist die ontologische Differenz. Aristoteles "löst" das Problem durch den Begriff der OVVaf.-ll~: Das Seiende ist, insofern es ist, die Möglichkeit, solches und anderes zu sein oder zu werden. Also gibt es ohne "Möglichkeit" (d.h. OVVaf.-ll~) kein Werden, kein Sein von Seiendem. Diese reine Möglichkeit aber, das Seiende, das nichts anderes ist als das "seiend", insofern dieses mit sich selbst nicht-identisch ist, also seiner Struktur nach anders ist als es selbst und anders als anderes, ist VA'YJ. 'YA'YJ ist Sein als reines Seinkönnen. In diesem "Können" (= OVVaf.-ll~) liegt aber der Widerspruch des Seins und die ontologische Differenz. Dabei zeigt sich, daß der Unterschied von Sein und Seiendem nicht zusammenfällt mit dem von VA'YJ und f.-l0eifJiJ (bzw. eloo~), sondern quer dazu liegt. Insofern aber mit VA'YJ auch eloo~ gedacht werden muß, so ist nunmehr das Denken selbst in der ontologischen Differenz situiert (Platons f.-lf(}eSl~ interpretierend). Denn f.-li()fSl~ ist wie gesehen die Art, wie das "seiend" zugleich etwas anderes als es selbst (d.i. in gewisser Hinsicht auch "nicht-seiend") ist. Aristoteles nennt die Wissenschaft vom Sein des Seienden ("Metaphysik") auch die :rcewr'YJ ifJlAoaoifJia, also erste Philosophie. Diese Bezeichnung deutet an, daß sie die anderen "Philosophien", nämlich Wissenschaften, begründet. Weshalb Descartes die Philosophie als diejenige Wissenschaft denken konnte, die, auf absolute Evidenz gegründet, alle weitere Wissenschaft fundiere (gewiß mache). Philosophie wurde daher in neuerer Zeit auch als bloße "Wissenschaftstheorie" verstanden (wo das Moment absoluter Gewißheit aufgegeben wird, aber das Moment des Begründens bestehen bleibt). Dieser Anspruch gründet sich zunächst darauf, daß, da die Philosophie mit dem Seienden bloß als Seiendem befaßt ist, also jedes Seiende umgreift, sie folglich auch für jeden Seinsbereich gültig ist, den "Einzelwissenschaften" also jeweils ihr Gebiet definiert und einräumt (vgl.

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hierzu auch Husserls Vorstellungen vom Verhältnis der Wissenschaften und ihrer Einheit, (Ideen I, besonders Kap. 1 und 11). Es ist aber ganz die Frage, ob Philosophie, d. h. Denken des Seienden im Hinblick darauf, daß es ist, nämlich dies Bei sich Verstehen überhaupt, sich als das Allgemeine zu den "Einzelwissenschaften" verhält. Wenn aber nicht, so fragt es sich, auf welche Weise hier überhaupt ein Gründen "speziellen" Wissens stattfinden kann. Die Idee einer alles Wissen umgreifenden ersten Philosophie entspringt schon aus einer bestimmten Interpretation des Seins, d.h. sie entspringt bestimmten Entscheidungen, die innerhalb der JT:(!orc1]