Die Finanzen des Großherzogtums Hessen: Eine staatswirtschaftliche Sylvesterbetrachtung [Reprint 2020 ed.] 9783112334904, 9783112334898

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Die Finanzen des Großherzogtums Hessen: Eine staatswirtschaftliche Sylvesterbetrachtung [Reprint 2020 ed.]
 9783112334904, 9783112334898

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Die Finanzen des

Grotzherzogtums Hessen. Eine staatswirtschaftliche Sylvesterbetrachtnng von Professor Dr. M. Birrmer-Gießen.

M Gießen I. Ricke r'sche Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmnnn)

1903.

Vorrede. Die vorliegenden Aufsätze waren ursprünglich nur als simple Zeitungsartikel gedacht. Der erste derselben ist auch bereits in einem Gießener Blatte erschienen. Aus verschiedenen Gründen wurde dann der Abdruck des zweiten Artikels, den die Redaktion tagelang unbenutzt liegen ließ, verschleppt. Ich zog deswegen das Manuskript zurück und gab nun sämtliche Ar­ tikel an das andere Gießener Blatt, den „Gießener Anzeiger", dessen Verlag und Redaktion mich gerade um diese Zeit zum dritten Male dringend gebeten hatten, ihnen wieder gelegent­ liche Aufsätze aus meiner Feder zuzuwenden. Ich hatte mich nämlich aus guten Gründen seit längerer Zeit vom „Gießener Anzeiger" vollständig zurückgezogen. Ich ließ mich jetzt er­ weichen und war gutmütig genug, gewisse Vorgänge, die mich veranlaßt hatten, den „Gießener Anzeiger" ganz links liegen zu lassen, jetzt, nachdem ein Wechsel in der Redaktion ein­ getreten war, vergessen zu machen. Zu meiner großen Über­

raschung ließ mir der Verleger des „Gießener Anzeigers" nach zwei Tagen durch seinen politischen Redakteur mitteilen, daß er die Artikel in seinem Blatte doch nicht aufnehmen könne; denn die Artikel kritisierten die hessische Finanzwirtschaft der letzten Jahre, und eine solche Kritik könne dem Blatte, das amtliches Organ des Großherzoglichen Kreisamtes sei, schaden. Ich bemerke hierzu, daß natürlich meine Artikel nicht anonym erscheinen sollten, sondern mit meinem vollen Namen unter­ zeichnet waren und, wie alle Zeitungsartikel, die ich bisher ge­ schrieben habe, unter grundsätzlichem Verzicht auf jedes Honorar. Obgleich also der „Gießener Anzeiger" gar nicht die Verant-

4 wortung zu tragen gehabt hätte, machte er mir aus einer ge­ radezu kindlichen Angst vor der Staatsregierung unüber­ windliche Schwierigkeiten, nrich in sachlicher Weise über die Finanzzustände des Großherzogtums in seinen Spalten zu äußern. Dasselbe Blatt, das noch kürzlich einen Aufruf von antisemitischer Seite, in dem mit einein neuen Bauernkrieg der oberhessischen Bauernbündler gegen Land und Reich gedroht wurde, zum Abdruck gebracht hatte, weigert sich also, dem Professor der Staatswissenschaften an der Landesuniversität Gelegenheit zu geben, den Staatsvvranschlag wissenschaftlich zu beleuchten. Diese Vorgänge sind ungemein charakteristisch, denn sie be­ weisen, auf welchem eigenartigen Niveau der Geschäftsjournalis­ mus Gießens steht. Wir haben es in Gießen mit unseren Preß­ verhältnissen also wirklich soweit gebracht, daß man Original­ artikel von allgemeinem Interesse, die nach der einen oder nach der anderen Richtung hin vielleicht unbequem werden könnten, nicht unterbringen kann. Man kann solche trostlose Zustände bedauern, aber der Einzelne kann sie nicht ändern. Da ich aber an der Ansicht festhalte, daß dasjenige, was ich in den Aufsätzen sage, nicht nur richtig, sondern auch recht zeitgemäß ist, so veröffentliche ich nunmehr meine Artikel in Vroschllrenform und hoffe, daß sie zur Orientierung für die demnächst zu erwartenden Kammer­ verhandlungen beitragen werden. Gießen, Ende Dezember 1902. Bier m e r.

I.

91 ([gemeine Betrachtin: ge n. Gegenwärtig nehmen die Finanzverhältuisse der deutschen Bundesstaaten und des Reichs die 9lusmerksamkeit der Politiker und Nationalökonomen wieder in erhöhtem Maße in Anspruch. Sie haben sich in zum Teil recht unerfreulicher Weise gestaltet und werden, damit einigermaßen die Staatsausgaben und -Einnahmen mit einander in Einklang gebracht werden können, den Finanzministern nnb den Parlamenten recht schwere und verantwortungsvolle 9lufgaben stellen. Man wird wohl oder übel nach einer Periode des glänzenden Aufschwunges, in der sich die Staatstätigkeit ungemein erweitert und modernisiert hat, wieder zurückkehren müssen zu dem früheren Systeme einer weisen Sparsamkeit im Großen wie im Kleinen. Es wird also ein gewisser Stillstand eintreten, in Folge dessen die Lösung mancher Staatsaufgaben, die zwar dringlich sind, aber nicht erst heute als dringlich erkannt worden sind, auf spätere, bessere Zeiten verschoben werden muß. Der kostspielige Ehrgeiz ge­ wisser Landesregierungen, möglichst zuerst neue staatspolitische Ausgaben in Angriff zu nehmen und allen möglichen Wohl­ fahrtszwecken eine finanzielle Staatshilfe zu gewährleisten, mußte sich über kurz oder lang rächen. Es ist gewiß ein Vergnügen, in einem Staate zu leben, der mutig und weit­ herzig alle Forderungen, die den kulturellen und wirtschaft­ lichen Fortschritt versprechen, zu befriedigen sucht. Eine solche Staatspolitik pflegt sich des Beifalls aller Wohlgesinnten zu erfreuen, aber schließlich kann eine Reaktion nicht ausbleiben, sobald nämlich die finanziellen Konsequenzen erst klar zu Tage

6 treten. Für einen leitenden Staatsmann ist es eine schöne nnd dankbare Aufgabe, wenn er eine offene Hand hat und sich damit populär macht. Diese leicht errungene Popularität hat aber ihre großen Schattenseiten. Die Noblesse der Re­ gierung steckt das Parlament an, und zum Schluß legt man sich in der Ausgabefreudigkeit keinerlei Zwang mehr an. Nach dem Grundsätze, daß eine Hand die andere ryäscht, kommen Kompromisse zustande, die einen stark metallischen Beigeschmack haben. Gewöhnlich zu spät sieht man ein, daß man doch etwas zu üppig gewesen ist, und dann bricht eine Periode an, wo man auch den Mut haben muß, sich unpopulär zu machen; unpopulär wenigstens bei derjenigen großen Gruppe von Staatsbürgern, die von Etatsverhältnissen keine Ahnung haben und leichten Sinnes vom Staate Alles annehmen, dem Staat aber nichts geben wollen. Hier trifft das Wort des großen Humoristen und Menschenkenners Wilhelm Busch zu: „Aber wenn die Kosten kommen, zeigt man sich recht angstbeklommcn". Wie nur derjenige Privatmann ungestraft nobel sein darf, dessen Mittel ihm erlauben, nobel zu sein, so kann auch nur derjenige Staatsorganismus sich in den Dienst immer neuer imb kostspieliger Staatsaufgaben stellen, der die flüssigen Mittel dazu hat. Ob er in dieser Lage ist, bemißt sich in letzter Linie nach der Steuerkraft des Landes. Sie will sehr gründlich und unter keinen Umständen schematisch und mechanisch abgeschätzt imb angezapst werden; denn, wenn man auch noch lange nicht an der Grenze der Steuerprogrcssion für große und größte Ein­ kommen und Vermögen angelangt ist, so darf man doch nie übersehen, daß der finanzielle Effekt einer proportionellen Her­ anziehung der leistungsfähigsten Steuerzahler verhältnismäßig nur ein geringfügiger ist, weil es eben nur wenige Personen giebt, die zu diesen leistungsfähigsten gehören. Die große Masse der mittleren und kleineren Steuerzahler sind auch heute noch, wo wir verbesserte und sozial-gerechtere Steuersysteme haben, ausschlaggebend. Läßt man eine oder mehrere der untersten Steuerklassen, die bisher steuerpflichtig waren, frei,

7 so tritt, wie das so oft schon festgestellt worden ist, sofort ein überraschender Einnahmeausfall ein, und dieser Ausfall kann nie und nimmermehr durch eine noch so große Progression in den oberen Stufen gedeckt werden. Gewiß können die letzterem: mehr Steuern bezahlen, als sie es bisher tun, ohne daß ihre Konsumtionsfähigkeit leidet, aber bei den produktiven Ständen an der Spitze großer Unternehmungen in Industrie und Handel wird ein großer Teil des ersparten Reingewinns nicht zur Bildung von toten: mobilen Kapital, sondern zur Vergrößerung des produktiven Kapitals verwendet. Die Steuerpflicht darf nicht so weit gehen, daß sie diesen Prozeß verhindert; denn von ihm hängt in letzter Linie die Beschäftigung und die Er­ nährung der rapid anwachsenden Bevölkerung ab. Soll das deutsche Wirtschaftsleben aus den großen Märkten des In- und Auslands leistungs- und konkurrenzfähig bleiben, so ist eine Vermehrung des produktiven Kapitals unentbehrlich, in sozial­ politischer Hinsicht sogar direkt unerläßlich. Es wird zwar durch diese erhöhte Kapitalinvestation der Groß- und Größer­ betrieb erleichtert und befördert, aber von ihm hängt gleichzeitig die Verbilligung der Produktion und damit die Vermehrung der Kaufkraft der kleinen Einkommen ab. Nur die großen Unternehmungen, denen die Zukunft nun einmal gehört, können mit den sozialpolitischen Forderungen der heutigen Zeit Schritt halten, können ein höheres Lohnniveau zugestehen. Sind in einem großen und selbständigen Wirtschaftsge­ biete die Steuergrundsätze und Steuersätze die gleichen, so sind nationale Kapitalwanderungen mit Rücksicht auf die Steuer­ verhältnisse ausgeschlossen; nur internationale sind möglich, ihnen sind aber manche und widerstandsfähige Grenzen ge­ zogen. Zerfällt aber das natürliche Wirtschaftsgebiet einer großen Kulturnation in zahlreiche Staatsterritorien mit einer selbständigen Steuerautonomie und Steuerpolitik, so kann der einzelne Staat, wenn er keine Vogel-Strauß-Politik treiben will, in der Steuererhebung nicht machen, was er will; denn mit einer partikularistischen rigorosen Steuerpolitik schafft er eine Prämie

8 für Kapitalauswanderungen und einen Prohibitivzoll gegen Kapitaleinwanderungen. Wir beobachten das schon im Kleinen bei Nachbarkommunen, wo mäßige Steuerquoten zur Kapitalinvestation reizen, eine Steuerteuerung dagegen das mobile und produktive Kapital aus dem Gemeiuderevier verdrängt. Solche Wechselbeziehungen sind besonders bei eng benachbarten Gemeinden mit ähnlichen Produktionsbedingungen, aber stark differenter Steuerlast, zu konstatieren. Ausschlaggebend wird hier in der Regel die Kommunalbesteuerung sein. Aber auch bei den deutschen Bundesstaaten kann man solche Wechselbeziehungen beobachten. Der kleine Bundes­ staat ist hier in einer schlimmeren Lage als der große, der geographisch mitten in fremdes Gebiet eingeschlossene Staat ist ungünstiger daran, als derjenige, der ein größeres, zusammen­ hängendes Staatsgebiet geographisch umfaßt und eine wenig gezackte, regelmäßige Landesgrenze und einen ausgesprochenen exklusiven Nationalcharakter der Bevölkerung aufweist. In Staaten, die eine Gemengelage, eine zersplitterte Grenze haben und stammesverwandt mit den Nachbargebieten sind, verwischt sich der partikularistische Nationalcharakter, vermehrt sich also die Freizügigkeit. Sind auch die Produktionsbediugungen mit dem augrenzendeu Nachbarlande dieselben, die Verkehrsverhält­ nisse entwickelte und bei beiden die Geldmärkte und die Bank­ organisation dieselben, so wird die wirtschaftspolitische und steuerpolitische Selbständigkeit des Einzelstaates herabgedrückt, die Unterschiede zwischen den Nachbarstaaten werden nivelliert und gleichzeitig das Kapital beweglicher gemacht. Bei einer solchen geographischen und politischen Lage eines kleineren deutschen Bundesstaats muß sich die Steuergesetzgebung an die Vorbilder der größeren und einflußreicheren Nachbarländer halten. Erhebliche Verschiedenheiten der Steuerlast, die, was die Staatssteuern anbetrifft, sofort ins Auge fallen, können, wenn sie von Dauer sind, Verschiebungen mit sich bringen, die dem natürlichen Wachstum der Steuerkraft Abbruch tun. Wir denken hier nicht an die Fälle, die dem großen Publikum

9 in erster Linie vorschweben, nämlich an den Zuzug oder an den Weggang reicher Rentner, die ihre Domizilwahl unter Anderem auch von den Stcuervcrhültnissen abhängig machen. In der Regel wird hier nur die Höhe der Kommunalbesteuerung, die ja in den einzelnen Städten außerordentlich verschieden ist, in Frage kommen. Ob sie wirklich ausschlaggebend sein wird, wenn es sich um reiche Rentner und zahlungsfähige Pensionäre handelt, wollen wir dahingestellt sein lassen. Wegen ein paar Hundert Mark Steucrleistung mehr oder weniger wechselt ein Millionär sein Domizil gewiß nicht. Solche Rentner und Pensionäre der höheren Beamten- und Offiziersklassen bevor­ zugen, wie die Erfahrung lehrt, schön gelegene Residenzstädte, wo es ein Hvftheater und gute Musik gibt, komfortable Bade­ orte, Universitätsstädte und Kunststädte, in denen es geistige Anregung und Abwechslung mancherlei Art gibt; sie vermeiden aber ausgesprochene Fabrikstädte und vom Verkehr abgelegene kleine Plätze, weil sie reizlos und langweilig sind. Um ein behagliches und abwechselungsreiches Leben zu führen, wollen diese Rentner nnd Pensionäre mit ihresgleichen zusammentreffcn, sie wollen gesellschaftlich honoriert werden, ohne durch allzuviel gesellschaftliche Pflichten und Ausgaben in ihrer Bewegungsfreiheit gehindert zu fein. Wenn gleichzeitig die Steuerlast keine zu überspannte ist, so wird das gern mit in Kauf genommen. Die Kommunalstcueru sind aber vielfach in solchen Rentner- und Pensionärstädten deswegen nicht besonders hoch, weil sich dort viele wohlhabende und stcuerkräftige Familien der gebildeten Klassen zusammenfinden. Wenn Wiesbaden z. B. ein Pensionopolis ersten Ranges geworden ist, so beruht seine Anziehungskraft nicht auf der niedrigen Kommunalbe­ steuerung, sondern die Kommunalbesteuerung ist niedrig, weil so viele vermögende Personen dorthin ziehen. Diesen Charakter haben Wiesbaden und andere ähnliche Plätze traditionell be­ kommen, und auch die Mode spricht hier stark mit. Neuerdings machen auch Vereine zur Hebung des Fremdenverkehrs eine erfolgreiche Reklame für ihre Kommunen, wie man das zum

10 Beispiel bei den Universitätsstädten Göttingen und Marburg beobachten kann. Viel wichtiger als die Steuerverhältnisse ist ein gewisser Komfort des Lebens mit günstigen Wohnungs­ verhältnissen und nicht zu hohen Preisen für die gewöhnlichen Konsumtionsartikel für den gebildeten Mittelstand. Wenn wir vorhin von dem Einfluß der Besteuerung auf den geringeren oder größeren Zuzug von Kapitalisten sprachen, so denken wir also nicht zunächst an Rentner und Pensionäre, sondern an geschäftlich tätige Kapitalisten, die bei der Wahl ihres Firmasitzes kaufmännisch zu kalkulieren pflegen. Diese Fälle sind in der Tat für die Steuerkraft eines Landes besonders wichtig. In erster Linie kommen großindustrielle Etablissements in Frage, wenn sie neu gegründet werden, oder bestehende durch Filialen oder sonstwie erweitert werden sollen. Aber auch bestehende Etablissements können heutzutage ohne allzu große Schwierigkeiten verlegt werden, und das geschieht dorthin, wo niedrige Produktionskosten den Produktionsprozeß erleichtern. Wenn man die Bilanzen unserer großen Aktiengesellschaften studiert, so ist man überrascht, wie erhebliche Kosten für Staats- und Kommunalsteuern dort in Ansatz ge­ bracht werden müssen. Hier kann eine verhältnismäßig nicht sehr große Differenz in den Steuersätzen einen recht großen Unterschied in den Produktionskosten ausmachen. Ein groß­ industrielles Unternehmen, welches mit einigen Millionen Mark Betriebskapital arbeitet, erspart an einen: Orte, wo die Staats- und Kommunalsteuern zusammen nur einige Prozent weniger ausmachen als an einem anderen Orte, Tausende von Mark pro Jahr. Hierbei ist noch nicht mitgerechnet, was die zahlreichen Angestellten und Arbeiter einer Fabrik bei niedriger Besteuerung weniger auszugeben haben. — Diese Betrachtungen werden genügen, um klarzulegen, daß eine starke Steuerungleichheit in Nachbarstaaten ökonomische Gefahren für den Kleinstaat, der die Steuerschraube zu stark anzieht, mit sich bringt. Sie dürsten aber auch beweisen, daß der vielfach gegen den hessischen Staat erhobene Vorwurf, er

11 habe das preußische (Steuersystem einfach kopiert, nicht gerecht­ fertigt ist. Hessen befand sich hier in einer ähnlichen Zwangs­ lage, wie auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens. — Die neueren Steuersysteme, soweit sie das Jahresein­ kommen im Wege der Personalbesteuerung zu erfassen suchen, haben den Vorteil, daß sie Staat und Kommune vollen und rechtzeitigen Anteil an dem Gewinne jeder günstigen Konjunk­ tur gewähren. Sie haben aber auf der anderen Seite den großen Nachteil, daß eine wirtschaftliche Depression sich sofort in erheblichen Steuerausfällen geltend macht. Es sind also in dem Wechsel von auf- und absteigender Konjunktur starke Schwankungen in den Steuereinnahmen, die durch die Be­ völkerungszunahme nur dürftig ausgeglichen werden, unver­ meidlich. In ausgesprochenen Industriestaaten und in solchen Staaten, die sich mehr und mehr zu Industrieländern aus­ wachsen, pflegt der Konjunkturenwechsel um vieles stärker zu sein, als in Agrarstaaten. In neuen, aufstrebenden Industrieländern, zu denen ja das Deutsche Reich gehört, wo also viel neues stehendes Kapital der großgewerblichen Tätigkeit zufließt und dort, unterstützt durch einen gut geölten und umfassend organi­ sierten Kreditorganismus, dauernd investiert wird, häufen sich vorübergehende oder schleichende Wirtschaftskrisen. Dazu kommt, daß, je mehr die Volkswirtschaft eines Landes in das Getriebe der Weltwirtschaft verflochten ist, so daß an Stelle der Binnenmärkte die großen Weltmärkte ausschlaggebend 'werden, desto unmittelbarer auch das wirtschaftliche Leben einer Nation von den Schwankungen dieser Riesenmärkte abhängt. Je größer aber der Markt ist, desto komplizierter sind seine Ver­ hältnisse, desto schwieriger ist der künftige Bedarf, für den produziert wird, zu übersehen. Die Orientierung nach Preis und Gewinnrate gleicht in ihren Chancen einem Würfelspiel und vermehrt das spekulative Moment im ökonomischen Ge­ triebe. Bald werden die Preise und die Gewinne durch Speku­ lationsmanöver, unüberlegte und riskante Unternehmungen übermäßig getrieben, und so entsteht auch für die Produktion,

12 die auf unrichtige Wege geleitet wird, ein falscher Maßstab. Ein Volk, das eigenwirtschaftlich organisiert ist, rechnet mit einem leicht übersehbaren Bedarf und kann für ihn die Pro­ duktion ohne Störungen und Risiko einrichten. Ein Industrie­ land dagegen hat einen großen, von tausenden von Einflüssen beherrschten, arbeitsteilig organisierten Markt vor sich, und trifft das System der Warenproduktion zusammen mit der Möglichkeit, vermöge der Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit, der Kreditorganisation und des modernen Aktienwesens große Kapital- und Arbeitermassen leicht heranzuziehen, so sind Über­ spekulationen ungemein erleichtert. Man hat, indem man gleichzeitig die kapitalistische Wirtschaftsordnung anklagte, von einer „Anarchie der Produktion" gesprochen. Das ist natürlich eine Übertreibung. Richtig ist nur, daß periodische Wirtschafts­

krisen heutzutage ganz unvermeidlich sind. Die Perioden der Hausse und Baisse wechseln mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß manche Autoren sogar eine feste Periodizität der Krisener­ scheinungen zu konstruieren versucht haben. Bei Licht betrachtet handelt es sich hier um unzulässige Verallgemeinerungen und um nationalökonomische Spielereien; denn man muß die ver­ schiedenen Arten der Krisen durchaus auseinander halten. Die Kredit- und Bankkrisen, wie überhaupt die partiellen Krisen, haben ganz andere Ursachen, wie die allgemeinen Wirtschafts­ krisen und gewöhnlich auch einen anderen Verlauf. Die all­ gemeinen Wirtschaftskrisen, die für unser Thema allein in Frage kommen, sind in der heutigen Periode der Weltwirt­ schaft die maßgebenden Erscheinungen. Sie kehren in der Tat, freilich in unregelmäßigen Zwischenräumen, immer wieder und werden das auch in absehbarer Zeit tun. Verschärft, nicht gemildert, wie so oft behauptet wird, wird die Krisengefahr durch den zunehmenden Protektionismus der Welthandelsstaaten. Man bezeichnet die Baisse gewöhnlich mit dem Schlag­ wort „Überproduktion". Das will besagen, daß ein Mißverhält­ nis zwischen Produktion und Konsumtion und ein Mißverhält-

13 nis zwischen produktiv angelegtem Kapital und gewinnbringender Beschäftigung desselben besteht. Das Wort „Überproduktion"

ist, näher betrachtet, nicht viel mehr als ein Begriff, ein Name. Woher kommt denn dieses so oft sich geltend machende Miß­ verhältnis? Das ist die Frage, die zu untersuchen wäre. Die Überproduktton ist nur die Folge einer tiefer liegenden Ursache, nämlich der großen und rasch aufeinander folgenden Produk­ tionserleichterungen in einem Zeitalter enormer technischer Fortschritte und Verbesserungen, Verminderung aller Trans­ port- und Handelskosten und Mobilisierung des Kapitals. Reichlich vorhandenes Kapital und friedliche Zeiten erleichtern diese Produktionsvermehrung, und die Konsumtion kann der­ selben um so weniger folgen, je verbreiteter die Produkttonsfortschritte sind. Es würde ein tiefes Eingehen in die Ge­ schichte der modernen gewerblichen Technik erfordern, wenn im Einzelnen gezeigt werden sollte, welche fortgesetzten Umwälzungen in der stoffveredelnden Industrie und in dem Kommunikations­ wesen den ruhigen Gang der Gütererzeugung stören. Es ist des ferneren der Einfluß in Betracht zu ziehen, welchen die sinkenden Preise vieler und wichtiger Waren auf die Speku­ lation und Unternehmungslust ausüben. Im allgemeinen regt steigende Preisbewegung die Lust zur Kapitalanlage in neuen gewerblichen Unternehmungen an, ebenso wie die sin­ kende diese lähmt. Die Verwandlung beweglichen Kapitals in fixiertes in Bauten und Anlagen aber ist identtsch mit einer Nachfrage nach Arbeitsleistungen und Rohstoffen, die direkt oder indirekt eine die Preise steigernde Wirkung ausübt. Wenn daher in letzter Zeit große Erleichterungen in den Pro­ dukttonsbedingungen einen Druck auf viele Preise ausübten, so mußte diese sinkende Preisbewegung mangels gleichzeittger Unternehmungslust weit über den Wirkungskreis der ursprüng­ lichen Ursache hinausgettieben werden, und es spricht nicht gegen die allgemeine Erklärung der vorherrschenden Preisbewegung und unveränderten Produktionsverhältnisse, wenn nicht jede einzelne Preisminderung sich vollständig aus diesen erklären läßt.

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Freilich wirkten die zollpolitischen Maßregeln, welche viele und große Kulturstaaten in Bezug auf den internationalen Warenverkehr in den letzten beiden Jahrzehnten ergriffen haben, der allgemeinen Tendenz zur Verminderung der Warenpreise im zollgeschützten Jnlande kräftig entgegen. Auf dem durch die Zölle nicht verteuerten Weltmarkt aber mußte dagegen diese Schutzpolitik gerade umgekehrt die Preise mancher wichtiger Handelsartikel drücken. Schutzzölle wirken nicht selten wie Exportprämien, indem sie das Exportgewerbe befähigen, sich für niedrigere Preise im Ausland schadlos zu halten. Auch in diesem Falle können die Produzenten ihre Produkte unter dem Kostenpreis auf den Weltmarkt liefern, weil sie einen Teil der Kosten der expor­ tierten Waren auf den Preis der im Inland abgesetzten schlagen können. Dies trifft besonders bei unseren mächtigen Großindustrien zu, welche bestrebt sind, das große fixierte Kapital dauernd zu beschäftigen und an den Generalkosten zu sparen. Die Schutzzölle sind nun einmal erfahrungsgemäß ein mächtiges Reizmittel zur Ausdehnung der Produktion und der durch Zölle besonders begünstigten Produktionszweige; unter Verzicht auf das frühere Maß des Gewinnes und mit An­ spannung aller Kräfte zur möglichsten Kostenersparung sucht man zwar billiger, aber auch mehr zu produzieren und dadurch sich einen möglichst ungeschmälerten Absatz zu erhalten. Die Gesamtproduktion erfuhr daher indirekt durch die Schutzzölle eine wesentliche Steigerung, die Weltmärkte wurden überfüllt, und schließlich erlebten die Produkte einen schweren Preisfall. In der letzten Aufschwungsperiode, die etwa 1895 ein­ setzte, wurden nicht nur zahlreiche Anlagen großgewerblicher Art mit enormer Produkfionskraft neu errichtet, sondern auch die alten wurden leistungsfähiger gemacht, erneuert und er­ weitert. Diese Vergrößerung unseres gesamten Produktions­ apparats gab Arbeit in Hülle und Fülle. Es stieg der Konsum der großen Masse, namentlich der Arbeiterbevölkerung, die

15 Löhne bewegten sich nach oben und standen im Verhältnis zu den Warenpreisen recht günstig. Die Ursache dieses günstigen Verhältnisses wurde aber in ihrer Tragweite weder von dem industriellen Kapital und dem Unternehmertum, noch von den Geldmärkten erkannt. Man war sich nicht bewußt, daß ein großer Teil der lebhaften Beschäftigung, eine starke Zuwachs­ rate in der Steigerung des Verbrauchs einzig und allein aus der Tatsache der Produktionserweiterung resultierte, nach deren Abschluß die Quelle für neue Beschäftigung und ungehinderten Absatz versiegen mußte. Wie in jeder Aufschwungsperiode rechnete man mit der Verbrauchszunahme auf dem Waren­ märkte wie mit einer konstanten Größe, die eher einer Steige­ rung als einer Minderung fähig sei. Und in dieser Auffassung erblickte man eine Aufforderung, die Gründungstätigkeit trotz warnender Anzeichen ruhig fortzusetzen, man schloß lang­ sichtige Verträge ab, um sich der Warenmengen, die man in guten Zeiten verwertet hatte, auch für die Zukunft zu sichern. Der Kredit kam allen Ansprüchen in so weitgehendem Maße entgegen, daß man in eine ernste Prüfung der Gründungs­ projekte vielfach überhaupt nicht mehr eintrat. Ganz besonders trat diese ungesunde Spannung in denjenigen Gewerben ein, die durch die Erneuerung der Produktionsanlagen zu allererst alimentiert worden waren: die Maschinenfabrikation, über­ haupt die Eisen verarbeitenden Gewerbe, dann die Roheisen­ produktion und ganz besonders die Elektrizitätsbranche. Letztere, die durch die Fortschritte der Technik einen ganz besonderen Impuls erhalten hatte und durch Gründungsbanken finanziell überreichlich befruchtet worden war, machte in den letzten Jahren einen förmlichen Gründungsschwindel mit mehr als zweifelhaften Fusions- und Erweiterungsmanövern durch. Die ungesunde Preissteigerung setzte bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1898 ein, erreichte aber ihre gefährlichste Wendung erst 1899. Damals machte sich zuerst eine eigen­ tümliche Schwüle der ganzen Situation geltend. Der bisher so industriefreundliche und freigebige Geldmarkt begann miß-

16 iranisch zu werden. Man traute den neuen Anlagen nicht mehr recht und beschränkte den Kredit ebenso rasch, wie man ihn noch kurz vorher in der Hausseperiode leichtsinnig erweitert und vermehrt hatte. Das mobile Kapital zog sich von dem industriellen Markte nicht nur zurück, sondern die führenden Börsenmächte setzten nunmehr die Jndustriewerte ebenso plötz­ lich und rücksichtslos herunter, wie sie sie früher in toller Jagd hinaufgetrieben hatten. Die Bankinstitute können dieser Bewegung gegenüber nur wenig machen; sie begünstigen sie insofern, als sie sich selbst bei diesem Niedergang sicherzustellen suchen und alle nicht ganz sicheren Beziehungen lösen. Damit werden zunächst jene An­ lagen und Unternehmungen, die auf der Basis der hoch­ gespannten Konjunktur gegründet waren, aber ihre Rechnung nicht finden konnten, ebenso schütz- und kreditlos, wie die alten finanzschwachen und technisch zurückgebliebenen Betriebe. Kräfttge und leistungsfähige Großunternehmungen pflegen die ge­ spannte und verlustreiche Situation verhältnismäßig leicht zu überstehen, während mittlere und kleinere, namentlich aber unsolide Unternehmungen sofort aufs Trockene gesetzt werden. Dieser Prozeß, der sich wohl in Zukunft immer deutlicher zeigen wird, ist das Wesentliche der modernen Industrie- und Handelskrisen. Die eklatanten Zusammenbrüche, die durch Verschulden einzelner Personen die Aufmerksamkeit des großen Publikums am lebhaftesten erregt haben, wie z. B. die ver­ schiedenen Katastrophen von Banken und Jndustriegesellschaften, sind nur Accidentien der Depression. Totale Zusammenbrüche

von Banken sind in der jetzigen Krisis verhältnismäßig nur wenige zu verzeichnen. Diese wenigen Fallissements hängen zwar mit der gespannten Situation zusammen und mußten dann fällig werden, wo die Kreditwucherung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Aufschwungsperioden führen überall und immer zu riskanten Unternehmungen. Es kommen zahlreiche unzu­ verlässige Manipulationen vor. Solche unsolide Gründungen pflegen mit Eklat und großer Plötzlichkeit zusammenzubrechen,

17 und regelmäßig ist das die Folge der Erlahmung eines Kre­ dits, der in guten Zeiten in seinen Objekten so wenig wähle­ risch war. Hätte die jetzige Krisis einen akuten Verlauf genommen, so wären mehr Bankbrüche und mehr Betriebseinstellungen bei uns vorgekommen. Die Krisis verläuft indessen, wie man jetzt mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, wenn man von ein­ zelnen besonderen Katastrophen absieht, schleichend, und das ist ganz besonders gefährlich. Ein solcher schleichender VerImif birgt die stete Gefahr in sich, daß man immer noch aus neue Überraschungen gefaßt sein muß. Die Möglichkeit solcher Überraschungen aber lastet Lus dem gesamten Erwerbs­

leben wie ein Alpdruck und so sehen wir fast überall eine lahme Lustlosigkeit und wenig Zeichen der Besserung. Viel­ leicht erholen sich einige Branchen in der nächsten Zeit, aber eine dauernde Besserung und eine allgemeine Konjunkturkurve nach oben darf nach Allem, was man bisher beobachten konnte, kaum für wahrscheinlich gelten. Anfänglich war man geneigt, die Situation optimistischer aufzufassen. Autoritäten ersten Ranges, wie der Reichsbank­ präsident Dr. Koch, sprachen sich schon vor Jahresfrist dahin aus, daß die Krisis wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sei, und auch die Börse neigte sich dieser rosigen Auffassung zu. Inzwischen ist das Wirtschaftsjahr 1902 fast zur Rüste ge­ gangen. Es hat die Hoffnungen auf eine baldige Besserung zunichte gemacht. Die Abschlüsse der großen und führenden Emissionshäuser waren mit wenigen Ausnahmen nicht zu­ friedenstellend, und die Dividendenschätzungen, die am Schluffe des Kalenderjahres aufgemacht zu werden pflegen, lauten auch noch ziemlich trübe. Die großen Schiffahrtsgesellschaften, deren hauptsächlichster Markt die Hamburger Börse ist und die um deswillen besonders wichtig sind, weil in ihren Ergebnissen sich der Gang der transatlantischen Exportbewegung wieder­ spiegelt, sollen nach den Taxationen einen erheblichen Rück­ gang in der Rentabilität, der bei den beiden größten Gesell2

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schäften V/g—2% betragen bürste, aufweisen. Die Eisen­ bahnen haben sich nach den letzten Monatsabschlüssen zwar etwas erholt, aber die dort konstatierte Vermehrung der Güter­ transporte muß das Minus der Einnahmen seit Jahresbeginn decken, so daß nur noch ein bescheidener Gesamtüberschuß gegen das Vorjahr bleiben dürfte. Besonders charakteristisch für den Verlauf der Depression ist die Lage der deutschen Textilindustrie. Es ist das diejenige Industrie, die bereits vor dem Eintritt der Krisis notleidend geworden war. Man nahm deswegen an und wurde darin durch einige Abschlüsse des Vorjahres unterstützt, daß sie sich bereits wieder etwas erhole. Diese Erwartung hat sich nur in bescheidenem Maße und nur für bestimmte Zweige erfüllt. Die Seidenindustrie, die Juteindustrie und auch die Kamm­ garnspinnerei und Wollkämmerei hatten eine verhältnismäßig zufriedenstellende und lohnende Beschäftigung. Bei der Woll­ weberei muß man zwischen denjenigen Unternehmungen, die für den Export arbeiten, und denjenigen, die den inländischen Markt, namentlich den der Damenkonfektion, versorgen, unter­ scheiden. Letztere zeigen einen gewissen Aufschwung, erstere haben keine Veranlassung, mit den erzielten Ergebnissen zu­ frieden zu sein. Der Druck, der auf der großen und mächtigen Baum­ wollindustrie und der Leinenindustrie seit Jahren ruht, ist auch im Jahre 1902 nicht gewichen, und fast in der ganzen Textil­ industrie sind die früher notwendig gewordenen Betriebsein­ schränkungen in Kraft geblieben. Auch lastete die ungewisse und arg zerfahrene handelspolitische Lage der Gegenwart auf unserer so mächtig entwickelten Textilindustrie, die im deutschen Außenhandel den ersten Platz einnimmt, eine Million Arbeiter beschäftigt, und deren Produktenwert jährlich 28/4 Milliarden Mark beträgt. Es würde zu weit führen, das ganze deutsche Wirtschafts­ jahr 1902 im Einzelnen illustrieren zu wollen. So viel ist jedenfalls sicher, daß die Stagnation, die schon das Vorjahr

19 auszeichnete, bestehen geblieben ist, und die Annahme an Wahr­ scheinlichkeit gewinnt, daß auch die jetzige Krisis, mit der das neue Jahrhundert begonnen hat, einen schleichenden Charakter hat, also sich von den früheren Krisen in den drei Jahrzehnten vorher, 1873—1879, 1883—1889, 1890—1895 in der Dauer nur wenig unterscheiden wird. — Ist diese Annahme wirklich richtig, so werden unsere Staatsfinanzen schweren Zeiten entgegen gehen. Sie werden mit einem Rückgang und einer Verschlechterung der Erwerbs­ verhältnisse großer und ausschlaggebender Klassen der Steuer­ pflichtigen zu rechnen haben, und unsere Finanzminister werden in den neuen Voranschlägen der Haushaltsgesetze mit Rücksicht auf den Druck, der auf dem gesamten Wirtschaftsleben lastet, dieser Tatsache besonders vorsichtig Rechnung tragen müssen. Da und dort spricht man bereits von Steuererhöhungen und neuen Steuern, um die unvermeidlichen Staatsdefizite auszu­ gleichen. Selbst das reiche Hamburg, dessen Staatsbudget in den letzten drei Jahren mit erheblichen Fehlbeträgen abschloß und das für 1903 bei einer Ausgabe von 103 Millionen ein Defizit von über 6 Millionen vorsieht, schlägt eine Erhöhung der Einkommen- und Erbschaftssteuer, die einen Mehrertrag von 4 Millionen bringen soll, vor. Das Königreich Sachsen will durch eine Eisenbahn-Personentarifreform, die l1/» Millio­ nen bringen soll, seinen Staatshaushalt besser dotieren. Auch Preußen soll ein Defizit haben, und der kürzlich zur Ausgabe gelangte Hauptvoranschlag des hessischen Staatsbudgets für das Etatsjahr 1903/04 sieht einen Fehlbetrag von nicht weniger als 2 Millionen vor. Am schlimmsten sieht es im Reiche aus, das/immer mehr und in ganz unhaltbarer Weise sich auf die bundesstaatlichen Apanagen angewiesen sieht. Nach dem soeben auszugsweise^veröffentlichten Entwurf des Reichshaushaltsetats für 1903 wird angenommen, daß die Zölle 11 Millionen, die Zuckersteuer 161/« Millionen, die Branntweinverbrauchsabgabe 2 Millionen, die Vrausteuer s/4 Millionen, die Reichseisenbahnen 1,9 Milli2*

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onen und die Stempelabgaben l1/» Million weniger als im Vorjahre bringen werden. Während die Zuschüsse der Bundes­ staaten in den 29 Jahren von 1872—1900 nur 73 Millionen Mark betrugen, also etwas mehr als 1 Mark auf den Kopf der Bevölkerung, verschob sich bereits im Jahre 1901 dieses Verhältnis von Reich und Bundesstaaten in sehr bedenklicher Weise. Der Ausfall an Überweisungssteuern betrug 1901 bereits 15 Millionen Mark. Die ungedeckten Matrikularbeiträge nach dem Etat von 1902 erhöhten sich auf fast 241/2 Millionen Mark, außerdem mußte eine Zuschußanleihe von 35 Millionen Mark ausgenommen werden, und nach dem Ab­ schlüsse für das laufende Jahr ist zu befürchten, daß die unge­ deckten Matrikularbeiträge sich um weitere 7 */2 Millionen Mark erhöhen. Wenn also nicht baldigst für neue Reichseinnahmen gesorgt werden wird, so wird eine geradezu unerträgliche Über­

lastung der Bundesstaaten die unausbleibliche Folge sein. Wir werden in den weiteren Aufsätzen die Lage der hes­ sischen Finanzen der Gegenwart näher zu betrachten haben. Der nächste Aufsatz behandelt zunächst die Staatsschuld und das Staatsvermögen.

II. Die Staatsschuld und das Staatsvermögen.

Im großen Publikum herrscht besonders darüber Zweifel, ob der hessische Staat ein besonders stark verschuldeter sei oder nicht. Früher gelegentlich aufgemachte statistische Vergleiche über die Schuldenlast der deutschen Bundesstaaten haben den Überblick eher erschwert als erleichtert, und wenn man die

Staatshaushaltsgesetze der wichtigsteu Bundesstaaten selbst zur

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onen und die Stempelabgaben l1/» Million weniger als im Vorjahre bringen werden. Während die Zuschüsse der Bundes­ staaten in den 29 Jahren von 1872—1900 nur 73 Millionen Mark betrugen, also etwas mehr als 1 Mark auf den Kopf der Bevölkerung, verschob sich bereits im Jahre 1901 dieses Verhältnis von Reich und Bundesstaaten in sehr bedenklicher Weise. Der Ausfall an Überweisungssteuern betrug 1901 bereits 15 Millionen Mark. Die ungedeckten Matrikularbeiträge nach dem Etat von 1902 erhöhten sich auf fast 241/2 Millionen Mark, außerdem mußte eine Zuschußanleihe von 35 Millionen Mark ausgenommen werden, und nach dem Ab­ schlüsse für das laufende Jahr ist zu befürchten, daß die unge­ deckten Matrikularbeiträge sich um weitere 7 */2 Millionen Mark erhöhen. Wenn also nicht baldigst für neue Reichseinnahmen gesorgt werden wird, so wird eine geradezu unerträgliche Über­

lastung der Bundesstaaten die unausbleibliche Folge sein. Wir werden in den weiteren Aufsätzen die Lage der hes­ sischen Finanzen der Gegenwart näher zu betrachten haben. Der nächste Aufsatz behandelt zunächst die Staatsschuld und das Staatsvermögen.

II. Die Staatsschuld und das Staatsvermögen.

Im großen Publikum herrscht besonders darüber Zweifel, ob der hessische Staat ein besonders stark verschuldeter sei oder nicht. Früher gelegentlich aufgemachte statistische Vergleiche über die Schuldenlast der deutschen Bundesstaaten haben den Überblick eher erschwert als erleichtert, und wenn man die

Staatshaushaltsgesetze der wichtigsteu Bundesstaaten selbst zur

21 Hand nimmt, so wird man zuverlässige Vergleichsziffern um so weniger herausrechnen können, weil die Budgetgrundsätze, die in den einzelnen Staaten üblich sind, außerordentlich variieren. Eine solche Verschiedenheit der Etatsberechnung erschwert jeden Vergleich ganz ungemein. Neuerdings hat nun das Kaiserliche Statistische Amt in Berlin eine offizielle vergleichende Finanzstatistik veröffentlicht, die etwas mehr Licht in diese verwickelte Materie zu bringen geeignet ist. Leider sind die dort angeführten Zahlen, obgleich sie erst vor wenigen Monaten bekannt gegeben worden sind, schon wieder veraltet. Es mußte nämlich eine umfangreiche Enquste, die hairptsächlich irn Wege der Fragebogenversendung durchgeführt wurde, veranstaltet werden. Die Verarbeitung des zahlenreichen Urmateriäls beanspruchte erhebliche Zeit und sehr viel Arbeit, so daß die jetzt publizierten Zahlen sich in der Hauptsache auf die Abschlußrechnungen vom Jahre 1899 oder auf die Etats von 1901 beziehen. In der Zwischenzeit hat sich natürlich mancherlei verschoben, und in erster Linie hat man gerade in den letzten paar Jahren namhafte Schulden weiterhin kontrahiert. Will man indessen auf einen Vergleich der Staatsschulden der deutschen Bundesstaaten nicht ganz verzichten, so muß myn wohl oder übel diesem Teile der Finanzstatistik diejenigen Ziffern zugrunde legen, die dem Kaiserlichen Statistischen Amte zur Ver­ fügung standen. Nach diesen hatten sämtliche Bundesstaaten einschließlich von Elsaß-Lothringen eine Gesamtschuldenlast von rund 11 Milliarden, genau 10 987 056 800 Mark. Das macht pro Kopf der Bevölkerung 195 Mark. Dazu kommen noch die Schulden des Reichs, die rund 2,4 Milliarden (genau 2395 650000) Mark betrugen, d. h. 43 Mark pro Kopf. An Reichs- und Landesschulden gab es 13 382 706 800 Mark, d. h. pro Kopf 238 Mark. Es kamen, wenn man die Reichsschulden, für die Bayern dank seiner Reservatrechte nur zum Teil hastet, außer Ansatz bringt, in den sechs größten deutschen Bundesstaaten folgende Staatsschuldsummen pro Kopf der Bevölkerung:

22 Mark Baden 190 192 Preußen 197 Sachsen Württemberg 228 Bayern 243 254 Hessen Wenn man von den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Lübeck, die sich für einen Vergleich um deswillen nicht eignen, weil dort Staats- und Kommunalverschuldung in einer Gesamtsumme erscheint, absieht, so ist der hessische Staat, rein mechanisch gemessen, von allen deutschen Bundesstaaten der am meisten verschuldete. Zwischen Hessen einerseits, Baden, Preußen und Sachsen anderseits ist der Unterschied annährend derselbe und recht erheblich. Württemberg steht ungefähr in der Mitte, und die Bayern nähern sich den hessischen Verhält­ nissen, haben also den Hessen nichts vorzuwerfen. Auf der anderen Seite ist Hessen doppelt so stark verschuldet wie Braun­ schweig, das freilich keine Eisenbahnschuld hat, und annähernd doppelt so stark wie Oldenburg, dessen Eisenbahnbesitz nur den vierten Teil des Wertes des hessischen ausmacht. Enorm sind die Unterschiede zwischen Hessen einerseits, den Reichslanden, Sachsen-Weimar und Mecklenburg-Strelitz anderseits. Hessen hat pro Kopf der Bevölkerung das Fünfzehnfache der Staats­ schuld von Elsaß-Lothringen und sogar das Siebzehnfache gegenüber Sachsen-Weimar und Mecklenburg-Strelitz. Aber auch hier sind die Eisenbahnverhältnisse nicht zu übersehen. Die reichsländischen Eisenbahnen, deren Anlagekapital mit 588 Millionen Mark zu Buche steht, gehören dem Reiche, nicht den Reichslanden. Sachsen-Weimar hat nur 38 Kilometer Eisenbahnen in eigenem Besitz, die etwa 1 Million wert sind, und Mecklenburg-Strelitz besitzt eigene Staatsbahnen über­ haupt nicht. Die Verzinsung der Staatsschuld bewegt sich, nachdem fast überall Konvertierungen vorgenommen worden sind, in

23 allen Bundesstaaten auf der gleichen Höhe, so daß die Aus­ gaben für Verzinsung der Kapitalschuld ungefähr entsprechen. Dagegen ist die Tilgungspraxis eine sehr verschiedene und schwankt trotz der sogenannten Tilgungsgesetze, die man ja durch die Haushaltsgesetze außer Kraft setzen kann, auch in den verschiedenen Etatsjahren. In dem Vergleichsjahre, das natürlich für sich allein nicht maßgebend sein kann, tilgte Baden 2,2%, Sachsen 1%, Preußen und Württemberg 0,6%, Hessen aber nur 0,3%. Entsprechend diesen Tilgungsquoten verschiebt sich auch der prozentuale Ausgabeposten für Staats­ schuldenzwecke pro Kopf der Bevölkerung. Hier steht Baden mit 12 Mark an der Spitze, dann folgt Hessen mit 10,7 Mark, Württemberg mit 9,8 Mark, Sachsen mit 8,5 Mark, Preußen mit 7,9 Mark und Bayern mit 7,7 Mark. Die Staatsschulden erhalten natürlich nur dann ihre richtige Beleuchtung, wenn man das Staatsvermögen dagegen hält. Leider lassen sich hierfür erschöpfende Nachweise nicht erbringen. Die Haushaltsgesetze der meisten Staaten schätzen den Wert der Domänen, Forsten, Bergwerke, Salinen und Kanäle, die in Staatsbesitz sind, gar nicht ab. Einige wenige Staaten bringen einige, aber nur dürftige Notizen nur über die Buchwerte der Bergwerke. Das wichtigste Schuldenkonto ist indessen bei fast allen größeren Staaten dasjenige für den Eisenbahnbesitz. Das in Reichs- und Staatseisenbahnen Deutsch­ lands angelegte Eisenbahnkapital beträgt rund 12 Milliarden Mark, wovon allein auf Preußen 7% Milliarden, auf Bayern 1% Milliarde kommen. Das ursprüngliche Anlagekapital des preußischen Eisenbahnbesitzes steht mit 7654 Millionen Mark zu Buch, die Eisenbahnkapitalschuld nur mit 4411 Millionen Mark. Die gesamte preußische Staatsschuld beträgt 6603 Millionen Mark, denen außer dem Eisenbahnkapital von 7654 Millionen ein Forst- und Domänenbesitz, der etwa 51 Millionen, und ein Bergwerksbesitz, der etwa 21 Millionen Reingewinn abwirst, gegenüber steht. Kapitalisiert man diese beiden letzten Zahlen, so erhält man einen Vermögensbestand

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von ungefähr 2'/2 Milliarden Mark, so daß alles in allem Preußen, rein kaufmännisch berechnet, nicht nur keine Schulden, sondern ein effektives Überschußvermögen von über 3^/, Mil­

liarden hat. Ein gewisser Unterschied der preußischen und hessischen Etatsverhältnisse liegt auf dem Gebiete der Domanialverwaltung. In beiden Ländern beziehen die Monarchen eine Civilliste als Entschädigung für den Verzicht auf die Einkünfte aus Domänen und Forsten. Die Civilliste betrug in Preußen ursprünglich^*/? Million Thaler in Gold, das ist 7 719 296 Mk. in heutigem Gelde. Später wurde sie um 71/? Millionen Mark erhöht, welche den allgemeinen Staatseinkünften ent­ nommen werden, das macht also zusammen 15219296 Mark. Der König von Preußen als Deutscher Kaiser bezieht aus Reichsmitteln keine Entschädigung, verfügt aber für Reichs­ zwecke über einen Dispositionsfond, der im Reichhaushalts­ gesetz vorgesehen ist und drei Millionen jährlich beträgt. Die Einführung der Civilliste in Preußen hat dazu geführt, daß die dem Unterhalte der landesherrlichen Familie gewidmeten Güter zu Staatsdomänen erklärt worden sind. An das Kron­ eigentum erinnert nur die tatsächlich rein formelle Beziehung der Kronfideikommißrente zu den Domänen derart, daß die Krone bevorzugter Realgläubiger der Domänen ist. Das Recht auf die Kronfideikommißrente, die ja der ursprünglichen Civilliste entspricht, geht allen anderen Rechten auf die Do­ mänen und ihren Revenüen, insbesondere den eventuellen Pfandrechten für die Staatsschulden vor. Die Revenüen dieser Domänen können also zur Verzinsung und Tilgung der Staatsschulden nur insoweit verwendet werden, als eine Summe nach Abzug der Kronfideikommißrente übrig bleibt; und von der Substanz des Domaniums muß so viel erhalten bleiben und darf nicht zur Tilgung der Staatsschulden verwendet werden, als zur Erzielung einer Jahreseinnahme in Höhe der Kronfideikommißrente erforderlich ist. Mit Rücksicht auf dieses eigenartige Rechtsverhältnis, das, wie gesagt, nur historische,

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keine faktische Bedeutung mehr beanspruchen kann, erscheint denn auch die Kronfideikommißrente im Staatshaushalte nicht als besondere Ausgabeposition, sondern wird vorab von der Einnahme aus Domänen und Forsten in Abzug gebracht. Der oben angeführte Nettoüberschuß aus staatlichem Forstund Domänenbesitz von 51 Millionen Mark jährlich enthält also die Civilliste nicht mehr, sondern dieselbe ist an dieser Stelle bereits subtrahiert. Der große Überschuß aus Forstund Domänenbesitz erklärt sich im übrigen unter anderem aus dem Zuwachs von Jmmobiliarvermögensstücken von den im Jahre 1866 neu erworbenen Landesteilen, auf die der Pfand­ nexus für die Kronfideikommißrente nicht mehr radiziert worden ist. Die Kronfideikommißgüter stehen demgemäß vollständig in Staatseigentum und liefern nur eine Pfandgarantie für die Kronfideikommißrente, das heißt die ursprüngliche Civilliste. Die späteren Erhöhungen der Civilliste („Dotationen" genannt) stehen außerhalb einer solchen dinglichen Sicherung. Neben dem Kronfideikommißgute besteht im übrigen ein Königlicher Hausfideikommiß-Güterkomplex, der dem Königlichen Hause eigentümlich, aber fideikommissarisch gebunden, zugehört. Dieses Hausfideikommiß beruht auf einer Stiftung Friedrich Wilhelms!. Den Stamm des Königlichen Hausfideikommisses bilden eine Reihe von Rittergütern, die Friedrich Wilhelm L, wie er ver­ sicherte, „mit vielem sauren Schweiß" käuflich erworben hatte, und über die er 1733 letztwillig verfügte. Später, namentlich unter Friedrich Wilhelm III. und Wilhelm I., sind zahlreiche andere Güter hinzugekommen, unter Wilhelm I. außer durch neue Erwerbungen durch Erstreitung des Eigentumsrechts an der Herrschaft Schwedt im Prozeßwege gegen den Domänen­ fiskus. Das Hausfideikommiß ist zunächst zum Vorteil des Königs, demnächst aber auch zu jenem der nachgeborenen Prinzen bestimmt, mit eventuellem Heimfall an den ersteren. Durch Friedrich Wilhelm III. ist auch das Königlich Prinzliche Familienfideikommiß für seine jüngeren Söhne gegründet

26 worden. Außer diesen Fideikommißbesitzungen und einigen Allodialgütern befindet sich gegenwärtig im Eigentum des Königlichen Hauses, und zwar des Kronprinzen, das Thron­ lehn Oels in Schlesien. — In verschiedenen Punkten anders geordnet als die preu­ ßischen analogen Verhältnisse sind die Vermögensverhältnisse des hessischen Souveräns*). In der Zeit vor der Verfassung bestand in Hessen der gleiche Dualismus des Finanzwesens, wie in den meisten anderen deutschen Staaten. Man unter­ schied also Landesgut und Kammergut und Landesschuld und Kanlmerschuld. Das Landesgut diente ausschließlich zur Deckung der Staatsbedürfnisse, und dasselbe galt von den Landes­ schulden. Das Kammergut dagegen diente zugleich für die Bedürfnisse des landesherrlichen Hofhalts, und auch die Kammer­ schulden wurden unterschiedslos bald im Interesse des Landes, bald im Interesse des Hofhalts ausgenommen. Beim Erlaß der Verfassung wurde eine scharfe Trennung des Landeshaus­ halts und des Hofhaushalts durchgeführt. Infolgedessen mußte wegen des Kammervermögens eine Auseinandersetzung zwischen Staat und Landesherrn erfolgen. Diese Separation war um deswillen nicht sehr einfach, weil es bei vielen Vermögens­ stücken und Einnahmequellen, aber auch für mancherlei Schulden zweifelhaft war, ob sie zum Landes- oder zum Kammerressort gehörten. Man half sich also in folgender Weise. Die Landes­ und Kammerschulden wurden als einheitliche Passivmasse, das Landes- und Kammergut als einheitliche AMvmasse behandelt. Die ganze Passivmasse, die also alle älteren Schulden, auch diejenigen, die für die Zwecke des Hofhalts ausgenommen waren, umfaßte, wurden als reine Staatsschuld erklärt. Weit schwieriger war die Behandlung der Aktivmasse. Zunächst wurde ein Drittel der Domänen dem Staat überwiesen als Deckungsmittel für die Staatsschulden, und dieses Domänen*) Wir folgen hier ganz eng den Ausführungen Co sack's in feinem „Staatsrecht des Großherzogtums Hessen", S. 4 ff.

27 drittel ist dann veräußert und zur Tilgung der Staatsschulden verwendet worden. Hätte aber die Krone die beiden übrigen zwei Drittel behalten, so wäre der Staat zu kurz gekommen; denn die Passivmasse überstieg den Wert des übrigen Drittels ganz erheblich. Man mußte deswegen auch bezüglich der übrig bleibenden zwei Drittel eine Auseinandersetzung zwischen Fiskus und Krone bewerkstelligen. Man entschied sich für folgenden Ausweg. Die übrig bleibenden zwei Drittel der Domänen wurden nicht weiter geteilt, weder reell noch ideell, wohl aber dem Rechte nach, indem das Eigentum vollständig dem Großherzoglichen Hause, dagegen die Nutzung und Ver­ waltung vollständig dem Staate zugewiesen wurde, der Staat aber zugleich die Last übernahm, den gesamten Bedarf des Großherzoglichen Hofhalts aus Staatsmitteln zu bestreiten. Hiernach ist dem Großherzog und seinem Hause durch die hessische Verfassung ein doppeltes Vermögensrecht zuge­ sprochen worden. Es besteht 1) Das Eigentum an zwei Dritteln der bei Erlaß der Verfassung vorhandenen Domänen; aber nur das nackte Eigentum. Dagegen gebührt die Verwaltung und Nutzung dieser Domänen bem Staate, die Einkünfte der Domänen fließen in die allgemeine Staatskasse und werden für die allgemeinen Staatsbedürfnisse verwendet; endlich ist auch eine Veräußerung oder Verpfändung der Domänen nur mit Zustimmung der Stände erlaubt. Das Eigentum an den Domänen hat also zunächst keinerlei finanzielle Vor­ teile für den Großherzog, es scheint kein wirkliches Recht zu sein, sondern nur der Name eines Rechts. Immerhin ist der Satz, daß die Domänen nicht dem Staate, sondern dem Groß­ herzoglichen Hause als Eigentum zugehören, nicht bedeutungs­ los. Vielmehr folgt daraus einmal, daß bei einer Veräuße­ rung der Domänen nicht bloß der Großherzog und der Land­ tag, sondern auch die Großherzoglichen Agnaten ihre Zu­ stimmung geben müssen; dieser Satz ist z. B. bei der Ver­ äußerung des Großherzoglichen Palais in Frankfurt a. M.

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praktisch geworden. Wichtiger ist ein Zweites: die Staats­ gläubiger können sich nicht an die Substanz der Domänen halten. Freilich könnten sie die Nutzung der Domänen für sich in Anspruch nehmen; denn diese Nutzung ist ja vom Großherzoglichen Hause auf ewige Zeit dem hessischen Staate überlassen, kann also auch dem Zugriffe der Staatsgläubiger nicht entzogen werden; der hessische Staat hat aber Zug um Zug mit dem Erwerbe der Domänennutzung die Verpflichtung übernommen, den Hofhaltsbedarf des Großherzoglichen Hauses zu decken, und die Gläubiger müssen also, wenn sie die Nutzung der Domänen für sich in Anspruch nehmen, auch in diese da­ mit verbundene Last eintreten; lehnen die Gläubiger die Über­ nahme der Last ab, so kann das Großherzogliche Haus ein­ fach die Herausgabe der Domänen an sich fordern, kann die Domänen vindizieren. Die gleiche Regel müßte auch gegenüber eindringenden Feinden, ja, sie müßte auch dann gelten, wenn das Großherzogliche Haus des hessischen Thrones verlustig gehen sollte. So ist denn das Eigentum des Großherzoglichen Hauses an den Domänen der denkbar schärfste Ausdruck da­ für, daß das Recht des Großherzoglichen Hauses auf die Deckung seines Hofhaltsbedarfes aus Staatsmitteln privat­ rechtlicher und zwar dinglicher Art ist. 2) Es besteht eine Forderung gegen den Staat auf Leistung der zu den „Bedürfnissen des Großherzoglichen Hauses und Hofs erforderlichen Summen". Diese Summen werden in Gestalt eines Pauschbetrages festgestellt, welcher als „Civilliste" bezeichnet wird. Und zwar wird die Civilliste nicht, wie in Preußen, dauernd festgelegt, sodern für die Regierungszeit jedes Großherzogs zwischen Regierung und Ständen besonders ver­ einbart; während der Regierungszeit des Großherzogs ist natürlich eine Änderung der Civilliste nicht ausgeschlossen und tatsächlich unter Ludwig III. vorgekommen; sie bedarf aber der freien Zustimmung von Großherzog und Ständen. Zur

Zeit beträgt sie 1 265000 Mark. Budgetmäßig gestaltet sich nun die Sache so, daß man

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die Domanialeinkünfte in zwei getrennten Abteilungen, einmal den „Domänen des Großherzoglichen Hauses" und zum andern „Staats-Domänen", aufführt. Zu den Domänen des Groß­ herzoglichen Hauses gehören: 1. Kammergüter und Forsten, 2. Weinbaudomünen, 3. das Bad Salzhausen, 4. das Holz­ magazin in Darmstadt und 5. Kapitalien. Die Staatsdomänen setzen sich aus folgenden Posten zusammen: 1. Kammergüter und Forsten, 2. das Braunkohlenbergwerk Ludwigshoffnung, 3. die Bade- und sonstigen Anstalten in Nauheim und 4. als ganz besonders wichtig und an Wert und Erträgnissen alle anderen Posten weit überragend, die Staatseisenbahnen. Ähn­

lich wie in Preußen besitzt auch das hessische Großherzogliche Haus ein Familienfideikommiß, das der Krone nicht bloß zu Eigentum, sondern auch zur Verwaltung und Nutzung über­ lassen ist. Dieser Vermögenskomplex wird in der Verfassung nicht erwähnt, kommt also auch im Haushaltsgesetz nicht vor. Das Familienfideikommiß besteht aus Schatull- und Kabinetsgütern in Hessen und aus Domänen außerhalb des Landes. Die Einnahmen aus diesen Vermögensstücken, die dem Groß­ herzoge zufallen, erhöhen also seine Einkünfte aus der Civilliste; um wie viel, ist mir nicht bekannt. Die Kameral- und Forstdomänen des Großherzoglichen Hauses sind um Vieles bedeutender als diejenigen des Staatsdomanialbesitzes. 1901 betrugen die Felddomänen insgesamt 16605 ha; davon gehörten dem Großherzogl. Hause 16471 ha. Der gesamte Forstbesitz, dessen Einnahmen durch die Aktivund Passivposten des Etats gehen, betrug 71407 ha. Davon gehörten 66486 ha dem Großherzoglichen Hause. Alls den Reinüberschüssen der Domänen des Großherzoglichen Hauses wird als erster und wichtigster Abzugsposten die Civilliste in Ansatz gebracht. Einen kleinen Überschuß bringen auch das Holz­ magazin zu Darmstadt und die Kapitalzinsen, während die Weinbaudomänen und Salzhausen etatsmäßige Zuschüsse be­ anspruchen. Wie schon hervorgehoben, ist es im Gegensatz zum preußi-

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scheu Etat eine Eigentümlichkeit des hessischen, daß die Aus­ gaben für das Hofbauwesen, also sowohl die laufende Unter­ haltung der Residenz- und Jagdschlösser, wie die Reparaturen und Neubauten für dieselben, aus den Domäneneinkünften bestritten werden müssen. Außer der Civilliste für den Groß­ herzog und einer kleinen Summe, die den Beitrag aus der Staatskasse zur Bestreitung der Ordenskosten darstellt, kommt für das Hofbauwesen nach dem neuesten Voranschlag eine Ausgabesumme von rund 85000 Mark in Anschlag. Abzüglich aller Unkosten und Lasten bleibt aus den Ein­ künften der Domänen des Großherzoglichen Hauses nach dem Voranschläge für das Etatsjahr 1903/04 ein Reinüberschuß von 699000 Mark übrig. Die eigentlichen Staatsdomänen weisen rechnungsmäßig folgende Überschüsse auf: Kameral- und Forstdomänen 135000 Mark Braunkohlenbergwerk Ludwigshoffnung 94000 „ Bad Nauheim 124000 „ zusammen

353 000 Mark

Es ist sehr bestritten, wie man diese Domanialeinkünfte, die in der Hauptsache Forstrenten sind, zu kapitalisieren hat. Die Reinertragstheorien gehen weit auseinander. Die Schwierig­ keit liegt darin, daß die Waldrente sowohl eine Bodenrente als eine Betriebskapitalrente ist. Die Bodenrente hat nur dann praktisches Interesse, wenn manAlles abholzen und den Forst­ boden dem Landbau überweisen kann. Für den Waldbesitzer, der eine solche Änderung nicht vornehmen kann und will,

kommt die Bodenrente nicht in Frage. Die Holzkapitalrente ist in unserem Falle, da es sich im Notfälle nicht um eine Subhastation, sondern nur um eine Sequestration handeln kann, abhängig von den Holzpreisen, und zwar nicht etwa von den Holzpreisen der Gegenwart, sondern von den Preisen in einer entfernten Zukunft. Eine solche Vorausbestimmung zukünftiger Preise macht schon in jedem Jahresetat, wie man auch in Hessen sehen kann, fast unübersteigliche Schwierigkeiten.

31 Dieselben erhöhen sich noch, wenn man mit Umtriebszeiten, die mehrere Generationen überdauern, zu rechnen hat. Wenn der Staatsforstbesitz erst in neuerer Zeit vergrößert worden ist, so könnte man daran denken, diese letzten Ankaufs­ preise bei der allgemeinen Kapitalisierungsrechnung einzusetzen. Indessen kann auch dieser Weg ein Holzweg werden; denn es ist sehr zweifelhaft, ob private Kapitalisten für Forsten das­ selbe bezahlen, wie es der Staat, der mit seinem Forstbesitz allgemein volkswirtschaftliche, nicht nur staatswirtschaftliche Zwecke verfolgt, tut. Halten wir an der allein gegebenen Möglichkeit der Sequestration durch die Staatsgläubiger fest, so bleibt unseres Erachtens kaum eine andere Methode übrig, als eine dreipro­ zentige Forstrente anzunehmen und auf dieser Basis die Kapitalisierung vorzunehmen. Wir geben zu, daß hierbei die sich ergebenden Forstwerte vielleicht etwas zu kurz kommen. Wir wollen deswegen neben dieser kaufmännischen Berechnung, die wir für die einzig richtige halten, auch eine forsttechnische, die etwa von einer zweiprozentigen Forstrente ausgeht, zum Vergleich heranziehen. In unseren: Falle müssen wir die Domänem'iberschüsse, die wir der Einfachheit halber ganz all­ gemein wie Forstdomänenüberschüsse behandeln, mit 33'/, mul­ tiplizieren, im andern Falle ist der Multiplikator 50. Dort erhallen wir also einen Vermögensstock von rund 35 Millionen Mark, hier 52'/, Millionen. Die Differenz, die sich bei diesen verschiedenen, nur die Extreme darstellenden Berechnungen ergießt, wäre also 17'/, Millionen Mark. — Eine besondere Betrachtung beansprucht der hessische Staatseisenbahnbesitz und die Eisenbahnschuld. Die hessische Eisenbahnschuld beträgt zur Zeit rund 291 Millionen Mark. Für die Erwerbung der Hessischen Ludwigsbahn sind 197,6 Millionen Mark Anleihe ausgenommen worden, für die Er­ werbung der Oberhessischen Eisenbahn durch eine Anleihe von 1876 31,5 Millionen Mark. Die übrigen für Eisenbahnzwecke aufgenommenen Schulden fallen alle in die allerjüngste Zeit:

32 1893 : 7 Millionen Mark 1894 : 8 II 1896 : 8 II 1897 : V/s II 1899 : 18,4 „ und II 1900 : 19,5 Außer der Staatsschuld für den Erwerb der Hessischen Ludwigsbahn wurden also insgesamt 93,7 Millionen Mark Eisenbahnschulden kontrahiert, davon in dem letzten Jahrzehnt 62*/i Millionen Mark. Seit dem Bestehen der Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschast flössen dem Großherzogtum Hessen aus derselben folgende Summen zu: 1897/98 : 10 514 670 Mark 1898/99 : 10 622 840 „ 1899/1900 : 11 145 840 „ 1900/01 : 11378 020 „ 1901/02 : 10 490 950 „ In dem Hauptvoranschlag für das Jahr 1902/03 ist diese Summe auf 11 211 539 Mark veranschlagt. Wird diese Überschußzahl wirklich erreicht, so erhält man im Durchschnitt

der letzten sechs Jahre eine Jahreseinnahme von 10 893 976 Mark. Für das Jahr 1903/04 sind für den Anteil Hessens an dem Betriebsüberschuß wieder 11 Millionen Mark eingesetzt worden. Dort wird für Verzinsung der Eisenbahnschuld eine Summe von 8 935 000 Mark gefordert, und für Eisenbahn­ schuldentilgungszwecke sind 623400 Mark ausgeworfen. Bekanntlich hat man bei der Verstaatlichung der Lud­ wigsbahn dem Staat sowohl wie den Gemeinden bisherige Steuereinnahmen entzogen und in Folge dessen in dem Ge­ setze vom 3. Oktober 1896 eine Entschädigungspflicht an die Staatskasse und die Kommunen statuiert. Die hierfür not­ wendige, von den Eisenbahnüberschüssen vorweg zu nehmende Entschädigungssumme wird regelmäßig im Etat besonders unter „Lasten" aufgeführt. Sie beträgt zuzüglich einer anderen

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kleineren Last 289 600 Mark. Rechnet man diesen Betrag so­ wie die Zins- und Tilgungsquote von den Reinerträgnissen des Eisenbahnbesitzes ab, so bleiben als absoluter Nettoüber­ schuß, der zur Deckung anderer Staatsbedürfnisse verwandt werden kann, 1 152 000 Mark übrig. Mit dieser Zahl gewinnen die hessische Eisenbahnpolitik und die in Folge derselben not­ wendig gewordene Eisenbahnschuld erst ihre richtige Beleuch­ tung. Die Eisenbahnschuld ist, soweit Überschüsse über die Ver­ zinsung und Tilgung bleiben, überhaupt keine eigentliche Schuld, sondern ein Staatsbetrieb, der mit fremdem stehenden Kapital, d. h. mit einer fest, aber niedrig verzinslichen Obli­ gationsschuld, arbeitet. Würde sich heute der hessische Staat gezwungen sehen, seinen ganzen Eisenbahnbesitz zu veräußern, so würde er voraussichtlich einen Verkaufspreis bekommen, der erheblich höher wäre, als die jetzige Eisenbahnschuld. Der Mehrerlös entspräche ungefähr dem kapitalisierten Nettogewinn von 1 152000 Mark und betrüge also, wenn man eine 3'/2 prozentige Verzinsung annähme, rund 33 Millionen Mark. Außer der Eisenbahnschuld von rund 291'/, Millionen Mark hat der hessische Staat noch eigentliche Staatsschulden für außerordentliche Staatsbedürfnisse ausgenommen, die sich Ende des laufenden Etatsjahres auf 16117 000 Mark belaufen werden. Leider ist aber für das nächste Jahr eine Ergänzungs­ anleihe von nicht weniger als 20 Millionen Mark notwendig, sodaß sich dieser Teil der Staatsschuld, nachdem einige unwesent­ liche sonstige Veränderungen eingetreten sind, im Laufe des nächsten Jahres auf 36 093 000 Mark erhöht. Der oben aus­ gerechnete Mehrwert des Eisenbahnbesitzes von 33 Millionen Mark genügt also nicht, um diese ungedeckten eigentlichen Staatsschulden ganz auszugleichen. Es bleibt vielmehr ein Saldo von 3 093 000 Mark übrig. Hierfür müßte als Deckungs­ mittel schon der Domanialbesitz herangezogen werden. Der Kapitalwert der eigentlichen Staatsdomänen war auf 11 s/4 Millionen Mark, der der Domänen des Großherzoglichen Hauses auf 23 '/4 Millionen Mark berechnet worden. Ohne 3

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die Domänen des Großherzoglichen Hauses bleibt also ein im Notfälle verfügbarer Vermögensüberschuß von 8 657 000 Mark. Setzt man aber die niedrigere Fvrstrente, wie das vergleichs­ weise geschehen ist, ein, so erhöht sich der Wert der reinen Staatsdomänen auf 18650000 Mark. In diesem Falle würde der Reinüberschuß 15 557000 Mark betragen. Nimmt man gar den Kapitalwert der Domänen des Großherzoglichen Hauses hinzu, so ist der Gesamtüberschuß bei der niedrigeren Berechnung 31907 000 Mark, bei der höheren Berechnung sogar 50507000 Mark. — Ich wiederhole, daß diese Berechnungen ziemlich sum­ marisch angestellt sind und keineswegs als einspruchsfrei gelten können. Richtiger sind jedenfalls die niedrigeren Ansätze. Sie dürften ein ungefähres Bild der Vermögenslage des hessischen Staats imnierhin geben. In dem neuen Voranschlag sind außer den eigentlichen Staatsschulden noch 23 021000 Mk. als „uneigentliche" Schulden aufgeführt. Diese Schulden sind um deswillen uneigentliche, also keine wirklichen, Staatsschulden, weil sie durch aktive Gegenwerte bezw. Gegenforderungen gedeckt erscheinen. Den Hauptposten nimmt hier die Landeskreditkassenschuld in An­ spruch, die durch Hypothekenforderungen, Forderungen an Kom­ munen und dergleichen balanciert und auf diese Weise ver­ zinst wird. Sie wird im Laufe des nächsten Jahres vor­ anschlagsmäßig sich auf 12 639 000 Mark belaufen. Ende des neuen Etatsjahres wird die gesamte hessische Staatsschuld, wenn wirklich nach dem Tilgungsplan verfahren wird, sich auf 349 891000 Mark Belaufen. Es bedeutet das eine Schulden­ last pro Kopf der Bevölkerung von ungefähr 290 Mark. Was die eigentlichen Staatsschulden betrifft, so ermäßigt sich diese Summe auf 327414000 Mark, das macht pro Kopf der Be­ völkerung 272 Mark Staatsschulden. Mit dieser Ziffer dürfte der hessische Staat unter sämtlichen deutschen Bundesstaaten, wenn man von den Hansastädten absieht, den Rekord er­ reicht haben. —

35 Das Resultat dieser Betrachtungen kann dahin zusammen­ gefaßt werden, daß die Vermögenslage des hessischen Staates eine nicht erfreuliche ist. Man muß, wie wir es exempli causa getan haben, alle Reserven heranziehen, wenn man zu einem einigermaßen nennenswerten Aktivum im Vermögens­ bestände kommen soll. Die Finanzen Hessens sind mit den­ jenigen des preußischen Staates jedenfalls gar nicht zu ver­ gleichen. Unter allen Umständen wird es, wenn hier eine Besserung eintreten soll, notwendig sein, daß man in den nächsten Jahren das Extraordinarium stark entlastet. Man wird auf allen Gebieten sparsam wirtschaften müssen, damit man aus einer chronischen Defizitwirtschaft wieder heraus­ kommt. Die Gefahr, daß sonst auf die Dauer der hessische Staatskredit in Mißkredit kommt, ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Vorläufig liegt zwar eine Diskordanz zwischen dem Staatsvermögen und der Staatsverschuldung nicht vor. Wird aber auch nur noch einige Jahre im Extra­ ordinarium des Budgets so weiter gewirtschaftet, wie in dem letzten Jahrzehnt, und gleichzeitig die Steuerschraube nicht weiter in rücksichtsloser Weise angezogen, so kommt der hessische Staat — darüber sollten sich alle Wohlgesinnten klar sein — in eine wirklich prekäre Lage. Das nächste Ziel erblicke ich nicht mit in einer Einschränkung der Schuldenmacherei, sondern auch in einer stärkeren Tilgung der schon vorhandenen Schulden. Die Tilgungspolitik der hessischen Finanzverwaltung bewegte sich an der äußersten zulässigen Grenze. Rach dem Voranschlag für 1903/04 kann nicht einmal dieses Minimum von Tilgung ganz eingehalten werden; denn eigentlich wäre eine Tilgungs­ summe von 687 712 Mark vorzusehen, es stehen aber tatsächlich zur Tilgung nur 623 400 Mark zur Verfügung, es bleibt also ein Manko von 64312 Mark. Ob die im Voranschlag vorgesehene Tilgung wirklich vorgenommen werden kann, ist mir ziemlich zweifelhaft; denn ich kann mich des Gedankens nicht entwehren, als ob die zu erwartenden Staatseinnahmen für 1903/04 zum Teil etwas optimistisch in Ansatz gebracht worden wären. 3*

36 Ich werde das in dem letzten Aufsatze eingehender dar­ zulegen haben. Der nächste — dritte — Aufsatz soll sich nur mit den Staatsausgaben befassen.

III. Die Staatsausgaben. Um sich in den Hauptvoranschlägen der Staatseinnahmen und -Ausgaben und in den Etatsgesetzen der deutschen Bundes­ staaten und des Reichs zurechtzufinden, gehört ein ziemliches Orientierungsvermögen. Diese Quellen der finanziellen Staats­ verwaltung sind derartig kompliziert, daß man wohl nicht übertreibt, wenn man annimmt, daß es in jedem Parlamente nur verhältnismäßig wenige Abgeordnete gibt, die eine Etats­ aufstellung überhaupt übersehen können. Für die große Mehr­ zahl, namentlich diejenigen, die nicht Jahre lang der Budget­ kommission als tätige Mitarbeiter angehört haben, bleiben die dickleibigen Bände, die den Voranschlag mit Hunderten von Zahlentabellen enthalten, ein Buch mit sieben Siegeln. Fast könnte man zu der Annahme verführt sein, daß unsere leiten­ den Finanzmänner sich über den schwerfälligen Apparat des Parlamentarismus lustig machen wollen und ihr stilles Ver­ gnügen haben über die als öffentliches Geheimnis anerkannte Sachunkenntnis vieler Volksvertreter und Gesetzgeber, die für so hohe Verwaltungsausgaben finanzieller Natur ohne jeglichen Befähigungsnachweis berufen werden. Ich proponiere eine Wette, daß selbst ein gelernter und intelligenter Bankier, bet Chef oder Direktor eines Bankhauses ist, Wochen lang stu­ dieren muß, um sich in den Bilanzgeheimnissen eines Staats­ voranschlags zurechtzufinden. Ich denke hierbei nicht an das

36 Ich werde das in dem letzten Aufsatze eingehender dar­ zulegen haben. Der nächste — dritte — Aufsatz soll sich nur mit den Staatsausgaben befassen.

III. Die Staatsausgaben. Um sich in den Hauptvoranschlägen der Staatseinnahmen und -Ausgaben und in den Etatsgesetzen der deutschen Bundes­ staaten und des Reichs zurechtzufinden, gehört ein ziemliches Orientierungsvermögen. Diese Quellen der finanziellen Staats­ verwaltung sind derartig kompliziert, daß man wohl nicht übertreibt, wenn man annimmt, daß es in jedem Parlamente nur verhältnismäßig wenige Abgeordnete gibt, die eine Etats­ aufstellung überhaupt übersehen können. Für die große Mehr­ zahl, namentlich diejenigen, die nicht Jahre lang der Budget­ kommission als tätige Mitarbeiter angehört haben, bleiben die dickleibigen Bände, die den Voranschlag mit Hunderten von Zahlentabellen enthalten, ein Buch mit sieben Siegeln. Fast könnte man zu der Annahme verführt sein, daß unsere leiten­ den Finanzmänner sich über den schwerfälligen Apparat des Parlamentarismus lustig machen wollen und ihr stilles Ver­ gnügen haben über die als öffentliches Geheimnis anerkannte Sachunkenntnis vieler Volksvertreter und Gesetzgeber, die für so hohe Verwaltungsausgaben finanzieller Natur ohne jeglichen Befähigungsnachweis berufen werden. Ich proponiere eine Wette, daß selbst ein gelernter und intelligenter Bankier, bet Chef oder Direktor eines Bankhauses ist, Wochen lang stu­ dieren muß, um sich in den Bilanzgeheimnissen eines Staats­ voranschlags zurechtzufinden. Ich denke hierbei nicht an das

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Reichshaushaltsgesetz, das geradezu so labyrinthartig verschlungen ist, daß von ihm ein früher viel genannter preußischer Finanz­ minister sagen durfte, im Deutschen Reich gäbe es nur zwei Personen, die dieses Gesetz verständen, die andere — sei ein in Arbeit und Ehren grau gewordener Kanzleibeamter. Auch die bundesstaatlichen Finanzgesetze sind von einer unerfreulichen Undurchsichtbarkeit, und was die grundsätzliche Gestaltung der Budgetaufstellung anbetrifft, so kommen alle möglichen Spiel­ arten vor. Auf diese Weise kann es selbst demjenigen, der auf dem Gebiete der Staatsfinanzen sich zu Hause fühlt, passieren, daß er sich verrechnet und sonstige Entgleisungen sich zu schulden kommen läßt. Es kommt sogar vor, daß solche kleine Irrtümer selbst den Finanzministerien mit unter­ laufen. In dem neuen Voranschlag für den hessischen Staat wird ein solcher in dem Anlagebande bei Kapitel 114 Nr. 31 zugestanden. Die hessischen Staatsvoranschläge zeichnen sich durch große Ausführlichkeit aus, namentlich was die Personalbesoldung anbetrifft, die in Preußen nur in Durchschnittssummen auf­ geführt wird. Doch bleibt auch in Hessen besonders in den früheren Voranschlägen Manches nicht ganz klar. So lange man noch erhebliche Vermögensüberschüsse hatte, scheinen Regierung und Parlament bei der Einstellung der einzelnen Posten tu das Ordinarium oder in das Extraordinarium manchmal etwas willkürlich vorgegangen zu sein. Neuerdings hat sich dagegen eine feste Praxis herausgebildet, und damit ist immerhin Vieles gewonnen. Diese kritischen Vorbemerkungen sollen selbstverständlich durchaus nicht dazu beitragen, daß man die ungewöhnlichen Schwierigkeiten, die sich jeder Etatsaufftellung entgegenstellen, unterschätzt. Ihr Zweck ist vielmehr nur der, auf die Not­ wendigkeit hinzuweisen, daß die Finanzminister dafür Sorge tragen, daß der Voranschlag nicht nur mit leichtfaßlichen, allgemeinen Erläuterungen versehen wird, sondern auch, daß sie ihre großen Etatsvorträge, durch welche sie bei der Ein-

38 Bringung des Finanzgesetzentwurfs die Debatten einznleiten pflegen, möglichst gemeinverständlich, mit Weglassung jedes verwirrenden Details, redigieren. Auch müßte m. Er. in den Kreisblättern oder in sonstigen, für weitere Kreise bestimmten Preßorganen des Landes, gerade weil manche von ihnen dürftig redigiert zu werden pflegen, amtliche Communiquös veröffentlicht werden, die über die finanzielle Lage des Landes rückhaltslos Aufklärung schaffen. Dem Gros der steuerzahlen­ den Philister, das an den Stammtischen sich als Nebenparlament aufspielt, ähnlich wie es die Kulisse neben der offiziellen Börse tut, müßte die Gelegenheit genommen werden, ihren finanz­ politischen Kannegießereien unwidersprochen sich hinzugeben. Ein solches Stammtischgeschwätz dreht sich meistens um die allgemeine Finanzlage des Staats, über die besonders große Unklarheit herrscht. Ich habe mich in dem zweiten Artikel unter anderem bemüht, so weit das eine sehr knapp bemessene Frist zuließ und so weit das in solcher Form überhaupt möglich ist, einige summarische Berechnungen über den Vermögensbestand des hessischen Staats anzustellen. Solche Berechnungen, die man mangels offizieller Taxationen aufmacht, sind nur ein Notbehelf. Das Finanzministerium könnte, wenn es wollte, viel zuver­ lässigere Schätzungen veranstalten. Wir wissen z. B. gar nichts darüber, was der Domänen- und Forstbesitz des Staats, nach dem gemeinen Wert berechnet, ungefähr wert sein soll. Wie weit kann man die Reinüberschüsse kapitalisieren, und welche Grundsätze muß man bei unseren Feldgütern und welche bei unseren Forsten anwenden? Ähnlich liegt es bei dem Eisen­

bahnbesitz. Hier wäre es wünschenswert, zu wissen, welche Eisenbahnlinien rentabel, welche unrentabel sind. Will man sich ein Bild davon machen, ob der Ankauf der Hessischen Ludwigsbahn ein gutes oder ein schlechtes Geschäft war, so wird die Beantwortung dieser schon oft diskutierten Frage außerordentlich erschwert, wenn die Einnahmen aller Eisen­ bahnlinien nur in einer Generalsumme erscheinen. Es ist gar

39 kein Zweifel — aber das müßte im Einzelnen besser nachzu­ weisen sein —, daß der Erwerb der Hessischen Ludwigsbahn ein recht lukratives Geschäft gewesen ist. Ob es nicht noch lukrativer hätte ausfallen können, erscheint nachträglich als eine reine Doktorfrage. Daß die vielen Nebenbahnen, die der hessische Staat hauptsächlich auf Betreiben der Parlaments­ majorität in den letzten Jahren gebaut hat, nicht lukrativ sind und die Finanzlage des Staats verschlechtern, kann ebenso­ wenig zweifelhaft sein. Der Parlamentsmajorität, die bei diesem Bahnbau Vaterstelle, oder wenigstens Patenstelle über­ nommen hat, müßte man wenigstens nachträglich unter die Nase reiben, daß der allgemein volkswirtschaftliche Vorteil, wenn man überhaupt bei Bahnen von rein lokalem Charakter von einem solchen sprechen kann, in krassem Mißverhältnis zu den finanziellen Kosten steht. Der preußische Staat überläßt es den Kommunalverbänden, diejenigen Klein- und Neben­ bahnen zu bauen, die sie verlangen. Mögen sie dann sehen, ob sie auf ihre Kosten kommen. Man hat zwar auch Staats­ zuschüsse für ganze Provinzialverbände bewilligt, aber stets in verhältnismäßig engen Grenzen. Baden und Württemberg lehnen, obgleich sie ein reines Staatsbahnsystem haben, grundsätzlich ab, Kleinbahnen aus Staatsmitteln zu bauen. Der Erfolg der preußischen Kleinbahnpolitik ist allerdings auch nicht ein sehr erfreulicher gewesen; denn diese Politik hat dazu geführt, daß viele, namentlich ländliche Kommunen der ost­ elbischen Provinzen Bahnlinien gebaut haben, die nur ver­ hältnismäßig wenigen Großgrundbesitzern zugute kommen und jetzt die Kommunaletats schwer belasten. Man nennt in den Gegenden des vorwiegenden Großgrundbesitzes diese Klein­ bahnen, die in ganz eigentümlichen Zickzacktracierungen von einem Rittergut zum andern oder von einem gutsherrlichen Vorwerk zum andern führen, sehr bezeichnend „Zuckerrüben­ bahnen". Außer den Zuckerrüben bauenden Großgrundbesitzern nützen sie nur wenigen Steuerzahlern. Den ländlichen Städten nützen sie so gut wie nichts, und dort wird über diese ver-

40 fehlte Kommunaleisenbahnpolitik, die auf den Kreistagen, wo die Junker die Mehrheit haben, durch Majoritätsbeschluß durch­ gesetzt worden ist, jetzt bewegliche Klage geführt. Ich denke mir die Klein- und Nebenbahnpolitik der Zu­ kunft, im Gegensatz sowohl zu dem hessischen als dem preußi­ schen System, so, daß grundsätzlich die Kommunen oder die Komniunalverbände diese Linien bauen und finanzieren, daß aber, was sehr wichtig ist, der Staat der kommunalen Auto­ nomie, mit der Mißbrauch getrieben werden kann und auch getrieben wird, scharf auf die Finger sieht. Die Bahnkonzession sollte erst erteilt werden, nachdem ganz exakte und zuverlässige Rentabilitätsberechnungen aufgestellt worden sind und es sicher ist, daß diejenigen ländlichen und industriellen Interessenten, die nachweislich den Hauptvorteil haben, im Wege der Präzipualbesteuerung zu den Anlage- und den Betriebskosten be­ sonders herangezogen werden. In den Kommunen ist für dieses System der Präzipualbesteuerung ein weiter Spielraum, sobald erst die gesetzlichen Grundlagen in den Kommunal­ steuergesetzen gegeben sind und die staatlichen Zentralen von dem ihnen zustehenden Aufsichtsrechte den Kommunaletats gegenüber schneidiger Gebrauch machen. Vorläufig ist das freilich Zukunftsmusik. Jedenfalls hat aber der Staat in der Konzessionserteilung, ohne die Privat- oder Kommunalbahn­ gesellschaften nicht ins Leben treten können, ein außerordent­ lich wirksames Mittel, den Klein- und Nebenbahnsport — zu einem förmlichen Sport ist er in der Tat ausgeartet — etwas abzukühlen. Der Hauptvorzug dieses Reformgedankens scheint mir der zu sein, daß man die Staatsfinanzen entlastet und daß die Regierung sich vor dem Ansturm der parlamentarischen Interessengruppen, die um immer neue Bahnen betteln oder sie in drohender Haltung ertrotzen, schützt. In den Parla­ menten kleinerer Staaten wiederholt sich eben derjenige Zu­ stand, den wir auf den Kreistagen ländlicher Kreise Preußens beobachten. Dort wird eine besonnene Minorität einfach

41 niedergestimmt. Der wesentlichste Unterschied zwischen den Kreistagen und den Parlamenten kleinerer Länder ist der, daß es sich dort um Majorisierung, hier auch um Kompromisse handelt, wonach die Interessenten einzelner Gegenden und Provinzen sich gegenseitig die Erfüllung ihrer Bahnwünsche nach dem Grundsätze „do, ut des“ zusichern. Unter der Herrschaft dieser Praktiken ist der hessische Staat in seiner Nebenbahnpolitik auf eine total schiefe Ebene geraten und die Gesamtheit hat jetzt die üblen Folgen davon zu tragen. — Natürlich ist das nicht das einzige Gebiet, auf welchem man in der letzten Zeit zu willfährig und freigebig gewesen ist. Auf allen anderen Gebieten zeigen sich Spuren allzugroßer Noblesse. Ich stehe z. B. grundsätzlich auf dem Standpunkt, daß wirtschaftliche Interessengruppen wie die Handelskammern, die Handwerkskammern, die landwirtschaftlichen Vereine, also alle jene Organe, die man unter dem Namen „Wirtschafts­ kammern" zusammenfaßt und die nur ganz indirekt staatliche Verwaltungsausgaben versehen, in erster Linie aber privatöko­ nomische Interessen bestimmter Berufsgruppen wahrnehmen, ohne Staatsunterstützung auskommen müssen. In anderen Staaten verweist man sie einfach auf Zuschläge zur kommu­ nalen Gewerbe- und Grundsteuer, gibt ihnen also ein staat­ lich delegiertes, selbständiges Steuerrecht. Kannz.B. eine Handels­ kammer eines kleinen Bezirks damit nicht auskommen, so beweist sie eben, daß der Kreis der Interessen, den sie vertritt, nicht groß und wichtig genug ist. Warum z B. Oberhessen zwei Handels­ kammern, eine in Friedberg und eine in Gießen, unterhält, ist schlechterdings nicht einzusehen. Die Bezirke dieser Kammern haben einen wirtschaftlich ziemlich einheitlichen Charakter, und ihre Sitze liegen so nahe bei einander (mit dem Schnellzuge in einer halben Stunde zu erreichen), daß eine Handelskammer für ganz Oberhessen vollständig genügte. Die Handelskammer der großen und reichen Stadt Mainz bekommt vom Staate einen Jahreszuschuß von 4630 Mark. Mir scheint, daß die Großkaufleute und Industriellen des „goldenen" Mainz auch

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ohne dieses Taschengeld auskommen könnten. Die Handwerks­ kammer in Darnistadt umfaßt das ganze Großherzogtum. Auch dieses Institut könnte sich ohne den im Etat ausge­ worfenen Staatszuschuß aus eigenen Mitteln erhalten. Im­ merhin sind diese Summen — es handelt sich, einschließlich der Kosten für die Förderung des kaufmännischen Fortbildungs­ unterrichts, um rund 25000 Mark — geringfügig. Schon erheb­ licher und mit der Zeit enorm angewachsen sind die Staatsaus­ gaben für die Landeskultur und Landwirtschaft. Für das land­ wirtschaftliche Vereins-, Genossenschasts- und Ausstellungswesen sind in den Etat 72 000 Mark eingesetzt, darunter für den Land­ wirtschaftsrat 15 000 Mark, für die drei landwirtschaftlichen Provinzialvereine 52 000 Mark. Erst kürzlich ist in einer amtlichen Denkschrift darauf hingewiesen worden, daß kein anderer deutscher Bundesstaat der Landwirtschaft so reichlich bemessene Staatsmittel zugewendet hat, wie Hessen. Der Gesamtzuschuß soll im nächsten Jahre 820 000 Mark betragen, 65 000 Mark mehr als im Jahre vorher. Auch hier könnte man füglich recht namhafte Abstriche machen. Wenn man z. B. die landwirt­ schaftlichen Provinzialvereine grundsätzlich auf Zuschläge zur Grundsteuer verwiese, würden sie, wie auch anderswo, sehr wohl in der Lage sein, mit geringeren Staatszuschüssen aus­ zukommen. Man muß nur eine Berufsorganisation mit Zwangsbeitritt schaffen und innerhalb derselben eine zweckmäßige Abstufung der Beiträge nach Besitz- und Betriebsgröße. — Es ist heute darüber kein Zweifel mehr, daß der hessische Staat etwas klein ist für die Unterhaltung von zwei Hoch­ schulen. Indessen läßt sich an der Tatsache, daß wir trotzdem zwei große Hochschulen haben, nichts mehr ändern. Wenn man seinerzeit die Technische Hochschule an die Landesuni­ versität angegliedert hätte, so hätte man alljährlich große Summen gespart. Vielleicht hätte man auch für eine Reihe von Mittelstaaten im Wege von Staatsverträgen, wie man sie jetzt auf dem Gebiete des Lotteriewesens abgeschlossen hat, eine gemeinsame Mitteldeutsche Technische Hochschule schaffen

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können, etwa nach Analogie der Universität Jena, die für die Bedürfnisse einer Reihe von Sachsen-Thüringischen Kleinstaaten ausreicht. Dazu ist es natürlich jetzt zu spät. Wir besitzen ein blühendes und ungemein zugkräftiges Polytechnikum in Darm­ stadt, auf das der hessische Staat alle Veranlassung hat, stolz zu sein. Leider sind die Ausgaben für diese Hochschule, deren Frequenz enorm zugenommen hat, mit der Zeit stark gewachsen, namentlich im Extraordinarium. Ein großer Teil der laufen­ den Ausgaben wird, im Gegensatz zur Landesuniversität, durch Studiengelder wieder gedeckt, während bei der Landesuniver­ sität unter den Eimrahmen die allein nennenswerten Summen durch die Pflegegelder der Kliniken und einige bescheidene Ein­ nahmequoten aus Kapitalzinsen figurieren. Die Techrrische Hochschule in Darmstadt schließt jetzt in Ausgabe mit 618000 Mark, in Einnahme mit 384000 Mark ab. Nach dem Vor­ anschlag für 1903/04 beansprucht also diese Hochschule einen Staatszuschuß von rund 234000 Mark, also 100000 Mark weniger, als die sechs Schulen erster Ordnung in Darmstadt und Gießen zusammen. Die entsprechenden Zahlen der Landes­ universität sind folgende: Ausgaben 1166 000 Mark, Einnahmen 334000 Mark, also Staatszuschuß 832 000 Mark. Hier sind gegen das Vorjahr sowohl die Einnahmen als die Ausgaben ziemlich gleichmäßig gestiegen. Der Zuschuß hat eine kaum nennenswerte Erhöhung erfahren. Freilich sind das nur die Zahlen des Ordinariums, d. h. die laufenden Ausgaben und Einnahmen. In dem Extraordinarium sind dagegen in den letzten Jahren sowohl für Darmstadt als auch für Gießen sehr große Summen erforderlich geworden. Es wäre ein müßiger Streit, zu untersuchen, welche der beiden Hochschulen für das hessische Land unentbehrlicher ist. Zum Beweise meiner Ansicht, daß die Landesuniversität das bei weitem notwendigere Institut ist, bedürfte es umständlicher Ausführungen, auf die wir umsomehr verzichten können, weil solche rein theoretische, retrospektive Erörterungen wenig nach meinem Geschmacke sind. Daß die Technische Hochschule eine

44 so enorme Frequenzzunahme, die wiederum auf die Kosten für Neubauten zurückwirken mußte, erfahren hat, kann man vom finanz-ökonomischen Standpunkte bedauern, aber kaum ändern. Außerdem ist natürlich ein einseitig staatswirtschaftlicher Stand­ punkt auf einem solchen Gebiete des höheren, modernen Bildungswesens nicht allein ausschlaggebend. Zum Beweise, daß ich bemüht bin, Licht und Schatten gleichmäßig zu ver­ teilen, habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich darauf hingewiesen, daß auch an der Entwickelung unserer Landes­ universität nicht Alles ganz gesund ist. Ich verweise in dieser Hinsicht auf dasjenige, was ich über die rapide Entwickelung des Veterinärstudiums an der Universität Gießen gesagt habe. Hier sind unzweifelhaft arge Fehler gemacht worden, die beweisen, daß man aus der Geschichte der Technischen Hochschule nicht allzuviel gelernt hat. Ich stehe nämlich nach wie vor auf dem Standpunkte, daß die zwei Dutzend Veterinärstudenten hessischer Landesangehörigkeit eben so gut in München oder Hannover, als in Gießen hätten studieren können, und daß der hessische Staat auf diese Weise recht schöne Summen all­ jährlich eingespart hätte, und zwar sowohl im Ordinarium als im Extraordinarium. Nicht weniger als 600000 Mark sollen jetzt für den Neubau von Veterinärinstituten ausgegeben werden. Mit dieser Summe hätte man ein neues mineralo­ gisches Institut, für das jetzt kein Geld mehr vorhanden ist, errichten können. Man hätte fernerhin ein neues physiologisches Institut, ein selbständiges Forstinstitut schaffen können, man hätte Geld gehabt für ein zahnärztliches Jnstttut und für eine zahnärztliche Poliklinik u. dergl. m., alles Einrichtungen, die gewiß um Vieles dringlicher sind, als die Ausgaben für ein Fach, dessen Studierende zu 87°/0 Nichthessen sind, deren Zahl zudem voraussichtlich in den nächsten Jahren unter der Herrschaft strengerer Zulassungs- und Prüfungsbesttmmungen wieder stark abnehmen wird. Was für die Ausgaben des hessischen Staats für landwittschastliche Zwecke gilt, gilt auch für die Ausgaben für das

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Veterinärstudium, die ja mit den ersteren verwandt sind. Es ließe sich nachweisen, daß an diesen Bewilligungen die agra­ rische Mehrheit der Zweiten Kammer zum mindesten mitschuldig ist, wenn nicht, was man sich gelegentlich erzählt, die land­ wirtschaftlichen Interessenten den ersten Anstoß dazu gegeben haben. Ich halte in vollem Umfange dasjenige aufrecht, was ich früher über diesen Punkt gesagt habe und wiederhole meine Berechnungen, die seiner Zeit als so lästig empfunden wurden. Würde der hessische Staat jedem Veterinärstudenten, der die Landesangehörigkeithat, jährlichem Stipendium von 1000 Mark geben und ihn veranlassen, in München oder Hannover zu studieren, so würde er jährlich ein Geschäft machen von über 42000 Mark. — Bekanntlich ist am 12. Juli 1902 ein Gesetz betreffend die Errichtung einer Hessischen Hypothekenbank erlassen worden. Ich habe dieses Gesetz an anderer Stelle ausführlich besprochen und bezeichnete es als einen ebenso eigenartigen, wie will­ kommenen Versuch, die Landeskreditkasse zu entlasten und ein staatlich verwaltetes Pfandbriefinstitut, das in enger Fühlung mit den einheimischen Sparkassen arbeiten solle, zu schaffen. An dieser grundsätzlich günstigen Beurteilung des neuen gesetzgeberischen Aktes halte ich durchaus fest. Dagegen bin ich zweifelhaft, ob die jetzige finanzielle Lage es nicht empfehlen würde, mit der Geschäftseröffnung der neuen Bank noch etwas zu warten. Die Staatsregierung beabsichtigt, dieselbe bereits am 1. Januar 1903 ins Leben treten zu lassen, und zwar soll ihre Geschäfts­ tätigkeit anfänglich mit einem eingezahlten Aktienkapital von zwei Millionen Mark beginnen. Von dieser Summe fallen auf den Staat 1400 000 Mark. Man erwartet aber für das erste Geschäftsjahr nur eine Dividende von 2°/0 und hofft, sie etwa nach drei bis fünf Jahren auf 4°/0 zu steigern. Ist diese Berechnung richtig, so wird, die Hypothekenbank in den nächsten Jahren, bis sie wirklich rentabel geworden ist, dem Staat nicht ganz unerhebliche Kosten verursachen. Im ersten Geschäftsjahr und wahrscheinlich auch in den nächstfolgenden ist ein Zins-

46 Verlust von etwa 1 ’/s °/o unvermeidlich, das bedeutet eine Be­ lastung des Etats von fast 19 000 Mark jährlich. MeineK Erachtens könnte man ruhig eine bessere Finanzlage abwarten, bis man die Hypothekenbank ins Leben treten läßt, umsomehr, äls das Gesetz einen bestimmten Termin nicht vorschreibt, das Finanzministerium es also vollständig in der Hand hat, wann das Gesetz ausgesührt werden soll. Dasselbe gilt bezüglich des Wohnungsfürsorgegesetzes vom 7. August 1902. Gegen den Artikel 3 Abs. 2- dieses Gesetzes, der die Bestimmung enthält, daß an bedürftige Gemeinden für Wohnungszwecke auch Darlehen unter dem Landeskreditkassenzinsfuß, der nominell etwa 31li °/0 beträgt, gewährt werden können, und zwar bis zu 1/2 °/0 unter diesem Satz, habe ich schon früher prinzipielle Bedenken erhoben. Ich bin mit den Verfassern des Gesetzes überzeugter Anhänger einer staatlichen Wohnungsreform und billige grundsätzlich die Tendenz des Gesetzgebers, den Staatskredit in den Dienst kom­ munaler und gemeinnütziger Bestrebungen, für Minderbemit­ telte passende Wohnungsquartiere zu schaffen, zu stellen. Aber meines Erachtens ist der Staat nicht dazu da, aus seiner Tasche für solche Zwecke den Kommunen Geschenke zu machen, ganz abgesehen davon, daß es sehr schwer halten wird, fest­ zustellen, welche Gemeinde bedürftig ist oder nicht. Wahr­ scheinlich werden sich sämtliche Ortsgemeinden nach Lage der Gesetzgebung sofort für bedürftig erklären, und nach den Ver­ handlungen in der Zweiten Kammer, wo der Regierungsvertreter das Wort „bedürftig" dahin interpretiert hat, daß schon solche Gemeinden, die vom Verkehr entfernt liegen und deswegen hohe Baumaterialkosten aufweisen, unter Umständen als „be­ dürftig" anzusehen sind, wird der Staat oft genug in die Lage kommen, dreiprozentige Baudarlehen zu gewähren. Die Plenarverhandlungen der Zweiten Kammer für das Wohnungsfürsorgegesetz sind übrigens auch recht bezeichnend dafür, was hessische Volksvertreter der Staatskasse zumuten zu dürfen glauben. Damals haben sofort zwei oberhessische Landwirte, die in der Kammer sitzen, beantragt, daß man

47 statt des halben Prozents unter dem Normalzinsfuße ein ganzes Prozent bewilligen müsse. Der hessische Staat sollte also zu SW/o Geld aufnehmen und zu 21/s °/0 weiter verleihen. Glücklicherweise ist dieser geradezu großartige, echt agrarische, Vorschlag nicht durchgedrungen. Bisher sind einige wenige Positionen des neuen Staats­ voranschlags mit kritischen Bemerkungen versehen worden, ohne daß ich dabei erschöpfend sein konnte; auch hege ich nur wenig Hoffnung, daß ich mit meinen Reformvorschlägen, die mir wahr­ scheinlich nur grobe Anzapfungen in der Zweiten Kammer ein­ tragen werden, viel Glück haben werde; denn das setzte vor­ aus, daß die jetzige Kammermajorität etwas haushälterischer denkt und rechnet, als bisher. Um das zu erreichen, wird es wohl notwendig sein, daß die Finanzen noch fataler werden, als sie es schon gegenwärtig sind. Besonders schlimm sieht es zur Zeit und wohl auch für die nächsten paar Jahre auf dem Gebiete der Reichsfinanzen aus, von denen ja auch die­ jenigen der Bundesstaaten abhängen. Die Haupteinteilung des Voranschlags, die den Titel trägt „Verhältnis zum Reich", schließt in Einnahme mit 11 671 274 Mark und in Ausgabe mit 12 287 084 Mark ab; hiernach wäre an das Reich eine Herauszahlung zu leisten von 615 810 Mark. Noch in den Etatsjahren 1897/98 und 1898/99 erhielt Hessen je */< Million Mark mehr an Überweisungen vom Reich, als es an Matrikularbeiträgen an dasselbe zu bezahlen hatte. 1899/1900 ver­ schob sich dieses Verhältnis zu Ungunsten des hessischen Staates. Von da an mußte regelmäßig mehr an die Reichskasse heraus­ gezahlt werden, als Hessen vom Reiche zu empfangen hatte. Diese Summe hat sich in wenigen Jahren fast verdreifacht. Der jetzt vorgesehene Matrikularbeitrag an das Reich ist wahr­ scheinlich zu niedrig bemessen. Es steht zu befürchten, daß die Gesamtüberweisungen an die Bundesstaaten hinter dem Etatsansatz für 1902/03 um 10 Millionen zurückbleiben werden, was für Hessen eine Verschlechterung in seinen Beziehungen zum Reich von 200 000 Mark bedeuten würde. Das Reich

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schloß schon 1902 mit einem Fehlbetrag von rund 48 Mil­ lionen ab, der im nächsten Etatsjahre wieder eingebracht werden muß, und wenn das so fortgeht und keine neuen Reichseinnahmen geschaffen werden, wird die Überlastung der Bundesstaaten eine geradezu unerträgliche werden. Damit sind nicht nur finanzielle, sondern auch politische Gefahren verbunden. Der Entwurf des Reichsetats liegt zur Zeit nur in einigen Auszügen für bestimmte Kapitel vor, man wird aber nach gelegentlichen Äußerungen im Reichstage auf recht schlimnre Überraschungen gefaßt sein müssen. Ob neue Reichssteuern, die

auch schon angekündigt sind, wirklich kommen, und ob man ihre Genehmigung im Reichstag durchsetzt, ist noch durchaus ungewiß. Eine Besserung können, rein finanziell gedacht, nur der Zolltarif und die neuen Handelsverträge bringen. Man hat ausgerechnet, indem man die niedrigsten Zollsätze des jetzt in dritter Lesung durchgepeitschten Tarifs der Berechnung zu Grunde legte, daß die Mehrerträgnisse aus den Lebensmittel­ zöllen etwa 80 Millionen Mark der Reichskasse zur Verfügung stellen. Wir wollen diese Berechnung nicht anfechteu, obgleich sie recht anfechtbar ist. So viel ist jedenfalls sicher, daß die Getreidezölle zu den schwankendsten Einnahmen gehören, die es überhaupt gibt, und außerdem bleibt es sehr zweifelhaft, ob der Körnerbau bei dem höheren Zollschutze stationär bleibt, wie man im Reichstage anzunehmen scheint. Der Reichsfiskus ist gegenwärtig in einer so prekären Lage, wie noch nie. Die Folgen der Brüsseler Internationalen Zuckerkonvention werden, wenigstens in den ersten Jahren, einen starken Ausfall in den Einnahmen an Zuckersteuer zur Folge haben. Ferner riickt die Zeit näher, wo der Reichsinvalidenfond aufgebraucht ist. Frühestens 1908, spätestens 1910 tritt das ein, und da muß das Reich unter allen Umständen Ersatzmittel schaffen. Ohne neue Steuern und die neuen Zolleinnahmen wird in Zukunft der Reichsetat nicht mehr ins Gleichgewicht gebracht werden können. Wie man dieser Tatsache gegenüber das Zolltarif­ gesetz mit dem Zusatze beschweren konnte, daß die Mehrein-

49 nahmen aus Lebensmittelzöllen für eine Reichs-Witwen- und Waisenversorgung verwendet werden sollen, ist mir unerfindlich. Entweder liegt eine sozialpolitische Heuchelei vor, so daß dieser Gedanke nicht ernst genommen zu werden braucht oder aber die Reichstagsmehrheit, die sich in diesem Falle übrigens mit der sonstigen nicht ganz deckt, wird konsequentermaßen unter allen Umständen für die Bewilligung neuer Reichssteuern sorgen müssen. Nicht nur aus diesem Gebiete hat bisher die Reichsgesetz­ gebung die Bundesstaaten finanziell im Stich gelassen, sondern sie ist jetzt auf dem besten Wege, auch in die Kommunalsteuer­ politik der Bundesstaaten schonungslos einzugreifen. Wir meinen den Reichstagsbeschluß, wonach von einem gewissen Zeitpunkte (1910) an die städtischen Oktrois auf Vieh und Fleischwaren, Getreide, Mühlenfabrikate und Backwaren aufgehoben werden sollen. Bisher war man zu der Annahme berechtigt, daß der Bundesrat diesen Beschluß als unannehmbar bezeichnen würde; denn er ist bis noch vor kurzem vom Bundesratstisch aus ener­ gisch bekämpft worden, und zwar im Interesse einer Reihe von Bundesstaaten, zu denen auch Hessen gehört. Vor einigen Tagen hat aber zur allgemeinen großen Überraschung der

Reichskanzler erklärt, daß der Bundesrat voraussichtlich doch diesem Beschlusse beitreten werde. Der Antrag involviert unzweifelhaft eine Verfassungsveränderung; denn eine Verände­ rung des Vereinszollgesetzes von 1867 ist nach Artikel 40 der Reichsverfassung den Verfassungsänderungen gleich zu achten. Solche Veränderungen der Verfassung gelten bekanntlich als abgelehnt, wenn im Bundesrate 14 Stimmen dagegen votieren. Wenn also Bayern, Württemberg, Baden und Hessen dagegen stimmen, kann der Reichskanzler seine Zusage nicht aufrecht­ erhalten. Es scheint aber, daß in unserer Zeit der „Umfälle" auch hier ein „Umfall" in Vorbereitung ist. Mit Recht ge­ spannt wird man darauf sein dürfen, welche Stellung die drei hessischen Bundesratsvertreter eingenommen haben. Welche Bedeutung die Angelegenheit für eine Reihe von hessischen 4

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Kommunen hat, illustrieren ohne weiteres folgende Zahlen. Die Oktroieinnahmcn, die künftig wegfallen sollen und deren Aus­ fall durch direkte Steuern gedeckt werden muß, betrugen 1900/1: 344937 Mark in Darmstadt 273 963 „ Mainz „ Offenbach 129215 111814 „ Worms „ Gießen 44034 Es erübrigt noch, mit einigen wenigen Worten das Extraordinarium des neuen Voranschlags zu streifen. Dort sind wieder 4 Millionen Mark für Eisenbahnzwecke vorgesehen, die aber nicht etwa für neue Linien, sondern für Vermehrung der Betriebsmittel, Herstellung von Sicherungsanlagen, Bahn­ hofsumbauten und dergleichen Verwendung finden sollen. Freilich ist auch eine Verbindungsbahn zwischen der Strecke Lampertheim—Mannheim und dem neuen Rangierbahnhof Mannheim vorgesehen. Aber diese Linie stellt keine eigentlich neue Eisenbahnlinie, sondern lediglich eine Erweiterung für Rangier- und Güterbahnhofszwecke dar. 167 200 Mark sind für den Erwerb des Staatsministerialgebäudes, das bislang zum Familieneigentum des Großherzoglichen Hauses gehörte, aber lediglich staatlichen Zwecken diente, ausgeworfen. Ein zweiter Posten derart im Betrage von 203000 Mark ist für den Er­ werb des Schlosses zu Babenhausen vorgesehen. Dieses Schloß, das von hoher künstlerischer und historischer Bedeutung ist, aber in baulicher Hinsicht arg verwahrlost war, wurde im Jahre 1900 vom Großherzoglichen Hausfamilieneigentum erworben und mit recht erheblichen Kosten restauriert. Diese Kosten be­ trugen 136000 Mark. Es sind in demselben einige Dienst­ wohnungen für Beamte eingerichtet und Archivräume für alte Urkunden und Akten hergerichtet worden. Jetzt soll das Schloß als Staatsdomäne übernommen werden. Ähnlich liegt die

Sache mit dem sogenannten „neuen Schlosse" in Gießen. Es soll der Landesuniversität überwiesen und nun zum Preise von 31570 Mark in das Eigentum des Landes übergeführt werden.

51 Eine dritte Hauptabteilung des Vermögensetats sieht die Ausgabe von rund 2 600000 Mark für Erweiterungs- und Neubauten im Geschäftsbereich des Ministeriums des Innern vor. Hier kommen in erster Linie die neuen Klinikbauten (chirurgische und ophthalmologische Klinik), die zuzüglich der Nebenanlagen und abzüglich des Erlöses für die alten Kliniken 1,3 Millionen kosten. In dem neuen Voranschlag wird jetzt eine zweite Baurate von 535 000 Mark gefordert. Die Uni­ versitätsbibliothek, die ihrer Fertigstellung im Rohbau entgegen­ sieht, kostet 625 000 Mark. Als dritte und letzte Vaurate werden jetzt 244000 Mark in Anspruch genommen. Ferner werden die Neubauten der veterinär-medizinischen Institute nach dem iin vorigen Jahre grundsätzlich gebilligten Plane derart in Angriff genommen, daß für 1903/4 eine zweite Bau­ rate von 192 000 Mark und für das nächstfolgende Etatsjahr voraussichtlich eine solche von 258000 Mark zur Verausgabung gelangen. Wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, ist die Gesamtsumme für diese Zwecke auf 600000 Mark veranschlagt. Sehr große Summen machen die Erweiterungsbauten der Tech­ nischen Hochschule, die nunmehr in Angriff genommen werden sollen, notwendig. Die Gesamtkosten betragen nicht weniger al§ ,2 214 295 Mark. Abzüglich eines Zuschusses seitens der Stadt Darmstadt fallen der Staatskasse 1856000 Mark zur Last. Als erste Baurate kommen jetzt 558 700 Mark in Ansatz. Endlich sind der Geländeerwerb zum Neubau einer Blinden­ anstalt in Friedberg, eine zweite Baurate für die Landes­ irrenanstalt in Heppenheim, der innere Ausbau des neuen Schlosses in Gießen (25 000 Mark, erste Rate von 60 000 Mark), ein Erweiterungsbau der Landwirtschaftlichen Versuchsstation in Darmstadt (75 000 Mark), der Neubau eines Gymnasiums in Worms (270000 Mark), die innere Einrichtung im Neubau des Museums zu Darmstadt (190000 Mark), der Erwerb des Dienstgebäudes des Hochbauamts Gießen für ein Forstinstitut (erste Rate 18000 Mark) u. s. w. in Vorschlag gebracht. Bei einem Teil dieser Neubauten handelt es sich um Fortführung

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von Plänen, die die prinzipielle Billigung der Landstände bereits gefunden haben und die auf bessere finanzielle Zeiten kaum verschoben werden können. Im Geschäftsbereich der Ministerien der Justiz und der Finanzen sind im Extraordinarium 1147 000 Mark erforderlich. Es wird also für außerordentliche Staatsbedürfnisse insgesamt eine Anleihe von 8 733 000 Mark notwendig werden. Da aus früheren Jahren ähnliche Kredite bereits bewilligt sind, ohne daß man die zum großen Teil bereits verausgabten Beträge durch eine entsprechende Anleihe flüssig gemacht hat, so steht bestimmt zu erwarten, daß, wie schon hervorgehoben, zu Be­ ginn des kommenden Etatsjahres eine dreiprozentige Anleihe im Betrage von 20 Millionen Mark ausgenommen werden muß. Während also die Vermögensreste aus der Verwaltung früherer Jahre dadurch, daß man in der letzten Zeit einen Teil des Ordinariums aus ihnen deckte (in dem neuen Etats­ jahr beträgt dieser Verbrauch mehr als 2 Millionen Mark), rapid zusammenschmolzen und von diesen Reserven sehr bald überhaupt nichts mehr vorhanden ist, wird die gesamte Staats­ schuld im Laufe des nächsten Jahres auf 350 Millionen Mark ausgelaufen sein. Nach der Verstaatlichung der Hessischen Ludwigsbahn und nach der Schaffung der Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschaft hat der hessische Staat seine Schulden von 224 Millionen Mark auf 350 Millionen, d. h. um 126 Millionen Mark erhöht. Als Gegenwerte gab es damals noch 121/. Millionen Mark an Vermögensbestand. Da dieser recht erhebliche Vermögensbestand jetzt zur Neige geht, — er wird am Ende des Etatsjahres 1903/04 nur noch 317 684 Mark betragen, nachdem ihm zur Deckung des Defizits wieder 2093961 Mark entnommen worden sind — so ist die Zu­ nahme der wirklichen Staatsverschuldung noch höher, als vorhin angegeben wurde. Mehr als allgemeine Betrachtungen beweist diese Tat­ sache, wie flott man in den letzten Jahren in Hessen gewirt­ schaftet hat.

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IV. Die Staatseinnahmen.

Der hessische Staat hatte bereits in dem Etatsjahr 1902/03 ein Defizit von rund 900 000 Mark. Dieses Defizit hätte sich auf 1,7 Millionen erhöht, wenn man nicht in dem Finanz­ gesetze die Vermögenssteuer derartig erhöht hätte, daß für je 1000 Mark Vermögen ein weiterer Vermögenssteuerzuschlag von 20 Pfennigen erhoben wurde. Diese erhöhte Vermögens­ steuer sollte etwa 810000 Mark einbringen, und das übrige Defizit wurde in der Weise gedeckt, daß man 881 509 Mark aus dem Vermögensbestand entnahm. Der neue Staatsvor­ anschlag veranschlagt die Einnahme des Ordinariums auf ins­ gesamt zu 56 202 727 Mark, die entsprechenden Ausgaben zu 58 296 688 Mark. Es bleibt also diesmal ein Defizit von 2 093 961 Mark. Auch diesmal soll die erhöhte Vermögens­ steuer weiter erhoben werden, und außerdem soll aus dem Bestand der Vermögensreste früherer Jahre ein entsprechender Betrag entnommen werden, so daß der verfügbare Vermögens­ bestand fast ganz aufgezehrt wird. Hessen hat also ein starkes Defizit, und wenn das Jahr 1904/05 nicht eine sehr erhebliche Verbesserung aller Verhältnisse bringt, dann läßt sich diese Unterbilanz auch in der bisherigen Weise nicht mehr aus­ gleichen. Wenn man freilich unter Defizit nur denjenigen Zustand der Finanzwirtschaft verstehen will, wo es für die festgestellten Ausgaben an zureichenden Deckungsmitteln fehlt, so daß nur eine Anleihe für das Ordinarium Abhülfe schaffen kann, so hat vorläufig Hessen ein solches Defizit nicht; denn wenn alle Schätzungen und Berechnungen des Finanzministeriums sich als richtig erweisen, so wird sich auf dem bisherigen Wege das Aktivum und Passivum mit knapper Not im Gleichgewicht halten lassen. Meines Erachtens ist dieser engere Begriff des Defizits aber falsch. Ein Defizit liegt vielmehr schon dann vor, wenn

54 für die Ausgaben die ordentlichen Deckungsmittel, auf die dauernd gerechnet werden kann, nicht mehr ausreichen. Das ist in Hessen gegenwärtig der Fall; denn Vermögensüberschüsse aus früheren Jahren, die sich also nicht erneuern können, sind ebensowenig ordentliche Deckungsmittel, wie Staatsschulden, die man zur Begleichung der laufenden Ausgaben aufnimmt. Eine wirkliche Sanierung des Defizits im ordentlichen Bedarf kann nur durch ordentliche Deckungsmittel geschehen, d. h. durch Steuern und Erwerbseinkünfte und nicht durch die Auf­ zehrung von verfügbaren Kapitalien, die einen Reservefond für unvorhergesehene Ausfälle und eventuell für die außerordent­ liche Schuldentilgung darstellen sollten. Dieser Ansicht ist auch das hessische Finanzministerium. Es giebt das Defizit unumwunden zu, nur mit dem Unter­ schiede, daß es das ominöse Wort „Defizit" nicht braucht, sondern nur von einem „Fehlbetrag" spricht. Damit ist zwar die Sprache, aber nicht die Sache gereinigt. Das Defizit in unserm und in dem finanzministeriellen Sinne wird bekanntlich fernerhin in ein „budgetmäßiges" und ein „kassenmäßiges" unterschieden, je nachdem der Fehlbetrag bereits im Etatsentwurfe vorgesehen ist oder sich erst im Laufe des Vollzugs des Budgets, also während der Finanzperiode, herausstellt. Jenes, das budgetmäßige Defizit, wird vor Ein­ tritt in das neue Etatsjahr proklamiert, dieses, das kassenmäßige Defizit, kommt erst mit Abschluß der Jahresrechnung zum Vorschein. Möglich ist auch ein dritter Fall, nämlich der, daß das budgetmäßige Defizit sich nachträglich noch durch ein kassenmäßiges verschärft. Wir haben, wie wir gleich dar­ legen wollen, allen Grund, anzunehmen, daß Hessen im näch­ sten Jahre diesen dritten Fall erlebt. In dem ersten Falle kommt die unangenehme Überraschung bei der Veröffentlichung des Voranschlags, in dem zweiten Falle spart man sich die Überraschung auf den Schluß des Etatsjahres aus, und in dem dritten Falle beginnt man das Jahr mit einer Über­

raschung und schließt außerdem dasselbe mit einer solchen.

55 Da jedes Budget auf zahlreichen Schätzungen fußt und deswegen eine Rechnung mit vielen Unbekannten aufgemacht werden muß, so sind schließlich auch angenehme Überraschungen

nicht ganz ausgeschlossen. Das ist der Fall, wenn der Finanz­ minister absichtlich oder wenigstens mit einem gewissen dolus eventualis oder ganz unabsichtlich, also irrtümlich, die Aus­ gaben zu hoch und die Einnahmen zu niedrig oder eines von beiden in Rechnung gestellt hat. Ein Finanzkünstler, wie es Miquel war, hat Jahre lang die Einnahmevoranschläge schon um deswillen mit der denkbar größten Vorsicht so niedrig be­ wertet, damit das preußische Abgeordnetenhaus ja nicht auf den Gedanken kommen könnte, mehr Ausgaben zu bewilligen, als die Regierung forderte. Diese Unterschätzungen, nament­ lich der Eisenbahn- und Steuereinnahmen, waren unter dem Miquel'schen System so gebräuchlich geworden, daß man sich im Parlamente förmlich daran gewöhnte, aber auch mit Zu­ versicht hoffen konnte, daß sich der Rechnungsabschluß erheblich besser gestalte. Dieses Verfahren hatte, staatswirtschastlich be­ trachtet, den Vorteil, daß es dem Parlament nur in ganz seltenen Fällen gelang, der Regierung Ausgaben zu oktroyieren. In dieser Beziehung ist übrigens ein großer Staat wie Preußen um Vieles besser daran, als ein kleines Land wie Hessen. Auch in Preußen wiederholte sich, namentlich bei der Beratung des Eisenbahnetats, fast alljährlich ein Ansturm auf die Staats­ kasse. Jeder Landesteil wollte neue Eisenbahnlinien haben, und es kam zu einer förmlichen Bittsitzung der Abgeordneten vor dem allmächtigen Finanzminister und dem Eisenbahn­ minister, welch' letzteren jener unerbittlich gemacht hatte. Ab­ geordnete, die sonst im ganzen Jahre nach berühmten Mustern sich als „große Schweiger" erwiesen, betraten jetzt die Redner­ bühne, um die Eisenbahnwünsche ihres Wahlkreises in einer ful­ minanten Rede vorzutragen. Man ließ diese Gelegenheitsredner ausreden, floh ins Foyer, prägte für diese Sorte den'bezeichnenden Namen „Eisenbahnredner", und im günstigsten Falle sagte irgend ein namenloser Regierungskommissar seitens seines Chefs eine

56 „wohlwollende Prüfung" der vorgetragenen Wünsche zu. Damit war die Sache erledigt. Der Eisenbahnredner hatte sich sein Mandat gesichert und der Finanzminister sein Geld gespart. Die Bahn wurde natürlich nicht gebaut. Auf Popularität kam es so mächtigen Männern, wie den preußischen Finanzund Eisenbahnministern, nicht an. Im Notfälle spielten sie die Abgeordneten des- einen Landesteils, die sich mit Eisen­ bahnwünschen trugen, gegen diejenigen des anderen Landes­ teils, die in derselben Lage waren, aus, und, da solche An­ träge in großen Parlamenten niemals Fraktionssache sein können, so siegte regelmäßig die Staatsregierung nach dem Grundsätze „divide et impera“. Natürlich hatte dieses System auch seine Nachteile; denn ein ganz einseitiger Eisenbahnfiska­ lismus wurde damit großgezogen, und Eisenbahnlinien, die unzweifelhaft volkswirtschaftliche Vorteile gebracht hätten, wurden nicht gebaut. Außerdem war dieses System auch finanzpolitisch nicht fehlerfrei, weil man sich an die Rechnungs­ überschüsse gewöhnte, und die Enttäuschung um so größer und unangenehmer wurde, wenn ausnahmsweise die Voranschläge sich wirklich als richtig herausstellten. In einem kleineren Staate liegen die Verhältnisse für die Staatsregierung viel ungünstiger. Hier muß die Regierung froh sein, wenn sie diejenigen Ausgaben bewilligt bekommt, die sie für allgemeine Kulturaufgaben notwendig hat, und die einzelnen wirtschaftlichen Interessengruppen gar nicht oder nicht ausschließlich zugute kommen. Hier muß das Parlament in guter Laune erhalten werden, und hier kann man nicht einen Landesteil gegen den andern ausspielen, weil man sich die Regierungsmehrheit sichern muß, um die Gesetzesmaschine in Gang zu halten. In dieser Situation wäre es geradezu ge­ fährlich, den Staatsvoranschlag so zu gestalten, daß er Über­

schüsse aufweist; denn für diese Summen hätte man imOrdinarium oder im Extraordinarium sofortige Verwendung. Das hat man in Hessen gesehen. Früher, als Hessen noch nicht zum Staatsbahnsystem übergegangen war, war die Regierung

57 wenigstens vor fortgesetzten Eisenbahnwünschen, mit deren Erfüllung sie ihre Finanzen belastete und durch die die Ab­ geordneten der betreffenden Gegenden sich bei ihren Wählern populär machten, sicher. In dem Augenblick der Durchführung des Staatsbahnsystems änderte sich die Sache und wurde die Lage des Finanzministers unbequemer. Jetzt häuften sich die Ausgaben für die Nebenbahnen, die die Eisenbahnrente im Verhältnis zur Eisenbahnschuld nicht günstig beeinflussen konnten. Das hessische Parlament zeigte Dank des großen Übergewichts des platten Landes eine solche Zusammensetzung, daß die Regierung ohne Kompromiß mit den Vertretern dieser eisen­ bahnarmen Gegenden nicht regieren konnte. Ein Versuch, den Städten eine gerechtere Vertretung in der Zweiten Kammer zu geben, ist in der vorigen Session gescheitert. Die letzten Neu­ wahlen haben an der Zusammensetzung der Kammer in diesem Punkte nicht viel geändert, und so ist zu befürchten, daß Alles beim Alten bleibt. Eine gewisse Besserung scheint indessen von anderer Seite zu kommen. Wie nämlich erzählt wird, weigert sich die preußische Verwaltung, weiterhin unrentable Linien in Hessen in die Gemeinschaft aufzunehmen. Damit wird der bisherigen Nebenbahnpolitik Hessens bezw. der Zweiten Kammer ein Riegel vorgeschoben. Die finanzielle Bedrängnis des Staates verbietet, wie schon ausführlich dargetan, ihre Fort­ setzung sowieso. Inzwischen haben sich die Budgetverhältnisse derart ver­ schoben, daß man Mühe hat, den Voranschlag überhaupt zu balancieren. Es entsteht jetzt die Gefahr, daß man verführt wird, um überhaupt das Gleichgewicht zwischen Ausgabe und Einnahme herauszurechnen, die Summe der ordentlichen Deck­ ungsmittel zu sanguinisch einzuschätzen. Auch diese Budget­ politik ist in Deutschland manchmal versucht worden, und zwar bald von der Regierung, bald vom Parlament. Bei der Beratung des letzten Reichshaushaltsetats hat man von Seiten des Reichstags gegen den Widerspruch des Staatssekretärs des

58 Reichsschatzamts die Einnahmen aus Zöllen stark hinausgesetzt. Damit hat der Reichstag den verbündeten Regierungen ein Danaergeschenk gemacht; denn die Parlamentsschätzung erwies sich als falsch und verschlechtert voraussichtlich den Rechnungs­ abschluß ganz gehörig. Manchmal macht auch die Staatsregierung denselben Fehler und veranschlagt die Einnahmen zu hoch. Ein solches, nicht unbedenkliches Verfahren läßt sich um so leichter durch­ setzen, weil die Kammer und die Budgetkommission die Aus­ gabenberechnungen zwar allenfalls kontrollieren, die zukünftigen Einnahmen dagegen nicht annähernd so sicher tarieren können, als das Finanzministerium. Dies gilt namentlich von den­ jenigen Einnahmequellen, die in ihren Erträgen starken Schwankungen unterworfen sind, weil sie von den wirtschaft­ lichen Konjunkturen, von denen ja im ersten Aufsatze aus­ führlich die Rede war, abhängen. Domanialgüter werden auf längere Pachtperioden vergeben. Hier treten also größere Schwankungen nur nach dem Ablauf dieser Pachtperioden ein. Schon etwas anders gestaltet sich die Sache beim Forstetat. Hier steht der Fällungsetat ziemlich fest, denn man weiß ziem­ lich genau, wieviel Festmeter an Bau-, Nutz- und Brennholz man bekommt. Nicht fest dagegen, sondern sehr schwankend sind die Holzpreise und damit der Nettoüberschuß der Staatsforsten. Die Gefahr, daß man sich bezüglich des Gelderlöses ganz ge­ hörig irrt, liegt nahe und in der Natur der Sache. Das hat der hessische Staat erst kürzlich am eigenen Leibe erfahren. In dem Etat 1902/03 war ein Durchschnittserlös pro Fest­ meter von 10,16 Mark angenommen worden, der dem Durch­ schnittserlös des Vorjahres entsprach. Tatsächlich war der Durchschnittserlös nur 8,79 Mark. Die Konsequenz war ein Fehlbetrag von ganz erheblicher Art. Der Überschuß der

Domänen des Großherzoglichen Hauses ist in dem neuen Voranschlag deswegen um 289000 Mark niedriger veran­ schlagt worden. Man hat diesmal den Durchschnittserlös für Holz der letzten zehn Jahre, der 9,50 Mark betrug, eingestellt.

59 Ob dieser Satz nach den Erfahrungen des laufenden Jahres nicht auch etwas zu hoch ist, muß abgewartet werden. Es sollen allerdings in der letzten Zeit die Holzpreise etwas ge­ stiegen sein; auch rechnen die maßgebenden Holzmärkte auf gute und steigende Preise für das Frühjahr. Viel stärker als im Forstetat schwanken natürlich die Einnahmen aus den Eisenbahnen, und auch die Einnahmen aus der Staatseinkommensteuer mit jährlicher Selbsteinschätzung schwanken mehr als diejenigen des früheren Realsteuersystems. Hier erweitern sich also die Fehlergrenzen in den Schätzungen ganz ungemein. Was die hessischen Eisenbahneinnahmen an­ betrifft, so ist die Lage des hessischen Finanzministeriums bei der Aufstellung des Eisenbahnvoranschlags eine besonders verantwortungsvolle. Der hessische Voranschlag muß fertig gestellt werden, bevor der Etat über die Einnahmen und Aus­ gaben der Eisenbahngemeinschaft vorliegt. Es bleibt also gar nichts anderes übrig, als mit Durchschnittsziffern und mit den letzten Monatsabschlüssen zu rechnen. Die Aufstellung dieser Rechnung kam im November zum Abschluß, also vor Eintritt in die eigentliche Winterszeit, die gerade, was die verfrachteten Gütermengen anbetrifft, namentlich bezüglich des Kohlentrans­ ports, mancherlei Verschiebungen bringen kann. Eine starke und andauernde Kälte, in Folge der die Fluß- und Kanal­ schiffahrt eingestellt werden muß, bringt den Eisenbahnen enorme Frachtquantitäten, die sonst in Schiffsgefäßen befördert werden. Es kann also sehr leicht vorkommen, daß der Monat Dezember bei vorübergehend großer Kälte günstiger abschließt, als man angenommen hat. Dasselbe gilt von den anderen eigentlichen Kältemonaten. Umgekehrt kann ein milder Winter selbst die vorsichtigsten Durchschnittsberechnungen über den Haufen werfen. Allerdings ist die preußische Eisenbahnstatistik in ihrer Art musterhaft und läßt sich aus so lange Zeit zurück verfolgen, daß sich gewisse statistische Gesetze herausgebildet haben. Mit diesen rechnet anscheinend auch der neue Voranschlag Hessens,

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Wir haben bereits an anderer Stelle die Anteile Hessens an der Eisenbahngemeinschaft angeführt und auch eine Durch­ schnittsziffer angegeben. In dem Voranschlag des laufenden Etatsjahres war dieser Anteil mit 11211539 Mark veran­ schlagt. In dem neuen Voranschlag ist die Summe von 11 Millionen Mark eingesetzt, d. h. 211 539 Mark weniger als für 1902/03. Diese Summe entspricht ungefähr dem Durch­ schnitt der Jahre 1899/1900, 1900/01 und 1901/02, ist aber ungefähr 100 000 Mark höher als die Durchschnitte aller Jahre seit Bestehen der Eisenbahngemeinschast. Ich bin nicht in der Lage, die Schätzungen des Finanz­ ministeriums irgendwie nachzuprüfen. Es ist wohl sicher, daß diese Aufstellungen mit dem größten Aufwand von Scharfsinn und statistischer Gründlichkeit zustande gekommen sind. Nach den letzten Monatsabschlüssen der Eisenbahnverwaltungen ver­ schiedener Staaten, die ja für die Tendenz der wirtschaftlichen Konjunktur besonders wichtige Prognosen abgeben, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß die Mindererträge in der ersten Hälfte dieses Jahres durch die der letzten Monate ganz aus­ geglichen werden. Trifft diese Annahme zu, so darf die Ziffer des Voranschlags für das hessische Budget als vorsichtig und nicht zu hoch erachtet werden. Ich rechne sogar auf einen Mehrertrag von l1/»0^- so daß man vielleicht statt 11 Millionen Mark hätte ll1/« Millionen einsetzen dürfen. Etwas besser als die Einkünfte aus dem Forst- und Eisenbahnbesitz lassen sich diejenigen der direkten Besteuerung im Voraus taxieren. Bei schwankenden Einkommen ist die Ein­ schätzung nach dreijährigem Durchschnitt üblich. Die Steuer­ zahler aus den Kreisen des Handelsstandes und der Jndusttie, deren Einkommen ja dem Geschästskonjunkturenwechsel besonders ausgesetzt ist, werden also in guten Jahren für's Erste nicht ihren Reingewinnen entsprechend zur Steuer herangezogen, zahlen aber dafür in schlechteren Jahren entsprechend mehr. Das Einschätzungsgeschäst mag im Hinblick auf diese Durch­ schnittsberechnungen etwas schwieriger werden, aber die Staats-

61 fasse hat dadurch den Vorteil, daß ein Ausgleich aus den fetten in die mageren Jahre eintritt. Dies tritt wenigstens bei einem unvermittelten Konjunkturenwechsel ein. Die drei­ jährigen Durchschnitte der schwankenden Einkommen, die für die Steuereinschätzungen für das nächste Etatsjahr in Frage kommen, basieren auf den Einkommensquoten eines Jahres, das noch recht günstig abgeschlossen hat, und zweier weiterer Jahre, die bereits unter dem Einflüsse einer wirtschaftlichen Depression standen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Jahre mag also ein voller Ausgleich vorhanden sein, das dritte Jahr stört indessen voraussichtlich diesen Ausgleich, und auch der gewöhnlich in Ansatz gebrachte Zugang von 2—3 °/0 bei sonst gleich bleibenden Verhältnissen dürste das zu erwar­ tende Manko nicht ganz decken. Ausschlaggebend sind natürlich solche allgemeine theore­ tische Betrachtungen nicht, obgleich ich sie bei einer fünfjährigen Steuereinschätzungstätigkeit für zwei größere Regierungsbezirke Westfalens, im Laufe deren ich mir zuverlässige Notizen ge­ macht und umfangreiche statistische Berechnungen angestellt habe, durchaus bestätigt fand. Das Finanzministerium, das in fortlaufender und direkter Fühlung mit den Steuerkommis­ sariaten, die ihren Chef über den Gang des Veranlagungs­ geschäftes auf dem Laufenden halten, gewinnt einen Einblick in das Steuersoll, der wertvoller ist als alle allgemeinen Be­ trachtungen und Erfahrungssätze. Die Frage ist nur die, ob die lokalen Steuerbehörden bereits Anfangs November, als der Voranschlag zum Abschluß gebracht werden mußte, in der Lage waren, eine zuverlässige Voreinschätzung an die Zentrale abzugeben. Das möchte ich sehr bezweifeln. Zu jenem Zeitpunfte war das Veranlagungsgeschäft für das neue Steuer­ jahr, wie auch amtlich zugegeben wird, nur zum kleineren Teile beendet. Die Hauptarbeit war noch im Gange. Sind wir recht unterrichtet, so hat man in großen und maßgebenden Erwerbszweigen Hessens mit starken Ausfällen zu rechnen. Bei anderen industriellen Zweigen, wie z. B. bei der Schaum-

62 weinfabrikation, wo man annehmen sollte, daß die bevor­ stehende Einführung der Sektsteuer einen vorübergehend sehr stark vermehrten Absatz Hervorrufen werde, mag das Geschäfts­ jahr günstiger abschließen. Von der gesamten Lederindustrie dagegen hört man das Gegenteil. Die chemische Industrie, deren Geschäftsgang ja von dem Wert ihrer Patente wesentlich abhängt, scheint nicht allzusehr unter der Depression zu leiden. Alles in Allem bin ich geneigt, einen direkten und vielleicht nicht unerheblichen Rückgang in den Einkommensteuererträg­ nissen anzunehmen, zumal in Hessen Dank des Einflusses des großen Frankfurter Geldmarktes besonders viel Industrie- und Bankwerte im großen Publikum untergebracht sind, und die Rentenbezüge aus diesen Quellen unzweifelhaft stark zurück­ gegangen sind. Man erzählt sich, daß gerade in Hessen auch sehr namhafte Summen von Pfandbriefen und Aktien der verkrachten Hypothekenbanken, die die lokalen Privatbankiers durch den Anreiz unverhältnismäßig hoher Bonifikationen beim Privatkapitalistenpublikum untergebracht haben, plaziert waren und noch sind. Die partielle Hypothekenbankkrisis und die Verluste in der Elektrizitätsbranche haben also wahrschein­ lich Vermögen und Einkommen vieler hessischer Steuerzahler in Mitleidenschaft gezogen. Auch sonstige, durch ungünstige Spekulationen beeinflußte, Werte, die jetzt dividendenkrank sind, befinden sich jedenfalls in nennenswerten Posten in den Händen hessischer Staatsbürger. Es kann also nicht aus­ bleiben, daß sich das in der Steuerveranlagung fühlbar macht. Der Hauptvoranschlag des hessischen Staats nimmt im Gegensatz hierzu an, daß die Einkommensteuerveranlagung das gleiche Ergebnis wie im Vorjahre bringe. Er setzt des­ halb einen Einkommensteuerbetrag von 8460966 Mark, d. h. 160966 Mark mehr als nach den Berechnungen für 1901/02 ein. Nach dem Voranschlag für 1902/03 war zur Vorjahrs­ summe ein Zugang von 2°/0 gleich 166000 Mark hinzuge­ rechnet worden, so daß das Gesamtergebnis auf 8466000 Mark berechnet wurde. Zu dieser Summe hat der neue Voranschlag

63 einen zu erwartenden Zugang von 3% angenommen, so daß das Gesamtergebnis der zu erwartenden Staatseinkommensteuer mit 8714 794 Mark in dem Kapitel XII (direkte Steuern re.) erscheint. Das Finanzministerium nimmt also an, daß die Einkommensteuer Million mehr einbringt, als im Vorjahre. Diese Annahme halte ich für eine etwas gewagte. Sie kann nur dann richtig sein, wenn die letztjährige Berechnung erheb­ lich zu niedrig war. Davon hat man nichts gehört, und vor­ sichtiger wäre es gewesen, unter keinen Umständen über den Voranschlag des Vorjahres hinaus zu gehen. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Erträgnisse der Vermögenssteuer weniger schwanken als diejenigen der Ein­ kommensteuer ; denn einmal wird bei den mittleren und größeren Einkommen in der Regel zur Kapitalbildung gespart, d. h. das Vermögen vermehrt sich ständig; zum andern erhöhen sich mit der Vermehrung der Bevölkerung, der Vergrößerung der Städte und der Verbesserung der Kommunikativnsmittel die Grundwerte, namentlich die mit Häusern bebauten und die für den Häuserbau in absehbarer Zeit erschlossenen Terrains. Freilich sind auch hier zum Teil durch eine übertriebene Bau­ tätigkeit und Terrainspekulation, zum Teil durch die Ver­ teuerung des Bankkredits Rückschläge nicht ausgeschlossen. Auch kommt es vor, daß in dem Innern der Städte, je mehr die äußeren Zonen mit komfortablen Wohnungsquartieren besetzt werden, die Grundwertssteigerung zum Stillstand kommt. Im Großen und Ganzen wird man aber mit ziemlicher Sicherheit annehmen dürfen, daß nur bei ganz heftigen Krisen die von der Vermögenssteuer erfaßten Grund- und Betriebs­ kapitalien zurückgehen. Sie gehen jedenfalls weniger zu­ rück, als die Renten. Aber die Vermögenswerte aus mobilem Kapital, aus ausländischem Effektenbesitz, Bank- und Industrie­ werten schwanken manchmal stärker als die Einkommensquoten. Hat sich ein Land daran gewöhnt, einen großen Teil des Ver­ mögens in inländischen Staatspapieren und Kommunalobli­ gationen anzulegen, so ändert sich diese Vermögenssumme so

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gut wie nicht, sondern sie zeigt, wie man in Frankreich sieht, ein stetiges, wenn auch langsames Wachstum. Zu diesen Ländern gehört aber Hessen offenbar nicht, sonst hätten die hessischen Staatspapiere einen größeren und regelmäßigeren Markt und einen höheren Kurs, während sie um 11/a°/0 hinter den preußischen Konsols zurückstehen. Ich glaube nicht, daß die Finanzlage Hessens und Preußens diese Kursdifferenz allein erklären kann, wahrscheinlich spielt sie nur ganz sekundär mit. Aber es fehlt den hessischen Staatsrententiteln an dem inlän­ dischen Markte, und auf den nichtdeutschen Märkten, die neuer­ dings deutsche Staatspapiere mit Vorliebe ankaufen, sind im Gegensatz zu den preußischen und zu den Reichsanleihen die hessischen Papiere ganz unbekannt. Ich erkläre mir also den niedrigeren Kurs aus der Vorliebe des hessischen Kapitalisten­ publikums für höher verzinsliche, dafür riskantere Werte. Ist diese meine Annahme richtig, so hat, wie schon hervorgehoben, unter dem Preisstürze vieler Industrie- und Bankwerte auch das hessische Kapitalvermögen gelitten. Die Vermögenssteuer wird also, die schon besprochene Verlängerung des Erhöhungszustandes vom Vorjahre voraus­ gesetzt und gewisse Zugänge von neuen Steuerpflichtigen mit­ gerechnet, kaum mehr einbringen als im Jahre vorher. Der Voranschlag nimmt eine Zunahme von l°/0 an, so daß das Ge­ samtergebnis auf 3 083070 Mark veranschlagt wird, d. i. 84979 Mark mehr als im Vorjahre. Dieser Mehrbetrag ist zwar nicht erheblich, aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Weitere Mehrerträgnisse sind bei der Erbschasts- und Schenkungssteuer im Voranschlag vorgesehen. Diese Ein­ nahmequelle brachte bisher folgende Erträge 1894/95 : 529 670 Mark 1895/96.: 478090 „ 1896/97: 448 980 „ 1897/98: 406170 „ 1898/99: 496020 „ 1899/1900 : 540820 „

65 1900/01: 681506 Mark 1901/02: 701525 „ Die Zunahme in diesem letzten Jahr ist auf die Wirkung der neuen Gesetze vom 12. August 1899 und 22. Dezember 1900 zurückzuführen. In dem Voranschlag für 1902/03 waren 600000 Mark in Einnahme gesetzt, was anscheinend zu niedrig war, denn der neue Voranschlag erhöht diese Summe um 70000 Mark auf 670000 Mark. Die Hundesteuer brachte nach der Einführung des Steuer­ satzes von 10 Mark, welche ant 1- Januar 1900 in Kraft trat, im ersten Jahre 350860 Mark. Im Etatsjahr 1900/01 ging diese Summe auf 338 310 Mark zurück, als Folge einer Novelle zum Hundesteuergesetz vom 22. Dezember 1900 und ferner, weil im Hinblick auf die höheren Steuern Hunde abge­ schafft wurden. Der Voranschlag für 1902/03 stellte deswegen nur 340000 Mark in Einnahme. Der neue Voranschlag setzt diese Summe auf 330000 Mark herunter, einerseits, weil die Zahl der steuerfreien Hunde zugenommen hat, und weiterhin Hunde abgeschafst worden sind. Einen eigenartigen Schönheitsfehler der hessischen Staats­ steuerreform bildet die Stempelgesetzgebung. Die Stempelpflichtigkeit und die Verfolgung von Stempeldelikten ist in Hessen — das muß offen ausgesprochen werden — eine förm­ liche Landplage geworden. Diese Steuerart ist eine unerfreu­ liche Reminiscenz an frühere Finanzzustände, und ihre Er­ trägnisse sind im Verhältnis zur anderen Besteuerung ganz unverhältnismäßig hohe. Die Einnahmen betrugen 1894/95: 1232000 Mark 1895/96: 1354000 „ 1896/97: 1337 000 „ 1897/98: 1470000 „ 1898/99: 1720000 „ 1899/1900: 1940 000 „

1900/01: 1901/02 :

2 721000 2 720000

„ „

66 Auch auf diesem Gebiete sind durch neue Gesetze (Gesetz über den Urkundenstempel vom 12. August 1899 und Wander­ gewerbesteuergesetz vom 22. Dezember 1900) die Steuerein­ nahmen verstärkt worden. Die Erträgnisse der Stempelein­ nahmen sind in den Voranschlägen der beiden letzten Jahre in gleicher Höhe festgesetzt, nämlich auf 2920000 Mark. Aus Stempel fließt also dem hessischen Staat fast eben so viel, wie aus der Vermögenssteuer zu, was gewiß ein ganz wunder­ sames Verhältnis ist. Hessen erhebt pro Kopf der Bevölkerung fast das Dreifache an Stempel wie Preußen. Es wird über­ haupt wenig deutsche Bundesstaaten geben, die im Verhältnis zur direkten Staatsbesteuerung solche Verkehrsabgaben im Wege der Stempelerhebung aufweisen, wie das Großherzogtum Hessen. Einer besonderen Betrachtung bedarf endlich die Einnahme aus der Lotterie. Sie ist ebenfalls stark gestiegen. Im Jahre 1902 kam mit dem Großherzogtum Oldenburg ein Staats­ vertrag zustande, der Hessen das ausschließliche Recht giebt, die Loose seiner Landeslotterie im Bereiche des Großherzog­ tums Oldenburg und der Fürstentümer Lübeck und Birkenfeld zu vertreiben. Dafür sollte Hessen an Oldenburg alljährlich eine zuerst von Lotterie zu Lotterie steigende, dann aber fest­ bleibende Entschädigung zahlen. Später kam eine Vereinigung der Hessischen Landeslotterie mit der Thüringisch-Anhaltischen

Staatslotterie zustande, in Folge deren im hessischen Voran­ schläge nicht mehr die Bruttoeinnahmen und Bruttoausgaben und auch keine besondere Budgetanlage mehr erscheinen, sondern nur noch der auf das Großherzogtum entfallende Anteil an dem Überschuß der Lotteriegemeinschaft aufgeführt ist. Als solcher sind in dem neuen Voranschlag 1075 210 Mark vor­ gesehen, d. h. 95 880 Mark mehr als im laufenden Etat. Ursprünglich hatte man bei dem Steuerreformwerk nur 500000 Mark als Lotterieeinnahme vorgesehen. Auch tauchte bald der Gedanke auf, die Verwendung der Lotterieüberschüsse zu Zwecken der allgemeinen Staatsverwaltung zu begrenzen. Weitergehende Überschüsse sollten zur außerordentlichen Schuldentilgung benutzt

67 werden; also eine Art von Ausloosung von Staatspapieren. Die gesamte Finanzlage läßt die Ausführung dieses Planes vorläufig leider nicht zu. — Mit diesen Betrachtungen haben wir die Hauptpunkte des Ordinariums, was die Einnahmen anbetrifft, behandelt. Wir wollen indessen unsere Darlegungen nicht schließen, ohne wenigstens die Frage gestreift zu haben, welche neuen Ein­ nahmequellen für den Fall, daß sich die Finanzlage des hessischen Staats itt Zukunft nicht bessert, in Betracht kommen können. Auf das Verhältnis Hessens zum Reiche ist an anderer Stelle hingewiesen worden. Es ist dort gesagt worden, daß ohne neue Reichseinnahmen das Verhältnis der Bundesstaaten zum Reiche ein schlechterdings unhaltbares wird. Das er­ strebenswerte Ziel ist mindestens das, daß in Zukunft die Überweisungen und die Matrikularbeiträge sich wieder decken.

Dieser Fall wird dann eintreten, wenn wirklich die neuen Handelsverträge mit den höheren Tarifsätzen zustande kommen. Man mag über den Zolltarif volkswirtschaftlich denken, wie man will, finanziell bietet er wenigstens eine Chance, daß das Reich aus seiner Defizitwirtschaft herauskommt, und die Matri­ kularbeiträge durch höhere Überweisungen an die Einzelstaaten wieder ausgeglichen werden. Unter Umständen müssen dem Reich noch andere Einnahmen erschlossen werden. In Frage könnten die Erhöhung der Tabaksteuer und der Branntweinsteuer oder die Einführung einer Reichseinkommensteuer' oder einer Reichserbschastssteuer kommen. Alle diese Reichssteuerreform­ projekte haben ihre großen Schattenseiten und werden, wenn sie erst ernst ins Auge gefaßt werden sollten, zu politischen Kämpfen führen, die denjenigen um den Zolltarif an Heftigkeit und Erbitterung nicht nachstehen werden. Meines Erachtens läge eine Reichserbschastssteuer am nächsten und hätte sozialpolitisch die geringsten Bedenken'gegen sich. Für Hessen und manche andere Bundesstaaten wäre aber die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer für das Reich,

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68 die auch die Vermögensübergänge zwischen den nächsten Ver­ wandtschaftsgraden erfaßte, eine große Gefahr; denn es liegt nahe, die dort bestehenden Erbschaftssteuern im Notfälle auch auf die Erbschaften von Aszendenten auf Deszendenten aus­ zudehnen und damit den ganzen Vermögensverkehr für den Todesfall steuerlich zu erfassen. Die ganz überwiegende Mehr­ zahl der Vermögensübergänge von Todeswegen kommt auf die Anfälle auf Deszendenten. Nur diese allgemeine Erbschafts­ steuer bringt wirklich reiche Erträge. Daß sie im Übrigen abgestuft werden müßte nach der Größe der anfallenden Erb­ schaft und nach den Verwandtschaftsgraden, wird selbst von den Gegnern dieser Steuerart nicht bestritten. Ich bin von jeher ein grundsätzlicher Anhänger der all­ gemeinen Erbschaftssteuer gewesen und gebe ihr vor der Ver­ mögenssteuer aus den verschiedensten Gründen den Vorzug. Der Hauptgrund ist der, daß jede Bereicherung, welche ein Erbe oder Legatar erhält, für diesen einen Zuwachs von Leistungsfähigkeit bedeutet und daß die Erbschaftsanfälle in weitgehendem Maße den Charakter des Unverdienten und Zufälligen tragen. Wenn man die Steuergerechtigkeit nach den Unlustgefühlen bemißt, so ist sie eine der erträglichsten Steuerarten, die es überhaupt gibt, wenn nicht die erträglichste. Der „lachende Erbe" sieht in den Erbschaftsanfällen, auch wenn er auf sie jahrzehntelang ganz bestimmt rechnen konnte, stets einen unverdienten, nicht erarbeiteten Vermögenszuwachs und wird prozentuale einmalige Abgaben um Vieles bereitwilliger tragen, als alljährlich zu erhebende Vermögensabgaben. Diese psychologische Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen. Eine allgemeine Erbschaftssteuer hat fernerhin den Vorteil, daß sie das vorzüglichste und wichUgste Kontrollmittel zu den allgemeinen direkten Steuern ist und damit Steuerdefrauden verhindert, die gerade bei der Vermögenssteuer besonders leicht­ gemacht werden. Freilich ist es kaum angängig, neben einer allgemeinen Vermögenssteuer noch eine allgemeine Erbschafts­ steuer aufrecht zu erhalten. Die Steuerreform müßte vielmehr

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die Vermögenssteuer aufheben und eine allgemeine progressive Erbschaftssteuer für alle Verwandtschaftsgrade an deren Stelle setzen. Die Steuersätze müßten derartig sein, daß sie eine wirkliche Mehreinnahme des Staates gewährleisten. Ich bin ferner überzeugt, daß uns die Finanzlage Hessens, wenn sie sich nicht erheblich bessert, was unwahrscheinlich ist, zwingt, auf das Projekt einer Weinsteuer zurückzugreifen. Bekanntlich hat die hessische Regierung bei der letzten Staats­ steuerreform eine Weinsteuer, die etwa */« Million Mark ein­ bringen sollte, vorgeschlagen. Sie drang damit nicht durch. Dieses Projekt einer inneren Verbrauchsabgabe von Wein wird immer wieder auftauchen; denn einmal bestand sie in Hessen bis 1891, und ferner ist das Fehlen einer Weinbesteuerung neben einer Bierbesteuerung eine Unbilligkeit sondersgleichen, auch in solchen Gegenden, wo der Wein das gewöhnliche Ge­ tränk breiter Schichten und nicht Luxusgetränk der Bevölkerung ist. Leider macht die Weinbesteuerung viel größere steuertechnische Schwierigkeiten als die Bierbesteuerung, und durchaus strittig ist, welches die beste Form dieser Steuerart sei. Nach meiner Ansicht empfiehlt sich am meisten eine Kombination von Ein­ legesteuer und Schanksteuer in Verbindung mit Licenzen. — Selbstverständlich kann ich hier bei solchen Reform­ gedanken nur ganz flüchtige Andeutungen machen, und mit diesen will ich meine Gelegenheitsbetrachtungen schließen. Ihr Zweck war der, in gemeinverständlicher Weise finanzpolitische Probleme der Gegenwart zu besprechen. Da, wo ich Kritik geübt habe, werde ich natürlich Anstoß erregen. Das kann ein Nationalökonom, sobald er Tagesfragen bespricht, schlechter­ dings nicht vermeiden. Ich bin darauf gefaßt, daß ich nament­ lich in der Zweiten hessischen Kammer, wo ich mich nicht ver­ teidigen kann, angegriffen werde. Das werde ich mit Gleichmut zu ertragen wissen; denn es giebt keine politische Partei, die mich nicht schon schlecht gemacht hätte; habe ich doch niemals ein Hehl daraus gemacht, daß meines Erachtens der deutsche Parlamentarismus lange nicht das gehalten hat, was man

70 sich von ihm versprach. Das ist in den wohlgesinnten und gebildeten Kreisen die Meinung Aller, und ich bin „reaktionär" genug zu behaupten, daß eine Besserung dieser Zustände nur durch eine Stärkung des Ansehens und des Einflusses der Ersten Kammern zu erwarten ist. Das setzt allerdings voraus, daß man den Oberhäusern eine kräftige und moderne Blutaus­ frischung zuteil werden läßt. In ihrer jetzigen Zusammen­ setzung fehlt ihnen die wünschenswerte Fühlung mit dem Volke, während die Zweiten Kammern zu viel Fühlung mit dem Volke, d. h. mit der großen Masse desselben, haben. Ein großer Teil politischer Intelligenz, der Sachkenntnis mit nationalem Gewissen, mit Selbstlosigkeit und staatspolitischem Verantwortlichkeitsgefühl verbindet, liegt gegenwärtig brach. Statt dessen macht sich eine widerwärtige Jnteressenwirtschaft geltend, der gegenüber sich selbst eine zielbewußte und ge­ schlossene Regierung als machtlos erweist. Wir sind jetzt so weit gekommen, daß sich die gebildete Minderheit vom poli­ tischen Leben zurückzieht und überhaupt am liebsten keine Politik mehr mitmacht. Wer hätte das damals gedacht, als man nach schweren Kämpfen endlich ein konstitutionelles Re­ gime errungen hatte? !