Die Diktatur: Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf [7 ed.] 9783428479405, 9783428079407, 9783428546923

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Die Diktatur: Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf [7 ed.]
 9783428479405, 9783428079407, 9783428546923

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CARL

SCHMITT

Die Diktatur

CARL SCHMITT

Die Diktatur Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf

Siebente Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten (C) 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Neusatz auf Basis der 1928 erschienenen zweiten Auflage Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07940-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706® Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung des Verlages zur 6· Auflage Carl Schmitts „Die Diktatur" wurde in den Jahrzehnten nach seinem Erscheinen 1921 mehrfach nachgedruckt. Dabei war es unvermeidlich, daß sich die Schriftqualität zunehmend verschlechterte. Für die hier vorgelegte Auflage wurde der Text aus diesem Grund neu gesetzt. Schriftgröße und Satzspiegel wurden so gewählt, daß der Seitenumbruch in Anlehnung an die alte Seitenaufteilung gestaltet werden konnte. Offensichtliche orthographische und grammatische Fehler wurden beseitigt; stilistische Eigenheiten Schmitts blieben hingegen unberührt. Die zuvor seitenweise gezählten Fußnoten wurden kapitelweise durchnumeriert. Neu eingefügte Kolumnentitel sollen dem Leser eine leichtere Orientierung ermöglichen. Berlin, im Mai 1994 Duncker & Humblot

Vorwort zur 4. Auflage (1978) S. V I I I . Vorwort zur 3. Auflage (1964) S. V I I I . Vorwort zur 2. Auflage (1928) S. IX. Vorbemerkung (Einleitung) zur 1. Auflage (1921) S. X I I I . Systematische Inhaltsübersicht S. X X I . Namen- und Sachregister S. 203. Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung (1924) S. 209.

V o r w o r t zur 4. Auflage (1978) Seit 1969 haben sich die Bemühungen um das Problem der Ausnahme-Situation im Recht in unerwartetem Maße gesteigert. Das entspricht der Dynamik einer Entwicklung, die Notlagen und Krisen zu integrierenden oder desintegrierenden Bestandteilen eines abnormen Zwischenzustandes von Krieg und Frieden gemacht hat. Dadurch behält eine historisch dokumentierte und begrifflich durchdachte Monographie zum Thema Diktatur ihr wissenschaftliches Interesse. Es könnte sogar sein, daß manche Kapitel dieses Buches in einem völlig neuen Licht erscheinen. Februar 1978

C. S.

Vorwort zur 3. Auflage (1964) Die Hinweise am Schluß des Vorwortes zur zweiten Auflage (unten Seite X I I ) lassen sich durch mehrere spätere Aufsätze ergänzen, die das Thema Diktatur weiterführen und besonders die Entwicklung vom klassischen, d. h. polizeilichen und militärischen Belagerungszustand des 19. Jahrhunderts zum finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Ausnahmezustand des 20. Jahrhunderts behandeln. Diese Aufsätze sind in dem Abschnitt Ausnahmezustand und Bürgerkriegslage in meiner Sammlung „Verfassungsrechtliche Aufsätze" 1958 (Seite 233 bis 371) abgedruckt. Das systematische Sachregister der Sammlung verweist (unter den Stichworten: Ausnahmezustand, Diktatur, Notstand und Notverordnungen sowie Klassischer Begriff des Ausnahmezustandes) auf die einschlägigen Stellen. Dezember 1963

C. S.

V o r w o r t zur 2. Auflage (1928) Der vorliegenden zweiten Auflage dieses Buches ist eine Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung als Anhang beigefügt. Abgesehen von einigen unbedeutenden Änderungen und einem Zusatz über das sogenannte Ausführungsgesetz zu Art. 48 handelt es sich dabei um den Bericht, den ich im April 1924 auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer in Jena erstattet habe, neben dem Bericht meines verehrten Kollegen Prof. Erwin Jacobi-Leipzig. Der Verlag der „Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer", W. de Gruyter, hat freundlicherweise die Zustimmung zu der neuen Veröffentlichung gegeben. Infolge der technischen Besonderheit des Verfahrens, in welchem diese zweite Auflage hergestellt wurde, mußte der Text der ersten Auflage unverändert bleiben; auch wurde der Anhang hinter das Sachregister (S. 203-208) gestellt. Die ausführliche Inhaltsübersicht S. 210 ersetzt vielleicht den Mangel eines Sachregisters. Eine wissenschaftliche Kritik der ersten Auflage, mit der eine zweite Auflage sich auseinandersetzen müßte, ist leider nicht erschienen. Einiges allgemeine Lob, beiläufige Anerkennung oder stillschweigende Übernahme der erarbeiteten Begriffe, ein paar hämische Glossen in der „Zeitschrift für öffentliches Recht", damit hat die wissenschaftliche Diskussion sich bisher begnügt. Eine Ausnahme, die allerdings wegen der wissenschaftlichen Bedeutung ihres Autors von besonderem Interesse ist, betrifft eine Einzelfrage, nämlich die Deutung der Worte „höchstes Regal" in den Abmachungen des Kaisers mit Wallenstein beim zweiten Generalat 1632 (S. 89 des vorliegenden Buches). Ulrich Stutz hat in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Kanonistische Abteilung X I I , 1922, S. 416 ff. gezeigt, daß das jus reformandi als „höchstes Regal" bezeichnet werden kann; Joh. Heckel hat in derselben Zeitschrift, X I I I S. 518 ff. zur Ergänzung noch weitere Nachweise dieses Sprachgebrauchs erbracht. Ich bestreite nicht, daß in andern Zusammenhängen mit den Worten „höchstes Regal" auch das jus reformandi gemeint sein kann, aber sie haben nicht immer und nicht ausschließlich diesen Inhalt. Hier kommt es darauf an, was sie in dem Satz der Abmachungen von 1632 besagen: „5. Von den eingenommenen Landen das höchste Regal im Reiche, als ein extraordinar Recompens." Eine Wendung wie „höchstes Regal", „bestes Regal",

Vorwort zur 2. Auflage (1928)

„kostbarstes und vollkommenstes Kleinod" usw. (vgl. Heckel a. a. O. S. 523) wird, besonders in einer barocken Sprechweise, leicht ohne einen ausschließlichen Sinn gebraucht. Ferner ist im 17. Jahrhundert das Gebiet des Kirchlichen von dem des Weltlichen selbstverständlich getrennt, so daß innerhalb jedes dieser Gebiete ein „höchstes Regal" bestehen kann. In den Abmachungen mit Wallenstein ist kein politisches Interesse an dem jus reformandi erkennbar. Dagegen entspricht die Auffassung, es handle sich hier bei dem „höchsten Regal" um die Kurwürde, ebenfalls dem Sprachgebrauch der Zeit, sie ergibt außerdem im Zusammenhang der aufgezählten Belohnungen den vortrefflichen Sinn einer „ExtraBelohnung" und paßt auch gut zu der Situation des Jahres 1632. Meine Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung beruht ganz auf den geschichtlichen und staatstheoretischen Untersuchungen des vorliegenden Buches. Es scheint mir zweifelhaft, ob es wissenschaftlich ^ergiebig oder auch nur zulässig ist, ein so schwieriges und umfassendes Problem wie die richtige Auslegung des Art. 48 ohne den historischen und systematischen Zusammenhang einer demokratischen Verfassungslehre zu behandeln. Auf jeden Fall aber sollte die Widerlegung einer so fundierten Ansicht auf diesen Zusammenhang eingehen. Zum Unterschied von dem Buch über „Die Diktatur" ist jene Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten öfters besprochen und kritisiert worden. Aber auch die beiden Autoren, die umfangreiche Widerlegungen veröffentlicht haben — H . Nawiasky, im Archiv des öffentlichen Rechts, N . F. 9 Heft 1, und Richard Grau in seinem Bericht auf dem 33. Deutschen Juristentag und in der Gedächtnisschrift für Emil Seckel, 1927, S. 430 ff. —, behandeln die verfassungstheoretische Grundlage nicht. Sie geben Wortinterpretationen, widersprechen meiner Deutung der Entstehungsgeschichte1 und bewegen sich im Grunde weniger in Argumenten als in einer „Atmosphäre": in dem rechtsstaatlich-liberalen Mißtrauen gegen die Diktatur. Rumor dictatoris injucundus bonis. Der Kern ihrer Darlegungen bleibt, daß „die Verfassung unantastbar" ist; ihre Theorie nennt sich selbst die „Unantastbarkeitslehre". Solche Worte und Gedankengänge setzen die ganze Unklarheit eines Verfassungsbegriffes voraus, unter dem die heutige Verfassungslehre lei1

E i n schönes Beispiel „ f o r m a l e r " Beweisführung möchte ich nicht u n erwähnt lassen. R. G r a u sagt, Gedächtnisschrift für E. Seckel, S. 484/85, gegen meine Behauptung, daß A r t . 48 Abs. 2 Satz 2 i m Staatenausschuß entstanden ist, das sei unrichtig; der Satz „findet sich vielmehr schon i n der an den Staatenausschuß gelangten Vorlage der Reichsregierung ( A r t . 67)". Dabei k ö n n t e er schon i n dem K o m m e n t a r v o n Giese nachlesen, daß die Vorlage i n Verhandlungen m i t einem Ausschuß der Staatenkonferenz entstand.

Vorwort zur 2. Auflage (1928)

det. Die Verfassung wird mit jedem einzelnen der 181 Artikel der Verfassung identifiziert, ja mit jedem verfassungsändernden Gesetz, das nach Art. 76 der Weimarer Verfassung zustande gekommen ist; Verfassung ist jedes einzelne Verfassungsgesetz; Verfassungsgesetz nach der „formalen" Betrachtungsweise ein Gesetz, das nur unter den erschwerten Voraussetzungen des Art. 76 geändert werden kann! Daß „die" Verfassung unantastbar ist, besagt auf diese Weise nur, daß jede verfassungsgesetzliche Einzelheit für den Diktator bei der Erfüllung seiner Aufgabe ein unüberwindliches Hindernis darstellt. So werden Sinn und Zweck der Diktatur — die Sicherung und Verteidigung der Verfassung als eines Ganzen — mißachtet und in ihr Gegenteil verkehrt. Jede einzelne verfassungsgesetzliche Bestimmung wird wichtiger als die Verfassung selbst; der Satz „Das Deutsche Reich ist eine Republik" (Art. 1 Abs. 1) und der andere Satz „Dem Beamten ist Einsicht in seine Personalnachweise zu gewähren" (Art. 129 Abs. 3) werden unterschiedslos als „die" unantastbare Verfassung behandelt. Solche absurden Konsequenzen eines unklaren Verfassungsbegriffs beweisen, wie sehr es notwendig und unvermeidlich ist, innerhalb der zahlreichen „formalen" Verfassungsgesetze zu unterscheiden. Wenn also der Versuch gemacht wird, innerhalb der verfassungsgesetzlichen Regelung ein unantastbares „organisatorisches Minimum" zu umschreiben, so ist das mit einigen formalistischen Hinweisen (daß z. B. Art. 48 den Art. 50 nicht zitiert) keineswegs erledigt. Ohne tiefere Untersuchungen der Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre wird man heute weder eine solche Auslegungsfrage noch das allgemeine Problem der Diktatur wissenschaftlich behandeln können. In verschiedenen Gestalten zeigt sich in fast allen europäischen Ländern das gleiche merkwürdige Phänomen: als offene Diktatur, als Praxis der Ermächtigungsgesetze; in scheinbar legalen, d. h. die vorgeschriebenen Formen einer Verfassungsänderung wahrenden Verfassungsdurchbrechungen, in der Gesetzgebung absoluter Parlamentsmehrheiten usw. Es ist durchaus nicht „positiv", das einfach zu ignorieren. Auch die Wissenschaft des öffentlichen Rechts ist verpflichtet, sich der Probleme ihrer Zeit bewußt zu werden. So rechtfertigt sich der vorliegende Versuch, einige Jahrhunderte des Problems der Diktatur zu behandeln. Anders freilich steht es mit der Frage einer Prognose. Ich habe von jedem derartigen Versuch abgesehen, obwohl hier schon einige Präzedenzfälle vorliegen. Erwin v. Beckerath z. B. sagt am Schluß seines überaus klugen und klaren Buches über „Wesen und Werden des fascistischen Staates" (Berlin 1927, S. 154/55), mit steigender Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen werde die Majoritätsideologie sich zersetzen, und wenn die wirtschaftlichen und politischen Spannungen in Europa

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Vorwort zur 2. Auflage (1928)

weiter wachsen („wie anzunehmen"), „so ist es wahrscheinlich, daß, zugleich mit einer Umformung der politischen Ideologie, der autoritäre Staat innerhalb der abendländischen Kulturgemeinschaft Terrain zurückgewinnt." Lapidarer in Form und Inhalt hat H . Nawiasky am 18. Februar 1925 in München etwas Gegenteiliges prophezeit: „Mussolinis Sturz ist nur mehr eine Frage der Zeit" (Die Stellung der Regierung im modernen Staat, Heft 37 der Sammlung „Recht und Staat", Tübingen 1925, S. 23). N u n ist freilich alles Irdische auf die Dauer nur „eine Frage der Zeit" und das Risiko selbst solcher Prophezeiungen infolgedessen nicht sehr groß. Trotzdem ziehe ich vor, mich darauf nicht einzulassen. Uber den Gang der Idee der Diktatur finden sich auf S. I X / X (die geschichtsphilosophische Gestalt der Diktatur in der Gegenwart) und S. 143/44 (der rationalistische Anfang der Diktatur im 18. Jahrhundert) einige Bemerkungen. Eine vollständige Darlegung dieser Entwicklungslinie fehlt noch. Doch sind einige entscheidende Momente der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts in meiner Abhandlung „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" (insbesondere in Kapitel I I I , Die Diktatur im Marxistischen Denken, 2. Auflage, 1926, S. 63 ff.) gezeigt, worauf ich hier mit einem Wort hinweisen möchte. Bonn, August 1927. C. S.

Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921) Zu erwähnen, daß nicht nur Bücher, sondern auch Redensarten ihr Schicksal haben, wäre eine Banalität, wenn man damit nur die im Laufe der Zeit sich abspielenden Veränderungen meinte, um durch eine nachträgliche Prognose oder ein geschichtsphilosophisches Horoskop zu zeigen, „wie es kam, daß es kam". Das ist aber nicht das Interesse dieser Arbeit, die sich vielmehr um systematische Zusammenhänge bemüht und deren Aufgabe gerade darum so schwierig ist, weil ein zentraler Begriff der Staats- und Verfassungslehre untersucht werden soll, der, wenn er überhaupt beachtet wurde, höchstens beiläufig an den Grenzen verschiedener Gebiete — politische Geschichte, Politik im Sinne Roschers, allgemeine Staatslehre — undeutlich erschien, im übrigen aber ein politisches Schlagwort blieb, so konfus, daß seine ungeheure Beliebtheit ebenso erklärlich ist wie die Abneigung der Rechtsgelehrten, sich darauf einzulassen. 1793 klagte ein Jakobiner: on parle sans cesse de dictature. Man hat heute noch nicht aufgehört, davon zu sprechen, und es wäre vielleicht eine unterhaltende Beschäftigung, eine vollständige Ubersicht über die verschiedenen konkreten und abstrakten Subjekte einer wirklichen oder geforderten Diktatur anzufertigen. Damit wäre jedoch für eine Erfassung des Begriffs der Diktatur noch nicht viel getan und höchstens die allgemeine Verwirrung noch einmal eindringlich zum Bewußtsein gebracht. Trotzdem kann, nachdem aus andern Zusammenhängen ein Begriff der Diktatur gewonnen ist, bereits hier gezeigt werden, welche für die Erkenntnis der Sache wesentlichen Momente im politischen Sprachgebrauch enthalten sind, wodurch in die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts eine vorläufige, nicht nur rein terminologische Orientierung gebracht und ein Hinweis auf den Zusammenhang mit weiteren Begriffen der allgemeinen Rechts- und Staatslehre möglich wird. In der bürgerlichen politischen Literatur, die den Begriff einer Diktatur des Proletariats bis zum Jahre 1917 zu ignorieren scheint, dürfte der politische Sinn des Wortes am besten dadurch gekennzeichnet werden, daß es zunächst die persönliche Herrschaft eines einzelnen bedeutet, aber notwendig verbunden mit zwei andern Vorstellungen, einmal, daß diese Herrschaft auf einer, gleichgültig wie, herbeigeführten oder unterstellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer Grundlage beruht, und zweitens der Dikta-

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Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

tor sich eines stark zentralisierten Regierungsapparates bedient, der zur Beherrschung und Verwaltung eines modernen Staates gehört. Napoleon I. ist für diese Auffassung der Prototyp des modernen Diktators. U m aus der unübersehbaren Menge politischer Schriften nicht eine beliebige Gelegenheitsäußerung herauszugreifen, sei die Ausdrucksweise von Bodleys Werk über Frankreich (London 1898) als Beispiel benutzt. Hier kommt das Wort (dictatorship) häufig vor, es hat sogar einen eigenen Platz im Sachregister, aber schon die Verweisungen des Registers sind merkwürdig: Diktatur = autoritatives Regiment = Caesarismus = Bonapartismus und sogar = Boulangismus. Gambetta strebte nach der „Diktatur", seine politische Tätigkeit war „potentieller Caesarismus" ( I I 409); Napoleon I. war militärischer Diktator (I 259). Aber auch jede starke Exekutive mit einem zentralisierten Regierungssystem und autokratischer Spitze heißt Diktatur (I 80), und schließlich genügt jedes persönliche Hervortreten eines Präsidenten, „persönliche Regierung" (personal rule) im allerweitesten Sinne, um als Diktatur zu gelten (I 297 f.). Es wäre dümmste Pedanterie, ein politisches Werk, das überdies reich an verständigen und treffenden Beobachtungen ist, auf eine Wendung festzulegen und noch gar mit einem Wort wie Diktatur, dem die allgemeine Etymologie, daß jeder, der irgendwie „diktiert", Diktator heißen kann, eine grenzenlose Ausdehnung gibt. In der Sache aber dringt die Verbindung von persönlicher Herrschaft, Demokratie und Zentralismus trotz der opportunistischen Terminologie überall durch, nur daß wegen der Betonung des zentralistischen Regierungsapparates das Moment persönlicher Herrschaft oft zurücktritt, weil es nur die aus technischen Gründen notwendig von selbst sich ergebende autokratische Spitze des zentralisierten Systems bedeutet. So erklärt sich die seltsame Reihe der „Diktatoren" des 19. Jahrhunderts: der erste und der dritte Napoleon, Bismarck, Thiers, Gambetta, Disraeli, sogar Pius IX. Für die deutsche politische Literatur ist die Schrift von Bruno Bauer, Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus (1882) ein lehrreiches Dokument dieser politischen Vorstellung. Ihr entspricht es auch, wenn zum Beispiel bei Ostrogorski der Parteiführer in einer modernen Demokratie, der den Caucus, die zentralisierte Parteimaschine, in der Hand hat, mit einer gewissen Prägnanz Diktator heißt oder in der politischen Literatur der Vereinigten Staaten von Nordamerika jede die Selbstständigkeit der Einzelstaaten beeinträchtigende Maßnahme der Bundesregierung von den Gegnern der Zentralisierung „diktatorisch" genannt wird. Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine Aufhebung der Demokratie auf demokratischer Grundlage für die Diktatur charakteristisch, so daß zwischen Diktatur und Caesarismus meistens kein Unterschied mehr besteht und eine wesentliche Bestimmung, näm-

Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

lieh das, was im Folgenden als der kommissarische Charakter der Diktatur entwickelt ist, entfällt. In der sozialistischen Literatur der „Diktatur des Proletariats" wird es dafür um so deutlicher, wenn auch nur in den weiten Dimensionen einer mit ganzen Staaten und Klassen operierenden Geschichtsphilosophie. Nach der Diskussion, die zur Zeit — im Sommer 1920 — unter Marxisten geführt wird, könnte es den Anschein haben, als wäre für sie Diktatur wesentlich Verneinung der parlamentarischen Demokratie, unter Verzicht auf die formale demokratische Grundlage. Wenn Kautsky, dessen Schrift Terrorismus und Kommunismus (1919) der Anknüpfungspunkt dieser Diskussion ist, eine Diktatur des Proletariats dadurch widerlegen will, daß er Diktatur als die notwendig persönliche Herrschaft eines einzelnen definiert und eine Kollektivdiktatur als Selbstwiderspruch ansieht, so ist das nur ein terminologisches Argument. Gerade für den Marxismus, für den kein einzelner, sondern eine Klasse der Träger alles wirklichen politischen Geschehens ist, war es nicht schwierig, das Proletariat als kollektive Gesamtheit zum eigentlich Handelnden zu machen und daher auch als Subjekt einer Diktatur zu betrachten. Der Inhalt seines diktatorischen Handelns kann freilich verschiedenartig aufgefaßt werden. Nach den Erörterungen über die Schrift Kautskys hat es den Anschein, als käme es auf die Beseitigung der Demokratie an, wie sie sich am stärksten in der Ablehnung oder Auflösung einer nach demokratischen Grundsätzen gewählten konstituierenden Nationalversammlung äußert. Aber daraus braucht noch nicht zu folgen, daß für marxistische Anhänger der Diktatur des Proletariats notwendig die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrbeit gemeint ist. In den Antworten, die Lenin, Trotzki und Radek bisher auf die Schrift von Kautsky gegeben haben, wird vielmehr kein Zweifel darüber gelassen, daß nicht etwa prinzipielle Gründe gegen die Benutzung demokratischer Formen bestehen, sondern daß diese Frage, wie jede andere, namentlich auch die von Legalität und Illegalität, nach den Verhältnissen des einzelnen Landes verschieden beantwortet werden muß und nur ein Moment in den strategischen und taktischen Maßnahmen des kommunistischen Planes ist. Je nach Lage der Sache kann es zweckmäßig sein, mit der einen oder andern Methode zu arbeiten, auf jeden Fall ist das Wesentliche der Ubergang zu dem kommunistischen Endziel, für dessen Herbeiführung die Diktatur des Proletariats ein technisches Mittel ist. Auch der Staat, in dem das Proletariat, sei es als Mehrheit oder als Minderheit, die herrschende Klasse ist, heißt als Ganzes, als „zentralisierte Maschine", als „Herrschaftsapparat", Diktatur. N u n will dieser proletarische Staat nichts Definitives, sondern ein Übergang sein. Dadurch erhält der wesentliche Umstand, der in der bürgerlichen Literatur zurückge-

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treten war, wiederum seine Bedeutung. Die Diktatur ist ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen; weil ihr Inhalt nur von dem Interesse an dem zu bewirkenden Erfolg, also immer nur nach Lage der Sache bestimmt ist, kann man sie nicht allgemein als die Aufhebung der Demokratie definieren. Andererseits läßt auch die kommunistische Argumentation erkennen, daß sie, weil sie der Idee nach ein Übergang ist, nur ausnahmsweise und unter dem Zwang der Verhältnisse eintreten soll. Auch das gehört zu ihrem Begriff, und es kommt darauf an, wovon eine Ausnahme gemacht wird. Wenn die Diktatur notwendig „Ausnahmezustand" ist, kann man durch eine Aufzählung dessen, was als das Normale vorgestellt wird, die verschiedenen Möglichkeiten ihres Begriffes aufzeigen: staatsrechtlich kann sie die Aufhebung des Rechtsstaates bedeuten, wobei Rechtsstaat wiederum Verschiedenes bezeichnen kann: eine Art der Ausübung staatlicher Macht, die Eingriffe in die Rechtssphäre der Bürger, persönliche Freiheit und Eigentum nur auf Grund eines Gesetzes zuläßt; oder eine verfassungsmäßige, auch über gesetzliche Eingriffe erhabene Garantie gewisser Freiheitsrechte, die durch die Diktatur verneint werden. Ist die Verfassung eines Staates demokratisch, so kann jede ausnahmsweise eintretende Aufhebung demokratischer Prinzipien, jede von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten unabhängige Ausübung staatlicher Herrschaft Diktatur heißen. Wird eine solche demokratische Herrschaftsausübung als allgemein gültiges politisches Ideal aufgestellt, so ist jeder Staat Diktatur, der diese demokratischen Grundsätze nicht beachtet. Wird das liberale Prinzip unveräußerlicher Menschen- und Freiheitsrechte als N o r m genommen, so muß eine Verletzung dieser Rechte auch dann als Diktatur erscheinen, wenn sie auf dem Willen der Mehrheit beruht. So kann Diktatur eine Ausnahme von demokratischen wie liberalen Prinzipien bedeuten, ohne daß beides zusammentreffen müßte. Was als N o r m zu gelten hat, kann positiv durch eine bestehende Verfassung oder aber durch ein politisches Ideal bestimmt sein. Daher heißt der Belagerungszustand Diktatur wegen der Aufhebung positiver Verfassungsbestimmungen, während von einem revolutionären Standpunkt aus die gesamte bestehende Ordnung als Diktatur bezeichnet und dadurch der Begriff aus dem Staatsrechtlichen ins Politische überführt werden kann. Wo nun, wie in der kommunistischen Literatur, nicht nur die bekämpfte politische Ordnung, sondern auch die erstrebte eigene politische Herrschaft Diktatur heißt, tritt eine weitere Veränderung im Wesen des Begriffes ein. Der eigene Staat heißt in seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu bewirkenden Überganges zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine Rechtfertigung aber in einer N o r m liegt, die nicht mehr bloß politisch oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, son-

Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

dern geschichtsphilosophisch. Dadurch ist die Diktatur — weil sie als Ausnahme in funktioneller Abhängigkeit von dem bleibt, was sie negiert — ebenfalls eine geschichtsphilosophische Kategorie geworden. Die Entwicklung zum kommunistischen Endzustand muß nach der ökonomischen Geschichtsauffassung des Marxismus „organisch" (im Hegeischen Sinne) vor sich gehen, die wirtschaftlichen Verhältnisse müssen reif sein für die Umwälzung, die Entwicklung ist (ebenfalls im Hegeischen Sinne) „immanent", die Zustände können nicht gewaltsam reif „gemacht" werden, ein künstliches, mechanisches Eingreifen in diese organische Entwicklung wäre für jeden Marxisten sinnlos. Aber die bolschewistische Argumentation sieht in der Tätigkeit der Bourgeoisie, die sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, ihren entwicklungsgeschichtlich längst erledigten Platz zu räumen, ein äußerliches Eingreifen in die immanente Entwicklung, ein mechanisches Hindernis, durch das der organischen Entwicklung der Weg verbaut wird und das mit ebenso mechanischen und äußerlichen Mitteln beseitigt werden muß. Das ist der Sinn der Diktatur des Proletariats, die eine Ausnahme von den Normen der organischen Entwicklung und deren Kernfrage ebenso rein geschichtsphilosophisch ist wie die Argumentation, mit der sie sich rechtfertigt. In den letzten Schriften, Lenins über den Radikalismus (1920) und Trotzkis Anti-Kautsky (1920), wird das noch deutlicher als sonst: die Bourgeoisie ist eine „durch die Geschichte dem Untergang geweihte Klasse", das Proletariat hat, weil es die „historisch aufsteigende Klasse" ist, ein Recht zu jeder Gewaltanwendung, die ihm gegenüber der historisch absteigenden Klasse im Interesse der geschichtlichen Entwicklung zweckmäßig erscheint. Wer auf der Seite der kommenden Dinge steht, darf das, was fällt, auch noch stoßen. Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer N o r m enthält, besagt nicht zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffes liegt darin, daß gerade die N o r m negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. Zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden N o r m und der Methode ihrer Verwirklichung kann also ein Gegensatz bestehen. Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus. Einen konkreten Erfolg bewirken, bedeutet aber, in den kausalen Ablauf des Geschehens eingreifen mit Mitteln, deren Richtigkeit in ihrer Zweckmäßigkeit liegt und ausschließlich von den tatsächli-

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Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

chen Zusammenhängen dieses Kausalverlaufs abhängig ist. Gerade aus dem, was sie rechtfertigen soll, wird die Diktatur zu einer Aufhebung des Rechtszustandes überhaupt, denn sie bedeutet die Herrschaft eines ausschließlich an der Bewirkung eines konkreten Erfolges interessierten Verfahrens, die Beseitigung der dem Recht wesentlichen Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen eines Rechtssubjekts, wenn dieser Wille dem Erfolg hinderlich im Wege steht; demnach die Entfesselung des Zweckes vom Recht. Allerdings, wer im Kern alles Rechts selbst wieder nur einen solchen Zweck sieht, ist gar nicht imstande, einen Begriff der Diktatur zu finden, weil für ihn jede Rechtsordnung nur latente oder intermittierende Diktatur ist. Jhering äußert sich folgendermaßen (Zweck im Recht I I 3 251): das Recht ist Mittel zum Zweck, zum Bestehen der Gesellschaft; zeigt sich das Recht nicht imstande, die Gesellschaft zu retten, so greift die Gewalt ein und tut, was geboten ist, das ist dann die „rettende Tat der Staatsgewalt" und der Punkt, wo das Recht in die Politik und die Geschichte mündet. Genauer gesprochen wäre es aber der Punkt, an dem das Recht seine wahre Natur offenbart und die vielleicht selbst wieder aus Zweckmäßigkeitsgründen gebilligten Abschwächungen seines reinen Zweckcharakters aufhören. Krieg gegen den äußern Feind und Unterdrükkung eines Aufruhrs im Innern wären nicht Ausnahmezustände, sondern der ideale Normalfall, in dem Recht und Staat ihre innere Zweckhaftigkeit mit unmittelbarer Kraft entfalten. Die Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, daß sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen, hat also wohl inhaltliche Bedeutung, ist aber noch keine formale Ableitung und daher keine Rechtfertigung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche oder vorgebliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begründen, und die Herbeiführung eines den Prinzipien normativer Richtigkeit entsprechenden Zustandes verleiht noch keine rechtliche Autorität. Das formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d. h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt im Vergleich zu dem andern Fall einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung, ungeheuerlich ist. Abstrakt gesprochen, wäre das Problem der Diktatur das in der allgemeinen Rechtslehre bisher noch wenig systematisch behandelte Problem der konkreten Ausnahme. Darauf ist in dieser Arbeit nicht eingegangen, aber für die Erkenntnis der Diktatur war es notwendig, zu untersuchen, von welcher höchsten Autorität, die allein solche Ausnahmen gewähren kann, die bisherigen Konstruktionen der Diktatur ausgehen. Denn eine weitere Eigenart der Diktatur liegt in Folgendem: weil alles berechtigt wird, was, unter dem Gesichtspunkt des konkret zu erreichenden Erfolges betrachtet, er-

Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

forderlich ist, bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung unbedingt und ausschließlich nach Lage der Sache; daraus entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen und Ermächtigung, Kommission und Autorität. Bei einer solchen Identität ist jeder Diktator notwendig in einem besondern Sinne Kommissar. Der Geschichte dieses wichtigen Begriffes nachzugehen, ließ sich bei einer nähern Untersuchung nicht vermeiden. Daraus entstand die Gliederung der vorliegenden Arbeit, bei der jedesmal der theoretischen, der allgemeinen Staats- und Verfassungslehre angehörenden Erörterung eine geschichtliche Betrachtung der unmittelbaren, kommissarischen Ausübung staatlicher Autorität folgt. Im Mittelpunkt steht dann die (im IV. Kapitel begründete) wesentliche Unterscheidung, die das Ergebnis der Arbeit enthält, indem sie eine erste Schwierigkeit zu lösen und den Begriff der Diktatur einer rechtswissenschaftlichen Erörterung überhaupt erst zugänglich zu machen sucht: die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur. Sie konstruiert den Ubergang von der früheren „Reformations-" zur Revolutions-Diktatur theoretisch auf der Grundlage des pouvoir constituant des Volkes. I m 18. Jahrhundert erscheint zum ersten Male in der Geschichte des christlichen Abendlandes ein Begriff der Diktatur, nach welchem der Diktator zwar Kommissar bleibt, aber infolge der Eigenart der nicht konstituierten, aber konstituierenden Gewalt des Volkes ein unmittelbarer Volkskommissar, ein Diktator, der auch seinem Auftraggeber diktiert, ohne aufzuhören, sich an ihm zu legitimieren. Die weitere, in das 19. Jahrhundert fortgehende ideengeschichtliche Entwicklung konnte nur in einer längeren Anmerkung (S. 143) angedeutet werden. Seit dem Jahre 1848 trennt sich, wenigstens in Deutschland die allgemeine Staatslehre allmählich völlig vom positiven Staatsrecht und laufen außerdem mehrere Ideengänge selbständig nebeneinander her, so daß dieser Teil der Arbeit einer getrennten Darstellung vorbehalten bleibt. Politisch gesprochen durch den Klassenbegriff, verfassungs- und staatsrechtlich durch die moderne Koalitionsfreiheit, hat der aus früheren Jahrhunderten überlieferte Begriff der Souveränität sich wesentlich verändert und der heute noch herrschende, allen andern Subjekten der Souveränität entgegengehaltene Begriff einer „Staats"-Souveränität ist vielfach nur die Umschreibung einer tergiversatio vor dem eigentlichen Problem. Die Schwierigkeit der Arbeit lag daher einmal in dem Problem selbst, dann aber auch in dem geschichtlichen, rechtswissenschaftlichen und philosophischen Material, durch das die Untersuchung einen wenig geebneten Weg nehmen mußte. Das Material ist freilich nicht ganz so veraltet als vielleicht auf den ersten Blick erscheinen könnte. Die mit Bodin beginnende, im I. Kapitel der Arbeit dargestellte Kontroverse z. B., ob der Diktator souverän ist,

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Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)

wird von einem Rechtsgelehrten wie James Bryce wenigstens noch erwähnt. Aber auch abgesehen davon ist das Material nicht als Selbstzweck gesammelt, sondern um an ihm die Entwicklung eines systematisch wesentlichen Begriffes zu zeigen. Es darf daher noch bemerkt werden, daß das Interesse dieser Arbeit sich nicht erst an den gegenwärtigen Diskussionen über Diktatur, Gewalt oder Terror entzündet hat. Der Rechtswert der Entscheidung als solcher, unabhängig von ihrem materiellen Gerechtigkeitsinhalt, ist bereits 1912 in der Abhandlung „Gesetz und Urteil" zur Grundlage einer Untersuchung der Rechtspraxis gemacht worden; dabei wurde besonders auf Bentham hingewiesen, dessen Lehre von der Rechtsbestimmtheit durch Austins Souveränitätsbegriff unmittelbar für die Staatslehre wichtig geworden ist, der aber gerade hier an Hobbes einen unerwarteten Vorläufer und an de Maistre eine noch weniger wahrscheinliche Unterstützung hat. Die Weiterführung dieses Gedankens ergab den Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm, der in prinzipiellem Zusammenhang in der Abhandlung über den Wert des Staates (1914) untersucht ist, von der ich nur bedaure, daß ich bei ihrer Abfassung H. Krabbes Lehre von der Rechtssouveränität noch nicht kannte. Die Abhandlung ist nach entgegengesetzten Seiten mißverständlich beurteilt worden: ein Gelehrter von der Bedeutung Weyrs identifizierte ihren Rechtsbegriff ohne weiteres mit der nach meiner Meinung eine contradictio in adjecto in sich bergenden positivistischen „Form" Kelsens, für den das Problem der Diktatur sowenig ein rechtliches Problem sein kann wie eine Gehirnoperation ein logisches Problem, entsprechend seinem relativistischen Formalismus, der verkennt, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelt, nämlich darum, daß die Autorität des Staates von seinem Wert nicht getrennt werden kann; L. Waldecker dagegen sah in der Abhandlung nur „Naturrecht alten Angedenkens", womit sie (wenigstens damals noch, im Jahre 1916) erledigt war. Daher lag es nahe, den kritischen Begriff der Rechtsverwirklichung, also die Diktatur, gesondert zu betrachten und durch eine Darstellung ihrer Entwicklung in der modernen Staatslehre zu zeigen, daß es unmöglich ist, sie, wie bisher, nur gelegentlich einzelner Verfassungskämpfe ad hoc zu behandeln und im übrigen prinzipiell zu ignorieren. Die Darstellung konnte bis zu dem vorliegenden, abgeschlossenen Teil geführt werden, freilich unter den ungünstigsten äußern Bedingungen, in einer Zeit cum desertis Aganippes Vallibus esuriens migraret in atria Clio.

Inhalt I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

1—41 1—25

Die überlieferte Vorstellung der römisch rechtlichen Diktatur 1—6. Machiavellis Begriff der Diktatur 6—7. „Technizität" als Merkmal seiner Staatsauffassung 7— 10. Rationalismus, Technizität und Exekutive als Merkmale des entstehenden modernen Staates 10—13. Die Literatur der Staats-Arcana als Ausdruck einer solchen Staatsauffassung 13—16. Diktatur und Ausnahmezustand in der Arcana-Literatur 16—19. Die rechtsstaatliche Argumentation der Monarchomachen in den Vindiciae des Junius Brutus 19—21. Die zwei Arten des modernen Naturrechts: Gerechtigkeits- und (natur-)wissenschaltliches Naturrecht in ihrem Gegensatz von Interesse an dem Inhalt der Entscheidung und der Erkenntnis des in der Entscheidung als solcher liegenden Wertes, insbesondere bei Hobbes und Pufendorf 21—24. Locke als Vertreter der ständischen Gerechtigkeitsauffassung 24—25. b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

25—41

Der Souveränitätsbegriff bei Bodin und die mit ihm entstehende Kontroverse über Diktatur und Souveränität bei Bodin, Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius und Wolff 25—32. Bodins Definition des Diktators als eines Kommissars und seine Definition des Kommissars 32—36. Untersuchung dieser Definition; der Diktator als Aktionskommissar 37—39. Die Diktatur bei A. Sidney und Locke 39—41. II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert Die päpstliche plenitudo potestatis, ihre Ausübung durch Kommissare und ihre Bekämpfung durch die konziliare Theorie der intermediären Gewaltausübung 42—45. Der Kommissar als judex delegatus und als persönlicher Repräsentant (vices gerens) 45—47. Kommissare weltlicher Fürsten, ihre verschiedenartigen Aufgaben und Befugnisse 47—49. Regierungs- und Heereskommissare im Kirchenstaat des 15. Jahrhunderts 49—55. Kommissare als Werkzeug des fürstlichen Absolutismus zur Beseitigung der ständischen Rechte: a) der Exekutionskommissar: die Exekution als Krieg 57; die Exekution im Deutschen Reich und die Bedeutung der kaiserlichen Kommissare gegenüber dem militärischen Befehlshaber 58—62; die Exekution gegen die böhmischen Rebellen durch Her-

42—77

XXII

Inhalt zog Maximilian von Bayern als Exekutionskommissar 63—65. b) Die Entwicklung des Heereskommissars in Deutschland zum ordentlichen Beamten 66—72; die typische Bedeutung der Entwicklung in Preußen 73—74. c) Der Reformationskommissar als Aktionskommissar, dargelegt an dem Beispiel einer Reformationskommission in Steiermark 74—77

Exkurs über Wallenstein als Diktator I I I . Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts

77—94

95—126

Die Intendanten des Königs von Frankreich als Kommissare der zentralistischen Regierung und ihr Gegensatz zu den intermediären Gewalten 95—100. Die Verbindung der Theorie von den intermediären Gewalten mit der Lehre von der sog. Teilung, richtig der Balancierung der Gewalten bei Montesquieu 102—105. Die ausnahmslose Geltung des generellen Gesetzes als Mittel der politischen Freiheit wie des Despotismus 105—107. Der despotisme légal als Diktatur der aufgeklärten Vernunft: Voltaire, die Physiokraten, insbesondere Le Mercier de la Rivière 107—110. Die Konstruktion des Königtums als erblicher Diktatur bei Cérutti 110. Die Aufhebung der absolutistischen Argumentation von der natürlichen Bosheit des Menschen bei Morelly und Mably 110—112. Die Diktatur bei Mably als Reformationsdiktatur und theoretische Vorwegnahme der jakobinischen Diktatur 112—114. Die Diktatur bei Rousseau im Zusammenhang des Contrat social und die Ersetzung des Vertragsgedankens durch den modernen Begriff des Kommissars 114—117; die volonté générale und die Dialektik des Terrors 117—122; législateur und dictateur im Contrat social und ihre Bedeutung für den Begriff der souveränen Diktatur 122—126. I V . Der Begriff der souveränen Diktatur Der moderne Begriff der konstituierenden Gewalt des Volkes war nicht die theoretische Grundlage der Herrschaft Cromwells 127— 131. Die souveräne Diktatur als Aktionskommission, ihre Unterscheidung von der absoluten Monarchie und vom Polizeistaat auf der einen, von der kommissarischen Diktatur auf der andern Seite 131—134. Der Begriff des pouvoir constituant des Volkes als Voraussetzung der theoretischen Möglichkeit der souveränen Diktatur 134—137. Das Wesen des pouvoir constituant 137—140. Die Kommissare des pouvoir constituant (Volkskommissare) im Gegensatz zu den Kommissaren eines pouvoir constitué 140—142. Die souveräne Diktatur als revolutionäre Aktionskommission eines pouvoir constituant 142—144. Die souveräne Diktatur des Nationalkonvents von 1793-1795, 144—149.

127—149

Inhalt V. Die Praxis der Volkskommissare während der französischen Revolution

XXIII

150—167

Kommissare der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1789-1791, 150—154; der gesetzgebenden Versammlung von 1791 -1792, 154—156. Aufgaben und Befugnisse der Kommissare des Nationalkonvents bis zur Errichtung des Comité de salut public 156—160. Die weitere Entwicklung zur unbedingten A k tionskommission 160—164. Der Ubergang zu geregelten Zuständigkeiten 164—165. Außerordentliche Kommissare Napoleons I. und der königlichen Regierung 1814 und 1815, 165—167. V I . Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand)

168—202

Der Kern des Martial law: eine Aufhebung des Rechtszustandes im Interesse einer wirksamen Aktion 168—171. Rechtliche Form und „zusammengesetzte Amtshandlung" 171—176. Die loi martiale von 1789, 176—179. Der état de siège in dem Gesetz von 1791, 179—184. Die Suspension der Verfassung 184—185. Der état de siège nach dem Dekret von 1811,185—187; in der Verfassung von 1815,187—189; während der Restauration 189—192 und während des Bürgerkönigtums 192—194. Die souveräne Diktatur der Nationalversammlung von 1848, 19A—197. Der Artikel 48 der deutschen Verfassung von 1919, 197—202. Namen- und Sachregister

203—209

Anhang

211—257

I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie Für die humanistischen Schriftsteller der Renaissance war die Diktatur ein Begriff, den sie in der römischen Geschichte und bei ihren klassischen Autoren vorfanden. Die großen Philologen und Kenner des römischen Altertums stellten aus Cicero, Livius, Tacitus, Plutarch, Dionysius von Halicarnass, Sueton usw. die verschiedenen Äußerungen zusammen und interessierten sich für das Institut als eine Angelegenheit der Altertumskunde, ohne einen Begriff von allgemeiner staatsrechtlicher Bedeutung zu suchen1. Dadurch begründeten sie eine Überlieferung, die bis ins 19. Jahrhundert hinein ziemlich gleichgeblieben ist: die Diktatur ist eine weise Erfindung der römischen Republik, der Diktator ein außerordentlicher römischer Magistrat, der nach der Vertreibung der Könige eingeführt wurde, damit in Zeiten der Gefahr ein starkes Imperium vorhanden war, das nicht, wie die Amtsgewalt der Konsuln, durch die Kollegialität, durch das Einspruchsrecht der Volkstribunen und die Provokation an das Volk beeinträchtigt war. Der Diktator, der auf Ersuchen des Senats vom Konsul ernannt wird, hat die Aufgabe, die gefährliche Lage, die der Grund seiner Ernennung ist, zu beseitigen, nämlich entweder Krieg zu führen (dictatura rei gerendae) oder einen Aufruhr im Innern niederzuschlagen (dictatura seditionis sedandae); später wurde er auch für besondere Einzelheiten bestellt, wie die Abhaltung einer Volksversammlung (comitiorum habendorum), Einschlagen eines Nagels, das aus religiösen Gründen vom praetor maximus vorgenommen werden mußte (clavi figendi), Leitung einer Untersuchung, Feststellung der Feiertage usw. Der Diktator wird für 6 Monate ernannt, legt aber, wenigstens nach dem löblichen Brauch der alten republikanischen Zeit, seine Würde schon vor Ablauf dieser Frist nieder, wenn er seinen Auftrag voll1 H i e r k o m m e n v o r allem die zahlreichen auch für die politische Literat u r w i c h t i g e n Schriften v o n Justus Lipsius i n Betracht. Arumaeus (Discursus academici de jure p u b l i c o t. V 1623 seqq.) zitiert d u r c h w e g Lipsius, Zasius u n d Rosin, Besold außerdem Forster, Keckermann, Boulenger u. a. Gute Zusammenstellungen aus der römischen A l t e r t u m s k u n d e bei Barnabae Brissonii de formulis et solemnibus p o p u l i R o m a n i verbis, l i b r i V I I I , Frankfurt 1592, 1. I I , p . 2 5 7 / 8 .

1 C. Schmitt, Die Diktatur

2

I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

zogen hat. Er ist an Gesetze nicht gebunden und eine Art König mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod. Ob durch die Ernennung des Diktators die Amtsgewalt der übrigen Magistrate erlischt, wird verschieden beantwortet. Gewöhnlich sah man in der Diktatur ein politisches Mittel, durch das die patrizische Aristokratie ihre Herrschaft gegenüber den demokratischen Ansprüchen der Plebejer zu schützen suchte. Eine historische Kritik der überlieferten Nachrichten fehlte natürlich 2 . Die spätem Diktaturen Sullas 2 Folgende unter B e n u t z u n g der neuesten L i t e r a t u r zusammengestellte D a t e n mögen z u r summarischen Ubersicht dienen, da sie z u m T e i l auch für die weiteren A u s f ü h r u n g e n v o n Interesse sind: 1. die republikanische D i k t a t u r der älteren Zeit (erste D i k t a t u r nach L i vius I I 18 u n k l a r entweder M . Valerius 505 v. C h r . oder T . Larcius 501; diesen erwähnt auch Cicero de republica I I 56; er w i r d g e w ö h n l i c h als erster D i k t a t o r genannt). N a c h den v o n den Annalisten überlieferten Fällen hat es den Anschein, als sei die D i k t a t u r i n erster L i n i e ein innerpolitisches M i t t e l i m K a m p f gegen die Plebejer gewesen. So w i r d sie g e w ö h n l i c h auch i n der politischen Literatur des 17. u n d 18. Jahrhunderts aufgefaßt. Es ist aber nach den neueren Untersuchungen wahrscheinlich, daß die älteren Fälle der D i k t a t u r z u r Niederschlagung eines A u f r u h r s (seditionis sedandae) unecht sind; insbesondere ist die D i k t a t u r bei der ersten secessio plebis 494 v. C h r . sicher unhistorisch. N a c h der K r i t i k der einzelnen Fälle bei Fr. Bändel, D i e römischen D i k t a t u r e n , Breslauer Diss. 1910, bleibt w o h l für die ersten 150 Jahre der R e p u b l i k k a u m ein zweifellos echter Fall einer D i k t a t u r zur N i e derschlagung eines A u f r u h r s ü b r i g u n d sind die ersten D i k t a t o r e n n u r Oberbefehlshaber für den Kriegsfall. Ü b e r den U r s p r u n g der D i k t a t u r i n den italischen Volksrechten vgl. A r t h u r Rosenberg, D e r Staat der alten Italiker, Berlin 1913. N a c h W . Soltau, D e r U r s p r u n g der D i k t a tur, Hermes, Zeitschrift f. klassische Philologie, Bd. 49 (Berlin 1914, S. 352 ff.) gab es v o r der D i k t a t u r des Hortensius, 272 v. Chr., keinen dictator seditionis sedandae causa u n d w a r der D i k t a t o r der alten Repub l i k der Bundesfeldherr, der an der Spitze des Bundesheeres ins Feld rückte, w e n n dieses (das n o m e n latinum) i m N o t f a l l aufgeboten wurde. E r w a r der für kurze Zeit m i t dem k ö n i g l i c h e n I m p e r i u m ausgestattete militärische Oberbeamte, der sonst keine B e a m t e n f u n k t i o n hatte. D a r aus erklärt sich auch die Beschränkung der Amtsdauer auf 6 M o n a t e , die Dauer des Sommerfeldzuges. D i e ältere D i k t a t u r w u r d e i m Laufe der Zeit aus verschiedenen G r ü n den unpraktisch (nicht d u r c h Gesetz abgeschafft), nämlich einmal dadurch, daß die ursprünglich unbedingte Gewalt des D i k t a t o r s dem I n tercessionsrecht der V o l k s t r i b u n e n u n d der P r o v o k a t i o n an das V o l k u n t e r w o r f e n w i r d ( u m 300 v. Chr.), ferner deshalb, w e i l die Beschränk u n g der Amtsdauer auf 6 M o n a t e den veränderten militärischen Verhältnissen nicht mehr entsprach, als Kriege außerhalb Italiens geführt w u r d e n . W ä h r e n d des zweiten Punischen Krieges ist allerdings aus besonderen G r ü n d e n 217 u n d 216 n o c h ein D i k t a t o r ernannt w o r d e n , nicht dagegen, t r o t z größter Gefahr, i m Jahre 211, w e i l damals beide

a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

3

und Caesars wurden meistens mit der Diktatur der ältern Zeit als etwas zwar politisch Verschiedenes (in effectu tyrannis, wie Besold sagt), aber staatsrechtlich Gleiches zusammengenommen. Gerade diese auffällige Verschiedenheit der ältern republikanischen und der spätem sullanischen und caesarischen Diktatur hätte eine nähere Bestimmung innerhalb des Begriffes der Diktatur nahelegen können. Der Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur, der im folgenden als die grundlegende Entscheidung entwickelt werden soll, ist hier bereits in der politischen Entwicklung selbst angedeutet und liegt eigentlich in der Natur der Sache. Aber weil die geschichtliche Beurteilung immer abhängig ist von den Erfahrungen der eigenen Gegenwart 3 , so wandte sich das Interesse K o n s u l n i n der Stadt waren. V o n 2 0 2 - 8 2 (Sulla) k o m m t k e i n Fall v o n D i k t a t u r mehr vor. 2. D i e d u r c h das Senatus C o n s u l t u m u l t i m u m herbeigeführte „ Q u a s i d i k t a t u r " (Plaumann, K l i o 1913, S. 321 ff.) ist ein Ersatz für die unbrauchbar gewordene ältere D i k t a t u r . Sie ist als ein M i t t e l i m K a m p f gegen den innerpolitischen Gegner (von früheren A n d e u t u n g e n abgesehen) zuerst 133 während der U n r u h e n des Tiberius Gracchus aufgetreten u n d k o m m t bis z u m Jahre 40 vor. Sie beruht darauf, daß der Senat d u r c h einen Beschluß m i t der Formel: videant consules ne q u i d res publica detrimenti capiat den K o n s u l n die Aufgabe, für die Sicherheit des Staates einzutreten (rem p u b l i c a m commendare, rem p u b l i c a m defendere), überläßt. Darauf hielten sich die K o n s u l n für befugt, ohne Rücksicht auf rechtliche Schranken gegen römische Bürger, die Gegner der bestehenden O r d n u n g waren, vorzugehen. N a c h M o m m s e n (Staatsrecht I I I 1242) fällt das SC. u l t i m u m m i t der hostis-Erklärung zusammen, d. h. der innerpolitische Gegner w i r d außerhalb des Gesetzes erklärt u n d wie ein Feind i m Kriege behandelt. ( Ü b e r diese K o n s t r u k t i o n vgl. die A u s führungen unten, Kap. V I ) . N a c h Plaumann (S. 344) sind SC. u l t i m u m u n d hostis-Erklärung z w e i getrennte A k t e . 3. I m Jahre 82 v. C h r . w i r d Sulla auf G r u n d eines besondern Gesetzes für unbestimmte Zeit z u m D i k t a t o r reipublicae constituendae ernannt; 46 Caesar zunächst für ein Jahr z u m D i k t a t o r , die Amtsdauer w i r d später verlängert, schließlich auf Lebenszeit ausgedehnt. Diese D i k t a turen sind ebenso w i e das T r i u m v i r a t einer P r o v o k a t i o n nicht unterw o r f e n u n d an die bestehenden Gesetze nicht gebunden. Sie haben v o n der alten D i k t a t u r n u r den N a m e n übernommen. 3 Bei M o m m s e n s o w o h l w i e bei Eduard M e y e r (Caesars M o n a r c h i e u n d das Principat des Pompejus, 2. A u f l . , Stuttgart 1919) ist die A b h ä n g i g k e i t der historischen Darstellung v o n politischen Erfahrungen der eigenen Z e i t ohne weiteres deutlich. Eine Aktualisierung, w i e sie i m 17. Jahrhundert beliebt waren, hat neuerdings, auf Eduard M e y e r sich stützend, Paul L e u t wein, D e r D i k t a t o r Sulla, Berlin 1920, u n t e r n o m m e n . H i e r interessiert bei M o m m s e n , daß er die Unterscheidung der republikanischen v o n der caesarischen D i k t a t u r durchgesetzt hat (Staatsrecht I I 685, dazu die N o t i z H a verfield, T h e a b o l i t i o n of dictatorship. The Classical Review, I I I , L o n d o n 1*

4

I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

des 16. und 17. Jahrhunderts weniger auf die Entwicklung von der Demokratie zum Caesarismus. Denn das absolute Fürstentum, das sich damals einrichtete, sah nicht in der irgendwie herbeigeführten Zustimmung des Volkes seine Rechtsgrundlage, sondern war von Gottes Gnaden und setzte sich gegen die Stände, d. h. für die damalige Auffassung gegen das Volk durch. Die sprachliche Bedeutung des Wortes Diktatur, die zu seiner Ausdehnung auf alle diejenigen Fälle führt, in denen man sagen kann, daß eine Anordnung „diktiert" wird, und die heute zweifellos zu der Verbreitung des Wortes beiträgt (dictator est qui dictât 4 ), zeigt sich damals noch nicht 5 . Wo in Deutschland das römisch-rechtliche Institut mit 1889, S. 77, u n d Liebenam a. a. O . S. 388). A d o l f Nissen bringt die T r e n n u n g v o n M i l i t ä r - u n d Zivilgewalt i n einem durchaus modernen Sinne i n das römische Staatsrecht herein u n d sucht die lex curiata daraus zu erklären (Beiträge z u m römischen Staatsrecht, Straßburg 1885). Gegen diese M o d e r n i s i e r u n g O t t o Seeck, D . L i t . Ztg. 1887, Sp. 1 3 5 / 3 6 m i t der Begründung, daß eine solche T r e n n u n g den Rechtsanschauungen der R ö m e r ganz fremd gewesen sei. Interessant ist Nissens Bemerkung zu W i l l e m s , Le sénat R o m a i n I I 257, der es als ein étrange système bezeichnet, daß der Senat den D i k t a t o r nicht selbst ernennen durfte. „ I c h glaube n i c h t " , sagt Nissen (S. 64. A n m . 2), „daß es befremdender als die konstitutionelle Monarchie ist". — I n dem Aufsatz v o n Soltau aus dem Jahre 1914 (dessen sachliche Bedeutung u n d Berechtigung d u r c h eine solche Feststellung nat ü r l i c h nicht beeinträchtigt w i r d ) erscheint der römische D i k t a t o r an der Spitze des Bundesheeres beinahe w i e der oberste Kriegsherr des Deutschen Reiches nach der Verfassung v o n 1871. I m 17. Jahrhundert aufgestellte Parallelen sind u n t e n i m T e x t erwähnt. 4 U b e r die A b l e i t u n g des Wortes dictator v o n dicere, dictare i m Sinne v o n befehlen (edictum) vgl. Schwegler, Römische Geschichte I I 122 A n m . 1, Becker, H a n d b u c h der römischen A l t e r t ü m e r I I 2, S. 150. N a c h M o m m s e n (Staatsrecht I I 144) hat dictare niemals die Bedeutung v o n regere angenommen. Cato gebrauchte das W o r t allgemein für Oberanführer, was nach M o m m s e n bedeutet, daß der D i k t a t o r keinen Kollegen zur Seite hatte. D i e Griechen (Polybius, D i o n y s i u s , D i o d o r , Plutarch) übersetzen αντοκράτωρ, στρ ατηγός αντοκρ άτωρ oder lassen δικτάτωρ stehen. D a r über Liebenam a. a. O . Sp. 374. 5

D e r G r u n d hierfür liegt z u m T e i l vielleicht darin, daß das W o r t D i k tator bereits eine bestimmte Bedeutung für den damaligen Sprachgebrauch hatte. D e r D i k t a t o r war ein Kanzleibeamter. D i e Bezeichnung des ber ü h m t e n dictatus papae Gregors V I I . ζ. B. (Jaffé, Reg. Greg. L . I I ep. 55 a) beruht auf diesem Kanzleisprachgebrauch; auf dem D o k u m e n t ist am Rand vermerkt: Dictatus papae, d. h. v o m Papst d i k t i e r t . Das M i t g l i e d der Kanzlei, dem die Abfassung der Schreiben übertragen war, hieß D i k t a t o r . I m Staatsrecht des römischen Reiches deutscher N a t i o n w u r d e das W o r t D i k t a t u r für einen V o r g a n g beim Reichstag üblich, nämlich für die V e r sammlung der Legationssekretäre u n d Kanzlisten, denen der Sekretär des Kurfürsten v o n M a i n z v o n einem erhöhten Sitz aus die Denkschriften, Proteste usw., die der Reichsregierung vorgelegt w u r d e n , diktierte, „per

a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

5

staatlichen und politischen Verhältnissen des 16. Jahrhunderts verglichen wird, handelt es sich — im Gegensatz zu den Erörterungen, welche die Rechtsstellung des deutschen Königs mit der des römischen Kaisers vergleichen, oder zu einigen Argumentationen des kanonischen Rechtes6 — nicht um eine Verwertung römischer Einrichtungen für eine rechtswissenschaftliche Begriffsbildung, sondern zunächst nur um eine Umdeutung, die in ihrer Naivität an die biblischen und mythologischen Bilder erinnert, auf denen Ereignisse der Vergangenheit im Kostüm der Gegenwart erscheinen, deren historische Deutung aber trotzdem auch sachliches Interesse hat. So nennt die Straßburger Liviusübertragung von 1507 die Konsuln Bürgermeister, den Senat gelegentlich „Rat", den Diktator, wenn das Wort überhaupt übersetzt wird, einen „obristen gewaltigen", der „die Hauptmannschaft des Krieges" hat 7 . Sebastian Franck hebt in seiner Chronika am Diktator als wesentlich hervor, daß er in größter N o t erwählt wurde, die „höchste Gewalt" hatte mit dem Tod zu strafen, ohne daß von seinem Urteil appelliert werden konnte, und der „oberste deß Regiments zu Rom" war, dessen „gewalt und macht vor der Wirdigkeit des Rathsherrlichen Pfleg" ging 8 . Bei den politischen und staatsrechtlichen Schriftstellern dieses Jahrhunderts sind aber schon Parallelen zwischen der römischen Diktatur und den Einrichtungen anderer Staaten gezogen, die einen mehr oder weniger bewußten Versuch enthalten, das Institut als einen Begriff der allgemeinen Staatslehre zu entwickeln. Das gilt an erster Stelle von Machiavelli, der hier zu erwähnen ist, obwohl mit Recht von ihm gesagt wird, daß er niemals eine Staatstheorie aufgestellt habe9. dictaturam publicam c o m m u n i c i r t e " , weshalb z. B. die Kommissions- u n d andere Dekrete am K o p f gewöhnlich den V e r m e r k tragen: „ d i c t a t u m . . . per M o g u n t i n u m " . 6 Z . B. dem Vergleich des päpstlichen legatus cardinalis m i t dem r ö m i schen proconsul i m Speculum juris D u r a n d i (Frankfurter Ausgabe 1592) de legato § 3 N r . 37; vgl. unten Kap. I I . 7 Römische H i s t o r y auß T . L i v i o gezogen v o n Schöfferlin, 1507, pag. X L I I . N o c h Scheffner übersetzt i n seiner deutschen Ausgabe v o n M a chiavellis Discorsi ( D a n z i g 1776) K o n s u l m i t Bürgermeister, T r i b u n m i t Zunftmeister u n d läßt D i k t a t o r unübersetzt. 8 C h r o n i k a , i n der Ausgabe v o n 1565, p. L X X I V , L X X X I X ; i n der A u s gabe v o n 1585 p. C L X X V . I c h zitiere Franck nicht wegen seiner p o l i t i schen Bedeutung (darüber H e r m a n n O n c k e n , Historisch-politische A u f sätze u n d Reden, I. Bd. M ü n c h e n / Berlin 1914, S. 273 ff.), sondern als ein Beispiel dafür, m i t welchen staatsrechtlichen u n d politischen Vorstellungen sich das W o r t D i k t a t u r i n Deutschland während des 16. Jahrhunderts verband. 9

F. Pollock, Spinoza et le Machiavellisme, Revue p o l i t i q u e internationale, Lausanne 1919, p. 1.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

In den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1532, fünf Jahre nach dem Tode Machiavellis erschienen) lag es nahe, die Diktatur im allgemeinen zu erörtern, weil die Livianische Geschichte, die in den Discorsi glossiert wird, zahlreiche Fälle der Diktatur aus den ersten Jahrhunderten der Republik erwähnt. Man hat Machiavelli öfters alle Originalität abgesprochen und seine Schriften als einen Abklatsch antiker Vorbilder, als „Lesefrüchte" aus Aristoteles und Polybius oder als „humanistische Dissertationen" bezeichnet 10 . Doch beweisen gerade seine Bemerkungen über Diktatur selbständiges politisches Interesse und Unterscheidungsvermögen. Neben den bekannten, zu allen Zeiten wiederholten Dingen, daß für außergewöhnliche Verhältnisse außergewöhnliche Maßnahmen nötig sind, und den bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebten Ausführungen über die Tugend der republikanischen Römer, die ihre Diktatur oft schon vor Ablauf der Amtsdauer niederlegten (I, cap. 30, 34), finden sich doch auch Bemerkungen über den Geschäftsgang des ordentlichen Dienstbetriebs, dessen Umständlichkeit und kollegiale Beratungsweise in dringenden Fällen gefährlich werden und einen schnellen Entschluß unmöglich machen können. Gerade für die Republik soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren. In der venetianischen Republik, die Machiavelli als die beste moderne Republik bezeichnet, besteht daher eine ähnliche Einrichtung (cap. 34), und es kommt nur darauf an, die Diktatur mit verfassungsmäßigen Garantien zu umgeben. Der Diktator wird definiert als ein Mann, der, ohne an die Mitwirkung irgendeiner anderen Instanz gebunden zu sein, Anordnungen treffen und sie sofort, d. h. ohne daß weitere Rechtsmittel gegeben wären, vollstrecken kann (un huomo che senza alcuna consulta potesse deliberare et senza alcuna appelaggione eseguire le sue deliberazioni, cap. 33). Die auf Aristoteles zurückgehende Entgegenstellung von Beschlußfassung und Vollstreckung, deliberatio und executio, benutzt Machiavelli zu einer Definition der Diktatur: der Diktator kann „deliberare per se stesso", alle Maßnahmen treffen, ohne an die beratende oder beschließende Teilnahme einer anderen Stelle gebunden zu sein (fare ogni cosa senza consulta), und auf sofort rechtskräftige Strafen erkennen. Aber alle diese Befugnisse sind von der gesetzgeberischen Tätigkeit zu unterscheiden. Der Diktator kann die bestehenden Gesetze 10

V o n Lesefrüchten spricht Ellinger, Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaften Bd. 44 (1888), S. 3; v o n humanistischen Dissertationen F. Blei, D i e Rettung I I (1919), S. 27. Gegen eine solche Bewertung A d . Menzel, M a chiavelli-Studien, G r ü n h u t s Zeitschr. Bd. 29 (1902), S. 561.

a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

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nicht ändern, weder die Verfassung noch die Behördenorganisation aufheben, noch neue Gesetze machen (fare nuove leggi). Die ordentlichen Behörden bleiben nach Machiavelli bei der Diktatur bestehen als eine Art Kontrolle (guardia). Darum ist die Diktatur ein verfassungsmäßiges Institut der Republik, während die Dezemvirn gerade durch ihre unbegrenzten gesetzgeberischen Vollmachten die Republik in Gefahr gebracht haben (cap. 35). Die Diktatur erschien Machiavelli und der folgenden Zeit zu sehr als ein der freien römischen Republik wesentliches Institut, als daß sie die beiden verschiedenen Arten der Diktatur, die kommissarische und die souveräne, unterschieden hätten. Daher ist auch der absolute Fürst für sie niemals Diktator. Der Principe, dessen Bild Machiavelli entworfen hat, ist von späteren Schriftstellern gelegentlich ein Diktator und die im Principe geschilderte Regierungsmethode eine Diktatur genannt worden. Das widerspricht jedoch der Auffassung Machiavellis. Der Diktator ist immer ein zwar außerordentliches, aber doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan, er ist „capitano", wie der Konsul und andere „Chefs" (discorsi II, cap. 33). Der Principe dagegen ist souverän, und die nach ihm benannte Schrift Machiavellis enthält in der Hauptsache einige mit historischer Belesenheit geschmückte politische Rezepte darüber, wie man als principe die politische Macht in der Hand behält. Der ungeheure Erfolg des Buches beruht darauf, daß es der Staatsauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts, d. h. der des entstehenden modernen Staates, entspricht, und zwar aus einem bestimmten Interesse daraus, das allerdings gerade auf das Wesen der Diktatur führt. Die vielen Diskussionen über das „Rätsel des Principe" knüpfen sich teils an die Widersprüche bei Machiavelli, der in den Discorsi als freiheitlich gesinnter Republikaner, im Principe aber als Ratgeber des absoluten Fürsten erscheint, teils an die Amoralitäten des Buches. Aber weder die Widersprüche noch die Amoralitäten lassen sich daraus erklären, daß man in der Schrift einen versteckten Angriff gegen die Tyrannen sieht 11 oder die Vor11

So w o h l zuerst Albericus Gentiiis, D e legationibus 1. I I I 1585 1. I I I . Bei C y r . Lentulus, Augustus sive de convertenda i n monarchiam R e p u b l i ca, A m s t e r d a m 1645, p. 112 w i r d die Frage, was Machiavelli eigentlich gewollt habe, schon als eine gelehrte Kontroverse behandelt. Sie betrifft die weiter unten z u erwähnende Literatur der politischen „ A r c a n a " . Ü b e r Spinozas Auffassung des Principe als einer Satire vgl. A d . M e n z e l a. a. O . Thomasius, I n s t i t u t i o n u m jurisprudentiae divinae 1. I I I , ed. I V , H a l l e 1710, 1. I I I , c. V I § 6 7 sagt: Machiavelli, A u t o r vel impius vel satyricus. Rousseau, C o n t r a t social, 1. I I I , c. 6 zieht verschiedene Erklärungen heran, nennt aber den Principe „le livre des républicains". Psychologisch erklärt Montesquieu, Esprit des lois 1. X X I X , c. 19 den Principe aus der B e w u n derung Machiavellis für sein Ideal, den H e r z o g v o n Valentinois.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

schläge eines verzweifelten Nationalisten 12 , noch aus allgemeinen Erörterungen über das Macht- oder Nützlichkeitsinteresse, das den Egoismus über die Moral gesetzt habe 13 . Sie entfallen vielmehr vollständig, weil ein rein technisches Interesse herrscht, wie es für die Renaissance charakteristisch war, und in dessen Folge auch große Künstler der Renaissance mehr den technischen als den ästhetischen Problemen ihrer Kunst nachgingen. Auch Machiavelli selbst hat sich am liebsten mit rein technischen wie militärwissenschaftlichen Problemen beschäftigt 14. Bei diplomatischen und politischen Angelegenheiten nimmt ihn die Frage, wie ein bestimmter Erfolg erreicht werden kann, wie man etwas „macht", am meisten in Anspruch, und wo sich im Principe ein ehrlicher Affekt verrät, ist es Haß und Verachtung für den Dilettanten, den Stümper des politischen Lebens, der eine Sache halb macht, mit halben Grausamkeiten und halben Tugenden (cap. VIII). Aus der absoluten „Technizität" 15 folgt die Indifferenz gegenüber dem weitern politischen Zweck in der gleichen Weise, wie bei einem Ingenieur ein technisches Interesse an der Herstellung einer Sache vorhanden sein kann, ohne daß er an dem weitern Zweck, dem die herzustellende Sache dient, das geringste eigene Interesse zu haben braucht. Irgendein politisches Resultat — sei es nun die absolute Herrschaft eines einzelnen oder eine demokratische Republik, die politische Macht des Fürsten oder die politische Freiheit des Volkes — ist als Aufgabe gestellt. Die politische Machtorganisation und die Technik ihrer Erhaltung und Erweiterung ist bei den verschiedenen Staatsformen verschieden, aber immer etwas, das sachtechnisch herbeigeführt werden kann, wie der Künstler nach der rationalistischen Auffassung ein Kunstwerk schafft. Je nach den konkreten Verhältnissen 12

Nachweise bei A d . M e n z e l a. a. O . D i e Machiavelli-Literatur bis z u r M i t t e des 19. Jahrhunderts bei M o h l , Geschichte u n d L i t e r a t u r der Staatswissenschaften I I I , Erlangen 1858, X V I I , S. 519 ff. Eine Geschichte des Schlagworts Machiavellismus bei O . T o m m a s i n i , La vita e gli scritti d i N i c c o l o Machiavelli I, R o m 1883. Neuere L i t e r a t u r bei K a r l H e y e r , D e r Machiavellismus, Berlin 1918 ( M ü n c h n e r Dissertation 1918). D i e Zitate i m T e x t nach der Ausgabe v o n G . Lisio, Florenz 1899. 13

14 H o b o h m , Machiavellis Renaissance der Kriegskunst, 2 Bände, Berlin 1913. Jähns behandelt i n seinem H a n d b u c h einer Geschichte des Kriegswesens (I, S. 449, 454, 456, 460) M . als „einen der hervorragendsten m i l i t ä rischen Klassiker". I c h k a n n die R i c h t i g k e i t dieses Urteils nicht nachprüfen, d o c h hängt davon die R i c h t i g k e i t der A u s f ü h r u n g e n des Textes über die technische Staatsauffassung nicht ab. 15 Dies W o r t ist aus den Schriften v o n O t t o N e u r a t h (Vollsozialisierune, Jena 1920) entnommen, i n denen nicht n u r die M e t h o d e n der Bedarfsbefriedigung, sondern auch U m f a n g u n d Reihenfolge der Bedürfnisse selbst d i k t i e r t sind.

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— geographische Lage, Charakter des Volkes, religiöse Anschauungen, soziale Machtgruppierung und Traditionen — ist die Methode verschieden und entsteht ein verschiedenartiges Gebäude. In den republikanischen Discorsi rühmt Machiavelli die guten Instinkte des Volkes, im Principe wiederholt er, daß der Mensch von Natur böse, Bestie, Pöbel ist. Das hat man als anthropologischen Pessimismus bezeichnet16, aber es hat theoretisch eine ganz andere Bedeutung. In jeder Argumentation, die den politischen oder staatlichen Absolutismus rechtfertigt, ist die natürliche Bosheit des Menschen ein Axiom, um die staatliche Autorität zu begründen, und so verschieden die theoretischen Interessen von Luther, Hobbes, Bossuet, de Maistre und Stahl sind, dieses Argument tritt bei allen entscheidend hervor. Im Principe handelt es sich jedoch nicht um die moralische oder juristische Begründung, sondern die rationale Technik des politischen Absolutismus. Hierfür wird, als von einem Konstruktionsprinzip, davon ausgegangen, daß der Mensch gewisse moralisch vielleicht als minderwertig erscheinende Qualitäten haben muß, um sich als Material für diese Staatsform zu eignen. Denn Menschen, bei denen das Konstruktionsprinzip des republikanischen Gemeinwesens, die virtü, gegeben ist, würden eine Monarchie nicht ertragen. Die Art politischer Energie, die sich in der virtü äußert, verträgt sich eben nicht mit absolutistischen Regierungsformen, sondern läßt nur eine Republik zu. Je nachdem nun die Aufgabe gestellt wird, ein absolutes Fürstentum oder eine Republik zu konstruieren, muß das Menschenmaterial, mit dem das technische Verfahren zu rechnen hat, verschieden sein, da sonst der gewünschte Erfolg nicht erreicht werden kann. Diese technische Auffassung ist für die Entstehung des modernen Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung. Aus dem Rationalismus dieser Technizität ergibt sich zunächst, daß der konstruierende Staatskünstler die staatlich zu organisierende Menschenmenge als ein zu gestaltendes Objekt, als Material, ansieht. Es entspricht den humanistischen Anschauungen, im Volk, der ungebildeten Masse, dem bunten Tier, dem θηρίον ποικίλον και πολυκέφαλον wie es bei Platon (Politeia I X 588 C, Soph. 226 A) heißt, etwas Irrationales zu sehen, das durch die ratio beherrscht und geführt werden muß. Ist das Volk aber das Irrationale, so kann man nicht mit ihm verhandeln und Verträge schlie16 W i l h e l m D i l t h e y , Ges. Schriften I I , L e i p z i g 1911, S. 23 ff. A u c h M o riz Ritter, D i e E n t w i c k l u n g der Geschichtswissenschaft, M ü n c h e n 1919, S. 203 spricht hier v o n Pessimismus. V i e l richtiger dagegen Troeltsch, H i s t . Zeitschr. Bd. 23 (1919), S. 390, nach dem Machiavelli „ v i e l m e h r m i t einer psychologisch gesehenen T y p i s i e r u n g der H i s t o r i e als L e h r m i t t e l für gegenwärtiges H a n d e l n sich begnügte", welchen Glauben an den menschlichen Verstand Troeltsch gerade als O p t i m i s m u s bezeichnet.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

ßen, sondern muß es durch List oder Gewalt meistern. Der Verstand kann sich hier nicht verständigen, er räsonniert nicht, sondern diktiert. Das Irrationale ist nur das Instrument des Rationalen, weil nur das Rationale wirklich führen und handeln kann. Das entsprach sowohl der aristotelischen Scholastik 17 als auch dem Platonismus der Renaissance und der stoisch-klassischen Tradition sowie allen moralischen Vorstellungen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geherrscht haben und deren Ideal der „homo liber et sapiens" ist, ein Mann wie Cato oder Seneca, der Weise, der eine rationale Herrschaft über seine Triebe und Leidenschaften ausübt und seine Affekte meistert, — ein Vorstellungskomplex, der auf der Gegenseite drei Repräsentanten der Herrschaft der Affekte kennt: die große Masse, die Frauen und die Kinder. Die Vernunft diktiert. Aus der Scholastik ist die Wendung vom dictamen rationis in das Naturrecht übergegangen, die auch auf das Strafe oder andere Rechtsfolgen diktierende Gesetz angewandt wird 1 8 . Ergab sich 17 S. Thomas A q u i n . Summa th. Pars I qu. I art. 2 ad 3 (opera t V I ) : tota irrationalis natura comparatur ad D e u m sicut i n s t r u m e n t u m ad agens principale. Es ist das Wesen der natura irrationalis, daß sie quasi ab alio acta vel ducta ist. N o n potest esse voluntas i n his quae carent ratione et intellectu, w e i l sie das Universale nicht begreifen, sondern v o n einem auf ein bestimmtes G u t gerichteten appetitus getrieben werden, ein Satz der auch für das Verständnis der volonté générale bei Rousseau w i c h t i g ist. Manifestum autem est q u o d particulares causae m o v e n t u r a causa universali: sicut rector civitatis, q u i intendit b o n u m commune, movet suo i m p e r i o o m n i a particularia officia civitatis. 18

A u s der unendlichen Menge seien folgende Beispiele erwähnt: S. T h o mas, Summa th. I , I I 91, l c . : n i h i l aliud est lex quam q u o d d a m dictamen practicae rationis i n principe. Ferner k o m m t vor: dictamen mentis, dictamen legis naturae; weitere Nachweise i n dem T h o m a s - L e x i k o n v o n Schütz. D u n s Scotus, O x o n . I V d. 46 qu. I n. 10: intellectus apprehendit agibile antequam voluntas i l l u d velit; sea n o n apprehendit determinate hoc esse agendum, q u o d apprehendere d i c i t u r dictare. Suarez de leg. I I I , c 2 n. 2: dictamen rationis naturalis; G r o t i u s de jure belli ac pacis 1. I , c. 16 § 1: dictante naturali ratione; H o b b e s de cive I I I , 25: leges naturae sind nichts anderes als dictata rectae rationis; Leviathan c. 12: jeder Prophet muß behaupten, seine Sätze beruhten auf einem dictamen Gottes oder eines D ä m o n e n ; Locke, civil government I I , 8: man t u t das, was calm reason and conscience dictate; V , 56: A d a m konnte seine H a n d l u n g e n einrichten according the dictates of the law of reason. D i e E r k l ä r u n g der Menschenrechte v o n Massachusetts 1780 (art. I I ) : dictates of his o w n conscience; N e w s H a m p s h i r e ( V , 1): das unveräußerliche Recht, G o t t z u verehren according t o the dictates of his o w n conscience and reason. K a n t spricht noch v o n den dictamina rationis. Bei M o n t e s q u i e u u n d Rousseau d i k t i e r t bereits das H e r z . Schließlich löst sich das W o r t auf; Gefühl, E n thusiasmus, alles mögliche k a n n diktieren. Beispiel für den W o r t g e b r a u c h beim positiven Gesetz: Joh. Limnaeus, Juris p u b l i c i i m p e r i i R o m a n o ger-

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einmal die Vorstellung eines Diktats aus der rationalen Überlegenheit, so war sie ferner, unabhängig davon, die Folge des rein technischen Interesses. Im Verlauf der weitern Untersuchung wird sich immer wieder zeigen, daß der Inhalt der Tätigkeit des Diktators darin besteht, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, etwas „ins Werk zu richten": der Feind soll besiegt, der politische Gegner beruhigt oder niedergeschlagen werden. Immer kommt es auf die „Lage der Sache" an. Weil ein konkreter Erfolg herbeigeführt werden soll, muß der Diktator mit konkreten Mitteln in den kausalen Ablauf des Geschehens unmittelbar eingreifen. Er handelt; er ist, um die Definition vorwegzunehmen, Aktionskommissar; er ist Exekutive, im Gegensatz zu bloßer Beschlußfassung oder richterlichem Urteil, zu deliberare und consultare. Er kann daher, wenn es sich wirklich um den äußersten Fall handelt, keine allgemeinen Normen beobachten. Denn wenn das konkrete Mittel zur Erreichung eines konkreten Erfolges, etwa das, was die Polizei zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit tun darf, in normalen Zeiten mit einer gewissen Regelmäßigkeit berechnet werden kann, so läßt sich für den Notfall nur sagen, daß der Diktator eben alles tun darf, was nach Lage der Sache erforderlich ist. Hier wird also nicht mehr nach rechtlichen Rücksichten gefragt, sondern nur nach dem im konkreten Fall geeigneten Mittel zu einem konkreten Erfolg. Auch hier kann das Vorgehen falsch oder richtig sein, aber diese Beurteilung bezieht sich nur darauf, ob die Maßnahmen im sachtechnischen Sinne richtig, d. h. ob sie zweckmäßig sind. Rücksichten auf entgegenstehende Rechte, auf die Einwilligung eines im Wege stehenden Dritten, auf wohlerworbene Rechte, auf den Instanzenweg oder den Rechtsmittelzug können „sachwidrig", also im sachtechnischen Sinne schädlich und falsch sein. Daher herrscht gerade in der Diktatur ausschließlich der Zweck, von allen Hemmungen des Rechts befreit und nur durch die Notwendigkeit bestimmt, einen konkreten Zustand herbeizuführen. Wo nun prinzipiell ein ausschließlich technisches Interesse an staatlichen und politischen Dingen besteht, können rechtliche Rücksichten in derselben Weise unzweckmäßig und sachwidrig sein. Der absolut technischen Staatsauffassung bleibt ein unbedingter, von der Zweckmäßigkeit unabhängiger Eigenwert des Rechts unzugänglich. Sie hat kein Interesse am Recht, sondern nur an der Zweckmäßigkeit des staatlichen Funktionierens, d. h. an der bloßen Exekutive, der keine N o r m im Rechtssinne vorherzugehen braucht. Außer manici t. V (3. A u f l . , Straßburg 1657), t. I , C . I I , c. 8 n. 36 (die lex coactiva ist eine lex quae poenam dictitat) u n d Capitulationes I m p e r a t o r u m (ed. alt. Straßburg 1648, p. 8) der Kaiser K a r l „ d i c t i t a t " i n der goldenen Bulle; Pufendorf, D e jure nat. et gent. 1 V I I , c 8 § 3: Poenae i n lege dictatae, usw.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

dem Rationalismus und der reinen Technizität liegt hier die dritte Beziehung zur Diktatur: innerhalb der Exekutive müssen sich die ausführenden Organe unbedingt dem Interesse des technisch glatten Ablaufs fügen. Nicht nur in der Exekutive im eminenten Sinne des Wortes, beim Militär, muß, wenn nicht blind, so doch prompt gehorcht werden, auch bei der Exekution eines richterlichen Urteils kann die Durchführung der Exekution nicht von der Zustimmung des Exekutivbeamten in dem Sinne abhängig gemacht werden, daß dieser die sachliche Richtigkeit eines rechtskräftigen Urteils nachprüfen dürfte. Aber auch außerhalb der obrigkeitlichen Tätigkeit wird jede gut funktionierende Organisation unmöglich, wenn die ausführenden Personen aus irgendwelchen Interessen eine selbständige Mitwirkung oder Kontrolle beanspruchen, die von andern Gesichtspunkten ausgeht als solchen des technischen Funktionierens. Der einfachste Transportbetrieb wird unmöglich, wenn derjenige, der den Transport auszuführen hat, an den zu transportierenden Dingen ein anderes Interesse nimmt als das, daß sie eben transportiert werden müssen. Wenn ein Postbeamter die zu bestellenden Briefe auf ihren Inhalt prüfen sollte, so würde das bedeuten, daß die posttechnische Organisation benutzt wird, um irgendwelche, außerhalb dieser Organisation gelegenen Zwecke durchzusetzen, was der technischen Vollkommenheit der Organisation notwendig widerspricht. M i t andern Worten: innerhalb der gut funktionierenden Exekutive gibt es, wenn einmal die Voraussetzungen des Ablaufs gegeben sind, keine Verständigung, Vereinbarung, Beratung mit dem Exekutivorgan mehr. Diese dreifache aus Rationalismus, Technizität und Exekutive sich zusammensetzende Richtung zur Diktatur (das Wort hier im Sinne einer Art Anordnung gebraucht, die sich prinzipiell nicht von dem Einverständnis oder der Einsicht des Adressaten abhängig macht und seine Zustimmung nicht abwartet) steht am Anfang des modernen Staates. Der moderne Staat ist historisch aus einer politischen Sachtechnik entstanden. M i t ihm beginnt, als sein theoretischer Reflex, die Lehre von der Staatsraison, d. h. einer über den Gegensatz von Recht und Unrecht sich erhebenden, nur aus den Notwendigkeiten der Behauptung und Erweiterung politischer Macht gewonnenen soziologisch-politischen Maxime. Militär und bürokratisch geschultes Beamtentum, die „Exekutive", sind der Kern dieses Staates, der seinem Wesen nach Exekutive ist. Der Exekutive kann es vom technischen Gesichtspunkt aus gleichgültig sein, in welchem Dienst sie funktioniert — die geschulten Funktionäre traten leicht aus dem Dienst eines Staates in den eines andern über, und besonders brauchbare Kommissare deutscher Fürsten waren Landfremde —, weil die Regeln guten Funktionierens von der rechtlichen Eigenart des Auftraggebers unabhängig sind und

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auf einer soziologisch-praktischen Sachtechnik beruhen. Die umfangreiche Literatur der Staatsraison 19, von Machiavelli und Guicciardini über Paruta, Botero, Scioppius, Boccalini bis zu ihrem H ö hepunkt Paolo Sarpi, bei dem die politische Machtpraxis sich in der reinen Konsequenz ihrer Technizität offenbart, kennt auch da, wo sie der Heiligkeit des Rechts ihre Reverenz macht, in Wahrheit nur die tatsächlich geltenden Rechtsvorstellungen, die eben weil sie eine wirkliche Macht sein können, auch zur Lage der Sache gehören. Die deutschen Autoren wenigstens sind sich über den methodischen Unterschied durchaus klar und sprechen von verschiedenen Betrachtungsweisen. Scioppius hat in den Paedia politices (1613) Moral und Politik sauber getrennt: die eine gibt principia für das, was sein soll, die Politik dagegen praecepta, wie die Medizin, denen die Gesetze des wirklichen Seins zugrunde liegen. Aber in noch höherem Grade als der unklare und von einer gewissen Staatsauffassung leicht zu moralisierende Begriff der Staatsraison und der Salus publica steht im Mittelpunkt dieser Art politischer Literatur der Begriff des politischen „ Arcanum". Ein Gelehrter, der die sozialen und administrativen Zustände und Anschauungen des Absolutismus mit ungewöhnlicher Feinheit und Klarheit dargestellt hat, bemerkt, daß mit dem Ende des 15. Jahrhunderts, als die Kraft der Theologie sich erschöpft hatte und die patriarchalische Anschauung von der Entstehung des Königtums den Menschen wissenschaftlich nicht mehr genügte, die Politik sich als eine Wissenschaft entwikkelte, die eine Art Geheimlehre um den fast mystischen Begriff der „ratio status" gebildet habe20. Aber der Begriff des politischen und diplomatischen Arcanum hat auch da, wo er Staatsgeheimnisse bedeutet 21 , nicht mehr und nicht weniger Mystisches wie der moderne Begriff des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses, der vielleicht auch einmal, wenn der Kampf um die Kontrolle der Betriebsräte an ihm entbrannt ist, aus der Sphäre nüchterner Nützlichkeit heraustritt und manchem als eine Weltanschauungsfrage erscheint. Wenn im 30jährigen Krieg der Michael Breuner aus Gotha dem Herzog Maximilian von Bayern eine Reihe von „Kriegsarcana" vorlegt, die er „ins Werk richten" kann, z. B. ein Instrument, mit dem man Kugeln ohne Pulver wirft, und andere nützliche stratagemata belli und „waß deren Kriegspraticken mehr", so beweist dieser der Praxis des politischen und militärischen Lebens entnomme19

Eine übersichtliche Darstellung bei G. Ferrari, H i s t o i r e de la raison d'Etat, Paris 1860. 20 F r i t z Wolters, Ü b e r die theoretische Begründung des Absolutismus i m 17. Jahrhundert, Festgabe für Schmoller, Berlin 1908, S. 210. 21 W i e i n den Berichten des H u b e r t Languet, Arcana seculi dec. sexti. epistolae secretae, herausg. v o n J. P. Ludovicus, H a l l e 1699.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

ne Wortgebrauch 22 den einfachen technischen Sinn des Arcanum: es ist ein Fabrikationsgeheimnis. Das wichtigste Beispiel für die Literatur der Arcana ist die im 17. Jahrhundert als das maßgebende Hauptwerk zitierte Schrift von Arnold Clapmar 23 . Sie behandelt genau und gründlich die Angelegenheit nach ihrer methodischen Seite. Anknüpfend an den Ausdruck „Arcana imperii", den Tacitus in den Annalen (1. 2) zur Kennzeichnung der schlauen Politik des Tiberius gebraucht — eine Stelle, die der Tacituskenner und -Verehrer Justus Lipsius besonders hervorgehoben hatte —, sagt er zunächst, daß jede Wissenschaft ihre Arcana habe, die Theologie, die Jurisprudenz, der Handel, die Malerei, die Kriegführung, die Medizin. Alle gebrauchen gewisse Kunstgriffe, sogar List und Betrug, um ihr Ziel zu erreichen. Im Staat aber sind immer gewisse Veranstaltungen, die einen Schein von Freiheit erwecken, notwendig, schon um das Volk zu beruhigen, simulacra, dekorative Einrichtungen 24 . Arcana Reipublicae sind im Gegensatz zu den nach außen hervortretenden augenscheinlichen Motiven die innern Triebkräfte des Staates. Das sind nach der Auffassung der damaligen Zeit nicht irgendwelche überpersönliche soziale und wirtschaftliche Kräfte, sondern der Motor der Weltgeschichte ist die Berechnung des Fürsten und seines geheimen Staatsrates, der wohlüberlegte Plan der Regierenden, die sich und den Staat zu erhalten suchen, wobei die Macht der Regierenden, öffentliches Wohl und öffentliche Ordnung und Sicherheit natürlich ein und dasselbe sind (1. I, cap. 5). Innerhalb der Arcana wird zwischen den Arcana imperii und den Arcana dominationis unterschieden, und zwar betreffen jene den Staat, d. h. den tatsächlich bestehenden Machtzustand, in normalen Zeiten. Zu den Arcana imperii gehören daher bei den verschiedenen Staatsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) die verschiedenen Methoden, das Volk in Ruhe zu halten, zum Beispiel in der Monarchie und der Aristokratie eine gewisse Beteiligung an politischen Insti22 A u s dem M ü n c h n e r Geh. Staatsarchiv. K . schw. 5 0 / 2 8 fol. 124 (ungedruckt). 23 D e Arcanis r e r u m p u b l i c a r u m 1. V I , Bremen 1605 (ein Jahr nach dem T o d e des Verfassers v o n seinem Bruder herausgegeben). I n der ElzevirAusgabe 1644 sind außer den Arcana des C h r . Besold n o c h Clapmars u n t e n zitierte Conclusiones de jure p u b l i c o veröffentlicht. 24 Diesen A u s d r u c k gebraucht A n t o n Menger, N e u e Staatslehre, S. 95 A n m . 300 Jahre später, ebenfalls u m den w i r k l i c h e n v o m scheinbaren G r u n d zu unterscheiden. Sowenig er dabei an den Zusammenhang m i t der A r c a n a - L i t e r a t u r denkt, so lehrreich wäre t r o t z d e m ein Vergleich der p o l i tisch-technischen Auffassung des Staates m i t der sozialistischen Vorstell u n g v o m „ Ü b e r b a u " , die i m 19. Jahrhundert i n den verschiedensten B i l dern u n d bei den verschiedensten politischen R i c h t u n g e n herrschend w i r d .

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tutionen, namentlich aber Rede- und Preßfreiheit (VI, 11), die eine geräuschvolle, aber politisch bedeutungslose Beteiligung an staatlichen Vorgängen zulassen, ferner eine kluge Schonung der menschlichen Eitelkeit usw. Der ganze durch Machiavelli inaugurierte Katalog von Rezepten, wie man es anzufangen hat, um sich im Besitz der politischen Macht zu erhalten, fehlt hier ebensowenig wie die Vorstellung von dem Volk als dem großen, bunten Tier, das mit bestimmten Praktiken behandelt werden muß. Die Arcana dominationis beziehen sich dagegen auf den Schutz und die Verteidigung der herrschenden Personen bei außerordentlichen Ereignissen, Rebellionen und Revolutionen und auf die Mittel, wie man mit solchen Dingen fertig wird 2 5 . Doch wird ausdrücklich bemerkt, daß zwischen den beiden Arten von Arcana kein großer Unterschied besteht, weil der Staat nicht wohlbehalten bleiben kann, ohne daß der Fürst oder die herrschende Partei wohlbehalten bleibt (III, cap. 1). Die Diktatur insbesondere wird als ein spezifisches Arcanum dominationis der Aristokratie beschrieben; sie soll den Zweck haben, das Volk dadurch einzuschüchtern, daß sie eine Behörde schafft, gegen die es keine Provokation gibt. Im Interesse der Aristokratie empfiehlt es sich aber, darauf zu achten, daß die Diktatur sich nicht in ein Prinzipat verwandelt 26 . Doch werden noch weitere Unterscheidungen aufgestellt. Einmal sind die Arcana dominationis als die unentbehrlichen Mittel jeder staatlichen Herrschaft von den Flagitia dominationis, den consilia Machiavellistica, zu trennen, von dem Mißbrauch der Gewalt, der Tyrannis, der cattiva ragion di Stato (V, cap. I), ferner werden beide Arten Arcana zu den jura imperii und dominationis in einen begrifflichen Gegensatz gebracht 27 . Die jura imperii sind die verschiedenen Souveränitätsrech25

D e m revoltierenden V o l k m u ß man alles versprechen, später k a n n man sein Versprechen dann zurückziehen: p o p u l o t u m u l t u a n t i et feroci satius est u l t r o concedere vel ea quae contra bonos mores postulant, q u a m R e m p u b l i c a m i n p e r i c u l u m vocare. N a m postea sedato p o p u l o retractari possunt (Conclusiones C X V I I I ) . D e r Satz, der an sich eine allgemeine Praxis des Klassenkampfes ausspricht (vgl. M e h r i n g , Geschichte der deutschen Sozialdemokratie I V , 4. A u f l . , S. 141), geht i n dieser F o r m u l i e r u n g w o h l auf Justus Lipsius, P o l i t i c o r u m sive civilis doctrinae l i b r i V I q u i ad Principem maxime spectant, L e y d e n 1589, 1. V I , p. 351 (falle, falle potius quam caede). 26 I m p r i m i s autem arcanum dominationis Aristocraticae sapere videtur creatio illa Dictatoris R o m a n i post latam legem provocationis, 1. I I I c. 19; weitere Ä u ß e r u n g e n über die D i k t a t u r I , c. 11, 12; V , c. 18, 19; C o n c l u s i o nes X X X V I . 27 Arcana 1, I , c. I X ; I I I c. 1; C o n d . I I I (Manche sagen, jus p u b l i c u m esse idem q u o d Politica, sed falso et contra sententiam Aristotelis); C o n d . L , (gegen Machiavelli, w e i l er die jura dominationis nicht v o n den arcana dominationis unterscheidet).

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te, wie sie seit Bodin als Merkmal des summum imperium aufgezählt werden, insbesondere das Recht, Gesetze zu geben; sie sind die Grundlage (fundamenta) der Arcana und in jedem Staat dieselben, während die Arcana nach der Lage der Verhältnisse sich ändern müssen; sie können nicht einem anderen überlassen werden, was bei den Arcana wohl der Fall ist; sie sind endlich, und das ist der wesentliche Unterschied, Recht, „Fas" und „in conspicuo", während die Arcana geheime Pläne und Praktiken sind, mit deren Hilfe die jura imperii erhalten werden (III, cap. 1). Unter den jura dominationis versteht er das öffentliche Ausnahmerecht, das darin bestehen soll, daß sein Inhaber im Notfall und im Interesse der staatlichen Existenz und der öffentlichen Ruhe und Sicherheit (tranquillitas, pax et quies) vom jus commune abweichen darf. Krieg und Aufruhr sind die beiden wichtigsten Fälle, in denen es zur Anwendung kommt. Es ist als Ausnahmerecht ein jus speciale gegenüber dem normalen Souveränitätsrecht, das ein jus generale ist. Die Diktatur wird hier nur durch einen allgemeinen Hinweis erwähnt, ohne daß sie ausdrücklich genannt wäre 28 . Diese Unterscheidung von ordentlichen und außerordentlichen Souveränitätsrechten, die auch Besold übernommen hat 29 , beruht auf der Vorstellung, daß der Souverän an die Regeln des allgemein-menschlichen und natürlichen Rechts gebunden ist. Das Ausnahmerecht soll nur noch das jus divinum respektieren, im übrigen dagegen entfallen vor ihm alle rechtlichen Schranken. In ihm offenbart sich erst die Fülle der Staatsgewalt. Clapmar erörtert den Begriff der plenitudo potestatis oder der Machtvollkommenheit nicht; er nennt den Ausnahmezustand „etwas wie eine legitime Tyrannis" (IV, cap. 2). In Wahrheit handelt es sich um diese plenitudo potestatis, einen Begriff, der damals noch nicht wie im späteren Staatsrecht des alten Deutschen Reiches nur eine Summe bestimmter, dem deutschen 28 Arcana I V , c. V I I I u. I I I . H i e r ist m i t dem Zitat, daß i n Zeiten des A u f r u h r s das Recht i n die H a n d eines Menschen gelegt werden u n d man i n solchen Zeiten „ m a n u o m n i a gubernare" müsse ( w o b e i manus die bloß tatsächliche G e w a l t u n d Exekutive i m Gegensatz z u m jus bedeutet), auf Livius, B u c h I I , verwiesen. Das kann nach dem ganzen Zusammenhang n u r die Stelle L i v i u s I I , 31 n. 10 ( D i k t a t u r des Valerius 494) sein. Clapmar spricht, w i e seine Zeitgenossen, mehr v o n innern U n r u h e n als v o m Krieg. Gerade diese Stelle bei L i v i u s läßt aber erkennen, daß der D i k t a t o r u r sprünglich n u r Militärbefehlshaber w a r u n d die D i k t a t u r nicht für innerpolitische Z w e c k e benutzt werden sollte. 29

D e arcanis R e r u m p u b l i c a r u m , Elzevir- Ausgabe 1644, capp. I V , V I I , X , ferner Tractatus posthumus de origine et successione variisque I m p e r i i R o m a n i mutationibus, Ingolstadt 1646, pars I I , cap. 1, p. 150. D i e D e f i n i t i o n des jus dominationis als eines Ausnahmerechts auch schon bei G e n t i iis, vgl. A l b . Gentiiis de potestate Regis absoluta, H a n n o v e r 1605, p. 11, 25.

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Kaiser zustehender Reservatrechte angab und nur ein simulacrum majestatis war 3 0 , sondern die rechtlich prinzipiell unbegrenzte Machtbefugnis bedeutet, die auch in die bestehende Rechtsordnung, die bestehenden Amter und wohlerworbenen Rechte eingreifen darf. Sie ist eine über die ordentlichen konstituierten Gewalten erhabene, die konstituierende Gewalt in sich begreifende Macht und wirkt häufig nicht anders wie im modernen Staat die Allmacht des pouvoir constituant. Daß sie auf den Ausnahmefall beschränkt ist, hat keine positive Bedeutung, denn es handelt sich dabei nur um eine aus Gerechtigkeitsprinzipien abgeleitete Beschränkung. Juristisch kommt doch nur in Betracht, daß darüber, ob der Ausnahmefall gegeben ist, immer der Inhaber der Machtvollkommenheit selbst entscheidet. Das war der staatsrechtliche Begriff, mit dessen Hilfe der mittelalterliche Rechtsstaat und seine auf wohlerworbenen Rechten beruhende Ämterhierarchie aufgehoben werden konnten. Diesen Begriff haben besonders Karl V. und Ferdinand II. zu benutzen versucht, um sich gegen die deutschen Stände durchzusetzen. Wenn jura dominationis aufgezählt werden, so ist das ein Versuch, die unbegrenzte Machtvollkommenheit auf einzelne abgegrenzte Beziehungen zu bringen. Trotzdem bleiben sie auch bei Clapmar die allgemeine Befugnis, das zu tun, was nach Lage der Sache erforderlich ist, d. h. etwas prinzipiell Unbegrenztes. Scheinbar ist das Ausnahmerecht noch Recht, weil es in der Ausnahme eine Begrenzung zu haben scheint, in Wahrheit ist die Frage nach der Souveränität dieselbe wie die nach den jura extraordinaria. Der von Stände- und Klassenkämpfen erschütterte Staat ist seiner Konstitution nach in einem fortwährenden Ausnahmezustand und sein Recht bis ins letzte Element Ausnahmerecht. Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintreten soll und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist 31 . So endet alles Recht 30 D i e Unterscheidung v o n Souveränitätsrechten, jura majestatis, v o n dem bloßen Schein der Souveränität, den simulacra majestatis (letztere kann man r u h i g dem deutschen Kaiser überlassen) bei H y p o l i t h u s a L a p i de, de Ratione Status i n I m p e r i o nostro R o m a n o - G e r m a n i c o , 1640, pars I I , cap. V I . 31 Daher sagt der kaiserliche Jurist Besold, tractatus posthumus p. 150, daß alles, was i n den K a p i t u l a t i o n e n steht, sich n u r auf die ordinaria admin i s t r a t e bezieht u n d den Kaiser i m Ausnahmezustand nicht bindet, denn es gilt nicht für die extraordinaria potestas, secundum quam utpote I m p e rator agere potest, quae nécessitas requirit. A l s Beispiel f ü h r t er an, daß Kaiser Ferdinand den Pfalzgrafen Friedrich als notorischen Rebellen geächtet u n d die K u r w ü r d e einem anderen übertragen habe, ohne Rücksicht auf das i n den K a p i t u l a t i o n e n vorgeschriebene Verfahren, quia nempe p r o statu r e r u m t u m praesentium aliter fieri nequivit. — C h r . G o t t l . Biener,

2 C. Schmitt, Die Diktatur

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

in dem Hinweis an die Lage der Sache. Für das Privatrecht könnte man einen — provisorischen und prekären — Spielraum schaffen. Daß aber das öffentliche Recht mit diesem Privatrecht nicht gleich zu behandeln ist und beides ganz verschiedenartige Dinge sind, ist der Arcana-Literatur selbstverständlich. Rücksichten, wie sie im Privatrecht herrschen, aequitas und justitia, auf das öffentliche Recht anzuwenden, wo die salus publica herrscht, scheint ihr eine weltfremde Naivität. In öffentlichen Angelegenheiten, im Kriegs-, Gesandtschafts-, Magistrats- und Staatsrecht entscheidet nicht die aequitas, sondern die vis dominationis, d. h. Bündnisse, Soldaten und Geld 32 . Wo alles auf die konkrete Sachlage und den zu erreichenden konkreten Erfolg ankommt, wird die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine unbrauchbare Formalität, wenn sie nicht als Umschreibung für Zweckmäßigkeit oder als Ausdruck für die bei den Menschen nun einmal herrschenden Vorstellungen von Recht und Unrecht in die Berechnung mit einbezogen wird. Der Hinweis auf die clausula rebus sie stantibus, die dem öffentlichen Recht charakteristisch sein soll, konnte hier unmöglich fehlen 33 . — B e s t i m m u n g der kaiserlichen M a c h t v o l l k o m m e n h e i t i n der deutschen Reichsregierung, L e i p z i g 1780, geht ebenfalls davon aus, daß ursprünglich die M a c h t v o l l k o m m e n h e i t der über die ordentliche Gewalt erhabene „Inbegriff der außerordentlichen M i t t e l z u r Erhaltung des Staats i n K o l l i sionsfällen" ist (S. 6), wendet sich aber gegen die „Caesarianer", d. h. die kaiserlichen Juristen (Stamler, M u l t z , L y n k e r , H u m l e r ) , die d e m Kaiser diese über die ordentliche G e w a l t erhabene M a c h t v o l l k o m m e n h e i t zusprechen (S. 100 ff.; d o r t die weitere Literatur). V g l . auch u n t e n am Schluß des Exkurses über Wallenstein. 32 Clapmar, a. a. Ο . I V c . 1, V I c . 1 u. 21; Conclus. L V I u n d C o r r o l a r 2 z u den Conclusiones. Folgendes ist seine Stufenleiter der verschiedenen A r t e n des Rechts: Jus naturae corrigitur a jure gentium, jus gentium a jure m i l i t a r i , jus militare a jure legationis, jus legationis a jure civili u n d dieses w i e d e r u m a jure q u o d appello Regni sive dominationis, zu dessen K e n n zeichnung er den Ausspruch Ciceros zitiert: animadverte et dicto pare, während er v o n der Militärgerichtsbarkeit sagt: militaris jurisdictionis summa ratio pecunia ( I V c. 1). Ü b e r die „ h o r r e n d e n " Folgen dieser U n t e r scheidung v o n öffentlichem u n d privatem Recht, die i n W a h r h e i t das öffentliche Recht der Staatsraison u n d d e m öffentlichen Interesse gleichsetzt, empört sich die sonst ebenfalls zur A r c a n a - L i t e r a t u r z u rechnende Schrift des Lentulus Augustus, sive de convertenda i n monarchiam republica, A m sterdam 1645, p. 83. Was sie über D i k t a t u r sagt, p. 6, 9, 10, 100, 110, schließt sich an Machiavelli u n d Clapmar an. T y p i s c h ist die Ä u ß e r u n g v o n Gentiiis, D e legationibus, L o n d o n 1585, 1. I I c. 7: es ist lächerlich, den T ü r k e n einen T y r a n n e n z u nennen; u n d überhaupt schwer, den T y rannen v o m K ö n i g z u unterscheiden; daher w i r d die Frage, w i e w e i t i m Bürgerkrieg der Gegner als kriegführende Partei nach Kriegsrecht behandelt werden m u ß , ähnlich beantwortet, w i e sie i m Jahre 1919 v o n angesehenen Juristen beantwortet wurde: eventus judicabit ( I I c. 9).

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Als die Verteidiger der bestehenden ständischen Rechte traten die Monarchomachen der absolutistischen Staatsraison mit rechtsstaatlichen Argumenten entgegen. Sie wollen, wie sie sagen, den machiavellistischen Geist bekämpfen. Die Vindiciae contra tyrannos des Junius Brutus 34 wie die gesamte übrige durch die Bartholomäusnacht entfachte Literatur sehen in der pestifera doctrina ihren eigentlichen Gegner. Es ist nun von besonderem Interesse, daß die Diktatur, so regelmäßig sie bei den Arcana-Schriftstellern erscheint, in der monarchomachischen Literatur des 16. Jahrhunderts kaum erwähnt wird. Bei Junius Brutus, der am stärksten in der klassischen Tradition steht 35 , wird der absolute Fürst als Tyrann bezeichnet, aber obwohl diese Bezeichnung häufig auf Caesar angewandt wurde und seine Tyrannei doch die Form einer dauernden Diktatur hatte, sprechen die Vindiciae nicht von der Diktatur. Sie 33 Jacob Bernh. M u l t z , Repraesentatio majestatis imperatoriae, O e t t i n g e n 1690, pars I c. 12. Das B u c h sucht die verlorene politische M a c h t des Kaisers m i t Schlüssen aus der M a c h t v o l l k o m m e n h e i t z u unterstützen. 34 D i e Zitate i m T e x t nach der Ausgabe E d i n b u r g h 1579. D i e Vindiciae sind hier aus der monarchomachischen L i t e r a t u r als Beleg herausgegriffen, w e i l sie nicht n u r der „typischste A u s d r u c k " (so A l b e r t Elkan, D i e P u b l i zistik der Bartholomäusnacht, Heidelberg 1905, S. 171) u n d die „musterhafte Verarbeitung" u n d „Zusammenfassung" dieser ganzen staatstheoretischen Literatur sind (so L u d w i g Cardauns, D i e Lehre v o m Widerstandsrecht des Volkes usw., Bonner Diss. 1903, S. 99), sondern v o r allem deshalb, w e i l die andern Monarchomachen entweder eine hauptsächlich theologische oder moraltheologische oder w i e H o t m a n u n d Buchanan eine auf die germanische Rechtsgeschichte zurückgehende historische Beweisf ü h r u n g vorbringen. U b e r A l t h u s i u s vgl. u n t e n Kap. I I I der A r b e i t bei den A u s f ü h r u n g e n über Rousseau. 35 E r ist der radikalste auch i n dem Sinne, daß er die abstrakteste A r g u mentation hat. E r w i l l G e o m e t r a r u m more vorgehen u n d den Staat nach Gerechtigkeitsprinzipien konstruieren (Vorrede). F ü r seinen Rationalismus charakteristisch ist seine (aristotelische) D e f i n i t i o n des Gesetzes: lex est m u l t o r u m p r u d e n t u m i n u n u m collecta ratio et sapientia: es ist besser, d e m Gesetz, als einem n o c h so klugen Menschen z u gehorchen, w e i l das Gesetz die ratio ist u n d keine cupiditas hat, während der Mensch „variis affectibus p e r t u r b a t u r " (S. 1 1 5 / 16); ganz i n der klassischen Tyrannenlehre steht auch seine V e r h e r r l i c h u n g des Brutus (S. 188). Diese klassische T r a d i t i o n darf bei der historischen Betrachtung der Widerstandslehre nicht ignoriert w e r den; sie hatte ja n o c h wenige Jahrzehnte vorher einen sensationellen A u s d r u c k gefunden i n der A p o l o g i e , die der M ö r d e r des Herzogs Alexander v o n Florenz, L o r e n z i n o dei M e d i c i (Lorenzaccio), z u seiner Rechtfertigung schrieb (1537; T e x t v o n Lisio). W o l z e n d o r f f hat i n seinem großen W e r k über die Widerstandslehre (Staatsrecht u n d N a t u r r e c h t , Breslau 1916) die enge V e r b i n d u n g der monarchomachischen Lehre m i t dem positiven staatsrechtlichen Zustande ihrer Zeit dargetan, aber gerade die V i n d i ciae dürften am meisten aus diesem Zusammenhang heraustreten.

2··

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

rühmen nur an Caesar, daß er wenigstens das Volk gefragt und den Schein des Rechts, juris praetextum, gewahrt habe36. Der Tyrann wird nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten definiert: Tyrann ist derjenige, der entweder mit Gewalt oder bösen Künsten die Herrschaft an sich reißt (tyrannus absque titulo) oder die ihm rechtmäßig übertragene Herrschaft unter Verletzung des Rechts und der von ihm beschworenen Verträge mißbraucht (tyrannus ab exercitio, p. 170). Die rechtmäßige Amtsausübung besteht darin, daß der Fürst die nur vom Volk, d. h. von den Ständen zu erlassenden Gesetze beobachtet. Die Frage ist: soll der König vom Gesetz oder das Gesetz vom König abhängen, rex a lege an lex a rege pendebit? (p. 113). Daraus ergibt sich eine einfache Teilung der Gewalten: Gesetzgebung und Exekutive, wobei Gesetz der Wille des Volkes, d. h. der ständischen Repräsentation des Volkes ist und der Fürst als executor, gubernator, curator, minister legis und erster Diener des Staates (supremus Regni officiarius, p. 89), als Organum des Gesetzes, aber nur als Körper, nicht als Seele des Gesetzes (p. 115/ 16) regiert. Auch die Entscheidung über Krieg und Frieden hat das Volk, während dem Fürsten die Kriegsführung zusteht. Neben dem Fürsten als dem Beauftragten des Regnum gibt es noch andere officiari Regni, die nicht etwa Untergebene, sondern „consortes" des Fürsten sind. Die gesamte Tätigkeit des Fürsten soll überdies unter der Kontrolle eines Senates stehen, der bestellt ist, um die Auslegung der Gesetze durch den König und ihren Vollzug zu überwachen (examinare, p. 128). Alle officiarii Regni, d. h. die ständischen Beauftragen zusammen sind mehr als der König, der nur der erste unter ihnen ist. Die unrechtmäßige Machterweiterung der Fürsten beginnt gewöhnlich damit, daß sie diese ständischen Beauftragten beiseite schieben und nur noch zu außerordentlichen Versammlungen einberufen (p. 89). In den Vindiciae zeigt sich auch noch ein anderer Hauptpunkt des Kampfes: der Gegensatz zwischen der absolutistischen Bürokratie und den ständischen Beauftragten. Der Fürst soll nach den Vindiciae zwar auch officiarii haben, aber deren Auftrag erlischt mit dem Tode des Königs, während die officiarii Regni bleiben. Die Beauftragten des Königs sind bloße Diener, servi ad obsequium tantummodi instituti. Damit haben die Vindiciae in der Tat einen entscheidenden Punkt getroffen, aber nicht erkannt: gerade diese servi haben, wie in den nächsten Kapiteln gezeigt werden soll, als fürstliche Kommissare den ständischen Rechtsstaat beseitigt. Auch die theoretische Begründung der Vindiciae verkennt eine Schwierigkeit, um die es sich damals eigentlich handelte und mit 36 Vindiciae, p. 81 / 82; weitere schichte p. 93, 121, 162, 188.

Äußerungen

über

die römische

Ge-

a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

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der sich der Absolutismus immer wieder rechtfertigen konnte. Die Vindiciae stellen den König als den officiarius und das Volk als den dominus hin. Der König soll herrschen, imperare, aber das heißt (hierfür wird Augustinus zitiert) für das allgemeine Wohl sorgen. Die einzige Aufgabe des Königs ist die utilitas populi (p. 108) oder Reipublicae (p. 140). Stillschweigend und als etwas von selbst Verständliches wird vorausgesetzt, daß das öffentliche Interesse ebenso wie das Recht etwas Eindeutiges, keinem Zweifel Unterliegendes und allgemeiner Übereinstimmung Gewisses ist. Aber gerade hier ergab sich eine Spaltung, die das ganze, gewöhnlich als einen einheitlichen Komplex behandelte Naturrecht des 17. Jahrhunderts in zwei völlig verschiedene Systeme trennt. Man kann den Gegensatz als den von Gerechtigkeits- und wissenschaftlichem (d. h. naturwissenschaftlich-exaktem) Naturrecht bezeichnen37. Das Gerechtigkeitsnaturrecht, wie es bei den Monarchomachen auftritt, ist von Grotius weitergeführt worden; es geht davon aus, daß ein Recht mit bestimmtem Inhalt als vorstaatliches Recht besteht, während dem wissenschaftlichen System von Hobbes mit größter Klarheit der Satz zugrunde liegt, daß es vor dem Staate und außerhalb des Staates kein Recht gibt und der Wert des Staates gerade darin liegt, daß er das Recht schafft, indem er den Streit um das Recht entscheidet. Daher gibt es den Gegensatz von Recht und Unrecht nur im Staat und durch den Staat. Der Staat kann kein Unrecht tun, weil irgendeine Bestimmung nur dadurch Recht werden kann, daß der Staat sie zum Inhalt eines staatlichen Befehls macht und nicht dadurch, daß sie irgendeinem Gerechtigkeitsideal entspricht. Autoritas, non Veritas facit Legem (Leviathan, cap. 26). Das Gesetz ist nicht eine Gerechtigkeitsnorm, sondern Befehl, ein mandatum dessen, der die höchste Gewalt hat und dadurch die künftigen Handlungen der Staatsangehörigen bestimmen will (de cive VI, cap. 9). Jemand ist unschuldig, wenn der staatliche Richter ihn freige37

Gewisse Ä h n l i c h k e i t e n , die aber durchaus keine absolute Gleichheit sind, legen es nahe, diesen Gegensatz v o n Gerechtigkeit u n d Wissenschaftlichkeit m i t dem i m 19. Jahrhundert auftretenden Gegensatz v o n ethischem (sog. naturrechtlichen) u n d „wissenschaftlichem" Sozialismus i n eine Parallele zu bringen. Es ist jedenfalls ein schwerer E i n w a n d gegen die Darstellung v o n Bergbohm, daß sie i n den ungeheuren Gedankenreichtum des 17. Jahrhunderts m i t einem unerbittlichen, aber keineswegs klaren Ja, ja, — N e i n , nein hineinfährt u n d alles für böse erklärt, was über ihre (sehr komplexe u n d überhaupt nicht analysierte) historisch-relativistisch-positivistische Selbstverständlichkeit hinausgeht. N i c h t einmal einen Schriftsteller w i e Hobbes haben Sätze, wie sie weiter u n t e n i m T e x t zitiert sind, davor schützen können. Freilich w i r d B e r g b o h m gerade hier etwas unsicher u n d spricht bei Hobbes, Spinoza u n d (!) L o c k e v o n deren „ U n s i c h e r heit i n betreff der Existenz oder Nichtexistenz des N a t u r r e c h t s " (so Rechtsphilosophie u n d Jurisprudenz, S. 164, A n m . 18).

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

sprochen hat. Der Souverän entscheidet über mein und dein, N u t zen und Schaden, anständig und verwerflich, Recht und Unrecht, Gut und Böse (de cive VI, 9). Er verteilt alle Ehren und Würden, vor ihm sind alle gleich, mag er nun, wie in der Monarchie, ein einzelner, oder, wie in der Demokratie, eine Versammlung sein (Leviathan, cap. 19). Daher gibt es auch im Staat kein privates Gewissen, dem man mehr gehorchen müßte als dem staatlichen Gesetz; jedem muß das staatliche Gesetz höchste Gewissenspflicht sein. Daß alles Privateigentum nur vom Staate herkommt, wird wiederholt gesagt (de cive V I , 1, 9; Lev. cap. 29). Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen im Naturrecht wird am besten dahin formuliert, daß das eine System von dem Interesse an gewissen Gerechtigkeitsvorstellungen und infolgedessen von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem andern ein Interesse nur daran besteht, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird. Nach Hobbes bestimmt der Souverän, was dem Staate nützlich und was ihm schädlich ist, und da die Menschen durch ihre Vorstellungen von Gut und Böse, Nutzen und Schaden motiviert werden, so muß der Souverän auch über die Meinungen der Menschen die Entscheidung haben, weil sonst der Streit aller mit allen, den der Staat ja gerade beenden soll, nicht aufhören kann (de cive VI, 11). Darum ist der Staat bei Hobbes seiner Konstitution nach in dem Sinne eine Diktatur, als er, aus dem bellum omnium contra omnes entstehend, den Zweck hat, diesen Krieg, der sofort wieder ausbrechen würde, wenn der Druck des Staates von den Menschen genommen wird, beständig zu verhindern. Dem Gesetz, das seinem Wesen nach ein Befehl ist, liegt eine Entscheidung über das staatliche Interesse zugrunde, aber das staatliche Interesse besteht erst dadurch, daß der Befehl ergeht. Die im Gesetz liegende Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Sie wird begriffsnotwendig „diktiert". Aber die letzte Konsequenz dieser Gedanken wurde erst dann gezogen, als der Rationalismus erschüttert war, bei de Maistre. Bei Hobbes beruht die Macht des Souveräns immer noch auf einer mehr oder weniger stillschweigenden, aber darum soziologisch nicht weniger wirklichen Verständigung mit der Überzeugung der Staatsbürger, wenn auch diese Überzeugung gerade durch den Staat hervorgerufen werden soll. Die Souveränität entsteht aus einer Konstituierung der absoluten Macht durch das Volk. Das erinnert an das System des Caesarismus und einer souveränen Diktatur, deren Grundlage eine absolute Delegation ist 38 . 38 A n dieser entscheidenden Stelle, bei der Frage nach dem I n h a l t des Vertrages, besteht bei H o b b e s eine U n k l a r h e i t . N a c h de corpore p o l i t i c o

a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie

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Daß es für das öffentliche Interesse nicht auf ein inhaltliches öffentliches Interesse ankommt, sondern auf die Entscheidung darüber, was als öffentliches Interesse gelten soll, ist auch bei Pufendorf unter dem Einfluß von Hobbes deutlich ausgesprochen. Er weiß, daß natürlich alle nur das allgemeine Beste, nur das öffentliche Wohl, Recht und Gerechtigkeit zu vertreten behaupten, aber die Frage ist, wessen Entscheidung in letzter und maßgebender Instanz entscheidend ist. Nicht auf den Zweck kommt es an, sondern auf die Entscheidung über die Mittel zu diesem Zweck. Die Frage ist, wer hierüber judiziert, wer das „judicium statuendi de mediis ad salutem societatis spectantibus" hat 39 . Ein Staat hört nicht auf, absolute Monarchie zu sein, wenn der Fürst bei der Übernahme der Herrschaft verspricht, für das Wohl des Volkes zu sorgen, den Guten zu helfen und die Schlechten zu bestrafen. Denn ein solches Versprechen schließt nicht aus, daß er über die Mittel zu diesem Zweck selbst entscheidet. Ein spezielles Versprechen kann allerdings verschiedene Bedeutung haben, je nachdem es den König im Gewissen oder rechtlich, als eine Bedingung, verpflichtet. Im Gewissen ist er immer verpflichtet, wenn er z. B. verspricht, Landfremden kein Amt zu übertragen, keine neuen Steuern zu erheben oder dergleichen. Wird aber nicht gleichzeitig eine Instanz gebildet, die der König befragen muß, sobald nach Lage der Sache eine Abweichung von den Versprechungen erforderlich wird, so ist er durch das Versprechen nicht beschränkt. Auf diesen Ausnahmezustand kommt es demnach an. Jedes der hier in Frage stehenden Versprechen enthält nach Pufendorf den stillschweigenden Vorbehalt, daß im öffentlichen Interesse nach Lage der Sache eine AusI i 1, § 2 u n d 3 u n d de cive I I 5, 6 enthält der Vertrag einen V e r z i c h t aller zugunsten des Souveräns. Er ist also eine Übertragung, eine Delegation v o m V o l k auf den Souverän, wie das nach der lex regia angenommen w i r d . Konsequenter i m Sinne des Systems v o n H o b b e s ist es, nicht eine Ü b e r tragung, sondern eine K o n s t i t u i e r u n g anzunehmen. I m Leviathan (Kap. 16 u n d 17) erscheint als wesentlicher Inhalt des Vertrages die Schaffung eines repräsentativen Organs: jeder verhält sich so, als o b die H a n d l u n g e n des Souveräns seine eigenen wären, d. h. der Vertrag schafft eine absolute Repräsentation, die jeder einzelne gegen sich geltend machen lassen muß u n d aus der der Staat als eine Einheit entsteht. D e m n a c h w ü r d e nicht ein U n terwerfungsvertrag der einzelnen den Staat begründen, sondern die U n t e r werfung aller unter die souveräne Einheit, die vorher nicht vorhanden w a r u n d erst m i t der Repräsentation entsteht. Das ist etwas anderes als die Delegation bei der souveränen D i k t a t u r , w i e sie dem Cäsarismus zugrunde liegt u n d keine lex regia. ( D i e Verschiedenartigkeit des Staatsvertrages bei Hobbes hat die Schrift v o n Fred. Atger, Essai sur l'histoire des doctrines d u contrat social, N i m e s 1906, thèse de M o n t p e l l i e r , p. 176, dargelegt). 39

D e jure naturae et gentium, 1. V I I I , 1672 1. V I I § 7 , ferner § § 8 , 10, 12, 13, V I I I § 6 usw.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

nähme gemacht werden muß. Kann der König allein darüber entscheiden, wann das der Fall ist, so ist er trotz aller Abmachungen absoluter Herr 4 0 . Die von der ständischen Opposition ausgehende Staatslehre hat das Interesse an der Entscheidung als solcher geleugnet und im „Volk" die Instanz gesehen, innerhalb deren ein Zweifel darüber, was Recht und was öffentliches Interesse ist, nicht bestehen könne. Sie glaubt an eine allgemeine, gleiche und unmittelbare Uberzeugung aller Staatsbürger. Das ist besonders in der englischen Auffassung deutlich. Locke, für den alle nur tatsächliche Macht ganz belanglos ist, wenn es sich um das Recht handelt, und der deshalb ein unbedingtes Widerstandsrecht vertritt, hat sich selbst die Frage gestellt: Who shall be judge? Er antwortet: The people shall be judge (civ. governm. X I X , p. 240). Wenn er nun zur Begründung dieser Antwort sagt, daß das Volk der Auftraggeber ist und daß das, was im Privatleben selbstverständlich ist, doch auch gelten muß, wenn es sich um das Wohl von Millionen handelt, so klingt das so radikal wie ein Satz von Rousseau. Aber der Radikalismus der ständischen Opposition darf mit von Rousseau nicht verwechselt werden. Gleich ist beiden nur der Radikalismus der Gerechtigkeit, der Trennung von Recht und Macht, den es zu allen Zeiten gegeben hat. Für die politische Praxis liegt der Radikalismus in etwas anderem. Wenn die Monarchomachen und auch Locke vom Volk sprechen, dessen Rechte sie gegen den Fürsten verteidigen, so versteht es sich für sie von selbst, daß sie nicht die „plebs" meinen, nicht die „incondita et confusa turba", sondern nur das in der ständischen Organisation repräsentierte Volk 4 1 . So radikal manche Äußerungen der Vindiciae klingen, eine Wendung wie die: populus populive optimates beweist, daß sie das Volk noch nicht von der Repräsentation des Volkes unterscheiden. Erst als das Volk in seiner unmittelbaren, unorganisierten, eine Repräsentation ablehnenden Masse auf den Plan trat, war der neue Radikalismus vorhanden. Gleichzeitig, d. h. bei Rousseau, zeigt sich eine zweite Seite des neuen Radikalismus, die darin liegt, daß der Begriff des Auftrags, den die Regierung vom Volke hat, radikalisiert und die Regierung der beliebig widerrufbare, völlig der Willkür seines Auftraggebers unterworfene Kommissar des Volkes wird. Diese theo40

D e jure naturae et gentium V I I I § 10: Semper tacita haec exceptioinesse intelligitur, n i salus reip. suprema i n ejusmodi legibus lex, aliter requirat . . . nam si rex dicat, salutem p o p u l i aut insignem reip. u t i l i t a t e m i d postulare, sicuti et ea praesumptio actus regis semper comitatur, n o n nabent cives q u o d regerant: quippe c u m ipsis desit facultas cognoscendi. 41

Gierke, Althusius, S. 216 f.; W o l z e n d o r f f , Staatsrecht u n d N a t u r r e c h t , S. 265.

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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retische Weiterentwicklung setzt aber eine historische Entwicklung voraus, in welcher der „Kommissar" eine entscheidende Rolle spielt. Den Begriff des Kommissars hat Bodin in die moderne Staatslehre eingeführt. b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin Bodin steht politisch als Gemäßigter, als „politicien", zwischen der machiavellistischen Technizität und dem monarchomachischen Rechtsstaat. Das schwierige Problem des öffentlichen Rechts, das im Begriff der Souveränität und seiner Verbindung von höchstem Recht und höchster Macht liegt, konnte weder mit den Mitteln einer politisch-technischen Theorie gelöst werden, noch war es damit erledigt, daß man es, wie die Monarchomachen, ignorierte. Das Problem führte immer wieder auf den Begriff der Diktatur, der in der politischen Technik als ein Kunstgriff neben vielen andern erscheint. Demgegenüber hat Bodin nicht nur das Verdienst, den Souveränitätsbegriff des modernen Staatsrechts begründet zu haben, er hat auch den Zusammenhang des Problems der Souveränität mit dem der Diktatur erkannt und — freilich nur durch die Beschränkung auf eine kommissarische Diktatur — eine Definition gegeben, die auch heute noch als grundlegend anerkannt werden muß. Nachdem er die berühmt gewordene Definition der Souveränität im V I I I . Kapitel des ersten Buches der six livres de la République aufgestellt hat (la souveraineté est la puissance absolue et perpétuelle d'une République que les Latins appellent majestatem usw.), erörtert er den Begriff an zahlreichen Beispielen. Der Stellvertreter des Fürsten ist nicht Souverän, so groß die ihm anvertraute Macht auch sein mag. Namentlich aber bleibt der Souverän jedem mit einer staatlichen Aufgabe betrauten Untertanen gegenüber immer der Herr, mag diese Aufgabe einem ordentlichen Beamten oder einem Kommissar übertragen sein. Denn der Souverän kann die anvertraute Macht auf jeden Fall zurücknehmen und in die Tätigkeit des Beauftragten eingreifen. Daraus folgt für Bodin, daß der römische Diktator nicht Souverän war, sowenig wie der spartanische Harmost, der Aesymnet in Saloniki, der Archus in Malta, die Balia in Florenz 42 , ny autre Commissaire ou Magistrat qui eust 42 V o n diesen historischen Beispielen interessiert hier die Balia als ein konstituierendes C o m i t é . V o n den verschiedenen Fällen der Balia braucht hier n u r der charakteristische Fall aus dem Jahre 1530 erwähnt zu werden (die folgende Übersicht nach Simonde de Sismondi, H i s t o i r e des R é p u b l i ques Italiennes, t. X V I , Paris 1818, p. 69 ff.): nach dem Frieden, d u r c h den sich Florenz dem Kaiser unterwarf (12. A u g . 1530), ließ V a l o r i den Platz v o r dem Palast besetzen (20. August) u n d das „ V o l k " versammeln. Es

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

puissance absolue à certain temps pour disposer de la République. Der Diktator hatte nur eine Kommission, wie Krieg zu führen, einen Aufstand zu unterdrücken, den Staat zu reformieren oder eine neue Behördenorganisation einzurichten. Auch die Decemvirn, die dix Commissaires, wie Bodin sie nennt, die absolute Vollmacht hatten, eine neue Verfassung einzuführen, und während deren Tätigkeit die übrigen Behörden suspendiert waren, sind doch nicht als souverän zu bezeichnen, weil ihre Macht mit der Erledigung des Auftrags erlosch. Das war auch beim Diktator der Fall. Was man die Diktatur des Sulla nannte, war nach Bodin nur eine „grausame Tyrannei", auf die der Tyrann übrigens nach Beendigung der Bürgerkriege verzichtete. Caesar wurde nach vierjähriger Diktatur ermordet. Während seiner Diktatur und der des Sulla bestand das Einspruchsrecht der Tribunen formell weiter. Selbst wenn in einem Staat ein einzelner Mann oder eine einzelne Behörde unbegrenzte Befugnisse erhält und keine Rechtsmittel gegen ihre Maßnahmen gegeben sind, so ist das doch keine souveräne Macht, wenn sie nicht dauernd ist, denn sie leitet sich von einem andern ab, und der wahre Souverän erkennt keinen andern über sich als Gott. Der noch so mächtige Beamte oder Kommissar einer demokratischen Republik oder eines Fürsten hat immer nur abgeleitete Befugnisse; souverän ist das Volk oder in der Monarchie der Fürst 43 . kamen k a u m 300 M a n n . D i e Unzuverlässigen w u r d e n m i t Messerstößen zurückgetrieben. Salvestro A l d o b r a n d i n i wandte sich an diese Volksversammlung u n d fragte sie, ob sie ihre Z u s t i m m u n g dazu gebe, daß man 12 M ä n n e r bestimme, die für sich zusammen so viel A u t o r i t ä t u n d Befugnisse hätten w i e das ganze V o l k v o n Florenz. D r e i m a l w u r d e die Frage wiederh o l t , u n d dreimal antwortete das V o l k m i t Ja. Diese 12 Männer waren die Balia; ein Kommissar des Papstes bestimmte sie. Sie enthoben die Signoria, die 10 Kriegskommissare u n d andere Behörden ihres Amtes, ließen das V o l k entwaffnen u n d schufen den N a m e n der R e p u b l i k ab. D i e V e r n i c h t u n g der R e p u b l i k v o l l z o g sich also i m m e r h i n d u r c h republikanische Kommissare u n d i n republikanischen Formen. D i e Balia regierte mehrere M o n a t e allein, als „Depositar der Souveränität". I m O k t o b e r 1530 w u r d e eine zweite Balia m i t 150 M i t g l i e d e r n errichtet, die v o n der ersten Balia bestimmt w u r d e n . Sie umfaßte alle dem Hause M e d i c i ergebenen A r i s t o kraten. A m 4. A p r i l 1532 w u r d e die Balia v o n V a l o r i , Guicciardini u n d anderen gezwungen, ein C o m i t é v o n z w ö l f Bürgern z u errichten, die beauftragt sein sollten, den Staat Florenz zu reorganisieren. D i e neue Verfassung v o m 27. A p r i l 1532 unterdrückte alle republikanischen Behörden u n d erklärte Alexander v o n M e d i c i z u m Fürsten des Staates. 43 Les six livres de la République 1. I, c. V I I I , p. 122 seqq. (zitiert nach der zweiten französischen Auflage, Paris 1580). F ü r den lateinischen Text ist die Pariser Ausgabe v o n 1591 benutzt ( w o gelegentlich andere französische oder lateinische Ausgaben z u m Vergleich herangezogen sind, werden sie besonders erwähnt).

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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Bodin unterscheidet nicht zwischen der Souveränität des Staates und der des Trägers der Staatsgewalt. Den Staat setzt er nicht als selbständiges Subjekt einem höchsten Staatsorgan entgegen44. Wer die absolute Macht hat, ist eben der Souverän, und wer das ist, muß im einzelnen Falle festgestellt werden, aber nicht auf Grund bloß tatsächlicher Feststellung des politischen Einflusses (obwohl auch das von Bedeutung ist, wie sich in Bodins Ausführungen über die Tyrannei zeigt). Eine Rechtsbeziehung, nämlich Ableitbarkeit der tatsächlich noch so starken Macht, ist das Entscheidende. Damit ist für ihn die Frage nach der Diktatur beantwortet. Aber die Trennung von Diktatur und Souveränität hat bald zu einer Kontroverse darüber geführt, ob die Diktatur wirklich ihrem Begriffe nach kein Fall der Souveränität ist. In den römischen Quellen hieß es, daß die Würde des Diktators der königlichen Gewalt sehr ähnlich ist (Livius V I I I 32, 3; Cicero de rep. I I 56). Doch konnte für den Staatsrechtslehrer einer Monarchie des 16. und 17. Jahrhunderts der Souverän kein Kommissar sein, und eine souveräne Diktatur von der souveränen Monarchie zu unterscheiden, lag Bodin fern. Die monarchistische Staatslehre hat zwar immer gern die Diktatur erwähnt, um zu zeigen, daß im Notfall die absolute Herrschaft eines einzigen unvermeidlich ist, aber vom Standpunkt des legitimen Absolutismus, der sich in der politischen Praxis beständig kommissarischer Funktionäre mit oft weitgehenden Vollmachten bediente, war der Gegensatz zum Kommissar zu groß, als daß man bei irgendeiner Art „commissio" auf der Seite des Kommissars von Souveränität hätte sprechen können. Albericus Gentiiis betont daher, daß der Diktator ein Magistrat war und kein Fürst 45 ; Arumäus hebt, im wesentlichen Bodin wiederholend, den gleichen Gegensatz hervor 4 6 . Dagegen vertrat Grotius, der die politischen Verhältnisse sei44

W e n n Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft, Freiburg 1896, S. 224, gegen B o d i n die moderne Unterscheidung v o n Staats- u n d Staatsorgansouveränität v o r b r i n g t , so ist das allerdings eine Unterscheidung, die B o d i n nicht kennt; es ist aber die Frage, w i e w e i t dieser Mangel auf einer mangelnden Unterscheidungsfähigkeit v o n B o d i n beruht oder auf seiner A b n e i g u n g dagegen, eine fingierte höhere Einheit als reales Subjekt einer realen M a c h t zu hypostasieren. 45

D e v i c i v i u m i n regem semper injusta, 1605, p. 120; Caesar ist k e i n wahrer Fürst. N a c h Arnisaeus, de rep. 1. I I , c. I I , 15. n. 1 5 - 2 7 (1615) hat der D i k t a t o r majestas, ist aber nicht rex. 46 Disc. acad. de jure publico, Jena 1616, t. I , p. 381, t. I I (1620), p. 124, 553 / 54 (der D i k t a t o r hatte als einziger städtischer Magistrat ein i m p e r i u m merum, d. h. reine Kriminaleerichtsbarkeit, jus gladii, w i e der P r o k o n s u l i n der Provinz, aber i h m fehlt die maj estas, w e i l diese eine perpetua potestas ist); t. V (1623) pag. 57. C h r i s t o p h Besold, Discursus p o l i t i c i , Straßb u r g 1623, I c. 2 sieht i n der D i k t a t u r ein Beispiel dafür, daß ein demokra-

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

ner Heimat, einer von Bürgerkriegen erfüllten Republik, kannte und die Diktatur des Prinzen Moriz von Oranien am eigenen Leib erfahren hatte 47 , eine andere Auffassung. Er sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Diktatur und Souveränität. Das damals auftretende Interesse für die Zeit des Augustus (de convertenda in monarchiam republica hieß die bereits zitierte Schrift des Lentulus) tischer Staat (popularis status) nach A r t einer Monarchie verwaltet w i r d , eine Unterscheidung v o n jus i m p e r i i u n d administratio, die er, gegen B o d i n polemisierend, auf Aristoteles (polit. 1. I V c. 5 i n fine) zurückführen w i l l . D o c h ist für i h n (c. 3) Caesar ein souveräner Fürst, t r o t z d e m er den N a m e n D i k t a t o r führte, w e i l es nicht auf den N a m e n , sondern die plenitudo potestatis ankomme; vgl. auch oben S. 17, A n m . 31; T h . R e i n k i n g k , Tract, de regimine seculari et ecclesiastico, ed. sexta, Frankfurt 1663, 1. I, cl. I I , cap. 2, p. 57, Joh. A d . Oslander, Observationes i n libros très de jure belli et pacis H u g o n i s G r o t i i , T ü b i n g e n 1671, p. 485 / 6. 47 A l s D i k t a t o r w i r d der Prinz M o r i z v o n O r a n i e n auch bei Arumäus, Disc. t. V (1623), Disc. η. 2, c. 3, p. 57 (rühmend) erwähnt; der D i k t a t o r hatte die „ s u m m a b e l l i " , u n d der Prinz v o n Nassau w a r ebenfalls v o n den vereinigten Provinzen der Niederlande als „solus terrae marisque belli arbiter constituais". N a c h B o d i n wäre der Prinz kein Souverän gewesen, w e i l seine Befugnisse v o n den Staaten abgeleitet waren u n d diese selbst, denen der Prinz Treue geschworen hatte, die Souveränität behielten. D e r Prinz w a r Gouverneur (Stadhouder)-Kapitein-Generaal (1590 v o n fünf Provinzen) u n d Admiraal-Generaal; er w a r nicht, w i e später (1625) der Prinz Friedrich H e i n r i c h u n d w i e W i l h e l m I I . (1637) u n d W i l h e l m I I I . (1672) ausdrücklich als Kapitein-Generaal over de legers van den Staat angestellt, o b w o h l er so genannt wurde. A u c h die ausdrückliche Anstell u n g w u r d e übrigens als eine „ C o m m i s s i e " an die genannten Prinzen bezeichnet. D i e Generalstaaten (eigentlich het Collegie der Gecommitterden van de nader geunieerde Provincien) behielten die Aufsicht über die Kriegführung, schickten gelegentlich Kommissare ins Feld u n d begaben sich sogar zuweilen (1600) selbst i n corpore ins Kriegslager. D i e Befugnisse W i l h e l m s I. v o n O r a n i e n waren nach den Einigungsakten v o n H o l l a n d u n d Seeland v o n 1575 u n d 1576 allerdings derartig (nicht nur selbständige Kriegführung, gesamte Landesverteidigung u n d Offiziersstellen- u n d Ä m terbesetzunesrecht, sondern auch Gerichtsbarkeit), daß er nicht als Statthalter (Stadhouder), sondern als Nachfolger des Königs erschien. A l s aber 1584 der damals noch minderjährige M o r i z v o n O r a n i e n als H a u p t der Exekutive (des Staatsrats) bestellt wurde, geschah das wenigstens formell n u r vorläufig; er war also nicht erblicher Nachfolger seines Vaters. D i e souveräne M a c h t , die W i l h e l m I. ausgeübt hatte, sollte nicht erneuert werden; tatsächlich hatten die Oranier den politischen Einfluß souveräner Fürsten. V g l . die Übersicht bei de la Bassecourt Caan, D e regeeringsvorm van N e d e r l a n d v o n 1515 t o t heden, 3. A u f l . , s'Gravenhage 1889, S. 5 7 / 5 9 , 92, 114, 123, 131, 191 u n d die d o r t angegebene weitere Literatur. Benutzt w u r d e ferner ein Recueil van verscheyde Placaten, O r d o n a n n t i e n etc. betreffende de saecken van den oorlogh, der auch I n s t r u k t i o n e n für Heereskommissare enthält (1590-1681; Münchener U n i v . - B i b l . 8°. Jus 2991).

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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zeigt sich auch bei Grotius 48 . Darauf, daß die Souveränität des Volkes durch das Volk einem princeps übertragen wird, also auf die lex regia, beruft er sich, um seinen Satz zu begründen, daß das Volk keine unveräußerliche und unübertragbare Souveränität hat. Er fragt, warum das Volk seine Souveränität nicht übertragen können soll, da bisher kein noch so demokratischer Staat bestanden habe, in dem wirklich alle, auch die Armen (inopes), die Frauen und die Kinder regierten und in dem nicht in Wahrheit die Regierung nur einigen wenigen überlassen gewesen wäre. Da bei der Diktatur eine solche Übertragung eintritt, so soll es gleichgültig sein, auf welche Zeit die Übertragung geschieht. Der auch von Bodin benutzte Vergleich mit dem Eigentum, der die Souveränität von anderen Arten der Innehabung staatlicher Macht, die als Nießbrauch gekennzeichnet werden, unterscheiden soll, kommt auch bei Grotius vor, nur daß hier eine Analogie mit dem Eigentum angenommen wird, weil der Diktator innerhalb des Zeitraums der Diktatur wirklich das summum imperium habe und es bei den res morales, wie es Rechtsbegriffe sind, auf den effectus und nicht auf die Zeitdauer ankomme, die für das Wesen der Sache bedeutungslos sei. Für die Dauer seiner Tätigkeit wäre der Diktator demnach Souverän und nicht nur Magistrat, wie Bodin meint 49 . Grotius setzt dabei allerdings voraus, daß der Diktator während der ihm bestimmten Frist nicht beliebig abberufbar (revocabilis) war. Darin ist bereits der staatsrechtliche Kern der Kontroverse angedeutet: es fragt sich, wieweit der Diktator, wenn auch nur für die Zeit der Amtsdauer, ein Recht an seinem Amt hat. Wird das bejaht, kann der Diktator nicht mehr wie ein Kommissar (im Gegensatz zum ordentlichen Amtsträger) beliebig zurückgerufen werden, so wird die Gleichstellung mit dem Souverän diskutabel, was sie es sonst allerdings nicht ist 50 . Die Frage der zeitweiligen Übertragung der vollen politischen Gewalt hat Hobbes mit der ihm eigenen Bestimmtheit gestellt und 48

D e jure belli ac pacis, 1. I I I , ed. sec., A m s t e r d a m 1631, 1. I , c. I I I § 8. D e jure belli ac pacis (eod.) § 8: Q u o d intra tempus suum (dictator) omnes actus s u m m i i m p e r i i exercuerit eodem jure q u o q u i est rex o p t i m o jure; § 10: D u r a t i o naturam rei n o n i m m u t a t , ferner: r e r u m m o r a l i u m nat u r a m ex operationibus cognosci. Anders, w e n n jemand revocabilis ist, dann ist der effectus ein anderer u n d infolgedessen auch das jus. 49

50 G r o t i u s unterscheidet (eod. § 14), w o er nicht mehr v o m D i k t a t o r spricht, die summitas i m p e r i i v o n der p l e n i t u d o habendi: viele summa i m peria n o n plene habentur u n d andere n o n summa plene, z. B. k a n n ein M a r k g r a f sein A m t veräußern oder i m Testament darüber verfügen, was ein Fürst nicht i m m e r kann. D e r D i k t a t o r w ü r d e natürlich nach G r o t i u s die p l e n i t u d o habendi nicht haben; aber w e i l er nicht v o r A b l a u f der Amtsdauer abberufbar sein soll, wäre er auch nicht bloßer Kommissar.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

beantwortet. Wenn die Gesamtheit des Volkes, der populus, einem einzelnen die Herrschaft endgültig überträgt, so ist damit eine Monarchie entstanden. Wird die Herrschaft nur für Zeit übertragen, so ist der rechtliche Charakter der so entstehenden politischen Gewalt davon abhängig, ob der populus, d. h. die als staatsrechtliches Subjekt handelnde Gesamtheit der Bürger (die Hobbes als eine persona von der formlosen Menge, der multitudo dissoluta, immer streng unterscheidet), während jener zeitweisen Herrschaft das Recht hat, sich zu versammeln oder nicht. Kann der populus ohne oder gar gegen den Willen des zeitweiligen Gewaltinhabers zusammentreten, so ist dieser kein Monarch, sondern nur primus populi minister. Das trifft nach der Ausführung in der Schrift de cive (1642) für den römischen Diktator zu, der infolgedessen auch nach Hobbes vor Ablauf seiner Amtsdauer durch eine Versammlung des Volkes, den coetus populi, jederzeit abgesetzt werden kann, weil das Volk hier immer der Souverän bleibt 51 . Aber der Eindruck, den die Erfahrungen der englischen Revolution und ihre Entwicklung zum Protektorat Cromwells auf Hobbes machten, ist auch in seiner Beurteilung der Diktatur zu erkennen. Im Leviathan (1651) nennt er den Diktator, den er in Anspielung auf Cromwell neben den Protektor stellt, einen zeitweiligen Monarchen, mit der Begründung, daß hier eine der Macht des Monarchen gleich zu bewertende Macht vorhanden sei. Doch ist der Charakter der ganzen Erörterung wie überhaupt im „Leviathan" mehr politisch als staatsrechtlich und die Diktatur hauptsächlich deshalb erwähnt, um zu zeigen, daß während eines Bürgerkrieges auch eine Demokratie nicht ohne monarchistische Einrichtungen auskommt und daß häufiger in Republiken durch einen solchen unvermeidlichen Diktator oder Protektor der Volksversammlung, dem coetus, die Macht entrissen wird als in Monarchien dem minderjährigen oder sonstwie regierungsunfähigen König durch den Vormund oder Stellvertreter. Daher wird gleich ausdrücklich bemerkt, daß auch der Diktator nur der „minister" der herrschenden Demokratie oder Aristokratie ist, wenn er nicht etwa selbst seinen Nachfolger bestimmen kann, in welchem letzten Fall er allerdings Monarch wird 5 2 . Die Kon51 Elementa philosophica de cive, A m s t e r d a m (Elzevir) 1647 (zuerst 1642 für Freunde gedruckt) cap. V I I , 16, p. 134. 52 Leviathan, cap. X I X , pag. 95 / 96 der lateinischen Ausgabe v o n 1668. Darauf, daß der Leviathan i m Gegensatz zu den früheren Schriften v o n H o b b e s mehr ein politischer als ein naturrechtlicher T r a k t a t ist, hat T ö n nies, Thomas H o b b e s , der M a n n u n d das W e r k , 2. A u f l . , Osterwieck u n d L e i p z i g 1912, S. 208 m i t Recht hingewiesen. D i e hier behandelte Stelle ist öfters als eine A n e r k e n n u n g C r o m w e l l s aufgefaßt w o r d e n , was nach dem Gedankenzusammenhang offenbar u n r i c h t i g ist. U b e r die „ D i k t a t u r " C r o m w e l l s vgl. u n t e n Kap. I V S. 127 f.

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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struktion des Hobbes weist, wie bereits erwähnt, auf das Problem der souveränen Diktatur. Aber Hobbes unterscheidet zwischen der Souveränität selbst und ihrer Ausübung und entgeht dadurch seiner letzten Konsequenz. Er bemerkt, daß in der Demokratie häufig einem Minister oder Beamten die Ausübung der Souveränität übertragen wird, wobei das Volk nur die Autorität, nicht aber deren ministerium hat und sich mit der Ernennung der Amtsträger begnügt 53 . Namentlich soll im Kriege eine absolute Form der Herrschaftsausübung immer notwendig sein, woraus, wenigstens nach der Darstellung in der Schrift de cive (cap. X, 17), die Vorzüglichkeit der monarchischen Staatsform folgen soll, da ja nach Hobbes die Staaten untereinander im beständigen Natur-, d. h. Kriegszustand leben. Die Argumentation führt, wie Tönnies richtig bemerkt hat, ihrer innersten Tendenz nach nicht sowohl zu der überlieferten Monarchie als zum Caesarismus, der am meisten rationalen Form des aufgeklärten Absolutismus. Die gesinnungstreue deutsche Staatslehre des absolutistischen 17. Jahrhunderts, die den Monarchen als ein gottähnliches und gotteingesetztes, womöglich sogar physisch von andern Menschen verschiedenes Wesen auffaßte und im Kern irrationalistisch war, hat diesen bedenklichen Charakter der Staatslehre des Hobbes wohl bemerkt 54 . Dagegen scheint die von Hobbes stark beeinflußte Darstellung Pufendorfs die Aktualität Hobbes' nicht zu erkennen. Sie erwähnt die Kontroverse, die zwischen Bodin und Grotius darüber besteht, ob der Diktator als bloß zeitweiliger Gewaltinhaber ein Monarch ist, und entscheidet sich dahin, daß der Diktator ebensowenig wie ein Regent oder Vormund, dem nur die Gewalt eines andern anvertraut ist, souveräner Monarch sein kann, vielmehr soll er bloßer Magistrat sein, zumal ihn für die Zeit seiner Amtsdauer das Imperium nicht zu willkürlicher Ausübung pro arbitrio suo übertragen (commissum) sei. Es soll sich hier um dieselben rechtlichen Vorgänge handeln, wie sie eintreten, wenn einem Magistrat eine Gerichtsbarkeit unter Aufhebung von Rechtsmitteln übertragen wird. Damit ist die Diktatur 53

D e cive, cap. X , 15, p. 182. J. F. H o r n , Politica architectonica 1664, cap. I, 19 (p. 167) weist darauf hin, daß H o b b e s der M o n a r c h i e n u r scheinbar gute A r g u m e n t e bringt, seine Lehre aber i n W a h r h e i t aufrührerisch (seditiosus) ist, w e i l sie die einzelnen I n d i v i d u e n zur Grundlage des Staates macht. M i t Sätzen, w i e sie z. B. bei L o r e n z v. Spattenbach, Politische Philosophie, 1668 (S. 67) stehen (daß G o t t , nachdem er die Erde geschaffen hatte, es für gut hielt, eine besonders kostbare u n d taugliche „ M a t e r i " zu wählen, u m i n ihr, nämlich den K ö n i g e n , alle Züge u n d Striche seines göttlichen Bildes z u vereinigen, so daß jeder sie sogleich an der Stirn erkennen kann), hätte man H o b b e s allerdings nicht k o m m e n dürfen. A b e r auch Spattenbach beruft sich auf die D i k t a t u r . 54

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

wieder zu einer bloß kommissarischen Ausübung staatlicher Funktionen geworden 55 . Nach der Konsolidierung der Monarchie im 17. Jahrhundert erschöpfte sich das Interesse an der Kontroverse. Thomasius erwähnt sie bei der Frage der zeitweiligen Souveränität und erledigt sie damit, daß er sagt, ob der Diktator eine majestas habe, sei eine nach den Umständen zu beantwortende Frage, welche die römische Geschichte angehe56. Noch Christian Wolff kommt darauf zurück, um dann ebenfalls mit einigen Worten darüber hinwegzugehen57. Die Kontroverse betraf in Wahrheit den Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur. Bodin hatte sich auf die kommissarische Diktatur beschränkt, für diese aber eine außerordentlich klare und gründliche juristische Grundlage beigebracht. Er behandelt sie im II. Kapitel des III. Buches der „Republik" als einen Fall der kommissarischen Erledigung öffentlicher Aufgaben. Eine Unterscheidung, die in der kanonistischen Rechtslehre und bei den Glossatoren in der Lehre vom kommissarischen Richter bereits ausführlich erörtert war 5 8 , verwertet er für einen allgemeinen staatsrechtlichen Begriff, indem er den ordentlichen Beamten (officier) dem Kommissar (commissaire) gegenüberstellt. Der ordentliche Beamte ist eine mit gesetzlich umschriebenem Aufgabenkreis betraute „öffentliche Person": l'officier est la personne publique qui a charge ordinaire limitée par edict; der Kommissar ist ebenfalls öffentliche Person, hat aber eine außerordentliche, nur durch Auftrag bestimmte Aufgabe: le commisaire est la personne publique qui a charge extraordinaire, limitée par simple commission. Beide haben eine öffentliche Funktion, eine charge publique, ein munus publi55

D e jure naturae et gentium 1. V I I I , L o n d o n 1672, 1. V I I , cap. V I ,

§14. 56

I n s t i t u t i o n u m j u r i s p r u d e n c e divinae 1. très, ed. quarta, H a l l e 1710, 1. I I I , cap. V I , § 126. 57 Jus naturae m e t h o d o scientifica pertractum, pars octava, H a l l e u n d Magdeburg 1748, cap. I , § 7 0 ; auch hier der H i n w e i s auf Grotius. 58 Vgl. D . G . D u r a n d i Speculum juris (zitiert nach der Frankfurter A u s gabe v o n Alexander de N e v o , 1592, m i t den additiones des J. A . Baldus) 1. I , partie. 1 de judice delegato § 1 seqq.: der Richter ist entweder als Ordinarius oder als delegierter Richter (auf G r u n d einer commissio) tätig; u n d de legato § 2: legatus vices gerit d o m i n i papae, ebenfalls auf G r u n d einer commissio. B o d i n zitiert i n dem angegebenen K a p i t e l hauptsächlich die bekannten Glossatoren, insbesondere Baldus u n d Bartolus, deren U n terscheidung v o n ordentlicher u n d außerordentlicher Erledigung staatlicher Aufgaben (letztere sollen „ o d i o s " sein) er überlegen ablehnt, p. 380, u n d polemisiert gegen Govean (p. 373), Charles Sigon (374, 379) u n d Nicolas Grouche (379), w e i l sie den Unterschied v o n A m t u n d Auftrag, office u n d commission, verkennen.

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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cum, im Gegensatz zum Privatmann, aber der Kommissar ist für Bodin kein Magistrat; diesen bezeichnet er (1. I I I , cap. III) immer als officier. Es versteht sich von selbst, daß auch einem ordentlichen Beamten die kommissarische Wahrnehmung einer staatlichen Tätigkeit übertragen werden kann, das ist sogar meistens der Fall, dann ist er aber insoweit nicht ordentlicher Beamter, sondern Kommissar (p. 380). Die vom Fürsten beauftragten außerordentlichen Richter sind ebensowenig wie die römischen quaestores parricidii Magistrate, aber sie haben Befehlsgewalt, richterliche Entscheidung und Vollstreckungsgewalt. Daß man die Begriffsbestimmung nicht auf die richterliche Tätigkeit beschränken dürfe, sagt Bodin ausdrücklich gegen Cujacius (p. 373 / 4), der das Wichtigste verkannt habe, nämlich die puissance de commander, und nur von Jurisdiktion spreche. Es gibt mit andern Worten ganz allgemein zwei Arten staatlicher Machtausübung, die sich nach dem verschiedenen staatsrechtlichen Charakter der Anordnung, auf Grund deren die staatlich handelnde Person tätig ist, als ordentlich-amtliche oder kommissarische Tätigkeit bezeichnen lassen. Wenn man die mit historischen Beispielen bunt vermengten Ausführungen Bodins auf ein durchsichtiges Schema bringt, so ergeben sich folgende Merkmale: Beamter (officier, lateinisch: officialis, charge ordinaire):

Kommissar (commissaire, lateinisch: curator, charge extraordinaire):

1. Grundlage: Gesetz (édict, loy expresse, publiée, verifiée, enregistrée (p. 375), daher 2. dauernder Charakter des Amts, es besteht, auch wenn der Inhaber häufiger wechselt (z. B. die einjährigen Konsuln) als solches à perpétuité, es hat einen traict perpétuel (p. 377) und kann nur durch Gesetz wieder aufgehoben werden; daher 3. eine Art Recht auf das Amt, der Beamte hat sein Amt wie eine auf eine gewisse Zeit geliehene Sache, die der Eigentümer nicht beliebig zurücknehmen kann (p. 378); daher ist

1. Grundlage: ordonnance, daher

3 C. Schmitt, Die Diktatur

2. kein durchgängiger Charakter der Tätigkeit, sondern nur „selon l'occasion" (p. 375) und Beendigung mit Erledigung des Geschäfts (p. 377), daher

3. kein Recht auf das Amt, der Kommissar hat seine Funktion nur wie ein precarium (p. 378) und in ständiger Abhängigkeit von seinem Auftraggeber (p. 378); jederzeitige Widerrufbarkeit (p. 376/ 7); daher ist

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

4. inhaltlich die amtliche Tätigkeit nach Ort und Zeit im Gesetz allgemein vorgesehen, so daß dem Beamten für sein Ermessen und seine Interpretation ein gewisser Spielraum bleibt (p. 388).

4. inhaltlich die Tätigkeit des Kommissars streng an seine Instruktion gebunden, sein Ermessen (discrétion) ist eng begrenzt, er ist immer und in allen Einzelheiten unmittelbar vom Willen des Auftraggebers abhängig, doch kann dieser ihm größeren Spielraum lassen (p. 388).

Die Bedeutung dieser Ausführungen Bodins liegt nicht so sehr in der politischen Erkenntnis der Bedeutung des Kommissars für die Neubildung der staatlichen Organisation. Daß der Kommissar das Werkzeug des sich einrichtenden fürstlichen Absolutismus war, hat Bodin nicht bemerkt, was sich historisch daraus erklären dürfte, daß königliche Kommissare mit weitgehenden Vollmachten erst unter Heinrich IV. politisch von größerer Bedeutung wurden 59 . Hier hatte Machiavelli einen bessern praktischen Blick, als er dem Principe (cap. 9, Schlußabsatz), der eine unumschränkte Macht einführen will, empfahl, immer selbst zu regieren und nicht durch „magistrati"; denn bei diesen ist er immer vom Willen der Amtsinhaber abhängig, die leicht die Herrschaft (lo stato) an sich reißen und den Gehorsam verweigern können. Entsprechend seiner mit Andeutungen sich begnügenden Darstellungsweise geht Machiavelli auf diese Sache nicht weiter ein und spricht hier auch nicht von Kommissaren. Den Gegensatz von Kommissaren und Magistraten im Sinne von ordentlichen Amtsträgern hat erst Bodin systematisch entwickelt und das umfassende Material unter allgemeinen Begriffen der Staatslehre geordnet. Den formalen Unterschied der rechtlichen Grundlage — Gesetz auf der einen, Ordonnanz auf der anderen Seite — betont er dabei so stark (er spricht sogar von den verschiedenen Formalitäten bei Erlaß eines Gesetzes und einer Ordonnanz, die Eingangsklauseln sind verschieden, der Kommissar hat eine nur mit gelbem, nicht mit grünem Wachs gesiegelte lettre patente usw.), daß die Meinung naheliegt, als sei bereits im Sinne des neueren Staatsrechts ein formaler Begriff aufgestellt, der an den Unterschied zwischen Gesetz im formellen und Gesetz im materiellen Sinne erinnern könnte, wie ihn die positivistische Staatslehre gebraucht. Das ist aber schon deshalb nicht der Fall, weil Bodin 59 Darüber G. H a n o t a u x , Origines de l ' i n s t i t u t i o n des intendants des provinces, Paris 1884, u n d O t t o H i n t z e , D e r Commissarius u n d seine Bedeutung i n der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, Festgabe für K a r l Zeumer, W e i m a r 1910, p. 506, 514, w o die große historische Bedeutung dieses Kapitels v o n B o d i n hervorgehoben ist.

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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diesen juristischen Positivismus nicht teilt und kein von der Gerechtigkeitsidee losgelöstes Gesetz kennt. Sein Staat ist trotz seines Souveränitätsbegriffes ein Rechtsstaat, dessen Gesetze nicht einfach Machtäußerungen sind, die beliebig ergehen und zurückgenommen werden wie irgendwelche Reglements. Trotzdem er die Monarchomachen bekämpft, sieht er doch gleichzeitig in der Technisierung des Rechts durch Machiavelli etwas Verderbliches, einen ruchlosen Atheismus, den er als unwürdig von sich weist. Demnach würde er niemals zugeben können, daß der Wille des Souveräns irgendeinen beliebigen Satz zum Gesetz erheben kann. Das wäre für ihn nicht mehr Staat, sondern Tyrannei. Dann kann aber auch der Unterschied von Beamter und Kommissar nicht ausschließlich in einer willkürlichen Anordnung beruhen. Vielmehr ist ein monarchischer Rechtsstaat vorausgesetzt, der die bestehende Ämterorganisation grundsätzlich respektiert und dadurch eine Hierarchie konstituierter Amter und inhaltlich abgegrenzter Zuständigkeiten schafft. Darauf beruhen auch die weitern Unterscheidungsmerkmale, die Bodin anführt: ordentlich und außerordentlich, dauernd und vorübergehend. Die Gegenüberstellung von „trait perpétuel" und „occasion" beweist das, denn an sich müßte doch für Bodin das Argument des Grotius nahegelegen haben, daß bei Rechtsbegriffen die Dauer, das tempus, kein begriffliches Kriterium sein kann. Der Inhalt der Tätigkeit des Kommissars soll nach Bodin nach Lage der Sache, selon l'occasion qui se présente 60, verschieden sein, ein Diktator wurde daher ernannt, si res ita postularet. Es muß nun auffallen, daß Bodin gerade daraus den Schluß zieht, daß der Kommissar im Gegensatz zum ordentlichen Beamten einen geringem Spielraum und kein Ermessen haben soll. Hier ist Bodin allerdings in erster Linie von der historischen Anschauung der französischen Monarchie seiner Zeit abhängig. Er zählt eine Menge kommissarischer Betätigungen auf, ohne innerhalb der Kommissare verschiedene Arten zu unterscheiden, weil für ihn alles, was der Kommissar tut, unterschiedslos auf dem jederzeit widerrrufbaren Auftrag, der commission, beruht. Es ist zweckmäßig, anknüpfend an Bodin, aber genauer als er es getan hat, zwischen dem Dienstverhältnis, in dem der Funktionär zum Staate steht, und dem Inhalt seiner amtlichen Tätigkeit zu unterscheiden. Daß dieser Gegensatz Bodin nicht fremd ist, folgt schon daraus, daß er ausdrücklich erwähnt, auch ein Beamter könne mit 60

Diese W e n d u n g steht i n der französischen (ersten) Ausgabe v o n 1577, p. 275, ebenso 1580 u n d 1583, p. 375. I n der lateinischen Übersetzung fehlt allerdings das W o r t occasio, vgl. 1591, p. 342, die Frankfurter Ausgabe (bei Wechsel) v o n 1594, p. 416, die Frankfurter Ausgabe (bei N i e . H o f f m a n n ) v o n 1619, p. 406, ebenso die v o n 1622 (bei Jonas), dafür findet sich überall der H i n w e i s auf tempus, locus u n d res. 3*

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

irgendeiner Angelegenheit kommissarisch beauftragt werden. Was die ordentliche amtliche Tätigkeit im Gegensatz zur commission auszeichnet, liegt also darin, daß jene einen gesetzlich umschriebenen und demnach generell und vorher bestimmten Inhalt hat, wodurch sie von Ort und Zeit, der occasion, d. h. den besonderen Umständen des einzelnen Falles losgelöst wird. Dadurch wird jedoch der ordentliche Beamte an das Gesetz gebunden und die Entscheidung, die er im einzelnen Falle trifft, ist nur die Konkretisierung einer vom Gesetz generell bereits vorher getroffenen Entscheidung. Beim Kommissar dagegen steht erst im einzelnen Falle fest, wie seine Entscheidung ausfällt. Der Kommissar ist also anscheinend weniger gebunden, freier als der ordentliche Beamte, der nicht über den Rahmen einer gesetzlich normierten Tätigkeit hinausgehen darf. Der Grund, aus dem Bodin trotzdem den Beamten als frei und den Kommissar als abhängig hinstellt, liegt darin, daß in die Betrachtung des objektiven Inhalts die Vorstellung von dem Dienstverhältnis des staatlichen Funktionärs hineinspielt. Dadurch, daß beim ordentlichen Beamten das Gesetz die Grundlage seiner Tätigkeit ist, wird er unabhängiger gegenüber dem Souverän, der nichts an dem Inhalt dieser Tätigkeit ändern kann, ohne das Gesetz aufzuheben, während der Kommissar wie ein privater Beauftragter in jeder Einzelheit abhängig von den Weisungen des Auftraggebers bleibt. Die Verselbständigung, die in der gesetzlichen Umschreibung der Zuständigkeit liegt und die dem Amtsinhaber, wenn nicht rechtlich unmittelbar, so doch in der Reflexwirkung zugute kommt, fehlt beim Kommissar. Nach außen hin kann die Befugnis des Kommissars noch so groß sein, er bleibt immer das unmittelbare Werkzeug eines konkreten fremden Willens. Man kann sogar sagen, daß die Bindung an das Gesetz erst die Unabhängigkeit des Beamten schafft und diese um so größer ist, je mehr er ausschließlich nichts tut, als das Gesetz auf den einzelnen Fall anzuwenden 61 . 61 Daß auch nach moderner Auffassung der richterliche Beamte ein Recht am A m t hat (so Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 2. Auflage, I I . Bd., 1896, S. 218), bedeutet, daß er n u r unter erschwerten Voraussetzungen gegen seinen W i l l e n absetzbar ist. D i e gesetzlichen Bestimmungen, welche den Richter v o r w i l l k ü r l i c h e r A b s e t z u n g schützen u n d dadurch i n ihrer W i r k u n g die U n w i d e r r u f l i c h k e i t seiner K o m p e t e n z begründen, haben dieses Recht am A m t zur Folge. Es beruht natürlich nicht, w i e nach der mittelalterlichen Vorstellung, auf einem privaten, w o h l e r w o r b e n e n Recht des Amtsinhabers, das er etwa als Lehen oder kauf- oder pfandweise erw o r b e n hat. Das private Interesse, welches der Amtsinhaber daran haben kann, sein A m t auszuüben, k o m m t heute gegenüber dem öffentlichen I n teresse nicht mehr i n Betracht. D a d u r c h entfällt die M ö g l i c h k e i t , privatrechtliche Gesichtspunkte, w i e sie i n der Lehre v o m A u f t r a g oder der V o l l m a c h t herrschen, ohne weiteres auf die staatsrechtlichen Begriffe anzuwenden. T r o t z d e m ist die Gedankenarbeit der Privatrechtswissenschaft für

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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Der Kommissar hat aber nicht nur einen Auftrag, sondern, weil er „öffentliche Person" ist, notwendig auch eine Ermächtigung nach außen, denn er macht die staatliche Autorität ja nicht gegen seinen Auftraggeber, vor dem er kein Recht auf seine Tätigkeit hat, geltend, sondern nach außen hin gegen Dritte, Bürger des eigenen Staates wie Fremde. Die privatrechtlichen Analogien, die bei Bodin und bis ins 19. Jahrhundert hinein eine so große Rolle spielen, "beziehen sich nicht nur auf den Auftrag, sondern auch auf die Vollmacht, die Repräsentation. Dabei zeigt sich, daß Bodin ganz verschiedene Arten kommissarischer Tätigkeit ununterschieden gleich behandelt. Der Fleischbeschauer, die zahlreichen Polizeiund Verwaltungskommissare, der mit der Leitung militärischer Operationen betraute General, der Gesandte, der Diktator, alle sind für ihn in gleicher Weise Kommissare. N u n beruht ihre Tätigkeit allerdings immer nur auf einem Auftrag des Souveräns und nicht auf einer generellen gesetzlichen Bestimmung. Aber sowohl das öffentliche Recht auch heute nicht wertlos. D i e ratio einer Unterscheidung, die v. T u h r , D i e unwiderrufliche V o l l m a c h t , Straßburger Festschrift für Laband, T ü b i n g e n 1908, S. 52, für die unwiderrufliche V o l l m a c h t des Privatrechts aufstellt, ist vielmehr geeignet, auch i n öffentlich-rechtlichen Bestimmungen beachtet zu werden. Bei der E r ö r t e r u n g des Umfanges der unwiderruflichen V o l l m a c h t geht T u h r davon aus, daß zwar zweifellos eine unwiderrufliche V o l l m a c h t zur Verfügung über einzelne Rechte des Vollmachtgebers sowie zur Eingehung v o n V e r b i n d l i c h k e i t e n bestimmten Inhalts zulässig ist, daß dagegen Bedenken gegen eine unwiderrufliche V o l l m a c h t v o n sachlich unbegrenzter A u s d e h n u n g bestehen, w e i l hier dieselben G r ü n d e zutreffen, aus denen nach § 3 1 0 B G B . eine V e r p f l i c h t u n g zur Veräußerung des künftigen Vermögens nichtig ist. Daher ist auch die inhaltlich schrankenlose Prokura nach § 52 H G B . stets widerruflich, ebenso nach anerkannter Rechtsauffassung eine über einen engeren Kreis v o n Rechtshandlungen hinausgehende generelle V o l l m a c h t ( T u h r a. a. O . S. 55, sowie die dort A n m . 4 u. 5 zit. Literatur u n d R G E . , Zivilsachen, Bd. 52, S. 96). Das Prinzip der Unterscheidung, das auch für das öffentliche Recht beachtlich ist, liegt darin, daß eine Ermächtigung i m Rechtssinne ihrem Begriff nach n o r m i e r t sein muß u n d eine inhaltlich unbegrenzte Ermächtigung nicht etwa bloß eine quantitative A u s d e h n u n g einer umgrenzten E r mächtigung ist, sondern ein aliud. D e r Richter kann ein Recht auf das A m t haben, weil er der Idee nach an das Gesetz gebunden, der M u n d des Gesetzes ist. E i n Richter, der nach Lage der Sache entscheiden soll oder gar i m Dienst der Erreichung eines k o n k r e t e n Zweckes steht, w i e das M i t g l i e d eines Revolutionstribunals, wäre allerdings ein v o m Gesetz befreiter, aber dafür u m so enger an die Weisungen der i h n benutzenden M a c h t gebundener Agent. D i e größere Freiheit, die nach mancher neueren M e i n u n g der Richter haben sollte, liegt nicht i n der größeren Unabhängigkeit v o m Gesetz, sondern i n einer A u f l ö s u n g der gesetzlichen N o r m e n u n d Tatbestände. D i e Unabhängigkeit des richterlichen A m t s bleibt i m m e r das Korrelat der Abhängigkeit des Richters v o m Gesetz.

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

der Inhalt ihrer Tätigkeit und infolgedessen auch ihre Vollmachten sind wesentlich voneinander verschieden. Der Fleischbeschauer und die zahlreichen Verwaltungskommissare versehen, solange sie auf Grund ihres Dienstverhältnisses wirklich Kommissare sind — sie werden im Lauf der geschichtlichen Entwicklung meistens zu ordentlichen Beamten und behalten den Namen nur aus historischen Gründen —, eine Tätigkeit, die ebenso regelmäßig ist und durch generelle Anordnungen geregelt werden kann wie die eines ordentlichen Beamten, dessen Dienst ja auch kommissarisch wahrgenommen werden kann. Diese Art Kommissare, mit deren Tätigkeit besondere Vollmachten nicht verbunden sind, werden am besten als Dienstkommissare bezeichnet, wenn der Inhalt ihrer Tätigkeit durch allgemeine Anordnungen umschrieben ist. Handelt es sich um die Wahrnehmung eines einzelnen oder mehrerer besonderer Geschäfte, so ist der Kommissar Geschäftskommissar, dessen Vollmacht im einzelnen Falle von dem Willen seines Auftraggebers abhängig ist. Der Verhandlungskommissar ist ein Fall dieser Art kommissarischer Tätigkeit. Gerade für den Gesandten (der ein Geschäftskommissar ist, soweit er nicht wegen seiner regelmäßigen Dienstgeschäfte als Dienstkommissar bezeichnet werden muß) macht Bodin bereits eine Ausnahme von seinem Satze, daß der Kommissar in seiner „discrétion" eingeschränkt sei, indem er bemerkt, daß alles „selon les personnes" verschieden ist (p. 388). Der Diktator dagegen ist ein Kommissar, bei dem die Vollmacht, die er erhält, einen ganz andern Charakter hat als beim Dienst- und beim Geschäftskommissar. Hier wird das Interesse an einem zu bewirkenden Erfolg so groß, daß rechtliche Hindernisse, die der Erreichung des Erfolges im Wege stehen, gegebenenfalls (worüber der Kommissar entscheidet) beseitigt werden können. Im Interesse des durch die Aktion des Diktators zu erreichenden Zweckes erhält der Diktator eine Vollmacht, deren wesentliche Bedeutung in der Aufhebung von Rechtsschranken und in der Befugnis zu den nach Lage der Sache notwendigen Eingriffen in Rechte Dritter besteht. Es werden also nicht etwa die Gesetze aufgehoben, auf welchen jene Rechte Dritter beruhen, sondern es darf nur im konkreten Falle ohne Rücksicht auf die Rechte gehandelt werden, wenn das nach Lage der Sache zur Durchführung der Aktion erforderlich ist. Es wird auch nicht positiv ein Gesetz erlassen, welches jene Eingriffe als Zuständigkeit des Diktators tatbestandsmäßig generell umschreibt, vielmehr werden „Ausnahmen nach Lage der Sache" zugelassen, ein Begriff, der einer generellen Regelung durch Gesetz logisch widerspricht. Für diese Art Kommissar soll hier die Bezeichnung Aktionskommissar gebraucht werden. Der Diktator wäre ein absoluter Aktionskommissar. Ihm gegenüber versagt sowohl die formelle Betrachtungsweise der neueren positivistischen Staats-

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lehre als auch Bodins formale Unterscheidung von Gesetz und Ordonnanz. Der Diktator, wie Bodin ihn auffaßt, ist nämlich begriffsnotwendig Kommissar, seiner Tätigkeit ist es, rechtlich betrachtet, wesentlich, daß sie gar nicht anders als kommissarisch wahrgenommen werden kann. Hier steht es also nicht mehr im Belieben des Souveräns, nach seiner Wahl ein Gesetz oder eine Ordonnanz zu erlassen. Das Gesetz, das nach Bodin die Zuständigkeit des ordentlichen Beamten begründet, müßte den Inhalt dieser Zuständigkeit generell angeben. Ein Gesetz aber des Inhalts, daß rücksichtslos alles geschehen kann, was nach Lage der Sache erforderlich ist, wäre das Gegenteil einer Zuständigkeitsregelung, es wäre die Aufhebung aller Zuständigkeiten und gesetzlichen Schranken. Die Diktatur kann kein ordentliches Amt und kein munus perpetuum sein. Erhält sie den „trait perpétuel", so hat der Diktator nicht nur ein Recht auf sein Amt, sondern er wäre Souverän und kein Diktator mehr, weil Bodin die souveräne Diktatur nicht gelten lassen will. Auch da, wo eine neue staatliche Organisation begründet wird, setzt er immer voraus, daß der Souverän bereits konstituiert ist. Er bemerkt, daß alle Staaten am Anfang ihrer Entwicklung nicht ordentliche Beamte, sondern nur Kommissare verwenden und jede Neuorganisation des Staates, jede „reformatio" sich außerordentlicher Beauftragter reipublicae constituendae causa bedienen muß, um allerdings im Laufe der Entwicklung den Kommissar in einen ordentlichen Beamten zu verwandeln (p. 378, 379, 392, 393). Auch diese den Staat neu konstituierenden Kommissare trennt Bodin nicht von allen andern. Seine Unterscheidung zwischen den beiden Arten staatlicher Tätigkeit setzte einen klaren Gegensatz von Gesetz und Ordonnanz voraus und mußte bei der weitern Entwicklung des Absolutismus gegenstandslos werden, weil in der absolutistischen Staatlslehre jede staatliche Machtäußerung im wesentlichen und ununterschieden nur auf dem Willen des Fürsten beruht. Dadurch ging, obwohl sein Souveränitätsbegriff den bekannten Erfolg hatte, eine wichtige Erkenntnis Bodins verloren. Auch die gegen den Absolutismus und seine Kommissionen streitende Literatur kam nicht darauf zurück. Wenn im 17. Jahrhundert Algernon Sidney die Diktatur erwähnt, so tut er das nicht, um seinem politischen Gegner, dem Absolutismus, den Vorwurf zu machen, daß er eine Diktatur sei, sondern weil die Diktatur für ihn die traditionelle klassische Bedeutung hat und ein der freien römischen Republik charakteristisches Institut ist 62 . Was Locke angeht, der, wie kaum ein anderer, die ausschließ62 Discourses concerning government, chap. I I , section X I I I (in der d r i t ten Auflage, L o n d o n 1751, p. 119): I do therefore grant that a p o w e r like to the dictatorian . . . kept perpetually under the supreme a u t h o r i t y of the

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I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre

liehe Bedeutung des Rechts und die Gleichgültigkeit der bloß tatsächlichen Gewalt zur Grundlage seiner Deduktionen macht, so scheint der Begriff der Diktatur keinen Platz in einem System zu finden, in dem alles auf ein einfaches Entweder-Oder ankommt: Recht oder Unrecht, Gesetz oder Despotismus, Einverständnis des Volkes oder Gewalt. Die Macht der Tatsachen ist für ihn sinnlos; was nur Macht und nur Tatsache ist, geht eben das Recht nichts an. Die nicht gesetzmäßige, nichts als faktische Gewalt ist das Tierische, the way of beasts. Daran kann auch der König durch Befehle oder Kommissionen nichts ändern. In diesem Zusammenhang spricht er den Satz aus, der auch heute noch für das englische Recht anerkannt und der historisch aus dem Kampf gegen den Kommissar als das Werkzeug des Absolutismus zu erklären ist: keine Handlung eines Untergebenen wird durch die Kommission des Königs entschuldigt, nur das auf der Zustimmung des Volkes beruhende Gesetz kann sie rechtfertigen; nicht die commission, sondern das Gesetz verleiht staatliche Autorität, the law gives authority 6 3 . Als Locke das schrieb, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, war der englische Absolutismus schon besiegt und die Frage der königlichen Kommissionen durch die bill of rights erledigt 64 . Aber der Begriff der commission tritt an einer andern Stelle bei Locke wieder auf und beweist, wie wenig einfach sein scheinbar plausibles System ist. Er kennt eine königliche Prärogative, die darin bestehen soll, das öffentliche Interesse wahrzunehmen „without a rule" (civil government § 166). Der Gesetzgeber, sagt er, kann nicht alles vorhersehen (der Satz ist Gemeingut der alten Lehre von der aequitas, people, may b y virtuous and w e l l disciplined nations u p o n some occasions be p r u d e n t l y granted t o a virtuous man; der D i k t a t o r hat m i t einem M o n archen, whose p o w e r is i n himself, nichts z u tun, sie w i r d nur für außergew ö h n l i c h e Fälle geschaffen, u n d das V o l k behält i m m e r seine M a c h t . Daß der D i k t a t o r n u r occasionally ernannt w u r d e , hebt er mehrmals hervor, daß gerade die D i k t a t u r den Ubergang v o n der D e m o k r a t i e z u m A b s o l u tismus v e r m i t t e l n kann, bemerkt er nicht, o b w o h l er Caesar den Q u e l l e n entsprechend als perpetual dictator bezeichnet (121, 134-138). E r spricht v o n der commission des D i k t a t o r s , die darin bestand, ne q u i d detrimenti etc. (p. 400, 401). D o c h sagt er i m Gegensatz z u der Herrschaft Caesars v o n dem England seiner Zeit, we have no dictatorian p o w e r over us (p. 283), u n d meint damit eine v o m W i l l e n der Regierten unabhängige Herrschaft. D i e Äußerungen stehen ganz i n der klassischen Uberlieferung, die der englischen O p p o s i t i o n gegen das K ö n i g t u m am stärksten w o h l d u r c h M i l t o n vermittelt war. 63

O f civil government I I chapt. X V I I I of tyranny. D e r letzte Fall einer gegen die parlamentarischen Prinzipien verstoßenden K o m m i s s i o n : die v o n Jakob I I . beauftragte V i s i t a t i o n s k o m m i s s i o n für das Magdalen College i n O x f o r d , Hatschek, Englisches Staatsrecht, I. Bd. S. 558. 64

b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin

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έπιεικεΐα). Daher soll derjenige, dem die tatsächliche Macht des Staates zwecks Ausführung der Gesetze zu Gebote steht, nach allgemeinen naturrechtlichen Grundsätzen das Recht haben (obwohl er zunächst nur die Macht hat), in unvorhergesehenen Fällen von seiner Macht Gebrauch zu machen, bis die gesetzgebende Versammlung wieder ordnungsmäßig versammelt ist. Der Gesetzgeber selbst soll die Möglichkeit vorsehen, daß er nicht alles voraussehen kann (§ 159). Ein Problem von besonderer politischer Bedeutung sieht Locke hier anscheinend nicht. Aber er geht noch weiter in der Rücksicht auf die tatsächliche Lage der Sache. Die einfache Einteilung der staatlichen Funktionen in Gesetz und Ausführung des Gesetzes, wie sie der monarchomachischen Gegenüberstellung von Volk, d. h. Ständen und König entspricht, wird bei Locke durch eine dritte Gewalt bereichert, the federative power. Die Exekutive, die in die einfache Formel Gesetz und Ausführung des Gesetzes geht, betrifft nur die innern Angelegenheiten, die foederative Gewalt bezieht sich dagegen auf das, was man gegen Fremde (foreigners) tut, Krieg und Frieden, Abschluß völkerrechtlicher Verträge usw. Hier aber ist nach Locke eine Direktion durch vorherige und generelle Gesetze (by antecedent standing positive laws) weniger möglich; alles hängt ab von den verschiedenen Interessen und Plänen des Gegners; infolgedessen muß alles der Klugheit einzelner überlassen werden, damit diese den Vorteil des Gemeinwesens wahrnehmen. Hier kehrt deshalb das Wort committere in charakteristischer Bedeutung wieder 65 . Der Auftrag, das zu tun, was jeweils nach Lage der Sache im maßgebenden Interesse geboten ist, verbunden mit entsprechenden Befugnissen, die staatliche Autorität zu repräsentieren, ist allerdings der charakteristische Inhalt einer commissio.

65 C i v i l gov. § 147: B u t w h a t is t o be done i n reference t o foreigners, depending m u c h u p o n their actions and the variations of designs and i n terests, must be left i n great part t o the prudence of those, w o have this p o w e r c o m m i t t e d t o them, t o be managed b y the best of their skill, for the advantage of the c o m m o n w e a l t h .

I I . Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert Eine staatsrechtliche Betrachtung wird den Übergang vom Mittelalter zum Begriff des modernen Staates darin erblicken können, daß der Begriff der päpstlichen plenitudo potestatis zur Grundlage einer großen reformatio, einer Ümgestaltung der gesamten kirchlichen Organisation wurde. Dieser Begriff wurde der rechtliche Ausdruck dafür, daß die souveräne Zentralgewalt ohne Rücksicht auf die für den mittelalterlichen Rechtsstaat charakteristischen wohlerworbenen Privilegien und Rechte am Amt, wie sie dem Amtsinhaber zustanden, eine neue Organisation schuf und das seltene Beispiel einer legitimen, auch von dem Betroffenen prinzipiell anerkannten Revolution gab, die von einem wohlkonstituierten (nicht erst durch die Revolution selbst sich konstituierenden) Organ durchgeführt wurde. Die päpstliche Souveränität innerhalb der Kirche hat den mittelalterlichen Lehnsstaat bereits im 13. Jahrhundert überwunden. Das Wesentliche der päpstlichen Amtsgewalt liegt seit Innozenz III. darin, daß der Papst nicht mehr nur der oberste Lehnsherr der Kirche ist; „er verfügt über die Einkünfte der Kirche uneingeschränkt: er verteilt ihre Amter und Benefizien nach reiner Willkür und Gnade, er ist nicht nur der oberste, er ist der alleinige Herr der Kirche . . . Die Prälaten sind nicht mehr seine Vasallen, sondern seine Beamten, der Lehnseid ist, ohne daß seine Worte geändert wurden, zum Amtseid geworden und bleibt in der Hauptsache derselbe, ob ihn nun ein Erzbischof, ein päpstlicher Auditor oder ein Notar schwört" 1 . Daß der Papst dem weltlichen Regiment, dem regnum gegenüber nur oberster Lehnsherr bleibt und nicht, wie Hauck es darstellt, die weltliche Regierungsgewalt ausschalten will 2 , ist neben dieser die innere Umgestaltung des kirchlichen Organismus betreffenden Änderung hier nicht von Interesse. Was an der plenitudo potestatis als revolutionär empfunden wurde, war die Aufhebung der mittelalterlichen Vorstellung unbedingt feststehender Stufenfolgen der Amter, die auch vor der höchsten 1

J. Haller, Papsttum u n d Kirchenreform, I. Bd., Berlin 1903, S. 26. A l b e r t H a u c k , D e r Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft, 1904; Kirchengeschichte Deutschlands, I V . Bd., 3 / 4. A u f l . 1913, S. 714 ff. D a z u Ernst Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen i n ihrem Einfluß auf die P o l i t i k u n d Geschichtsschreibung I , T ü b i n g e n 1918, S. 221. 2

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Instanz als ein dem Amtsinhaber zukommendes Recht bestanden. Bei Marsilius von Padua ist die plenitudo potestatis bereits der Begriff, gegen den er kämpft, und delegierte Kommissare des Papstes erscheinen als die Werkzeuge dieser päpstlichen Machtvollkommenheit, dieser „Tyrannei", deren Merkmal nach Marsilius darin besteht, daß sie unmittelbar, immediate, in die Ämter und Zuständigkeiten eingreift und dadurch den wohlgegliederten Bau der Kirche in ein wüstes, formloses Monstrum verwandelt 3 . Aber auch die großen Gelehrten wie Gerson, die anders als die von Marsilius herkommenden Radikalen Wiclif und Hus an dem Primat des Papstes und dem monarchischen Charakter der Kirche festhalten, erheben denselben Vorwurf. Aus einer rechtslogischen Notwendigkeit gelangten sie, ähnlich wie die konstitutionelle Staatslehre des 19. Jahrhunderts, zu der Unterscheidung von Substanz der rechtlichen Allgewalt und ihrer Ausübung, die Ausübung wollten sie der Kontrolle des Konzils unterwerfen 4 . Der abstrakten Konsequenz, die darin liegt, daß das Wesen der Gewalt des Höheren es mit sich bringt, alles tun zu können, was zum Wirkungskreis des Niederen gehört, konnten sie sich nicht entziehen. Aber die überlieferte mittelalterliche Auffassung des wohlerworbenen Amtes stand dem entgegen. Natürlich, sagt Gerson am Schluß seines Traktats de potestate ecclesiae, muß die plenitudo potestatis, d. h. die plenitudo ordinis et jurisdictionis bei einem einzigen sein, aber, fährt er fort, das ist nicht so zu verstehen, als hätte der Papst immediate jede beliebige Jurisdiction über jeden Christen und könne er sie beliebig per se vel alios extraordinarios ausüben, denn damit würde er die ordinarios praejudizieren, die ein unmittelbares Recht an den ihnen übertragenen Handlungen (actus) haben. Der Papst ist der Vorgesetzte (praesidet), jedoch nicht so, als ob das Haupt die Glieder vernichten dürfte (non ita ut caput gravidum membra reliquae obruat mole suo); er soll nicht contra naturam dem einzelnen Glied 3

Defensor Pacis I I . c 23 (24) de moribus curiae romanae ( i n der Ausgabe v o n Richard Scholz, Quellensammlung zur deutschen Geschichte, herausgegeben v o n Brandenburg u n d Seeliger, L e i p z i g 1914, S. 102). 4 Statt vieler Beispiele Gerson, D e potestate ecclesiae I I , 240: der Papst hat zwar die p l e n i t u d o potestatis, die Gesamtheit der Kirche, vertreten d u r c h das K o n z i l , reguliert aber applicationem et usum, u m einen M i ß brauch zu verhindern; oder d ' A i l l y : ad regulandum u s u m plenitudinis p o testatis n o n expedit Ecclesiae q u o d ipsa regatur regimine regio p u r o , sed m i x t o c u m Aristocratia et Democratia. J. B. Schwab, Gerson, W ü r z b u r g 1858, p. 738, der diese Stellen zitiert, nennt die Unterscheidung v o n Substanz der Gewalt u n d ihrer A u s ü b u n g den „bekannten Zauberstab der Scholastik", der D i s t i n k t i o n . Betrachtet man aber die Geschichte dieser D i s t i n k t i o n bis auf den heutigen Tag, bis i n das deutsche Betriebsrätegesetz v o m 9. Februar 1920, so w i r d diese Ironisierung der Scholastik vielleicht doch etwas v o n ihrer Überlegenheit einbüßen.

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

dessen officia wegnehmen. N u r im Fall der necessitas und einer evidens utilitas ecclesiae ist ein unmittelbarer Eingriff zulässig. Daß die außerordentlichen und unmittelbaren Eingriffe der höchsten Gewalt als das eigentlich Umwälzende empfunden wurden, obwohl auch eine legitime „reformatio" nicht ohne Umgestaltung der bestehenden Organisation und Verletzung wohlerworbener Ansprüche oder Anwartschaften durchgeführt werden kann, ist an der Entrüstung zu erkennen, die noch in der Darstellung von Hauck lebendig ist. Hauck hat die Praxis Innozenz' III. eingehend dargestellt: der Papst schickt, wie es schon unter Coelestin gelegentlich geschehen war, Spezialbevollmächtigte zur richterlichen Behandlung einer Angelegenheit, um die Sache an Ort und Stelle zu prüfen und zu entscheiden. Die Kommissare waren in der Regel Ordensleute, Äbte, Pröpste oder niedere Kleriker; häufig hatten sie über andere Kleriker zu richten, die ihnen im hierarchischen Rang vorgingen; es kam vor, daß der Untergebene mit einer Untersuchung gegen den Vorgesetzten beauftragt wurde. „Wollte Innozenz", fragt Hauck, „die Welt davon überzeugen, daß nicht das Amt, sondern der päpstliche Auftrag einem jeden seine Stellung in der Kirche gibt? Er hat es nirgends ausgesprochen, aber sein Verhalten zeigt, daß er auf das historische Recht auch in dieser Hinsicht keinen großen Wert legt." Vor dieser plenitudo potestatis mußten jedenfalls alle Instanzen und Kompetenzen und das jus quaesitum am Amt verschwinden. Wo der päpstliche Legat war, verfügte er über die Ämter, ordinierte Bischöfe, visitierte und reformierte die Kirchen und die Diözesen, entschied in Sachen des Glaubens und der Disziplin und erließ allgemeine Statuten5. Die rechtliche Grundlage dieser umfassenden Befugnisse wurde in der Weise konstruiert, daß alles, was der Legat tat, als vom Papst selbst vorgenommen betrachtet wurde, vorbehaltlich des päpstlichen Widerrufs. Legatus vices gerit domini papae heißt es in dem verbreiteten Handbuch der kanonistischen Praxis, dem (um 1272 erschienenen) Speculum juris Durandi; er hat einen Auftrag, den er erfüllen muß, stellen sich ihm auf seinem Wege Hindernisse entgegen, so kann er alle, die ihn hindern oder ihm nicht gehorchen, strafen, denn seine potestas wäre ja „delusoria", wenn er keine coercitio hätte. Auch diese übt er wieder, weil er selbst nicht überall gleichzeitig persönlich anwesend sein kann, durch seine Instrumente aus, in derselben Weise, wie er selbst das Instrument des Papstes ist. Der Papst ist durch den Legaten überall. Rom ist das gemeinsame Vaterland. Darauf beruht die universale Kompetenz des Papstes6. 5 A l b e r t H a u c k , Kirchengeschichte Deutschlands I V , S. 798 / 9; die i m T e x t zitierte Ä u ß e r u n g Haucks a. a. O . S. 756 / 7. 6 D u r a n d i spec, de legato, §§ 2, 4.

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Nicht dieses Recht des Papstes wird bestritten, die Opposition bekämpft nur den Mißbrauch eines anerkannten Rechts und will es auf den Fall der wirklichen necessitas beschränken 7. Weil sich die obrigkeitliche Gewalt entsprechend der mittelalterlichen Auffassung als Gerichtsbarkeit äußert, erscheint der Legat zunächst als judex delegatus. Seine Befugnisse gehen allerdings in der Sache über die richterliche Prüfung und Entscheidung weit hinaus. Man kann daher umgekehrt auch nicht jede delegierte und außerordentliche richterliche Tätigkeit mit der des Legaten gleichstellen. Freilich beruht die Tätigkeit beider auf einem Auftrag, einer commissio. Das Wort committere ist bereits im kanonischen Recht ein technischer Ausdruck und bezeichnet im Gegensatz zu remitiere die Übertragung einer Jurisdiktionsbefugnis an jemand, der sie sonst nicht haben würde, also einen andern als den ordentlichen Richter. Der den Ausführungen Bodins zugrunde liegende Gegensatz einer auf Gesetz (lex, constitutio) oder Auftrag (commissio) beruhenden obrigkeitlichen Befugnis ist hier mit größter Klarheit aufgestellt 8. Die üblichen Fälle, wie Vorladung oder Beweisaufnahme durch den kommissarischen Richter (commissio citationis testium vel jusjurandi receptio etc.), werden als Beispiele neben der executio aufgezählt, obwohl hier, weil der kommissarische Exekutor nicht nur als Richter prüfend und entscheidend, also rechtsprechend, sondern recht verwirklichend tätig ist, wieder die Lage der Sache erscheint und den Rahmen der nur jurisdiktioneilen Funktion sprengt. Was sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung noch mehrfach zeigen wird, tritt bereits hervor: die executio gehört zur Gerichtsbarkeit, aber weil sie in den wirklichen Ablauf eines konkreten Geschehens kausal eingreifen muß, ergibt sich aus ihrer Natur, daß sie über das Erkenntnisverfahren hinausgreift: sie führt vielleicht zu weitern Verhandlungen und nach Lage der Sache z. B. bei Widerstand des exequendus zu Maßnahmen, deren Umfang und Größe unberechenbar sein kann. Hier tritt daher die charakte7

D i e h e r k ö m m l i c h e Lehre v o n der aequitas oder έ π ι κ ί α , welche die Fälle aufzählte, i n denen man v o m Gesetz abweichen k a n n (S. Thomas, Summa th. I I , I I qu. C X X , opera t. I X u n d der K o m m e n t a r des Kardinals Cajetan op. V I I , p. 187), w u r d e auf öffentlich-rechtliche Vorstellungen o h ne weiteres übertragen, so daß die eigentliche Frage, w e r n ä m l i c h über den N o t f a l l entscheidet, nicht so gestellt w u r d e w i e i n der modernen Staatslehre, vgl. oben S. 22, 24. 8

Eod. 1. de judice delegato § 1: aliud est j u r i s d i c t i o n e m committere, aliud remitiere. C o m m i t t i d i c i t u r quando alias q u i c o m m i t t i t u r n o n habet jurisdictionem et tunc est delegatus. R e m i t t i d i c i t u r quando alias habebat jurisdictionem et tunc est Ordinarius. Eine Geschäftsverteilung unter mehrere ordentliche Richter ist keine commissio. § 6: M i t d e m T o d e des Deleganten verliert der Delegierte seine J u r i s d i k t i o n (vgl. B o d i n p. 384).

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ristische Wendung auf, daß das Nähere der discretio des mit der Herbeiführung eines konkreten Zustandes betrauten Exekutionskommissars anheimgestellt wird 9 . Aber auch abgesehen davon treten große Veränderungen des ordentlichen Rechtweges dadurch ein, daß weitgehende Kommissionen ohne genauere Umgrenzung ihres Inhaltes vorkommen und durch den Ubergang der Zuständigkeiten auch der Inhalt der richterlichen Tätigkeit sich ändert. Ein Beispiel weitester Delegation ist das den päpstlichen Auditoren zustehende Recht, überall Kommissionen zu erteilen, weil sie vom Papst sämtliche Prozesse der Welt kommittiert erhalten haben und auf Grund einer Generalkommission über alle Appellationen als quasiordinarii entscheiden10. Ferner kann der princeps einem außerordentlichen Richter Fälle zur definitiven Entscheidung übertragen unter Ausschluß der Rechtsmittel (remota appellatione) oder Zulassung eines summarischen Verfahrens. Über das Gebiet der Gerichtsbarkeit hinaus gehen Kommissionen wie die Visitationsbefugnisse der Bettelmönche, die nicht nur Mißstände feststellen und darüber berichten, sondern auch auf die Beseitigung hinwirken, ja organisatorische Änderungen treffen, und dadurch in die Kompetenz der Bischöfe eingreifen dürfen 11 . Dem Legaten konnte allgemein eine Provinz zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und des Friedens der Bevölkerung (pax, quies populorum) und zur Säuberung von schlechten Elementen (purgare malis hominibus) übergeben werden. Er zog in der ihm überwiesenen Provinz jede vor das geistliche Gericht gehörige Sache nach Belieben an sich und galt dabei nicht als außerordentlicher Richter, weil er ja den Papst vertrat (vices gerit) und der Papst Ordinarius singulorum ist. Seine Vollmacht bewies er durch literae legationis, die er üblicherweise beim Betreten seiner Provinz publizierte, damit man sich nicht auf Unkenntnis berufen konnte. In der Vollmacht erhielt er gewöhnlich auch die plena potestas übertragen, die für seinen Unterhalt und seine Auslagen erforderlichen 9 V g l . das C o m m i s s o r i u m , das I n n o z e n z I I I . 1205 *dem A b t v o n St. Emeran u n d andern gegen den Bischof K o n r a d I V . erteilt: ein A r c h i d i a k o n beschwert sich, daß der Bischof i h n rechtswidrig i m Besitz eines der Regensburger K i r c h e verliehenen Lehens stört; es w i r d der discretio der Kommissare überlassen, den Bischof z u m rechtmäßigen Verhalten d u r c h kirchliche Strafmittel z u z w i n g e n ( m o n i t i o n e praemissa per censuram ecclesiasticam appellatione remota cogatis) M i g n e , patrologia latina t. 217 (Innocentius I I I . t. 4) p. 146, n. X C V I I I , ferner z. B. n. C X X X V I I I p. 193 u. a. 10

D u r a n d i spec. § 2 η. 9: universitas caussarum audiendarum totius m u n d i est ipsis (sc. auditoribus palatii d o m i n i papae) commissa u t ex generali commissione audiant vice d o m i n i papae caussas appellationis. 11

H a u c k , a. a. O . S. 799, 800.

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Beträge aufzuerlegen und einzutreiben. Er erließ nach Lage der Sache allgemeine Anordnungen, vermittelte bei Streitigkeiten in seiner Provinz und erkannte auch über Streitigkeiten von Fürsten. Die Vollmachten der verschiedenen Arten von Legaten waren verschieden. Hier interessiert, daß sie über die Gerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne hinaus organisatorische und administrative Befugnisse hatten. Der Legat ist als ein missus vices gerens und Repräsentant vom ordentlichen und dem vom ordentlichen Richter emanierenden kommissarischen Richter zu unterscheiden, von dem es nicht in demselben Sinne wie vom missus heißt, daß er „vices gerit". Die Grundlage der rechtlichen Konstruktion aller obrigkeitlichen Befugnisse bleibt allerdings die Vorstellung der persönlichen Repräsentation und Stellvertretung, die in einem geschlossenen, bei der zweifellos höchsten Person endenden Zusammenhang persönlicher Repräsentationen steht. Der Papst selbst ist der vicarius Christi, als dessen Kommissar er auch bezeichnet wird 1 2 . Die Vorstellung der Persönlichkeit Christi ist also das letzthin Entscheidende dieser Rechtsanschauung. Solange der Kommissar nur Richter war und nur richterliche Befugnisse im engsten Sinne ausübte, trat durch die kommissarische Wahrnehmung des Amtes formell keine Änderung des Inhaltes der Amtstätigkeit ein. Denn auch wenn die Kommission sich mit einer Beseitigung von Rechtsmitteln und einem summarischen Verfahren verband, so tat wenigstens der Konstruktion nach der richterliche Kommissar nur das, was schließlich doch auch der ordentliche Richter getan hätte. Anders wenn die Tätigkeit über die Anwendung eines Rechtssatzes hinausgeht und Handlungen umfaßt, die zur Erreichung eines konkreten Zweckes notwendig sind und mit obrigkeitlicher Autorität wahrgenommen werden. Das ist schon beim Legaten und bei manchen Exekutionskommissaren in weitem Umfang der Fall gewesen. Noch mehr tritt es hervor, wenn weltliche Fürsten zur Durchführung besonderer Aufgaben, zur Beseitigung von Mißständen und Mißbrauch der Ämter oder zur Beitreibung von Steuern Sendlinge mit besondern Aufgaben und Befugnissen schicken. Solche missi stehen, wie schon Bodin bemerkt hat, am Anfang jeder neuen staatlichen Ordnung und finden sich wohl in allen europäischen Staaten, die sich im Mittelalter ausbilden. Das Institut der fränkischen missi regii, das Bodin und Delamare als einen Fall kommissarischer Amtsausübung bezeichnen, hat keine unmittelbare Fortsetzung gefunden. Natürlich delegierte auch der deutsche Kaiser Richter und waren außerordentliche Richter 12

So erklärt sich die B e m e r k u n g v o n R e i n k i n g k , Tractatus de regimine, 1. I , cl. I I , cap. 4 η. 23: der Papst trete als commissarius C h r i s t i auf, aber er k ö n n e keine I n s t r u k t i o n u n d k e i n M a n d a t vorzeigen.

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überall bekannt. Reisende Richter, itinerarii, discussores und inquisitores kommen im Mittelalter in den verschiedenen Ländern vor. Das Wort Kommissar ist so allgemein, daß es für jede Art Auftrag und für die verschiedensten Arten der Erledigung staatlicher Aufgaben verwertet wird, und nicht nur die Fürsten, sondern auch die Stände bestellen Kommissare. Namentlich in England waren neben den im Dienst des Königs herumreitenden Richtern und den auf Grund königlicher Kommission tätigen Beauftragten ständische commissioners mit Aufgaben der lokalen Verwaltung betraut. In Frankreich wird gewöhnlich an erster Stelle die große enquête Ludwigs des Heiligen von 1247 genannt, die entsandt wurde, um Beschwerden der „armen Untertanen" gegen die lokalen Gewalten entgegenzunehmen und ihnen abzuhelfen (corrigere quae corrigenda). Sie erhielt zu diesem Zwecke nicht nur Aufsichtsbefugnisse, sondern auch richterliche Entscheidungs- und Strafgewalt. Später wurden solche enquêteurs und réformateurs zu verschiedenartigen Zwecken entsandt. Die typische Entwicklung, die schon Bodin hervorgehoben hat, geht dahin, daß der ambulante missus seßhaft und aus der Kommission ein ständiges Amt wird 1 3 . In Ländern, in de13 D i e französischen prévôts (praepositi), die richterliche, militärische u n d Verwaltungsbefugnisse m i t kommissarischem Charakter hatten, w u r den i n der M i t t e des 15. Jahrhunderts ( m i t den stehenden Heeren) seßhaft u n d erhielten bestimmte Amtsbezirke, i n denen sie m i t H i l f e ihrer Bewaffneten die öffentliche Sicherheit u n d O r d n u n g aufrechterhielten u n d die „Prevotal-Gerichtsbarkeit" über bestimmte D e l i k t e (Straßenraub, Zusammenrottungen u n d andere Fälle der Störung der öffentlichen Sicherheit) ausübten. A u c h die Baillis, die ursprünglich als missi des Königs einen bestimmten Bezirk zur V e r w a l t u n g übertragen erhalten hatten, ordneten sich teilweise i n die feudale Hierarchie ein u n d w u r d e n z u m intermédiaire zwischen dem K ö n i g u n d dem prévôt. D i e Ermächtigung für die verschiedenen Reformations- u n d Aufsichtskommissare lautet typisch dahin, daß sie „ p l e i n p o u v o i r , autorité, commission et mandement" erhalten, alles z u t u n , was zur E r f ü l l u n g ihres Auftrags gehört, alle baillifs, sénéchaux u n d andere officiers et sujets werden z u m Gehorsam aufgefordert, der K o m missar erhält Zwanesbefugnisse, freilich n u r par toutes voies et manières deues et raisonnables; Beschwerden u n d A p p e l l a t i o n e n sind gegen i h n nicht gegeben. V g l . R o b . H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte (Below-Meineckes H a n d b u c h ) , 1910; Paul V i o l l e t , H i s t o i r e des institutions politiques et administratives de la France, t. I I I , Paris 1903, p. 261, Esmein, Cours d'histoire d u d r o i t français, 9. éd. Paris 1908, p. 350, Langlois bei Lavisse, H i s t o i r e de France I I I 2, p. 346, u n d Petit-Dutaillis, I V 2, p. 246, H a n o t a u x , H i s t o i r e d u cardinal Richelieu, 1.1, 1893, p. 263, die A r t i k e l Bailli, Prévôt usw. i n dem Glossaire v o n Rageau-Laurière, N i o r t , 1882, ). 393, Delamare, Traité de police, 1.1, p. 194. F ü r die englische E n t w i c k u n g Hatschek, a. a. Ο . I, S. 558 u n d Englische Verfassungsgeschichte (Below-Meineckes H a n d b u c h ) , 1913, S. 256 (über die englischen friedensrichterlichen Kommissionen); Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, S. 224;

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nen sich die Macht der Stände hält, wie in Deutschland und England, treten die ständischen (Land-)Kommissare neben den Hofkommissaren selbständig auf, auch wenn sie vom König ernannt werden. Der Kommissar kann also ebensogut das Instrument des auf die Wahrung seiner Rechte bedachten Ständetums wie des unter Beseitigung der ständischen Privilegien sich einrichtenden fürstlichen Absolutismus sein. Überall herrschen Klagen über die außerordentlichen fürstlichen Kommissare, die sowohl in die Zuständigkeiten wie in wohlerworbene Rechte eingreifen und sich dabei auf ihre Kommission berufen 14 . Die Kommissare delegierten ihre Befugnisse an Untergebene, mit deren Hilfe sie ihre Aufgaben durchführten, weiter, so daß durch Subdelegation immer neue Kommissare entstehen. Doch gilt als Grundsatz, daß die hohe Gerichtsbarkeit, das merum imperium oder jus gladii nicht subdelegiert werden konnte. Weil die Entscheidungen des fürstlichen Kommissars vom Fürsten emanieren, so gilt die Entscheidung als die des Königs und beraubt den Betroffenen der ordentlichen Rechtsmittel. Die lokalen Gewalten wußten sich häufig mit den Kommissaren zu einigen, zumal die Kommissare selbst nach den feudalen Vorstellungen allmählich erbliche Ämter erhielten, namentlich die Finanzkommissare, welche die beizutreibenden Steuern selbst pachteten und sich auf diese Weise bezahlt machten. Es kam auch vor, daß die Stände dem Fürsten eine Reformationskommission abkauften. Neben diesen missi des Fürsten treten aber seit dem 14. Jahrhundert in italienischen Staaten andere Kommissare auf, deren Aufgabe darin besteht, als Vertreter der Regierung beim Heere den Heerführer, den capitaneus, zu kontrollieren und die staatlichen Funktionen wahrzunehmen, die man dem Söldnerführer nicht anvertrauen wollte. Der Inhalt der Tätigkeit dieser Heereskommissare war verschieden, zum Teil waren sie Dienstkommissare der Heeresverwaltung in Angelegenheiten der Intendantur (proweditori), zum Teil haben sie politische Aufgaben, namentlich Verhandlungen mit dem Gegner, sind also Geschäftskommissare (governatore, consiliarius, officialis, deputatus), zum Teil endlich leiten sie die Aktion etwa im Interesse der Niederschlagung einer Rebellion und haben H i n t z e , a. a. O . S. 520; über die Kommissare als Steuerbeamte W . L ö t z , Finanzwissenschaft, T ü b i n g e n 1917, S. 21, 229, u n d die d o r t angegebene finanztechnische Literatur. 14 Beispiele aus Frankreich u n d Savoyen bei H i n t z e , a. a. O . S. 522, 523; ein schönes Beispiel für Organisationskommissare bei Languet, Arcana pars. I I , 1. I, ep. C X I (1577): Bathorius v o n Polen benutzt die Religionsstreitigkeiten i n Preußen, u m commissarios i n das Gebiet des Herzogs v o n Preußen z u schicken, ad constituendam administrationem, q u i omnia p r o arbitrio i b i agere dicuntur. 4 C. Schmitt, Die Diktatur

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dafür die militärische Macht, bei der sie sich als Kommissar befinden, zu ihrer Verfügung, sind also nach der hier gebrauchten Terminologie Aktionskommissare. Die Praxis der päpstlichen Regierung bietet für die verschiedenen Arten besonders klare Beispiele, namentlich aus der Zeit des Schismas, als der Gegenpapst Bonifaz IX. (1389-1404), der Nachfolger des schismatischen Urban VI., den Kirchenstaat regierte und wegen der außerordentlichen Verhältnisse eine Reihe außerordentlicher Maßnahmen treffen mußte 15 . Hier finden sich infolgedessen besonders interessante Aufträge und Vollmachten. So gibt der Papst den beiden „Kommissaren" Bartolomeus und Marinus 1391 Vollmacht, mit Rücksicht auf die finanzielle Notlage der päpstlichen Kammer und unter Berufung auf die necessitas, ein Castrum, das zu einem Kloster gehörte, bis zu einem bestimmten Betrage beliebig zu verkaufen, zu verpfänden oder sonstwie darüber zu verfügen, etiam juris solemnitatibus non servatis und ohne Rücksicht auf die Zustimmung des Abtes und des Klosters, ja selbst gegen deren Willen und ohne Rücksicht auf verbriefte und confirmierte Privilegien 16 . Der außerordentliche Charakter dieses Kommissoriums besteht darin, daß zur Erreichung eines bestimmten Zweckes (Beschaffung einer Geldsumme) wohlerworbene Rechte im Einzelfalle beseitigt und rechtliche Formvorschriften aufgehoben werden können. Einen ganz andern Auftrag erhielt 1397 Joannes Holand comes Huntingdensis Confalonierius. Er wird zum päpstlichen capitaneus generalis ernannt und erhält Vollmacht, im Interesse der Ehre der Kirche, der Gerechtigkeit und der öffentlichen Ruhe und der Wohlfahrt alles, was er für erforderlich hält (que expedientia cognoverit), soweit es nach Recht und Gewohnheit zum Amt eines confaloniere, eines vicarius oder eines capitaneus gehört, zu tun und alle rechtlichen Mittel gegen die Rebellen anzuwenden; alle Behörden werden angewiesen, seinen Anweisungen Folge zu leisten, alle seine rite ergangenen Urteile und Entscheidungen gegen die Rebellen werden im voraus ratifi15

D i e folgenden Beispiele sind zitiert nach dem Codex D i p l o m a t i c u s D o m i n i i temporalis S. Sedis v o n A u g u s t i n Theiner, t. I I I (1389-1792), R o m 1862. E i n H i n w e i s auf die venetianischen governatori, die 1364 m i t D a l Verme den A u f r u h r i n Candia niederwerfen sollten, bei Pertile, Storia del d i r i t t o italiano, 2. A u f l . ; t. I I ( R o m 1897), p. 407. V g l . auch R o m a n i n , Storia documentata d i Venezia, T . I I I , Venezia 1855, p. 360 u n d 402 über p r o w e d i t o r i m i t polizeilichen F u n k t i o n e n aus dem Jahre 1426. 16

„ Q u i b u s c u m q u e C o n s t i t u t i o n i b u s apostolicis aut statutis et consuetudinibus d i c t i sancti Laurentii (der N a m e des Klosters) et a l i o r u m monaster i o r u m . . . nec n o n privilegiis seu litteris apostolicis contrariis juramento, confirmatione apostolica vel quacumque firmitate alia roboratis nequaq u a m obstantibus; Theiner I I I , η. X I I , p. 28; ähnlich η. X X X V , p. 88 (ebenfalls z w e i deputierte Kardinäle als commissarii).

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ziert, Rechtsmittel finden nicht statt 17 . Hier liegt ein Übergang richterlicher Gewalt vor. Weitergehende Vollmachten erhielt 1398 der Senator Malatesta de Malatestis, der zum vicarius in temporalibus et capitaneus generalis Urbis und zum Reformator ernannt wird. Für die Durchführung seines Auftrages (Herstellung der Glaubenseinheit, des Gehorsams und Friedens und obediencie promptitudo) werden ihm vom Papst folgende Befugnisse „kommittiert": 1) Regierung und Verwaltung, Schutz und Neuorganisation der Stadt (regimen, gubernacio, libera custodia ac reformacio) mit der Befugnis, Untervollmachten zu erteilen; 2) Mareschalken, Notare und andere geeignete Beamten (officiales), die Zivil- und Kriminalprozesse nach seinen Anweisungen entscheiden sollen, einzusetzen; 3) Sorge für Ruhe und Sicherheit der Stadt im Rahmen seiner senatorischen Befugnisse 18; 4) freie Entscheidung von Zivilsachen, deren Streitgegenstand 150 Pfd. römischer Münze nicht übersteigt, in summarischem Verfahren nach seinem Ermessen (summarie et de piano ac sine strepitu et figura judicii prout tibi videbitur); 5) beliebige Anordnung oder Erlaß körperlicher Strafen ohne Rücksicht auf bestehende Statuten der Stadt; 6) Festsetzung der Strafe im Einzelfalle, wenn der Tatbestand legitime festgestellt ist in einem summarischen Verfahren ohne Rücksicht auf die städtische Observanz und die städtischen Statuten; 7) Festnahme und Beseitigung aller Ruhestörer und Hetzer und Wiederherstellung des öffentlichen Friedens, Zwangsmaßnahmen und Bußen gegen derartige Ruhestörer; 8) Erteilung freien Geleits; 9) Ausweisungen aus der Stadt, auch wenn städtische Statuten entgegenstehen sollten; 10) Anstellung von Richtern, Notaren, Beamten mit üblichem Gehalt. A m Schluß folgt dann die allgemeine Ermächtigung, alle Maßnahmen tatsächlicher Art, die zur Reformation und Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe erforderlich erscheinen, vorzunehmen (eciam via facti exequendi). Durch diese allgemeine Ermächtigung ist offenbar eine Caesur in der Aufzählung der Vollmachten bezeichnet, denn an die erwähnten zehn Vollmachten schließen sich einige weitere an. Während die bisher genannten Vollmachten alle Bürger betreffen, sprechen die folgenden von den rebelles, den Feinden des römischen Volkes und den invasores. Diese kann der Beauftragte durch allgemeines Edikt zitieren und gegen sie via regia procedere, 17

Theiner I I I , n. X L , p. 91. A l s Senator hatte er Gerichtsbarkeit über geringfügige Vergehen, vgl. Theiner I I I , n. L X X V I I I u n d L X X X V ; zuweilen erhielt der Senator außerordentliche Vollmachten, i m summarischen Verfahren z u entscheiden, Strafen zu verschärfen usw.; vgl. n. C X X X I X (p. 205) m i t der interessanten Begründung, daß die Beachtung der forma der städtischen Statuten u n d Verfahrensvorschriften leicht eine materia delinquendi gebe u n d viele D e l i k t e straflos bleiben; ferner C C X V I , p. 281. 18

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sich ihrer Personen und Güter bemächtigen, ihre Befestigungen zerstören und sie durch alle Strafen und Rechtsmaßnahmen in abgekürztem Verfahren niederzwingen. A m Schluß ergeht an alle Behörden und Untertanen die Aufforderung, dem Beauftragten in allem, was sein Amt angeht, zu gehorchen, der Stadtkämmerer wird ersucht, ihm sowie seinen Hilfsbeamten alle Gehälter nach den Vereinbarungen mit dem Papst und den Statuten der Stadt ohne Abzug zu zahlen, schließlich werden alle Entscheidungen, Strafen und Bußen, die der capitano oder seine Hilfsbeamten gegen Delinquenten und Rebellen festsetzen, genehmigt. Hier verbindet sich die Kommission richterlicher und administrativer Befugnisse mit einem Auftrag zu Maßnahmen, die als rein tatsächliche bezeichnet werden und deren rechtliche Grundlage in der Weise konstruiert wird, daß die von ihnen Betroffenen Feinde des römischen Volkes und Rebellen sind. Daß hier der Beauftragte nicht Kommissar genannt wird, liegt wohl zunächst daran, daß nicht jede beliebige Übertragung staatlicher Verwaltungsgeschäfte, auch wenn sie mit jurisdiktionellen Befugnissen verbunden war, als kommissarischer Auftrag bezeichnet wurde. Der Podestà und der Capitaneus populi italienischer Stadtstaaten hießen auch nicht Kommissare. Kommittiert wird immer nur die obrigkeitliche Gewalt mit der Vorstellung, daß der Kommissar als persönlicher Stellvertreter seines Auftraggebers erscheint, vices gerit, und das tut, was sein Auftraggeber selbst tun würde, wenn Zeit und Ort es ihm ermöglichten, zugegen zu sein. Die nur tatsächliche Maßnahme aber, das, was via facti geschieht, ist nicht Gegenstand eines kommissarischen Auftrags, soweit es nicht etwa Teil einer richterlichen Exekution ist. Daß das außerordentlich klar distingierende Rechtsbewußtsein der kanonistischen Praktiker sich solcher Unterschiede klar war, ist schon in der eben erwähnten Zweiteilung der Vollmachten des Malatesta zu entnehmen. Was via facti geschieht, gegen Feinde und zu Feinden erklärte Rebellen, ist etwas durch Hilfspersonen faktisch zu Erledigendes und einer Rechtsförmigkeit ebensowenig zugänglich wie der faktische Vorgang der Hinrichtung, bei der ja auch der Scharfrichter nicht etwa Kommissar ist. Darum ist auch der militärische Führer als solcher, der Condottiere, nicht Kommissar. Er ist das Haupt (capo, capitaneus) einer Unternehmung, die für sich betrachtet nur dazu dient, einen tatsächlichen Erfolg herbeizuführen, und die keine obrigkeitlichen Befugnisse in sich schließt. Die Kommandogewalt gegenüber seinen Leuten, den Söldnern, beruht auf freiem Vertrag, die Pflicht gegenüber dem regierenden Herrn, in dessen Dienst er getreten ist, ebenfalls. Er verspricht Treue und Gehorsam gegen seinen Auftraggeber und dessen Deputierte, die Kommissare heißen, weil sie von der obrigkeitlichen Autorität emanieren. Diese geben ihm Anwei-

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sungen, überwachen ihn, die Ausrüstung der Truppen und die Bestände, überhaupt die Erfüllung der vertragsmäßigen Pflichten. Sie sind es, die mit dem Gegner verhandeln und im okkupierten Gebiet die Befugnisse des regierenden Herrn wahrnehmen. Der Condottiere, capitaneus, der von seinem Auftraggeber oder dessen Kommissar angewiesen wird, eine executio vorzunehmen, hat der Anweisung nachzukommen, Exekutionskommissar wäre in einem solchen Falle der anweisende Kommissar, nicht etwa der Condottiere 19 . N u n ist es freilich möglich, daß der Militärbefehlshaber selbst zum Kommissar ernannt wird und rein militärische Aufgaben sich mit Jurisdiktion und Regierungsvollmachten verbinden 20 . Der grundsätzliche Ausgangspunkt ist aber die Trennung ziviler Regierungsgewalt und militärischer Aktion, die dazu führt, den M i litärbefehlshaber von allen eigentlichen Regierungshandlungen fernzuhalten, die einem Regierungskommissar zustehen. Ein Beispiel dafür bietet die Bestellung des Bischofs von Spoleto zum Kommissar bei dem Heer in den Anconischen Marken, die Papst Eugen IV. 1444 vorgenommen hat 21 . Es soll jemand beim Heere sein, heißt es dort, damit die Angelegenheiten zum Tröste der Unterta19 D i e Angaben des Textes beruhten v o r allem auf dem Vertrag, den Papst M a r t i n V . m i t dem capitaneus Tartallia 1419 abgeschlossen hat (Theiner I I I , n. C L X X I I , p. 245-249). D e r capitaneus einer condotta ist v o n den capitanei p o p u l i R o m a n i zu unterscheiden, wie der erwähnte M a latesta oder Theobaldus de Hannibalis (Theiner I I I , n. L V I I I , aus dem Jahre 1400), die sicherheitspolizeiliche Aufgaben hatten. Tartallia erhielt allerdings auch derartige Aufgaben, er soll namentlich gegen die Straßenräuber vorgehen, darf aber, wie es i m Vertrage heißt, selber nicht rauben noch zulassen, daß andere rauben. Er kann auch freies Geleit geben (ausd r ü c k l i c h w i r d gesagt, nicht an A u f r ü h r e r ) , d o c h ist das ein T e i l der m i l i tärischen Tätigkeit. V o n Interesse ist, daß der Kommissar, der i h m beigegeben w i r d , einen gewissen Rang haben m u ß (Kardinal oder Prälat), so daß Tartallia sich nicht jeden beliebigen Kommissar gefallen zu lassen braucht. Beiläufig sei erwähnt, daß dieser Vertrag aus dem Jahre 1419 den Heereskommissar nicht als eine neueingeführte E i n r i c h t u n g behandelt. D i e Angabe des Prinzen A u g u s t W i l h e l m v o n Preußen, D i e E n t w i c k l u n g der Kommissariatsbehörden i n Brandenburg-Preußen, Straßburger Diss. 1908, S. 24, scheint diese italienische E n t w i c k l u n g zu ignorieren. Weitere Beispiele bei Theiner, n. C X X X V I I I , p. 205; C X L , p. 206; C X L I I I u n d C L X X X V I I , p. 258 (Steuerreform); C C X L V I I ( K o n t r o l l k o m m i s s a r b e i m capitaneus, 1431), v o r allem das weiter u n t e n besprochene Beispiel aus dem Jahre 1444, Theiner I I I , n. C C C I I I . 20 Z . B. Theiner I I I , n. C X X I I I , p. 184. Michael Cossa w i r d 1411 capitaneus generalis der päpstlichen Flotte, u n d , damit er seinen A u f t r a g (quae t i b i comisimus) wirksamer durchführen kann, bevollmächtigt, A u f r ü h r e r zu gewinnen, m i t ihnen zu verhandeln, sie zu begnadigen usw., ferner C C X I I , p. 279; L I I I , p. 101, 102; C L X X X , p. 254; C L X X X I X , p. 261. 21

Theiner I I I , n. C C C I I I , p. 3 5 6 / 7 .

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nen besser erledigt werden. Weil der Cardinallegat, der in den Marken seinen Sitz hat, nicht immer beim Heer sein kann, soll der Bischof von Spoleto als besonderer commissarius ernannt werden. Er bekommt plena facultas, arbitrium et potestas 1) die päpstlichen Truppen und ihre Führer zu beraten (consulendi) und ihnen im Interesse des päpstlichen status Anweisungen zu geben (dirigendi); 2) die Städte, die unter die päpstliche Hoheit zurückkehren wollen, wieder aufzunehmen und die Bedingungen der Aufnahme festzusetzen; 3) die Beamten und Wächter der Burgen zu beordern (constituendi et deputandi); 4) dafür zu sorgen, daß die zuverlässigen Gegenden zuverlässig bleiben (servandi); 5) mit den Feinden zu verhandeln und nötigenfalls Straffreiheit zu gewähren; 6) in den Gegenden, in denen der Aufruhr herrscht, Besatzungen anzuordnen (castramentationis et obsidionis statuendi et firmandi) und, soweit die Aufrührer zum Frieden geneigt und untereinander zwiespältig sind, sie auf friedlichem Wege zu gewinnen; 7) die Straßenräuber und Aufrührer zu unterdrücken durch gesetzliche oder gewohnheitsmäßige Strafen oder Bußen oder durch Versprechungen und Konzessionen, wie es ihm nach seinem Ermessen zweckmäßig erscheint (prout tuae discretioni videbitur); 8) die ruhigen Einwohner des Landes gegen Gewalttätigkeiten und Unterdrückungen zu schützen. Schließlich lautet die Generalklausel: alles zu tun oder durch andere tun zu lassen, was für den status oder die Ehre der Kirche oder zum Wohle der Untertanen erforderlich erscheint. Alle Beamten, Heereskommissare (commissarii armorum), Behörden und Untertanen der genannten Gebiete werden ersucht, den Anordnungen des Kommissars Folge zu leisten und ihm Unterstützung und Hilfe zu gewähren; der Schatzmeister der Provinz soll ihm die „provisio" auszahlen; alle gegen die Aufrührer verhängten Strafen und Maßnahmen werden im voraus ratifiziert. In dieser Urkunde erscheint außer dem dirigierenden Regierungszivilkommissar ein commissarius armorum, der mit Aufgaben der Heeresverwaltung, Ausrüstung der Truppen, Beschaffung von Waffen und Munition betraut ist. Das Wort Kommissar wird also bereits für eine verhältnismäßig spezielle Aufgabe regelmäßig gebraucht. Dieser Heereskommissar ist der frühere provveditore zur Inspektion von Festungen und Garnisonen, der seit Friedrich II. 1239 vorkommt 2 2 . Doch verdrängt der Name noch nicht die Bezeichnung Kommissar für jurisdiktioneile und Regierungsaufgaben. Es braucht nicht für jede außerordentliche Maßnahme ein besonderer Kommissar beauftragt zu werden. Wenn der normalerweise zuständige rector oder gubernator einer Provinz im Interesse der öf22

Pertile, a. a. O . I I 1, S. 419. D i e venetianischen governatori v o n 1364 (oben S. 50 A n m . 15) waren Regierungszivilkommissare.

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fentlichen Ruhe und Ordnung dadurch erweiterte Befugnisse erhält, daß Exemtionen, Immunitäten oder privilegierte Gerichtsstände beseitigt werden, so heißt er deshalb nicht Kommissar. Vielmehr gehen derartige auf Grund des Reformations- und Korrektionsrechts erlassene Anordnungen davon aus, daß der frühere Zustand wieder hergestellt wird. Andererseits hat der Kommissar beim Heere oft keine anderen Befugnisse als die, den militärischen Führer zu beaufsichtigen, auf die Disziplin der Soldaten zu achten und mit ihnen zu verhandeln; die Aufsichtsbefugnis geht aber leicht über in die Befugnis, den Zustand, der durch die Überwachung gewährleistet werden soll, durch Anweisungen und nötigenfalls durch Strafen herbeizuführen 23 . Daneben gibt es besondere Vollmachten an Kommissare, die nur mit den Aufrührern verhandeln sollen oder nur Verträge abschließen, die begnadigen können usw. Die charakteristische Wendung für die Ermächtigung des Kommissars bleibt auch hier, daß dem Kommissar zu gehorchen ist wie dem Papst selbst (pareant tamquam nobis). Durch die kommissarische Erledigung wird also theoretisch kein neuer Rechtszustand geschaffen, weil der Kommissar nur das tut, was sein Auftraggeber, den er repräsentiert, in der gleichen Weise tun könnte, sofern er nur anwesend wäre. Dem Condottiere gegenüber beruhen die Rechte des Papstes, die der Kommissar ausübt, auf dem freien Vertrag mit dem Condottiere; dem Untertanen gegenüber auf obrigkeitlicher Gewalt, wobei unter Umständen kraft des Reformationsrechtes Privilegien und wohlerworbene Rechte beseitigt werden; nach außen tritt nur die Regierungsgewalt, die einer anderen gleichen Regierungsgewalt gegenübersteht, in die Erscheinung. Der Inhalt des Auftrags, den der Kommissar erhält, wird gewöhnlich dadurch angegeben, daß er alles zur Erreichung eines bestimmten Zweckes Erforderliche tun soll. Die rechtlichen Mittel, die ihm zur Erfüllung seiner Aufgabe zur Verfügung gestellt werden, sind verschieden und können auf dem Übergang ordentlicher und der Verleihung außerordentlicher Befugnisse beruhen. So ergeben sich hier wieder die verschiedenen Arten von Kommissaren: der Dienstkommissar, der kraft besonderen Auftrags in den Bereich normaler Zuständigkeit fallende Angelegenheiten erledigt, der Geschäftskommissar, der für besondere Angelegenheiten bestimmt wird, endlich der Aktionskommissar, bei welchem aus dem zu erreichenden Zweck eine Ermächtigung abgeleitet wird, die durch die Aufzählung bestimmter Vollmachten und die allgemeine Autorisation, nötigenfalls zu tun, was nach Lage der Sache erforderlich ist, mehr 23 Theiner I I I , C C X L I I (1431); hier ein Vorbehalt zugunsten der ü b l i chen Befugnisse des capitaneus generalis, i n dessen K o m m a n d o g e w a l t nicht u n n ö t i g eingegriffen werden soll.

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oder weniger umschrieben sein kann. Der Zweck, dem die Kommission dient, kann inhaltlich verschieden sein und zu einer Verbindung der genannten Kommissionsarten führen. Ein Aufsichtskommissar zum Beispiel ist Dienstkommissar, wenn die Aufsicht sich an die regelmäßige Diensttätigkeit anschließt und inhaltlich den zu beaufsichtigenden Dienst nur begleitet; die Aufsicht kann aber auch im einzelnen Falle das Mittel zur Erreichung eines bestimmten Erfolges sein und wird dann ein Geschäft im Sinne der hier vorgeschlagenen Einteilung; sie kann endlich der Ausgangspunkt für die weitere, aktiv eingreifende Tätigkeit des Kommissars werden und ist dann inhaltlich ein Teil der Aufgabe des Aktionskommissars. In gleicher Weise läßt sich die Stellung der Sicherheitskommissare bestimmen, bei denen sich mit der die öffentliche Sicherheit betreffenden Aufgabe ordentliche und außerordentliche Befugnisse verbinden; soweit sie zum Beispiel in summarischem Verfahren eine richterliche Entscheidung nur treffen, um die Grundlage für ein Vollstreckungsverfahren zu haben, sind sie Exekutionskommissare und damit Aktionskommissare. Für die diplomatischen Gesandten wird der Name Kommissar nicht gebraucht. Weder haben die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Italien entstehenden dauernden Gesandtschaften diesen Namen übernommen, noch findet er sich für die älteren, schon seit dem 13. Jahrhundert auftretenden mehr oder weniger ständigen diplomatischen Beauftragten an den verschiedenen Höfen. Für die Diplomaten der Länder bei der Kurie setzte sich der ebenfalls dem Prozeßrecht entlehnte Name procurator durch 24 , der ebenso wie der Name Kommissar eine weit über die richterlich prozessuale Tätigkeit hinausgehende Aufgabe bezeichnet. Doch ist der Unterschied zwischen den Gesandten und dem Kommissar nicht zu verkennen. Der nach außen, d. h. einer anderen Regierungsgewalt gegenüber auftretende Gesandte hat keine jurisdictio (außer gegen seine eigene Begleitung, die comités). M i t dem Begriff des Kommissars im prägnanten Sinne verbindet sich dagegen die Ausübung hoheitlicher Befugnisse desjenigen, von dem die Kommission emaniert, gegenüber demjenigen, der der Hoheitsgewalt des Auftraggebers unterworfen ist. Die Stände entsenden daher Kommissare, soweit sie Regierungsrechte haben. Dieser klare Begriff ist dadurch verwischt, daß alle Arten von Kommissaren auch mit dem allgemeinen Namen Gesandte, Abgeordnete, Deputierte usw. bezeichnet werden 25 . 24

H e i n r i c h Finke, A c t a aragonensia, Bd. I, Berlin / L e i p z i g 1908, S. C X X I V . 25 So heißen z. B. die Kommissare Karls V . bei den Verhandlungen über die Reichsmatrikel 1544 bald Minister, bald verordnete Räte, bald K o m missare (vgl. Z . d. hist. Ver. f. Schwaben u n d N e u b u r g , Bd. 23, S. 115 ff.).

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Gelegentlich kommt auch eine Verwechslung des Kommissars mit dem völkerrechtlichen Gesandten vor 2 6 . U m die Revolution durchzuführen, die aus dem ständischen den absolutistischen Staat gemacht hat, konnten letzten Endes nur Aktionskommissare verwertet werden. Die rechtliche Form, in die sich die Aktion gekleidet hat, ist dabei verschieden. Weil die Gerichtsbarkeit als der wesentliche Inhalt staatlicher Autorität überliefert war, kommt zunächst der Exekutionskommissar in Betracht. Daneben ist der Reformationskommissar wichtig, in Preußen außerdem der Heereskommissar, der, ursprünglich ein reiner Geschäftskommissar und bei regelmäßiger Entwicklung ein Dienstkommissar werdend, trotzdem kraft der expansiven Natur der reinen Zwecktätigkeit (der zentrale Zweck war hier das Militär) die im Wege stehenden historischen Rechte und Zustände beseitigt. Die Darstellung soll im folgenden auf die deutsche Geschichte beschränkt werden. — Rechtliche Grundlage der Exekution ist die rechtskräftige richterliche Entscheidung. Die Exekution kann durch Verfahrensvorschriften geregelt und dadurch in ihrer effektiven Wirkung eingeschränkt sein, so daß sie nicht grenzenlos durch den bloßen Zweck beherrscht wird, den dem Urteilsspruch gemäßen Zustand mit allen nach Lage der Sache erforderlichen Mitteln herbeizuführen. So weit aber kann die Erfassung durch eine rechtliche Form niemals gehen, daß die eigentliche Vollstreckungsaktion, etwa die Wegnahme des geschuldeten Gegenstandes durch den Gerichtsvollzieher, die Einsperrung des Täters durch den Gefängnisbeamten oder die Hinrichtung formalisiert würde. Wo Rechtsgebilde wie die hostis-Erklärung (vgl. oben S. 3 Anm.) vorkommen, liegt ihre Bedeutung darin, daß sie die wichtigste Schranke der im Dienste der Rechtsordnung stehenden Aktion, nämlich die Rücksicht auf die Rechtspersönlichkeit des exequendus, beseitigen und der Aktion den weitesten Raum schaffen. Die Achterklärung bedeutete ebenfalls die volle Friedlosigkeit und die Vernichtung der Rechtspersönlichkeit des Geächteten, wenn sie ihren äußersten Grad erreicht hatte 27 . Die Exekution, soweit sie effektive Aktion ist, ist nach Umfang und Intensität abhängig von der Lage der Sache, d. h. hier vor allen Dingen vom Widerstand des exequendus. Wenn der Geächtete und mit ihm diejenigen, die als seine Freunde und Anhänger ebenfalls 26

I n den bei L o n d o r p , A c t a publica suppl., 1.1 (1664), B u c h I I , p. 184 abgedruckten Berichten einer Reformationskommission i n Steiermark heißt es: die A u f r ü h r e r haben früher Kommissare ihres Landesherrn mißhandelt, „ o b w o h l doch Kommissare Jure G e n t i u m Sancti seynd". 27 Joseph Poetsch, D i e Reichsacht i m Mittelalter u n d besonders i n der neueren Zeit. Untersuchungen zur deutschen Staats- u n d Rechtsgeschichte, herausgegeben v o n Gierke, H e f t 105, Breslau 1911, S. 3.

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geächtet sind, sich gemeinsam der Exekution entgegenstellen, kann diese, wenn sie weitergeführt wird, einen Umfang annehmen, daß sie zum Kriege wird und eine solche tatsächliche Bedeutung erhalten, daß daneben die rechtliche Grundlage, der Prozeß und das Urteil, als eine bedeutungslose Nebensache und eine leere Formalität erscheinen. Aus einem Prozeß hat sich formgerecht ein Krieg entwickelt. Die Stellung des Exekutoren bei Missetat, namentlich bei Landfriedensbruch, war im Gegensatz zu der Exekution wegen bloßen Ungehorsams sehr frei, weil er „schlechthin zur Vollstrekkung der Acht ernannt wurde" 2 8 . Das Vermögen der Geächteten wurde im Wege der Konfiskation zur Bestreitung der Exekutionsunkosten herangezogen. Hat die Exekution diesen unverhältnismäßigen Umfang angenommen, ist sie zur militärischen Aktion geworden, so löst sie sich von ihrer rechtlichen Grundlage und wird notgedrungen statt von rechtlichen Erwägungen von sachtechnischer Zweckmäßigkeit beherrscht. Wegen der Verselbständigung aber kann sie in den Dienst anderer Zwecke als ihres Ausgangspunktes, der rechtlichen Exekution, gestellt werden. Sie wird dadurch zu einem geeigneten Mittel politischer Machterweiterung und der Exekutionskommissar ein Instrument des fürstlichen Absolutismus im Dienste der Vernichtung ständischer Privilegien. Den politischen Sinn dieses Verfahrens hat der bedeutendste und konsequenteste Vertreter des modernen Staatsgedankens im deutschen 17. Jahrhundert, Wallenstein, mit aller Offenheit ausgesprochen, als er sagte, er sähe es „vom Grund seines Herzens gern", wenn die Stände „dificulteten" machten, „denn dadurch verliehreten sie alle ihre privilégia" 29 . Der Kommissar hält sich an seinen Auftrag und nichts anderes. Die Instruktion, die der Herzog Maximilian von Bayern als kaiserlicher Kommissar im Kriege gegen die böhmischen Rebellen am 17. November 1620 an seine Unterkommissare gegeben hat, erteilt diesen die Weisung, den Ständen, die auf der confirmation ihrer Privilegien und auf dem kaiserlichen Majestätsbrief bestehen oder sonstwie die Huldigung nicht leisten wollen, „glimpflich anzudeuten, daß jetzt nit die Zeit vil weniger die gelegenhait gebe dieses orthes sich wegen confirmation der Privilegien aufzuhalten. Dann neben dem, daß wir précisé der commission, in dero besagter confirmation halber nichts begriffen, Zu inseriren", soll sich der Stand an den Kaiser wenden, „und nicht an uns alß nachgesetzten Commißarium, den die Sache principaliter nit angehet" 30 . 28

Poetsch, a. a. O . S. 206. Förster, A l b r e c h t v o n Wallensteins Briefe u n d amtliche Schreiben, Berlin 1828, I, n. 179, S. 332. 29

30 So die I n s t r u k t i o n für die an die Behaimbische Ständt u n d Städt abgeordnete Frl. (sie, nicht kaiserliche) commissarii, Prag, 17. N o v . 1620 i m Bayr. Geh. Staatsarchiv, K . schw. 50 / 28, fol. 96 (nicht gedruckt).

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Kaiserliche Kommissare kamen im Prozeß mit verschiedenartigen Aufgaben vor. Die Zeugen wurden gewöhnlich nicht vom Reichskammergericht vernommen, sondern durch einen Richterkommissar vorgeladen und verhört. Auch nahmen Kommissare, wenn eine ganze Kommune des Landfriedensbruchs oder der Unterstützung von Landfriedensbrechern verdächtig war, der Hälfte der Ratsmitglieder oder der verdächtigen Bürger den Reinigungseid ab 31 . Der Kaiser forderte für sich das Recht, überall, wo es sich um die imperii utilitas et tranquillitas handelte, nicht nur in den Fällen, in denen ihm in erster Instanz und unmittelbar gegen die Untertanen eines Fürsten eine Jurisdiktion zustand, im ganzen Reich Mandate zu veröffentlichen, zu insinuieren und anschlagen zu lassen und in den Territorien der Untertanen sogar durch seine Kommissare Recht zu sprechen, freilich alles nur nach Gesetz und Gewohnheit. Reinkingk, der diese Grundsätze aufstellt, unterscheidet aber zwischen den Städten und den Fürsten; in den Städten werden die hinsichtlich des öffentlichen Nutzens ergehenden Mandate und Edikte des Kaisers durch kaiserliche Herolde verkündet, dem Fürsten aber werden sie insinuiert, damit er sie durch seine Beamten verkünden lasse. Der kaiserliche Kommissar kann nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Untertanen als Zeugen vernehmen, ebenso die Kommissare des Kammergerichts, doch haben schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Stände dagegen protestiert. Die rechtliche Konstruktion der Ausnahmestellung dieser Kommissare beruht auch hier auf der Annahme einer persönlichen Stellvertretung. Wie im kanonischen Recht gilt der Satz, daß der Kommissar des Fürsten den ordentlichen Magistraten deshalb vorgeht, weil er principis vice fungitur ejusque personam representat 32. Was insbesondere die Exekution angeht, so setzte sie als Teil des gerichtlichen Verfahrens voraus, daß gegen den Reichsstand die Acht rechtmäßig erklärt war. Das Recht, die Acht zu verhängen, beanspruchte der Kaiser für sich selbst. Der Achterklärung geht entweder ein Prozeß voraus, oder sie tritt ipso facto ein. Namentlich bei Landfriedensbruch berief sich der Kaiser gern auf diesen letzten Fall. Das Verfahren war außer in den Wahlkapitulationen während der hier interessierenden Zeit hauptsächlich in der reformierten Kammergerichtsordnung und Exekutionsordnung von 1555 geregelt 33. Die im Lauf des Prozesses ergehenden kaiserlichen Mandate wurden den Parteien häufig durch kaiserliche Kommissare (im Ge31

Poetsch, a. a. O . S. 126, 134, A n m . 3. Tractatus de regimine, 1. I, cl. V , cap. 7. 33 Bei Joh. C h r . L ü n i g , Corpus juris militaris des hl. römischen Reiches, L e i p z i g 1723, I, p. 5 2 - 5 8 . 32

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gensatz zu den nur als Boten proklamierenden Herolden) insinuiert und notifiziert. Das Verfahren beim Reichskammergericht brauchte bekanntlich außerordentlich viel Zeit, auch nach der Verurteilung und während des Exekutionsverfahrens waren noch Rechtsmittel zulässig34. Die Acht selbst hatte längst (seit Ende des 13. Jahrhunderts) „ihren Schrecken verloren" 35 , und der Kaiser pflegte „aus angeborener Milde und Gütigkeit", wie es in seinen Mandaten gewöhnlich begründet wurde, immer neue Suspensionen zu gewähren. Die Aufgabe der kaiserlichen Kommissare bestand daher, namentlich wo es sich um wichtige politische Angelegenheiten und einflußreiche Parteien handelte, hauptsächlich in Verhandlungen, und es dauerte lange, bis an die Stelle dieser Geschäftskommissare der Aktionskommissar trat. Besonders interessante Beispiele für die Tätigkeit der Kommissare finden sich in den Grumbachischen Händeln 36 und den zahllosen Streitigkeiten des 17. Jahrhunderts. In 34

I n der Sache zwischen dem Grafen z u O l d e n b u r g u n d dem H e r r n v o n Kniphausen gab der Kaiser an Christian I V . 1623 eine commissio ad exequendum. Kniphausen war 1592 v o m Reichskammergericht verurteilt, eine Herrschaft herauszugeben, hatte Revision eingelegt u n d v o n Kaiser R u d o l f eine I n h i b a t i o n der E x e k u t i o n erlangt. Erst als der i n die A c h t erklärte Mansfeld das L a n d verwüstete u n d Gefahr bestand, daß er es fremden Potentaten anbot u n d dadurch dem Reich entzog, erging die kaiserliche K o m m i s s i o n an Christian I V . (nach der „ k u r t z e n i n f o r m a t i o n " über diese E x e k u t i o n s k o m m i s s i o n bei den Regensburger Reichstagsakten 1654, t. V I I es Bayr. Geh. Staatsarchivs, fol. 37 ff.). 35

Ed. Eichmann, A c h t u n d Bann i m Reichsrecht des Mittelalters (Schriften der Görresgesellschaft, Sektion für Rechts- u n d Sozialwissenschaft, H e f t 6, Paderborn 1909, S. 145). 36

A c h t - E x e k u t i o n s m a n d a t des Kaisers Ferdinand I. v o m 13. O k t o b e r 1563 (abgedruckt bei Fr. O r t l o f f , Geschichte der Grumbachischen Händel, Bd. I., Jena 1868, S. 537); die A c h t w i r d als ipso facto eingetreten behandelt; V o l l z u g der A c h t nach mehreren Pönal-Befehlen erst 1566. Das M a n dat w u r d e damals wieder erneuert, auf die Anhänger Grumbachs ausgedehnt u n d dem Kurfürsten v o n Sachsen als dem Obersten des obersächsischen Kreises der V o l l z u g befohlen ( O r t l o f f I I I , Jena 1869, S. 349). Beispiele dafür, daß Kommissare, H e r o l d e u n d T r o m p e t e r gleichzeitig erscheinen: O r t l o f f I I I , S. 110; für M i t w i r k u n g kaiserlicher Kommissare: I I I , S. 220, 340 (der K u r f ü r s t v o n Sachsen schreibt dem Kaiser, w i e wenig die z u r E x e k u t i o n aufgeforderten Kreise tun, wisse man, es liege i m Interesse der kaiserlichen A u t o r i t ä t u n d H o h e i t , w e n n der Kaiser d u r c h K o m missare 2000 Pferde nach G o t h a ziehen lasse oder zur E x e k u t i o n , „ u m mehreren Ansehens u n d Furcht w i l l e n " seine Kommissare verordne u n d die Mandate nochmals erneuere). D e m Kurfürsten als Befehlshaber des Exekutionsheeres werden kaiserliche Kommissare zugeordnet, die alles t u n sollen, „was zur K o n s t i t u t i o n des Landfriedens die N o t d u r f t erfordert", H i l f e der Kreise einfordern usw. D i e Loszählung der Landschaft u n d der Untertanen v o m Gehorsam gegen den geächteten H e r z o g Johann Friedrich

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dem Streit z. B. zwischen der Stadt Braunschweig und dem Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg, der durch kaiserliches Dekret vom 12. November 1604 an das Reichskammergericht gewiesen wurde, hatten eigene kaiserliche Kommissare im März 1609 ein kaiserliches mandatum avocatorium insinuiert, durch welches die Parteien aufgefordert wurden, die Waffen niederzulegen und die geworbenen Söldner zu entlassen. Es kam zu Verhandlungen vor den kaiserlichen Kommissaren, die eine schriftliche Abmachung zustande brachten, nach welcher die Stadt sich zur Niederlegung der Waffen verpflichtete. Als die Stadt trotzdem ihre Knechte den Herzog angreifen und bei ihm rauben und plündern ließ, erging durch mehrere kaiserliche Hofräte als kaiserliche Kommissare wiederum die Aufforderung an die Stadt, die Waffen niederzulegen, verbunden mit einem Ultimatum, in dem der Kaiser die Achterklärung bedingungsweise aussprach. Der Kaiser hielt sich trotz des schwebenden Prozesses zu solchen „Interpositionen" befugt, weil ihn „als regierenden römischen Keyser zu Handhabung gemeiner Ruhe und Friedens im Reich keines Gerichts praevention oder litispendenz verhindern" könne 37 . Die kaiserlichen Kommissare waren streng an ihre Instruktionen gebunden. Ihre Wirksamkeit wurde durch die Beschwerden der Stände, auf die der Kaiser selbst zur Zeit seiner größten Macht Rücksicht nahm, fortwährend gehemmt 38 . Auch wo sie während hätte eigentlich d u r c h kaiserliche Kommissare geschehen müssen. Es erschien aber nur ein Bote m i t dem kaiserlichen Schreiben. D i e Landschaft verlangte zuerst, daß die kaiserlichen Kommissare zugegen seien; man ging aber nach einigen Verhandlungen davon ab, w e i l man es für ausreichend hielt, w e n n der K u r f ü r s t als oberster Befehlshaber die Loszählung u n d die Ü b e r w e i s u n g an den neuen H e r r n gemäß den kaiserlichen A n o r d n u n g e n vornehme ( O r t l o f f I I I , S. 368). D i e V e r n e h m u n g des gefangenen G r u m bach u n d das U r t e i l ist an erster Stelle v o n den kaiserlichen Kommissaren unterschrieben, dann folgen die Unterschriften v o n Offizieren u n d Räten des Herzogs Johann W i l h e l m . — H u b . Languet spricht i n seiner H i s t o r i c a descriptio der E x e k u t i o n gegen G r u m b a c h 1567 v o n den kaiserlichen legati seu commisarii. 37

L o n d o r p , Suppl., 1655, I , p. 346; S. 350 ein m a n d a t u m m o n i t o r i u m an die Anhänger der Stadt Braunschweig, d u r c h kaiserliche Kommissare überbracht. D e n Kommissaren soll, w i e es i n den Mandaten heißt, Respekt u n d Folge geleistet werden wegen der ihnen aufgetragenen Gewalt u n d Befehl. A u c h hier gilt die A c h t als ipso facto v e r w i r k l i c h t , w i r d aber aus angeborener kaiserlicher M i l d e u n d G ü t e suspendiert. 38 I m Jahre 1629 weist der Kaiser seine Exekutionskommissare i m schwäbischen Kreise an, darauf z u achten, daß die Stände bitten, nicht m i t „verschiedenen Exekutionsprozessen übereilt z u w e r d e n " ; die Kommissare sollen sich an ihre I n s t r u k t i o n halten u n d da, w o nicht notorisch ist, daß die Gotteshäuser u n d Klöster nach dem Passauer Vertrag eingezogen w u r -

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des Exekutionsverfahrens tätig werden, bleiben sie nur Geschäftskommissare. Für eine unmittelbare Aktion fehlen ihnen rechtlich und tatsächlich alle Mittel. Nach der Exekutionsordnung war sowohl die Unterdrückung eines Aufruhrs als der Vollzug der Reichsacht Sache der Kreise und Stände. Die militärische Aktion wurde also nicht unmittelbar durch abhängige kaiserliche Kommissare vorgenommen. Der Kaiser mußte die Exekution den ausschreibenden Fürsten des Kreises übertragen, dem der ungehorsame Stand angehört. Der Befehlshaber der Aktion hatte dann zwar auch eine commissio, blieb aber unabhängig und hielt sich an die Exekutionsordnung, die ihm eine eigene Politik und Rücksichten auf seinen Gegner und seine eigenen ständischen Interessen ermöglichte. Gerade das, was den Kommissar zu einem brauchbaren Instrument machte, fehlte ihm demnach. Die Exekutionsordnung hatte zwar weise den alten Satz betont, daß eine Gerichtsbarkeit ohne starken Vollzug nichts nütze, zugleich aber, weil in der Exekution die Möglichkeit einer Ausdehnung der kaiserlichen Macht lag, vor allem daran gedacht, Garantien für die Stände zu schaffen. War es dem kaiserlichen Kommissar gelungen, die zuständigen Kreise und Stände zu einer Aktion zu bewegen, so blieb der kaiserliche Kommissar beim Heere, die „Direktion" dieses Heeres aber, die militärische Aktion selbst, ließ sich der ausführende Fürst, der Befehlshaber, keineswegs aus der Hand nehmen. N u r als Wallenstein dem Kaiser ein eigenes Heer geschaffen hatte, war es möglich, auf der formalen Grundlage einer Exekution der Reichsacht die Souveränität des Kaisers im Reich zu begründen. Die Stände haben diese Gefahr erkannt und zu beseitigen gewußt. Dagegen hat der Kaiser in seinen Erblanden Böhmen und Osterreich mit Hilfe einer Exekution seine absolute Macht durchgesetzt. Die militärischen Mittel stellten ihm freilich auch hier Reichsstände zur Verfügung. Der Kurfürst von Sachsen und der Herzog Maximilian von Bayern waren während der böhmischen Rebellion zu kaiserlichen Exekutionskommissaren ernannt worden. Ihre Kommissionen sind gute Beispiele für die Rechtsbeziehungen sowohl zwischen dem Landesherrn und den aufrührerischen Ständen als auch zwischen dem Kaiser und dem Exekutionskommissar 39 . den, „ n i c h t ab executione anfahen", sondern die Parteien hören u n d fernere kaiserliche V e r o r d n u n g requirieren, überhaupt nichts inconsulto statuieren, damit sich niemand beschwert, er sei nicht genug gehört w o r d e n ( L o n d o r p , Suppl. I I I , p. 124). 39 I m folgenden sind die U r k u n d e n des Bayr. Geh. Staatsarchivs über die „ i m K ö n i g r e i c h B ö h m e n entstandene Rebellion u m derentwillen v o n Kaiser. M a j . an sr. D r t . H e r z o g M a x i m i l i a n i n Baiern übertragene C o m m i ßionen u n d derenselben V o l l z u g " , 1618-1621 ( K . schw. 50 / z8) sowie andere U r k u n d e n des Archivs benutzt, die (außer der bei W o l f - B r e y e r , Ge-

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A n die erste Voraussetzung der Exekution, die Erklärung der Acht, knüpfen sich hier zahlreiche rechtliche Erörterungen, weil insbesondere die Befugnis des Kaisers, den Kurfürsten Friedrich von der Pfalz ohne Zustimmung der andern Kurfürsten in die Acht zu erklären, bestritten wurde. Nach Art. 26 u. 39 der Wahlkapitulation vom 28. Aug. 1619 durfte der Kaiser keine „wichtige Sache" ohne Befragung der Kurfürsten entscheiden und vor allem keinen Reichsstand „unerhört" und ohne ordentlichen Prozeß in die Acht erklären. Nach der Exekutionsordnung von 1555 durfte die Exekution gegen den Reichsstand erst vorgenommen werden, wenn die Acht zu Recht erkannt war. Der Pfalzgraf war aber weder zitiert noch gehört worden. Von den Kaiserlichen wurde geltend gemacht, daß der Reichsfriedensbruch des Pfalzgrafen durch die Annahme der böhmischen Krone notorisch und die Acht ipso facto eingetreten war; der Kurfürst habe durch Patente in- und außerhalb des Reichs die vorhabende Achterklärung angefochten und dabei vom römischen Reich gar nicht und vom Kaiser nur als Erzherzog von Österreich gesprochen 40. In der Kommission werden die Exekutionskommissare ermächtigt, zunächst die Ungehorsamen und Rebellen zum Gehorsam aufzufordern und für den Fall, daß dieser Aufforderung nicht Folge geleistet wird, „mit der scherpfe und allen Zu erlangung des gehorsambs gehörigen Zwangsmitteln" zu verfahren, „den Gehorsamen aber Protektion, Schutz und Schirm zu gewähren". Der Exekutionskommissar ist auch ermächtigt, die Huldigung der Stände und Städte des zu unterwerfenden Landes für seinen Auftraggeber entgegenzunehmen. Die Untertanen und Bewohner des Landes werden aufgefordert, dem kaiserlichen Kommissar in allen Andeutungen, die er im kaiserlichen Namen gibt, unwiderruflich Folge zu leisten. Damit niemand eine Entschuldigung habe und sich auf eine andere „Verbindnuß adherenz Zusage oder Pflicht wie dieselbe namen haben möge" berufen könne, werden alle und jede dergleichen „vermainte Obligationen auß Khayserlicher und Khöniglicher macht aufgehoben, caßiert und die Intereßirten Persohnen davon krefftigelich ledig und los gesprochen" und ihnen für den Fall des erzeigten Gehorsams ihre Ehren, Privilegien, Rechte und Gerechtigkeiten gewahrt. Der Exekutionskomschichte Maximilians, I. Bd., I V , N r . X abgedruckten O b l i g a t i o n v o m 8. O k t o b e r 1619) nicht gedruckt sind. H e r r n A r c h i v r a t D r . Riedner u n d H e r r n Staatsarchivar D e m i möchte ich hier für die freundliche Bereitwilligkeit, m i t der sie m i c h bei der B e n u t z u n g des Archivs unterstützt haben, aufrichtig danken. 40

E i n ausführliches Gutachten v o n D r . W i l h e l m Jocher über die A c h t erklärung des K u r f ü r s t e n v o m 26. September 1620 i m Bayr. Geh. Staatsarchiv ( K . schw. 3 0 9 / 12) über die Formalitäten der Achterklärung, die Exekutionalien, die Patente usw.

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missar schritt, als die Aufforderung zur gütlichen Unterwerfung erfolglos blieb, zur Vollziehung seiner Kommission. Nachdem Prag erobert war, schickte er von dort aus seine subdelegierten Unterkommissare (sie heißen sowohl Kommissare wie Abgeordnete), die allen Ständen, soweit sie noch nicht schon gehuldigt haben, die Huldigung abnehmen. Sie erhalten dafür ein Formular mit der Eidesformel, welche dem von den böhmischen Städten zu Prag bereits geleisteten Eid entspricht, ferner eine Abschrift der kaiserlichen Kommission, die sie den Ständen übergeben oder wenigstens vorlesen, und sollen gegen die Ungehorsamen mit allen zur Erlangung des Gehorsams gehörigen Zwangsmitteln verfahren. Die Gehorsamen werden da, wo es nötig ist, namentlich in Grenzorten, in der Weise geschützt, daß der Kommissar eine Garnison von zwanzig, dreißig und mehr Knechten herbeizieht. Uber alles wird dem Exekutionskommissar genau berichtet. Sosehr dies Vorgehen dem „Land" gegenüber „diktatorisch" war, sowenig entspricht das interne Verhältnis dieses Exekutionskommissars zu seinem kaiserlichen Auftraggeber Bodins Begriff des Kommissars. Der Herzog trat nicht als abhängiger Funktionär auf. Er ließ sich für seine „Kriegsspesen" Ersatz und als Sicherheit ein Pfand aus den kaiserlichen Gütern versprechen; was er in den österreichischen Provinzen vom Feinde befreit, soll ihm mit allen und jeden emolumentis, jurisdictionibus, juribus et pertinentiis als Pfand bleiben, bis seine Auslagen ersetzt sind, nur muß er die persönliche Jurisdiktion des Kaisers für diese Provinzen anerkennen, auch sollen die kaiserlichen salinae fodinae et telonia nicht unter die Hypothek fallen, wenn die anderen Güter ausreichen. Das ist in der bekannten und oft behandelten „Obligation und Verbindnuß" zwischen Ferdinand II. und Herzog Maximilian in Bayern „von wegen der Khriegs Expedition wieder die BehaimProtestierende Rebellen im Reich" näher geregelt. Dabei ist hier vor allem wichtig, daß der Exekutionskommissar sich ausdrücklich vorbehält, in allen militärischen Angelegenheiten unbedingt freie Hand zu haben und pro rerum, temporum et circumstantiarum qualitate die Aktion so zu führen, wie er es für gut und nützlich hält und occasio et circumstantia es zulassen. Weder der Kaiser selbst noch irgend jemand aus seinem Hause darf irgendwie und irgendwo das „plenarium absolutum et liberum Directorium" der Unternehmung, das dem Herzog, dem Exekutionskommissar, zusteht, behindern oder zulassen, daß ein anderer es behindert. Als dann nach der Besiegung des Pfalzgrafen Friedrich der Herzog mit der durch den proscribierten Pfalzgrafen verwirkten und dem Kaiser anheimgefallenen Kurwürde belehnt werden und der Kaiser ferner, ebenfalls aus kaiserlicher Macht und Vollkommenheit, noch über mehrere „per sententiam für verwirkt erklärte und der Dispo-

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sition des Kaisers anheimgefallene Länder" zugunsten des Herzogs verfügen sollte, wurde in dem Originalentwurf der Übertragungsurkunde vor „per sententiam" durch eine nachträgliche Notiz am Rande eingefügt: „und jure belli justissimi eroberten" 41 . Aus der wichtigen Vereinbarung von 1619 ergibt sich besonders deutlich, daß der entscheidende Teil der Aktion nicht mehr von den Weisungen des Kaisers abhing. Daß der Kaiser nicht militärischer Befehlshaber des bei einer Reichsexekution verwendeten Heeres zu sein brauchte, verstand sich damals von selbst. Bereits in den Grumbachischen Händeln wird der Kurfürst von Sachsen, der die militärische Operation leitete, meistens nur als Befehlshaber bezeichnet und dadurch von den kaiserlichen Kommissaren unterschieden. Er fungierte einmal bei der sonst immer den Kommissaren übertragenen „Überweisung" der Stände an den neuen Landesherrn als Kommissar, aber ohne diese Benennung 42 . Der Herzog Maximilian in Bayern trat während des böhmischen Feldzuges hauptsächlich darin als kaiserlicher Kommissar hervor, daß er im Namen des Kaisers die Huldigung der unterworfenen Stände und Städte entgegennahm oder durch subdelegierte Kommissare entgegennehmen ließ. Der Huldigungskommissar, der während des 30jährigen Krieges in zahlreichen Fällen erscheint, ist ein typischer Geschäftskommissar, soweit ihm nicht Vollmachten zur Erzwingung der Huldigung gegeben werden. Der militärische Oberbefehl, das Direktorium, wird mit größter Deutlichkeit von politischen Befugnissen unterschieden. In den Verhandlungen der Liga hat Herzog Maximilian betont, der Umstand, daß er der militärische Führer, Bundesoberste und capo des Heeres der Liga sei, gebe ihm selbstverständlich keinerlei Superiorität oder Hoheit über die andern Stände und keine neuen Rechte 43 . Auch hier zeigt sich die Auffassung, daß die militärische Aktion einschließlich ihrer Direktion nur die via facti, die Tathandlung ist. Der militärische Chef als solcher übt keine Hoheitsrechte aus und ist infolgedessen auch 41 42

Bayr. Geh. Staatsarchiv, K . schw. 3 8 9 / 1, fol. 32. Vgl. oben S. 6 0 / 6 1 A n m .

43 So die I n s t r u k t i o n , die M a x i m i l i a n 1610 seinem Gesandten, der m i t dem päpstlichen N u n t i u s u n d dem spanischen Ambassadeur verhandeln soll, erteilt; W o l f , Geschichte Maximilians I., Bd. I I I (1807), S. 570; der Gesandte soll erklären, w e n n der Bundesoberste capo della lega heiße, so bedeute das nur, daß er, w e n n es z u r T a t h a n d l u n g k o m m e , n u r allein über das versammelte Kriegsvolk der unierten Stände, nicht aber diese Stände selbst zu k o m m a n d i e r e n habe; auch daß der Bundesoberste auf begebende Fälle alle Bundesstände oder n u r allein die A d j u n k t e n , heischender N o t durft u n d seiner D i s k r e t i o n nach, versammeln könne, trage keine Superiorität i n sich, denn i n jedem collegio müsse z w a r ein D i r e k t o r , aber k e i n Superior sein.

5 C. Schmitt, Die Diktatur

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nicht Kommissar, weil er, abgesehen von der ihm übertragenen Militärgerichtsbarkeit gegen die eigenen Soldaten, nach außen keine Autorität gegen Untertanen oder eine fremde Regierung hat. Die Rechtsverhältnisse des Söldnerheeres mußten diese Auffassung herbeiführen. Der Oberst, der ein Regiment führt, steht im Dienst des Fürsten, der ihn anstellt. Als Träger der staatlichen Autorität wird ihm zur Kontrolle, dann aber auch zur Geltendmachung der staatlichen Autorität nach außen hin der Kommissar beigegeben. Wo der Heerführer, wie bei der Exekutionskommission gegen Böhmen, gleichzeitig Kommissar ist, lassen sich diese beiden Funktionen durchaus voneinander trennen. Die Folge davon ist, daß der militärische Befehlshaber als solcher nicht mehr als Kommissar bezeichnet wird, obwohl doch gerade die militärische Aktion der typische Inhalt einer Aktionskommission ist. Diese Trennung von militärischem Kommando und Regierung im Sinne von Ausübung staatlicher Autorität wird in Deutschland allerdings erst während des 17. Jahrhunderts deutlich. In dem Artikelsbrief Kaiser Maximilians I. von 1508 müssen die Soldaten noch schwören, „daß sie an statt und im Namen dero Kay serlichen Majestät dem namhafften Fürsten usw. als ihrem fürnehmsten Commissario und Heerführer zu Gebote und Dienste leben" 44 . Obwohl in diesem Artikelsbrief zwischen Kriegsfürsten und Kriegsbeamten unterschieden wird, heißt also der Fürst immer noch Kommissar und wird der Kommissar vom militärischen Vorgesetzten noch nicht getrennt. Auch in Anstellungen wie der unten näher besprochenen Bestallung Wallensteins vom 21. April 1628 tritt der kommissarische Charakter der Stellung des Oberkommandierenden in der beständigen Wiederholung, daß das, was er verordnet, gelten soll, als sei es vom Kaiser in eigener Person empfohlen, deutlich hervor. Doch ist beim Söldnerheer zwischen der Autorität gegenüber den Soldaten und der gegenüber den Untertanen überhaupt keine gemeinsame Beziehung. Daraus erklärt es sich, daß später der Name Kommissar eher im Gegensatz zur militärischen Kommandogewalt für solche Funktionäre gebraucht wird, die mit der Heeresverwaltung, Verpflegung, Verproviantierung, Ausrüstung, Musterung usw. beauftragt sind. Der Soldat schwört Gehorsam dem Fürsten und den verordneten Generälen, Obersten, kommandierenden Offizieren usw. In manchen Artikelsbriefen ist daneben noch erwähnt, daß er den Kommissaren im Rahmen ihrer Kommission Respekt und Gehorsam erweisen muß. Unter diesem Kommissar ist nicht ein militärischer Vorgesetzter, sondern ein Heeresverwaltungskommissar verstanden 45 . 44

Bei Joh. C h r . L ü n i g , C o r p u s juris militaris I, p. 3. D i e Reuterbestallung Maximilians I I . v o n 1570 nennt diese K o m m i s sare n o c h nicht (vgl. A r t . X X X I X , L ü n i g I, p. 126); dagegen der A r t i k e l s 45

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Die Kommissare beim Heer sind entweder Aufsichtsorgane der Regierung und haben politische Aufgaben, überbringen dem Truppenführer Instruktionen, verhandeln mit dem Gegner, kontrollieren den General in politischer Hinsicht usw., oder aber — und das ist der Fall, für den der Name Kommissar am meisten gebräuchlich wird — sie erledigen Aufgaben der eigentlichen Heeresverwaltung. Die damit beauftragten fürstlichen Kommissare sind ursprünglich Geschäftskommissare und werden im Lauf der Entwicklung des Heeresverwaltungswesens Dienstkommissare. Gegen Ende des Jahrhunderts ist bereits überall eine systematische Organisation von Kommissaren, Oberkommissaren und einer Zentralbehörde eingerichtet 46 . Dadurch ist an die Stelle der freien von Fall zu Fall ent-

brief v o n Ferdinand I I I . v o n 1642, revidiert 1665, A r t . X V , L ü n i g I , 824, der A r t i k e l s b r i e f v o n 1658, A r t . X I bei L ü n i g I , 671, H a m b u r g e r A r t i k e l s brief v o n 1688, L ü n i g 1 I I , 1243, L ü b e c k 1692 (I, 1249); Bavern 1717 (2, 788). N a c h dem bayrischen Artikelsbrief v o n 1672 hat der Soldat u n m i t t e l bar m i t dem Kommissar nichts zu tun; ebensowenig ist i n dem sächsischen Artikelsbrief v o n 1700 ( I I , 816) v o m Kommissar die Rede. Dagegen verlangt der kurmainzische A r t i k e l s b r i e f ( A r t i k e l 58), I I , S. 750, Respekt u n d Gehorsam v o r den Kommissaren, aber nicht den Fahneneid; ebenso der E i d der kaiserlichen M i l i z v o n 1697 u n d 1711 ( I I , 707, 721, 726, 729). 46 a) Musterungs-, Mannschafts-, Pferde- u n d Ausrüstungsbestandskontrolle d u r c h die Kommissare nach der Reuterbestallung Maximilians I I . v o n 1570, A r t . I I , Χ , X I I I , X X X I V , X X X V I I I . Das Wallensteinsche H e e r war b e i m zweiten Generaletat i n der Weise organisiert, daß die „Generalkanzlei", die Zentrale für K r i e g f ü h r u n g u n d V e r w a l t u n g , i n z w e i Sektionen zerfiel: die Kriegskanzlei (für Operationen u n d Vergebung der Regimenter an die Obersten) u n d das Generalkommissariat (für Heeresverpflegung u n d Bedarf). F ü r jede P r o v i n z der österreichischen Erblande w a r ein Landes-Kriegskommissariat errichtet, für B ö h m e n ein oberstes Kommissariat. Diese Kommissariate verhandelten m i t den z u Kriegsleistungen verpflichteten Landständen über die Beschaffung der Kriegsbedürfnisse. A u c h die Aufsicht über die Reichskontingentbeiträge w u r d e v o n den Kriegskommissaren geführt. D e r Chef des Wallensteinschen Generalkommissariats, der kaiserliche Geheimrat Paul Graf z u M i c h n e r - W e i t z e n h o f , zugleich General-Kriegs-Landeskommissar i n Böhmen, hieß auch Generalquartiermeister u n d Zahlungskommissar. E i n Oberkommissariat besorgte die V e r b i n d u n g zwischen den drei D i r e k t i o n e n des Artilleriewesens (Generalfeldzeugmeisterstelle) u n d der Generalkanzlei (B. D u d i k , Waldstein v o n seiner Enthebung bis zur abermaligen Übernahme des A r m e e - O b e r C o m m a n d o s v o m 13. August 1630 bis 13. A p r i l 1632, W i e n 1858, S. 185, 186; V i c t o r L ö w e , D i e Organisation u n d V e r w a l t u n g der Wallensteinischen Heere, Freiburg i. B. 1895, S. 32: „ E i n e klare u n d stetige Organisat i o n der Kommissariate bestand n o c h n i c h t " ) . b) D i e Kommissare beim Heere T i l l y s unterstanden den Generalkommissaren u n d den v o m Generalkommissariat verordneten Kommissaren. Ü b e r Beschwerden u n d Mängel hatten sie dem General u n d dem Fürsten

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sandten Geschäftskommissare ein „formierter" Behördenapparat getreten. Die Heereskommissare waren Muster-, Zahl-, Quartieroder Proviantkommissare und während des Dreißigjährigen Krieges z u berichten (artikulierte I n s t r u k t i o n für die bayrischen Muster- u n d U n ter-Commissare bei der A r m e e T i l l y s , L ü n i g I I , S. 771). c) D i e brandenburgischen fürstlichen Kommissare unterschieden sich zunächst nicht wesentlich v o n den Kommissaren anderer Heeresverwaltungen. 1630 entstand der Kriegsrat, eine aus mehreren fürstlichen Räten gebildete Behörde zur „ E x p e d i t i o n v o n Kriegssachen", d. h. zur Beschaffung des Unterhalts s o w o h l für die i m L a n d stehenden kaiserlichen T r u p pen als auch für die brandenburgischen T r u p p e n , Einquartierungen, Durchmärsche, Verhandlungen m i t den Kommissaren Wallensteins usw. N a c h der E i n f ü h r u n g des stehenden Heeres w u r d e n die Kommissare ständige Dienstkommissare u n d die Heeresverwaltung organisiert u n d zentralisiert. D e r K a m p f der fürstlichen Kommissare m i t den Landkommissaren, die zur W a h r u n g der finanziellen Interessen der steuerzahlenden Stände v o n den Ständen bestellt waren, u n d der m i t H i l f e der Kommissare errungene Sieg des fürstlichen Absolutismus ist v o n Breysig (Forschungen zur brandenburgischen u n d preußischen Geschichte, V . Bd., L e i p z i g 1892, S. 135 ff., Schmoller, D i e Entstehung des preußischen Heeres v o n 16401740, Deutsche Rundschau I I I , 1878, S. 261; Acta Borussica, Behördenorganisationen, Bd. I, S. 95) u n d Prinz A u g u s t W i l h e l m v o n Preußen ( D i e E n t w i c k l u n g der Kommissariatsbehörden i n Brandenburg-Preußen, Straßburger Diss. 1908) dargestellt. D e r Aufgabenkreis des Brandenburgischen Generalkommissariats ist gegenüber den Kommissariatszentralen anderer Länder dadurch ausgezeichnet, daß m i t der Heeresverwaltung eine dauernde, militärischen Interessen dienende Steuer- u n d Finanzverwaltung verbunden war. 1684 w u r d e unter dem N a m e n „ K r i e g s k a m m e r " eine kollegialische Behörde m i t einem besondern Referenten für Steuerwesen geschaffen, i m gleichen Jahre i n Cleve ein kollegiales fürstliches Kommissariat gebildet. D i e Einrichtungen waren i n den verschiedenen Landesteilen verschieden. W o keine Provinzialkommissariate bestanden, w u r d e n Spezialdeligierte entsandt, z. B. i n der K u r m a r k , u m die Interessen des K u r fürsten gegen die Stände i n Steuersachen z u vertreten, während die militärischen Kommissariatsgeschäfte i n der K u r m a r k d u r c h die Zentralbehörde w a h r g e n o m m e n w u r d e n (Breysig, S. 144). D i e eigentliche Leistung der Kommissariatsverwaltung besteht i n der A u s b i l d u n g eines geordneten Kassen- u n d Etatswesens. Eine Generalfeldkriegskasse w a r 1674 (nach Breysig, S. 149, nach Isaaksohn, Geschichte des preußischen Beamtentums, I I , 1878, S. 184 i m Jahre 1676) gegründet w o r d e n . D i e E n t w i c k l u n g v o n einer reinen Kriegsbehörde z u r Finanzbehörde w i r d deutlich i n der I n s t r u k t i o n , die D a n c k e l m a n n am 1. M a i 1688 erhielt u n d die sich v o n den früheren, n o c h rein militärischen I n s t r u k t i o n e n unterscheidet (abgedruckt A c t a Bor. I , n. 60, S. 181): er soll darauf sehen, daß erstlich alle M o n a t e allen Regimentern ihre Assignationen richtig erteilt werden, daß die O b e r - u n d U n ter-Receptores die Zahlungen richtig u n d ohne K o r r u p t i o n machen, daß die Einquartierungsreglements beachtet u n d den Einquartierten keine M o lestien zugefügt werden; daß die w i l l i g e n K o n t r i b u e n t e n nicht m i t u n n ö t i gen E x e k u t i o n e n belegt werden; die M i l i c e gemustert, die M u s t e r u n g i n

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vielfach noch von den Obersten abhängig, trotzdem treten sie auch schon während des Dreißigjährigen Krieges als Funktionäre der Regierung, d. h. des Fürsten, dem Truppenführer mit gewisser gutem Zustand gehalten, die I n s t r u k t i o n v o n jedem Kommissarius befolgt w i r d , daß keine Unterschleife v o r k o m m e n , die armen Leute auf den M ä r schen nicht belästigt werden, daß ihnen alles bar bezahlt u n d nichts abgepreßt w i r d . Soweit handelt es sich n o c h u m die üblichen Heeresverwaltungsangelegenheiten. A u ß e r d e m sollen aber die Anlagenkataster u n d M a trikel fleißig revidiert u n d nötigenfalls solche angelegt werden. Besondere Kommissare sind dafür zu bestellen, daß alle Partikulair-Kreiseinnehmerrechnungen jedes Jahr abgenommen werden; die Accise i n den Städten ist zu kontrollieren, auf Durchstechereien zu achten, Einnehmer, Visitatoren, Torschreiber sind durch Steuerkommissarien zu überwachen, die Rechnungen müssen i n jeder Stadt nachgesehen werden usw. D a m i t waren, ausgehend v o n dem zentralen Z w e c k der Heeresverwaltung, die Befugnisse dieser Behörde auf die Steuerverwaltung ausgedehnt. Innerhalb der Heeresangelegenheiten w a r die A b g r e n z u n g zwischen Kommissariat u n d T r u p penführer, also Heeresverwaltung u n d Heereskommando, nicht sehr klar. U n t e r Platen (gest. 1669) k a m es häufig zu K o n f l i k t e n , d o c h unterstand Platen formell dem capo der Armee, dem Generalfeldzeugmeister Sparr. Danckelmann sollte nach seinen I n s t r u k t i o n e n alles tun, was für die K o n servation der A r m e e u n d die Sicherheit des Staates n ö t i g war, T r u p p e n u n d Material i n gutem Stand halten, die vorzunehmenden Operationen der Kriegsraison gemäß dirigieren u n d einrichten, k u r z , er war, w i e Breysig sagt, „Generalstabschef, Kriegs- u n d Finanzminister zu gleicher Z e i t " . Jedoch waren dem Feldmarschall Truppenführer wie M i l i t ä r v e r w a l t u n g s o r gane unterstellt (Meyer-Courbière, M i l i t ä r v e r w a l t u n g , Berlin 1908, S. 9). Bei Danckelmanns T o d 1709 w a r das brandenburgisch-preußische Generalkriegskommissariat bereits ein o f f i c i u m f o r m a t u m u n d alles vorhanden, was dazu gehört: „gute Beamte i n ausreichender Zahl, eine geordnete Kasse, zuverlässige Kassenbeamte, weitvorgeschrittene Kommissariate i n den Provinzen" (Breysig, S. 155, Prinz A u g u s t W i l h e l m , S. 35). Das Reglement für das Generalkommissariats-Kollegium v o m 7. M ä r z 1712 (Act. Bor. I, S. 184) sagt, daß d u r c h die Verstärkung der „ A r m a t u r " auch die V e r r i c h tungen des Generalkommissariats größer u n d schwerer geworden sind u n d daher jetzt die F o r m eines Kollegiums erhalten soll. D i e D i r e k t o r e n bek o m m e n Bestallungspatente, ständige Assessoren werden eingesetzt, eine Geschäftsordnung w i r d errichtet usw. Z u r V e r h ü t u n g v o n K o l l i s i o n e n m i t anderen Kollegien sollen die Verrichtungen „ i n den Schranken, die W i r ihnen fürgesetzet bleiben"; durch besondere Dekrete sollte terminiert w e r den, w i e w e i t die „Potestät u n d J u r i s d i k t i o n eines jeden einzelnen C o l l e g i i gehen soll". D u r c h die K o n s t i t u t i o n v o m 25. A p r i l 1713 ( A c t . Bor. I , S. 515) werden weitere Grundsätze zur V e r h ü t u n g v o n K o l l i s i o n e n z w i schen den Justizkollegien u n d den Kommissariaten aufgestellt. D a m i t war die E n t w i c k l u n g z u m „trait perpétuel" beendet. N a t ü r l i c h entsprach es dem absolutistischen Regime, daß der K ö n i g häufig unmittelbar d u r c h Machtsprüche i n die V e r w a l t u n g eingriff, sich unmittelbar berichten ließ, aus landesherrlicher A u t o r i t ä t Sentenzen des General-Oberst-FinanzKriegs- u n d D o m ä n e n - D i r e c t o r i u m s i m Interesse des Gemeinwohls d u r c h

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Selbständigkeit gegenüber und haben, wie sich aus der Instruktion für die Kommissare Tillys ergibt, sogar Aufsichtsbefugnisse. Von den Kommissaren, welche teils von den Landesfürsten, teils von den Ständen des Landes, das den Durchzug und den Unterhalt eines fremden Heeres tragen mußte, ernannt wurden, um die Lieferungen an das Heer zu bewirken und die eigenen Untertanen vor den Soldaten zu schützen, sind diese Kommissare beim Heer zu unterscheiden. Ihre Tätigkeit konnte folgenden Inhalt haben: Kontrolle der Bestände, namentlich der Zahl und Qualität der vom Obersten vertragsmäßig zu stellenden Söldner; allgemeine Überwachung der Disziplin, des Verhältnisses der Offiziere und Mannschaften und der Art der Bestrafung; Visitation der Quartiere und Überwachung von Fourieren, Troß und Gesinde beim Heer, wiederholte Musterungen sowohl bei der Annahme eines Regiments als auch während der weiteren Zeit, Führung eines genauen Registers über die Soldaten, Feststellung und Kontrolle der Kranken und Urlauber. Insoweit die Tätigkeit des Kommissars Aufsicht gegenüber dem Militär ist, stehen ihm als Mittel der Aufsicht zur Verfügung: Anregung und Hinweise bei den Truppenführern, aber mit Diskretion, wie es in der Instruktion für die Kommissare bei der Armee Tillys heißt, Berichte an die vorgesetzte Kommissariatsbehörde und den Fürsten, Verweise an die Fouriere, Proviant- und Quartiermeister, gegebenenfalls Einbehaltung des Soldes als Kompensation für angerichteten Schaden. Der Sold wurde vom Kommissar dem die Löhnung vornehmenden Truppenteil überbracht. Die Beschaffung von Geld- oder Naturalverpflegung sowie die Unterbringung der Truppen war Aufgabe der gewöhnlich einer besondern Verwaltung unterstehenden Proviant- und Quartierkommissare, eine Tätigkeit, durch welche sie mit dem vom Durchzug Kabinettsordre aufhob (Beispiel: A c t a Bor. V I I I , S. 78 / 79 aus dem Jahre 1748). d) I m Gegensatz zu diesen fürstlichen Kommissaren bezwecken die spät e m Kriegsräte bei der Reichsarmee eine K o n t r o l l e der Militärbefehlshaber gerade i m Interesse der Stände. D i e Kriegsräte sollen nach ihrer I n s t r u k t i o n v o n 1664 ( L ü n i g I, p. 92 / 93) für die Reichsarmee i n U n g a r n m i t dem Kaiser deliberieren, darauf achtgeben, daß den Reichsständen ihre Privilegien nicht beeinträchtigt werden, die Reichsgeneralität auf Beobachtung der kaiserlichen Orders anweisen, k u r z , alles tun, was i m Reichsinteresse ist. A m deutlichsten zeigt das Reglement u n d die O r d o n n a n z v o n K a r l V I . für die i n U n g a r n stehende M i l i z v o n 1720 ganz die alte Rücksicht auf die Stände. D e r Militärbefehlshaber ist i n allen Einzelheiten hinsichtlich der Einquartierung, Marschrouten, Etappen an die O b e r - u n d Kriegskommissare gewiesen, die den genauen I n s t r u k t i o n e n des kaiserlichen General-Kriegs-Kommissariats unterstehen. Das M i l i t ä r darf nichts direkt fordern, sondern hat sich an den Kommissar zu wenden, der m i t den Landesobrigkeiten verhandelt; vgl. darüber weiter i m Text.

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oder Quartier betroffenen Land, d. h. seiner fürstlichen oder ständischen Verwaltung und deren Kommissaren in fortwährende Berührung kamen. Sie verhandelten mit den zum Unterhalt des Heeres verpflichteten Landesbehörden oder -Kommissaren, verteilten die zu leistenden Abgaben, die dann von den Landesstellen weiterverteilt wurden, bestimmten Quartiere, legten Marschrouten fest usw. Es war dabei im einzelnen Frage der persönlichen Energie, ob sich der militärische Führer bei seiner militärischen Operation vom Kommissariat beaufsichtigen und beeinflussen ließ oder selbst den Kommissar nur als Mittel der Kriegführung zu benutzen wußte. Wallenstein nannte Tilly verächtlich den Sclavo der bayerischen commissari, er selbst war freilich unabhängig von der kaiserlichen Hofkammer, die ihm für die Verpflegung seines Heeres nicht unmittelbar Vorschriften machte, aber (wenigstens noch während des ersten Generalats), wenn die Soldaten es allzu arg trieben und z. B. die Proviantwagen plünderten, sich an den Kaiser wandte, um diesen zu veranlassen, Wallenstein durch den Hofkriegsrat wegen besserer Disziplin „ernstlich anzumahnen" 47 . Die einzelnen Kommissare wurden von den Soldaten oft schlecht genug behandelt, und im bayerischen Artikelsbrief von 1717 wird den Soldaten ausdrücklich verboten, sie verächtlich oder gar „mit der Tat selbsten" zu beleidigen48. Die Beschaffung der Kriegsleistungen des Reichs und die Aufsicht über die Reichskontingentbeiträge wurde ebenfalls durch Kriegskommissare geführt. In den Erbländern des Kaisers trat der Kommissar als Beauftragter des Landesfürsten den Landesbehörden mit größerer Autorität entgegen als der kaiserliche Kommissar im Reiche. Aber auch in den Erbländern wurde mit dem „Land" verhandelt. Der Kommissar verschaffte nur solche Abgaben, zu denen das Land, sei es kraft bestehenden Gesetzes oder Gewohnheit, sei es kraft Zustimmung des Landtags, verpflichtet war. Konnte der Untertan nicht liefern oder zahlen, so wandte sich der Kommissar an die Landesobrigkeit, weigerte der Untertan sich, war er renitent, so suchte der Kommissar um militärische Exekution nach. Das war die grundsätzliche Rechtslage auch zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, obwohl damals einmal durch die zahllosen Konfiskationen, dann durch das tatsächlich eigenmächtige Vorgehen der Soldaten der Sachverhalt oft ein ganz anderes Bild darbot und das Militär sich häufig weder um die eigenen noch um die Landkommissare kümmerte 49 . Nachdem die Verpflegung des Hee47

H a l l w i c h , Geschichte Wallensteins I I I , N r . 139, S. 133; N r . 140, S. 135

(1626). 48

So i n A r t i k e l 3 ( L ü n i g I I , p. 797). Bei H a l l w i c h , Fontes R e r u m Austriacarum, Bd. 64, I I , n. 947, S. 503 ist ein die Rechtslage besonders deutlich illustrierendes Patent Wallensteins v o m 18. Juni 1632 an alle böhmischen Standespersonen, E i n w o h n e r , be49

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res aus Magazinen eingeführt war, wurde ausdrücklich festgestellt, daß nur durch das Generalkriegskommissariat verpflegt werden dürfe. Bei Beschwerden zwischen dem Quartiergeber und dem Soldaten machte der Quartiergeber Anzeige bei seiner (Landes-)Obrigkeit, diese teilte die Anzeige dem Vorgesetzten des Soldaten und dem im Bezirk befindlichen Kriegskommissar mit. Es wurde später ausdrücklich hervorgehoben, daß in solchen Fällen bei Streitigkeiten zwischen Soldat und Quartiersmann dem kommandierenden Offizier, dem Kriegskommissar und der Obrigkeit des Quartiersmanns zusammen die Jurisdiction zustehe. Die Verteilung der Quartiere sollte vom Land geschehen, die Verpflegung der Pferde wurde vom Generalkriegskommissariat beschafft, das in den Habsburgischen Staaten sowohl die Lieferungen wie die Preise „im Namen und von wegen unserer Hofkammer" festsetzte. Grundsatz war überall das Zusammenwirken von Truppenführer, Kriegskommissar und (Landes-)Obrigkeit. Das führte, namentlich bei Änderungen der vorgesehenen Marschroute und der Quartiere, zu großen Umständlichkeiten 50 . sonders aber die bei der kaiserlichen A r m e e bestellten O b e r - u n d U n t e r kommissare abgedruckt: der Landtag z u Budweis hat beschlossen, die fünfmonatliche K o n t r i b u t i o n weiterzuzahlen; daher ergeht an alle Standespersonen u n d E i n w o h n e r das Ersuchen, dem z u entsprechen. D i e K o m missare sollen die K o n t r i b u t i o n i n Getreide, Hafer, Fleisch (in Ermangel u n g des Fleisches i n Geld) auf die Kreise verteilen u n d für die E n t r i c h t u n g sorgen, sich auf keine E i n w e n d u n g oder „abbekhanthnuszbrief" einlassen, vielmehr „exegiren einnahmen u n d zusambenbringen", w o der U n tertan nicht imstande ist, die A b f ü h r u n g bei der O b r i g k e i t suchen, i m Fall der Weigerung aber gegen die Säumigen militärische E x e k u t i o n nachsuchen, denn das b o n u m p u b l i c u m verlangt es so. — A u f die Behandlung der Kommissare d u r c h die Obersten w i r f t ein i n einem Brief Aldringens an Wallenstein ( v o m 5. J u n i 1632, H a l l w i c h , Fontes I I , n. 929, S. 477) erwähnter Fall ein besonderes L i c h t : der Oberst v o n Ossa läßt einen K o m missar aufspießen m i t der Begründung, daß dieser m i t dem G e l d ausreißen wollte. 50 Reglement u n d O r d o n n a n z Karls V I . v o n 1720, L ü n i g I I , p. 731: kein Oberst, Oberstleutnant, Oberstwachtmeister darf die i h m auf A n l e i t u n g oder Genehmigung des kaiserlichen Hofkriegsrats d u r c h das Generalkriegskommissariatamt assignierte Station ändern, die E x e m t i o n e n v o n persönlichen Einquartierungen müssen respektiert werden usw. D a n n folgt das Schema für die Verpflegung, i n welchem der Generalstab, eine Feldkriegskanzlei, eine General-Kriegs-Kommissariats-Kanzlei (mit einem Generalkriegskommissarius, einem Oberkriegskommissarius, einem Feldkriegskommissarius u n d dem dazugehörigen Registratur- u n d Kanzleipersonal) figurieren; ferner ein Proviantamt m i t einem Proviantkommissarius. D i e E x e k u t i o n gegen „ m o r o s o s " w i r d auf Ansuchen des Generalkriegskommissariatsamts, nicht des einzelnen Kommissars, d u r c h die nächstgelegenen K o m p a g n i e n oder Regimenter vorgenommen, die Restanten werden

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Die fürstlichen Kommissare waren aus Geschäftskommissaren Dienstkommissare geworden und in eine bürokratische Organisation eingegliedert. Der Kommissar wird zum abhängigen Funktionär, der eine geregelte Zuständigkeit hat, aber nicht mehr wie im Mittelalter unmittelbarer persönlicher Repräsentant, sondern „Staatsdiener" ist 51 . Dadurch wird der Begriff versachlicht. Allerdings bleibt der Charakter der Unmittelbarkeit und damit des Kommissarischen (im Sinne von Bodin), insoweit nicht wie beim Richter eine Rechtsnorm als selbständiges Mittel zwischen dem Auftraggeber und dem Beauftragten steht. Wegen der funktionellen Abhängigkeit kann aber nicht mehr, wie das Bodin tut, die Stellung eines Diktators mit der dieses Kommissars verglichen werden. Höchstens das ganze System könnte Diktatur heißen, wegen der zentralen Bedeutung eines sachtechnischen Zweckes. Hierfür ist allerdings die Entwicklung in Preußen besonders deutlich. Der preußische Kommissar hatte dieselbe Aufgabe wie der österreichische, bayrische oder sächsische Kommissar, nämlich für Ausrüstung und Unterhalt des Heeres zu sorgen. Aber weil mit diesem Zweck effektiv Ernst gemacht wurde, dehnten sich seine Befugnisse aus, zuv o n der Landesobrigkeit den Oberkriegskommissaren angegeben, damit die E x e k u t i o n gegen sie veranlaßt w i r d . M a c h t die Landesobrigkeit Schwierigkeiten u n d kennt man daher die Restanten nicht, so soll der Kriegskommissarius befugt sein, eine M i l i z zu der Landesstelle vermittelst der i m L a n d anwesenden Etappen zu schicken, die Landesstelle schickt dann die M i l i z auf die G ü t e r der Restanten, w o sodann die E x e k u t i o n s u n kosten anfangen sollen. I n der M a r s c h o r d n u n g für die kaiserlichen T r u p pen am O b e r r h e i n 1713 ( L ü n i g I I , 729) w a r bestimmt, daß der Oberst oder Regimentskommandant v o r dem A u f b r u c h einen O f f i z i e r vorausschickte, der einen ordentlichen, v o n einem O b e r - oder Kriegs- oder Begleitungskommissar gefertigten E n t w u r f der täglich zur Verpflegung erforderlichen M u n d - u n d Pferdeportionen m i t b r i n g t . D i e zwischen den Ständen vereinbarte Marschroute muß v o n dem O f f i z i e r erwogen u n d aufs genaueste befolgt werden. 51

I n den Grumbachischen H ä n d e l n w i r d der K u r f ü r s t v o n Sachsen meist als Befehlshaber bezeichnet u n d dadurch v o n den Kommissaren u n terschieden. O f t heißen nur die subdelegierten Kommissare, z. B. i n der Straßburger Kirchensache 1628, w o der Erzherzog L e o p o l d v o n Österreich eine kaiserliche K o m m i s s i o n erhält, u m gütliche H a n d l u n g zu pflegen, u n d , w e i l er nicht persönlich k o m m e n kann, Subdelegierte schickt, die Kommissare heißen, während er selbst nicht so genannt w i r d ( L o n dorp, Suppl. I I I , p. 30). Bei der Reichsversammlung hält sich der N a m e d u r c h das 18. Jahrhundert h i n d u r c h als Bezeichnung für den Vertreter des Kaisers, der die Anträge, Dekrete usw. den Kurfürsten, Fürsten u n d Ständen g e w ö h n l i c h d u r c h den Principal-Kommissarius mitteilen ließ. Dieser hatte demnach eine ähnliche Stellung w i e der v o m K ö n i g oder der Regier u n g entsandte Kommissar bei den Verhandlungen der modernen V o l k s vertretung.

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nächst auf die Steuerverwaltung, denn der Unterhalt der Truppen ist von dem guten und richtigen Eingang der Steuern abhängig. Für diesen Zweck wiederum, für den guten und richtigen Eingang der Steuern, ist es erforderlich, alles zu tun, was zur Hebung der Steuerkraft des Landes beiträgt, das ist nicht viel weniger als die gesamte innere Verwaltung, Handel und Gewerbe, Wohlfahrtspolizei usw. O. Hintze hat diese Entwicklung übersichtlich so zusammengefaßt: „Dieselben Behörden, die für die Unterhaltung des Heeres, für das Aufkommen der Steuern zu sorgen haben, werden auch für die Erhaltung und Entwicklung des Wohlstandes und der Steuerkraft der Bevölkerung, vor allem für die Aufnahme der städtischen Nahrungen und des Verkehrs verantwortlich gemacht. Die militärische Verwaltung verflicht sich dadurch unauflöslich mit der bürgerlich-polizeilichen; die ganze innere ,Polizei', die sich daraus allmählich entwickelt, trägt ein militärisches Gepräge 52 ." Die Machterweiterung ließ sich auch durch Rechte der Stände nicht aufhalten. Der absolute Fürst hat sie vernichtet, wenn sie zweckwidrig waren und ihm im Wege standen. „Rechtlich befugt war er nicht hierzu" (Prinz August Wilhelm von Preußen, a. a. O. S. 17). Der einzelne Kommissar war dabei nur das Mittel eines von einem sachtechnischen Zweck beherrschten Systems, in dem freilich gerade deshalb das Mittel sich zur Geltung brachte: der Souverän konnte seinen Absolutismus nur zugleich mit der Konsolidierung und Formierung seines Beamtenapparates einrichten. Dadurch wurde aus dem Kommissar ein ordentlicher Beamter. Mit der Souveränität des Fürsten stabilisiert sich seine Bürokratie. — Im Gegensatz zu dem Exekutionskommissar, dessen Tätigkeit inhaltlich Aktion in dem hier gebrauchten Sinne des Wortes ist, erscheint aber der Heereskommissar auch in Preußen nicht als das Werkzeug einer einmaligen Aktion, die einen bestimmt vorgestellten Erfolg herbeiführen soll, sondern als das Mittel der allmählichen Ausdehnung eines Verwaltungsorganismus, welcher nur der immanenten Expansion des ihn beherrschenden Zweckes folgt. Dagegen ist der Reformationskommissar das Beispiel eines Aktionskommissars, der als abhängiger Funktionär im Dienst des Fürsten die zentrale Staatsgewalt durchsetzt und die im Wege stehende lokale Selbstverwaltung beseitigt. Der typische Verlauf einer der zahlreichen Reformationskommissionen war nach den Berichten der Kommissare in Steiermark, Kärnten und Krain folgender 53 : Als 52

O t t o H i n t z e i n der Festgabe für Zeumer, a. a. O . S. 494 / 5. L o n d o r p , Suppl., 1.1, 1. I I , p. 179, w o die Berichte v o n neun solchen Reformationskommissionen abgedruckt sind. Reformation u n d Gegenref o r m a t i o n w u r d e n auf die verschiedenste Weise durchgeführt, je nach dem Verhalten der Bevölkerung u n d der Stellungnahme des Territorialherrn. Es 53

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die protestantische Bewegung in den genannten Ländern wieder lebhafter wurde, ergingen zunächst „aus landesfürstlicher Macht" Dekrete gegen die evangelischen Praedikanten, das Land bei Strafe von Leib und Leben zu räumen. Die meisten folgten diesem Befehl, dessen Wirksamkeit dadurch unterstützt wurde, daß der zum Stadthauptmann von Graz ernannte Offizier mit einem Fähnlein das die Stadt beherrschende Schloß besetzte. Doch begannen bald darauf, 1599, wieder neue Unruhen, und die Protestanten nahmen die Stiftskirche in Graz für sich in Anspruch. Der Landesherr ließ die Kirche, deren Schlüssel trotz mehrfacher Aufforderung nicht herausgegeben wurde, durch „geordnete Commissarien" (zwei Doktoren und einen Regimentsrat) mit Gewalt öffnen und dem katholischen Gottesdienst zurückgeben. Die weitern Reformationskommissionen verteilten sich auf verschiedene Länder, um ihre Aufgabe (nämlich, wie es später hieß, „die Böcke von den Schafen zu sondern") ins Werk zu richten 54 . Die Kommission, bestehend aus mehreren Kommissaren, gewöhnlich ein Kleriker und kaiserliche Räte, hatte meist eine „guardia", d. h. ein Fähnlein Knechte unter einem Hauptmann zur Verfügung, weil früher öfters Kommissare mißhandelt worden waren. Die Kommissare hatten „Befelch und vollmächtige Gewalt", die Widerspenstigkeit der aufrührerischen lutherischen Ortschaften (hauptsächlich der bergbautreibenden Bevölkerung) „mit bester Dexterität" zu dämpfen, die Rädelsführer zusammenzunehmen, den Rat der Städte mit qualifizierten Personen zu ersetzen, die Schlüssel zu Kirchen und Friedhöfen dem zuständigen katholischen Pfarrer einzuhändigen und kam auch zu mehr oder weniger regelrechten Kriegszügen gegen eine zu reformierende Ortschaft, w o b e i sich an die militärische Einnahme ein formelles peinliches Strafverfahren wegen Rebellion u n d A u f r u h r anschloß (z. B. K u r - T r i e r ) . A u c h hier konstituiert sich zuweilen bei längerer T ä t i g keit ein regulärer Beamtenapparat m i t regelmäßigen Dienstkommissaren, so namentlich i n Salzburg (von 1686-1800) die aus zwei Konsistorialräten u n d zwei H o f r ä t e n bestehende Religionskommission m i t der d u r c h hochfürstliches D e k r e t v o m 16. A u g u s t 1713 für außerordentliche Maßregeln geschaffenen „geheimen D e p u t a t i o n " , die aber nur bis 1747 tätig war. Wichtiges rechtshistorisches Material über zahlreiche R e f o r m a t i o n s k o m missionen i n den Spezialuntersuchungen, namentlich auch i n den Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, insbesondere N r . 24, H . Ziegler, D i e Gegenreformation i n Schlesien; N r . 36 u. 42, Frhr. v. W i n z i n g e r r o d a K n o r r (Eichsfeld); N r . 54, H . v. Wiese (Grafschaft Glatz); N r . 67, 69, Fr. A r n o l d (Salzburg); N r . 88 / 89, Jul. N e y (Trier). 54 W e n n sich die Landleute auf den Religionsfrieden beriefen, so antworteten die Kommissare, daß sie das nicht könnten, w e i l der Religionsfriede n u r für Mitglieder des römischen Reiches gelte u n d n u r immediate der Landesfürst u n d nicht die Landleute für M i t g l i e d e r des römischen Reiches gehalten u n d erkannt werden; L o n d o r p , a. a. O . S. 178.

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endlich allgemein, „was sonst mehrers die Notthdurfft über Erfordern ins Werck zu richten". So begeben sie sich z. B. mit ihrem Fähnlein nach Leoben. Die „Eisenärzter" wollten erst Widerstand leisten und sich die fürstliche Kommission nicht gefallen lassen, sie bewaffneten sich sogar, aber es gelang den Kommissaren, über 300 fürstliche Schützen zu requirieren, und bei deren Anblick „krochen die Eisenärzter ängstlich zu Kreuze", „sie legten hinweg ihre Waffen, sie übergaben den Commissarien die in ihrem Gewalt gehabte zween Thüren sambt den Kirchenschlüssel". Jetzt „griffen die Herren Commissarien zu der Reformation und ward dem Catholischen Pfarrer die Kirche und Pfarrhof angeantwortet". Sie stellten dann ein Examen an, um zu erheben, wer die Rädelsführer der Rebellion waren. U m weitere Rebellion zu vermeiden, werden den Eisenärztern die Waffen genommen, „desgleichen ihre Privilegien und Freyheiten abgefordert"; sie dürfen weder Rat noch Zusammenkunft ohne den fürstlichen Amtmann halten, viele Rädelsführer fliehen, einige, die erwischt werden, kommen nach Graz aufs Schloß, andere werden aus dem Lande geschafft, andere wieder zu unterschiedlichen Strafen verurteilt. Doch wurde keinem das Leben genommen. Die sektiererischen Bücher werden zusammengetragen und öffentlich verbrannt. U m die Übeltäter zu erschrecken, wird ein Galgen aufgerichtet. Die Reformationskommissarien hinterlassen Instruktionen für Bürgermeister, Richter und den Rat der Stadt, die sie reformiert haben, darüber, wie sie sich in Glaubenssachen verhalten sollen, über Sonntagsruhe, Bekämpfung der heimlichen Ketzerei, Beaufsichtigung des Schulwesens durch den Pfarrer, Fernhaltung der lutherischen Bürger (ohne des Pfarreres Wissen darf keinem das Bürgerrecht verliehen werden). Der Fürst setzt nach der Reformation einen Stadt-Anwalt ein, dessen Amt es ist, zu verhindern, daß etwas gegen die katholische Religion, die Hoheit und Reputation des Fürsten und die Instruktion der Commissarien geschieht; er hat für die Aufrechterhaltung guter Polizei zu sorgen und soll auf das ganze gemeine Wesen „in genere und in specie" seine Achtung haben. Die weitern Reformationscommissionen verlaufen ähnlich. Öfters verhandeln die Kommissare mit den Aufständischen, zuweilen treffen sie weitgehende, allgemeine Anordnungen, verbieten z. B. den Bürgern, nachdem die Stadt besetzt war, aus den Häusern zu gehen und ohne Erlaubnis der Kommissare einander zu besuchen, fordern den Richter, den Rat und die ganze Bürgerschaft zu sich, damit sie ihre Unterwerfung erklären, verbieten durch ein Dekret (Londorp p. 205) den Priestern das Konkubinat; die Konkubinen werden für infames erklärt und außer Landes geschafft. Einmal sagen die Kommissare (in Radkerspurg), sie wollten erst am andern Tag mehrere Anordnungen geben, weil sie noch keine genaue Instruktion hätten, in Wahrheit

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wollten sie noch mehr Kriegsvolk abwarten, „um den actum Reformations desto sicherer verrichten zu können". So taten sie, was nach Lage der Sache erforderlich war, und nahmen, wo die Reformation nicht gütlich durchgeführt werden konnte, die „execution mit bewehrter Hand" vor, sprachen Strafen aus, zogen Privilegien ein, reinigten die Amter, zwangen die bisherigen Amtsinhaber, Rat und ganze Bürgerschaften, im Beisein der Kommissare ihr Amt den neuen Obrigkeiten zu übertragen, zitierten die geflohenen Bürger zur Rückkehr, konfiszierten ihre Güter und entwaffneten die Bürgerschaft der widerspenstigen Ortschaften. Et facta est tranquillitas magna, berichtet die zweite Reformationskommission ihrem fürstlichen Auftraggeber.

Exkurs über Wallenstein als Diktator 55 Als Chef einer großen Armee, als capo, wie man damals sagte, der die Rechte der Stände mißachtete und sich zugleich gegenüber seinem kaiserlichen Auftraggeber eine große Selbständigkeit zu 55 Übersicht über die i m folgenden hauptsächlich zitierte Literatur: Peter P h i l i p p W o l f , Geschichte Maximilians I. u n d seiner Zeit, I. u. I I . Bd., M ü n c h e n 1807, I I I . Bd. 1809, I V . Bd. fortgesetzt v o n Carl W i l h e l m Friedr. Breyer, M ü n c h e n 1811; C . Gust. H e i b i g , Wallenstein u n d A r n i m 16321634, Dresden 1850; Friedrich v. H u r t e r , Z u r Geschichte Wallensteins, Schaffhausen 1855; derselbe, Wallensteins vier letzte Lebensjahre, W i e n 1872; O t t o Krabbe, A u s dem kirchlichen u n d wissenschaftlichen Leben Rostocks, zur Geschichte Wallensteins u n d des dreißigjährigen Krieges, Berlin 1863; B. D u d i k , Waldstein v o n seiner E n t h e b u n g bis z u r abermaligen Übernahme des A r m e e - O b e r - C o m m a n d o s v o m 13. A u g u s t 1630 bis 13. A p r i l 1632, W i e n 1858 (zit. D u d i k , Waldstein); A n t o n G i n d e l y , Geschichte des dreißigjährigen Krieges, Prag I. Bd. 1869, I I . Bd. 1878, I I I . Bd. 1878, I V . Bd. 1880 (zit. G i n d e l y I , I I usw.); derselbe, Waldsteins V e r trag m i t dem Kaiser, A b h a n d l u n g e n der k ö n i g l . böhmischen Gesellschaft der Wissensch., V I I . F. 3. Bd.; derselbe, Waldstein während seines ersten Generalats, I. u n d I I . Bd., Prag u n d L e i p z i g 1886, cit. G i n d e l y , Waldstein; H e r m a n n H a l l w i c h , Wallensteins Ende, ungedruckte Briefe u n d Acten, I. u n d I I . Bd., L e i p z i g 1879 (zit. H a l l w i c h I u n d I I ) ; derselbe, F ü n f Bücher Geschichte Wallensteins, I., I I . u n d I I I . Bd., L e i p z i g 1910 (zit. H a l l w i c h , Gesch.); derselbe, Briefe u n d A k t e n z u r Geschichte Wallensteins (1630 bis 1634), Fontes R e r u m Austriacarum, Österreichische Geschichtsquellen L X I I I . , L X I V . u n d L X V . Bd., W i e n 1912 (zit. H a l l w i c h , Fontes I , I I u n d I I I ) ; E d m u n d Schebek, Wallensteiniana i n M e m o i r e n , Briefen u n d U r k u n den, Prag 1875; derselbe, D i e L ö s u n g der Wallensteinfrage, Berlin 1881; ders., D i e C a p i t u l a t i o n Wallensteins, Osterr.-Ungar. Revue, N . F. Bd. 11, 1891; Rieh. Wapler, Wallensteins letzte Tage, L e i p z i g 1884; W o l f g a n g M i chael, Wallensteins Vertrag m i t dem Kaiser i m Jahre 1632, H i s t . Zeitschr. Bd. 88 (1912), S. 385-435; M o r i z Ritter, D e r Untergang Wallensteins,

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wahren wußte, hieß Wallenstein sowohl bei seinen Zeitgenossen wie in der spätem Geschichtsschreibung öfters Diktator 5 6 . Hier kommt es nun nicht auf einen der zahllosen Fälle an, in denen der Name als politisches Schlagwort gebraucht wird, sondern es fragt sich, wieweit die militärischen und politischen Vollmachten Wallensteins eine solche Bezeichnung rechtfertigen. Der Sprachgebrauch hat sich schon deutlich nach der souveränen Diktatur verschoben: zur diktatorischen Macht nach außen kommt eine besondere, dem kommissarischen Charakter im Sinne Bodins widersprechende Selbständigkeit gegenüber dem Auftraggeber. Das Wort wurde in der Staatsrechtslehre der damaligen Zeit für ein von Eingriffen anderer Stellen unabhängiges, höchstes militärisches Kommando gebraucht. So nannte Arumäus, wie bereits erwähnt, den Prinzen Moriz von Oranien einen Diktator, Cromwell wird als Lord General öfters so bezeichnet, und was insbesondere Wallenstein angeht, so spricht auch Pufendorf von ihm als von einem Diktator 5 7 . H i s t . Z . Bd. 97 (1906), 237 ff. Briefe u. A k t e n zur Gesch. des 30j. Krieges N . F. I I , m i t U n t e r s t ü t z u n g v o n F r i t z Endres, bearb. v o n W . Goetz, L e i p zig 1918 (zit. A k t e n I I 2 ) . I n andern Fällen wie Förster, Briefe; Ranke, Geschichte Wallensteins; O n n o K l o p p , 30jähriger K r i e g ist die Zitationsweise ohne weiteres verständlich. 56 Vgl. H u r t e r , Letzte Lebensjahre, S. 1; O p e l , Wallenstein i m Stift H a l berstadt, H a l l e 1866, S. 5, 21 usw. Daß sich die literarische Psychologisier u n g ζ. B. d u r c h Ricarda H u c h das W o r t D i k t a t u r nicht entgehen läßt, ist begreiflich. A b e r auch M . Ritter gebraucht das W o r t i n einer unklaren allgemeinen Bedeutung u n d spricht z. B. S. 128 seiner deutschen Geschichte i m Zeitalter der Gegenreformation u n d des dreißigjährigen Krieges, Stuttgart u n d Berlin 1908, v o n der D i k t a t u r des spanischen Gesandten Ofiate, wegen dessen „gebieterischen M i t r a t e n s " i n Fragen der kaiserlichen P o l i t i k (1620); S. 489 v o n der schwedischen D i k t a t u r Gustav A d o l f s wegen der einseitig befehlenden Bedingungen, die Gustav A d o l f dem K u r f ü r s t e n v o n Sachsen unter D r o h u n g m i t offener Gewalt stellte; i n seiner „ E n t w i c k l u n g der Geschichtswissenschaft", M ü n c h e n u n d Berlin 1919, S. 200 bei der W ü r d i g u n g des C h e m n i t i u s v o n der „österreichischen D i k t a t u r i n E u r o p a " ; H i s t . Zeitschr. 97, S. 237 sagt er m i t Bezug auf das zweite Generalat Wallensteins, hier sei Wallenstein „ i n n o c h höherem Grade m i t w a h r haft diktatorischer M a c h t " aufgetreten als i m ersten. 57 C o m m e n t a r i o r u m de rebus Suecicis l i b r i X X V I , U t r e c h t 1686, 1. I § 56: D i e Fürsten beklagen sich darüber, daß der Friedländer „insolita fortuna ebrius velut dictatorem ageret, nec Caesaris mandatis nisi q u a n t u m ipsi c o l l i b i t u m pareret" (p. 21); § 58: auf dem Reichstag zu Regensburg 1630 k a m es z u Klagen de injuriis et oppressionibus Caesareani exercitus ac insolentia Fridlandi, ejusque dictatoria potestate. C h e m n i t i u s , Belli Suec o - G e r m a n i c i vol. I , Stettin 1648, 1. I p. 10 nennt Wallenstein w o h l den summus Caesariae militiae Imperator u n d sagt p. 242, er habe beim zweiten Generalat eine absolutissima nullisve regulis limitata potestas verlangt,

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Für das erste Generalat Wallensteins liegt zunächst ein kaiserliches Intimax ex Consilio Bellico vom 17. April 1625 vor, durch das Wallenstein zum Capo „über alle dero (Kaiserl. Majestät) Volk so diser Zeit im heiligen römischen Reich und Niederlanden vorhanden" ernannt wurde 58 . Der Titel Capo war zur Bezeichnung des kaiserlichen Heerführers ungewöhnlich, obwohl diese allgemein übliche Benennung nicht so auffällig war, wie Hallwich 5 9 anzunehmen scheint und jeder kommandierende Führer so heißen konnte 60 . Das Wort bedeutet nur, daß Wallenstein die militärische „Direktion" über die kaiserlichen Truppen erhielt. Nach dem Generalspatent vom 25. Juni 162561 wurde Wallenstein aber nicht mit dem Befehl über das ganze kaiserliche Heer, sondern nur über den damals „nach dem heiligen römischen Reich abgeordneten Sukkurs" betraut, während ihm die in den kaiserlichen Erblanden anwesenden Truppen nicht unterstanden. Seine Ernennung zum ObristFeldhauptmann im Juli 1626 (das Datum steht nicht genau fest) hatte nach Hallwich die sachliche Bedeutung, daß er nunmehr Generalissimus der gesamten kaiserlichen Armee im deutschen Reich, in den Erblanden und in Ungarn wurde (Gesch. I, S. 493). Daß ihm das Heer der Liga nicht unterstand, war keine Frage. Er soll sich mit Tilly beraten, sich mit dem Kriegsvolk der Kurfürsten und Fürsten verbinden, wenn es sich begeben sollte, aber „Unabbrüchlich Unserer Kaiserlichen Praeminenz und Respekts auch Nutzens und Frommens", wie es in der kaiserlichen Instruktion vom 27. Juni 1625 hieß 62 . Die kaiserliche Bestallung vom 21. April 162863 d o c h nennt er i h n nicht D i k t a t o r . I n seiner Schrift D e Ratione Status, cap. 10, p. 146 spricht er v o n Wallenstein als dem supremus Exercitus D u x c u m summa potestate, faßt i h n aber als W e r k z e u g der kaiserlichen M a c h t auf. D e r K u r f ü r s t v o n M a i n z spricht v o n dem Joch des Friedländischen D o m i n a t s . A l l e diese W e n d u n g e n bezeichnen offenbar keinen bestimmten staatsrechtlichen Begriff. 58 Z u m erstenmal (aus dem D u x e r A r c h i v ) veröffentlicht d u r c h H a l l w i c h , Zeitschr. f. allgem. Gesch. I (1884), S. 119, 120; vgl. ferner H u r t e r , Gesch., S. 153; G i n d e l y , Waldstein I , S. 47 ff. u n d H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 6, S. 12. 59

Zeitschr. f. allgem. Gesch. I , S. 120. H e r z o g M a x i m i l i a n hieß C a p o della lega (vgl. oben S. 65); Beispiele bei H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 139, S. 135 (der Capo des Feldproviantwesens) oder I, S. 510. 60

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H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 6, S. 12. Z u m erstenmal veröffentlicht d u r c h H a l l w i c h , Zeitschr. f. allgem. Gesch. I, 1884, S. 122, dazu die Verbesserungen H a l l w i c h , Gesch. I , S. 212 u n d I I I , N r . 6, S. 12. N a c h O n n o K l o p p , Dreißigjähriger K r i e g I I , S. 472 sind die i m Text zitierten W o r t e „ u n a b b r ü c h i g " usw. ein „fremdartiger Zusatz"; dagegen w o h l richtig H a l l w i c h , Gesch. I, S. 213, A n m . 425; ferner G i n d e l y , Waldstein I I , S. 387. 62

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

gibt ein klares Bild der Stellung Wallensteins und ihres kommissarischen Charakters. Wallenstein wird darin zum „General-Obersten-Feldhauptmann" über alle Truppen ernannt, die sich in der kaiserlichen Armee und Besoldung befinden, und zwar mit aller „auf solchen hohen General-Bevelch gehöriger authoritet, praeminenz und praerogativen". Er erhält Vollmacht, das Heer zu mustern, zu revidieren, die Bezahlung mit eigener Unterschrift anzuschaffen, wie es Notdurft und occasion erfordern werden, freie Obersten- und Hauptmannstellen für sich selbst zu ersetzen oder nach Gelegenheit neu zu bestellen und aufzuheben, nur zu dem „General-Beuelchen" braucht er kaiserliche gnädigste Resolution, muß sie also vorher dem Kaiser unterbreiten. Er erhält außerdem allgemein die Befugnis, das Heer zu administrieren und zu kommandieren, sowohl in Zivil- wie in Kriminalsachen, entweder in eigener Person oder durch „geuolmechtigte", in allen Zuständen und Gelegenheiten, die dazu gehören und „diesem werckh anhengig" sind, aber „denen Rechten gemäß". Er wird Generalobrister für das Proviant- und Munitionswesen, das er, so wie es notwendig sein wird, prokurieren soll, und zwar (hier zeigt sich wieder die alte kommissarische Vollmachtsformel) „alß wie Wier selbst thuen wurden, da Wier zur stöhl wären vnd selbst in der Persohn aliens herbey brechten, procurierten vnd bestelleten". Daher werden alle Amter, Obersten, Hauptleute, Offiziere, ferner alle Commissarii, Fähnriche, Wachtmeister, Proviant- und Zahlmeister zum Gehorsam und Respekt gegen den „würrcklichen General-Obristen" aufgefordert und sollen allen seinen schriftlichen und mündlichen, allgemeinen und absonderlichen Befehlen nachkommen, gleichsam (hier wieder die kommissarische Formel) „Wier in aigener Persohn solches ordinieren vnd beuelchen thäten". Für alle aufgeführten Angelegenheiten erhält Wallenstein vollkommene Gewalt, Autorität und Vollmacht; Zuwiderhandlungen werden mit den kaiserlichen, „unableßlichen" Leibes- und Lebensstrafen bedroht. Die Befugnisse Wallensteins waren also rein militärischer Art. Er erhielt das Kommando über die kaiserliche „Armada". Daß er auch als kommandierender General in den militärischen Operationen nicht in dem Sinne „absolute Autorität" hatte, daß der Kaiser aufgehört hätte, oberster Kriegsherr zu sein, steht außer Zweifel. Das wurde von dem Kaiser gegenüber den Beschwerden der Reichsstände auch immer betont. Wallenstein richtete überdies beständig Anfragen an den Kaiser, der unmittelbare Befehle erteilte und ohne dessen „particular-Ordinanz" nach der Instruktion von 1625 Wallenstein in einen andern Kreis als denjenigen, in dem sich der Mansfelder befand, nicht eindringen durfte 64 . Daß dem Militärbe63

A b g e d r u c k t bei H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 365, S. 329.

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fehlshaber üblicherweise zustehende Recht, Schutz und Geleitbriefe zu erteilen, Pardon und Gnade zu geben und Gefangene gegen Lösegeld freizulassen, hatte auch Wallenstein, doch durfte er vornehme Gefangene, Befehlshaber, Fürsten und Standesherren sowie Ingenieure und kriegserfahrene Leute nur auf speziellen kaiserlichen Befehl (commission) freigeben. Kontributionen zur Erhaltung des Heeres sollten nur nach Maß und Ordnung der Gegenden, in denen es sich gerade befand, erhoben werden, wobei alles fleißig aufgezeichnet und von der Besoldung der Soldaten abgezogen werden sollte. Die Muster-, Zahl- und Quartier-Kommissare waren kaiserliche Kommissare und unterstanden dem Hofkriegsrat. Nach der Instruktion vom 27. Juni 1625 wurde der Kriegsrat Aldringen, bestellter Obrist und Obristen-Muster-Zahl- und QuartierungsKommissarius, Wallenstein als Rat beigegeben für die Kontrolle der Vollzähligkeit der Regimenter, für das Magazin- und Proviantwesen. In dieser Hinsicht war Wallenstein tatsächlich sehr selbständig 65 . Für die Assekurierung des Musterungsplatzes soll ein eigener kaiserlicher Kommissar deputiert werden (der Name ist nicht genannt), dabei wird betont, daß die Stände geschont werden müssen, damit sie nicht durch den Mutwillen der Soldateska Anlaß zu Beschwerden haben. Neben dem Heeresverwaltungskommissar (Aldringen) und diesem Musterungskommissar ist aber noch ein dritter, und zwar ein politischer Kommissar vorgesehen, nämlich der Reichshofrat Johann Freiherr von Reckh, damit es Wallenstein nicht an gutem Rat zu politischen consiliis mangele, die nach des 64

H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 20, S. 20: Schreiben des Kaisers an Wallenstein v o m 24. Dez. 1625, i n dem Wallenstein ermahnt w i r d , m i t T i l l y gute Korrespondenz zu halten; es w i r d auf die I n s t r u k t i o n hingewiesen, der Kaiser hält es aber jetzt nicht für nötig, seine I n t e r p o s i t i o n weiters anzuwenden; weitere Beispiele bei Ritter, Deutsche Geschichte I I I , S. 298 / 99, 352, 361, 419. D i e O r d i n a n z an den H e r z o g R u d o l f M a x i m i l i a n v o n Sachsen-Lauenburg, die M u s t e r u n g des neugeworbenen Volkes bis auf weiteres einzustellen, ging f o r m e l l nicht v o n Wallenstein aus, sondern v o m H o f kriegsrat, vgl. H a l l w i c h , Gesch. I , S. 518, 566. W e n n i n den Berichten v o n Caraffa (bei G i n d e l y , Waldstein I, S. 120-122) behauptet w i r d , Wallenstein tue alles nach seinem K o p f , so hat das n u r tatsächliche Bedeutung u n d w i r d geschrieben, u m den Kaiser zu veranlassen, Wallenstein des K o m mandos zu entheben. I m allgemeinen ist zu bemerken, daß man moderne Vorstellungen v o n militärischer D i s z i p l i n nicht auf das H e e r Wallensteins anwenden darf. Es k a m vor, daß Offiziere erklärten, n u r v o n dem Oberst ihres Regiments, nicht aber u n m i t t e l b a r v o m General Befehle anzunehmen, z. B. O p e l S. 45. 65 Beispiel: die A n w e i s u n g Wallensteins an den Generalkommissar bei seinem Heere v o m September 1626 ( H a l l w i c h , Gesch. I, S. 619), w i e die Winterquartiere z u beziehen seien. Später waren diese Angelegenheiten d u r c h die Bestallung v o m 21. A p r i l 1628 geregelt.

6 C. Schmitt, Die Diktatur

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

H . Reichs Satzungen ins Werk gerichtet werden müssen; Rat und Gutachten dieses Regierungskommissars beim Heer soll er in allen politischen Reichssachen gebrauchen. Ein besonderer, dem kaiserlichen Kriegsrat entnommener Deputierter des Kaisers, der nicht Kommissar genannt wird, aber in der Sache kommissarisch tätig ist, soll den geheimen Nachrichtendienst organisieren. Endlich ist noch von einer fünften Art Kommissare die Rede, nämlich von denjenigen, die Wallenstein selbst schickt, um durch „sanfte politische Mitteln und trattamenta die gemüeter zu gewinnen", um mit den Einwohnern zu verhandeln, ihnen die Ungelegenheiten erträglich zu machen und die Soldateska durch eine ordentliche Bezahlung von Plünderungen und Exzessen abzuhalten, damit die „armen Untertanen" nicht unnötig bedrückt werden 66 . Demnach ist Wallenstein weder für die Heeresverwaltung noch für politische Angelegenheiten unabhängig. Allmählich, als sein tatsächlicher Einfluß wuchs, bekam seine Ansicht natürlich auch in politischen Fragen Geltung. Aber noch am 29. Oktober 1625 schreibt er, der Kaiser solle ihm befehlen, wie weit er gehen dürfe, wenn es zu Verhandlungen komme „wegen des Anstands und anderer Militärsachen"; „denn der politischen maße ich mich nicht an" 67 . Für Friedensverhandlungen wird Wallenstein gelegentlich mit besonderer Vollmacht zum kaiserlichen Kommissar ernannt 68 . In der Übertragung der militärischen Direktion liegt ein kommissarischer Auftrag. Die Instruktion sagt am Schluß, man könne nicht alles in den Schranken einer Instruktion sagen und müsse das übrige der Treue, Wachsamkeit und Kriegserfahrung des Kriegsobersten kommittieren, zumal manche occasiones verlorengingen, wenn er jedesmal Rats erholen müsse. Der Militärbefehlshaber soll sein Kommando dirigieren zur Wiederherstellung des Friedens, zur Verteidigung der Rechte des Kaisers und der Konstitution des Reichs, des Religions- und Landfriedens und der gehorsamen Stände und Leute mit allen „von Gott und aller Völkerrecht erlaubten Mittel". M i t einer für den kommissarischen Auftrag typischen Wendung wird es der Diskretion Wallensteins überlassen, „in loco 66 Diese Kommissare, die Wallenstein als Militärbefehlshaber schickt, sind v o n den Kommissaren z u unterscheiden, die er als Landesherr zur Entgegennahme der H u l d i g u n g der Stände geschickt hat, darunter besonders den Obersten St. Julien. D i e v o n Wallenstein z u r „ T r a k t i e r u n g " m i t den Ständen entsandten Kommissare erhalten d u r c h Wallenstein eine kaiserliche V o l l m a c h t . Beispiel: Förster I, S. 102; für Wallensteins Kommissare i n M e c k l e n b u r g eod. S. 327, Krabbe S. 99. 67

H a l l w i c h , Gesch. I, S. 283. Z . B. kaiserlicher V o l l m a c h t b r i e f für Wallenstein u n d T i l l y für Friedensverhandlungen v o m 19. Dez. 1628 bei H a l l w i c h , Gesch. I I I , N r . 456, S. 426. 68

Exkurs über Wallenstein als Diktator

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und nach Gelegenheit der Circumstanzien Variation und Veränderung alles zu dirigieren und in Acht zu nehmen, was des Kaisers und seiner Lande Notdurft erforderte". Die Frage ist nur, wie weit im Interesse dieses Zweckes nach Lage der Sache in den bestehenden Rechtszustand eingegriffen werden durfte, wieweit dem Auftrag eine Vollmacht entsprach. Trotz seiner großen tatsächlichen Macht war Wallenstein bei seinem ersten Generalat nur kommandierender General. Weil die militärische Operation im Ernstfall immer zu sehr von dem militärischen Zweck beherrscht wird, als daß sie andere Rücksichten als sachtechnische nehmen könnte, ergibt sich auch hier häufig eine Sachlage, bei der Wallenstein als Diktator erscheinen könnte, d. h. als Aktionskommissar mit absoluten, d. h. nur durch den Zweck bestimmten Vollmachten. Er war aber seiner rechtlichen Stellung nach nicht Diktator in dem Sinne, daß der Kaiser ihm besondere seinem Ermessen überlassene und nur durch das Interesse an der Durchführung der Aktion bestimmte, entgegenstehende Rechte aufhebende Befugnisse gegeben hätte. Die Heeresleitung als solche, der ductus exercitus, gilt nicht als Hoheitsäußerung, abgesehen von der, vom Heere aus betrachtet internen Angelegenheit der Militärgerichtsbarkeit. Den Oberbefehl hatte überdies der Kaiser selbst, der zu „Interpositionen" befugt war. In die Rechte Dritter einzugreifen, war Wallenstein ausdrücklich verwehrt. Er wurde gehalten, die hergekommenen Satzungen und Gebräuche zu achten und Kontributionen nur nach bestehendem Recht zu erheben. Die beiden Räte, die der Kaiser mit Instruktionen vom 24. August 1630 an Wallenstein schickte, sollen ihm bedeuten, daß die militia durch ordentliche Hilfe der Kreise erhalten werden muß und der Kaiser eine durch die Reichssatzung eng limitierte Gewalt hat 69 . Alles was über das rechtlich hergebrachte Maß gefordert und erzwungen wurde, erschien als Übergriff, als nur tatsächliche Gewalt, als via facti geschehen. So ungewöhnlich das Verhältnis zwischen Kaiser und Truppenführer war, so sehr blieb nach außen hin, d. h. Dritten, insbesondere den Ständen gegenüber, der Truppenführer nur zu dem befugt, was „denen Rechten gemäß war". Durch die Achterklärung des Kaisers gegen Feinde und Rebellen war die Möglichkeit umfangreicher Konfiskationen gegeben. Aber auch darin lag keine Änderung des bestehenden Rechtszustandes. Freilich hätte der Kaiser unter Berufung auf die Notlage des Krieges versuchen können, hier noch einmal seine Machtvollkommenheit zu erproben und diese aus einem simulacrum zu einer wirklichen plenitudo potestatis zu machen, indem er Wallenstein ohne Rücksicht auf entgegenstehende Rechte zur Durchführung der nach Lage der Sache 69

6*

Hallwich,

Fontes

I, N r . 44, S. 75.

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

erforderlichen Maßnahmen ermächtigte. Dann wäre Wallenstein wirklich Aktionskommissar und (kommissarischer) Diktator gewesen. Das gerade hat der Kaiser nicht getan. Die Beschwerden der Stände gegen die Ubergriffe Wallensteins hat er als rechtlich begründet anerkannt. Allerdings verschafften die militärischen Erfolge Wallensteins dem Kaiser eine solche Macht, daß es einen Augenblick scheinen konnte, als bestände die Möglichkeit, das Deutsche Reich zu einem nationalen Einheitsstaat unter einem absoluten Fürsten zu machen. Die wichtigste praktische Voraussetzung dafür wäre gewesen, daß die beiden Heere, das kaiserliche und das der Liga, unter den einheitlichen Oberbefehl des Kaisers gestellt wurden. Das bezweckte auch die kaiserliche Proposition wegen Konjunktur der beiden Armaden vom 5. September 1630. Sie gab als wichtigsten Grund neben vielen anderen an, daß mit einer solchen Vereinigung den protestantischen Ständen der Vorwand genommen wäre, ein eigenes Heer zu halten, weil das ja auch die katholische Liga tue 70 . Aber die katholischen Fürsten waren weit davon entfernt, aus der kaiserlichen Machtfülle über Krieg und Frieden eine wirkliche Souveränität werden zu lassen. Gegen Wallenstein hatten sie den wichtigen Einwand erhoben, daß sie sich nicht einem Kriegskommandanten unterwerfen könnten, „so ihres Standes halber mit ihnen nicht zu vergleichen" und der dabei immer den kaiserlichen Namen im Munde führe, die Stände für nichts achte und immer die militärische Exekution „bei der Hand hatte" 71 . Der Kaiser hatte darauf erwidert, „ihre kaiserliche Majestät seyen Ihrer Armada Capo selbst". Die Erklärung des kurfürstlichen Kollegiums vom 4. September 1630 legt aber ausführlich dar, daß der Kurfürst von Bayern das Generalat über die Armee des Kaisers erhalten müsse und die bestehenden rechtswidrigen Zustände zu beseitigen seien. Sie verlangt für diese „Reichs-Feldhauptmannschafft", daß der Kaiser zwar die auspicia und das supremum armorum arbitrium behalte, aber nur nach Maßgabe der Kapitulationen, der Reichskonstitutionen und des löblichen Herkommens. Zu der vom Kaiser begehrten Vereinigung der beiden Heere wird bemerkt, daß die Liga den Reichssatzungen nicht widerspreche und ohne ihre Unterstützung der Kaiser alles bisher Gewonnene wieder verlieren würde; die Armee solle wohl vereinigt werden, aber unter dem Kommando des Kurfürsten von Bayern, wodurch die Kaiserliche Majestät und Hoheit keineswegs derogiert, vielmehr stabiliert wäre 72 . Daß der Streit 70

H a l l w i c h , Fontes I , N r . 53, S. 94. L o n d o r p , A c t . publica I V , S. 52 (Eingabe v o m 16. Juli 1630). 72 H a l l w i c h , Fontes I, N r . 50, S. 90, die A n t w o r t der katholischen K u r fürsten u n d Fürsten v o m 14. Sept. 1630 eod. N r . 60, S. 111. 71

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trotz der Argumentation der kaiserlichen Räte über die kaiserliche Machtvollkommenheit mit dem „vollkommenen Sieg des kurfürstlichen Interesses über das kaiserliche" endete73, ist bekannt. Nach der Entlassung Wallensteins wird der kaiserliche Befehlshaber angewiesen, Befehle nur mehr unmittelbar vom Kaiser anzunehmen; ein Teil der Armee wird entlassen, ein anderer unter den Oberbefehl Tillys gestellt. — Für das zweite Generalat Wallensteins (Dezember 1631-Februar 1634) fehlt es an einem authentischen Dokument über die Abmachungen zwischen dem Kaiser und Wallenstein. Die übliche Redewendung, in der man damals von den Befugnissen Wallensteins sprach, war, er habe eine commissio in absolutissima forma und die summa belli erhalten. Die Übertragung des Kommandos wurde durch kaiserlichen Erlaß vom 15. Dezember 1631 angezeigt, der offizielle Titel lautet, wie bei der Bestallung von 1628, „GeneralOberst-Feldhauptmann" 74 . Über den eigentlichen Inhalt seiner Befugnisse sind übertriebene Vorstellungen verbreitet. Die älteste gedruckte Mitteilung in einer Schrift aus dem Jahre 1632 enthält eine angebliche Kapitulation mit den einzelnen Bedingungen, unter denen Wallenstein sein zweites Generalat übernahm. Das ist wohl keine authentische Mitteilung, aber eine geeignete Grundlage für die Betrachtung der rechtlichen Stellung Wallensteins. Der Wortlaut ist (nach dem Exemplar in der Münchner Staatsbibliothek 75 ) folgender: 73

Ranke, S. 199, 202; G i n d e l y , Waldstein I I , S. 267. D u d i k , S. 177, 443; Ranke, S. 234; G i n d e l y , Wallensteins Vertrag, S. 12; Ritter, H i s t . Ζ . 97, S. 240; W i t t i c h , Z u r Geschichte Wallensteins, H i s t . Ζ . 68 (1892), S. 255. D i e W e n d u n g i n absolutissima forma beweist an sich nicht viel, sie war damals für jede v o n irgendeiner sonst bestehenden A b h ä n g i g k e i t befreite Stellung gebräuchlich. Das W o r t summa belli braucht nicht s u m m u m i m p e r i u m zu bedeuten; w e i l die summitas auch m i t andern Begriffen als i m p e r i u m verbunden w i r d . So haben ζ. B. die fürstlichen Räte ein s u m m u m officium, aber weder i m p e r i u m noch facultas decernendi ( H o r n , Architectonica de civitate 1. I I , cap. V I I , § 3 η. 2). C o m m i s s i o n i n absolutissima forma sagt auch die Relation auß Parnasso 1634 (bei Wapler S. X V I I ) u n d die Eyendliche A b b i l d u n g v n d Beschreib u n g deß Egerischen Pankkets 1634 (Wapler X X I X ) , ferner Schebek, S. 568. 74

75

N r . 4. Eur. 3 6 2 / 3 2 (vgl. A r e t i n , U r k u n d e n , N r . 19). Schebek S. 127, A n m . 1 erwähnt ein Exemplar i n der Universitätsbibliothek Prag, das m i r nicht zugänglich ist. Dagegen w u r d e das Exemplar der H a m b u r g e r Stadtb i b l i o t h e k ( L A I I a 65 Kps. 4) wegen seines z u m T e i l d e u t l i c h e m Wortlauts m i t berücksichtigt. Michael zieht den W o r t l a u t des T h e a t r u m Europaeum v o n 1633, den er a . a . O . S. 393 / 4 abdruckt, vor. Ritter a . a . O . S. 267 lehnt die Schrift aus dem Jahre 1632 als Grundlage einer historischen E r örterung der Befugnisse Wallensteins ab. D o c h dürfte sich aus dem folgen-

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

Contenda derer Conditionen, auff welche der Hertzog zu Friedland etc. das von der Rom. Keys. Maj. durch vnterschiedliche dero M. geheimbte und Hoff Kriegs Räthe insonderheit aber durch den Hertzog zu Crommau vnd Eggenberg etc. ihme solennissimè vnd in vorige qualitat auffgetragenes Generalat reacceptirt vnd wiederumb angenommen. 1. Solle der Hertzog zu Friedland nicht allein der Rom. Keys. M. sondern auch des gantzen Hochl. Hauses Oesterreich vnd der Cron Spanien Gen. seyn vnd bleiben. 2. Soll er des Gen. in absolutissima forma haben. 3. Soll Ihr Kön. M. Ferd. 3. sich nicht Persönlich bey der Armada befinden, vielweniger das Commando darüber haben, sondern wann das Königr. Böhmen reoccupirt vnd wiederumb erobert sol hochgedachte Ihr Königl. Maj. zu Prag residiren, vnd Don Balthasar mit 12 000 Mann im Königr. zu Salvaquardi biß zu einen General friede bleiben. 4. Der Keyser sol den Friedländer vff ein Oesterreichisch Erbland, wegen seiner Ordinär Recompens versichern. 5. Von den eingenommenen Landen das höchste Regal im Reiche, als ein extraordinar Recompens. 6. Die Confiscation im Reiche schlecht, also das weder Keys. Hoffrath vnd Hoffkammer-Gericht zu Speyer einigen Zuspruch darzu haben sollen. 7. Das er Friedl. wie in Confiscation also auch in Perdonsachen frey zu disponiren macht habe, vnd wo auch schon einen oder den andern sicher Geleit vom Keyserl. Hofe ertheilet, solches doch ohne des Friedländers Confirmation nicht gelte, auch nur guten Namen, Leib und Leben, aber nicht die Güter betreffe. Der Real Perdon aber allein bey dem Friedländer gesucht werde, denn der Keyser zu gelinde vnd jedermann am Hofe perdonieren liesse, dadurch, die mittel die Obr. vnd Officirer vnd die Armee zu Contentiren abgeschnitten würden. 8. Wo etwa ein mal in Reich es zu Friedenstractation köme das der Friedl. wegen seines Privats interesse sonderlich wegen des Hertzogthums Mechelburg mit eingeschlossen würde. 9. Sollen ihme alle vnkosten zur Continuation des Krieges hergegeben werden.

den ergeben, daß die ablehnende B e w e r t u n g z u m T e i l auf dem staatsrechtlichen I r r t u m beruht, es handele sich in der Schrift u m einen „Anstellungsvertrag".

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10. Alle Keyserl. Erblande jhme vnd seiner Armee zur retterada offen stehen. ad 1. Die Bestimmung bezieht sich nicht auf den Umfang des militärischen Kommandos (wie Ritter als selbstverständlich annimmt), sondern darauf, wer Vertragsgegner ist. Davon, daß Wallenstein die Truppen des legistischen oder spanischen Heeres kommandiert, ist nicht die Rede. Tatsächlich standen diese Truppen unter selbständigem Kommando, die Spanier von Castaneda und Feria, welche von Ferdinand II. „Commission und Autorität" erhielten, obwohl sie mit Wallenstein ebenso wie mit dem legistischen Heere in „guter Correspondenz" bleiben sollten 76 . ad 2. Die im 17. Jahrhundert beliebte Wendung „in absolutissima forma" braucht zunächst nicht mehr zu bedeuten, als daß Wallenstein nicht vom Hofkriegsrat abhängig war. Maximilian von Bayern hatte aber 1619 bei der Exekution gegen Böhmen plenarium absolutum et liberum directorium auch gegenüber dem Kaiser verlangt.· Das bezieht sich jedenfalls nur auf die militärische Leitung und die Heeresverwaltung, ductus exercitus und belli administratio, gibt aber keine staatsrechtliche Autorität und Superiorität. Es ist aber im weitern Verlauf des Krieges nicht davon die Rede, daß der Kaiser aufhörte, oberster Kriegsherr zu sein. Er hat sogar unmittelbar durch „Interpositionen" 77 in die Operationen Wallensteins einge76 Ranke, S. 235. E i n Armeebefehl Wallensteins v o m 18. Jan. 1632 überträgt A l d r i n g e n das K o m m a n d o über die i m Reich befindlichen kaiserlichen Offiziere u n d Soldaten; A l d r i n g e n w i r d aber nach w i e v o r auf den H e r r n Grafen T y l l i seinen Respekt haben u n d an i h n i n allen das deutsche Reich u n d dessen gehorsame M i t g l i e d e r betreffenden Angelegenheiten seinen Recurs nehmen u n d dessen A n o r d n u n g e n nachkommen, H a l l w i c h , Fontes I I , N r . 563, S. 66; vgl. auch die Verhandlungen m i t dem bayerischen Generalkommissar v o n R u p p , Fontes I I , N r . 861, 8 6 5 / 6, 898, 904; I I I , N r . 1807, v o r allem aber das Schreiben Wallensteins an A l d r i n g e n v o m 8. Februar 1632, H a l l w i c h , Fontes I I , N r . 639, p. 151, hier w i r d für den Fall, daß der Schuldige nicht unter dem K o m m a n d o Aldringens steht, T i l ly u m A d m i n i s t r a t i o n der Justiz nach Kriegsrecht ersucht. Wallenstein selbst unterscheidet (Fontes I I I , N r . 1250, S. 82) zwischen den ordinantzen, die der K u r f ü r s t v o n Bayern Pappenheim gibt, u n d seinen eigenen Ersuchungsschreiben; er erwähnt auch, daß er sich m i t dem Kurfürsten „vergliechen" habe. H a l l w i c h I, N r . 493 u n d 494, S. 411; N r . 397, S. 331; Ranke, S. 472, Michael, S. 406; Ritter, a . a . O . S. 246-257: die Rücksicht, die bei der Frage des Durchzugs der spanischen T r u p p e n auf Wallenstein genommen wurde, ist nur Rücksicht auf seine tatsächliche Machtstellung, sie kann nicht auf die Bestimmungen „eines Anstellungsvertrages" z u r ü c k geführt werden. 77

A m 9. Dez. 1633 überbringt der Geheime Rat Graf T r a u t m a n n s d o r f die „endliche u n d ganz gemessene kaiserliche Resolution" an Wallenstein,

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

griffen, obwohl der Umstand, daß er solche Eingriffe unterlassen hätte, staatsrechtlich an sich ebensowenig von Bedeutung gewesen wäre wie etwa die Zurückhaltung, die der Kurfürst Maximilian Tilly gegenüber beobachtete, wenn es sich um die militärische Operation handelte. Die Ernennung der Generäle nahm der Kaiser vor, wenn auch Wallenstein qualifizierte Subjekte vorschlug; die Obersten ernannte Wallenstein kraft tragenden Generalats allein 78 . Die Kognition in Justizsachen hatte auch während des zweiten Generalats wie üblich über die Reiterei der Feldmarschall, über das Fußvolk jeder Oberst seines Regiments; der Generalkommandierende befiehlt die Justiz zu administrieren, der Feldmarschall oder Oberst formiert den Prozeß und fällt die Sentenz. Im wesentlichen ist in dieser Hinsicht die Stellung Wallensteins keine andere wie nach der Bestallung von 1628, der auch sein Titel entspricht. ad 3. Der Wortlaut ergibt keinerlei Anhaltspunkt für die verbreitete, auch von Pufendorf übernommene Behauptung, der Kaiser selbst habe nicht beim Heere sein dürfen. Es ist nur von König Ferdinand III. von Ungarn, dem Sohn des Kaisers, die Rede 79 . Daß weder der Kaiser noch ein anderer aus seinem Hause das absolute und freie Direktorium der militärischen Operation behindern dürfe, hatte sich auch Maximilian von Bayern 1619 versprechen lassen, vgl. oben S. 64.

sich unverzüglich gegen den H e r z o g v o n W e i m a r zu wenden; H a l l w i c h , Wallensteins Ende, I I , N r . 965, 966, S. 153. D i e W e n d u n g „endlicher W i l l u n d Bevelch" schon i m A u g u s t 1633 i n der I n s t r u k t i o n für Schlick (vgl. Jacob, V o n L ü t z e n bis N ö r d l i n g e n , S. 35, A n m e r k u n g ) . D i e drei Stadien, die Ritter a. a. O . S. 241 i n der A r t u n d E n t w i c k l u n g der kaiserlichen Befehle bis 1633 unterscheidet, betreffen keine rechtliche E n t w i c k l u n g . Daß Wallenstein sich i n Pilsen darüber beklagt, der Kaiser habe i h m befohlen, Regensburg z u belagern (vgl. Majlath, Gesch. des österreichischen Kaiserstaates, I I I , S. 346; Förster, Wallensteins Prozeß, S. 112, u n d den Armeebefehl aus Eger v o m Februar 1632 bei H a l l w i c h , Wallensteins Ende, I I , N r . 187, S. 241), geschah auch nicht so, als ob ein Recht auf die Unterlassung derartiger Befehle bestände. D i e Verteidigung v o n Schaffgotsch (Hirschberg 1829) S. 17 geht allerdings dahin, daß der Kaiser Wallenstein d o c h „so groß Gewalt gegeben" habe, stellt aber i m übrigen den V o r g a n g i n Pilsen ebenso dar. Beispiele für direkte Befehle des Kaisers an die U n terführer Gallas, Ossa usw. bei Ritter S. 240 f. 78

Ziff. 5 des Schreibens an den Prinzen v o n Polen v o m 18. J u n i 1632, H a l l w i c h , Fontes I I , N r . 946, p. 500, 502; vgl. auch D u d i k , S. 182. D i e Besetzung der Kompagnie hatte der Oberst. 79

Daraus ergibt sich auch, daß der oben abgedruckte Text v o n 1632 besser ist als der des T h e a t r u m Europaeum v o n 1633, w o n u r J. K . M . steht; das H a m b u r g e r Exemplar spricht ausdrücklich v o m „Ungarischen K ö n i g Ferdinandus I I I " .

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ad 4 und 5 handelt es sich um Abmachungen über die persönliche Entschädigung und Belohnung Wallensteins und Garantien dafür. Unter dem höchsten Regal im Reiche versteht Ranke, der dabei einen italienischen Text (uno dei maggiori regali) heranzieht, das Salzregal oder das Bergregal; Michael (S. 424) die Kurwürde. Dagegen will Ritter, weil er die nach seiner Meinung einzig mögliche Deutung der Formel als das jus oder regale supremum jure superioritatis (sc. imperialis), d. h. die nutzbaren Rechte der Zölle und Kriegskontribution (darüber Ritter, Göttingische gelehrt. Anz. 1905 S. 206) für etwas Ungeheuerliches hält, hier wiederum einen Beweis für die völlige Unbrauchbarkeit des Textes sehen. Daß tatsächlich damals darüber verhandelt wurde, Wallenstein mit der Kurwürde zu belehnen, ergibt sich aus den von Michael zitierten Gesandtschaftsberichten aus dem Jahre 1632. Die Kurwürde kann aber auch nach dem Sprachgebrauch des damaligen Staatsrechts allein als höchstes Regal bezeichnet werden. Die Heranziehung der Unterscheidung von hohen und niederen Regalien verwirrt auch bei Michael die an sich sehr klare Rechtslage. Innerhalb der hohen und der niederen Regalien gibt es allerdings kein höchstes Regal, und hiervon ausgehend war es Ritter leicht, die Deutung Michaels zu widerlegen. In Wahrheit handelt es sich um die lehnsrechtliche Dignitas regalis. Für diese gibt es wirkliche Abstufungen, einen ordo, und infolgedessen auch ein höchstes Regal. Bei denjenigen Lehen, die als feuda regalia gelten und nur vom Kaiser verliehen werden können, besteht die Reihenfolge: Regnum, Electoratus, Ducatus, Comitatus, Baronatus. Feuda regalia sind Lehen, die bei der Übertragung vom Kaiser die dignitas regalis erhalten haben. Die höchste dignitas regalis war allerdings das regnum; das kommt hier aber nicht in Betracht, weil nur vom höchsten Regal im Reiche die Rede ist, so daß der Wortlaut einen vortrefflichen Sinn ergibt, zumal die Belohnung, die extraordinarii Recompens, die im Gegensatz zur ordentlichen Recompens kein Geldbetrag, sondern eine dignitas ist, von dieser und von dem Ersatz der Auslagen, den Spesen, ebenso deutlich unterschieden ist wie in den Vereinbarungen Maximilians von Bayern vom Jahre 1619. Der Ausdruck entspricht so sehr dem korrekten Sprachgebrauch des damaligen Staatsrechts, daß darin ein Beweisgrund für die Brauchbarkeit der Schrift liegen dürfte 80 . 80 F ü r den Begriff der dignitas regalis: Arumaeus, Disc. acad. de jure p u b l i c o , vol. I I I , disc. X I V ( K o c h ) , Jena 1621, de regali dignitate et feudis regalemdignitatem annexam habentibus; ferner disc. X V ( K o n r a d u n d Ben e d i k t C a r p z o w ) die regalibus, d o r t auch Kap. I I über das Recht des K a i sers, eine K u r f ü r s t e n w ü r d e zu schaffen; R e i n k i n g k , D e regimine, sec. 1. I. cl. I V , cap. X V I , η. 5 - 8 . D o r t weitere Nachweise für die Literatur des 17. Jahrhunderts. Arnisaeus (de rep. 1. I I . c. I I , 7 n. 33) erwähnt die U n t e r -

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

Punkt 6 betrifft die Sicherung des Heeresbedarfs. Nach dem Theatrum Europaeum heißt es statt „schlecht" wieder „in absolutissima forma", ferner „dergestalt, daß weder der kajserliche Hoffrath und Hofkammer noch auch das Cammergericht zu Speyer einige Interesse darbey prätendiren, oder darinnen, es were gleich generaliter oder particulariter einige Decision zu geben oder sonst Eintrag zu thun macht haben sollte". (In der Sache ebenso das Hamburger Exemplar). Das Recht, wegen strafbarer Handlungen Confiscation durch Urteil auszusprechen und einzuziehen, hatte Wallenstein, nach einer Vollmacht des Kaisers vom 15. April 1632, nicht nur im Reich, sondern auch in den Erblanden 81 . Punkt 7 betrifft ebenfalls die Sicherung des Heeresbedarfs. Die Erteilung von freiem Geleit sowie Schutzbriefen für Personen und Länder wird als rein finanzielle Angelegenheit behandelt. Punkt 8 betrifft Vereinbarungen zugunsten Wallensteins und zur Sicherung des Heeresbedarfs. ad 9. Ritter weist darauf hin, daß der Kaiser nur bestimmte Zuschüsse leistete, nicht aber alle Unkosten (Spesen, wie das Theatrum Europaeum sagt) übernommen hat (a. a. O. S. 258 / 59). Doch wird die Vereinbarung besagen, daß Wallenstein seine Unkosten und Spesen nach Friedensschluß ersetzt erhält. Auch hier liegt eine Analogie mit den Vereinbarungen Maximilians von Bayern von 1619 vor. ad 10. Daß die Armee den Rückzug in die kaiserlichen Erbländer hat, versteht sich allerdings, wie Ritter ausführt, im Notfall von selbst und ist dann freilich „nichtssagend" (S. 267). Aber hier ist Scheidung v o n f. regalia u n d f. alteri subjecta bei der Frage der Teilbarkeit (die f. reealia sind unteilbar). I m 18. Jahrhundert ist die Vorstellung v o r dem modernen Begriff der Landeshoheit verschwunden. D o c h blieb natürlich die K u r w ü r d e als Lehen anerkannt, vgl. J. J. Moser, Teutsche Lehensverf. (1774), S. 163. — W e n n Ritter a. a. O . S. 262 A n m . 2 meint, es heiße, Wallenstein solle v o n den, d. h. allen o k k u p i e r t e n Ländern das höchste Regal erhalten, so ist das auch dem W o r t l a u t nach keine zwingende D e u tung. V o n den o k k u p i e r t e n Ländern heißt aus den o k k u p i e r t e n Ländern, unter B e n u t z u n g der Länder, die i m Kriege erobert sind. Vgl. oben S. 65 zu A n m . 41. 81

Subdelegationen v o m 24. N o v e m b e r 1633 bei H a l l w i c h I I , N r . 329, S. 120: „Wallenstein erklärt, da der Kaiser i h m alle i n Strafe verfallenen G ü t e r zu Kriegsnotturften übergeben habe, habe er auch die M a c h t , solche verfallenheiten bei der Landtafel des Königreichs B ö h m e n oder anderswo anzunehmen oder hierzu Bevollmächtigte zu verordnen. D i e Kommissare sollen „an Statt U n n s e r " alles dasjenige tun, w o r a u f sich die Relation bezieht, „ o h n e Unterschied zu richten u n d zu handeln, nicht anders als w e n n w i r es selbsten thäten."

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eben nicht vom Notfall die Rede, vielmehr betrifft der Satz das Recht, sich an den Erblanden zu „erholen" (vgl. Akten I I 2 S. 328), auch wenn kein Notfall vorlag. Daß nicht vom Notfall die Rede ist, ist gerade das wichtigste an dem Satz. — Diese zehn Punkte beweisen nichts für eine Diktatur. Das wesentliche Interesse ist vermögensrechtlich. Der „Anstellungsvertrag" war staatsrechtlich überhaupt kein Problem. Eher könnte man von einem Condottierevertrag sprechen. Was das staatsrechtliche Verhältnis Wallensteins zum Kaiser angeht, so war der Kaiser nach wie vor Oberbefehlshaber und hatte Wallenstein nur die militärische Operation und die Heeresverwaltung übertragen, ihm allerdings eine große tatsächliche Bewegungsfreiheit gelassen. Die Art. 4, 5, 8 und 9 enthalten Angaben über die Belohnung Wallensteins und den Ersatz seiner Unkosten. Von politischen Befugnissen ist in der Capitulation nicht die Rede, der Art. 8 beweist im Gegenteil, daß die Friedensverhandlungen nicht von Wallenstein abhängen. Wenn es trotzdem sonst gelegentlich heißt, Wallenstein habe plenipotentia oder arbitrium belli et pacis gehabt 82 , so widerspricht dem die Tatsache, daß alle Verhandlungen Wallensteins nur mit besonderer Vollmacht oder unter dem Vorbehalt kaiserlicher Ratifikation vorgenommen wurden 83 . Der Kurfürst von Sachsen hat in seiner Resolution vom 3. Febr. 1634 auf die Frage Arnims, mit wem man verhandeln solle, geantwortet „mit des Herzogs zu Fridlandt Fürstl. G. als Keyserlichem hochansehenlichem Plenipotentiario und Gevollmächtigten . . . Sintemal derselbe nicht suo nomine, sondern im Nahmen und uff Befehl der Rom. Key. Mait. den Kriegk führet, die Armee auch Irer Key. Mait. zustehet, derer sich dann Ire Fürstl. G. selbst und die Officirer sampt der Soldatesca verwandt gemacht, und werden Ire Key Mait. das Arbitrium Belli et Pacis nicht absolute von sich gestellet, sondern Ihr, alß das höchste Jus Majestatis reserviret und vorbehalten haben." Daß alle militärischen Vollmachten nicht ausreichen, um eine Grundlage für die Friedensverhandlungen zu bilden, wird dabei noch besonders unterschieden 84. 82 Schebek, L ö s u n g der Wallensteinfrage, S. 568, Michael, S. 412, Ritter, S. 283; vgl. oben S. 85, A n m . 74. 83 F ü r die Verhandlungen m i t Kursachsen erhielt er eine besondere V o l l m a c h t (Förster I I , N r . 327, 329, D u d i k , S. 470, H e i b i g , S. 11; vgl. ferner W i t t i c h , H i s t . Ζ . 68, S. 255, 385). A b e r auch v o n P h i l i p p v o n Spanien erhielt Wallenstein V o l l m a c h t e n m i t dem Versprechen der Ratifizierung, Ritter, S. 252. 84 Ranke, Analekten, S. 513; aus derselben Resolution ( N r . 5) ergibt sich, daß alle Verhandlungen Wallensteins v o n der kaiserlichen R a t i f i k a t i o n abhängig waren, die „ i l l i m i t i r t e Gewalt circa belli administrationem" ist kein Fundament für Friedenstraktate.

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

Die außergewöhnliche Stellung, die Wallenstein bei seinem zweiten Generalat einnahm, betraf eine außergewöhnliche Selbständigkeit des militärischen Oberbefehls und außergewöhnliche Belohnungen. Diktatur wäre sie nur dann gewesen, wenn sie in ihrer Wirkung auf die objektive Rechtslage einen Ausnahmezustand bedeutet hätte. Eine derartige Wirkung trat nun allerdings in der Praxis der Erhebung von Kontributionen und der Konfiskationen hervor, die im Interesse der Kriegführung über das ordentliche Maß ausgedehnt wurden. Jede militärische Aktion muß im Ernstfall die grenzenlose Ausdehnbarkeit des Zweckgesichtspunktes offenbaren. Im Interesse der Kriegführung ist nicht nur das erforderlich, was sich unmittelbar auf die strategische und taktische Leitung der Operationen bezieht, sondern auch alles, was Ausrüstung und Unterhalt des Heeres, Transportmittel und Nachrichtendienst, Disziplin und Stimmung des eigenen wie des gegnerischen Heeres angeht, so daß bei einer Ausdehnung des Umfanges der Operationen und einer Änderung der Technik schließlich der ganze Staat in den Dienst des militärischen Zweckes gestellt, d. h. ein sachtechnisches Mittel zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolges werden kann. Die Entwicklung des preußischen Heereskommissariats ist als geschichtliches Beispiel für die Ausdehnungsfähigkeit der Zweckerwägung bereits genannt worden. Eine solche rein sachtechnische Auffassung hätte freilich der Denkweise Wallensteins ganz entsprochen. Dem ungewöhnlichen Organisator, der nicht nur unter den schwierigsten Verhältnissen ein großes Heer geschaffen hatte, sondern gleichzeitig seine eigenen Länder so verwaltete, daß sie ein in seiner historischen Ursprünglichkeit großartiges Beispiel merkantilistischer und nur von rationalen Zweckgedanken geleiteter Staatsverwaltung waren, schien die Rücksicht auf die bestehenden Satzungen des heiligen römischen Reiches und die hergebrachten Privilegien der Stände immer unbegreiflich. „Die aus dem Reich, so zu mir kommen, sagen mir viel von den Reichsabschieden undt goldne Bull usw. Ich weiß nicht, wo ich drin steck, wenn sie darmit aufziehen", äußert er sich in einem eigenhändigen Postscriptum zu einem Brief an Trautmannsdorf 85 . N u n hätte eine nur durch militärische Rücksichten bestimmte Erhebung der Kontributionen und noch mehr eine rücksichtslose Praxis der Konfiskationen leicht das Mittel für die Beseitigung des im Wege stehenden Rechtszustandes werden können. Die Befugnis, Konfiskationen auszusprechen, richtete sich allerdings nur gegen Feinde und Rebellen, aber es ist die Praxis aller Revolutionen gewesen, den politischen Gegner zum Feind des Vaterlandes zu erklären und ihn dadurch für seine Person und sein Eigentum mehr oder weniger vollständig des 8

5 Hallwich, Gesch. III, Nr. 12, S. 16.

Exkurs über Wallenstein als Diktator

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Rechtsschutzes zu berauben. Jedoch lag es dem Kaiser fern, ein solches Mittel im revolutionären Sinne zu benutzen. Der kaiserliche Auftraggeber hielt sich selbst nicht zu einem nur von sachtechnischen Rücksichten geleiteten Handeln befugt. Die Kriegslage auszunützen, um seine politische Macht zu erweitern, indem er die jura extraordinaria der Machtvollkommenheit durchzusetzen suchte, hat er nicht gewagt, vielleicht aus Furcht vor dem übergroßen Einfluß Wallensteins. Es gehörte ja zu den Grundsätzen der monarchistischen Arcana, einen Beamten oder General nicht allzu mächtig werden zu lassen. In dem „Princeps in compendio" von 1632, der Ferdinand II. zugeschrieben wird und wohl sicher aus seiner Umgebung stammt, sind die Grundsätze einer monarchischen Regierung in der Form von Ermahnungen an den Fürsten (angeblich eine Art Testament an Ferdinand III.) aufgestellt. Dort heißt es in deutlicher Anspielung auf Wallenstein, daß der Fürst keinem General libera et absoluta potestas geben dürfe, ut sine suo scitu is alia quaeque et quae summi et absoluti imperii sunt agere et pro libitu suo omnes vexare spoliare et opprimere audeat et possit, sed ipse Princeps maneat generalis 86. Andererseits hatten die kaiserlichen Räte im Jahre 1630 für die Ablehnung des kurfürstlichen Antrags, das Heer unter den Oberbefehl Maximilians zu stellen, auch gegen die Kurfürsten das axioma politicum herangezogen, man dürfe niemand so mächtig werden lassen, daß man von seiner Diskretion abhänge. Der Kaiser war also nach beiden Seiten in einer schwierigen Lage. Die Rücksicht auf die bestehenden Rechtszustände hat den Ausschlag gegeben. Darin liegt der eigentliche Kernpunkt der Diskussion über die Diktatur Wallensteins. Sie betrifft in Wahrheit die kaiserliche Machtvollkommenheit in dem Sinne, ob es in Deutschland eine Instanz gab, die unter Berufung auf einen Notstand im Wege stehende wohlerworbene Rechte beseitigen konnte. Die Frage, welche Stellung Wallenstein im Verhältnis zum Kaiser einnahm, ist für die Frage der Diktatur Wallensteins dadurch bedeutungslos geworden, daß der Kaiser sich nicht entschlossen hat, für sich selber auf Grund einer kaiserlichen Machtvollkommenheit Ausnahmerechte durchzusetzen. Die Kapitulation Ferdinands III. vom 24. Dezember 1636 ist der staatsrechtliche Ausdruck dafür, daß dem Kaiser die letzte Möglichkeit, mit Hilfe des Ausnahmezustandes eine starke Zentralgewalt zu schaffen, genommen worden war. In der „äußersten Notdurft" braucht der Kaiser zwar die Stände nicht zu befragen, wohl aber muß er sechs Kurfürsten hören, um die notwendigsten Abgaben zu erhalten. Er 86

A b g e d r u c k t nach dem Exemplar v o n 1668 (Wiener H o f b i b l i o t h e k ) i n dem Aufsatz v o n O s w a l d Redlich, Monatsblatt des Vereins für Landesk u n d e v o n Niederösterreich, 5. Jahrgang ( W i e n 1906), Sonderausgabe S. 9 ff.

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II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare

kann also nicht unter Berufung auf den Notfall für sich allein provisorisch Abgaben erheben. Auch bei Notorietät eines Friedensbruches und beharrlicher Widersetzlichkeit darf er keinen Stand ohne Verwilligung der Kurfürsten in die Acht erklären, auch bei Notorietät ist also künftig ein besonderer Prozeß erforderlich, und der frühere Standpunkt des Kaisers, die Acht könne ipso facto eintreten, nicht mehr zulässig. Der Staatsrechtslehrer Limnaeus 87 bemerkt dazu, daß die äußerste N o t ein beliebter Vorwand sei, aber dem Kaiser ist er genommen. Auch in extremo necessitatis casu darf er nicht nach seinem eigenen Willen entscheiden, sondern muß wenigstens die Kurfürsten hören; dadurch soll es ihm unmöglich gemacht werden, unter Berufung auf eine Notlage den status mixtus des römischen Reiches in eine reine Monarchie zu verwandeln.

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Limnaeus hatte bereits Juris p u b l i c i i m p e r i i R o m . G e r m . t. V , gegen R e i n k i n g k polemisierend, d e m Kaiser die p l e n i t u d o potestatis abgesprochen (t. I , 1. I I , c. 10, ferner 1. I I , c. 8 über die p l e n i t u d o potestatis). D i e i m T e x t erwähnte Stelle i n den Capitulationes i m p e r a t o r u m , ed. alt., Straßb u r g 1648, p. 696, C h r . Ziegler, W a h l k a p i t u l a t i o n e n , Frankfurt 1711, S. 140. T r o t z d e m w u r d e Ferdinand I I . v o n H i p p o l i t h u s a Lapide als T y rannus konstruiert, gegen den wegen V e r l e t z u n g der Verfassung der Fall des berechtigten Widerstandes gegeben sei (de Ratione Status, pars I, cap. 7 gegen i h n unter Berufung auf die Beschwerde des K u r f ü r s t e n Joh. H e n r i cus Stamler, de reservatis imperatoris, Gießen 1658, § X X I V ) .

I I I . Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts Der absolute König von Frankreich regierte durch Kommissare. Der Intendant, der Träger der königlichen Verwaltung, der Einheitlichkeit und der Zentralisation, le vrai agent de l'autorité royal, war Kommissar 1 . Sein amtlicher Name war commissaire départi pour S. M. dans les provinces et généralités du royaume et pour l'exécution des ordres du Roi. Er war der jederzeit abberufbare Chef einer Generalität, einer Provinz oder eines Departements, dessen Bezirk als eine intendance nicht mit den übrigen Verwaltungs- oder Gerichtsbezirken (der Gouverneure oder Parlamente) zusammenfiel. Es gab im achtzehnten Jahrhundert 31 solcher Departements, dazu kamen 6 in den Kolonien 2 . Die Ernennung, für die gewöhnlich nur maîtres de requêtes, d. h. Mitglieder des Conseil in Betracht kamen, geschah durch den Generalkontrolleur der Finanzen, für die Grenzprovinzen nach Vorschlag des Kriegsministers. Als Kommissar hatte der Intendant nur solche Befugnisse, die sich für seine Person und seinen Aufgabenkreis aus der Kommission ergaben. Die Befugnisse waren nach den verschiedenen Provinzen und der Person des Intendanten verschieden; in schwie1 H a n o t a u x , Origines de l ' i n s t i t u t i o n des intendants, Paris 1884; Esmein, C o u r s d'histoire d u d r o i t français, 9. ed., Paris 1908, p. 590; Lavisse, H i stoire de France V I I I 1, p. 151; Rob. H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte (Below-Meineckes H a n d b u c h ) , 1910, S. 396 f. Intendanten hießen zunächst die unter Franz I. eingeführten Funktionäre der Z i v i l v e r w a l t u n g (trésorerie de France); sie waren entweder M i t g l i e d e r des Conseil oder à la suite. Ihre Aufgabe w a r wesentlich K o n t r o l l e u n d Rechnungsführung, d o c h unterstanden der trésorerie auch ordentliche u n d außerordentliche Angelegenheiten der Kriegsverwaltung, des Artilleriewesens, der M a rine, der H o f v e r w a l t u n g usw. D i e K o n t r o l l e erweiterte sich allmählich z u Organisationsbefugnissen. D i e V o l l m a c h t e n der commissaires départis, I n tendanten u n d ihrer Subdelegierten w u r d e n aufgehoben d u r c h das Gesetz v o m 26. J u n i 1790, v o n dem A u g e n b l i c k an, i n dem die neuen Departements- u n d Distriktsverwaltungsbehörden i n W i r k s a m k e i t traten ( D u v e r gier, C o l l e c t i o n des lois, Paris 1824, I , p. 262). D u r c h D e k r e t des N a t i o n a l konvents v o m 24. N o v . 1793 (4. frimaire I I ) w u r d e n alle früheren I n t e n danten verhaftet, u m z u r Rechnungslegung gezwungen zu werden ( D u v . V I 373). 2 D a r ü b e r E m i l i e n Petit, D r o i t public o u gouvernement des Colonies françoises, Paris 1771, Ausgabe v o n A . G i r a u l t , Paris 1911.

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III. Der Übergang zur souveränen Diktatur

rigen Fällen suchte er die Instruktion der Zentralstelle nach. Im allgemeinen hatte er auf alles zu achten (veiller), was die Administration der Justiz, Polizei und Finanzen betraf, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (le maintien de bon ordre) zu sorgen und die allgemeine Aufsicht (inspection générale) über alles, was den Dienst des Königs und das Wohl seiner Untertanen anging. Verteilung und Einbringung der Steuern, Beaufsichtigung der Rechtspflege, Verteilung der Truppen auf die verschiedenen Ortschaften, Aushebung der Truppen und Entscheidung bei den sich hierbei ergebenden Fragen und Streitigkeiten, Beschaffung von Getreide für die Magazine 3 , Festsetzung von Höchstpreisen bei Lebensmittelschwierigkeiten, Förderung von Ackerbau, Handel und Gewerbe, Unterhalt der Wege, Brücken und öffentlichen Gebäude, kurz, le bien de l'état. Er hatte seinem Auftraggeber, dem König und dem Conseil, Berichte zu schicken und ihn über alles auf dem laufenden zu halten, was sich in seinem Bezirk ereignete oder reformbedürftig schien. Durch besonderen Beschluß des Conseil konnten ihm Untersuchungen, Beweisaufnahmen und Gutachten übertragen werden, seltener sind die Kommissionen, ein Prozeßverfahren zu instruieren oder selbst richterliche Entscheidungen zu treffen. Regelmäßig sollte er nicht selbst entscheiden, sondern dafür sorgen, daß die ordnungsmäßig zuständigen Gerichte selbst die Entscheidung trafen. Auch Streitigkeiten aus Anlaß der Steuerveranlagung und -erhebung sollte er den Gerichten überlassen. Bei öffentlichen Unruhen, insbesondere bei den häufigen Bauernaufständen während der Ernte, entschied der Prévôt der Gendarmerie oder sein lieutenant in einem Sonderverfahren als erste und letzte Instanz 4 . Der Intendant oder sein Subdelegierter verhandelte oft mit den Aufständischen und suchte auch bei Lohn- und Arbeitsstreitigkeiten zwischen streikenden Arbeitern und den Arbeitge3 D i e Intendanten als commissaires sind v o n den commissionaires der privilegierten Getreidegesellschaften zu unterscheiden. Ungenau heißen diese letzten ebenfalls Kommissare bei F. Wolters, Studien über A g r a r z u stände u n d Agrarprobleme i n Frankreich v o n 1700 bis 1790. Staats- u n d Sozialwissenschaftliche Forschungen, herausgegeben v o n Schmoller u n d Sering, Bd. X X I I , H e f t 5, L e i p z i g 1905, S. 277. 4 D i e K o m m i s s i o n s f o r m e l lautete: „ C o m m e t de prévôt de la maréchaussée et son lieutenant p o u r connaître des émotions et attroupements q u i pourraient survenir à l'occasion des grains; ordonne que par eux le procès sera fait et parfait, jugé prévôtalement et en dernier ressort; interdit S. M . à toutes cours de justice d'en prendre connaissance." M a n drang w i l l k ü r l i c h i n die Häuser ein, verhaftete usw.; d o c h gab es schon eine O r d o n n a n z , die befahl, daß der Verhaftete binnen 24 Stunden richterlich v e r n o m m e n werden mußte. Z u dieser O r d o n n a n z bemerkt Tocqueville, A n c i e n régime (p. 314): cette disposition n'était n i moins formelle n i plus respectée que de nos jours.

III. Der Übergang zur souveränen Diktatur

bern zu vermitteln. Er griff gewöhnlich nicht gern zu Gewaltmitteln, sondern ging „mit größter Vorsicht" vor, weil man die Erfahrung gemacht hatte, daß polizeiliche Verbote und Maßnahmen in solchen Fällen nicht viel nützten 5 . Nötigenfalls ließ er sich außerordentliche Vollmachten vom Conseil geben, schritt mit Hilfe der bewaffneten Macht ein und traf die erforderlichen Maßnahmen, über die er Rechenschaft ablegen mußte. Seine im Gegensatz zu der gewöhnlichen Aufsichts- und Verwaltungstätigkeit als autorité exécutive bezeichnete Funktion als Aktionskommissar wird gelegentlich „eine Art Diktatur" genannt6. Das Rechtsmittel gegen die Maßnahmen des Intendanten, der Appell an den Conseil, hatte, wenn nicht der Conseil ausdrücklich etwas anderes bestimmte, keine aufschiebende Wirkung. Der Intendant ernannte Subdelegierte, die er selbst bezahlte und jederzeit abberufen konnte. Er residierte in der Hauptstadt seines Bezirks, mußte aber mindestens einmal (unter Colbert zweimal) jährlich eine Visitationsreise unternehmen. Als Agent der Zentralgewalt stand er in einem natürlichen Gegensatz zu den provinzialen und lokalen Körperschaften, die eine weitgehende ständische Gerichtsbarkeit, Selbstregierung und Selbstverwaltung bewahrt hatten. Es gab allerdings Intendanten, die der Zenralregierung gegenüber eine ziemlich unabhängige Haltung einzunehmen wußten; die meisten waren als Kommissare brauchbare Werkzeuge der Zentralisation und gerieten dadurch in Konflikt mit den „intermediären Gewalten", den Parlamenten, Ständen und Städten ihrer Provinz, mit den Gouverneuren, die, ursprünglich Militärbefehlshaber und selbst nur widerrufliche Kommissare, nach der typischen Entwicklung seßhaft geworden waren, gewöhnlich auf Lebenszeit ernannt wurden und tatsächlich häufig sogar erbliche Ämter hatten, und mit den von den Ständen zur Erhebung von Steuern ernannten commissaires intermédiaires 7. Gegen den Intendanten als die Erscheinungsform der zentralen Bürokratie richten sich daher schon früh zahlreiche Angriffe, von denen die Bemer5 Bei Levasseur, H i s t o i r e des classes ouvrières avant 1789, 2. ed., t. I I , Paris 1901, w o p. 805-815 zahlreiche Fälle v o n U n r u h e n der Gesellen u n d Arbeiter beschrieben werden, ist mitgeteilt, daß ein Bericht, i n dem u m besondere Dekrete gegen die Zusammenrottungen u n d besondere V o l l machten für den V o l l z u g gebeten werden, am Rand den V e r m e r k trägt: i l n ' y a rien à faire. 6 Bonald, Théorie d u p o u v o i r (1794 geschrieben), t. I l l , sect. I I (la théorie de l ' a d m i n i s t r a t i o n civil), Œuvres t. X V I , p. 116. 7 Diese hat die Constituante vorläufig n o c h i n ihrer T ä t i g k e i t belassen; sie werden v o n den commissaires additioneis, die an der V e r w a l t u n g teilnehmen sous le b o n plaisir d u R o i , unterschieden; D e k r e t v o m 12. Dez. 1789, C o l l e c t i o n Duvergier I , p. 73, ferner I 75, 106, 109, 181. Ihre T ä t i g keit endigte am 31. Dez. 1790.

7 C. Schmitt, Die Diktatur

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kungen des Herzogs von Saint-Simon in seinen Memoiren und Fénelons in seinem Brief an den Herzog von Chevreuse, 1710, am bekanntesten sind. Die Angriffe setzen sich durch das ganze achtzehnte Jahrhundert fort. In Anspielung auf ihre Zahl werden sie die dreißig Tyrannen genannt8. Abgesehen davon, daß die Bürokratie den Weg zum König versperrte und der König nur mit ihren Augen sah9, lag der wichtigste Grund der Klagen in den verfassungswidrigen, d. h. ohne Zustimmung der Stände vom König angeordneten Steuern, bei deren Verteilung und Erhebung ihrer Willkür ein weiter Spielraum blieb. Gegen die fürstlichen Kommissare erhoben sich stets die Beschwerden der „intermediären" Instanzen, d. h. der ständischen Selbstverwaltung. Während der Minderjährigkeit Ludwigs XIV., 1648, hatten die vereinigten Gerichtshöfe von Paris die Ernennung mehrerer Intendanten zu verhindern gewußt, später freilich wurden die Kommissionen wenigstens teilweise wieder erneuert. Wie die konziliare Theorie gegen die plenitudo potestatis des Papstes geltend gemacht hatte, daß die Machtvollkommenheit nicht durch den Papst, sondern durch die Kirche ausgeübt werden müsse und der Papst sich unmittelbarer Eingriffe in die Stufenfolge der Hierarchie und die ordentlichen Zuständigkeiten der Amter zu enthalten habe 10 , wie die deutschen Reichsstände (diese allerdings mit anderem Erfolg) der Meinung waren, daß nicht der Kaiser, sondern das Reich, das Imperium, von dem der Kaiser selbst nur ein Teil sei, die majestas habe 11 , so sagen die

8

A d . W a h l , Vorgeschichte der Französischen R e v o l u t i o n , I. Band, T ü bingen 1905, S. 8 / 9 unter H i n w e i s auf D u b u c , L'intendance de Soissons, 1902 ( m i r nicht zugänglich); Ardasheff, Revue d'histoire moderne, 1903. N e c k e r , A d m i n i s t r a t i o n des finances, I I I , p. 379. 9 H i e r zeigen sich auch alle „organischen" Bilder, w i e sie bei Rousseau u n d i n der R e v o l u t i o n beliebt sind: die Intendanten sind die A u g e n des Königs oder des Conseil, dieser ist die pensée oder die volonté; insofern der Intendant Aktionsbefugnisse hat, ist er der A r m oder die H a n d des Königs usw. 10 V g l . oben S. 43 f. 11 I n der unter Thomasius verfaßten Dissertation v o n H e n r . H ö f f e r , D e d u p l i c i majestatis subjecto, 1672, die Gierke i n seiner Darstellung dieser Lehre (Althusius, S. 168) nicht erwähnt, die aber für die staatsrechtliche Organtheorie v o n großem Interesse ist, w i r d wieder auf G r o t i u s zurückgegriffen u n d dessen Lehre, daß das V o l k seine Rechte vollständig einem andern übertragen könne; i n § 18 heißt es dann ( i m A n s c h l u ß an Oslander, cit. loc. p. 468, der hier ein A r g u m e n t Jacobs I. v o n England gegen Bellarm i n wiederholt): die Monarchomachen wie Althusius verwechseln populus u n d civitas u n d stellen das V o l k dem K ö n i g gegenüber, als ob das z w e i verschiedene D i n g e wären u n d der K ö n i g außerhalb des Staates stände, während man d o c h v o n der civitas sagen müsse, eam t a m q u a m t o t u m

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französischen Parlamente, der König stehe nicht außerhalb des Staates, sondern sei selbst ein Teil des Königreichs 12 . Die „gradation des pouvoirs intermédiaires" betrachten sie als dépôt sacré, das die Autorität des Königs mit dem Vertrauen des Volkes verbindet. Die ständische Selbständigkeit in Rechtspflege und Verwaltung war auch im achtzehnten Jahrhundert noch so groß, daß man den Absolutismus der französischen Könige nicht etwa mit dem Napoleonischen vergleichen darf 13 . Für einen Monarchisten wie Bonald gehören Monarchie und erbliche intermediäre Gewalten zusammen und sind die kommissarischen Intendanten eine gegen das historische Prinzip der Monarchie verstoßende Einrichtung. Insbesondere aber ist die Staatslehre von Montesquieu nur verständlich, wenn man beachtet, daß die Idee der intermediären Gewalten bei ihm an der wichtigsten Stelle verwertet ist. Die Spannung zwischen Montesquieu und der Aufklärung beruht auf einem Streit, der sich in der politischen und administrativen Wirklichkeit abspielte zwischen der konservativen ständischen Selbstregierung, also der „mittelbaren", d. h. durch zahlreiche unabhängige Körperschaften vermittelten Staatsgewalt, und der unmittelbar an jedem beliebigen Punkt wirksam werdenden zentralisierten Bürokratie. Montesquieu war Mitglied eines Parlaments, Turgot, der bedeutendste physiokratische Vertreter des aufgeklärten Staatsabsolutismus, ging aus der Intendantenkarriere hervor. complecti i n se regem. Daß der Staat aus K ö n i g u n d V o l k bestehe, w a r also bereits i m 17. Jahrhundert ausgesprochen, u n d die v o n H . O . Meisner, D i e Lehre v o m monarchischen P r i n z i p , Breslau 1913, S. 226, A n m . 3 u n d 230, A n m . 4 für eine Ä u ß e r u n g des württembergischen Abgeordneten Keßler aus dem Jahre 1819 (eine „ v ö l l i g neue, bahnbrechende Ä u ß e r u n g " , wie Meisner meint) vindizierte Priorität m u ß man dem H e r r n Keßler w o h l bestreiten. 12 L e R o y est au Royaume, i n dem Beschluß des Parlaments v o m 20. Dez. 1527, zitiert i n den Remontrances des Parlaments v o m 9. A p r i l 1753, U t r e c h t 1753, p. 11, u n d bei F l a m m e r m o n t , Remontrances, C o l l e c t i o n de documents inédits, t. 56, Paris 1888, I , 568, d o r t auch die Unterscheidung zwischen dem Souverain, dessen Befugnisse beschränkt sein sollen, u n d der Souveränität. — Übrigens antwortet der K ö n i g m i t derselben „ E i n heit". E r d r o h t jedem, der es wagt, i h n v o n der N a t i o n als einem corps séparé zu trennen u n d betont, daß er u n d das V o l k eins seien. Das sind seine berühmten W o r t e des l i t de justice v o n 1766. A u s dieser Einheit folgert er allerdings gerade, daß die „ p l é n i t u d e " seiner A u t o r i t ä t keine Schranken haben dürfe. D i e Frage ist eben, w e r sich m i t jener Einheit identifiziert u n d m i t der I d e n t i f i k a t i o n politisch durchsetzt; diese Frage ist nicht damit gelöst, daß man sie m i t „beide" oder m i t „keiner, sondern ein höherer umfassender D r i t t e r " beantwortet. 13 D a f ü r hübsche Beispiele bei Funck-Brentano, L'ancienne France, le R o i , 2. ed., Paris 1912.

7··-

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Die „pouvoirs intermédiaires" sind nach Montesquieu ein wesentliches Merkmal der monarchischen, die Fundamentalgesetze beachtenden Regierung. Die Gesetze brauchen eine vermittelnde Instanz, durch welche die Staatsgewalt hindurchfließt, so daß willkürliche und plötzliche Äußerungen des staatlichen Willens verhindert werden. Der Adel, die seigneuriale und patrimoniale Gerichtsbarkeit, der Klerus und die als dépôt des lois fungierenden unabhängigen Gerichtshöfe, also die französischen Parlamente, sind solche intermediären Hemmungen für die staatliche Allgewalt, nicht aber der Conseil des Fürsten, der seiner Natur nach dazu neigt, den augenblicklichen Willen des Fürsten zu vollziehen, ohne ein dépôt sacré der Fundamentalgesetze sein zu können, und der ferner den Nachteil hat, daß er nicht „permanent" ist wie jene intermediären Korporationen. Auch hat er nicht das Vertrauen des Volkes 14 . Soweit spricht Montesquieu ganz dieselben Gedanken aus, wie sie in den Remontrances wiederkehren und steht er in größtem Gegensatz zur Aufklärung, zu Voltaire sowohl wie zu den Physiokraten, denen die überlieferten Korporationen und erblichen Ämter eine barbarische (damals sagte man gotische) Sinnlosigkeit und Störung ihres rationalen Schemas waren. Die Aufklärung sah den Staat wie die deistische Methaphysik das Weltall: der außerhalb der Welt stehende Gott hat diese Welt so eingerichtet, daß sie wie eine vollkommene Maschine nach den einmal gegebenen Gesetzen läuft; ebenso montiert der Gesetzgeber die staatliche Maschine. Montesquieu gebraucht zur Veranschaulichung seiner Konstruktionen das Bild von der „balance", das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert für jede Art wahrer Harmonie (im Weltall, in der äußern und der innern Politik, in der Moral und in der Nationalökonomie) verwendet wurde und nicht notwendig abstrakt-rationalistisch zu sein braucht. Die Lehre von der sogenannten Teilung der Gewalten wird unverständlich, wenn man sich an das Wort von der Teilung oder Trennung, statt an jenes Bild von der balance hält 15 . Ein System gegenseitiger Kontrolle, Hemmung und Bindung 14

Esprit des lois, 1. I I , cap. 4: les pouvoirs intermédiaires, subordonnés et dépendants , constituent la nature d u gouvernement monarchique, c'est à dire de celui u n seul gouverne par des lois fondamentales. J'ai dit les

pouvoirs intermédiaires , subordonnés et dépendants: en effet , dans la monarchie, le prince est la source de tout pouvoir politique et civil. Ces lois fondamentales supposent nécessairement des canaux moyens par o ù coule la puissance etc. Le conseil d u monarque n'a p o i n t à un assez haut degré la confiance d u peuple. ( D i e kursiv gedruckten Stellen bezeichnen sog. cartons, d. h. d u r c h den Zensor veranlaßte Änderungen; vgl. über diese Stelle L o u i s V i a n , H i s t o i r e de Montesquieu, Paris 1878, p. 261. D i e Ä n d e rungen zeigen, w i e die Regierung des absolutistischen Staates die ständischen Ideen abzuschwächen suchte.)

III. Der Übergang zur souveränen Diktatur

soll errichtet werden. Le pouvoir arrête le pouvoir (Esprit des lois X I , 4); arrêter, enchaîner, lier, empêcher sind die wesentlichen Ausdrücke in dem berühmten 6. Kapitel des XI. Buches. Das Bild dient vor allem zur Bezeichnung einer Verständigung zwischen Parlament und König. Wenn eine Körperschaft dem König, d. h. dem Inhaber wichtigster staatlicher Machtmittel, entgegentritt, so kann sie das nur tun, indem sie sich mit dem Volk identifiziert, das sie zu repräsentieren behauptet, und verlangt, die Anwendung jener staatlichen Machtmittel zu kontrollieren und die Normen für ihr Anwendung, d. h. die Gesetze zu erlassen. Aus diesem Kampf kann eine Einheit dadurch entstehen, daß die eine Macht die andere vernichtet, das wäre nach dem Sprachgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts Despotismus, heute würde man von Diktatur sprechen 16 . Das Bild von der balance bezeichnet dagegen eine im Wege der Ausgleichung erzielte Einheit. Deshalb ist die sogenannte Teilung der Gewalten nichts weniger als ein doktrinäres Schema. Sie betrifft immer konkrete politische Verhältnisse und bringt es mit sich, daß die Anwendung des Bildes sich immer gegen denjenigen richtet, der durch seine einseitigen Machtansprüche, durch seine Diktatur, die verständige Ausgleichung stört und hindert. Sie ist weder republikanisch noch demokratisch, wie monarchistische Apologeten im neunzehnten Jahrhundert gern behaupteten, noch ist sie abstrakter Rationalismus, wie sogar Konstantin Frantz meinte, der in arger Verkennung Montesquieu als den geistigen Urheber der Zentralisationstendenzen des modernen Staates aufgefaßt hat 17 . Jede unverhältnismäßige politische „Über"-Macht ist nach jener Lehre der Feind. In Cromwells Verfassungen erscheint sie als ein

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W . Hasbach hat an diese i n der deutschen Literatur regelmäßig übersehene Tatsache erinnert (außer i n den größeren W e r k e n hauptsächlich i n dem Aufsatz Gewaltentrennung, Gewaltenteilung u n d gemischte Staatsformen, Vierteljahrsschr. f. Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte, Bd. 13, 1916, S. 562 f.). E i n besonders auffälliges Beispiel für solche Mißverständnisse bietet die Kontroverse zwischen R e h m u n d G. Jellinek (Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 233, dazu G. Jellinek, G r ü n h u t s Z . f. d. Privat- u n d öffentliche Recht, Bd. 30, 1903, S. 1 f., E r w i d e r u n g v o n R e h m S. 417 f. u n d D u p l i k Jellineks S. 419). Das seit dem 17. Jahrhundert i n der englischen, der amerikanischen ( i m Federalist) u n d der französischen E r ö r t e r u n g politischer Probleme für das Verhältnis v o n Legislative u n d Exekutive, d. h. Parlament u n d K ö n i g oder Gouverneur, Bundesstaat u n d Einzelstaat, Oberhaus (Senat) u n d Unterhaus gebrauchte B i l d der Waage w u r d e v o n der Literatur der Restauration als rationalistisches Schema bekämpft. 16

So sagt i m 19. Jahrhundert F. J. Stahl „ D i k t a t u r der Stände" (Philos, d. Rechts, I I 2 S. 351, Das monarchische Prinzip, 1845, S. 15, 23; vgl. auch D i e gegenwärtigen Parteien i n Staat u n d Kirche, 2. A u f l . 1868, S. 126). 17 D i e Naturlehre des Staates, L e i p z i g / Heidelberg 1870, S. 216 f.

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Mittel, dem Mißbrauch der Parlamentsherrschaft, den man durch die Praxis des Langen Parlaments kennengelernt hatte, vorzubeugen. In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hat Bolingbroke sie im Interesse eines starken Königtums gegen die parlamentarische Parteiherrschaft der Whigs ins Feld geführt. Bolingbroke hat den einflußreichsten Mann der Gegenwart, Malborough, „Diktator" genannt 18 . Das war die Antwort auf den „Despoten", mit dem der Whig den absoluten Fürsten bezeichnet. Die Lehre von der balance verbindet nun Montesquieu mit der Lehre der corps intermédiaires, um diesen im Kampf gegen die Übermacht des königlichen Absolutismus und seiner Werkzeuge, der Minister und Intendanten, zu helfen. Insoweit steht Montesquieu noch in der ständischen Tradition und setzt der über alle staatlichen Mittel verfügenden Macht des Königs, der mit einem Griff die ganze Maschine des Staates dirigieren kann (il précipite la balance I I I c. 10), die intermediären Gewalten entgegen. Anders als die übliche glorifizierende Geschichtsauffassung sieht er auch in dem Begründer der Zentralgewalt des französischen Königtums, in Kardinal Richelieu, keineswegs einen großen Mann, ja, er hat den für einen Mann der Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts außergewöhnlichen Mut, den Ahnen feudaler Rassentheorien, Boulainvilliers, anerkennend zu zitieren. Die unmittelbare Demokratie aber ist dem gleichen Einwand ausgesetzt wie die absolute Monarchie: auch das Volk darf keine „puissance immédiate" ( X I X c. 27) haben; auch in der unmittelbaren Demokratie der antiken Republiken fehlten die intermediären Gewalten. Despotismus bedeutet bei Montesquieu und in der ganzen von ihm beeinflußten Literatur die Aufhebung der richtigen „balance". In gewisser Hinsicht wäre es aber noch besser, statt von Balancierung der Gewalten von einer „Mediierung" der plenitudo potestatis zu sprechen. Die staatliche Allgewalt soll niemals in ihrer ganzen effektiven Machtfülle an einem beliebigen Punkte eingreifen können, sondern immer nur vermittelt, intermediiert, durch ein zustän-

18 N a c h dem Frieden v o n U t r e c h t , 1713, als am 14. A p r i l 1713 i n L o n d o n Addisons „ C a t o " aufgeführt wurde, veranstaltete B o l i n g b r o k e eine politische D e m o n s t r a t i o n , w o b e i er das klassische Freiheitspathos des Stückes als Protest „ f o r defending the causes of liberty against a perpetual d i c t a t o r " , d. h. gegen M a l b o r o u g h , der damals Captain-general for life werden sollte, benutzte. Ü b e r den V o r g a n g vgl. A . W . W a r d , H i s t o r y of english dramatic literature I I I , L o n d o n 1899, p. 440, 441; Macaulay i n seinem Essay T h e life and writings of A d d i s o n u n d die Biographie v o n B o lingbroke i n der N a t . Biogr. L. p. 133. V o n Schriften Bolingbrokes k o m men hier i n Betracht Dissertation o n parties ( 1 7 3 3 / 3 4 ) u n d Idea of a Patriot K i n g (1749 veröffentlicht).

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diges Organ mit festen Kompetenzen, ein pouvoir borné, das neben andern ebenfalls vermittelnden Gewalten eine nicht beliebig aufzuhebende Kompetenz hat. Auch die höchsten Gewalten, Legislative und Exekutive, sollen sich in ihrer Macht gegenseitig beschränken. Der Erfolg ist, daß die bürgerliche Freiheit vor der in einem Netz begrenzter Kompetenzen festgehaltenen Allmacht des Staates geschützt ist. Ob das allmächtige Organ eine gesetzgebende Körperschaft oder eine allmächtige Exekutive ist, ob die Werkzeuge der unmittelbaren Allmacht, die Kommissare mit unbegrenzten Vollmachten nach außen und unbedingter Abhängigkeit nach innen, vom Parlament oder vom Fürsten geschickt werden, ist für das Ergebnis, die Vernichtung der bürgerlichen Freiheit, dasselbe. Mit einem formalen Gesetzesbegriff ist dieser Lehre nicht gedient. Die Selbstbindung des Staates, die in der Gesetzgebung liegen soll, die „Unverbrüchlichkeit" des Gesetzes, ist nur gewährleistet, wenn Gesetzgebung und Vollzug sich gegenseitig kontrollieren und vor allem (daher die Forderung des königlichen Vetos) ein einmal erlassenes Gesetz nicht beliebig geändert werden kann. In jedem andern Falle ist die angebliche Selbstbindung, die der Gesetzgeber durch ein Gesetz sich selbst auferlegt, eine leere Redensart. Die Souveränität mag, abstrakt gesprochen, einheitlich und grenzenlos sein. In der konkreten Ausübung muß jedem einzelnen Funktionär eine begrenzte Befugnis zustehen und auch die beiden höchsten Instanzen, Legislative und Exekutive, sollen ihre Befugnisse nicht einseitig erweitern können. Es gäbe überhaupt keine Zuständigkeit mehr, wenn es eine Kompetenz-Kompetenz gäbe. Für den Zustand unmittelbaren Auftretens der staatlichen Allgewalt gebraucht Montesquieu das Wort Despotismus. Das Wort Diktatur ist bei ihm, wie im 18. Jahrhundert überhaupt, abhängig von der klassischen Überlieferung und an die römische Republik gebunden. Er kennt daher nur die kommissarische Diktatur, die innerhalb der bestehenden republikanischen Verfassung eintritt. Gelegentlich kommen bei Montesquieu die beliebten Schulbeispiele Sulla und Caesar vor, ohne daß er andere als psychologische Bemerkungen dazu fände 19. In Übereinstimmung mit der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts (in der Sache nicht anders wie z. B. Clapmarius) betrachtet er die Diktatur als den der aristokratischen Staatsform wesentlichen Ausnahmezustand (Esprit I I c. 3): eine in ihrer Herrschaft bedrohte Minderheit überträgt einem einzelnen 19

So in dem D i a l o g Sylla et Eucrate (1722) oder i m achten u n d dreizehnten Kapitel der Causes de la grandeur et de la décadence des R o mains. I m achten Kapitel t r i t t der dictateur als politisches I n s t r u m e n t i m K a m p f der Patrizier gegen die Plebejer auf. Daß der D i k t a t o r M i l i t ä r b e fehlshaber war, erwähnt Montesquieu nicht.

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Mitbürger grenzenlose Befugnisse, une autorité exorbitante. In der Monarchie, zu deren Wesen es gehört, daß ein einzelner eine autorité exorbitante ausübt, bildet, im Gegensatz dazu, das monarchistische Prinzip der Rücksicht auf „intermediäre" Gewalten, besonders den Adel (II, cap. 4), eine Hemmung. Montesquieu empfiehlt, in aristokratischen Staaten die Diktatur verfassungsmäßig vorzusehen, wie das in Rom geschehen war und in Venedig durch einen dauernden, permanenten Magistrat versucht wurde. Aber die Einrichtung in Venedig führte dazu, daß eine geheime allmächtige Behörde tätig war und der Ehrgeiz eines Einzelnen sich mit dem einer Familie und der einer Familie mit dem mehrerer herrschender Familien vereinigte. Das Beste ist, die grenzenlose Machtbefugnis durch die Kürze der Amtsdauer zu kompensieren. In dem Idealzustand einer richtigen Teilung der Gewalten, wie er im 6. Kapitel des X I . Buches beschrieben ist, gibt es zwar keine Diktatur, wohl aber einen Ausnahmezustand, bei dem die Legislative die Exekutive für eine kurze und genau umgrenzte Zeit ermächtigt, verdächtige Bürger festzunehmen. Voraussetzung dieses Ausnahmezustandes ist eine Verschwörung im Innern oder Einvernehmen mit dem äußern Feind. Doch ist auch die allgemeine Bedeutung außerordentlicher Kommissare für die Entwicklung von der Republik zum Caesarismus dem historischen Blick Montesquieus nicht entgangen. Er rühmt in dem Buch über Größe und Untergang der Römer (c. 11) die kluge Verteilung der öffentlichen Gewalten in Rom, wo eine große Anzahl von Magistraturen sich gegenseitig hemmte und kontrollierte, so daß jeder nur ein pouvoir borné hatte. Dieser Zustand der Gewaltenteilung hörte auf, als man commissions extraordinaires erteilte, wie sie Sulla und Pompejus erhielten. Dadurch wurde sowohl die Macht des Volkes wie die der Magistrate vernichtet und konnten sich einzelne einflußreiche Männer der souveränen Gewalt bemächtigen. Bürgerkriege sind der geeignete Boden für solche Usurpationen, weil sie eine Diktatur herbeiführen. Zum Beweis werden Ludwig X I I I . und Ludwig X I V . von Frankreich, Cromwell in England und der Absolutismus der deutschen Fürsten nach dem Dreißigjährigen Kriege angeführt. Unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, wird eine grenzenlose Gewalt ausgeübt, und was früher Freiheit genannt wurde, heißt jetzt Aufruhr und Unordnung. Es ist vielleicht historisch-politisch, aber kaum aus dem sachlichen Inhalt seiner Äußerungen zu verstehen, wie man bei einem Manne, der eine solche geschichtliche Auffassung von der Entstehung des modernen Staates hat, eine Verwandtschaft mit dem Geist des Contrat social entdecken konnte. Die seit der Französischen Revolution oft zitierte Äußerung Montesquieus, man müsse unter Umständen die Freiheit verschleiern, wie man die Statuen der Götter verhüllte 20 , steht in einem

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andern Zusammenhang, als sie gewöhnlich zitiert wird. Sie betrifft nämlich nicht die Rechtfertigung des Belagerungszustandes, sondern die Frage, ob eine attainder-bill zulässig ist. Das Bedenkliche einer solchen bill liegt darin, daß über einen einzelnen bestimmten Bürger in Form eines Gesetzes geurteilt, also eine Ausnahme von dem generellen Charakter des Gesetzes gemacht wird. Das Gesetz soll eine für alle geltende N o r m sein und nicht einen Einzelfall betreffen. Hier ist die Vorstellung des Gesetzes als einer volonté générale wirksam. Der generelle Charakter des Gesetzes soll darin liegen, daß es keine Individualität kennt und wie ein Naturgesetz ausnahmslos gilt. Dieser Gesetzesbegriff 21 stammt für Montesquieu (und Rousseau) aus der cartesianischen Philosophie, die Montesquieu hauptsächlich durch Malebranche vermittelt wurde 2 2 und von der seine wissenschaftlichen Interessen ausgingen. Für die französische Staatsphilosophie ist diese Vorstellung von größter Bedeutung geworden. Während im 17. Jahrhundert in England das Prinzip der freien kirchlichen Gemeinde auf politische Körperschaften angewandt wurde und in Amerika ein neues Staatswesen bilden half, wird in dem Frankreich des 18. Jahrhunderts ein metaphysischer und naturwissenschaftliche Begriff des Gesetzes politisiert. Die cartesianische Lehre, daß Gott nur eine volonté générale habe und alles Partikuläre seinem Wesen fremd sei, übersetzt sich politisch darin, daß der Staat nur generelle und abstrakte Regeln als Gesetz aufstellen dürfe, der einzelne konkrete Fall dagegen nur durch Subsumtion unter das allgemeine Gesetz, nicht aber unmittelbar durch Gesetz entschieden werden dürfe 23 . Bei Rousseau wird dieser Ge20 Esprit des lois X I I , 19: Pusage des peuples les polus libres q u i aient jamais été sur la terre me fait croire q u ' i l y a des cas o ù i l faut mettre p o u r u n m o m e n t u n voile sur la liberté, comme l ' o n cache les statues des dieux. 21 D i e N a c h w i r k u n g e n der aristotelisch-scholastischen Auffassung der lex als eines universale bleiben hier außer Betracht. 22 W ä h r e n d sonst alle möglichen Abhängigkeiten u n d Zusammenhänge der Gedanken Montesquieus (Aristoteles, Machiavelli, B o d i n , V i c o , B o lingbroke) betont sind, w i r d der wichtige Nachweis v o n E. Büß, Philos. Monatshefte I V , 1869/ 70, S. 19, der die genaue Ü b e r e i n s t i m m u n g zahlreicher, u n d zwar wesentlicher Sätze m i t Malebranche belegt, meistens übersehen. 23 Es ist keine zufällige Bemerkung, w e n n Descartes an Mersenne schreibt: „c'est D i e u q u i a établi ces l o i en nature ainsi q ' u n r o i établit les lois en son royaume." Bei Malebranche, der den größten Einfluß ü b r i gens nicht n u r auf Montesquieu, sondern auch auf Rousseau ausgeübt hat, ist das die Grundlage seines Occasionalismus: es muß occasionelle Ursachen geben, welche die lois générales i n Bewegung setzen, denn sonst müßte G o t t sie i n Bewegung setzen, u n d das k ö n n t e n u r d u r c h eine v o lonté particulière geschehen. M a n muß diese M e t a p h y s i k kennen, u m die

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setzesbegriff, mit verschiedenartigen andern Vorstellungen vermischt, besonders wirksam. Montesquieu dagegen zeigt gerade an dieser Stelle, obwohl auch er das Gesetz nach Cicero ein jussum in omnes nennt, wie wenig seine politischen Anschauungen von einem doktrinären Rationalismus beherrscht sind. Trotz seiner Bedenken billigt er die attainder-bill. Die Forderung, daß das Gesetz generell sein muß, enthält nicht wie bei Rousseau eine abstrakte Entfernung von jedem konkreten Inhalt, sondern folgt politisch aus derselben Erwägung wie bei Locke das antecedent standing law: ein unveränderliches (immuable), konstantes Gesetz soll dem Rechtsleben Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit geben und dadurch zugleich mit der Rechtssicherheit die Unabhängigkeit des Richters und die bürgerliche Freiheit begründen, es verhindert eine nach Lage der Sache von Fall zu Fall entscheidende Zweckgesetzgebung und Zweckjurisprudenz und gewährleistet das, was moderne Staatsrechtlehrer den Charakter der „Unverbrüchlichkeit des Gesetzes"24 genannt haben, der zu jeder rechtsstaatlichen (im Gegensatz zur polizeistaatlichen) Ordnung gehört. Die wichtigste Garantie der bürgerlichen Freiheit liegt jedoch in den intermediären Gewalten. Montesquieus berühmter Satz von der Justiz, die zwar als dritte Gewalt neben Legislative und Exekutive genannt wird, die aber im gewissen Sinne unsichtbar und nichtig (invisible et nulle) sein soll, scheint allerdings mit der rationalistischen Auffassung der volonte générale in Verbindung zu stehen25 und zu beA r g u m e n t a t i o n des C o n t r a t social zu verstehen. Beiläufig sei erwähnt, daß sich bei Malebranche auch schon das B i l d v o n der balance des passions findet. — Daß G o t t n u r eine volonté générale et immuable habe u n d jede volonté particulière seiner u n w ü r d i g ist, beherrscht d u r c h Descartes, Malebranche, L e i b n i z die Philosophie des 17. u n d 18. Jahrhunderts als ein A x i o m . E r i c h Kaufmann gebührt das Verdienst, den Zusammenhang einer Staatslehre m i t der Philosophie ihrer Zeit m i t großer Klarheit dargelegt zu haben: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, H a l l e 1906; über den Organismus i n der Staatslehre des neunzehnten Jahrhunderts, Heidelberg 1908; sowie die Ausführungen i n der Schrift die Clausula rebus sie stantibus, T ü b i n g e n 1913, S. 93 f.; über den abstrakten Gesetzesbegriff des achtzehnten Jahrhunderts E m i l Lask, Fichtes Geschichtsphilosophie, T ü b i n g e n 1902. 24 O t t o Mayer, Verwaltungsrecht, 2. A u f l . I, L e i p z i g 1914, S. 47; F. Fleiner, I n s t i t u t i o n e n des deutschen Verwaltungsrechts, 3. Aufl., T ü b i n g e n 1913, S. 39. 25 A u c h E r i c h Kaufmann, A r t . V e r w a l t u n g , Verwaltungsrecht, § 5 i n Stengel-Fleischmanns W ö r t e r b u c h des Staats- u n d Verwaltungsrechts, Bd. I I I , S. 692 faßt die Stelle so auf; Auswärtige G e w a l t u n d Kolonialgew a l t i n den Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a (Staats- u. Völkerrechtl. A b handlungen herausgegeben v o n G. Jellinek u n d G. Meyer, Bd. V I I , H e f t 1), L e i p z i g 1908, S. 33.

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deuten, der Richter sei nur der unselbständige Anwender des Gesetzes auf den einzelnen Fall, der Mund, der die Gesetzesworte ausspricht, la bouche qui prononce les paroles de la loi, ein unbeseeltes Wesen (être inanimé), das, was die Freirechtsbewegung der letzten Jahrzehnte einen Subsumtionsautomaten nannte. Aber eine andere Deutung entspricht mehr dem Geist und dem Zusammenhang sowohl jenes 6. Kapitels als des ganzen Werkes. Wenn die Rechtspflege im gewissen Sinne unsichtbar und nichtig heißt, so ist dabei an die englischen Geschworenen gedacht, die keine permanente Körperschaft bilden wie die französischen Gerichtshöfe und kein corps intermédiaire sind. Auch hier ist Montesquieu von dem Absolutismus der absoluten Geltung eines abstrakten Satzes weit entfernt. Es gibt für ihn keinen despotisme légal, wie ihn der französische Rationalismus des 18. Jahrhunderts gefordert hat. Auch Voltaire hat die Lehre von der Diktatur der aufgeklärten Vernunft noch nicht konsequent entwickelt. Er ist natürlich ein Freund des aufgeklärten Absolutismus. Was Montesquieu zur Rechtfertigung der Käuflichkeit und Erblichkeit der Ämter, durchaus im Zusammenhang der Lehre von den intermediären Gewalten, sagt, findet Voltaire schändlich und infam. In dem Kampf des königlichen Absolutismus mit den Parlamenten, 1756 bis 1771, steht er auf der Seite der Zentralgewalt, und der Widerstand der Parlamente ist für ihn eine étonnante anarchie. Die gut funktionierende, durch einen Druck von der Zentralstelle aus zu bewegende Verwaltungsmaschine entsprach seinem deistischen Weltbild, das bunte Durcheinander feudaler und ständischer Autonomie erschien ihm als wüste Unordnung 26 . Doch erkennt er die guten Seiten einer Demokratie zu sehr an und ist er schon zu skeptisch gegen die absolutistische Psychologie von der natürlichen Bosheit der Menschen, als daß er bedingungsloser Absolutist sein könnte 27 . Zudem lag es überhaupt nicht in seiner Art geistiger Produktivität, einen Gedanken mit systematischer Konsequenz durchzuführen. Dagegen herrscht bei den philosophes économistes, den Physiokraten 28 Quesnay 29 , Dupont de Nemours 30 , Baudeau31 und Senac de Meil26 A r t . Esprit des lois u n d Parlement de France i m D i c t i o n n a i r e p h i l o sophique. 27

A r t . Démocratie i m D i e t , philos.; i n den Dialogues et entretiens p h i losophiques: „si Phomme est né méchant". Ü b e r D i k t a t u r enthält der D i e t , philos, keinen besondern A r t i k e l . 28 Benutzt sind die Ausgaben v o n Eugène Daire, Paris 1846 u n d der C o l l e c t i o n des économistes, Paris 1910 ff. 29 H i e r k o m m e n D r o i t naturel u n d die Maximes générales i n Betracht. 30 Correspondance avec J. Β . Say u n d O r i g i n e et progrès d'une science nouvelle, Ausgabe v o n A . D u b o i s , Paris 1910. D u p o n t de N e m o u r s w a r

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han 32 — wie übrigens auch in dem, alle Äußerungen Lockes über den Despoten wiederholenden Système social Holbachs 33 — der Grundgedanke, der sich aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen die historischen intermediären Gewalten und dem gemeinsamen Glauben an die Macht einer aufgeklärten Bürokratie ergibt: durch natürliches, d. h. rationalistisch-abstraktes Denken läßt sich eine allgemein gültige politische und soziale Ordnung und Gerechtigkeit entwickeln, die von Staats wegen durchgeführt werden muß. Obwohl die Physiokraten die staatlichen Eingriffe in Handel und Gewerbe für schädlich halten, scheint ihnen eine starke Monarchie und ein „wahrer", d. h. berechtigter und intelligenter Despotismus unentbehrlich, um ihre freiheitlichen Ideale und die Vernichtung der ihnen im Wege stehenden intermediären Gewalten durchzuführen. Der Staat muß sich den Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung unterwerfen, im übrigen aber vermag er alles. Als seine Hauptaufgabe soll er Aufklärung und Erziehung der Untertanen betrachten. Haben die Menschen den ordre naturel einmal erkannt, so ergibt sich alles Weitere von selbst. Bis dahin freilich ist die Herrschaft einer aufgeklärten Autorität notwendig, die das Werk der Erziehung des Volkes nötigenfalls mit Zwangsmitteln vollendet und deren Zwangsmaßnahmen durch den Zweck der Erziehung gerechtfertigt sind 34 . Sind dann die Menschen zum Gebrauch ihres Verstandes erzogen, so bildet sich eine aufgeklärte öffentliche Meinung, die besser als jede andere formierte Instanz die Regierung kontrolliert. Ein Mann von der intellektuellen und praktischen Bedeutung Turgots spricht den corps particuliers jede Existenzberechtigung innerhalb des Staates ab, wenn es sich um die utilité publineben dem ältern Mirabeau u n d Baudeau Herausgeber der Ephémérides d ' u n citoyen (1772f.), die M a b l y neben dem B u c h v o n Mercier de la Rivière als wichtigstes D o k u m e n t des desopotisme légal behandelt. 31 Première i n t r o d u c t i o n à la philosophie économique 1767, Ausgabe v o n A . D u b o i s , Paris 1910. 32 Œuvres philosophiques et litéraires, H a m b u r g 1795; Senac war ebenfalls maître des requêtes u n d Intendant. 33 Système social o u principes naturels de la morale et de la p o l i t i q u e (1773); auch hier ist der Souverän das H a u p t , das alle Triebkräfte des politischen Körpers i n Bewegung setzt, I I c. 7, 10. 34 Das ideale L a n d ist C h i n a m i t seiner Bürokratie gelehrter Mandarine. A u c h die Regierungsmethoden Peters des G r o ß e n u n d Katharinas I I . werden gerühmt. Schon Voltaire hatte Rußland gegen Montesquieu verteidigt u n d den V o r w u r f des Despotismus zurückgewiesen, allerdings w o h l nicht n u r aus sachlichen G r ü n d e n , sondern auch aus persönlichen R ü c k sichten auf Katharina I I . — Beispiele für die Idealisierung Chinas zu einer aufgeklärten Despotie bei Fr. Andreae, C h i n a u n d das achtzehnte Jahrhundert, Festgabe für Schmoller, Berlin 1908, S. 184 f.; ferner Tocqueville, A n cien régime I I , cap. 3.

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que handelt, die das höchste Gesetz ist und nicht mit dem abergläubischen Respekt vor irgendwelchen Uberlieferungen balanciert werden darf. Die konsequente Formulierung und den Namen erhielt diese Staatsauffassung durch Le Mercier de la Rivière in dem Buch L'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques 35 . Er entwickelt das System eines despotisme légal aus allgemeinsten Vernunftsprinzipien. Die Vernunft diktiert. Ihr Despotismus hat nicht den Zweck, die Menschen zu Sklaven zu machen, sondern im Gegenteil ihnen wahre Freiheit und „culture" zu bringen. Durch diesen Zweck unterscheidet sich der despotisme légal vom despotisme arbitraire. Aber es bleibt trotzdem ein pesönlicher Despotismus, nämlich desjenigen, der die evidente Wahrheit erkennt. Wer die richtige, natürliche und wesentliche Einsicht hat, darf gegenüber jedem, der sie nicht hat oder sich ihr verschließt, Despot sein. Das wichtigste Hindernis für die Herrschaft der Vernunft sind natürlich auch für Mercier die menschlichen Leidenschaften. Sie müssen daher nötigenfalls mit Gewalt unterjocht werden, weil das Recht, Gesetze zu diktieren (de dicter les lois), für sich allein, ohne physische Gewalt, nicht ausreicht, um sie wirklich durchzusetzen. Darum ist auch die Trennung von Legislative und Exekutive verwerflich und überdies sinnlos. Naturnotwendig stellt sich auf die Dauer immer das Ubergewicht der einen oder der andern von den zu balancierenden Gewalten heraus. Die Lehre von den Gegengewichten, den „contre-forces", ist eine Chimäre. Dieter les lois positives, c'est commander, und dazu gehört eben die force publique, ohne die jede Gesetzgebung ohnmächtig ist. Aufhebung der Teilung der Gewalten ist die staatsrechtliche Begriffsbestimmung der „Despotismus". Im Interesse einer durchgreifenden Aktion werden alle entgegenstehenden Hemmungen beseitigt und wird eine unwiderstehliche Macht, eine autorité irrésistible, geschaffen. Das große Wort dieser Gedankenwelt ist Einheit: une seule force, une seule volonté, eine Einheit von Evidenz, Macht und Autorität, deren Despotismus auf der Erkenntnis der wahren Gesetze sozialer Ordnung beruht, bei dem infolgedessen das wahre Interesse des Souveräns mit dem wahren Interesse der Beherrschten gleich ist und die Macht des Despoten umso größer sein darf, je weiter sich die Aufklärung verbreitet, weil dann mit der öffentlichen Meinung von selbst die Korrektur eintritt. Legaler Despotismus bedeutet also nicht etwa einen an positive Gesetze gebundenen Despotismus, sondern eine äußerst zentralisierte politische Macht, die den Ubergang zu einem Zustand bewirkt, in dem die natürlichen Gesetze von selbst herrschen und deren Rechtfertigung die Evidenz des Vernünftigen ist 36 . 35 L o n d o n / Paris 1910, S. 122 f.

1767, Kap. X X I f., Ausgabe v o n E. Depitre, Paris

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Diese Diktatur der Vernunft beruht auf einer Unterscheidung zwischen dem aufgeklärten Philosophen und dem aufzuklärenden Volk, die es verhinderte, daß man eine den Gedankengängen jener Zeit an sich naheliegende Konsequenz zog und die naturrechtliche Ableitung aller staatlichen Befugnisse aus dem Willen des Volkes so auffaßte, als beruhte die absolute Gewalt des Einzelherrschers auf einer förmlichen Übertragung durch das Volk. Weil der große historische Präzedenzfall, die lex regia, durch die den Caesaren die Macht übertragen war, bei Caesar die Form einer dauernden Diktatur trug, hätte der Herrscher als Diktator erscheinen können. Das kommt im achtzehnten Jahrhundert allerdings nicht systematisch, aber doch gelegentlich zum Ausdruck in dem (1788 anonym erschienenen) Mémoire pour le peuple français von Cérutti, dem Mitarbeiter des jüngern Mirabeau. Die Schrift sucht eine Verbindung von Demokratie und Königtum gegen die privilegierten Klassen und macht den Monarchen zum „dictateur perpétuel et héréditaire de la République" 37 . Auch bei den Vertretern radikaler ökonomischer und sozialer Gleichheit herrscht die Überzeugung, daß die bestehenden intermediären Gewalten und daß überhaupt politisch organisierte Ständeoder Klasseninteressen eine starke Zentralgewalt notwendig machen. Damit verbindet sich der Glaube an den Staat und die unbegrenzte Möglichkeit politischer Mittel. Die erste politische Schrift, die bewußt von dem Satze ausgeht, daß der Mensch von Natur gut und nur durch die bestehende Eigentumsordnung und die sozialen und staatlichen Verhältnisse verdorben ist, Morellys Code de la Nature (1755 38 ), läßt im Idealstaat „chefs" von „départements" tätig werden, die mit „absoluter Befehlsgewalt" in dringenden Fällen tun, was sie für gut halten, und die in Wahrheit nur ideale Intendanten sind. Bei Morelly ist der Despotismus ein Mittel, den Idealzustand der Gleichheit zu verwirklichen. Der Staat ist wie bei den aufgeklärten Philosophen der allmächtige Pädagoge und der Jesuitenstaat in Paraguay ein Beispiel dafür, daß das platonische Ideal eines kommunistischen Philosophenstaates tatsächlich realisiert werden kann. M ably dagegen kennt eine Theorie der „Gegengewichte", die einen solchen Absolutismus unmöglich macht. Auch 36

O r d r e naturel et essentiel I, c. X X I V : Euclide est u n véritable despote et les vérités géométriques q u ' i l nous a transmises sont des lois véritablement despotiques. L e u r despotisme légal et le despotisme personnel de ce Législateur n'en f o n t q u ' u n , celui de la force irrésistible de l'évidence ( D e pitre p. 142). 37 p. 70 (Exemplar der Staatsbibliothek Berlin); p. 15 u. 47: D e r K ö n i g als mandatar der N a t i o n gegen den „despotisme de la classe d o m i n a n t e " . 38 Ausgabe v o n Ed. Dolléans, Paris 1910; die i m T e x t erwähnte Stelle p. 98.

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er weiß, daß nur eine starke Monarchie die Herrschaft einer „classe" oder einer Partei beseitigen kann. Er möchte auch diesen starken Staat benutzen, um die allgemeine Gleichheit zu schaffen, die Herrschaft von Habgier und Herrschsucht, d. h. das Privateigentum beseitigen und den état corrompu der Gegenwart dem état de la nature wenigstens anzunähern. Das ist nach ihm nur möglich bei einer richtigen Betrachtung der menschlichen Natur und ihrer Leidenschaften. Doch ist das politische Mittel nicht einfach die Diktatur der dem Diktator evidenten Richtigkeit. Gegen das Buch des Mercier de la Rivière und sein System eines despotisme légal hat er sich in eingehenden Ausführungen gewandt 39 . Vor allem zweifelt er an der den Philosophen so von selbst verständlichen Kraft der Philosophie. Ihm ist die diktierende Evidenz durchaus nicht evident. Die Philosophen irren, wenn sie meinen, jene Evidenz sitze wie ein Gott in der Maschine (un dieu dans sa machine) und dirigiere. Der Mensch ist kein Engel, der darauf wartet, die Wahrheit zu hören. Wieder entfaltet sich hier alles, was die klassische Lehre über das Verhältnis der Affekte zum Verstand überliefert hatte: die Leidenschaften verwirren die Menschen und sind oft beredter als die philosophische Wahrheit. Mably zieht daraus die ebenfalls jener Tradition nicht unbekannte Folgerung, daß die schlechten Affekte deshalb das Privateigentum stützen und erhalten. Aber hier tritt eine entscheidende Umkehrung ein. Die absolutistische Lehre von der natürlichen Bosheit der Menschen wird dadurch erschüttert, daß ja auch die regierenden Menschen infolgedessen natürlicherweise von Leidenschaften und Unwissenheit beherrscht sind. Demnach kommt es gerade darauf an, gegen sie Hemmungen und Garantien zu schaffen, und das soll durch eine richtige Verteilung der politischen Funktionen geschehen. I l s'agit d'établir des contre-forces entre les magistratures pour qu'on ne soit pas la victime de l'ignorance et des passions des magistrats. Die politische Bedeutung dieser Umkehrung der absolutistischen Lehre von der natürlichen Bosheit der Menschen, die Mably hier ausspricht, geht insofern Rousseau vorher, als der Contrat social Rousseaus, der 1762 erschien, noch nichts von seiner später durch ihn berühmt gewordenen Lehre von der natürlichen Güte der Menschen enthält. Aus der Umkehrung, wie sie sich bei Mably ausspricht, folgt die Auffassung, daß Regierung und Staat notwendige und daher auf ein Minimum zu beschränkende Übel sind. Bei den Amerikanern zeigt sich das am offensten. Thomas Paine spricht einen Satz aus, der ganz dem Geist des nordamerikanischen Liberalismus entspricht, 39 Doutes proposés aux philosophes économistes sur l'ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, Œuvres (Ausgabe Paris 1 7 9 4 / 9 5 ) : t. X I . D i e vorher zitierte Stelle über die Aufgabe des Gesetzgebers t. I X , p. 92, 115, 240.

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aber so formuliert ist, daß er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen könnte, als man Gesellschaft und Staat unterschied und im Staat einen der organisch wachsenden Gesellschaft auferlegten mechanischen Apparat sah: die Gesellschaft (society) ist das Produkt des vernünftigen Zusammenlebens der Menschen, ihrer Bedürfnisse und deren Befriedigung, der Staat (er sagt natürlich die Regierung [government]) ist das Produkt unserer Laster 40 . Soweit geht Mably noch nicht. Aber gegenüber der Staatsgewalt hat er dasselbe Bestreben wie die Amerikaner: ein System gegenseitiger Kontrollen und Abhängigkeiten, die sogenannte Teilung der Gewalten, durchzuführen. Rom, England (dieses freilich nur unvollkommen), das Deutsche Reich, die Niederlande, die Schweiz, vor allem aber Schweden, sind Beispiele solcher Balancierung der Gewalten. Doch besteht nach Mably immer Gefahr, daß der jeweilige Inhaber der tatsächlichen Machtmittel des Staates, die Exekutive, wie er ihn nennt, aus natürlicher Machtgier die andern Gewalten zu überwältigen sucht. Gewiß, auch die unmittelbare Demokratie ist ein Despotismus, das Volk ist unwissend, und seine Herrschaft zerstört sich selbst in Anarchie, in deren Folge dann wieder Magistrate mit außerordentlichen Befugnissen nötig werden. Aber das Wichtigste ist doch das Mißtrauen gegen die Exekutive. Mably versteht und billigt sogar den Kampf gegen die Kommissare des Königs, die Intendanten, die „bachas" ihrer Provinzen und macht dem Jesuitenstaat den Einwand, daß die Jesuiten richtiger gehandelt hätten, wenn sie die Indianer zur Selbstregierung erzogen hätten, damit sie sich selbst die Behörden für eine ökonomische Verwaltung der Republik aus ihrer Mitte hätten wählen können 41 . Dem Einheitsfanatismus der philosophischen Ökonomisten, ihrer unité de force et de volonté, stellt er die Frage, ob sich ein Philosoph einbilden könne, eine politische Einheit entstehe, wenn der Grundbesitz und die gesamten Lebensbedingungen ungleich sind und die politische Macht nur dazu dient, diese Ungleichheit zu erhalten 42 . Die 40

C o m m o n Sense (1776) Kap. I. Œuvres t. X I , p. 8 u n d 230; für die vorher zitierten Äußerungen M a blys: X I 235, I X 183, X V 154, 224. 42 Œuvres I V , S. 296. M a n k ö n n t e bei solchen Äußerungen M a b l y s ebenso w i e bei andern, die dahin gehen, daß politische Reformen zwecklos sind ohne A u f h e b u n g des Privateigentums als des eigentlichen M a c h t m i t tels der Ungleichheit, an die marxistische K o n s t r u k t i o n des Staates denken. A b e r der Unterschied bleibt doch, auch ganz abgesehen v o n dem spartanischen Gesellschaftsideal M a b l y s , deshalb wesentlich, w e i l M a b l y aus seinem abstrakten Rationalismus nicht herausgeht. Das größte H i n d e r n i s für die richtige Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft ist für i h n die M e t h o de, die i m m e r m i t den subalternen Elementen (parties subalternes) wie H a n d e l , Finanz, Krieg, Polizei, Geschäfte beginnt. D i e richtige U n t e r s u chung dieser Elemente bleibt nach M . abhängig v o n vorgefaßten P r i n z i 41

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freie Selbstregierung der Bürger besteht in ihrer Beteiligung an der Legislative. Die Exekutive muß immer wieder geteilt werden nach den verschiedenen Zweigen der Verwaltung, weil sonst eine Anhäufung der Kräfte entsteht, ein magistrat universel, d. h. ein Despot. Regelmäßige Kontrolle der Regierung durch besondere Kommissionen der Legislative ist notwendig; es wird sogar ein periodisch wiederkehrendes „Reformjahr" empfohlen, in dem eine besonders strenge Kontrolle ausgeübt wird. Daß die Instanz, welche die Kontrolle ausübt, in demselben Augenblick, in dem die Kontrolle effektive Zweckkontrolle wird, sich in eine Exekutive verwandelt und dann wiederum die despotische Machtanhäufung eingetreten ist, die verhindert werden sollte, hat Mably anscheinend nicht bemerkt. Aber die aufs stärkste von ihm beeinflußte Praxis der Jakobiner hat den Beweis durch die Praxis erbracht. Die Feindschaft gegen die Exekutive ist von Mably auf die Französische Revolution übergegangen. Unter Berufung auf ihn erklärte Robespierre am 18. Mai 1790 in der konstituierenden Versammlung, daß nur die Legislative über Krieg und Frieden entscheiden dürfe, weil sie das geringste Interesse daran habe, ihre Macht zu mißbrauchen, wohl aber sei der König zu solchem Mißbrauch geneigt, armé d'une puissante dictature, qui peut attenter à la liberté. M i t Kontrollaufgaben beginnt die Tätigkeit der Kommissare des Nationalkonvents, d. h. die tatsächliche Einmischung der Gesetzgebung in Einzelheiten der Exekutive. N u r durch den Zweck beherrscht, einen bestimmten Erfolg zu garantieren, dehnt sie sich von der Überwachung aus zur völligen Absorbierung der überwachten Tätigkeit. Aber auch damit entsprechen die Jakobiner nur einem Ratschlag Mablys, der in den Droits et devoirs des citoyens 1756 gesagt hatte, während einer Revolution müßten die Repräsentanten des Volkes die Leitung der Geschäfte vollständig an sich reißen und die Exekutive selbst in die Hand nehmen. So ist das, was man später als jakobinische Diktatur des Nationalkonvents bezeichnet hat, schon bei Mably angedeutet. Den Namen Diktatur behält er allerdings noch dem römisch-rechtlichen Institut vor, über welches damals stereotype Wendungen wiederholt wurden, wie sie der Artikel in der Enzyklopädie zusammenfaßt: außerordentliche Verhältnisse verlangen außerordentliche Mittel, während der Diktatur schweigen die Gesetze, die Macht des Diktators wird durch zeitliche Begrenzung kompensiert usw. 43 Mably sagt aber vom Diktator, er sei pien, nach denen sich das Material bewußt oder u n b e w u ß t gruppiert. D i e se Prinzipien sind rein z u erfassen, nicht aber darf man i n den Détails herumkriechen (ramper dans les détails). 43

Encyclopédie t. I V (2. A u f l . , 1759), p. 7 9 4 / 9 5 , A r t . Dictature v o m Chevalier de Jaucourt. D i e W e n d u n g , daß die Gesetze reden oder schweigen, war damals besonders beliebt. Sie findet sich z. B. bei M o n t e s q u i e u 8 C. Schmitt, Die Diktatur

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mehr als ein König, denn mit seinem Amt hätten die Funktionen aller übrigen Magistrate aufgehört. Machiavelli hatte gerade darin, daß die Magistrate bestehenbleiben, eine Garantie gegen Mißbrauch der Diktatur gesehen. Die Auffassung der Diktatur bei Mably zeigt dagegen schon den Übergang zu einem neuen Begriff der Diktatur. Sie wird zu einer absoluten Vollmacht, vor der alle bestehenden Zuständigkeiten verschwinden. Bei ihr ist nicht mehr, wie bei der üblichen kommissarischen Diktatur, vom Oberbefehl über den Krieg oder der Niederschlagung eines Aufruhrs die Rede. Mably sagt zu ihrer Begründung, daß sie eintreten müsse, weil die Gesetze sich allmählich abnutzen und die Korruption allzu groß wird. Ihm erscheint der Diktator offenbar als eine Art Reformationskommissar mit unbegrenzten Vollmachten gegenüber der gesamten konstituierten staatlichen Organisation. Verbindet man das mit der erwähnten Äußerung Mablys, daß während der Revolution die Repräsentanten des Volkes die Exekutive selbst in die Hand nehmen müssen, so ist das bereits die neue im Namen des Volkes ausgeübte Diktatur des Nationalkonvents, d. h. keine kommissarische Reformationsdiktatur mehr, sondern eine souveräne Revolutionsdiktatur. Wie in manchem andern ist Rousseau auch hier nicht so unmittelbar aktuell wie Mably. Dafür ist seine Konstruktion der Diktatur, wenn man seine Andeutungen in den Zusammenhang des gesamten Contrat social bringt, aus einem andern Grund ein Anzeichen des neuen Begriffes der Diktatur. Rousseau hat ein eigenes Kapitel des Contrat social (IV. Buch, cap. 6) der Diktatur gewidmet. Darin sind zunächst eine Menge überlieferter Dinge wiederholt, so daß für eine oberflächliche Betrachtung gerade dies Kapitel am wenigsten Neues enthält. Das ändert sich aber bei einer systematischen Untersuchung. Nicht so sehr wegen der oft übertriebenen Wirkung der „Bibel der Jakobiner" auf die Französische Revolution als wegen des sachlichen Inhaltes, der sich in den Aphorismen Rousseaus andeutet, ist eine eingehende Erörterung notwendig. A n dem widerspruchsvollen Buch läßt sich am besten zeigen, wie kritisch die Situation des kontinentalen Individualismus war und wo der Punkt ist, an dem er in den Staatsabsolutismus und seine Forderung der Freiheit in die des Terrors umschlägt. Gierke (Althusius, S. 116) sagt, Ausgangspunkt und Ziel des Contrat social sei die Freiheit des Individuums. Der Ausgangsi n dem Satz, daß der Richter der M u n d des Gesetzes sei, ferner i n der Ä u ß e r u n g Friedrichs I I . v o n Preußen: je me suis résolu de ne jamais troubler le cours de procédure: c'est dans les tribunaux o ù les lois doivent parler et o ù le souverain d o i t se taire ( A c t . Bor., Behördenorganisation, I X , 329). Ü b e r die D i k t a t u r der R ö m e r bei M a b l y : Observations sur les Romains, Œuvres I V , p. 296, 338 (über die dictature perpétuelle des Sulla).

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punkt ist allerdings eine unbedingte, natürliche, unveräußerliche Freiheit des einzelnen; das Ziel vorgeblich auch. Ein Staat soll geschaffen werden, in welchem es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, bei dem der einzelne nicht das geringste von seiner Freiheit opfert. M i t großer Geste wird im Contrat social eine große Spannung erregt und die Antwort auf eine ungeheure, bisher nie beantwortete Frage in Aussicht gestellt: trouver une forme d'association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé et par laquelle chaqun s'unissant à tous, n'obéit pourtant qu'à lui-même et reste aussi libre qu'auparavant (I 6). Die Antwort freilich, die gegeben wird, ist an sich nicht überraschend: wenn jeder sich nur auf Grund seines freien Einverständnisses mit den andern vereinigt, so gehorcht er nur sich selbst und bleibt so frei als wie zuvor; dabei versteht sich aber von selbst, daß Freiheit nicht Ungebundenheit sein darf, sonst wäre ein Zusammenleben nicht möglich. Das Wesentliche soll immer sein, daß der einzelne nur sich selbst gehorcht. Daher muß der Grundkontrakt einstimmig geschlossen werden, im übrigen kann die Mehrheit immer die Minderheit verpflichten (IV 2 ) 4 4 . Bei Locke war das ebenfalls die entscheidende Rechtfertigung des Staates: jede staatliche Entscheidung ist infolge meines Konsenses zum Staat meine eigene Entscheidung, der Majorität habe ich mich unterworfen (civ. gov. V I I § 38). Rousseau scheint aber den Individualismus Lockes noch zu überbieten, weil es für ihn keine Vertretung des freien Gesamtwillens gibt. Das englische Volk ist nicht frei, weil es von einem Parlament regiert wird, statt sich selbst zu regieren ( I I I 155). Der souveräne Wille des Volkes kann ebensowenig wie das Volk selbst repräsentiert werden. So löst sich die Gebundenheit des Individuellen, wie sie in ständischen und andern intermediären Körperschaften besteht, völlig auf. Der einzelne scheint endlich ganz und unbedingt frei zu werden und steht nur und unmittelbar dem Gemeinwillen gegenüber. In der Konstruktion des Staates formuliert sich das so, daß der Staat nicht mehr durch die Unterwerfung unter irgendeine Macht und einen Vertrag mit dieser Macht, den Herrschaftsvertrag, begründet wird, sondern der pacte social enthält nur eine Einigung. Die Staatstheorien, die mehrere Verträge, Einigung und Unterwerfung, kombiniert hatten, wie die von Pufendorf, verschwinden vor der einfachen Logik des einfachen Vertrages, der bei Hobbes nur Unterwerfungsvertrag, bei Rousseau nur Einigungsvertrag ist. Das Resultat ist in beiden Fällen zunächst, daß der Einzelne und der Staat einander unmittelbar gegenüberstehen. Die individualistische Ableitung des Staates erreicht da44

I m folgenden bezeichnet die römische Ziffer i n den K l a m m e r n das Buch, die arabische das Kapitel u n d die k l e i n gedruckte arabische Ziffer den A b s c h n i t t des Kapitels des C o n t r a t social. 8::"

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durch ihre höchste Konsequenz. Tatsächlich hat die Theorie Rousseaus zu der Umwandlung Frankreichs in den liberalen Bürgerstaat entscheidend beigetragen. Aber in dem System liegt eine andere weitere Konsequenz. Sie betrifft die prinzipielle Bedeutung des einzelnen im Staat. Welche unendlichen Gegensätze innerhalb der sogenannten naturrechtlichen Systeme möglich sind und wie oberflächlich die übliche Zusammenfassung unter einem einzigen Namen ist, wurde bereits erwähnt (oben S. 22). A n dieser Stelle zeigt der Gegensatz seine weiteste Konsequenz. Der Ausgangspunkt der naturrechtlichen Konstruktion, das Individuum, ist bei den verschiedenen Naturrechtslehrern etwas ganz Verschiedenes. Bei dem an sich formalen Charakter der Ausgangsbestimmung hängt das politische Ergebnis davon ab, wieweit dem individualistischen Ausgangspunkt ein substantieller Inhalt gegeben wird. Der größte Gegensatz, der überhaupt in einer Staatslehre bestehen kann, tritt hier innerhalb des Naturrechts auf. Es gibt ein Naturrecht, in welchem der Einzelne eine unabhängig von jeder sozialen Organisation und Form konkret existierende Realität, daher das prinzipiell Unbegrenzte gegenüber dem Staat als dem prinzipiell Begrenzten ist; und ein anderes Naturrecht, welches diese Beziehungen umkehrt. Für das wissenschaftliche Naturrecht des Hobbes ist der einzelne Mensch ein Energiezentrum und der Staat die im Wirbel solcher Atome entstehende, die Einzelheit verschlingende Einheit, der Leviathan. Das Gerechtigkeitsnaturrecht dagegen bewahrt, wenn auch in humanisierender Abschwächung, einen Individualitätsbegriff, der rationalistisch gar nicht erfaßt werden kann, der aus dem christlichen Naturrecht überliefert wurde und im puritanischen Christentum seine höchste Steigerung gefunden hat. Hier ist jeder einzelne ein über jede rationale Ableitung und Erklärung und daher über jede Begrenzung und Zuweisung, über jede Rationierung seines Wertes erhabener Träger der unsterblichen, von Gott geschaffenen und erlösten Seele. Hier können wohl Staat und Gesellschaft rationalisiert werden, ja diese prinzipielle Irrationalität des einzelnen macht den Weg frei für die restlose Rationalisierung des Sozialen, aber das Verteilungsprinzip zwischen dem, was prinzipiell begrenzt und dem, was prinzipiell unbegrenzt ist, bleibt unbedingt klar. Der Staat, der prinzipiell Begrenzte, ist eine rationale Konstruktion, der einzelne das substantiell Gegebene. In Lockes wenig systematischen und mit seiner Metaphysik schwer zu vereinbarenden Äußerungen ist die Wirkung, die vom puritanischen Christentum ausgegangen ist, noch stark genug, um die konkrete und substantielle Individualität mit allen ihren vorstaatlichen Rechten, Freiheit und Eigentum, über jeden Zweifel zu erheben. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Konsequenz, die Hobbes suchte, zwang ihn, von

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allem konkret Inhaltlichen zu abstrahieren. Dadurch wird auch das Individuum seiner konkreten Individualität beraubt, aber — und hier liegt derselbe systematische Gedankengang vor wie bei Spinoza, wenn bei ihm das Individuum ein Nichts, das Universum aber ein Ganzes ist — das Ganze, der Leviathan, wird zum substantiellen Träger alles Rechts. Rousseaus Formel lautet nun so: jeder von uns stellt seine Person und sein ganzes Vermögen gemeinschaftlich unter die souveräne Leitung des Gesamtwillens, dafür wird er als unteilbares Glied des Ganzen von der Gemeinschaft aufgenommen (chaqun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout, 1 6 1 0 ). Die Ähnlichkeit dieser Formel mit der von Hobbes (de cive V 7) ist oft bemerkt worden, man hat sie sogar einen wörtlichen Abklatsch genannt, in dem nur an die Stelle des Souverains, des Leviathan, die volonté générale gesetzt sei (Atger, p. 286). So sehr die Ausgangspunkte Rousseaus individualistisch sein mögen, es kommt also doch darauf an, was aus dem von den Individuen gebildeten Ganzen wird, ob dieses alle soziale Inhaltlichkeit absorbiert und das prinzipiell Unbegrenzte wird oder ob dem einzelnen eine konkrete Substanz verbleibt. Rousseau nennt die aus dem Sozialkontrakt entstehende Gesamtheit ein gemeinsames „Ich" mit eigenem Leben und Willen, das alles, was jeder Einzelne besitzt, restlos empfangen hat, um es ihm wiederzugeben, damit er es dadurch zu Recht besitze (I 6), und das infolgedessen eine absolute Gewalt, ein pouvoir absolu (II 4 1 ), über alle einzelnen hat, wie der Mensch absolute Gewalt über seine Gliedmaßen. Der Souverän kennt keinen einzelnen als solchen (II 4 8 ). Vor ihm ist alles nivelliert. Jede soziale Gruppierung innerhalb des Staates, jede Partei und jeder Stand ist als solcher unberechtigt, man muß dem Menschen seine ganze Existenz, alles Leben und alle Kraft nehmen, um sie ihm vom Staate aus wiederzugeben (II 7 3 ). Alles, was die unité sociale fordert, ist berechtigt, mag es auch die religiöse Überzeugung betreffen (IV 8 1 7 ), jede andere Abhängigkeit als die vom Staat ist etwas, was man dem Staate genommen hat (II I I 1 ) . Entschieden wird aber die Frage, ob das gemeinsame staatliche Ich eine die Individuen absorbierende Bedeutung erhält, mehr als durch solche Äußerungen durch die Idee der volonté générale, deren Träger kein einzelner, sondern die umfassende Einheit ist. Die volonté générale ist der wesentliche Begriff der staatsphilosophischen Konstruktion Rousseaus. Sie ist der Wille des-Souveräns und konstituiert den Staat als eine Einheit. In dieser Eigenschaft hat sie begrifflich eine Qualität, durch die sie sich von jedem partikulären Einzelwillen unterscheidet: bei ihr fällt das, was ist,

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mit dem, was richtigerweise sein soll, immer zusammen. So wie Gott Macht und Recht in sich vereinigt und seinem Begriffe nach das, was er will, immer gut und das Gute immer sein wirklicher Wille ist, so erscheint bei Rousseau der Souverän, d. h. die volonte générale als etwas, was durch seine bloße Existenz immer schon ist, was es sein muß: le souverain par cela seul qu'il est, est toujours tout ce qu'il doit être (I 7 5 ). Die volonté générale ist immer Recht (droite, I I 6 1 0 ), sie kann nicht irren ( I I 3), sie ist die Vernunft selbst, von der sie mit derselben Notwendigkeit bestimmt wird, wie in der physischen Welt das Naturgesetz herrscht ( I I 4 4 ). Sie ist unvergänglich, unveränderlich, rein (IV 1). Dagegen ist der Einzelwille, die volonté particulière oder individuelle, als solche null und nichtig ( I I I 2 6 ). Ein partikulärer Akt, ein partikulärer Wille, ein partikuläres Interesse, jede partikuläre Abhängigkeit ( I I I I 1 ) , jede partikuläre Kraft und partikuläre Sorge ( I I I 15 ) ist an sich bedeutungslos vor der Einheit und Hoheit des Generellen. Partikulär ist, wie bei Hobbes das Wort privat, beinahe ein Schimpfwort. Die volonté générale wird zu göttlicher Würde erhoben und vernichtet jeden Sonderwillen und alles Sonderinteresse, das ihr gegenüber nur wie ein Diebstahl erscheint. Die Frage nach den unveräußerlichen Rechten des Individuums und einer dem Eingriff der souveränen volonté générale entzogenen Freiheitssphäre kann darum gar nicht mehr erhoben werden. Sie wird durch die einfache Alternative beseitigt, daß das Individuelle entweder mit dem Generellen übereinstimmt und dann wegen dieser Übereinstimmung einen Wert hat oder daß es nicht übereinstimmt und dann eben null und nichtig, böse, korrupt und überhaupt kein beachtlicher Wille im moralischen oder rechtlichen Sinne ist. Die Teilung der Gewalten und die pouvoirs intermédiaires hatten den praktischen Zweck, die Macht des Staates in einem System hemmender und sich gegenseitig abgrenzender Zuständigkeiten zu brechen und dadurch die Freiheit des einzelnen zu schützen. Vor der volonté générale, die allein die ganze Würde wahrer Realität besitzt, wäre es sinnlos, von einer Teilung zu sprechen. Rousseau erledigt das mit dem Witz von den japanischen Zauberkünstlern, die ein Kind erst zerschneiden und dann wieder als Ganzes erscheinen lassen. Zwar steht auch er unter der suggestiven Wirkung des Bildes von der balance (I 8 2 , I I 6 1 0 , I I I 8 1 0 , IV 6 3 ). Aber die Souveränität selbst ist über solche Theorien erhaben. Die Regierung oder Verwaltung kann nichts anderes sein als der Vollzug der volonté générale. Darin allein liegt ihre Rechtfertigung. Die gesamte Tätigkeit der Exekutive wird in das einfache Verhältnis zum generellen Rechtssatz gebracht wie bei Locke, nur geht Rousseau auf die auswärtigen Beziehungen, deren Beachtung Locke zu der Konstruktion eines federative power veranlaßt hatte, leider nicht ein ( I I I 15 12

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Anm.). Die Regierung (le gouvernement oder le Prince) hat die Gesetze zu vollziehen, sie ist die Macht, die den Willen des Gesetzes in die Tat umwandelt, der A r m des Gesetzes, la force appliquée à la loi ( I I I 158). N u r die volonté générale, die Gesetzgebung ist ihrer Natur nach unveräußerlich Sache des Volkes, dagegen kann die Exekutive einem einzelnen, mehreren oder ebenfalls der Gesamtheit zustehen. Danach, also nach seiner Regierungsform, ist der Staat Monarchie, Aristokratie oder Demokratie ( I I 1). Innerhalb einer monarchisch gestalteten Exekutive gibt es dann auch ordres intermédiaires, wie den Adel, der in einem großen Staat nützlich sein kann ( I I I 6 5 ). Die einzelnen Attribute, die Rousseau der volonté générale zuspricht, Richtigkeit, Unzerstörbarkeit, moralische Reinheit, verbinden sich mit andern notwendigen Voraussetzungen und geben ihr eine vielseitige Bedeutung. Sie ist zunächst hinsichtlich ihres Subjekts allgemein: als Wille der Gesamtheit geht sie von allen aus (eile part de tous). Das bedeutet nicht, daß der Gesamtwille die Summe aller einzelnen Privatwillen ist; er kann das nicht sein, weil er seinem Begriff nach zu allem Privaten im Gegensatz steht, er ist etwas, das jeder, aber nicht als Privatmann, sondern als Bürger hat (I 7 7 , I I 4). Der Gesamtwille ist ferner allgemein wegen seines Zieles: er bezweckt das Allgemeine, d. h. das allgemeine Interesse, die utilité publique oder le bien général ( I I 4). Auch dieses Generalinteresse ist etwas anderes als die Summe der Privatinteressen. Bei einer richtigen Verteilung und Gleichheit der Lebenslage wird es allerdings gewöhnlich mit dem Interesse aller einzelnen zusammenfallen, wo jedoch Parteiungen und Koalitionen innerhalb des Staates Gruppeninteressen schaffen, wird der Gesamtwille entstellt ( I I 3 3 ). Der Gesamtwille ist drittens eine volonté générale in dem Sinne von generell, d. h. er kann keinen Einzelfall betreffen, keine individuellen Unterscheidungen machen, keine Sonder- und Ausnahmerechte anerkennen und keine konkrete Entscheidung geben. Hier herrscht der abstrakte Gesetzesbegriff des 18. Jahrhunderts, im Gegensatz zu der praktischen und nüchternen Bedeutung, die der generelle Charakter der Rechtsnorm bei Montesquieu hat. Sie ist universal wie das dictamen rationis, eine loi de raison, die der loi de nature genau entsprechen soll (II 4 4 ). Liegen diese Eigenschaften vor, ist der Wille sowohl in seinem Subjekt wie seinem Objekt und seinem Tatbestand generell, so ist er damit als Recht begründet und nicht nur eine allgemeine Richtschnur, eine regulative Idee, sondern das Prinzip, das den Rechtscharakter einer Anordnung erst konstituiert und aus einem bloß tatsächlichen Befehl einen Rechtssatz mit Rechtsverbindlichkeit schafft. Fehlen diese Eigenschaften, so gibt es kein Recht, und das, worauf es ankommt, nämlich die Macht zum Recht zu erheben, ist nicht erreicht und

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auch durch eine Repräsentation des Gesamtwillens nicht erreichbar. Daß eine Körperschaft als solche, ein nach irgendeinem sei es noch so demokratischen Wahlrecht gewähltes Parlament seinen Willen als den des Staates aussprechen soll, läßt sich wohl durch geschichtliche Gründe oder praktische Rücksichten erklären, aber das alles ist keine Rechtfertigung. Die volonté générale hat eben bestimmte Wertqualitäten, die vorhanden oder nicht vorhanden sind. Die Konsequenz dieses Satzes kann die Demokratie vernichten. Denn es ist zu beachten, daß die volonté générale nach dem Contrat social unabhängig von der Regierungsform ist. Es gehört zum Wesen der volonté générale, daß sie der Wille der Gesamtheit ist, aber die einzelnen Menschen können sich über ihren eigenen wahren Willen täuschen, ihr Wille kann auch von Leidenschaften beherrscht und deshalb nicht ihr freier Wille sein. Hier wird die klassische stoische Tradition auch bei Rousseau wirksam, und es zeigt sich, daß der Contrat social kein „rousseauistisches" oder „romantisches" Werk ist, d. h., daß hier die traditionelle Überordnung eines rationalen Vermögens über die irrationalen Affekte noch nicht umgekehrt ist. Der Mensch soll, nachdem er einmal korrumpiert ist, durch den Staat wieder in einen menschenwürdigen Zustand gebracht werden, jede force naturelle muß verschwinden und die moralische Existenz an die Stelle der bloß natürlichen treten ( I I 4). Wenn es also möglich ist, daß auch bei der Mehrheit der Staatsbürger der moralisch oder rechtlich betrachtet richtige Wille durch den egoistischen Affektwillen verdrängt ist, dann kann eine Minderheit oder sogar ein einziger allein den richtigen Willen haben. Rousseau kennt in Europa nur ein Land, in dem die Voraussetzungen für eine wahre Gesetzgebung vorhanden sind: Corsika (II 10 5 ' 6 ). Für die ideale Regierungsform, die unmittelbare Demokratie, gelten seltene Voraussetzungen: einfache Übersichtlichkeit aller Verhältnisse, einfache Sitten und Bedürfnislosigkeit, alles Dinge, die so selten zutreffen, daß diese vollkommene Regierungsform sich für ein Volk von Göttern, aber nicht von Menschen eignet ( I I I 4 8 ). Der Vorbehalt, der in alldem liegt und den Contrat social zu einem so mißverständlichen Buche macht, beruht darauf, daß vom Willen aller und der numerischen Einstimmigkeit die Rede ist (IV 2 8 ), vom Willen der Mehrheit und von einem Gesamtinteresse, welches man durch eine Ausbalancierung der gegensätzlichen Interessen ermitteln soll ( I I 3 2 ), daß aber trotzdem der Wille, das Interesse, das Volk, moralische und nicht einfach tatsächliche Größen sind. In einem sklavischen Volk beweist auch die Einstimmigkeit nicht, daß eine volonté générale vorhanden ist (IV 2 3 ). Ist das Volk gut, so braucht es sich nur zu erheben und seine Freiheit zu ergreifen; ist es korrupt, so bleibt seine Beziehung zum Tyrannen rein tatsächlich, und es ist gleichgültig, ob es revoltiert oder nicht, es hat kein

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Recht zur Revolution. Erst der Satz, daß das Volk, d. h. die Regierten im Gegensatz zur Regierung, von Natur, also unter allen Umständen und ihrem Begriffe nach, gut sind — ein Satz, der aus andern Schriften Rousseaus, aber nicht aus dem Contrat social entnommen werden konnte — verwandelt das ganze System des Rousseauschen Werkes mit seinen abstrakten Konstruktionen in eine revolutionäre Ideologie. Denn soviel von Freiheit gesprochen wird, diese Freiheit entspringt nicht dem praktisch vernünftigen Sicherheits- und Behaglichkeitsstreben wie bei den Engländern und bei Montesquieu, sondern trägt das moralische Pathos der vertu. N u r wer moralisch gut ist, ist frei und hat das Recht, sich als Volk zu bezeichnen und mit dem Volk zu identifizieren. Die weitere Konsequenz ist, daß nur, wer die vertu hat, berechtigt ist, in politischen Angelegenheiten mitzuentscheiden. Der politische Gegner ist moralisch korrupt, ein Sklave, der unschädlich gemacht werden muß. Stellt sich heraus, daß die Mehrheit der Korruption verfallen ist, so kann die tugendhafte Minorität alle Gewaltmittel anwenden, um der vertu zum Siege zu verhelfen. Der Terror, den sie ausübt, ist nicht einmal Zwang zu nennen, er ist nur das Mittel, dem unfreien Egoisten zu seinem wahren eigenen Willen zu verhelfen, den citoyen in ihm zu wecken. Der Contrat social, der die unmittelbare Selbstherrschaft des freien Volkes als unveräußerliches Recht zum Grundaxiom gemacht hatte, diente so zur Rechtfertigung einer Diktatur und lieferte die Formel für den Despotismus der Freiheit. Das radikalste Freiheitspathos verbindet sich mit rücksichtsloser faktischer Unterdrückung des Gegners, aber das ist eben nur eine faktische und keine moralische Unterdrückung. Der Gegensatz von Recht und Macht, der bisher vom unterdrückten Recht der herrschenden Macht entgegengehalten wurde, dient jetzt der siegenden Minderheit als Gegensatz von Recht und Majorität. Rousseau hatte sich erboten, zu zeigen, wie ein Staat möglich ist, in welchem es auch nicht einen einzigen Unfreien gibt. Die praktische Antwort war, daß man die Unfreien vernichtete. Die Rechtfertigung liegt in dem Satz, den Rousseau selbst ausgesprochen hatte: unter Umständen muß man den Menschen zwingen frei zu sein: on le forcera d'être libre (I 7 s). Diese Herrschaft der vertu nennt Rousseau nicht Diktatur. Er beschränkt das Wort in der herkömmlichen Weise auf den Begriff einer verfassungsmäßig vorgesehenen, für kurze Zeit erteilten außerordentlichen Ermächtigung zur Beseitigung einer Notlage. Die bekannten Wendungen über Diktatur kehren auch bei ihm wieder: im Interesse der sûreté und des ordre publique sind in außerordentlichen Fällen außerordentliche Maßnahmen nötig, die Gesetze dürfen nicht „inflexibles" sein, die umständlichen Formalitäten des Gesetzes werden bei dringender Gefahr schädlich, der Gesetzgeber

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muß voraussehen, daß er nicht alles voraussehen kann, kurz, die zum Teil aus der Lehre von der Epikie stammenden Sätze, die ja auch Locke wiederholt hatte. Der Diktator beherrscht (domine) das Gesetz, ohne die Gesetzgebung zu repräsentieren (IV 6 4 ), ein Satz, der deshalb auffallen muß, weil die volonté générale nach Rousseau überhaupt nicht repräsentiert werden kann; während der Diktatur „schlafen" die Gesetze, der Diktator kann die Gesetze zum Schweigen bringen, aber nicht reden machen usw. Die Ausführungen Rousseaus weisen jedoch, wenn auch in einer anderen Richtung, auf das gleiche Resultat wie die von Mably. Rousseau unterscheidet zwei Arten von Diktatur, eine eigentliche Diktatur, bei der die Gesetze schweigen, und eine andere, die darin besteht, daß die Zuständigkeit, wie sie nach den geltenden Gesetzen vorliegen, zusammengefaßt werden, also innerhalb der Exekutive eine Konzentration eintritt, ohne daß sich im übrigen an der Rechtslage etwas änderte. Diese letzte uneigentliche Diktatur soll nach Rousseau mit der berühmten Formel videant consules eingetreten sein und ist keineswegs wie die echte Diktatur ein rechtloser Raum für einen Zustand faktischer Maßnahmen. Die historischen Ansichten Rousseaus brauchen hier nicht auf ihre Richtigkeit geprüft zu werden 45 . Von Interesse ist nur, daß sich in der Unterscheidung bereits ein Gegensatz zwischen der Diktatur und dem spätem auf dem Übergang der gesamten vollziehenden Gewalt beruhenden Belagerungszustand andeutet. Der in der Regelung und Abgrenzung der Zuständigkeit liegende Rechtsschutz wird vollständig ignoriert und eine Beseitigung des gesamten Instanzenzuges und ein extrem summarisches Verfahren nicht als Diktatur angesehen, weil sich ja an der volonté générale nichts ändert, sondern nur innerhalb der Exekutive eine Beschleunigung und Verstärkung der nach wie vor dasselbe Gesetz vollziehenden Kraft eintritt. Die echte Diktatur besteht demnach nur in einer zeitweiligen Suspension des gesamten gesetzmäßigen Zustandes. Auf welcher Rechtsgrundlage dieser rechtlose Zustand beruht, ist bei Rousseau nicht klar ausgesprochen, die Gelegenheit, hier eine Dialektik des sich selbst suspendierenden Rechts zu entwickeln, hat er nicht wahrgenommen. Die volonté générale gilt ausnahmslos und generell, eine Erklärung des Inhalts, daß sie mit Rücksicht auf die Besonderheit der Sachlage für einen bestimmten Zeitraum nicht gelten soll, die Konstatierung einer konkreten Ausnahme, ist ihrer generellen Natur logisch unmöglich. Das wird der Grund sein, warum der chef suprême, der 45

I n W a h r h e i t k a m das Senatus C o n s u l t u m u l t i m u m m i t seiner Formel videant consules gerade deshalb i n Gebrauch, weil die alte D i k t a t u r nach den Abschwächungen, die sie i m Laufe der Zeit erfahren hatte, nicht mehr die intensive W i r k u n g aufbrachte, die n ö t i g war, u m in den Bürgerkriegen die bestehende M a c h t des Senates zu stützen; vgl. oben S. 3 A n m .

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mit der Sorge für die öffentliche Sicherheit beauftragt ist, die Autorität des Gesetzes suspendiert. Ein solcher Auftrag muß entweder eine generelle Delegation oder ein acte particulier sein. Wie die volonté générale sich für einen Ausnahmefall selbst suspendiert, ist rätselhaft, nicht minder aber, woher ein Exekutivorgan die Befugnis zur Suspension nehmen soll. Bei der Rigorosität, mit der daran festgehalten wird, daß die Exekutive nichts zu tun hat, als das Gesetz anzuwenden, kann ihr eine solche Befugnis niemals zustehen. Die Ernennung des Diktators ist offenbar für Rousseau ein Akt der Exekutive, aber er gibt doch eine auf die volonté générale hindeutende Erklärung, indem er sagt, es könne hier nicht zweifelhaft sein, daß die intention du peuple (die hier wohl dasselbe bedeuten soll wie die volonté générale) dahingehe, die Existenz des Staates zu schützen und seinen Untergang vermeiden. Weil nach Rousseau der Inhalt der Tätigkeit des Diktators etwas rein Faktisches ist, so hat sie mit Gesetzgebung nichts zu schaffen. Ihre rechtliche Grundlage wird nicht konstruiert, es ist aber wichtig, daß sie als eine „Kommission" bezeichnet wird. Rousseau nennt die Diktatur eine „importante commission". Der Begriff der Kommission ist eine unausgesprochene Fundamentalvorstellung der Rousseauschen Staatslehre. Sie ist der Ausdruck dafür, daß es dem Staate gegenüber nur Pflichten, aber keine Rechte gibt und daß namentlich jede Betätigung staatlicher Hoheitsrechte nur kommissarisch geschehen kann. In einer wahren Demokratie darf das Amt kein Recht oder auch nur in irgendeinem Sinne ein Vorteil desjenigen sein, der es ausübt, es muß eine charge onéreuse bleiben (IV 3 4 ). Die Regierung heißt zwar ein corps intermédiaire zwischen dem Volk als Souverän und dem Volk als Untertan ( I I I l 5 ) . Aber dies Wort wird nur als Bild für die Vermittlung der Übertragung der volonté générale auf den konkreten Fall gebraucht und soll nicht etwa eine rechtliche Selbständigkeit des vermittelnden corps gegenüber der allein befehlenden volonté générale andeuten; es wird also in ganz anderem Sinne gebraucht als bei Montesquieu. Denn gleich darauf wird betont, daß die Rechtsbeziehung, in der diese Regierung oder der Fürst zum Volke steht, durchaus kein Vertrag ist. Ce n'est absolument qu'une commission, jederzeit widerrufbar und ganz in das Belieben des Souveräns gestellt, dessen Minister, Agent, Commis der Fürst ist ( I I I l 6 ) . Daß der entscheidende Schritt in der Konstruktion Rousseaus darin liegt, daß sie den Vertrag zwischen Fürst und Volk beseitigt und nur den unter den Volksgenossen zustande kommenden Einigungs- oder Gesellschaftsvertrag, durch den sich das Volk als Einheit konstituiert, aber keinen weiteren Unterwerfungs- oder Herrschaftsvertrag zwischen Regierung und Volk annimmt, hat Gierke (Althusius, S. 92) in der Darstellung der Geschichte dieses Staatsvertragsgedankens

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hervorgehoben. Aber es kommt nicht allein darauf an, daß hier der Herrschaftsvertrag entfällt. Der Inhalt des Staatsvertrages mochte verschieden konstruiert werden, als endgültige Veräußerung oder Übertragung der Herrschaftsbefugnisse des Volkes oder als bloße Überlassung zum Gebrauch oder concessio imperii seitens des Volkes an den Fürsten oder die Regierung, immer war es doch ein gegenseitiger Vertrag, aus dem infolgedessen auch der Fürst Rechte erhielt. Nach Gierke (S. 151) besteht die Kühnheit und Originalität des Althusius darin, daß er den Souveränitätsbegriff der Absolutisten in seiner ganzen „schneidigen Schärfe" auf die Volkssouveränität übertragen hat. Dazu ist jedoch einschränkend zu sagen, daß auch bei Althusius ein contractus reciprocus bestehenbleibt, der nach naturrechtlichen Grundsätzen auch außerhalb des Staates bindend ist und gegenseitig (vicissim) Verbindlichkeiten zwischen Fürst und Volk, Mandanten und Mandatar schafft 46. Althusius spricht von der commissio regni, aber nur in dem allgemeinen Sinne einer Übertragung. Das pactum ist ein zweiseitiger, auch für den Mandatar Rechte begründender Mandatsvertrag. Daß Pufendorf die clausula commissoria heranzieht, um die beschränkte Monarchie zu konstruieren, und sagt, hier habe der Fürst gemäß dem bei Übernahme der Herrschaft geschlossenen Vertrag seine Herrschaft verloren, sobald er die Bedingungen nicht einhalte 47 , beruht ebenfalls auf dem Gedanken eines beide Teile verpflichtenden Vertrages. Selbst wenn, wie Gierke will (S. 88), ein „reiner Beamtenvertrag" anzunehmen wäre, ist das Volk naturrechtlich obligiert. Der Fürst, der sub conditione, si pie et juste imperaturus sit seine Herrschaft führt, hat, solange er wirklich pie et juste regiert, auch nach der Vorstellung des Althusius ein Recht am Amt. Bei Rousseau dagegen gibt es gegenüber dem souveränen Volk kein Recht. Wenn Rehm (Geschichte der Staatsrechtswissenschaft, S. 259) davon spricht, daß mit der Beseitigung des Herrschaftsvertrages und mit der Begründung der Stellung des obersten Staatsorgans auf einen einseitigen Staatsakt Rousseau wieder zu Marsilius von Padua und Nicolaus von Cusa zurückgekehrt sei, so verkennt er gerade das Wesentliche der von diesen Gegnern der päpstlichen plenitudo potestatis so heftig bekämpften kommissarischen Amtsausübung. Der vom Absolutismus ausgebildete, mittelalterlichen Rechtsvorstellungen und auch dem Gerechtigkeitsnaturrecht widersprechende Begriff des Kommissars wird bei Rousseau auf das Verhältnis von Fürst und Volk angewandt, nur daß umgekehrt der Fürst zum Kommissar wird. Es gibt hier keine Selbstbindung des Souveräns 46 Politica, cap. X I X (p. 329 der vierten Auflage, H e r b o r n 1625) de regni sive universalis i m p e r i i commissione. 47 D e jure nat. et gent. 1. V I I , cap. V I , § 10 (am Schluß).

III. Der Übergang zur souveränen Diktatur

durch Gesetz, nicht einmal den Beamten„vertrag" des heutigen Staatsrechts. Was das Volk tut und will, steht in seinem Belieben, wer für die Erreichung der dem Willen des Volkes entsprechenden Zwecke tätig ist, kann immer nur kommissarisch tätig sein. Es gibt weder eine Delegation noch eine Repräsentation dieses Willens, viel weniger ein Recht auf die Ausübung des Willens. Auch die Repräsentanten und Deputierten des Volkes sind, wenn es sie überhaupt gibt, nur commissaires ( I I I 155). In der Exekutive soll es Repräsentanten geben, aber die Exekutive ist nur der willenlose Arm des Gesetzes und ihrem Wesen nach ebenfalls nur commission. Was vom fürstlichen Kommissar gilt, trifft für alle diese Personen zu: ihre Repräsentation hört auf, wenn es dem Repräsentierten, den sie vertreten (vices gerunt), beliebt, selbst aufzutreten ( I I I 141). Nichts beweist den Staatsabsolutismus Rousseaus so sehr wie diese, alle seine Vorstellungen beherrschende Verwandlung der gesamten staatlichen Organtätigkeit in ein beliebig widerrufliches, unbedingt abhängiges, kommissarisches Funktionieren. Sowohl der Fürst, wie der Abgeordnete des Volkes, wie der Diktator sind also Kommissare. Der Diktator diktiert nach außen, aber weil er Kommissar ist, muß ihm (im Innenverhältnis) selbst wieder diktiert werden. N u n erscheint im contrat social noch eine interessante Figur, deren aufschlußreiche Beziehungen zu Rousseaus Begriff der Diktatur bisher allgemein übersehen worden sind: der législateur ( I I 7). Beide, Legislator wie Diktator, sind etwas Außergewöhnliches, Extraordinäres. Aber der Legislator steht nach Rousseau außerhalb und vor der Verfassung, während die Diktatur eine verfassungsmäßig vorgesehene Suspension des bestehenden Rechtszustandes ist. Der Legislator ist für Rousseau kein Kommissar. Nach dem Inhalt seiner Aufgabe ist er dasselbe wie der für das 18. Jahrhundert typische Gesetzgeber, ein weiser und erhabener Mensch, dessen „génie" die Maschine des Staates montiert und in Gang bringt. Er hat bei Rousseau eigentlich einen irreführenden Namen, denn das Wichtigste an ihm ist, daß er keine legislativen Befugnisse hat, sondern nur eine Art Gesetzesinitiative, jedoch auch das keineswegs im Sinne eines formellen Vorschlagsrechtes. Er entwirft das weise Gesetz, die Sanktion kommt nur der volonté générale zu. Rousseau sagt ( I I 7 7 ), ob das, was der Legislator entwirft, die volonté générale ist oder nicht, könne man erst dann wissen, wenn eine freie Abstimmung, also eine Art Referendum, darüber veranstaltet worden sei. Die Entscheidung liegt beim Volk, und zwar nicht nur in einem äußerlich juristischen Sinne, sondern auch die Entscheidung darüber, ob eine volonté générale mit allen ihren konstitutiven Qualitäten vorliegt. M i t besonderer Betonung hebt Rousseau das hervor. Daraus entsteht nun aber eine merkwürdige Konfusion, die Rousseau selbst als „difficulté" empfunden hat

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III. Der Übergang zur souveränen Diktatur

( I I 7 9 ): Die Menschen sind nämlich, wie er sagt, im allgemeinen egoistisch und nur auf ihren partikulären Vorteil bedacht, sie sollen erst durch dasselbe weise Gesetz gut werden, das ihrer Abstimmung unterworfen wird. Daraus folgt (so heißt es bei Rousseau), daß es eine Autorität ganz anderer Art sein muß, auf welche sich der Legislator beruft, nämlich eine göttliche Mission. Er diktiert also sein Gesetz auf Grund einer Inspiration. Jetzt erhebt sich die Frage, wodurch der Legislator seine Mission beweist. Die protestantischen Monarchomachen, die es im äußersten Falle zuließen, daß ein „a Deo excitatus" sich erhob und die bestehende Obrigkeit stürzte, hatten die Frage, wie sich der Auserwählte legitimiert, damit beantwortet, daß sie ein göttliches Zeichen und Wunder verlangten. Auch Rousseau spricht von einem Wunder, aber einem sehr humanisierten Wunder: es ist kein überwältigendes Faktum, sondern, philosophisch, „une grande âme" ( I I 7 1 1 ). Damit, sagt Rousseau, ist seine Mission und auch die Dauer seiner Gesetze garantiert. Gewiß. Aber die Frage war doch, ob das ein positives Resultat bei der Volksabstimmung garantiert. Auf sie allein sollte es ankommen, und von ihr ist plötzlich nicht mehr die Rede. Was geschieht, wenn die Abstimmung gegen das weise Gesetz und die große Seele entscheidet? Rousseau sagt es nicht, er wiederholt nur, daß der Legislator etwas ganz Außergewöhnliches ist, weder Magistrat noch Souverän und eigentlich Nichts, denn er soll den Staat, mit dem solche Begriffe überhaupt erst entstehen, selbst erst konstruieren. Deshalb kann sich seine Stellung nicht aus dem zu konstruierenden Staate ergeben. Der Inhalt der Tätigkeit des Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne Gesetz, rechtlose Macht. Daß Rousseau sich dieser Antithese nicht bewußt war, macht sie nicht weniger bedeutungsvoll. Hier ist der Gegensatz zwischen machtlosem Recht und rechtloser Macht schon so extrem, daß er umschlagen muß. Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassunggebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden. Diese Verbindung wird bewirkt durch eine Vorstellung, die inhaltlich die Konsequenz des Contrat social ist, die er aber noch nicht als eine besondere Gewalt nennt, den pouvoir constituant.

I V . Der Begriff der souveränen Diktatur Die Hinweise auf die kommende revolutionäre Diktatur bei Mably und Rousseau sind ihren Autoren nicht so bewußt gewesen, wie es nach den Ereignissen der Revolution erscheint. Bei Rousseau ist die Diktatur im vierten Buch des Contrat social, demnach als ein Regierungs- und nicht als ein Souveränitätsproblem, behandelt. Es wird vorausgesetzt, daß eine Diktatur nur dann eintreten kann, wenn eine Verfassung bereits besteht, denn es ist der chef suprême, der den Diktator ernennt und dessen Funktion zwar nicht nach dem Inhalt ihrer Tätigkeit, wohl aber nach ihrer Rechtsgrundlage im Rahmen der Verfassung bleibt. Die Allmacht des Diktators beruht auf der Ermächtigung durch ein verfassungsmäßig bestehendes, konstituiertes Organ. Das ist der Begriff der kommissarischen Diktatur. Aber auch die Mably vorschwebende Reformationsdiktatur läßt den Gegensatz noch nicht klar hervortreten. Die Umwälzungen in der politischen und administrativen Organisation des Gemeinwesens, die man als Reformationen bezeichnete, hatten zur Voraussetzung, daß die Reformation von einem konstituierten Organ ausging, vom Papst, vom absoluten Fürsten, so daß die Quelle der neuentstehenden Ordnung dieselbe ist wie die der früheren. Die Schwierigkeit, die kommissarische Diktatur von der souveränen und diese wieder von der Souveränität selbst zu unterscheiden, bestand für mittelalterliche Vorstellungen nicht. Gott, die letzte Quelle aller irdischen Gewalt, wirkt nur durch das Mittel der Kirche, einen fest konstituierten Organismus. Aber auch, als an die Stelle der höchsten persönlichen Einheit und ihrer persönlichen Repräsentation, des Papstes, eine säkularisierte Vorstellung trat, der in seiner Macht territorial begrenzte, aber trotzdem „gottähnliche" Landesherr, blieb die Quelle aller irdischen Gewalt immer noch mit der Vorstellung eines konstituierten Organs verbunden. Daß auch die monarchomachischen Ideen unter dem Volk eine ständische Repräsentation verstehen, wurde bereits erwähnt. Der einzige Punkt, an dem in der religiösen Reformation und in den Schriften der protestantischen Monarchomachen eine Auflösung aller sozialen Form zu erkennen ist, liegt da, wo die Möglichkeit offengelassen wird, daß auch jemand, der kein konstituiertes Amt hat und nur „a Deo excitatus" ist, die bestehende Obrigkeit beseitigt. Wie wenig aber der fromme Protestantismus die bestehenden sozialen Gebilde in eine umfassende, aber selbst niemals sich konstituierende Allgewalt des Volkes auflöst, ist am besten in

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

der Begründung zu erkennen, die Cromwell seiner Souveränität gab. Die puritanische Revolution war das auffälligste Beispiel einer Durchbrechung der Kontinuität bestehender staatlicher Ordnung. Sie ist vorbeigegangen, ohne auf das staatstheoretische Denken ihrer Zeit einen nachhaltigen Eindruck zu machen1, obwohl in ihr schon alle Gedanken und Forderungen der radikalen Demokratie des 19. Jahrhunderts auftraten. In den Eingaben und Verfassungsentwürfen der Armee Cromwells ist ausgedrückt, daß das Volk (the people) die Quelle aller politischen Befugnisse ist. Das eigentliche Problem des heutigen Staates, das Verhältnis des Volkes zu seiner Repräsentation, tritt hier bereits an die Stelle des monarchomarchischen Problems, des Verhältnisses der Volksvertretung zum König und zur Regierung. Seit 1647, als das überwiegend presbyterianische Lange Parlament sich mit dem König zu einigen schien, verbreitete sich in der independentistischen Armee Cromwells mit den republikanischen Ideen auch der Gedanke der unbedingten Abhängigkeit des Parlaments vom Volk, wobei allerdings die Armee, d. h. ihre Vertrauensmänner, sich ohne weiteres mit dem Volk identifizierte. Der wesentliche Satz in den aus dieser Zeit stammenden Verfassungsentwürfen ist, daß die Repräsentation des Volkes nur von dem abhängt, der sie gewählt hat. Die Macht der Volksvertreter ist gegen jeden andern (gemeint war der politische Gegner, d. h. der König) grenzenlos, aber mit dem unvermeidlichen Korrelat der ebenso grenzenlosen Abhängigkeit von dem Volk, das von ihnen vertreten wird. Das Agreement of the people vom 28. Oktober 1647, das als erster Entwurf einer im modernen Sinne demokratischen Verfassung berühmt geworden ist 2 , stammt von den Levellers, die in Cromwell, weil er nach dem Sturz des Königtums die souveräne Macht für sich behielt, einen Verräter sahen: Jenes Agreement von 1647 war ein dem Armeerat des Cromwellschen Heeres vorgelegter Verfassungsentwurf, den der Armeerat abgeändert (am 20. Januar 1648) an das Unterhaus weitergegeben hat, aber keineswegs als Äußerung des souveränen Volkes, sondern als private Anregung. Einen Monat später hat Cromwell die Bewegung der Levellers, die er als Schwärmerei behandelte, unterdrückt und ihren radikalen 1

R. Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, B e r l i n 1882, S. 578, bemerkt, daß sie auch i n der V e r w a l t u n g des Landes keine Spuren hinterlassen hat. 2 A b g e d r u c k t bei Gardiner, H i s t o r y of the great civil war, L o n d o n 1898, I I I , p. 392, ferner C o n s t i t u t i o n a l documents, p. 333, G. Jellinek, D i e E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, 1919, S. 78. D a z u W . R o t schild, D e r Gedanke der geschriebenen Verfassung i n der englischen Revol u t i o n , T ü b i n g e n 1903, S. 92, u n d E g o n Z w e i g , D i e Lehre v o m p o u v o i r constituant, T ü b i n g e n 1909, S. 38.

I . Der

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souveränen Diktatur

Führer John Lilburne einsperren lassen. Jetzt kam in zahlreichen Flugschriften die Empörung darüber zum Ausbruch, daß England früher von einem König, den Lords und den Commons regiert war, jetzt dagegen von einem General, einem Militärgerichtshof und den Commons, daß es kein allgemeines Wahlrecht habe usw. Diese Schriften 3, die für die Geschichte der politischen Idee wichtig sind, beweisen für den hier interessierenden Zusammenhang, daß die Frage der Souveränität damals schon entschieden war. Cromwell war Souverän. Die Frage ist, ob seine Herrschaft als souveräne Diktatur bezeichnet werden muß. Die Stellung, die Cromwell als der vom Langen Parlament zum Captain-General sämtlicher Streitkräfte in England, Schottland und Irland ernannte Oberbefehlshaber einnahm, charakterisierte er selbst in seiner Rede vom 12. September 16544 als Übertragung einer unbeschränkten Autorität. Es war ein Fall kommissarischer, vom Langen Parlament, dem Träger der Souveränität des Commonwealth and free State England, übertragener Diktatur, die mit der des Prinzen von Oranien verglichen werden kann. Eine kommissarische Diktatur mußte aufhören mit der Auflösung des Parlaments, von dem sie abgeleitet war. Dadurch wurde aber nicht einfach eine souveräne Diktatur herbeigeführt. Cromwell war es allerdings selbst, der das lange Parlament am 20. April 1653 auseinandergetrieben hatte 5 . Das damit eintretende Interregnum wird von Gneist als „reine Militärdiktatur" aufgefaßt 6. In Wahrheit ist es bereits die Souveränität Cromwells. Ein am 4. Jüni 1653 eröffnetes (das kleine, sogenannte Barebone-) Parlament war aus Vertrauensmännern des Offiziersrates zusammengesetzt, aber im Namen Cromwells als des Lord Generals berufen. Es gab sein Mandat am 12. Dezember 1653 an Cromwell zurück, nachdem ihm beigebracht worden war, daß es den Erwartungen Cromwells nicht entsprach. Cromwell proklamierte dann das „Instrument of government" vom 3 G. P. G o o c h , T h e history of English democratical ideas i n the seventeenth century, Cambridge 1898. 4 Carlyle, Letters and speeches, I I I 304. (Neue Ausgabe der v o n Carlyle zuerst 1845 herausgegebenen Briefe u n d Reden C r o m w e l l s v o n M r s . S. C . Lomas, L o n d o n 1904, eine deutsche Übersetzung v o n M . Stähelin, Basel 1911, S. 374.) 5 Ü b e r den historischen V o r g a n g vgl. den Aufsatz v o n W . Michael, H i s t . Ζ . 63 (1889), S. 56, d o r t auch weitere Literatur, u n d W . Michael, C r o m w e l l , I. Bd., B e r l i n 1907, S. 274. 6 Verfassungsgeschichte, S. 580. D i e Bezeichnung ist allgemein, aber sehr unklar. V g l . Gardiner, H i s t o r y of the c o m m o m w e a l t h , I I , p. 282; Esmein, Revue de d r o i t public, X I I , Paris 1899, p. 194; Michael, a . a . O . I I , S. 5; E g o n Z w e i g , a. a. O . S. 47 (Militäroligarchie); Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 339; G . Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 675, A n m . 1.

9 C. Schmitt, Die Diktatur

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

16. Dezember 1653. Danach war er selbst der „Lord Protector" oder Regent des Staates, die Zuständigkeiten von Legislative und Exekutive wurden wegen der Erfahrungen, die man mit dem Langen Parlament gemacht hatte, im Sinne einer gut durchgeführten Trennung der Gewalten und einer weitgehenden Selbständigkeit der Exekutive geregelt. Doch löste Cromwell auch das auf Grund dieses Instruments berufene Parlament am 22. Januar 1655 auf. Ein drittes, am 17. September 1656 zusammentretendes Parlament beschließt eine neue Verfassung, nach der Cromwell Protektor auf Lebenszeit ist und das Recht hat, seinen Nachfolger zu bestimmen. A m 25. März 1657 ersucht das Parlament den Protektor, Namen, Stil, Titel und Amt eines Königs von England anzunehmen, was Cromwell ablehnt. Auch dies dritte Parlament wird (am 4. Februar 1658) von Cromwell aufgelöst, der dann bis zu seinem Tode am 3. September 1658 ohne Parlament regiert und dessen Sohn Richard auf Grund einer als Nachfolgeanordnung gedeuteten Äußerung Cromwells sein Nachfolger im Protektorat wird. Bei dieser Sach- und Rechtslage ist Cromwell seit der Auflösung des Langen Parlaments Souverän. Die Rücksicht auf die Offiziere seines Heeres ist rein politischer Natur; Cromwell hat sich nicht als ihren Beauftragten ausgegeben. Seine aus politischer Klugheit unternommenen Versuche, mit einem Parlament und einer Verfassung zu regieren, bezweckten, die eigene Souveränität verfassungsmäßig zu regeln und dadurch ihre Ausübung rechtlich zu beschränken. Insofern kann man das Instrument of government von 1653 als das erste Beispiel einer konstitutionellen Monarchie mit oktroyierter Verfassung ansehen. Daß Cromwell die Souveränität in dem Sinne einer über allen geregelten Zuständigkeiten bestehenbleibenden, prinzipiell unbegrenzten Machtfülle behielt, die Entscheidung über „the necessity of the State", also das, was die Theorie des siebzehnten Jahrhunderts die jura dominationis nannte, unterlag keinem Zweifel. Ob die weitern Vorgänge, wie Gardiner es dargestellt hat, nur Versuche sind, zu dem alten Zustand der Regierungsmethode der Königin Elisabeth zurückzukehren, oder ob sie wirklich die Anfänge konstitutionellen Staatsrechts im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts enthalten, braucht hier nicht entschieden zu werden. Eine Durchbrechung des rechtlichen Zusammenhangs, eine Revolution, war nur die Auflösung des Langen Parlaments im Jahre 1653. Das weitere sind Versuche Cromwells, die dadurch begründete eigene Souveränität durch eigenen Willensentschluß zu umschreiben. Von einer Militärdiktatur kann man nur insofern sprechen, als nach der Auflösung des auf Grund des Instrument zusammengetretenen Parlaments (22. Jan. 1655) Cromwell eine Zeitlang durch elf Generalmajore regierte, die als kommissarische Diktatoren betrachtet werden können. Sie waren entsandt, um die

IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

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außerordentlichen, den Royalisten auferlegten Kriegssteuern beizutreiben. Ihnen stand die militärische Macht zur Verfügung, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die politischen Gegner zu entwaffnen, alle verdächtigen Personen festzunehmen usw. Sie übten tatsächlich als Aktionskommissare alle staatlichen Hoheitsbefugnisse in den ihnen überwiesenen Bezirken aus. Cromwell rühmt in seiner Rede vom 7. September 1656 ihre Dienste um die Wiederherstellung des öffentlichen Friedens. Sie haben in der Tat große Ähnlichkeit mit den Kommissaren des Nationalkonvents, aber ihre Diktatur liegt im Rahmen der Souveränität Cromwells, von der sie abgeleitet war. Es war eine Militärdiktatur im Sinne einer durch Militärbefehlshaber ausgeübten kommissarischen Diktatur, die Cromwell aber schon im Jahre 1656 aufgab, weil er, wie Gardiner sagt, ein Gegner jeder Militärdiktatur war 7 . Demnach bleibt die Frage, ob die von Cromwell selbst ausgeübte Souveränität als souveräne Diktatur bezeichnet werden kann. Wenn die bloße Aufhebung der Teilung der Gewalten schon Diktatur genannt wird, so ist die Frage zu bejahen. In jedem absolutistischen Staat herrscht aber der gleiche Zustand, und der Begriff der Diktatur würde alle Klarheit verlieren, wenn man ihn unterschiedslos auf alle derartigen Fälle anwendet. Politisch kann man jede unmittelbare, d. h. jede nicht durch selbständige intermediäre Instanzen vermittelte Ausübung staatlicher Gewalt als Diktatur bezeichnen und darunter Zentralismus im Gegensatz zu Dezentralisation verstehen. Uber den allgemeinen Zusammenhang dieser absolutistischen Idee mit dem Begriff der Diktatur wurde bereits im 1. Kapitel gesprochen. Weil nun eine militärische Organisation am auffälligsten von dem widerspruchslos mit „telegraphischer Geschwindigkeit" (Berner) sich vollziehenden, militärischen Befehl beherrscht wird, kann jedes auf einer straffen Disziplin aufgebaute System Diktatur heißen. Bei der eigenartigen rechtlichen Natur des militärischen Befehls mußte diese Anwendung des Begriffes um so näher liegen, als auch die kommissarische Diktatur von der commissio im Sinne eines solchen Befehls beherrscht wird. Daraus folgt weiter die Erklärung für die Verbindung mit der politischen Idee des Cäsarismus, der sich durch einen Staatsstreich durchsetzt und dadurch wieder die Vorstellung eines Gegensatzes zur legitimen Monarchie in den Begriff der Diktatur hineinzieht. Für diese unklare und einer juristischen Analyse nicht unterworfene Vorstellung sind Cromwell und Napoleon typische Diktatoren schon deshalb, weil sie Generäle waren. Für eine begrifflich Erfassung der Diktatur muß aber an dem Aktionscharakter der diktatorischen Tä7 O l i v e r C r o m w e l l , p. 167, i n der deutschen Übersetzung v o n K i r c h n e r (Historische B i b l i o t h e k , Bd. 17, 1903, S. 178). 9*

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

tigkeit festgehalten werden. Sowohl bei der souveränen wie bei der kommissarischen Diktatur gehört die Vorstellung eines durch die Tätigkeit des Diktators herbeizuführenden Zustandes zum Begriff. Ihre rechtliche Natur liegt darin, daß wegen eines zu erreichenden Zweckes rechtliche Schranken und Hemmungen, die nach der Sachlage ein sachwidriges Hindernis für die Erreichung des Zwekkes bedeuten, in concreto entfallen. Daraus folgt, daß die oben erwähnte Ausbildung des militärischen preußischen Absolutismus keine Diktatur war, daß aber auch der Polizeistaat nicht so genannt werden kann, weil die allgemeine Hebung der Volkswohlfahrt kein Objekt für die zur Diktatur gehörige Aktion ist. Der Polizeistaat hat allerdings in dem Prinzip seiner Organisation, dem allgemeinen Verwaltungsauftrag, ein Element von prinzipiell kommissarischem Charakter und ist insofern der Diktatur verwandt 8 . Aber ihm fehlt das, was der Aktion ihren präzisen Inhalt gibt, nämlich die Vorstellung eines konkreten Gegners, dessen Beseitigung das nächstumschriebene Ziel der Aktion sein muß. Die Umschreibung, um die es sich hier handelt, ist keine tatbestandsmäßige Erfassung durch Rechtsbegriffe, sondern eine rein tatsächliche Präzisierung. Daher kennt der Wohlfahrtspolizeistaat zahlreiche Fälle mehr oder weniger bedingter Aktionskommissionen, ist aber selbst in seiner Grundlage keine souveräne Diktatur, weil er seine Souveränität nicht rechtlich abhängig macht von der Durchführung eines konkreten Zweckes und der Erreichung eines bestimmten Zieles. Der durch die Aktion des Diktators ins Werk zu richtende Erfolg be8

W o l z e n d o r f f , D e r Polizeigedanke des modernen Staates, Breslau 1918, sieht i n der O r i e n t i e r u n g alles staatlichen Lebens nach der salus publica das Element, das der moderne Staatsgedanke m i t der Polizei gemeinsam hat. D i e alleinige Maßgeblichkeit der salus publica trägt „die Tendenz zu wachsender Intensität u n d Extensität i n sich" (S. 11), daher waren die der polizeilichen Regelung unterworfenen Gebiete „ i n ständiger Z u n a h m e begriffen", w ä h r e n d andererseits der Polizeistaat d u r c h die „ o b j e k t i v e W a h r u n g der staatlichen O r d n u n g " bereits das leitende M o m e n t des einheitlichen Staatswillens, das „abstrakte u n d absolute Streben nach W a h r u n g der A u t o r i t ä t an sich" enthielt" (S. 31). D a m i t sind i n der Tat die „Kristallisat i o n s p u n k t e " des modernen Staates getroffen, n u r erscheinen sie i n einem anderen Zusammenhange, w e n n beachtet w i r d , daß die Expansionstendenz der salus publica k e i n i h r eigentümliches Entwicklungsgesetz, sondern der A u s d r u c k des einfachen Verhältnisses v o n k o n k r e t e m Z w e c k u n d geeignet e m M i t t e l ist, welches Verhältnis seiner logischen N a t u r nach keiner festen U m s c h r e i b u n g fähig ist u n d i n der praktischen A n w e n d u n g überall das gleiche Expansionsbestreben zeigt, das oben an dem Beispiel des preußischen Heereskommissars illustriert wurde. Ü b e r die Bedeutung des abstrakten Strebens nach W a h r u n g der A u t o r i t ä t an sich vgl. oben, S. 2 2 - 2 4 . Wunderbare Beispiele juristischer Z w e c k l o g i k bei W o l f f , Jus nat. V I I I , § § 1 1 0 seqq.

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souveränen Diktatur

kommt dadurch einen deutlichen Inhalt, daß der zu beseitigende Gegner unmittelbar gegeben ist. Die Vorstellung eines herbeizuführenden Zustandes kann psychologisch niemals so klar sein wie die des unmittelbar vorhandenen Zustandes. Durch deren Negation ist infolgedessen eine genaue Umschreibung möglich. Die Abhängigkeit von dem, was der Gegner tut, die Locke zur Begründung der Besonderheit eines federative power herangezogen hatte, begründet die eigentliche Natur des Vorgehens. Wie die Notwehrhandlung ihrer Definition nach die Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffes ist und durch das Merkmal der Gegenwärtigkeit des Angriffs ihre nähere Bestimmung erhält, so muß auch für den Begriff der Diktatur an der unmittelbaren Aktualität eines zu beseitigenden Zustandes festgehalten werden, und zwar in dem Sinne, daß die Beseitigung als rechtliche Aufgabe erscheint, die eine nur nach der Lage der Sache und dem Zweck der Beseitigung bestimmte Vollmacht rechtlich begründet. Aber wie der Notwehr begriff dadurch unabhängig wird von den inhaltlichen Besonderheiten der Sachlage, von der Sachtechnik, die zum Angriff und daher auch zur erforderlichen Verteidigung gehört — die Entwicklung der Schußwaffen hat den konkreten Inhalt der Notwehrhandlung völlig geändert —, so hat auch der Begriff der Diktatur einen nach Lage der Sache verschiedenen Inhalt, womit aber noch nicht die rechtliche Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur begründet ist. Die Diktatur ist wie die Notwehrhandlung immer nicht nur Aktion, sondern auch Gegenaktion. Sie setzt demnach voraus, daß der Gegner sich nicht an die Rechtsnormen hält, die der Diktator als Rechtsgrund für maßgebend anerkennt. Als Rechtsgrund, aber natürlich nicht als sachtechnisches Mittel seiner Aktion. Der Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm, der das ganze Recht durchzieht, wird hier zu einem Gegensatz von Rechtsnorm und sachtechnischer Aktionsregel. Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen. Von jeher ist das Argument (am meisten und am heftigsten von Lincoln) wiederholt worden: wenn der Bestand der Verfassung bedroht ist, so muß er durch eine zeitweilige Suspension der Verfassung gesichert werden. Die Diktatur schützt eine bestimmte Verfassung gegen einen Angriff, der diese Verfassung aufzuheben droht. Die methodische Selbständigkeit des Problems der Rechtsverwirklichung als eines rechtlichen Problems tritt hier am deutlichsten hervor. Die Aktion des Diktators soll einen Zustand schaffen, in dem das Recht verwirklicht werden kann, denn jede Rechtsnorm setzt einen normalen Zustand als homogenes Medium voraus, in welchem sie gilt. Infolgedessen ist die Diktatur ein Problem der konkreten Wirklich-

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

keit, ohne aufzuhören, ein Rechtsproblem zu sein. Die Verfassung kann suspendiert werden, ohne aufzuhören zu gelten, weil die Suspension nur eine konkrete Ausnahme bedeutet. So ist es auch zu erklären, daß die Verfassung nur für einzelne Bezirke des Staates suspendiert werden kann. Der Satz non potest detrahi a jure quantitas müßte doch logisch auch hier gelten, denn es gibt innerhalb des durch die Verfassung als eines Rechtsbegriffes konstituierten Staates keinen territorial umschriebenen Raum, der von ihrer Geltung subtrahiert werden könnte, oder keinen zeitlichen Abschnitt, für den sie nicht gelten soll, oder keinen bestimmten Kreis von Personen, die, ohne aufzuhören Staatsbürger zu sein, doch als rechtlose „Feinde" oder „Rebellen" behandelt werden sollen. Gerade solche Ausnahmen aber gehören zum Wesen der Diktatur und sind möglich, weil es sich bei ihr um eine nach der Sachlage bestimmte Aktionskommission handelt. Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung. Man sollte glauben, ein solches Unternehmen entzöge sich jeder rechtlichen Betrachtung. Denn der Staat kann rechtlich nur in seiner Verfassung begriffen werden, und die totale Negation der bestehenden Verfassung müßte eigentlich auf jede rechtliche Begründung verzichten, weil die herbeizuführende Verfassung nach der eigenen Praemisse noch nicht besteht. Demnach würde es sich um eine bloße Machtfrage handeln. Das ist aber dann nicht der Fall, wenn eine Gewalt angenommen wird, die, ohne selbst verfassungsmäßig konstituiert zu sein, trotzdem mit jeder bestehenden Verfassung in einem solchen Zusammenhang steht, daß sie als die begründende Gewalt erscheint, auch wenn sie selbst niemals von ihr erfaßt wird, so daß sie infolgedessen auch nicht dadurch negiert werden kann, daß die bestehende Verfassung sie etwa negiert. Das ist der Sinn des pouvoir constituant. Die Stellung des absoluten Fürsten ist nicht abhängig von der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe, und seine Befugnisse sind nicht eine im Hinblick auf einen zu erreichenden Zweck gegebene Ermächtigung. Zu jeder Diktatur gehört eine Kommission, und es fragt sich, ob es eine mit der Souveränität vereinbare Kommission gibt und wieweit es dem Begriff der Souveränität widerspricht, daß sie von einem Auftrag abhängig ist. Die Eigenart des pouvoir constituant ermöglicht eine solche Abhängigkeit, weil sie es wegen des Charakters dieses pouvoir als eines nichtkonstituierten und niemals

I . Der

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souveränen Diktatur

konstituierbaren denkbar ist, daß der Inhaber der staatlichen Gewalt sich selbst abhängig macht, ohne daß die Gewalt, von der er sich abhängig macht, konstituierter Souverän wird und ohne daß andrerseits wie bei der Abhängigkeit des Souveräns von Gott jede weitere irdische Instanz verschwindet. Cromwell berief sich für seine Mission auf Gott. Wenn er gelegentlich von der Zustimmung des Volkes zu seiner Herrschaft spricht, so läßt er doch im entscheidenden Augenblick, wie bei der Auflösung des Langen Parlaments, niemals einen Zweifel darüber, daß er die Quelle seiner Gewalt in Gott sieht und seine Souveränität nicht vom Volk in dem Sinne der radikalen Demokraten seiner Zeit abhängig macht. In seiner großen Rede vor dem neuernannten Parlament am 12. September 1657 erklärt er, daß er sich fürchte, eine Sünde zu begehen, wenn er die ihm von Gott gegebene Gewalt zu früh an das Parlament zurückgebe, und daß er lieber mit Schmach bedeckt sterben, als sein von Gott eingesetztes Protektorat vom Parlament verworfen sehen wolle. Das Parlament hat ihm seine Stellung als Protektor und seine Souveränität sofort bestätigt, ohne daß nunmehr formal die Zustimmung des Parlaments die Rechtsgrundlage seiner Souveränität geworden wäre. Denn er konnte das Parlament jederzeit auflösen und hat es getan, und die Auflösung war alles andere als ein Appell an das Volk. Bei der Auflösung seines dritten Parlamentes 1658 sagt er, Gott solle Richter sein, das Volk wird überhaupt nicht erwähnt. Es trifft daher zu, was Esmein zur Definierung der Cromwellschen Verfassung sagt, daß sie nur eine, von dem Inhaber einer von Gott abgeleiteten Gewalt freiwillig zugestandene, Selbstbeschränkung gewesen ist 9 . Der Protektor war Träger einer persönlichen Mission, die Beseitigung der bestehenden Ordnung wurde nicht rational begründet, sondern war der Ausnahmefall, den die monarchomachische Staatstheorie als den Fall des a Deo excitatus bezeichnete10. M i t juristischen Kategorien ist dieser Vorgang überhaupt nicht zu fassen. Man hat von der Diktatur gesagt, sie sei ein Wunder und das damit begründet, daß man sie als Suspendierung der staatlichen Gesetze mit der Suspendierung der Naturgesetze beim Wunder verglich 11 . In Wahrheit ist 9

Esmein 1, c., p. 209. Gardiner sagt i n seiner C r o m w e l l - B i o g r a p h i e , weder C r o m w e l l noch M i l t o n hätten der N a t i o n als solcher ein Recht gegeben; stimmte der W i l l e der N a t i o n nicht m i t dem Gottes überein, u m so schlimmer für die N a t i o n . 10 Vindiciae p. 68. D i e am meisten gelesene monarchomachische Schrift war damals Buchanan, D e jure regni apud scotos; 1648 erschien auch eine englische Übersetzung der Vindiciae (Michael, C r o m w e l l , I, S. 184; vgl. ferner Z w e i g , a. a. O . S. 31). 11

D o n o s o Cortés i n seiner großen Rede v o m 4. Januar 1849 i n der spanischen Abgeordnetenkammer (französische Übersetzung d u r c h L o u i s

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

nicht die Diktatur dieses Wunder, sondern die Durchbrechung des rechtlichen Zusammenhangs, die in einer solchen neubegründeten Herrschaft liegt. Sowohl die kommissarische wie die souveräne Diktatur hat dagegen einen rechtlichen Zusammenhang. Die souveräne Diktatur beruft sich auf den pouvoir constituant, der durch keine entgegenstehende Verfassung beseitigt werden kann. Gott ist ein anderer Auftraggeber als dieser Inhaber des pouvoir constituant und Gottes Fügung, die Vorsehung (die, wie Esmein treffend bemerkt, bei Cromwell dasselbe bedeutet wie in der Geschichtsphilosophie Bossuets), etwas anderes wie der „acte impératif", als den Boutmy 1 2 die Ausübung des pouvoir constituant definiert. Der unmittelbare Kommissar des Volkes hat aber auch nicht mehr wie der Kommissar des absoluten Fürsten einen festen Beziehungspunkt für seine Abhängigkeit. Die Konstruktion, die für den früheren Kommissar charakteristisch ist, daß er nämlich einen andern vertritt und das tut, was der Vertretene tun würde, wenn er selbst zur Stelle sein könnte — vices gerit —, wirkt immer noch nach, aber sie bekommt in Verbindung mit dem Volk als Vertretenem einen ganz neuen Inhalt 13 . Bodin hatte ja schon bemerkt, daß es

V e u i l l o t , deutsch v o n Hans A b e l , i n den Schriften der Vereinigung „ G l a u be u n d T r e u e " , H e f t 1, M ü n c h e n 1920). 12 Etudes de d r o i t constitutionnel, nouv. ed., Paris 1909, p. 241. W o i n der monarchomachischen L i t e r a t u r v o n der potestas constituens i m Gegensatz z u r potestas constituta die Rede ist, w i r d niemals davon abgesehen, daß das V o l k selbst v o n G o t t konstituiert ist; Althusius, Politica c. X V I I I 93, X I X 19 seqq. 13 I n den Verfassungen des 19. Jahrhunderts ist die Vorstellung, daß der Fürst (namentlich bei der Vereidigung der Abgeordneten u n d der Eröffn u n g des Landtags) persönlich d u r c h einen Kommissar v o r der V o l k s v e r tretung repräsentiert w i r d , deutlich noch; vgl. hessische Verfassung, A r t . 62, 81, 85, 88, 89, 96, 98, 101 (Stoerk, S. 195-201); Reuß j. L § 8 8 , 89, 91 (Stoerk, S. 315); sächsische Verfassung § 133, 135 (Stoerk, S. 343, O . M a y e r , Sächsisches Staatsrecht, S. 146), Sachsen-Altenburg § 2 2 1 , 222, 232-234, 242 (Stoerk, S. 383 / 386), C o b u r g u n d G o t h a § 7 7 (Stoerk, S. 401), Sachsen-Meiningen A r t . 92, 94 (Stoerk, S. 431 / 4 3 2 ) , Sachsen-Weimar-Eisenach § 27, 29 (Stoerk, S. 440), Schaumburg-Lippe A r t . 23, 25, 26 (Stoerk, S. 451), Schwarzburg-Sondershausen § 66 (hier ist allerdings weder v o n Kommissaren noch v o n Beauftragten die Rede, sondern v o n „abgeordneten Beamten", Stoerk, S. 478), Waldeck § 56, 63 (Stoerk, S. 488), A n h a l t (1859) § 24 (Stoerk, S. 64), Baden § 6 8 , 76, 77 (Stoerk, S. 8 4 / 86), Bayern V I I , § 2 2 (Stoerk, S. 103; über Landtagskommissare nach dem Geschäftsg.-Ges. z u m bayrischen Landtag v o m 25. Juli 1850, A r t . 10, 14; Seyd e l - P i l o t y , Bayrisches Staatsrecht, 1913, S. 302), Braunschweig § 1 3 1 (Stoerk, 131); L ü b e c k A r t . 61 (Kommissare des Senats, Stoerk, S. 230, dagegen H a m b u r g u n d Bremen keine derartigen Kommissare), L i p p e § 27 (Stoerk, S. 206), O l d e n b u r g A r t . 151, 156 (Stoerk, S. 259); Preußen A r t . 77,

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einen großen Unterschied macht, ob für den Kommissar der Wille eines Fürsten oder der eines Volkes, eines einzelnen oder vieler tausend Menschen maßgebend ist 14 . Die Vorstellung eines pouvoir constituant ist durch Sieyès15, insbesondere seine Schrift über den dritten Stand, verbreitet worden. Danach sind alle bestehenden Gewalten der Geltung von Gesetzen, Regeln und Formen unterworfen, deren Veränderung sie selbst nicht herbeiführen können, weil die Grundlage ihres Bestehens die Verfassung ist. Eine verfassungsmäßig konstituierte Gewalt kann nach dieser Auffassung unmöglich über der Verfassung stehen, weil diese, als die Regelung des Zusammenhanges wie der Trennung der Gewalten, ihre eigene Grundlage ist. Daher stehen alle konstituierten Gewalten einer verfassungsbegründenden, konstituierenden Gewalt gegenüber. Diese ist prinzipiell unbegrenzt und vermag schlechthin alles, denn sie ist nicht der Verfassung unterworfen, sondern gibt selbst die Verfassung. Hier ist irgendein Zwang oder irgendeine rechtliche Form, irgendeine Selbstbindung, gleichgültig in welchem Sinne, völlig undenkbar, und auch die unveräußerlichen Menschenrechte sind da, wo die volonté générale im Sinne der Lehre Rousseaus herrscht, gegenstandslos. Das Volk als Inhaber der konstituierenden Gewalt kann sich nicht binden und ist jederzeit befugt, sich jede beliebige Verfassung zu geben. Die Verfassung ist das Grundgesetz (loi fondamentale), nicht weil sie unabänderlich und unabhängig vom Willen der Nation ist, sondern weil alle mit staatlicher Autorität handelnden Organe an dieser Verfassung, auf der ihre Befugnisse beruhen, nichts ändern können. Das gilt auch für die ordentliche Gesetzgebung. Reuß ä. L . § 64, 78 Abs. 3. D e r N a m e Kommissar w i r d dann beibehalten für die Vertreter der Regierung, die kommissarisch an Stelle des Ministers an den Verhandlungen des Parlaments teilnehmen. D i e Frage, ob der Regierungskommissar der parlamentarischen D i s z i p l i n untersteht, ist danach zu beantworten, ob der Kommissar i n dem alten Sinne eines persönlichen Repräsentanten des Fürsten ist oder nicht. W o i n einer R e p u b l i k die M i n i ster sich d u r c h Kommissare vertreten lassen (vgl. A r t . 6 § 2 des französischen Gesetzes v o m 16. Juli 1785: sur les rapports des pouvoirs publiques, der inhaltlich aus A r t . 69 der Verfassung v o n 1848 stammt), sind die Regierungskommissare nur Gehilfen des Ministers u n d darauf beschränkt, die A n s i c h t der Regierung i m Parlament zu vertreten; sie sind n u r „ p o r t e parole"; v e r a n t w o r t l i c h bleibt allein der M i n i s t e r ( D u g u i t , d r o i t constitutionel I I 316, 319, 498). Ü b e r die Reichsverfassung v o n 1871 vgl. Pereis, A r c h . f. ö. R., Bd. 19, S. 14 f. 14

République p. 389. Qu'est que le Tiers Etat, cap. 5 (benutzt ist die C o l l e c t i o n des écrits d ' E m m a n u e l Sieyès, v o n C h . F. Cramer), ferner die Schrift über die E r k l ä r u n g der Menschenrechte. 15

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

Eine Staatstheorie, für welche der Staat als eine Einheit durch Organe handelt, durch deren Tätigkeit der staatliche Wille überhaupt erst entsteht, nicht aber repräsentiert wird, so daß es außerhalb der Organtätigkeit überhaupt keinen staatlichen Willen gibt, muß diese Lehre vom pouvoir constituant als einen Versuch auffassen, aus dem Volk selbst wieder ein Staatsorgan zu machen, wodurch das Problem der Verfassunggebung wieder zum Problem der Organisation des verfassunggebenden Organs wird. In den Konstruktionen G. Jellineks ist der Staat die Gesamtheit aller Organfunktionen, aber er kommt niemals „selbst als Subjekt der Gesamtheit seiner Funktionen zur Erscheinung, sondern nur als kompetenzbegabtes und daher auch kompetenzbeschränktes Organ", niemals als „Staat schlechthin", sondern immer nur „als Staat in Gestalt einer bestimmten Kompetenz". Die Kompetenz ist die Erscheinungsform des Staates, er „hat" das der Organkompetenz „zugrunde liegende Recht". Die staatliche Substanz (ob man diesen Ausdruck als scholastisch ablehnt oder nicht, ändert nichts an der Sache) „erscheint" nur durch das Medium einer Kompetenz, tritt also immer als begrenzte Macht in die Erscheinung. Die Individuen, welche die Organschaft tragen, dürfen nicht mit dem Staat, aber auch nicht mit dem Staatsorgan, das als solches der eigenen Subjektivität gänzlich ermangelt, verwechselt werden, auch das höchste Staatsorgan ist nur Organ und auch die Verfassungsänderung eine Kompetenz 16 . Wollte man diese Theorie auf ihre schärfste Konsequenz bringen, so müßte man sagen, daß sie den Staat, weil er für sie nur in der Organtätigkeit vorhanden ist, als den Träger der Einheit ansieht, aber einen Träger, der nichts tragen kann, sondern von den Organen getragen wird, die er trägt. Er hat keine Kompetenz mehr, sondern ist eine Kompetenz. Wenn Jellinek von dem Medium spricht, durch welches der staatliche Wille in die Erscheinung tritt, so ist damit nicht eine Vermittlung im Sinne der Lehre von den intermediären Gewalten gemeint, denn der Wille entsteht ja unmittelbar durch das angeblich vermittelnde Organ. Absolute Vermittlung durch Organe wird hier identisch mit absoluter Unmittelbarkeit des im Staatsorgan erscheinenden 16

G . Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 228, 231, 225, 229. W e n n S. 229 Blackstones Ä u ß e r u n g zitiert w i r d , daß der K ö n i g i n seinen Gerichtshöfen stets gegenwärtig sei, auch w e n n er nicht persönlich Recht pflegen könne, u n d Jellinek seine Theorie m i t dieser V o r stellung v o n dem d u r c h seine Behörden überall anwesenden K ö n i g i n Verb i n d u n g bringt, so widerspricht er damit gerade seiner Organtheorie, denn die Ä u ß e r u n g Blackstones ist aus der alten Vorstellung des persönlichen Repräsentanten, q u i vices gerit, zu erklären, nicht aus der des „ k o m p e t e n z begabten" Organs, hinter dem kein W i l l e steht, den es repräsentiert, sondern das den W i l l e n selbst erst produziert.

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Willens. „Hinter den Organen steht keine andere Person, sondern sie sind der wollende Staat selbst." Diese vielerörterten, bekannten Äußerungen sind hier wiederholt, um den Gegensatz zu der Lehre vom pouvoir constituant deutlich zu machen. Auch die außerordentlich wertvolle geschichtliche Darstellung dieser Lehre durch Egon Zweig wird dadurch beeinträchtigt, daß sie die ganze Entwicklung als eine solche vom materiellen zum formellen Verfassungsbegriff hinstellt und den Höhepunkt der Lehre, „wenn nicht ein Erzeugnis, so doch ein Zeugnis der Aufklärungsepoche" nennt, die in ihrem Rationalismus den Staat mechanistisch zu konstruieren glaubte 17 . In Wahrheit ist schon im Contrat social der Rationalismus an seinem kritischen Punkt angekommen. Als den Höhepunkt des Rationalismus wird man den Versuch Condorcets, das Widerstandsrecht durch eine gesetzliche Regelung zu rationalisieren, bezeichnen müssen18. Die Theorie von Sieyès ist dagegen nur verständlich als Ausdruck dafür, das unorganisierbar Organisierende zu finden. Die Vorstellung des Verhältnisses von pouvoir constituant zu pouvoir constitué hat ihre vollkommene systematische und methodische Analogie in der Vorstellung des Verhältnisses der natura naturans zur natura naturata, und wenn diese Vorstellung auch in dem rationalistischen System Spinozas übernommen ist, so beweist sie doch gerade dort, daß dieses System nicht nur rationalistisch ist. Auch die Lehre vom pouvoir constituant ist als bloß mechanistischer Rationalismus unbegreiflich. Das Volk, die Nation, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfaßbaren Abgrund ihrer Macht entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt. Sie kann beliebig wollen, der Inhalt ihres Wollens hat immer denselben rechtlichen Wert wie der Inhalt einer Verfassungsbestimmung. Sie kann daher beliebig eingreifen mit Gesetzgebung, Rechtspflege oder bloß tatsächlichen Akten. Sie wird der unbeschränkte und unbeschränkbare Inhaber der jura domina17

Lehre v o m p o u v o i r constituant S. 4. N a c h W o l z e n d o r f f (Staatsrecht u n d N a t u r r e c h t , S. 390), der die A n sichten u n d E n t w ü r f e Condorcets ausführlich gewürdigt u n d ihre große geschichtliche Bedeutung gezeigt hat, w i r d d u r c h C o n d o r c e t das W i d e r standsrecht „umgeleitet" i n eine rechtliche Organisation. A b e r man darf nicht übersehen, daß dadurch das liberale P r i n z i p der V e r t e i l u n g zwischen dem I n d i v i d u u m als dem p r i n z i p i e l l Unbegrenzten u n d dem Staat als d e m p r i n z i p i e l l Begrenzten (vgl. oben S. 116) aufgehoben u n d das Widerstandsrecht aus einem Menschen- u n d Freiheitsrecht zu einer K o m p e t e n z , d. h. einem staatlich konzedierten Bürgerrecht geworden ist. I n d e m man es „ o r ganisiert", hat man es denaturiert; sobald man es rationalisiert, ist es rationiert. 18

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

tionis, die aber nicht einmal auf den Notfall beschränkt zu sein brauchen. Sie konstituiert niemals sich selbst, sondern immer nur einen andern. Ihre Beziehung zu dem konstituierten Organ ist daher keine gegenseitige Rechtsbeziehung. Die Nation ist immer im Naturzustande, lautet ein berühmter Ausspruch von Sieyès. Aber der Lehre vom Naturzustand war es sonst wesentlich, daß es im Naturzustand nur Individuen gibt. Die oft vorkommende Wendung, daß eine Nation im Naturzustande ist, bedeutet dagegen hier eben nicht, wie sonst, daß sie andern Nationen gegenüber im Naturzustande ist, es handelt sich hier nicht um eine völkerrechtliche Konstruktion, sondern um das Verhältnis der Nation zu ihren eigenen verfassungsmäßigen Formen und allen in ihrem Namen auftretenden Funktionären. Die Nation ist einseitig im Naturzustande, sie hat nur Rechte, keine Pflichten, der pouvoir constituant ist an nichts gebunden, die pouvoirs constitués haben umgekehrt nur Pflichten und keine Rechte. Eine merkwürdige Konsequenz: der eine Teil bleibt immer im Naturzustande, der andere im Rechts(oder besser Pflicht)zustande. Hiermit verbindet Sieyès aber die Zulässigkeit einer Repräsentation. Er hat auch die Abgeordneten der konstituierenden Versammlung von 1789 als Repräsentanten im Gegensatz zu Inhabern eines mandat impératif aufgefaßt, sie sollen nicht Boten sein und einen bereits feststehenden Willen übermitteln, sondern ihn erst „formieren". Er hat dabei hervorgehoben, daß der moderne Staat aus einer andern Bevölkerung besteht als eine antike Republik, daß heute, im Zeitalter der Arbeitsteilung, nur ein kleiner Teil der Menschen die Zeit und die Fähigkeit hat, sich mit politischen Dingen zu beschäftigen, und die andern „mehr an Produktion und Konsumtion" denken, so daß sie einfach Arbeitsmaschinen (machines de travail) geworden sind 19 . Daraus entsteht eine seltsame Beziehung zu der Allmacht des konstituierenden Willens. Auch wenn der Wille des Volkes inhaltlich gar nicht vorhanden ist, sondern durch die Repräsentation erst formiert wird, bleibt die unbedingte im prägnanten Sinne des Wortes kommissarische Abhängigkeit des Repräsentanten von diesem Willen bestehen. Der Wille kann unklar sein. Er muß es sogar sein, wenn der pouvoir constituant wirklich unkonstituierbar ist. Diese Konsequenz, die Sieyès ausgesprochen hat, weist schon auf die dem Rationalismus völlig entgegengesetzte Philosophie des 19. Jahrhunderts, in der Gott als ein „objektiv Unklares" das Zentrum der Welt ist, wie der formlose, aber immer neue Formen produzierende pouvoir constituant das Zentrum des staatlichen Lebens. Aber die Abhängigkeit des politischen Funktionärs, der im Namen des Volkes auftritt^ hört nicht 19

Rede v o m 7. September 1789, A r c h . Pari. V I I I 532.

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auf, unbedingt zu sein. Noch mehr als Rousseau hat Sieyès betont, daß alle staatliche Organtätigkeit nur kommissarischer Natur ist und die staatliche Substanz, die Nation, jederzeit in der Unmittelbarkeit ihrer Machtfülle auftreten kann. Die Korrelation von größter Macht nach außen und größter Abhängigkeit nach innen bleibt demnach bestehen, aber nur formal. Die wichtigste Voraussetzung dafür, daß der Wille herrscht, diktiert, wäre, daß er um so präziser wird, je stärker die Abhängigkeit sein soll. Das Ideal des unbedingt herrschenden Willens wäre der militärische Befehl, dessen Bestimmtheit der Promptheit, mit der er befolgt werden soll, entsprechen muß. Eine solche Bestimmtheit des Befehls ist freilich nicht die Bestimmtheit rechtlicher Form, sondern die Präzision einer Sachtechnik. Aber die kommissarische Beziehung ist ja auch von dem Gedanken einer konkreten, in die kausalen Zusammenhänge eingreifenden Tätigkeit beherrscht. Zu der unbedingten kommissarischen Abhängigkeit des Repräsentanten gehörte eigentlich ein mandat impératif. Diese Konsequenz hat Sieyès aber nicht gezogen mit der Begründung, daß der Wille des Volkes inhaltlich nicht präzise ist. Der Wille betrifft also nur die Person des Repräsentanten und die Entscheidung, ob eine Repräsentation bestehen soll oder nicht. In Wahrheit darf er nicht präzis sein, denn sobald er sich irgendwie formiert hat, hört er auf konstituierend zu sein und ist selber konstituiert. Die im Namen des pouvoir constituant handelnden Repräsentanten sind demnach formal unbedingt abhängige Kommissare, deren Auftrag aber inhaltlich nicht zu begrenzen ist. Als der eigentliche Inhalt des Auftrags muß die allgemeinste, grundlegende Formierung des konstituierenden Willens, also der Entwurf einer Verfassung, angesehen werden. Aber nicht wegen der Rechtsnatur der Verfassung, denn auch tatsächliche Maßnahmen können als Wille des Volkes vorgenommen werden. Die außerordentlichen Vertreter, d. h. diejenigen, die unmittelbar den pouvoir constituant ausüben, können im Gegensatz zu den ordentlichen Vertretern jede beliebige Vollmacht haben. Die Ausübung des pouvoir constituant muß dabei stets von seiner Substanz unterschieden werden, sonst wäre der pouvoir constituant schon wieder konstituiert in seinem außerordentlichen Repräsentanten. Haben die außerordentlichen Repräsentanten den Auftrag, eine Verfassung zu entwerfen, so können sie, je nach der Auslegung, die dem Inhalt des Auftrags gegeben wird, die Verfassung selbst beschließen oder dem Referendum des Volkes unterbreiten. Jedenfalls ist der Auftrag erledigt, wenn das geschehen ist. Es kann aber der Fall eintreten, daß die Ausübung des pouvoir constituant des Volkes gehindert wird und die Sachlage zunächst eine Beseitigung dieser Hindernisse verlangt, damit der dem pou-

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

voir widersprechende Zwang beseitigt werde. Durch künstliche Mittel und äußeren Zwang oder durch die allgemeine Verwirrung und Unordnung der Verhältnisse kann der freie Wille des Volkes unfrei werden. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden. „Damit das Volk den konstituierenden A k t in der Fülle seiner Souveränität vornehmen kann, muß es nach Borgeaud 20 die Wahl haben zwischen einem früheren und einem neuen Regime. Nach einer Revolution ist die Tradition durchbrochen, die alte Verfassung nicht mehr vorhanden und dadurch, daß dem Volk eine neue vorgelegt wird, tatsächlich schon wieder ein Teil seiner Souveränität ausgeübt, durch diejenigen, welche die neue Verfassung vorlegen. Denn das Bedürfnis nach Ordnung ist zu groß, als daß das Urteil des Volkes in einer solchen Sachlage noch frei bliebe". Das kann „justifier l'action d'un pouvoir révolutionnaire édictant une charte provisoire", soll aber aufhören, wenn die neue Regierung sich konstituiert hat und die Ordnung wiederhergestellt ist. Dieselbe Erwägung kann aber doch zweitens auch schon vor der durch die Revolution eintretenden Unordnung geltend gemacht werden, wenn die bestehende Ordnung als das Hindernis der freien Ausübung des pouvoir constituant aufgefaßt wird, so daß immer neue Revolutionen und immer von neuem ein Appell an den pouvoir constituant möglich ist. Die Aufgabe, den Weg freizumachen durch die revolutionäre Beseitigung der bestehenden Ordnung, würde sich dann ebenfalls auf den pouvoir constituant berufen und von ihm abhängig machen. In beiden Fällen liegt eine Aktionskommission vor, wie bei der kommissarischen Diktatur, und in beiden Fällen bleibt der Begriff funktionell abhängig von der Vorstellung einer richtigen Verfassung, weil ja auch bei der revolutionären Diktatur die durch die Diktatur herbeizuführende Verfassung sowohl als auch den immer vorhandenen pouvoir constituant selbst suspendiert ist. Aber während die kommissarische Diktatur von einem konstituierten Organ autorisiert wird und in der bestehenden Verfassung einen Titel hat, ist die souveräne nur quoad exercitium und unmittelbar aus dem formlosen pouvoir constituant abgeleitet. Sie ist eine wirkliche Kommission, nicht, wie die Berufung auf eine Mission des transzendenten Gottes, die Ablehnung jeder weitern irdischen Ableitung. Sie appelliert an das immer vorhandene Volk, das jederzeit in Aktion treten und dadurch auch rechtlich unmittelbare Bedeutung haben kann. Ein „Minimum von Verfassung" ist immer noch da, solange der pouvoir constituant anerkannt ist 21 . Aber weil für dieses selbe Volk erst die äußern Bedingungen geschaffen werden sollen, damit seine konstituierende Gewalt aktuell werden kann, ist 20

Etablissement et révision des constitutions, Paris 1892, p. 409. N u r deshalb, nicht wegen der „faktischen, die Staatseinheit erhaltenden M a c h t " , w i e G . Jellinek, A l l g . Staatslehre, S. 491 w i l l . 21

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der an sich problematische Inhalt des konstituierenden Willens bei der Sachlage, durch die jene Diktatur gerechtfertigt wird, der eigenen Voraussetzung nach aktuell nicht vorhanden. Daher ist diese diktatorische Macht souverän, aber nur als „Übergang" und, wegen ihrer Abhängigkeit von der zu erfüllenden Aufgabe, in einem ganz andern Sinne als der absolute Monarch oder eine souveräne Aristokratie. Der kommissarische Diktator ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant 22 . 22 Z w e i Vorstellungen sind hier schon vorhanden, deren weitere F o r t b i l d u n g i n die Staatsphilosophie des 19. Jahrhunderts führt, das V o l k u n d die geschichtliche E n t w i c k l u n g . D e r Erziehungsdespotismus der A u f k l ä rungsphilosophie machte sich bereits v o n der E r f ü l l u n g einer Aufgabe abhängig. Er beruht auf dem Glauben an die Perfektibilität des Menschengeschlechts, der zu der Geschichtsphilosophie einer über den einzelnen M e n schen hinausgreifenden E n t w i c k l u n g führte. I n zwei ganz verschiedenen Systemen des 19. Jahrhunderts, d u r c h Hegel u n d C o m t e , w u r d e die geschichtsphilosophische Theorie einer E n t w i c k l u n g systematisch begründet. Bei T u r g o t ist aber Comtes sogenanntes Gesetz der drei Stadien dieser Menschheitsentwicklung (das theologische, metaphysisch-abstrakte u n d positive Stadium) u n d die soziale A b h ä n g i g k e i t des einzelnen v o n der U m gebung schon ausgesprochen, u n d Condorcets Tableau historique des p r o grès de Pesprit h u m a i n führt schon so w e i t über den Rationalismus des 18. Jahrhunderts hinaus, daß B o n a l d es nicht ohne Recht die „ A p o k a l y p s e der A u f k l ä r u n g " nennen konnte. D e r Fortschritt bleibt jedoch hier stets das W e r k der bewußten menschlichen A k t i v i t ä t , u n d der Inhalt der Aufgabe des D i k t a t o r s besteht darin, diesen Fortschritt positiv z u bewirken, i m Gegensatz zu der immanenten Fortschrittsauffassung des 19. Jahrhunderts, welchen Gegensatz Renouvier treffend hervorgehoben hat. D i e geschichtsphilosophischen Elemente der Kantischen Philosophie sind häufig dargestellt worden. H i e r ist besonders w i c h t i g , was E r i c h K a u f m a n n gezeigt hat, daß K a n t einen Organismusbegriff hat, der i m Gegensatz zu dem Mechanismus des 18. Jahrhunderts steht. Das ist allerdings eine entscheidende W e n d u n g . I m übrigen ist Kants Rechtsphilosophie die Summe des rationalen Naturrechts, das v o n dem Ausgangspunkt der Coexistenz der Menschen hier zu höchster Konsequenz u n d wunderbarer Klarheit entw i c k e l t ist. Daher gibt es für K a n t weder ein N o t r e c h t (das N o t r e c h t ist für i h n Z w a n g ohne Recht) n o c h Gnade. Dagegen ist bei Fichte der Ü b e r gang z u r Geschichtsphilosophie schon auffällig deutlich. H i e r f ü r k a n n auf die Darstellung v o n E m i l Lask verwiesen werden, zu der aber h i n z u z u f ü gen ist, daß der K a r d i n a l p u n k t ein Begriff v o n einem D i k t a t o r , einem „ Z w i n g h e r r n " ist, der „ a n der Spitze der Einsicht seiner Zeit u n d seines V o l k e s " steht, nicht m i t einem „ n u r rechnenden, bedingten W i l l e n " , der eine „ G r i l l e " realisiert, w i e N a p o l e o n , sondern „begeistert" u n d m i t einem „absoluten" W i l l e n . E r ist der „ v o n G o t t eingesetzte Z w i n g h e r r " , „der F o r m nach ein T y r a n n u n d U s u r p a t o r " , der die Menschen erst bildet u n d dann den Gezwungenen wieder z u seinem Richter macht (eine außerordentlich wichtige U m s c h r e i b u n g der V o r s t e l l u n g einer souveränen D i k t a -

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

Der Nationalkonvent, der am 20. September 1792 zusammentrat, hatte die Aufgabe, eine Verfassung zu entwerfen, und war außerordentliches Organ eines pouvoir constituant. Nachdem er die Vertur); die Menschheit „als eine widerstrebende N a t u r " w i r d „ o h n e alle Gnade u n d Schonung, ob sie es verstehe oder nicht, unter die Herrschaft des Rechts u n d höherer Einsicht gezwungen", der Staat kann zwar der N a t u r insofern nicht H e r r werden, als er keine „ K i n d e r f a b r i k " werden kann, dafür aber soll er eine „ B i l d u n g s f a b r i k " werden. ( D i e zitierten Ä u ßerungen, W e r k e V I I , S. 576 ff., 435 ff.) Deutlicher ist der P u n k t , an dem der legale Despotismus der A u f k l ä r u n g geschichtsphilosophisch w i r d , nicht anzugeben. I n der Hegeischen Philosophie ist für eine D i k t a t u r n u r insofern Raum, als sie inhaltlich die weltgeschichtliche Aufgabe der „ w e l t geschichtlichen Persönlichkeit" ( N a p o l e o n ) sein könnte, aber der v o m D i k t a t o r zu beseitigende entgegenstehende Zustand ist ja selbst n u r als N e g a t i o n ein M o m e n t i n dem immanenten Prozeß der logischen Selbstentw i c k l u n g des Geistes. Daraus ergibt sich kein klarer Begriff der D i k t a t u r . U m so interessanter ist die Auffassung, die katholische Staatsphilosophen, w i e Bonald, Görres u n d D o n o s o Cortés, v o n der D i k t a t u r haben, w e i l sie i n der durch Absolutismus u n d J a k o b i n e r t u m geschaffenen Zentralisation u n d damit i m modernen Staat, der seinem K e r n nach als D i k t a t u r erscheint, ein W e r k des Rationalismus sehen, das freilich selbst n u r d u r c h eine D i k t a t u r ü b e r w u n d e n werden kann. D a d u r c h treffen jene großen K a t h o l i k e n in Einzelheiten der A r g u m e n t a t i o n m i t den A n h ä n g e r n einer D i k tatur des Proletariats zusammen. Das Wesentliche dieses Begriffes v o n D i k t a t u r liegt darin, daß er eine Ausnahme v o n der organischen E n t w i c k l u n g konstituiert, u m die Aufgabe zu begründen, ein der immanenten historischen Bewegung sich entgegenstellendes, mechanisches H i n d e r n i s zu beseitigen. D u r c h diesen Begriff der immanenten organischen E n t w i c k l u n g entsteht der Gegensatz z u m mechanistischen u n d zentralistischen Staat. D i e A n n a h m e eines p o u v o i r constituant des Volkes bleibt bestehen, n u r daß das Proletariat m i t dem V o l k identifiziert w i r d . D i e Bekämpfung des intellektualistisch-mechanistischen Rationalismus d u r c h eine Irrationalitätsphilosophie führt dann bei Georges Sorel zu anarchistischen Resultaten, die den Gedanken v o n B a k u n i n u n d K r o p o t k i n eine bedeutendere p h i l o sophische Grundlage geben. Jede i n planmäßiger Hierarchie aufgebaute Organisation erscheint hier als der Versuch, intellektualistisch v o n außen her i n die E n t w i c k l u n g einzugreifen u n d w i r d D i k t a t u r genannt, so daß die Organisation der katholischen K i r c h e m i t ihrer T r e n n u n g des theologischen Klerus v o n dem d u r c h i h n geführten L a i e n t u m D i k t a t u r heißt, w ä h rend sonst bei Sorel, w o es sich u m die K r i t i k des modernen Staates handelt, Sätze v o r k o m m e n , die w ö r t l i c h i n den Historisch-politischen Blättern der dreißiger Jahre stehen könnten. D i e reinste D u r c h f ü h r u n g der D i k t a t u r ist aber für Sorel die Praxis des N a t i o n a l k o n v e n t s v o n 1793, die er als typisch rationalistische D i k t a t u r v o n der m i t der I n t u i t i o n ihrer historischen Bedeutung handelnden proletarischen „violence créatrice" u n terscheidet. I c h habe diesen kurzen, sich n u r i n den allgemeinsten A n d e u t u n g e n haltenden A u s b l i c k , der einer besonderen Darstellung vorgreift, hier gegeben, u m auf den systematischen Zusammenhang aufmerksam z u machen,

I . Der

egr

souveränen Diktatur

fassung (vom 24. Juni 1793) entworfen und das Volk sie in allgemeiner Abstimmung angenommen hatte, war sein Auftrag und damit seine Befugnis erledigt. Wegen der Kriegslage und der gegenrevolutionären Bewegung im Innern, die den Bestand der neuen Verfassung bedrohten, beschloß der Konvent am 10. Oktober 1793, daß die provisorische Regierung Frankreichs „revolutionär" sei bis zum Frieden. Damit war die Verfassung von 1793 suspendiert. Sie ist nicht wieder in Kraft getreten. Obwohl hier eine bereits angenommene Verfassung suspendiert wird, liegt doch ein Fall souveräner Diktatur vor. M i t der Erledigung des Auftrages hörte der Konvent auf, ein konstituiertes Organ zu sein. Von einer Suspension der Verfassung war weder in dem Auftrag zum Entwurf einer Verfassung noch in der Verfassung selbst die Rede. Es bestand demnach kein konstituiertes Organ, das die Suspension aussprechen konnte. Der Konvent handelte infolgedessen unter unmittelbarer Berufung auf den pouvoir constituant des Volkes, von dem er gleichzeitig behauptete, daß er in seiner Ausübung durch den Krieg und die Gegenrevolution behindert war. Er nannte seine Herrschaft „revolutionär". Nach Aulard 2 3 bedeutet das weiter nichts als das Zugeständnis, daß man die Trennung der Gewalten, die nach Artikel 16 der Erklärung der Menschenrechte von 1789 das Kennzeichen jeder Verfassung war, beseitigt habe. Aber die Verfassung von 1793 erwähnte die Trennung der Gewalten nicht mehr unter den Grundrechten. Es entspricht allerdings dem damaligen Sprachgebrauch, die Aufhebung der Trennung der Gewalten als Ausnahmezustand zu bezeichnen. Auch bei der Diktatur ist diese Trennung als Kompetenzabgrenzung im rechtlichen Sinne beseitigt, weil eine Aktionskommission inhaltlich nur von sachtechnischen Regeln, nicht von Rechtsnormen beherrscht wird. Die Aufhebung der Trennung der Gewalten unterscheidet den Begriff der Diktatur aber nicht bestimmt genug von andern Vorstellungen wie Absolui n welchem der Begriff der D i k t a t u r des Proletariats allein erschöpfend z u begreifen ist. Eine K r i t i k der Äußerungen v o n M a r x , Engels, L e n i n u n d T r o t z k i , w i e sie neuerdings weitaus am besten H . Kelsen i n seiner Schrift „Sozialismus u n d Staat, eine U n t e r s u c h u n g der politischen Theorie des M a r x i s m u s " , L e i p z i g 1920, veröffentlicht hat, trifft t r o t z der w e r t v o l l e n Klärung, die jede E r ö r t e r u n g dieses Gelehrten m i t sich bringen muß, d o c h den K e r n der Frage nicht, w e i l sie die großen Gedankenzusammenhänge ignoriert. Daß i n Kelsens Schrift (S. 56) das anthropologische A r g u m e n t v o n der N a t u r des Menschen erscheint, ist hier deshalb v o n besonderem Interesse, w e i l es jetzt p l ö t z l i c h der D e m o k r a t i e dienen soll, nachdem i n seiner sonstigen Geschichte eine absolutistische Staatsform v o n i h m den hauptsächlichen Gebrauch gemacht hat (vgl. die A u s f ü h r u n g e n oben S. 9, 111 f.). 23

H i s t o i r e de la r é v o l u t i o n française, 4. ed., p. 315.

10 C. Schmitt, Die Diktatur

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IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

tismus, Despotismus oder Tyrannei 24 . Im allgemeinsten Sinne kann jede Ausnahme von dem als richtig vorgestellten Zustand eine Diktatur genannt werden, so daß dieses Wort bald eine Ausnahme von der Demokratie, bald von den verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechten, bald von der Trennung der Gewalten oder (wie in der Geschichtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts) von der organischen Entwicklung der Dinge bezeichnet. Der Begriff bleibt allerdings immer in funktioneller Abhängigkeit von einer vorhandenen oder vorgestellten Verfassung. Das ist die Erklärung für diese Verallgemeinerung des Wortes. Aber die Übereinstimmung liegt doch nur im Negativen und ist daher nicht prägnant. Das Wort war damals ein beliebtes Schlagwort. O n parle sans cesse de dictature, sagte Barère in der Rede vom 5. April 1793, mit der er die Errichtung des Comité du salut public begründete. Besser als durch die bloße Negation der Trennung der Gewalten umschreibt Con24 D i e Auffassung, die i c h n o c h i n meinem Aufsatz über D i k t a t u r u n d Belagerungszustand, Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, Bd. 38 (1916), S. 138 ff. ausgesprochen habe, beherrscht die staatsrechtlichen E r ö r terungen der konstituierenden Versammlung u n d der spätem Körperschaften. F ü r die konstituierende Versammlung hat R. Redslob (Die Staatstheorien der französischen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o n 1789, L e i p z i g 1912) die A n s i c h t e n über die verfassunggebende G e w a l t S. 151, über die T r e n n u n g der Gewalten S. 221 ff. übersichtlich dargestellt. F ü r den Begriff der D i k t a t u r sind außerdem besonders w i c h t i g die Erörterungen der gemäßigten Konservativen u n d Liberalen, die unter dem E i n d r u c k der amerikanischen Verfassungen A r g u m e n t e wiederholen, w i e sie v o n H a m i l t o n , Jay u n d M a dison i m Federalist ausgesprochen sind. D i e große Bedeutung dieses E i n flusses, auf den A c t o n i n seinen Lectures o n the French rev., L o n d o n 1910, p. 37 hingewiesen hat, ist i n den Diskussionen über das V e t o des Königs, das Zweikammersystem u n d die föderalistische Dezentralisierung Frankreichs (der Gegensatz v o n Föderalismus u n d jakobinischer D i k t a t u r w i r d i m folgenden Kapitel n o c h hervortreten) besonders deutlich, namentlich i n Äußerungen v o n M ä n n e r n w i e M a l o u e t ( A r c h . Pari. V I I I 590), M o u n i e r , der sich auf D e l o l m e beruft (eod. 410, 416), L a l l y - T o l l e n d a l , der auf Blackstone verweist (eod. 5 1 4 / 515) usw. Als D i k t a t o r e n werden später bezeichnet Robespierre, Marat, D a n t o n , C o u t h o n , Custine usw.; die N a m e n sind zahllos. M a n sprach auch v o n einem t r i u m v i r a t des dictateurs ( A u l a r d , p. 203, 263), v o n der C o l l e k t i v d i k t a t u r des Konvents, der Pariser K o m m u n e , der Wählersektionen usw. (vgl. den interessanten Aufsatz v o n Gautherot, Rev. d. Questions historiques, t. 93, p. 466). B e i m Sturz Robespierres rief man: N i e d e r m i t dem Tyrannen, am 18. Brumaire, v o r dem gelungenen Staatsstreich: N i e d e r m i t dem D i k t a t o r . Daß Marat, der bei K r o p o t k i n i n dessen Geschichte der Französischen R e v o l u t i o n beinahe als Anarchist i m Sinne v o n B a k u n i n u n d Sorel erscheint, die D i k t a t u r fordert, ist besonders interessant; vgl. A u l a r d p. 263 u n d v o r allem Marats Rede v o m 25. Sept. 1792 i m K o n v e n t , i n der er gegen die mouvements impétueux et désordonnés d u peuple spricht, die ein weiser M a n n dirigieren müsse.

IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

147

dorcet in dem Aufsatz „Über den Sinn des Wortes revolutionär" den Begriff. Ihm, als Rationalisten des achtzehnten Jahrhunderts, lag es fern, die Trennung der Gewalten, für die ihm jedes Verständnis fehlte, heranzuziehen. Er geht von der Coexistenz der Menschen und vom Staatsvertrag aus, der nicht gegenüber denjenigen gelten kann, die ihn auflösen wollen. Darauf folgt dann eine Interessenabwägung, die das Überwiegen des höherwertigen Interesses, nämlich den Bestand des Staatsvertrages, über die Menschenrechte fordert. Das ist soweit nur eine ganz unjuristische Kollisionslogik. Aber er fährt dann fort, daß das Wort revolutionär einen von den Grundsätzen der Gerechtigkeit sich entfernenden Zustand faktischer, nur durch die außerordentliche Lage der Sache bestimmter Maßnahmen bedeutet. Er definiert das revolutionäre Gesetz geradezu als eine loi de circonstance 25. Die weitere Frage ist, wer das Subjekt der in dem gouvernement révolutionnaire enthaltenen souveränen Diktatur war. Offiziell wurde das Wort abgelehnt, weil es ein Schlagwort der Gegenrevolution war 2 6 und außerdem zu sehr an eine Militärherrschaft erinnerte, die die Jacobiner als „stratéocratie" am meisten fürchteten. Die erwähnte Rede von Barère gibt aber trotzdem ein klares Bild von der rechtlichen Lage, demgegenüber die üblichen Wendungen von der Diktatur des Comité de salut public oder Robespierres verschwinden. Der Hinweis auf das republikanische Rom konnte in dieser Rede nicht fehlen, ebensowenig, daß in Zeiten der Revolution und der Verschwörung diktatorische Autoritäten im Interesse der Freiheit nötig sind. Solche Autoritäten verlangt er aber, wie er ausführt, nicht, wenn er die Errichtung des Comité de salut public vorschlägt, denn das Comité soll keine gesetzgeberischen Befugnisse erhalten und dem Konvent immer verantwortlich bleiben. Es soll nur die Exekutive kontrollieren und beschleunigen. 25

Œuvres (Paris 1804) t. X V I I I , p. 18, 20. E. Z w e i g a. a. O . S. 392 bezeichnet das gouvernement révolutionnaire als „das große N i c h t s " , dann als „Herrschaft Robespierres", als „ K o l l e g i a l d i k t a t u r des C o m i t é de salut p u b l i c " (S. 369), dann erwähnt er auch die D i k t a t u r der K o n v e n t i o n ( A r c h . Pari. L X V I 674, Z w e i g , S. 386. A n m . 4). F ü r die Staatslehre ist der v o n Z w e i g leider nicht weiter durchgeführte Satz w i c h t i g : „ W e n n man hier überhaupt staatsrechtliche Kategorien anwenden darf, so mag man sagen, daß die formelle Regelung der staatlichen Bedürfnisse i n jener Periode ausschließlich d u r c h Verwaltungsverfügung ( i m weitesten Sinne) erfolgte. D e r völlige Mangel w i r k l i c h e r , d. i. (sie) genereller Rechtssetzung u n d deren Supplierung d u r c h den an die Einzeltatsache anknüpfenden V e r w a l tungsakt sind die eigentlichen Kennzeichen dieses w i e jeden revolutionären Regimes." 26

Roi". 10 : : -

N e b e n der l o i agraire, dem „maratisme" u n d dem „ d O r l é a n s sera

148

IV. Der Begriff der souveränen Diktatur

Welche praktische Bedeutung diesem angeblich so harmlosen Kontrollrecht zukam, wird sich aus dem folgenden Kapitel ergeben. Die Beweisführung von Barère läuft aber jedenfalls darauf hinaus, daß das Comité keine Diktatur hat, weil es nicht legislative und exekutive Befugnisse bei sich vereinigt. Das wäre demnach der übliche Begriff der Diktatur als einer Aufhebung der Trennung der Gewalten. Beim Nationalkonvent waren aber Legislative und Exekutive vereinigt. Wenn Barère nun in seiner Rede den Nationalkonvent als den Träger der Diktatur bezeichnet, so muß das trotzdem auffallen, weil nach dem Begriff der Diktatur, wie ihn bisher das achtzehnte Jahrhundert auffaßte, der Diktator die Gesetze wohl zum Schweigen bringen, nicht aber selbst Gesetze erlassen kann 27 . Barère dagegen, der die souveräne Diktatur des Nationalkonvents vor Augen hatte, gebraucht das Wort anders, als es sich aus der nur eine kommissarische Diktatur berücksichtigenden Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts ergab. Aber, fährt er fort, diese Diktatur ist notwendig und legitim, denn hier übt das Volk in Wahrheit über sich selbst die Diktatur aus, und das ist eine Diktatur, die auch freie und aufgeklärte Menschen sich gefallen lassen können. So mächtig im Lauf der Zeit das Comité de salut public wurde, rechtlich unterlag es keinem Zweifel, daß es nur als Ausschuß des Nationalkonvents und in dessen Auftrag tätig war. Auch hier trat die typische Entwicklung ein, daß der arbeitende Ausschuß das beschließende Plenum beherrschte und in Wirklichkeit regierte und daß dann innerhalb des Ausschusses wiederum allmählich das Ubergewicht eines einzelnen sich entschied, so daß (in den drei Monaten von der Hinrichtung Dantons bis zum 9. thermidor) Robespierre das Comité und dieses den Konvent beherrschte, der alle Anträge und Vorlagen ohne Diskussion einstimmig annahm. Aber, um bei der tatsächlichen politischen Sachlage zu bleiben, das Comité de salut public war nicht der einzige Ausschuß des Convents. Insbesondere entwickelte das comité de sûreté générale eine selbständige Tätigkeit, deren Geschichte allerdings noch nicht geschrieben ist. Finanziell blieb das Comité immer vom Konvent abhängig. Auch politisch ist es daher nicht unbedingt richtig, wenn Duguit 2 8 27

V g l . oben S. 113 A n m . 43. Marat suchte am 6. A p r i l 1793 m i t dem A r g u m e n t , daß bei der D i k t a t u r die Gesetze schweigen (les lois se taisent), z u beweisen, daß das comité de salut public keine D i k t a t u r ausübe. Gleichzeitig versucht er n o c h den Begriff der D i k t a t u r darauf zu beschränken, daß z u i h r die Ü b e r t r a g u n g der unbeschränkten Gewalt an einen einzigen, einzelnen Menschen gehöre, was übrigens n o c h K a u t s k y , T e r r o rismus u n d K o m m u n i s m u s , Berlin 1919, S. 28, geltend macht. 28 D r o i t constitutionnel I I , p. 342. M i t demselben Wortgebrauch k o n n t e R. H ü b n e r , D i e parlamentarische Regierungsweise Englands, T ü b i n g e n

I . Der

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souveränen Diktatur

sagt, von 1792-1795 seien die Ausschüsse des Konvents die „véritables détenteurs du pouvoir" gewesen. Die entscheidende Instanz blieb, wie sich am 9. thermidor zeigte, auf die Dauer auch politisch der Nationalkonvent. Daß er im rechtlichen Sinne allein in Betracht kam, wurde von niemand bestritten. Von ihm allein leiteten die Kommissare des Volks ihre Vollmachten ab, auf seine „toutepuissance" beriefen sie sich, wenn ihnen in der Provinz der, wie sie sagten, lächerliche Einwand der Trennung der Gewalten entgegengehalten wurde, ihre ganze Tätigkeit bestand nur darin, die Macht des Konvents durchzusetzen, und in kritischen Situationen, wenn sie ohne besonderen Auftrag auf eigne Gefahr vorgehen, wie bei dem Verrat von Dumouriez, berufen sie sich nur auf die Autorität des Konvents. Dieser behält immer die „impulsion". Alle staatliche Autorität, die sich von 1792-1795 in Frankreich mit solcher Unmittelbarkeit und Hemmungslosigkeit entfaltete, hatte ihre Quelle im Nationalkonvent, „emanierte", wie man damals am liebsten sagte, von ihm, dessen Befugnisse selbst nur unmittelbare Emanationen eines auch von ihm selbst anerkannten pouvoir constituant waren.

1918, S. 38, das nach dem „Gesetz der Verengerung" sich entwickelnde englische Kabinett den Inhaber einer „absoluten, ja diktatorischen Staatsgewalt" nennen, u n d dann wieder, w e i l dadurch, daß „der Beauftragte seinem Auftraggeber gewaltig über den K o p f gewachsen" war, der erste M i n i s t e r ausschlaggebend wurde, v o n dessen „ u n v e r h ü l l t e r D i k t a t u r " sprechen.

V . D i e Praxis der V o l k s k o m m i s s a r e w ä h r e n d der Französischen R e v o l u t i o n 1 Sowohl die verfassunggebende wie die gesetzgebende Versammlung hatten über zahlreiche Einzelheiten der Verwaltung in ihren Dekreten verfügt 2 . Die eigentliche Entfaltung der Diktatur liegt 1 I m folgenden ist, w o sich die i n Betracht k o m m e n d e Stelle des Bullet i n des lois, der Archives parlamentaires u n d des M o n i t e u r aus dem D a t u m ohne weiteres ergibt, k e i n besonderer H i n w e i s zitiert. Dagegen ist auf die C o l l e c t i o n des lois v o n Duvergier regelmäßig verwiesen, w e i l sie sich nach meiner Erfahrung häufiger i n deutschen B i b l i o t h e k e n befindet u n d überdies H i n w e i s e auf andere K o l l e k t i o n e n enthält. I n besondern Fällen ist die Sammlung B a u d o u i n m i t z i t i e r t . D i e N u m m e r n a n g a b e n beim Bullet i n des lois beziehen sich n i c h t auf die Stücke der Sammlung, sondern auf die durchlaufend numerierten Zahlen der Gesetze u n d Verordnungen. 2 Beispiele für die verfassunggebende Versammlung: Dekrete, d u r c h welche die Stadtbehörden z u r A u f n a h m e v o n A n l e i h e n ermächtigt werden, Belobigungen v o n Truppenteilen u n d Behörden, K o n t r o l l e der Gefängnisse u n d der Z a h l der Gefangenen (Duvergier I 109), Regelung der Feier des 17. J u n i 1790 ( D u v . I 255), A n w e i s u n g e n an Behörden bei U n r u h e n i n den Städten ( D u v . I 243, I I 327), E n t z i e h u n g des Bürgerrechts u n d L a d u n g einzelner Personen v o r die Barre der V e r s a m m l u n g zur Rechenschaftslegung ( D u v . I 252); ein D e k r e t v o m 24. Febr. 1791 verbietet der Gemeindebehörde v o n A r n a y de D u c , sich k ü n f t i g der Durchreise v o n Mesdames tantes d u R o i zu widersetzen ( D u v . I 247); Beurteilung einzelner behördlicher A k t e als attentatoires à la souveraineté nationale et à la puissance législative ( D u v . I 465); D e k r e t , gemäß welchem das U r t e i l der Gemeindebehörde Straßburg über die U n r u h e n i n Schlettstadt als U r t e i l letzter Instanz gelten soll ( D u v . I 421); A n o r d n u n g e n der Strafverfolgung u n d richterlichen A b u r t e i l u n g v o n einzelnen A u f r ü n r e r n ( D u v . I 246). D i e meisten Beschlüsse ergehen allerdings i n der F o r m , daß die V e r s a m m l u n g d u r c h ihren Präsidenten den K ö n i g bittet, weitere Maßnahmen zu treffen ( D u v . I 47, 242 / 243, I 289), namentlich bei den U n r u h e n i n den einzelnen Städten ( D u v . I I 360, 459). Das D e k r e t v o m 22. M ä r z 1791 bestimmt, daß bei den U n r u h e n i n der früheren P r o v i n z Maçonnais weder zivile noch k r i m i n e l l e Verfolgung eintreten soll ( D u v . I I 387). Gegen die E i n m i s c h u n g i n die V e r w a l t u n g sprach sich i m Interesse einer starken Exekutive besonders D u p o n t de N e m o u r s aus. Daß ein Gesetz als v o l o n t é générale i m m e r generellen Charakter haben müsse, hat natürlich auch die verfassunggebende Versammlung praktisch nicht beachtet. Das auffälligste Beispiel dafür dürfte das Gesetz über die Jagd v o m 30. A p r i l 1790 sein, i n welchem für die „conservation des plaisirs personelles d u R o i " eine l o i particulière v o r behalten blieb ( D u v . I 168), die dann am 14. Sept. 1790 erging ( D u v . I

V. Die Praxis der Volkskommissare

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aber in der Tätigkeit der Kommissare. Diese treten nicht nur neben den ordentlichen Beamten und den zahlreichen Dienstkommissaren der Verwaltung auf (Polizei-, Finanz- und Steuerkommissare, die vom Kriegsminister ernannten Kommissare bei der Heeresverwaltung, die commissaires de guerre usw.), sondern auch neben eigentlichen Geschäftskommissaren, die von den Ministerien geschickt waren und sogar neben den auf Grund des Dekretes vom 26. N o vember 1792 geschickten commissaires nationaux des Conseil Executif provisoire, die in den neu eroberten Provinzen die bestehenden feudalen Lasten abschaffen, die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrechterhalten, die Wahlen der neuen Behörden durch das Volk leiten sollen, darauf achten, daß keine Gegenrevolutionäre gewählt werden usw., die also als Aktionskommissare bezeichnet werden müssen3. Von allen diesen Kommissaren sind die unmittelbar aus der Repräsentation des Volkes entsandten Kommissare zu unterscheiden. Die verfassunggebende Nationalversammlung hatte öfters, namentlich bei Unruhen im Lande oder in den Kolonien, den König um Entsendung besonderer mit weitgehenden Aktionsvollmachten ausgestatteter königlicher Kommissare zur Wiederherstellung der Ordnung zu entsenden4. Daneben kannte die Nationalversammlung 418). Solche Gesetze mußten die E m p ö r u n g echter Rationalisten w i e C o n dorcet hervorrufen u n d sie zu der U b e r z e u g u n g bringen, daß die M o n archie eine m i t der rationalen Gestaltung staatlicher Verhältnisse unvereinbare I n s t i t u t i o n war. — Beispiele für die gesetzgebende Versammlung (außer Ermächtigungen zur A u f n a h m e v o n Anleihen): zahlreiche A n k l a g e n gegen einzelne Bürger ( D u v . I V 71, 115, 123 usw.), E i n m i s c h u n g bei U n ruhen ( D u v . I V 83, 307), Entscheidungen über Besetzung v o n Beamtenstellen ( D u v . I V 85), Bericht- u n d Rechenschaftseinforderung v o n der Exekutive ( I V 215, 276, 289, 291). N a c h der Suspension des Königs (am 10. A u g . 1792) regierte die Legislative; vgl. darüber weiter i m Text. 3

D e k r e t des N a t i o n a l k o n v e n t s i m Recueil des actes et documents inédits d u C o m i t é de salut public (herausgegeben v o n A u l a r d ) , I 271, 332; über die Tätigkeit dieser Nationalkommissare, Zusammenarbeiten m i t den Militärbehörden: I I , S. 419-437, m i t den Kommissaren des N a t i o n a l k o n vents: I I 17. 4 Bei den U n r u h e n i m Elsaß, Juni 1791, werden auf G r u n d eines D e krets der Nationalversammlung königliche Kommissare entsandt, u m die öffentliche Ruhe u n d O r d n u n g wiederherzustellen; der K ö n i g w i r d gebeten, die nötigen T r u p p e n d o r t h i n zu dirigieren ( D u v . I I 205, 235, Baud. X X 206, X I 185); ferner Dekrete über die Entsendung v o n drei K o m m i s saren i n das Departement Gard z u r Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit. E i n D e k r e t v o m 12. Dez. 1790 gegen die Störung der öffentlichen O r d n u n g , die d u r c h frühere belgische T r u p p e n entstehen könnte, bittet den K ö n i g , alle K o m m a n d a n t e n u m die nötigen Maßnahmen zu ersuchen, nötigenfalls m i t H i l f e der Nationalgarde U n o r d n u n g e n zu ver-

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V. Die Praxis der Volkskommissare

bereits eigene von ihr selbst aus ihrer Mitte bestimmte und bevollmächtigte Kommissare. Zunächst allerdings nur für interne und für Finanzangelegenheiten: Kommissare für die Expedition der Dekrete, für die Ausgabe der Protokolle, die Regelung der Sitzungen. Bei der Übersiedelung nach Paris (Oct. 1789) wird ein Kommissar ernannt, um das Sitzungslokal auszusuchen5. Dann sind Kommissare der Nationalversammlung bei der Münzherstellung, der Zeichnung von Schatzwechseln und Assignaten, bei der Lieferung des Papiers für die Assignaten und bei der Verwaltung des trésor public tätig 6 . Eine durchaus selbständige Verwaltungstätigkeit übte die Nationalversammlung aber bei der Flucht des Königs im Juni 1791 aus. Sie erklärt zunächst, daß ihre Dekrete während der Abwesenheit des Königs auch ohne dessen Sanktion gelten. Die Post wird zur Wiederaufnahme des Verkehrs aufgefordert, damit der Postverkehr keine Unterbrechung erleidet, die Ausreise aus Paris allgemein verboten, die Nationalgarde aufgestellt, durch den Minister des Innern läßt die Versammlung allen Beamten und Truppen befehlen, die Grenzen zu sperren, damit kein Mitglied der königlichen Familie ausreisen und kein Gold oder Munition ins Ausland gebracht werden kann. Von dem Kommandanten der Pariser Nationalgarde verlangt die Versammlung Rechenschaft über die Maßnahmen, die er zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit getroffen hat. A n die königlichen Paläste läßt sie Siegel legen7. Dann hindern, ferner anzuordnen, daß den Verwaltungsbehörden d u r c h die M i l i t ä r k o m m a n d a n t e n oder die D i r e k t o r e n der Arsenale Waffen geliefert werden, damit die Nationalgarde z u m Schutz des Eigentums u n d zur A u f rechterhaltung der O r d n u n g tätig sein k a n n ( D u v . I I 109, Baud. I X 140). A m 2. A p r i l 1791 werden Zivilkommissare m i t besonderen V o l l m a c h t e n nach A i y geschickt ( D u v . I I 341, Baud. X I I I 8). F ü r die K o l o n i e n : D e k r e t v o m 29. N o v . 1790 über die U n r u h e n auf den A n t i l l e n ; der K ö n i g w i r d gebeten, vier Kommissare i n diese K o l o n i e n zu schicken, u m a) I n f o r m a t i o n e n einzuziehen, b) provisorisch innere V e r w a l t u n g , Polizei u n d öffentliche O r d n u n g z u regeln, w o f ü r ihnen alle regulären T r u p p e n , die M i l i z , die Nationalgarde u n d alle Seestreitkräfte zur V e r f ü g u n g stehen, die auf Ersuchen der Kommissare eingreifen müssen. D i e Kommissare können, w e n n es erforderlich ist, die Kolonialversammlungen suspendieren, m i t der A n k u n f t der Kommissare hören alle obrigkeitlichen F u n k t i o n e n u n d Befugnisse auf, bis sie v o n den Kommissaren bestätigt werden. D e r K ö n i g soll T r u p p e n u n d Linienschiffe bereitstellen für den Gouverneur der Insel oder einen beauftragten O f f i z i e r , die i m Einvernehmen m i t dem Z i v i l k o m missar vorgehen sollen ( D u v . I I 71, Baud. V I I I 253; weitere Beispiele D u v . I I 225, 350). 5

D u v . I 45, 59, 70, 78. D u v . I 180, 187, 223, 320; I I 332, 341 (Dekret v o m 18. M ä r z 1792: D e r K ö n i g ernennt sechs, die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g drei Kommissare z u m trésor public). 6

V. Die Praxis der Volkskommissare

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werden je drei Kommissare aus ihrer Mitte (pris au sein de l'Assemblée) in die Grenzdepartements geschickt, um dort alle geeigneten Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Sicherheit des Staates mit den Verwaltungsbehörden und dem Truppenkommandanten zu vereinbaren und durchzuführen. Diese Kommissare sind befugt, alle erforderlichen Ersuchen zu stellen8. Außerdem werden drei Kommissare der Nationalversammlung (Latour-Maubourg, Pethion, Barnave) nach Varennes geschickt, um alle für die Sicherheit des Königs und der königlichen Familie sowie für ihre Rückkehr nach Paris erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie erhalten Vollmacht, allen Behörden und Truppen Befehle zu erteilen und überhaupt alles zu tun, was sie zur Durchführung ihrer Aufgabe für erforderlich halten, wobei sie darauf achten sollen, daß der dem König geschuldete Respekt nicht verletzt wird 9 . Den Charakter kommissarischer Ermächtigung trägt auch das Dekret der Nationalversammlung vom 22. Juni 1799 (Duv. I I I 72), wonach die Minister alle verdächtigen Militärpersonen ihrer Posten entheben und durch andere ersetzen dürfen. Die Nationalversammlung selbst suspendiert durch Dekret Herrn von Bouillé seiner sämtlichen militärischen Funktionen und befiehlt seine Verhaftung 10 . Die Kommissare der Nationalversammlung, die in die Grenzdepartements geschickt waren, erhalten durch Dekret vom 24. Juni 1791 (Duv. I I I 73) allgemein die Befugnis, alle Verwaltungs- und Gemeindebehörden um die erforderlichen Maßnahmen zu ersuchen; die Nationalgarde wird unter den Befehl der Linienoffiziere gestellt, die Generäle werden bevollmächtigt, jeden Offizier, der den Verfasssungseid verweigert, abzusetzen und jeden Verdächtigen vorläufig seines Amtes zu entheben, worüber sie jedoch dem Kriegsminister sofort berichten mußten. Schließlich beauftragt die Nationalversammlung ein Pariser Gericht mit den Erhebungen über die Vorgänge in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791. Das Gericht soll zu diesem Zweck zwei richterliche Kommissare ernennen (ist aber natürlich selbst Kommissar). Für die Aufnahme der Erklärungen des Königs und der Königin ernennt die Versammlung aus ihrer Mitte drei Kommissare 11 . Die gesetzgebende Versammlung (1791-20. September 1792) griff ebenfalls häufig durch Dekrete bei Unruhen in den einzelnen Städ7

Dekrete v o m 21. Juni 1791, D u v . I I I , S. 6 0 - 6 3 ; v o m 22. Juni 1791, D u v . I I I 72. 8 D e k r e t v o m 22. Juni 1791, D u v . I I I 64, Baud. X V 338. 9 D e k r e t v o m 2 2 . / 2 3 . Juni 1791, D u v . I I I 64, Baud. X V 357; M o n i t e u r v o m 24. Juni 1791, A r c h . Pari. X X V I I , p. 428. 10 D e k r e t v o m 22. Juni 1791, D u v . I I I 72. 11 Dekret v o m 26. Juni 1791, D u v . I I I 77, Baud. X V 441.

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V. Die Praxis der Volkskommissare

ten ein und ersuchte die Exekutive (den König), Kommissare zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Beschwichtigung der Bevölkerung zu entsenden12. Auch hier erhalten die in die Kolonien entsandten Kommissare besonders weitgehende Vollmachten und werden sie, obwohl sie vom König geschickt sind, von der gesetzgebenden Versammlung ermächtigt, die force publique in Anspruch zu nehmen, Kolonialwahlversammlungen zu suspendieren, Maßnahmen zur Durchführung neuer Wahlen zu treffen, sich alle nötigen Informationen von den Behörden zu beschaffen, Schuldige festzunehmen und nach Frankreich transportieren zu lassen, damit sie dort abgeurteilt werden, und die vom König bereitzustellenden Truppenteile zu requirieren. Sie können Versammlungen und Behörden vorläufig suspendieren (Recurs an die Legislative) und richterliche Behörden einsetzen. Die mit der Neuorganisation der Verwaltung einzelner Distrikte betrauten Kommissare werden von ihnen zur Rechenschaft gezogen13. Selbständige und eigene Kommissare ernennt die Legislative am 31. Juni 1792 zur Kontrolle (examination) der Verproviantierung des Lagers in Soissons14. Nach der Suspension der Exekutive am 10. August 1792 trifft die gesetzgebende Versammlung, ähnlich wie die verfassunggebende im Juni 1791, eine Reihe von Maßnahmen, die sich aus der besonderen Sachlage ergeben. Sie verfügt, „im Interesse der inneren und äußeren Sicherheit des Staates", daß sich alle Bürger eine Bescheinigung ihrer politischen Zuverlässigkeit, ihres „civisme" verschaffen müssen; die Gemeindebehörden werden ermächtigt, die Verbreitung gegenrevolutionärer Schriften zu verhindern; es werden vier Kommissare der Versammlung ernannt, um das bisherige Geschäftsgebaren der Exekutive zu prüfen; zu den am 31. Juli 1792 nach Soissons gesandten Kommissaren werden sechs weitere ernannt, um bei der Nord-, Zentral- und Rheinarmee tätig zu sein und der Versammlung zu berichten. Als drei dieser Kommissare von der Gemeindebehörde in Sedan festgenommen werden, erklärt die Versammlung das durch Dekret vom 17. August 1792 als ein Attentat auf die Souveränität des Volkes und die Unverletzlichkeit seiner Repräsentanten, läßt die schuldige Gemeindebehörde sofort verhaften und schickt drei neue Kommissare aus der Versammlung in das Departement, die Vollmacht haben, die force publique und Militär zu requirieren; alle Zivil- und Militärbeamten sowie alle Bürger, die dem Ersuchen dieser Kommissare nicht Folge leisten, werden für infam und Vaterlandsverräter erklärt. Aufgabe und Befugnisse dieser Kommissare werden folgendermaßen umschrieben: sie können 12

D u v . I V 83, 98, 101, 114 A n m . Dekrete v o m 28. M ä r z , 11. M a i , 15. Juni, 22. Juni 1792; D u v . I V 107, 177, 253, 263, 277, 283. κ D u v . I V 330, Baud. X X I I I , p. 180. 13

V. Die Praxis der Volkskommissare

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überall, wo sie es für zweckmäßig (convenable) halten, die Verwaltungsbehörden zusammenrufen, sich Aufschlüsse geben und alle im Interesse des Vaterlandes und der öffentlichen Ruhe erforderlichen Maßnahmen treffen lassen oder selber treffen. Alle Exekutivbehörden werden ersucht, die Kommissare zu unterstützen. Diese haben ferner die Aufgabe, die revolutionäre Stimmung durch Proklamationen und Aufklärung zu beleben und zu erhalten. M i t dem Dekret vom 17. August 1792 ist die Grundlage für die kommende Ausübung der staatlichen Gewalt durch Kommissare der Volksvertretung gegeben15. Für die Korrespondenz mit den Kommissaren bei den verschiedenen Armeen wird ein besonderer Ausschuß der Versammlung gebildet (24. August 1792, Duv. IV 414). Dann werden am 27. August weitere Kommissare der Versammlung für die Beschaffung von Waffen und anderem Heeresbedarf ernannt mit einer Instruktion, die bereits eine charakteristische Formel für den Ubergang der vollziehenden Gewalt enthält: alle mit obrigkeitlichen Befugnissen ausgestatteten Personen (personnes ayant autorité) müssen unweigerlich allen Ersuchen dieser Kommissare entsprechen, die im Weigerungsfall alle erforderlichen Maßnahmen selbst treffen 16 . A m folgenden Tage werden Kommissare zur beschleunigten Aushebung von 30 000 Mann ernannt 17 , darauf Kommissare zur Sicherung des Heeresbedarfs an Getreide und Mehl, die befugt sind, alle bestehenden Verwaltungsbehörden und alle Beschlüsse von Behörden, welche den Heeresbedarf gefährden können, zu suspendieren 18. Sämtliche Kommissare der gesetzgebenden Versammlung sind von den Kommissaren des pouvoir exécutif, die im Innern des Landes nur Befugnisse der normalen Zuständigkeit haben, zu unterscheiden. Der Nationalkonvent, der am 20. September 1792 zusammengetreten war, ließ die von der Legislative entsandten Kommissare bestehen19 und ernannte selbst, unter dem Druck des Bürgerkrieges 15 D u v . I V 374, Baud. X X I V 33. A m gleichen Tage ( D u v . I V 376) w e r den die V o l l m a c h t e n der Kolonialkommissare bestätigt u n d Z u w i d e r h a n delnde für Verräter des Vaterlandes erklärt.

" D u v . I V 431, Baud. X X I V 240. 17 D e k r e t v o m 28. A u g . 1792, D u v . I V 445. 18 D e k r e t v o m 29. A u g . 1792, D u v . I V 450. D i e v o n A u l a r d , H i s t o i r e p o l i t i q u e de la r é v o l u t i o n française, p. 343 erwähnte A n o r d n u n g der Legislative über die Ernennung v o n vier Kommissaren zur Ü b e r w a c h u n g der Strafverfolgung wegen des Diebstahls der Garde-Meuble (17. Sept. 1792) (Baud. X X I V 154) dürfte für die hier i n Frage stehende E n t w i c k l u n g nicht charakteristisch sein; ähnliche Kommissare hatte auch schon die K o n s t i tuante ernannt. 19

3, 4.

Dekrete v o m 20. u n d 21. Sept. 1792, D u v . V 1 u n d 2, Baud. X X I V

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V. Die Praxis der Volkskommissare

im Innern und der von allen Seiten vordringenden feindlichen Invasion, immer neue Kommissare. So bildete sich ein ganzes System kommissarischer Regierung und Verwaltung aus, dessen Mittelpunkt der Auftrag- und Vollmachtgeber, der Nationalkonvent und dessen Organe Mitglieder dieses selben Nationalkonvents waren. Bei der Menge der Geschäfte war die Zahl der entsandten Kommissare außerordentlich groß. A m 9. März 1793 wurden zum Beispiel 82 Mitglieder des Konvents in die Departements geschickt, um die Rekrutierung von 300 000 Mann durchzuführen, weil der Widerstand gegen die allgemeine Wehrpflicht seinen Sitz in den Selbstverwaltungskörpern, den Départemental- und noch mehr den Munizipalbehörden hatte. Diese Kommissare entwickeln sich als Aktionskommissare neben den dem Kriegsministerium unterstehenden Rekrutierungskommissaren. Sie erhalten aber zunächst nur gegenüber den Behörden besondere Vollmachten. Später war bis zum Sturz Robespierres oft die Hälfte aller Mitglieder des Konvents als Kommissare unterwegs. Nach ihrer Aufgabe werden diese Kommissare eingeteilt in solche bei der Armee und solche in den Departements. Daneben treten zahlreiche Kommissare mit besonderem Auftrag und besonderer Vollmacht auf 20 . Die hier in Betracht kommenden Kommissare sind sämtlich Mitglieder des Nationalkonvents (pris au sein de la convention nationale). Sie werden in Gruppen, „Deputationen", von drei bis neun, häufig auch mehr geschickt, dürfen sich in Untergruppen teilen, können aber immer nur zu zweit selbständig vorgehen 21 . Sie haben eine Art Uniform 2 2 . Ihr offizieller Name ist seit dem Dekret vom 4. April 1793 (Recueil I I I 64): Représentants de la Nation députés par la Convention nationale à . . . M i t der Organisation des Comité de salut public (6. April 1793) werden sie diesem unterstellt. Dadurch tritt eine einheitliche Organisation und gleichzeitig eine neue Entwicklung ein. Für eine Betrachtung der durch Kommissare ausgeübten Herrschaft des Nationalkonvents ist daher die Zeit bis zur Errichtung des Comité von der spätem Zeit zu unterscheiden. Die Aufgaben der Kommissare waren verschiedenartig. Ausgangspunkt der ganzen Umwälzung der konstituierten Behörden waren auch hier bloß Aufsichtsbefugnisse, „Kontrolle", die hier aber nur der Beginn einer auf die Beseitigung aller politischen Widerstände gerichteten Aktion ist. Im allgemeinen bestand die Tätigkeit der Kommissare bei den Armeen (die von den als commissaires de guerre ordonnateurs bezeichneten Beamten der Heeres20

Z . B. die Kommissare z u r Festnahme v o n Paoli, 2. A p r i l 1793; Recueil I I I 35. 21 D e k r e t v o m 4. A p r i l 1793, Recueil I I I 63, vgl. I 356, I I 45. 22

Recueil I I I 63.

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Verwaltung zu unterscheiden sind) in folgendem: Information über alle militärischen Angelegenheiten, über die Stimmung im Heere, militärische Vorgänge und Ereignisse, politische Zuverlässigkeit der Offiziere, Stand, Ausrüstung und Verpflegung des Heeres, Einwirkung auf die Stimmung und Disziplin der Soldaten durch Ansprache, Proklamationen, Agitation, Verteilung der Bulletins des Nationalkonvents, Beseitigung der Hoheitszeichen der alten Regierung, Beteiligung an Wählerversammlungen, Überwachung der Offiziere, besonders der Generäle 23; Inspektion der Festungen, Grenzen, Arsenale, Depots, Geschützfabriken, Küstenanlagen, Lazarette; Instandsetzung von festen Plätzen nach besonderem Auftrag unter Heranziehung von Ingenieuren und Sachverständigen 24; Sicherung des Nachschubs, Beschaffung des Heeresbedarfs durch Ersuchen an die Verwaltungsbehörden. Instandhaltung der Wege, Ermittlung von Unterschleifen der Heereslieferanten, die häufig mit den Kommissaren der Heeresverwaltung im Einvernehmen standen25. Über alles hat der Kommissar des Konvents dem Konvent selbst oder dessen Comité de défense générale zu berichten. Die Kommissare des Konvents in den Departements hatten zunächst ebenfalls nur Aufsichts- und Kontrollbefugnisse: Information und Berichterstattung an den Konvent über die Stimmung der Behörden und der Bevölkerung und über den Vollzug der Gesetze; Entgegennahme von Beschwerden und Anzeigen der Bevölkerung; revolutionäre Propaganda durch Proklamationen, Fraternisieren, Reden, Festlichkeiten, Beteiligung an den politisch zuverlässigen Parteiorganisationen, den jakobinischen Klubs und Gesellschaften in der Provinz, den sociétés populaires und deren Heranziehung zu Mitwirkung bei amtlicher Tätigkeit; Überwachung der Tätigkeit der Gegenrevolutionäre 26 . Im Anschluß daran ergab sich aber auch die „Reinigung" der Behörden und Amter von Gegenrevolutionären und Aristokraten und die Besetzung der Amter mit zuverlässigen Republikanern sowie die Durchführung der neuen Verwaltungsorganisation, Einteilung in Departements und Distrikte 27 ; nötigenfalls unmittelbarer Vollzug der Gesetze, namentlich bei Rekrutierung der Armee, Sicherung des Heeresbedarfs, Bekämpfung der Gegenrevolution und des Wuchers (die Lebensmittelknappheit wurde auf 23 Recueil I 171, 246, 250; I I I 49, 64 ( D u m o u r i e z : I I I 49; Kellermann: I 121, 138, 164; Custine I V 16 usw.). 24 Recueil I I I 111, 1 2 0 / 1 2 1 ; I I 45, 46, 54; I I I 62. 25 Recueil I 243, 265, 309, 404; I I 12. D u r c h D e k r e t v o m 16. A p r i l 1793 hat der K o n v e n t sämtliche Verwaltungskommissare ihres Amtes enthoben u n d dafür 390 neue eingesetzt (vgl. I V 30). 26

Recueil I 211, 264, 352, 364; I I I 23, 40, 41, 52, 7 6 / 7 7 .

27

Recueil I 277; I I 3 1 / 3 2 .

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V. Die Praxis der Volkskommissare

gegenrevolutionäre Intrigen zurückgeführt) 28 ; Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zunächst durch Aufklärung der Bevölkerung bei Lebensmittelunruhen, Sicherung des freien Verkehrs mit Getreide, Verhinderung der wucherischen Aufspeicherung von Vorräten, Fürsorge für die notleidende Bevölkerung, Verhandlungen mit den Fabrikbesitzern über Beschäftigung der Arbeitslosen und mit den Arbeitern über Wiederaufnahme der Arbeit 2 9 , Verhandlungen mit den Aufrührern, soweit sie Irregeleitete (égarés) waren. Die Befugnisse dieser Kommissare gegenüber den Behörden begannen, entsprechend ihrer Aufgabe, mit bloßen Überwachungsund Kontrollrechten, um sich dann entsprechend dem Zweck der Kontrolle nach Lage der Sache immer weiter auszudehnen: Besichtigung von Räumen und Depots, Vorlage der Akten, Register, Korrespondenzen 30, Ersuchen an Behörden, die sämtlich aufgefordert werden, allen derartigen Ersuchen Folge zu leisten und nötigenfalls von dem Kommissar zur Vornahme der ersuchten Handlung autorisiert werden 31 ; selbständiges Eingreifen in Amtshandlungen durch Aufhebung oder Nichtigkeitserklärung (Cassation) von Amtshandlungen, Beschlüssen usw. (Recueil I 327) oder unmittelbare Vornahme der Amtshandlung; Eingriff in die Amterbesetzung zunächst durch Aufstellung eines „surveillant" bei unzuverlässigen Beamten und Behörden ( I I I 28), vorläufige Amtsenthebungen 32 und vorläufi28

Recueil I 245, 265, 271, 291, 404. Recueil I 113, 238; I I 577. 30 D e k r e t des N a t i o n a l k o n v e n t s v o m 30. N o v . 1792 ( I 828, 341). 31 Dekrete des Konvents v o m 24. Sept. 1792 u n d 4. A p r i l 1793 ( I I I 62). Einfache Ersuchen u m Maßnahmen z u r Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe ( I I 4, I I I 10), Aufstellung u n d Einreichung v o n Listen der Verdächtigen, sogar der „Nachlässigen" u n d „Indifferenten" ( I I I 41), u m strenge Paßkontrolle ( I 253), an militärische Verwaltungsbehörden, besonders die Heereskommissare, Ersuchen an den General, Sitzungen des Generalstabes einzuberufen ( I I I 38) oder z u verhindern, daß die Militärkapelle royalistische Lieder spielt ( I 375), Überweisungen v o n Sachen an das Kriegsgericht ( I 442), als royalistische Flugschriften verbreitet werden; oder an das Rev o l u t i o n s t r i b u n a l ( I V 16, Custine); qualifizierte Ersuchen, d. h. solche m i t A u t o r i s a t i o n der Behörde z u r V o r n a h m e der H a n d l u n g , z. B. I I I 13 ( A u s weisungen). 29

32 U r s p r ü n g l i c h w u r d e n die Kommissare hierzu besonders autorisiert, d o c h gingen sie auch ohne solche A u t o r i s a t i o n v o r ( I 178, 198, 201, 226, 245, 263, 310, 351, 352, 362; I I 4, 17). Generelle Ermächtigung zur V o r nahme v o n Amtsenthebungen d u r c h das D e k r e t v o m 26. Jan. 1793 ( I 503, I I 15), gelegentlich dann auch wieder Amtsenthebungen d u r c h K o n v e n t s beschlulS ( I I I 47); dann Amtsenthebungen verbunden m i t der Festnahme des Beamten ( I I 387).

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ge Neubesetzungen33, Entscheidung über die Geschworenenlisten, Streichung unzuverlässiger Geschworener (IV 13), Beurlaubung und Entwaffnung unzuverlässiger Nationalgarden (I 329). Die Mittel (moyens d'exécution, I I I 9), mit denen sie im einzelnen Falle vorgehen, sind nach Lage der Sache verschieden: Ersuchen an Behörden, Requisition der force publique oder der force armée, d. h. der Gendarmerie, der Nationalgarde, der Freiwilligenbataillone oder eines etwa in der Nähe stehenden regulären Truppenteiles (I 247, I I I 23, 39). Bei Aufruhr ersuchen sie entweder die Verwaltungsbehörde um die erforderlichen Maßnahmen ( I I I 10, 73, I V 13), oder greifen unmittelbar selbständig ein mit Truppen, die sie für diesen Zweck requiriert haben (I 160), oder lassen sich von der Munizipalbehörde ein Kommando der Nationalgarde überweisen, dem sie dann selbst die weitern Befehle geben (I 267). Zuweilen verhandeln sie mit dem Gegner und treffen Abmachungen über Ablieferung der Waffen usw. ( I I I 53, keine Amnestie!). Alle diese Befugnisse beruhten auf einem Übergang der vollziehenden Gewalt an die Kommissare, woraus folgt, daß sie zunächst über die freilich sehr weitgehenden gesetzlichen Bestimmungen hinaus keine andern Eingriffe in die persönliche Freiheit, Eigentum oder gar das Leben von Privaten vornehmen durften als die Behörde, an deren Stelle sie traten oder die von ihnen ersucht war. Doch wurde ihre Ermächtigung auch darauf ausgedehnt, alle Verdächtigen, welche die öffentliche Ruhe stören könnten, festzunehmen 34. Weiter aber ergab sich daraus, daß die Umschreibung der kommissarischen Ermächtigung in einer bloßen Zweckbestimmung lag, eine nach den Umständen des Falles unbegrenzte Befugnis. Die Formel für die Ermächtigung lautete dahin, daß den Kommissaren durch den Konvent als dem Träger der Souveränität alle Vollmachten delegiert 33

I n dringenden Fällen schon i m O k t o b e r 1792 ( I 195). N a c h dem Verrat v o n D u m o u r i e z haben die Kommissare bei der A r m e e das K o m mando gleich einem neuen General übertragen ( I I I 66); „ C o m p l e t i e r u n g " v o n Munizipalitäten: I I I 8. Generelle Ermächtigung zu Neubesetzungen erst d u r c h D e k r e t v o m 21. Jan. 1793 ( I 503), aber ohne das Recht, die des A m t e s enthobenen Personen selbst wieder einzusetzen (Dekret v o m 1. A p r i l 1793; I I I 7); Neubesetzungen durften n u r m i t solchen Personen v o r genommen werden, deren civisme sicher w a r ( I I I 7). 34 D e k r e t des Konvents v o m 26. Jan. 1793 ( I I 15) u n d 1. A p r i l 1793 ( I I I 47 / 48): tous gens suspects q u i p o u r r o n t troubler la tranquillité p u b l i que; Pflicht z u m Bericht an den K o n v e n t binnen 24 Stunden; generelle Festnahmeanordnungen, z. B. I I I 41: gegen sämtliche Küster sämtlicher Kirchen, deren G l o c k e n geläutet w u r d e n . H i e r h e r gehören auch die zahlreichen Ausweisungsbefehle, Aufenthaltsbeschränkungen usw. I n einigen Fällen spielt der Kommissar selbst den Richter, u m der Bestimmung, daß der Festgenommene binnen 24 Stunden zu vernehmen ist, zu genügen; vgl. den interessanten Bericht v o n Fouché, I I 431.

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werden, um sämtliche Maßnahmen zu treffen, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit, Ruhe oder Ordnung erforderlich sind oder nach Lage der Sache erforderlich werden, die nach den Umständen notwendig werden oder dergleichen 35. Daß das in Wahrheit eine unbegrenzte Vollmacht ist, wurde offen anerkannt. Bereits im Februar 1793 wird von den Kommissaren des Nationalkonvents offiziell gesagt, daß sie mit pouvoirs illimités bekleidet sind 36 . Freilich bestand eine wichtige Einschränkung ihrer Möglichkeiten darin, daß sie nicht über staatliche Geldmittel verfügen durften. Anweisungen an die Staatskasse waren nur den Kommissaren bei der Armee und diesen nur in dringenden Fällen gestattet. Im allgemeinen suchen die Kommissare beim Konvent um Anweisungen nach 37 . Die Praxis, beliebige Taxen und Abgaben von den Aristokraten und den reichen Leuten zu erheben, hat sich erst später herausgebildet. Nach der Errichtung des Comité de salut public wurde die Tätigkeit der einzelnen Kommissare durch eine besser zentralisierte Organisation genauer kontrolliert, als es bei dem aus mehreren Hundert Mitgliedern bestehenden Nationalkonvent möglich war. Das Comité hob Anordnungen und Entscheidungen der Repräsentanten auf (ζ. Β. IV 130) und schickte sogar gelegentlich besondere Agenten zur Überwachung der Kommissare. Dadurch wurde die Bewegungsfreiheit dieser Kommissare im Interesse einer straffen Zentralisation beeinträchtigt. Andererseits aber war durch die Revolutionsgesetzgebung und die völlige Beseitigung aller bürgerlichen Rechte und Freiheiten die Macht des Kommissars sowohl gegenüber Behörden wie gegenüber den Bürgern im einzelnen Falle ins Grenzenlose erweitert. Ausdehnung der Macht nach außen und strengere Abhängigkeit nach innen entsprachen sich auch hier. Bei der tatsächlichen Ausübung dieser Macht war der Kommissar von den verschiedensten tatsächlichen Verhältnissen abhängig, vor allem von der Unterstützung, die er bei den lokalen Parteiorganisationen, 35 D i e i m Interesse v o n sûreté, tranquillité u n d ordre p u b l i c erforderlichen Maßnahmen (mesures) u n d Beschlüsse (arrêtés) k ö n n e n getroffen werden; ce que les circonstances rendront nécessaires ( I 60, 503; I I 15) oder q u ' i l jugeront nécessaires ( I 118) oder q u i leur paraîtront nécessaires et urgentes p o u r le salut de l'Etat ( I 351, 355; I I 4, I I I 61); sie sollen überhaupt die besten, sichersten M i t t e l gebrauchen ( I I 46) usw. 36 Schon i n dem D e k r e t v o m 1. Febr. 1793 ( I I 41): alle erforderlichen M a ß n a h m e n même celles de sûreté générale, so daß sie ein p o u v o i r i l l i m i t é erhalten; ferner I n s t r u k t i o n v o m 7. M a i 1793 ( I V 23). 37 D e k r e t v o m 13. Dez. 1793 ( I 322); ausdrückliches V e r b o t , A n w e i s u n gen auf staatliche Kassen z u geben oder über Ausgaben zu Staatslasten zu verfügen: I 259; daher Ersuchen an den K o n v e n t , solche A n w e i s u n g e n v o r z u n e h m e n ( I 124; vgl. auch V I 321).

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den sociétés populaires oder jacobines und später den aus zuverlässigen Einwohnern gebildeten lokalen Comités révolutionnaires fand, und die im einzelnen Falle ebensogut den Kommissar beherrschen und eine „lokale Diktatur" (Aulard) ausüben konnten, wie der Kommissar und das Comité de salut public sie als Werkzeug gebrauchte. Jedenfalls gelang es in diesen Monaten, die bestehende staatliche Organisation im revolutionären Sinne umzugestalten und die konservativen Elemente in der lokalen und departementalen Verwaltung sowie die starke föderalistische Bewegung zu unterdrücken. Einen Uberblick über die Aufgaben und Befugnisse der Repräsentanten gibt die Instruktion, die ihnen das Comité am 7. Mai 1793 erteilte (IV 24). Hier werden zunächst noch einmal alle vorgenannten Angelegenheiten aufgezählt mit dem Bemerken, daß die Repräsentanten in dringenden Fällen vorläufig alles tun dürfen, was den Umständen nach erforderlich ist, und daß ihre eigentliche Aufgabe darin bestehen soll: étendre et propager rapidement l'influence et l'autorité de la représentation nationale, damit Frankreich ein einheitliches, ungeteiltes Land werde und un centre d'action, de gouvernement et d'administration bestehe. Dem Comité muß regelmäßig berichtet und ein Arbeitsplan vorgelegt werden. Daß die Kontrolle verbunden mit allen Mitteln einer solchen Kontrolle: Besichtigungsbefugnissen, Rechenschaftslegung, Amtsenthebungen und Neubesetzungen, die Grundlage ihrer Tätigkeit war, ergibt sich aus dieser Instruktion. Weil die Tätigkeit der Repräsentanten einen großen Umfang annahm, ihre Vollmacht aber nicht weiterdelegiert werden durfte, so sollten sie in ihrem Bezirk einen eigenen Korrespondenzausschuß, eine commission centrale, aus politisch zuverlässigen Leuten einrichten, deren sie sich bedienen, die aber keine selbständigen Entscheidungen treffen sollen. Auch jetzt noch dürfen die Repräsentanten keine Verfügung über Staatsgelder treffen, deren Bestimmung bereits fixiert ist. Doch haben sie die Möglichkeit, auf wohlhabende Bürger einen Druck auszuüben, nicht nur um sie zur Zeichnung von Revolutionsanleihen zu bewegen, sondern auch im Interesse aller denkbaren patriotischen Verpflichtungen. Alle „konstituierten" Organe verschwanden jetzt neben dem Repräsentanten. Die vom Conseil exécutif oder vom Kriegsministerium entsandten Kommissare durften ihre Tätigkeit erst dann aufnehmen, wenn die Repräsentanten des Nationalkonvents ihre Pässe visiert hatten (IV 219). Der Krieg und die Aufstände im Innern führten in zahlreichen Fällen dazu, daß sich Gemeinden als selbständige Verbände konstituierten und eigene Kommissare schickten. Hier trat der Repräsentant des Konvents, als Vertreter der zentralen Einheit, der lokalen und provinzialen Selbständigkeit und Selbstverwaltung entgegen 11 C. Schmitt, Die Diktatur

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und vernichtete sie und alle „intermédiaire" Ausübung der Staatshoheit 38 , ebenso wie die Feinde der Republik. Der Aktionscharakter der Kommission dieser Repräsentanten trat in allem deutlich hervor. Zahlreiche Revolutionsdekrete erklärten ganze Kategorien von Staatsangehörigen für Feinde des Vaterlandes (Dekrete vom 27. germ. II, 23. vent. II, das zusammenfassende Dekret vom 22. prair. II). Nicht nur Adelige, eidverweigernde Priester und deren Anhänger, Lebensmittelwucherer, Preistreiber, Vertreiber falscher Nachrichten, sondern überhaupt alle, welche die corruption des citoyens und die subversion des pouvoirs et de l'esprit publique begünstigten, wurden für Feinde des Vaterlandes erklärt und mit dem Tode bestraft. Sie waren dadurch jedes Rechtsschutzes beraubt und das Objekt für eine nur durch politische Zwecke geleitete Aktion geworden. A m 16. August 1793 erklärte der Konvent den Beschluß einer Departementsverwaltung, durch den die Exekution einer Anordnung von Repräsentanten suspendiert worden war, für ein Attentat auf die Repräsentanten des Volkes und bedrohte jeden Beamten, der den Vollzug einer Anordnung von Repräsentanten aufschob, mit zehn Jahren Ketten (Duv. I V 120). So waren alle bestehenden Behörden unbedingte Instrumente der Aktion der Repräsentanten geworden. Darin lag ein Ubergang aller bestehenden Befugnisse, mit dem sich aber die noch weitergehende Befugnis der Repräsentanten verband, alle nach Lage der Sache erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wobei die Rücksicht auf irgendwelche Rechte des politischen Gegners (und jeder war politischer Gegner, der sich in den Weg stellte) nach der Revolutionsgesetzgebung kein Hindernis mehr war. Auf diesen beiden Elementen beruhte die Diktatur der Repräsentanten, die eine kommissarische Diktatur im Rahmen der souveränen Diktatur des Nationalkonvents war. Die Revolutionstribunale waren eine allerdings außerordentlich wirksame Ergänzung für den Fall, daß die Lage der Sache den Schein eines justizförmigen Verfahrens zuließ, d. h., wenn der politische Gegner festgenommen war und die Zeit es erlaubte, ihn einer ja auch bei extrem summarischem Vorgehen eine gewisse Zeit in Anspruch nehmenden Zweckjustiz zu unterwerfen. Dann war die Verurteilung selbst ein Mittel im Dienst des revolutionären Zwekkes, sie sollte den Verurteilten unschädlich machen und ihn gleich38

Das W o r t dictature parisienne bezeichnet, abgesehen v o n der H e r r schaft der Pariser K o m m u n e , den Gegensatz der zentralisierten Herrschaft des C o m i t é d. s. p. z u jeder A r t lokaler A u t o n o m i e u n d Föderalismus. Das W o r t w i r d hier ebenso gebraucht w i e i n einem Bundesstaat, z. B. den Vereinigten Staaten v o n N o r d a m e r i k a , die W e n d u n g dictate laws m i t besonderer Prägnanz v o r k o m m t , w e n n eine über die Selbständigkeit der E i n zelstaaten sich hinwegsetzende A n o r d n u n g d u r c h den zentralen Gesamtstaat ergeht u n d die intermediäre Existenz des Einzelstaates ignoriert.

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zeitig als Objekt für eine exemplarisch wirkende „Strafe", d. h. für die Abschreckung und Einschüchterung des Gegners benützen. Die Einzelheiten dieser Diktatur haben ebensowenig rechtliches Interesse wie die Fälle, in denen sich die Repräsentanten des Volkes bei der Armee als Strategen improvisieren. Das Ergebnis war nicht nur die Beseitigung aller politischen Hindernisse im Innern, sondern auch die Bildung eines von der Zentrale beherrschten Regierungsapparates, in dem keine intermediäre Selbständigkeit die vom Mittelpunkt ausgehende „impulsion" aufhielt. Die grenzenlose Macht, die der Repräsentant nach außen ausübte, hatte, wie bereits erwähnt, ihr Korrelat in einer entsprechenden Abhängigkeit von einem unpersönlichen politischen Zentrum. Es wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß der Repräsentant nur ein „mandat impératif" hat und gehalten ist, sich allen Anweisungen des Comité de salut public streng zu fügen 39 . Nachdem ein gefügiger Verwaltungsapparat geschaffen war, erschien der Repräsentant selbst eher hinderlich als brauchbar. Eine gewisse Regelmäßigkeit war notwendig, ebenso abgegrenzte Zuständigkeiten, weniger im Interesse des Rechtsschutzes als im Interesse der geregelten Aktion, die jetzt wieder einen generellen Charakter annehmen konnte, nachdem der politische Widerstand beseitigt und in den äußeren Verhältnissen eine gewisse Berechenbarkeit und Normalität eingetreten war. Der Repräsentant trat zudem häufig allzu selbständig auf, weil er sich ja als Kollegen der die Zentrale dirigierenden Personen fühlte und ebenso Repräsentant des Volkes war wie sie. Während sich aber im Mittelalter aus den Reformationskommissionen meistens neue erbliche Amter gebildet hatten, entstand hier ein abstrakter Regierungs- und Verwaltungsapparat als Staat über dem ebenfalls als Staat bezeichneten Objekt seiner organisierenden und administrierenden Tätigkeit. Mehrere Gründe kamen zusammen, um die Entwicklung des republikanischen Kommissars zum seßhaften Beamten zu verhindern: ein gewisses republikanisches Pflichtgefühl 40 , dann die Kontrolle des Comité de salut public und der lokalen Parteiorganisationen, verkehrstechnische Gründe, die eine bessere Überwachung und damit Abhängigkeit ermöglichten als im Mittelalter usw. Infolgedessen hat der Kommissar des Nationalkonvents 39

D e k r e t v o m 5. frim., I I ; die W e n d u n g mandat impératif i n dem D e kret v o m 16. A u g u s t 1793 (Recueil V I 327). 40 I n dem Bericht v o n Tallien aus C h i n o n v o m 15. M a i 1793, I V , S. 212, heißt es: je n'étais p o i n t à C h i n o n , lorsque la commission centrale (vgl. die oben i m T e x t erwähnte I n s t r u k t i o n v o m 7. M a i 1793) fit une adresse p o u r me demander que je restasse près de ce département. Lorsque j ' e n connaissance, je la désapprouvais hautement. Je dis au département, que dans une République, i l était dangéreux de donner tant d'importance à u n h o m m e etc. Il··

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durch seine Aktion eine „formierte Verwaltungsbürokratie" geschaffen, die ein Instrument für entgegengesetzte politische Direktionen geworden ist und bestehenblieb, nachdem ihr Demiurg, der Kommissar, selbst hinderlich geworden und zurückgetreten war. Die Revolutionsregierung gab sich am 14. frim. I I (4. Dez. 1793 Duv. V I 391, Baud. X X X V I I 141) eine provisorische Verfassung, deren Grundsatz war: La Convention nationale est le centre unique de l'impulsion du gouvernement. Alle Behörden und Beamten werden unter die unmittelbare Aufsicht des Comité de salut public und, soweit es sich um Überwachung verdächtiger Personen und innere Polizei handelt, des Comité de sûreté générale gestellt. Daß die Aufsicht ein Teil des Vollzuges der Gesetze ist, wird in dieser vorläufigen Verfassung ausdrücklich gesagt: l'exécution des lois se distribue en surveillance et en application (Sect. I I Art. 3). Die Überwachungsaufgaben, die bisher die Kommissare des Nationalkonvents wahrgenommen hatten, gehen jetzt auf die von den beiden Comités ernannten und beaufsichtigten agents nationaux über ( I I Art. 14). Im Mai 1794 waren bereits die meisten Repräsentanten zurückgerufen. Carnot erklärte am 1. April 1794 im Konvent, die Repräsentanten hätten den Nachteil, daß sie mit allen Kleinigkeiten beschäftigt würden und bei ihrer Ankunft die Behörden, wie „paralysiert", alles den Repräsentanten überließen. Dieser Erfolg war allerdings erwünscht, solange die bestehenden Behörden politisch unzuverlässig waren, jetzt aber hatte die neue Regierung ein Interesse an der regelmäßigen Abwicklung der Geschäfte. Auch hier stabilierte sich mit der Souveränität die Bürokratie, und an die Stelle des Aktionskommissars tritt ein Aufsichtskommissar als regelmäßiger Dienstkommissar. Die vorläufige Verfassung vom 14. frimaire I I war bestrebt, im Interesse einer übersichtlichen und einheitlichen Verwaltung abgegrenzte Zuständigkeiten zu schaffen, freilich immer nur so, daß die Leitung unbedingt in der Hand des Comité blieb. M i t dieser Verfassung war die Wahl der lokalen und provinzialen Behörden und der Rest von Selbstverwaltung, wie er von der Verfassung von 1791 her noch bestand, beseitigt. Das Comité de salut public ernannte sowohl die Mitglieder der lokalen comités révolutionnaires, denen polizeiliche Befugnisse übertragen worden waren, als auch die eben genannten agents nationaux. Damit war eine gewisse Konsolidation eingetreten. Diese zentrale Organisation blieb auch nach dem Sturz Robespierres und nach der Auflösung des Comité de salut public bestehen. Ein Antrag vom 14. ventôse I I I (4. März 1795), nunmehr die lokalen und provinzialen Behörden wieder durch die Einwohnerschaft wählen zu lassen, fand keine Beachtung. Bei der Neuorganisation im Jahre 1795 wurden jederzeit abberufbare commissaires des Directoriums, d. h. der Zentralregierung beibehalten. Sie wurden zu den einzelnen Verwaltun-

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gen (Departements und lokalen Behörden) geschickt mit der Aufgabe, den Vollzug der Gesetze zu überwachen und nötigenfalls im Wege des Ersuchens durchzusetzen. Auch hier drang die Zentralisation durch, und es half nichts, daß die Opposition daran erinnerte, die Kommissare seien ja nur die alten Intendanten und „subalterne Tyrannen". Die Befugnisse dieser Kommissare gingen außerordentlich weit. N u r in seiner Anwesenheit und nur mit seiner Zustimmung durfte die Behörde, bei welcher der Kommissar tätig war, Beschlüsse fassen (Gesetz vom 21. fructidor III). Der Departementskommissar korrespondierte mit dem Ministerium des Innern und suchte in allen wichtigen Angelegenheiten dessen Entscheidung nach. Aber immerhin war es eine Konzession an den Gedanken der Selbstverwaltung, daß der Kommissar aus der Einwohnerschaft des Bezirks genommen sein mußte. Doch hörte auch das mit der Napoleonischen Verwaltung auf (Gesetz vom 28. pluviôse VIII). Der alleinige Chef des Departements ist der préfet, dem der souspréfet des Arondissements untersteht. Absichtlich und im Interesse einer unbedingten Zentralisation wurden jetzt keine Eingesessenen mehr zu préfets und souspréfets ernannt. Damit war die ideale Bürokratie geschaffen und aus dem noch verhältnismäßig selbständigen Intendanten des ancien régime, auf dem Wege über den nach außen allmächtigen, intern unbedingt abhängigen Revolutionskommissar des Nationalkonvents, der in das bürokratische System eingegliederte préfet der modernen Verwaltung geworden. Jetzt ließ sich die Regierungsmaschine leicht von der Zentrale aus dirigieren. Durch den Staatsstreich vom 18. brumaire war Napoleon der Leiter dieses Apparates geworden, der in normalen Zeiten mit regelmäßigen Zuständigkeiten arbeitete. In außerordentlichen Fällen dagegen emanierten wiederum Kommissare von der bedrohten Souveränität und griffen unmittelbar an verschiedenen Punkten in das System der Zuständigkeiten ein. Als der Krieg gegen Napoleon 1814 auf französisches Gebiet übertrat, schickte der Kaiser zuverlässige hohe Beamte, meistens Senatoren, als außerordentliche kaiserliche Kommissare (commissaires impériaux extraordinaires) zu den einzelnen Divisionen und in die Departements, hauptsächlich, um die neue Massenaushebung, deren Durchführung an sich Aufgabe der Präfekten war, zu überwachen und beschleunigen. Daneben hatten die Kommissare die Beitreibung der außerordentlichen Abgaben und Requisitionen und den Heeresbedarf zu sichern, alle Verteidungsmaßnahmen und die Organisation der Freiwilligen zu überwachen und nötigenfalls selbst durch Maßnahmen einzugreifen. Der Kommissar ging in der Weise vor, daß er nach seiner Ankunft sämtliche Militär- und Zivilbehörden zu sich lud, sich über die Lage des Departements, den Stand des Aushebungsgeschäfts und der außerordentlichen Abgaben Be-

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rieht erstatten ließ und Behörden und Bevölkerung zu eifrigster Tätigkeit anspornte. Er erließ Proklamationen, wirkte durch Anregungen und Ersuchen auf die Behörden ein und traf in dringenden Fällen selbst Anordnungen, z. B. über die Heranziehung der Feldhüter zur Verteidigung, über die Bewaffnung der Bürger beim Herannahen des Feines, Zerstörung der dem Feinde nützlichen Brücken und Wege, Wegschaffung des Viehes und dergleichen 41. Als aber die Niederlage des Kaisers entschieden war und die Bourbonen sich im April 1814 wieder in ihrem legitimen Besitz einrichteten, waren es wiederum außerordentliche Kommissare, durch welche die Verwaltungsmaschine umgestellt und dem neuen Souverän in die Hand gegeben wurde. A m 22. April 1814 erging das Dekret des Stellvertreters des Königs, des lieutenant général du Royaume 42 , durch welches in den Bezirk jeder Divison ein außerordentlicher Kommissar des Königs (commissaire extraordinaire) geschickt wurde. Seine Aufgaben waren: Verbreitung der Nachricht, daß der König wieder in seinen legitimen Besitz eingetreten sei, Sicherung des Vollzugs aller provisorischen Maßnahmen der neuen Regierung, Informationen über alle die öffentliche Ordnung betreffenden Angelegenheiten und schließlich wieder allgemein, gemäß der kommissarischen Formel, alle nach den Umständen (circonstances) zur Erleichterung der Einrichtung und der Tätigkeit der neuen Regierung dienlichen Maßnahmen zu treffen. Seine Befugnisse: Ersuchen an alle Zivil- und Militärbehörden, nötigenfalls Befehle, denen alle Behörden und Beamte Folge leisten mußten, Abnahme des Rechenschaftsberichts aller Behörden, vorläufige Amtsenthebungen und Neubesetzungen (darüber sofortigen Bericht an den beim Ministerium des Innern bestellten Kommissar, der definitiv entscheidet), Freilassung aller als politische Gegner auf Grund kaiserlicher Dekrete festgenommenen Personen, Beseitigung der außerordentlichen Kriegsmaßnahmen der früheren Regierung wie militärische Aufgebote, Requisitionen, Zerstörung der Wege usw. Diese königlichen Kommissare korrespondierten mit einem Commissaire de l'Intérieur und den bei den einzelnen Ministerien bestellten Kommissaren. Ein Jahr später (März bis Juni 1815), als Napoleon wieder in Paris war, trat die Verwaltungsmaschine wieder in den Dienst des Kaisers. Ein kaiserliches Dekret vom 20. April 181543 schickte, nachdem die préfets bereits ernannt waren, kaiserliche commis41 D e r M o n i t e u r v o m Januar bis M ä r z 1814 ist beinahe i n jeder N u m mer angefüllt m i t N a c h r i c h t e n über die Tätigkeit dieser außerordentlichen kaiserlichen Kommissare. 42 Bulletin, V . série, t. I, nr. 49. 43

Bulletin, V I . série, nr. 110.

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saires extraordinaires in die Bezirke der einzelnen Divisionen. Aufgaben und Befugnisse dieser Kommissare bezogen sich auf die Neubesetzung der Behörden. Bei ihrer Ankunft erloschen die Funktionen sämtlicher Bürgermeister, der Mitglieder der lokalen und departementalen Verwaltungsbehörden, der Offiziere und Kommandanten der Nationalgarde und der Unterpräfekten. A n deren Stelle ernannte der Kommissar sofort neue Beamte nach dem Vorschlag des Präfekten und nahm den Neuernannten den Eid ab. Über alle Neuernennungen wurde dem Ministerium des Innern sofort Bericht erstattet. Nachdem der Kaiser zum zweiten Male besiegt war, erschienen wiederum Kommissare der neuen Regierung. Sowohl der König selbst wie die dazu ermächtigten Prinzen des königlichen Hauses und die Minister schickten Kommissare in die Departements, pour faire reconnaître l'autorité légitime et comprimer les factions. Dieses Mal ging der Umschwung rasch vonstatten. Es wurden einige neue Präfekten ernannt, im allgemeinen übernahmen die von Napoleon ihres Amtes enthobenen Beamten und Offiziere ihre alten Stellungen und Funktionen wieder 44 . Durch königliche Ordonnanz vom 19. Juli 181545 wurden die außerordentlichen Kommissare zurückgerufen, da ihre Tätigkeit fernerhin überflüssig sei und sogar schädlich für die „unité d'action, qui est le premier besoin de l'administration régulière".

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Königliche O r d o n n a n z v o m 7. Juli 1815, B u l l e t i n V I I , sér. I, nr. 3. B u l l e t i n V I I , I, nr. 18.

V I . Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand) Während es sich bei den Kommissaren des Nationalkonvents um die Beseitigung einer bestehenden staatlichen Organisation handelte, bildet sich gleichzeitig eine Reihe von Institutionen heraus, um die bestehende Ordnung gegen einen Umsturz zu sichern. Als rechtliche Mittel zu Erhaltung oder Wiederherstellung der rechtlichen Ordnung und Sicherheit war aus der vorrevolutionären Epoche an erster Stelle die Prevotalgerichtsbarkeit überliefert, die im achtzehnten Jahrhundert bei den zahlreichen Ernteunruhen tätig wurde 1 . Sie wurde von der militärisch organisierten Gendarmerie (den prévôts des maréchaux) für ihren Bezirk in den sogenannten cas prévôtaux (Straßenraub, Plünderung, Aufruhr und andere Fälle der Störung der öffentlichen Sicherheit) in erster und letzter Instanz ausgeübt. Daß die Bekämpfung innerer Unruhen zunächst in der Gerichtsbarkeit und der kommissarischen Übertragung einer außerordentlichen mit summarischer Abkürzung des Verfahrens verbundenen richterlichen Tätigkeit bestand, entspricht der bisher dargestellten Entwicklung und auch der Vorstellung, daß die Ausübung staatlicher Hoheit Ausübung der Gerichtsbarkeit ist. Das gilt am meisten für die durchaus rechtsstaatliche, d. h. den Staat auf Gerichtsbarkeitsfunktionen beschränkende englische Auffassung. Weil aber die Prevotalgerichtsbarkeit auf einer besondern kommissarischen Ermächtigung durch den König beruhte, ließ sich in England, wo eine königliche Kommission keinen Eingriff in die Freiheitsrechte des einzelnen rechtfertigen konnte, eine solche Erklärung für den extrem summarischen Prozeß gegen die Aufrührer nicht finden. Unter Karl I. hatten königliche Kommissare Vollmachten erhalten, nach denen sowohl Soldaten wie Zivilisten außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit dem Tode bestraft werden konnten. Auch das Lange Parlament kannte die Praxis außerordentlicher Kommissionen. Die Bill of rights hatte das beseitigt. Bei Aufruhr konnte das Militär auf Requisition der Zivilbehörde einschreiten. Die Einleitung zu den Mutiny Acts unter der Königin Anna und Georg I. war so abgefaßt, daß sie der Krone 1

Vgl. oben S. 96 A n m . 4.

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die herkömmlichen Befugnisse, das Martial Law zu erklären, beließen, aber nur in Kriegszeiten und nur außerhalb Großbritanniens, also zum Beispiel in Irland. Die Kriegsartikel haben seit Jakob II. die Zerstörung des Eigentums von Rebellen gestattet und dem Militärbefehlshaber eine im Ausland unbeschränkte, im Inland beschränkte Macht, Strafen an Leib und Leben zu verhängen, übertragen 2. Das eigentliche rechtliche Problem war aber, wie die bei Eingreifen des Militärs unvermeidlichen, unmittelbaren Verletzungen von Leib und Leben und Eigentum, sei es der Aufrührer selbst, sei es unbeteiligter Dritter rechtlich zu erklären waren. Bei den Unruhen in London 1780 wird die oft wiederholte Erklärung gegeben, daß man die Zivilisten, die mit den Waffen in der Hand betroffen wurden, so behandelte, als hätten sie sich dem Kriegsrecht (nicht etwa der Militärgerichtsbarkeit) unterworfen. Diese Art Justiz ist natürlich „eigentlich nur ein Gefechtsbefehl" 3. Außerdem ist damit noch keine Erklärung für die zahlreichen Eingriffe im Leben und Eigentum nichtbeteiligter Bürger gegeben, die unvermeidlich sind, wenn ein größerer Aufruhr mit militärischen Mitteln unterdrückt werden muß. Für diesen ganzen Bereich der tatsächlichen militärischen Aktion, demnach vom militärischen Standrecht durchaus zu unterscheiden, tritt das Martial Law ein. Es ist eine Art gesetzlosen Zustandes, bei dem die Exekutive, das heißt das eingreifende Militär ohne Rücksicht auf gesetzliche Schranken so vorgehen darf, wie es die Sachlage im Interesse der Unterdrükkung des Gegners erfordert. Trotz seines Namens ist das Kriegsrecht in diesem Sinne kein Recht oder Gesetz, sondern ein Verfahren, das wesentlich von einem tatsächlichen Zweck beherrscht ist und bei dem sich die rechtliche Regelung darauf beschränkt, die Voraussetzungen, unter denen es eintritt (Requisition der Zivilbehörde, Aufforderung zum Wegtreten usw.), genau anzugeben. Als Rechtsgrund für den rechtlosen Zustand wird geltend gemacht, daß in solchen Fällen alle anderen staatlichen Gewalten ohnmächtig und wirkungslos geworden sind und insbesondere die Gerichte nicht mehr tätig werden können. Dann soll die einzige noch wirksame staatliche Gewalt, das Militär, als eine Art Ersatz (some rude substitute) eintreten, und seine Aktion soll Urteil und Vollstrek-

2 Charles M . Clode, The administration of justice under M i l i t a r y and M a r t i a l L a w , L o n d o n 1872. 3

N o s k e i n der Sitzung der deutschen Nationalversammlung v o m 9. M ä r z 1919. D e r Befehl Noskes (bei den K ä m p f e n i n Berlin, M ä r z 1919), „jede Person, die m i t den Waffen i n der H a n d gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen w i r d , ist sofort zu erschießen", w i r d aber auch v o n i h m selbst wieder als „Standrechtserlaß" bezeichnet ( V o n K i e l bis K a p p , Berlin 1920, S. 109 f.).

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kung in einem sein4. Daß bei Krieg und Aufruhr das Militär als Ersatz für die Gerichte tätig ist, demnach das Martial law eine Art Justitium voraussetzt, ist dem angelsächsischen Rechtsempfinden immer lebendig gewesen, so z. B. auch in dem amerikanischen Gesetz vom 1795, das nach Garner 5 noch in Kraft ist und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die Befugnis überträgt, bei einem feindlichen Einfall oder wenn das Gesetz mißachtet oder sein Vollzug derartig gehindert wird, daß der gesetzwidrige Zustand durch die ordentliche Gerichtsbarkeit und Exekutivgewalt nicht unterdrückt werden kann, die Miliz aufzurufen, deren Aufruf an sich (nach Art. I sect. 8 η. 16 der Verfassung) zur Zuständigkeit des Kongresses gehört 6 . Alle Maßnahmen auf dem Kriegsschauplatz sind von dem Martial law beherrscht. Für die Rechtsauffassung, für welche die Teilung der Gewalten überhaupt mit einem rechtsstaatlichen Zustand gleich ist, bedeutet daher das Martial law die Aufhebung der Teilung der Gewalten und ihre Ersetzung durch den bloßen Befehl des Militärbefehlshabers 7. Auch bei Aufruhr kann das Martial law erklärt werden, wenn unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorhanden ist und die ordentlichen Gerichte nicht mehr ausreichen. Sowohl der Präsident, namentlich Lincoln, als auch der Militärkommandant hat häufig, oft mit Ermächtigung des Kongresses, aber auch ohne sie (der Militärkommandant nur mit Ermächtigung des Präsidenten) von dieser Befugnis Gebrauch 4

Clode, a. a. O . S. 165: w h e n it is impossible said the late Sir James M a c k i n t o s h for Courts of L a w to sit or to enforce the execution of their Judgements than it becomes necessary t o find some rude substitute for t h e m and t o e m p l o y for that purpose the M i l i t a r y w h i c h is the o n l y remaining force i n the c o m m u n i t y . 5 James W . Garner, Revue d u d r o i t public, X X X V (1918), p. 16. 6

Fälle, i n denen der Präsident v o n der Ermächtigung des Gesetzes v o n 1795 Gebrauch gemacht hat: 1812 (gegen eine feindliche Invasion); A p r i l 1861 (Bürgerkrieg); 1916 (gegen die mexikanischen raids); 1917 ( K r i e g gegen Deutschland); vgl. Garner a. a. O . 7 Bei Clode, a. a. O . S. 162 sind folgende Aussprüche v o n N a p i e r u n d W e l l i n g t o n zitiert: T h e u n i o n of Legislative, Judicial and Executive Power i n one person is the essence of martial law; and the martial law is neither more n o r less than the w i l l of the General of the army. H e punishes either w i t h or w i t h o u t trial, for Crimes either declared to be such or n o t so declared b y any existing L a w or b y his o w n orders. Ferner der A r t . 3 der v o n der amerikanischen Regierune i m A p r i l 1863 für den K r i e g ausgegebenen I n s t r u k t i o n : M a r t i a l law i n a hostile c o u n t r y consists i n the suspension b y the o c c u p y i n g M i l i t a r y A u t h o r i t y of the C r i m i n a l and C i v i l L a w and the domestic A d m i n i s t r a t i o n and G o v e r n m e n t and i n the substitution of M i l i t a r y rule and force for the same, as w e l l as i n the dictation of general laws, as for as M i l i t a r y necessity requires this suspension, substitution or dictation.

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gemacht und unter Suspendierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Aufrührer durch „Militärkommissionen" aburteilen lassen. Die solche Fälle betreffende berühmte Entscheidung des höchsten Gerichtshofes ex parte Milligan (IV Wallace U.S. Supreme Court Reports p. 127) wiederholt die traditionelle Begründung, daß bei feindlicher Invasion oder Bürgerkrieg, wenn die Gerichte geschlossen sind oder wenn es unmöglich ist, die Strafgerichtsbarkeit dem Gesetz entsprechend auszuüben, in dem Gebiet, in dem der Krieg wirklich herrscht, die beseitigte bürgerliche Autorität durch ein anderes power ersetzt werden muß, um die Sicherheit der Armee und der Gesellschaft zu wahren 8 . Das Martial law bezeichnet demnach einen der sachtechnischen Durchführung einer militärischen Operation freigegebenen Raum, in dem geschehen darf, was nach Lage der Sache notwendig ist. Das bedeutet etwas anderes als die Prevotalgerichtsbarkeit oder das Standrecht. Die Prevotalgerichte sind außerordentliche Militärgerichte, die über Straftaten, welche eine Störung der öffentlichen Sicherheit betreffen, als erste und letzte Instanz entscheiden, mögen die Täter Soldaten oder Zivilisten sein. Das Standrecht (judicium statarium) bezeichnet ein summarisches Verfahren, das zunächst nur gegen Soldaten angewandt9 und später, ähnlich wie die Prevotalgerichtsbarkeit, auf die Aburteilung bestimmter Vergehen ausgedehnt wird, die in einem Gebiet, über welches durch formelle Erklärung das Standrecht verhängt ist, begangen wurden 10 . Wenn nun unter der Herrschaft des Martial law vom Militärbefehlshaber Gerichte für die Aburteilung bestimmter Delikte eingesetzt werden, so ist das schon wieder eine Rückkehr zur Rechtsform. Der eigentliche Kern des Martial law zeigt sich im Ernstfall. Es ist die von 8 W . W i n t h r o p , A n A b r i d g m e n t of M i l i t a r y L a w , 2. ed. N e w Y o r k 1893, p. 329. W . E. Birkheimer, M i l i t a r y G o v e r n m e n t and martial law, 1894. 9 U n d zwar deshalb, w e i l der Gerichtsstand des Soldaten als privilegierter Gerichtsstand behandelt wurde. So durchwegs i m 18. Jahrhundert. L ü n i g I I , 1415. I. F. L u d o v i c i , E i n l e i t u n g z u m Kriegs-Prozess, 10. A u f l . H a l l e 1771, p. 124, G o d . L u d w i g W i n c k l e r , Opuscula minora, vol. I , Dresden 1792, S. 125/126, bei dem die V e r b i n d u n g rechtlicher Gesichtspunkte m i t solchen der Zweckmäßigkeit aus G r ü n d e n der D i s z i p l i n typisch herv o r t r i t t . A u c h w e n n v o n T u m u l t u n d E m p ö r u n g i n diesen Schriften die Rede ist, sind Meutereien der Soldaten gemeint. 10 So die peinliche Gerichtsordnung Josephs I I . v o n 1788 u n d darnach § 5 0 0 des österreichischen Strafgesetzbuches v o n 1803. V g l . Kleinschrod, U b e r das Standrecht als kriminalrechtliches Verfahren. Neues A r c h i v des Criminalrechts, 9, H a l l e 1827, S. 275, dessen Angaben i n das R o t t e c k Welckersche Staatslexikon (Bd. 12, S. 421, A r t . v o n K . Buchner) übergegangen sind.

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rechtlichen Rücksichten befreite, aber im Dienste eines staatlichen Zweckes stehende Tathandlung. Diese ist in ihrer effektiven Tatsächlichkeit, also in ihrem Kern, einer Rechtsförmigkeit nicht zugänglich. Aber von zwei Seiten her kann sich der Schein einer solchen Form ergeben. Von der Seite des Rechts kann ein Rechtsverfahren so summarisch werden, daß es in Wahrheit eine sofortige Exekutive ist und die Feststellung, welche der Exekution vorhergeht, bloß tatsächlichen Charakter hat und sich von der eines Soldaten, der etwa überlegt, ob der ihm gegenüberstehende Mann ein Feind ist oder nicht, weder logisch noch normativ noch psychologisch unterscheidet. Auch der Soldat nimmt ja Subsumtionen vor und kommt zu einem Urteil, aber man wird nicht sagen können, daß er den Feind auf Grund eines summarischen und sofort vollstreckten Urteils getötet habe. Von der anderen, der tatsächlichen Seite her, können sich für eine rein tatsächlich vorgehende Methode zahlreiche Feststellungen als nötig erweisen, die in der Form einer Beratung und Verhandlung erhoben werden und dadurch den Schein einer Rechtsförmigkeit zulassen. Wenn ein Revolutionstribunal einen politischen Gegner zum Tode verurteilt und vorher überlegt, ob es wirklich mit einem politischen Gegner zu tun hat und ob das politische Interesse es ratsam erscheinen läßt, ihn beiseite zu schaffen, so ist das Justiz nur nach einem formalen Begriff, der alles, was ein Gericht tut, als Rechtspflege bezeichnet. In Wahrheit ist solche Justiz ein Teil der revolutionären Aktion. Die positivistisch sogenannte „Form" versagt gegenüber Dingen, um die es sich hier handelt. Wenn auf den Militärbefehlshaber alle rechtlichen Befugnisse sämtlicher Behörden übergehen, so ist z. B. die aus militärischen Gründen notwendige Zertrümmerung eines Hauses im Inland nicht etwa ein Enteignungsbeschluß, verbunden mit der Festsetzung, daß keine Entschädigung gewährt wird und womöglich noch der uno acto erfolgenden sofortigen Zurückweisung etwa zu erhebener Beschwerden. Die nichts als tatsächliche Maßnahme bleibt einer rechtlichen Erfassung unzugänglich und wird auch mit Hilfe des interessanten Begriffes einer zusammengesetzten Amtshandlung nicht erklärt. Die preußische Verwaltungspraxis hat eine solche zusammengesetzte Handlung, bei welcher ein tatsächliches Vorgehen gleichzeitig eine durch die Tat ausgedrückte rechtliche Verfügung enthalten soll, aus Gründen praktischer Rechtsvernunft zugunsten des betroffenen Staatsbürgers angenommen, um ihm ein Rechtsmittel zu ermöglichen 11 . Bei einem voll11 N a c h § 132 Abs. 2 des preußischen Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung findet gegen die Festsetzung u n d A u s f ü h r u n g eines Zwangsmittels i n allen Fällen n u r Beschwerde i m Aufsichtswege statt, während gegen die Anordnung des Zwangsmittels dieselben Rechtsmittel gegeben sind w i e gegen die A n o r d n u n g , u m deren zwangsweise Durchset-

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ständigen Übergang der vollziehenden Gewalt würde natürlich auch ein Rechtsmittel nicht mehr möglich sein, weil dann durch die Tat nicht nur die Anordnung ausgedrückt würde, sondern gleichzeitig die Ablehnung der etwa zulässigen Rechtsmittel, so daß die Handlung einen phantastischen Reichtum von Zusammensetzungen enthalten könnte. Der Begriff der zusammengesetzten Amtshandlung hat eine merkwürdige Geschichte, die noch nicht geschrieben ist und die hier nur kurz angedeutet werden kann. Jene Praxis des preußischen Oberverwaltungsgerichts ist nur der schwache Nachhall einer Verbindung von Rechtsform und Faktum, einer Art Jurisprudenz, die politisch sowohl eine gouvernemental-konservative wie eine revolutionäre Seite haben kann. Wo die Vorstellung noch lebendig ist, daß man sich durch eine bestimmte Handlung außerhalb des Gesetzes stellt, wo der Täter ipso facto geächtet, hostis, Rebell oder Feind des Vaterlandes wird, ist er der Idee nach vogelfrei und ohne weiteres Objekt jeder beliebigen Exekution. Das drückt sich gut in der alten, noch in der Revolution von 1793 lebendigen Formel aus, die die Wirkung der hors la loi-Erklärung angibt: et tout Français sera tenu de tirer et courir sus12. Im 17. und 18. Jahrhundert wird das Recht, einen entlaufenden Deserteur oder einen Soldaten wegen Feigheit vor dem Feinde oder einen Verräter im Notfall sofort niederzustoßen, daraus erklärt, daß ein solcher Mensch ein „Schelm" und vogelfrei ist 13 . Oft wird aber auch die Fiktion eines sofort ausgesprochenen und sofort vollzogenen Urteils aufgestellt 14. zung es sich handelt. W e n n n u n die Polizei gegen den W i l l e n des Betroffenen einen unmittelbaren Z w a n g ausübt, ohne i h m die zu erzwingende H a n d l u n g vorher aufgegeben zu haben, so „enthält die tatsächliche H e r stellung des verlangten Zustandes neben der A n w e n d u n g eines Z w a n g s m i t tels auch zugleich die — d u r c h die Tat ausgedrückte — A n o r d n u n g der H e r s t e l l u n g " , d. h. praktisch, der Betroffene soll dadurch, daß die Polizei sofort via facti vorgeht, kein Rechtsmittel verlieren, Entsch. des preuß. Ο . V . G. v o m 30. M ä r z 1911, Pr. V e r w . - B l . Bd. 33 (1912), S. 199, ferner v o m 24. Sept. 1909, Pr. V e r w . - B l . 32 (1911), S. 346/348, M . v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze, I. Bd., 22. A u f l . Berlin 1918, A n m . 10 zu § 1 3 2 (S. 263). 12

So der A n t r a g gegen D u m o u r i e z , Recueil I I I , S. 32. L u d o v i c i , a . a . O . S. 143/144, aus dem Artikelsbrief Ferdinand I I . : W e r m i t der L ö h n u n g entläuft, soll ohne U r t e i l u n d Recht jedem gut preis sein, er soll z u m Schelm gemacht u n d keine Freiheit, Sicherheit u n d Geleit mehr haben. D i e Behandlung des felon i m englischen Recht, der, w e n n seine F l u c h t nicht anders zu verhindern ist, ohne weiteres getötet werden kann, ist ein Beispiel für die N a c h w i r k u n g der Vorstellung, daß man sich d u r c h seine Tat rechtlos machen kann. W i l f l i n g , D e r administrative W a f fengebrauch, W i e n 1909, S. 106/107. 13

" W i l f l i n g , a. a. O . § 2, S. 7 ff.

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Zuweilen erscheinen beide Erklärungen nebeneinander: wenn man in außerordentlichen Fällen den offenkundigen Schelm oder Verräter des Vaterlandes auf der Stelle unschädlich macht und wenn die „Tat an sich sowohl Kläger als Zeuge ist" (Lünig I I 1414), so kann die Niederstoßung des Schuldigen Sentenz und Exekution, Urteil und Vollstreckung uno facto sein. Insbesondere darf der Offizier den Verräter in flagranti niederstoßen. Diese Erklärung, mit der übrigens die Tötung Wallensteins gerechtfertigt wurde 15 , operiert gleichzeitig mit dem Begriff einer Friedlosmachung und dem einer zusammengesetzten Amtshandlung, die jeder Staatsbürger als „gelegentliches Staatsorgan" (um diesen Ausdruck von G. Jellinek zu gebrauchen) vornehmen kann. Die Revolution kann sich natürlich ebensogut dieses Begriffes bedienen und ihre Gegner „durch Erschießen aburteilen" lassen16. Das naturrechtliche Problem, ob mit einem allgemeinen Notstand und dem Krieg aller mit allen überhaupt ein Rechtszustand vereinbar ist, kann also immer noch aktuell sein. Für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung ist aber an 15

D i e 1634 erschienene Verteidigungsschrift „ A u s f ü h r l i c h e u n d g r ü n d l i che Bericht der vorgewesenen Friedtländischen u n d seiner Adhaerenten abschewlichen P r o d i t i o n " : „Gestallt dann alle vernünfftige Rechte, z u v o r derst aber auch des H . R o m . Reichs Satzungen, i n dergleichen C r i m i n i b u s Proditionis, Perduellionis et laesae Majestatis notorijs actu permanentibus, w i e diese unwidersprechlich gewesen v n n d w o die Rei z u m Standt Rechtens nicht leichtlich zu bringen, oder sonsten wegen des Verzugs das allgemeine Wesen i n gefahr stehen müste, einigen andern Process oder Sentenz, als allein die E x e c u t i o n selbsten, quae hic instar sententiae esten, nicht erfordern, einem j e d w e d e m auch dißfalls erlaubt, contra p u b l i c u m hostem Patriae . . . die Execution v o r z u n e h m e n . " Darauf die interessante A n t w o r t i n der Relation auß Parnasso (vgl. oben S. 85 A n m . 74), p. X X I I I : es sei w i d e r alles Völkerrecht, die Untergebenen zu Anklägern, Richtern u n d Executoren ihrer Vorgesetzten zu machen, sonst „were A n k l a g u n d execut i o n z u gleich geschehen, ja die execution were der A n k l a g vorgezogen worden". 16 D e r Reichswehrminister Geßler teilte i n der 157. Sitzung der D e u t schen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o m 29. M ä r z 1920 den A u f r u f der k o m m u n i stischen Revolutionsleitune i n D u i s b u r g ( v o m 25. M ä r z 1920) m i t . I n dem A u f r u f heißt es: „ D i e Aufrechterhaltung der O r d n u n g u n d Sicherheit erfolgt d u r c h die revolutionäre V o l k s w e h r . W e r bei Raub, Plünderung, Diebstahl, W u c h e r angetroffen w i r d , w i r d standrechtlich d u r c h Erschießen abgeurteilt." D a z u bemerkt der Reichswehrminister: „ D a finden Sie das neue Staatsrecht", „da k o m m t das Erschießen fast v o r dem U r t e i l , möchte m a n meinen". A b e r es w a r vielleicht n u r eine zusammengesetzte A m t s handlung gemeint, die man hier v o n A m t s a n m a ß u n g sowenig unterscheiden k a n n w i e die sofortige E x e k u t i o n v o n einem M o r d . I n der juristischen N a c h t der zusammengesetzten A m t s h a n d l u n g sind alle K ü h e schwarz, u n d vielleicht setzte sich die H a n d l u n g , neben anderm, auch aus der K o n s t i tuierung u n d sofortigen Neubesetzung eines Amtes zusammen. V g l . Fleiner, a. a. O . S. 181 A n m . 2.

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solchen Konstruktionen des via facti Procedierens entscheidend, daß sie gerade das ignorieren, was dem Recht wesentlich ist, nämlich die Form 1 7 . N u n wird allerdings aus einem rechtlichen Interesse gerade für das Martial law eine Reihe von Formvorschriften gesucht. Zwar nicht für den Kriegsschauplatz im Kampf gegen den äußeren Feind oder in den Kolonien, wohl aber für den Kampf mit dem politischen Gegner im Innern, d. h. da, wo sich die Aktion des Staates gegen die eigenen Staatsbürger richtet. Solche Formvorschriften betreffen und erreichen aber niemals die Aktion selbst, sondern nur ihre Voraussetzung. Diese wichtige Unterscheidung geht auf einen Unterschied von zwei ganz verschiedenen Arten rechtlicher Regelung zurück, nämlich einer solchen, die einen Inhalt tatbestandsmäßig umschreibt, und einer anderen, bei welcher nur die Voraussetzung tatbestandsmäßig umschrieben ist. Jede rechtliche Normierung bedeutet gegenüber der unbedingten Zweckmäßigkeit eine Einschränkung. Die völkerrechtliche Begrenzung militärtechnischer Mittel durch das Kriegsrecht im völkerrechtlichen Sinne, etwa das Verbot bestimmter Waffen, offenbart die Gegensätzlichkeit von rechtlicher Normierung und sachtechnischer Zweckmäßigkeit am deutlichsten. Das Bestreben, die Entfaltung militärischer Machtmittel gegen Bürger des eigenen Staates rechtlich zu regeln, kann nun dahin führen, die Anwendung solcher Mittel immer weiter hinauszuschieben; immer weitere Garantien dafür zu schaffen, daß der Ernstfall nur dann angenommen wird, wenn er wirklich eingetreten ist. Kommt es aber einmal zur Anwendung dieser äußersten Mittel, so hört, wenn überhaupt eine wirksame Aktion eintreten soll, die rechtliche Regelung des Inhaltes dieser Aktion auf. Hier muß sich die Normierung darauf beschränken, die Voraussetzungen genau zu umschreiben, unter denen der Ernstfall eintritt. Das Gesetz gibt dann einen Tatbestand an, der entweder wahre tatbestandsmäßige, d. h. genau umschriebene Begriffe enthält, oder aber es sucht durch eine Art Teilung der Gewalten eine Garantie zu schaffen, indem es eine andere Stelle über die Voraussetzung des Ernstfalles entscheiden läßt als das Militär, d. h. denjenigen, der die Aktion effektiv durchführt. Aber diese Teilung der Zuständigkeit versagt gegenüber dem Notfall. Ebenso wie bei der Notwehr, wenn die Voraussetzung, nämlich ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff, gegeben ist, alles geschehen darf, was zur Abwehr des Angriffes erforderlich 17

V o r t r e f f l i c h die B e m e r k u n g v o n A . Steinlein, D i e Form der Kriegserklärung, M ü n c h e n 1917, S. 144: „ D e r Accent r u h t auf der F o r m der E r k l ä r u n g . . . W e r einen Menschen getötet hat, kann nicht geltend machen, es habe sich u m ein D u e l l gehandelt, bei dem der erste Stoß die Forderung gewesen wäre."

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ist, und keine inhaltliche Angabe darüber, was geschehen darf, in der rechtlichen Regelung liegt, weil diese nicht tatbestandsmäßig umschreibt, sondern nur einen Hinweis an das, was zur Abwehr erforderlich ist, enthält, so tritt auch, wenn jene Voraussetzungen der Aktion des Ernstfalles einmal eingetreten sind, die nach Lage der Sache erforderliche Aktion ein. Wie aber ferner das Wesen des Notwehrrechtes darin besteht, daß durch die Tat selbst über seine Voraussetzung entschieden wird, daß also nicht eine Instanz geschaffen werden kann, die vor der Ausübung des Rechts justizförmig prüft, ob die Voraussetzungen der Notwehr gegeben sind, so kann auch hier im wirklichen Notfall derjenige, der die Nothandlung ausübt, nicht von demjenigen unterschieden werden, der darüber entscheidet, ob der Notfall gegeben ist. Diese Sätze sind als allgemeine rechtliche Gesichtspunkte zu beachten, damit die folgende Entwicklung über den Rahmen des Historisch-Zufälligen hinausgehoben wird. — Das Bestreben des ersten Teiles der Französischen Revolution, bis zum Sturz der jakobinischen Herrschaft, ging dahin, wie es in den Verfassungsentwürfen und den Verfassungen regelmäßig heißt, das Militär nur effektiv handeln (agir), aber nicht Beschlüsse und Entscheidungen im Rechtssinne fassen, es nicht „deliberieren" zu lassen. Der Militärbefehlshaber soll mit andern Worten immer nur ein Instrument einer ihn dirigierenden Zivilinstanz sein. Er ist nur Instrument und nicht Kommissar, sowenig wie der Führer eines zur Vollstreckung eines Urteils abkommandierten Kommandos ein Kommissar ist. Für den Krieg nach außen ließ sich dieser Standpunkt nicht aufrechterhalten, weil sich hier die militärische Aktion der Natur der Sache nach über den rein militärischen Ernstfall ausdehnt. Für das militärische Vorgehen gegen die eigenen Staatsbürger im Innern wurde der Standpunkt dagegen um so strenger festgehalten. Unter keinen Umständen darf, wie es im Artikel 13 des Entwurfes einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von Sieyès heißt, Militär im Inland gegen Staatsbürger angewandt werden, ein Satz, der politisch zu dem ganzen, auf die Schwächung der königlichen Exekutive gerichteten System der Revolution gehört. Wenn der Militärbefehlshaber nicht Kommissar ist, so ist er infolgedessen auch nicht kommissarischer Diktator, sondern eben nur Instrument einer Diktatur, falls eine solche eintritt. Zunächst allerdings glaubte man mit einer einfachen Requisition militärischer Unterstützung durch die Zivilbehörde auszukommen. Man glaubte es nur mit Zusammenrottungen (riots) und nicht mit einem Bürgerkrieg zu tun zu haben. Nach dem englischen Vorbild des RiotAct wurde das französische Gesetz vom 21. Oktober 1789 „contre les attroupements ou loi martiale" erlassen, als in Paris Lebensmittelunruhen ausbrachen und die kurz vorher von Versailles nach

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Paris übergesiedelte Nationalversammlung die Notwendigkeit bemerkte, die Freiheit ihrer Beratungen vor Tumulten zu schützen 18 . Das Gesetz überträgt den Gemeindebehörden das Recht und die Pflicht, bei Gefährdung der öffentlichen Ruhe (tranquillité) zu erklären, daß die Militärgewalt (force militaire) sofort herbeigezogen werde, um die öffentliche Ordnung (ordre) wiederherzustellen. Die Gemeindebehörde wird für alle Folgen einer Nachlässigkeit verantwortlich gemacht. Die loi martiale wird dadurch erklärt, daß vom Hauptfenster des Stadthauses eine rote Fahne ausgehangen wird. Gleichzeitig requiriert die Gemeindebehörde die Chefs der Nationalgarde, d. h. der Bürgerwehr, oder die Gendarmerie oder reguläre Truppen, damit diese mit bewaffneter Hand Hilfe leisten. M i t dem Signal der roten Fahne werden alle Zusammenrottungen (attroupements) mit oder ohne Waffen strafbar und müssen mit Waffengewalt zerstreut werden. Die requirierte bewaffnete Macht (Nationalgarde, Gendarmerie oder reguläre Truppe) muß unter dem Kommando ihrer Offiziere und begleitet von wenigstens einem Gemeindebeamten sofort marschieren, wobei ebenfalls eine rote Fahne vorangetragen wird. Ein Gemeindebeamter (nicht der Offizier) hat die zusammengelaufende Menge zu fragen, was der Grund ihrer Zusammenrottung ist. Die Menge darf dann 6 Mann bestimmen, um ihre Beschwerden und Petitionen vorzubringen, die übrigen müssen sich sofort friedlich zurückziehen. Geschieht das nicht, so werden sie von den Gemeindebeamten mit lauter Stimme aufgefordert, friedlich in ihre Wohnung zurückzukehren. Die Aufforderung lautet: Avis est donné que la loi martiale est proclamée, que tous attroupements sont criminels; on va faire feu: que les citoyens se retirent. Zieht die Menge sich friedlich zurück, so werden nur die Rädelsführer im außerordentlichen Verfahren verfolgt und bestraft. Begeht die Menge vor oder während dieser Aufforderung Gewalttätigkeiten oder zieht sie sich nach der dritten Aufforderung nicht friedlich zurück, so wird die bewaffnete Macht eingesetzt. Die rechtliche Bedeutung der Tätigkeit des Militärs, die eintritt, nachdem den genannten formalen Vorschriften des Gesetzes genügt ist, wird durch das Gesetz von 1789 sehr klar umschrieben, und zwar so, daß sich daraus die Ubereinstimmung dieses Gesetzes mit den vorigen Ausführungen über die Bedeutung der loi martiale ergibt: la force des armes sera à l'instant (d. h. bei Gewalttätigkeiten oder nach der dritten vergeblichen Aufforderung) déployée contre les séditieux sans que personne soit responsable des événements qui pourront en résulter. Von den Teilnehmern der Zusammenrottungen, die Gewalttätigkeiten begehen, heißt es, daß sie bestraft werden, sofern sie „échapperont aux coups de la force militaire". In 18 D u v . I , p. 62; Baud. I, 142. E n t w ü r f e v o n Mirabeau u n d Target i n den A r c h . Pari. I X , p. 444, 452, 472, 474. 12

C. Schmitt, Die

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der ganzen Regelung ist davon ausgegangen, daß alle Initiative und Direktion bei der (von den Bürgern gewählten) Gemeindebehörde liegt und der militärische Befehlshaber nur gehorchende Exekutive ist. In dem Dekret der verfassunggebenden Nationalversammlung vom 23. Februar 1790 (Duv. I 120) werden die Gemeindebehörden aufgefordert, bei jeder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit die loi martiale zu erklären und sich bei Requisitionen von Truppen gegenseitig zu unterstützen. Auch in dem Dekret vom 2. Juni 1790 (Duv. I 235) wird den Gemeinden die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung übertragen, alle anständigen Leute (honnêtes gens) sollen mitwirken, um die Störer der öffentlichen Ordnung unschädlich zu machen, diese werden für Feinde der Verfassung, der Nationalversammlung, der Nation und des Königs erklärt, sie sollen festgenommen und nach dem Gesetz bestraft werden, aber alles „sans préjudice de l'exécution de la loi martiale". Die Nationalgarde, die Gendarmerie und die Truppen müssen den Requisitionen der Verwaltungsbehörde entsprechen, um die öffentliche Ruhe aufrechtzuhalten und den Respekt vor den Gesetzen zu wahren. Daneben finden sich auch schon Sondergerichte, denen im Wege einer kommissarischen Übertragung die Entscheidung über Aufruhr und ähnliche Delikte gegeben wird 1 9 . Daß die Nationalversammlung selbst den König ersucht, seinen Kommissaren oder den Truppenführern die nötigen Befehle zu erteilen, wurde bereits in anderem Zusammenhang erwähnt 20 . 19 D e r i m O k t o b e r 1789 bei der E r ö r t e r u n g der l o i martiale gleichzeitig behandelte A n t r a g , aus der Nationalversammlung selbst ein Gericht z u bilden, u m über derartige Fälle zu entscheiden, w u r d e aus verfassungsmäßigen, der Lehre v o n der Gewaltenteilung entnommenen Bedenken abgelehnt. Robespierre fand die Bedenken unbeachtlich ( A r c h . Pari. I X , S. 474). Dagegen w u r d e d u r c h D e k r e t v o m 21. O k t . 1787 ( D u v . I 63) der Chatelet v o n Paris ermächtigt, alle A n k l a g e n wegen lèse-nation ohne Rechtsmittel z u entscheiden, bis ein besonderes T r i b u n a l eingerichtet war; diese „ C o m mission" erstreckte sich übrigens auch auf das Verfahren gegen Verfasser aufrührerischer Schriften ( D e k r e t v o m 31. Juli 1790, D u v . I 308); vgl. ferner D e k r e t v o m 5. M ä r z 1791 (Übertragung der A b u r t e i l u n g bestimmter D e l i k t e an das T r i b u n a l v o n Orleans zur endgültigen Entscheidung ( D u v . I I 289). I n dem eben erwähnten D e k r e t v o m 2. J u n i 1790 w i r d einer Reihe v o n Präsidialgerichten die Entscheidung über A u f r u h r i n erster u n d letzter Instanz übertragen m i t der Pflicht, der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g die E r m i t t l u n g e n u n d das Beweismaterial zu unterbreiten. 20 O b e n S. 151 f. I n solchen Fällen w i r d auch der Departementskommissar ermächtigt, die Polizei i n einer bestimmten Stadt z u übernehmen u n d den V o l l z u g der Gesetze z u überwachen (Dekret v o m 8. Juni 1790, D u v . I 243, U n r u h e n i n Schlettstadt). D i e königlichen Kommissare werden ausd r ü c k l i c h ermächtigt, i n Städten, i n denen Widerstand geleistet w i r d oder

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Als der Aufruhr zunahm, erhielt das Gesetz über die loi martiale den Zustand, daß da, wo wiederholte Störungen der öffentlichen Ruhe drohen, die loi martiale fortwährend erklärt bleibt und eine ganze Zeit hindurch in Kraft ist. Während dieser Zeit, bis die loi martiale wieder ausdrücklich aufgehoben wird, bleiben alle Ansammlungen verboten. Gleichzeitig mit diesem Zusatz erging das Gesetz vom 26. Juli 1791 gegen Zusammenrottungen, das die Befugnis der Zivilbehörden regelte, die bewaffnete Macht zur Unterdrückung von solchen Zusammenrottungen aufzubieten und jeden Bürger verpflichtete, unter gewissen Voraussetzungen an der Unterdrückung mitzuwirken 21 . Die Gemeinden werden für Tumultschäden haftbar gemacht. Das Wichtige ist aber, daß jetzt die unumgängliche Konsequenz des Notrechts zur Geltung kommt und derjenige, der es ausübt, auch die Entscheidung darüber hat, ob seine Voraussetzungen bestehen: in gewissen dringenden Fällen darf jetzt die bewaffnete Macht auch ohne Requisition eingreifen und namentlich gegen Raub und Plünderung vorgehen. Wenn die Unruhen ein ganzes Departement ergriffen haben, so gibt der König die für die Wiederherstellung der Ordnung nötigen Befehle unter Verantwortung der Minister und mit der Verpflichtung, sofort die gesetzgebende Versammlung von seinen Maßnahmen zu unterrichten oder sie, wenn sie nicht versammelt ist, sofort einzuberufen. Diese Bestimmung des Gesetzes (Art. 30, 31) ist in die Verfassung von 1791 (Tit. I V Art. 2) übergegangen. Auch in diesem Gesetz wird die charakteristische Bestimmung wiederholt, daß, wenn nach den Voraussetzungen dieses Gesetzes (Aufforderung zum Auseinandergehen) die bewaffnete Macht tatsächlich gegen die Aufrührer vorgeht, keinerlei Verantwortlichkeit für die daraus entstehenden Folgen eintritt (Art. 27). In dem Gesetz vom 26. Juli 1791 ist vom Belagerungszustand nicht die Rede, obwohl die Angelegenheit des état de siège kurz vorher in dem Gesetz vom 8. Juli 1791 geregelt war. Hier handelte es sich freilich um ganz andere Zusammenhänge als die Bekämpfung von Unruhen und die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit. Das Gesetz vom 8. Juli 1791 betrifft hauptsächlich militärtechnische Angelegenheiten, nämlich die Instandhaltung und Klassifizierung der militärischen Plätze und Posten (places de guerre et die Behörden an der A u s ü b u n g ihrer A m t s t ä t i g k e i t gewaltsam behindert werden, die bewaffnete M a c h t zu requirieren u n d die Strafverfolgung der Rädelsführer zu veranlassen (Dekret v o m 8. Juli, D u v . I 274). 21 D u v . I I I 162, Baud. X V I 306: Jeder Bürger muß einem Depositar der öffentlichen A u t o r i t ä t , w e n n diesem Widerstand geleistet w i r d u n d er die W o r t e force à la l o i ausspricht, schon nach dem D e k r e t v o m 28. Febr. 1791 ( D u v . I I 250) zu H i l f e k o m m e n (auch hier nach englischem V o r b i l d ) . 1

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postes militaires), die in drei Klassen eingeteilt werden, die Polizei über die Befestigungen, die Dienstverhältnisse der Offiziere, Unterbringung der Mannschaften, Anlage von Befestigungswerken und Schadenersatz für die dabei nötigen Eingriffe in das Privateigentum usw. Vom Belagerungszustand ist in dem Zusammenhang die Rede, daß unter anderem auch die Beziehungen zwischen dem Militär und der Zivilbehörde in den befestigten Plätzen geregelt werden. Das Gesetz zählt die befestigten Plätze und Posten, für die es gelten soll, genau auf (109 befestigte Plätze und 59 militärische Posten). Davon, daß andere Ortschaften oder Bezirke in Kriegs- oder Belagerungszustand erklärt werden können, ist nicht die Rede, ebensowenig von einem Angriff des innern Feindes, von Empörern oder Rebellen. Es werden drei „états" unterschieden, in denen sich einer von den genannten befestigten Plätzen befinden kann: état de paix, état de guerre und état de siège. Im Friedensstand hat die Militärbehörde obrigkeitliche Befugnisse nur gegenüber den Truppen und in den unmittelbaren militärischen Angelegenheiten; im übrigen ist die Polizei ausschließlich Sache der Zivilbehörde. Im Kriegszustand behalten die Zivilbehörden ihre polizeilichen Befugnisse, aber der Kommandant kann sie um Maßnahmen, welche die Ordnung und die Polizei betreffen, ersuchen, sofern diese Maßnahmen im Interesse der militärischen Sicherheit des Platzes sind. Er muß dabei den Beschluß des Kriegsrates der Festung (conseil de guerre) der Zivilbehörde vorlegen, die dadurch ihrer Verantwortung enthoben ist. Im Belagerungszustand endlich gehen alle rechtlichen Befugnisse der Zivilbehörde, soweit sie die Aufrechterhaltung der innern Ordnung und der Polizei betreffen, auf den Kommandanten über, der sie unter persönlicher Verantwortlichkeit ausübt. Hierbei ist nicht von Exekutivbefugnissen die Rede, vielmehr gehen alle verfassungsmäßigen Befugnisse aller Zivilbehörden über. Der Kommandant soll dieselben rechtlichen Möglichkeiten haben wie irgendeine Zivilbehörde, deren Zuständigkeit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit betrifft. Das ist nicht ein Übergang der vollziehenden Gewalt im modernen Sinne, vielmehr ist vorausgesetzt, daß der Militärbefehlshaber die Befugnisse sämtlich selbst ausübt. Ersuchen an die Zivilbehörde wie beim état de guerre werden hier nicht erwähnt. Erst in dem später zu besprechenden Dekret von 1811 ist vorgesehen, daß der Militärbefehlshaber seine Befugnisse der Zivilbehörde überläßt. Der Kommandant der Festung greift demnach nicht wie ein Kommissar des Nationalkonvents mit Ersuchen oder Devolutionen in die Zuständigkeiten ein, er wird nur befugt, selbst alles das zu tun, was sonst eine Zivilbehörde tun könnte, jedoch „exclusivement", wie das Gesetz sagt. Die ganze Regelung ist nur verständlich, wenn man beachtet, daß der Belagerungszustand, von dem hier die Rede ist, ein

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tatsächlicher Zustand dringender Notlage mit tatsächlich umschriebenen Voraussetzungen ist: sobald der befestigte Platz von allen Verbindungen nach außen abgeschnitten ist (das Gesetz gibt die tatsächlichen Einzelheiten an), ist der Belagerungszustand ipso facto vorhanden 22 . Der Kriegszustand dagegen wird erklärt, und zwar nach einem Beschluß der gesetzgebenden Versammlung, den der König beantragt und proklamiert, oder durch Erklärung des Königs unter Vorbehalt der Bestätigung der gesetzgebenden Versammlung, wenn die Erklärung notwendig wird, während die gesetzgebende Körperschaft nicht versammelt wird (Art. 8, 9). Der Grund für diese Regelung liegt darin, daß der Kriegszustand das Recht der Militärbehörde, Ersuchen an die Zivilbehörde zu richten, zur Folge hat und ferner Eingriffe in das Privateigentum zulässig werden, wie die Niederreißung von Gebäuden in bestimmter Nähe der Festungen ohne Entschädigung (Art. 31, 32). In dringenden Fällen gibt das Gesetz allgemein dem Kommandanten, wenn er den Befehl des Königs nicht mehr einholen kann, die Befugnis, auf Grund eines Beschlusses des Kriegsrats alle zur Verteidigung erforderlichen Maßnahmen zu treffen (Art. 37). Der rein tatsächliche Charakter der ganzen Regelung ist ohne weiteres ersichtlich. Das Wort état bezeichnet einen tatsächlichen Zustand, an den sich sachtechnische Folgen knüpfen, die das Recht gelten läßt. Der Belagerungszustand einer Festung ist wie der Verteidigungszustand (état de défense) oder die Bereitschaft eines Truppenteiles (état de réquisition permanente) ein faktischer Zustand militärtechnischer Art. Wenn der Militärbefehlshaber ihn erklärt, so bedeutet das rechtlich nichts anderes, wie wenn der in Notwehr Handelnde seinen Gegner darauf aufmerksam macht, daß er von einem Notwehrrecht Gebrauch mache. Der Belagerungszustand ist noch nicht Anknüpfungspunkt für eine Fiktion geworden, mit deren Hilfe bestimmte Rechtsfolgen herbeigeführt werden sollen 23 . A r t . 11 : Les places de guerre et postes militairs seront en état de siège. Das Gesetz v o m 26. M a i 1792 ( D u v . I V 208) erklärt den Kriegszustand (nicht Belagerungszustand) für eine Reihe v o n Plätzen m i t der F o r mel: elles seront comme étant en état de guerre u n d besagt ferner, daß der General eine Festung als in Belagerungszustand befindlich erklären kann. D e r K ö n i g w i r d ermächtigt, zu den i m Gesetz v o n 1791 genannten Plätzen weitere hinzuzufügen, w e n n sie ihrer Lage (position) nach i m Kriegszustand befindlich erachtet werden. I n A r t . 3 w i r d der General der A r m e e ermächtigt, à déclarer et à faire proclamer que tels o u tels postes qu'ils occuperont sont en état de guerre, w e n n er das i m Interesse der Sicherheit oder der Armeepolizei für n o t w e n d i g hält. D i e bloß militärtechnische Behandlung der Sache ergibt sich auch daraus, daß das Gesetz ohne p o l i t i sche Debatte an den Ausschuß für militärische Angelegenheiten überwiesen w u r d e (Arch. Pari. X L I I I , S. 617/618). 22

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Die Jakobiner waren heftige Gegner der loi martiale, einmal weil die Entfesselung der unorganisierten Masse des Volkes, durch welche die Jakobiner ihre politische Macht errangen, mit Hilfe der loi martiale niedergehalten werden konnte. Aber neben diesem allgemeinen Grund, der jede politische Opposition zum Gegner der Einrichtungen macht, die dem Schutz der bestehenden Ordnung dienen, gab die loi martiale den Gemeindebehörden, die damals nach der Verfassung von 1791 weitgehende Selbstverwaltungsbefugnisse hatten, eine Verfügung über die bewaffnete Macht, die sie im Dienst ihrer föderalistischen Bestrebung zur Unterdrückung der in Paris zentralisierten, radikalen revolutionären Bewegung benutzen konnten 24 . Der Nationalkonvent hob am 23. Juni 1793 die loi martiale mit einem Satze auf 25 . Ihm standen seine Kommissare, die Revolutionsgesetzgebung und die Revolutionstribunale zur Verfügung, die den Gegner justizförmig erledigten. Den Belagerungszustand behielt er als rein militärische Institution bei. Ein Wendepunkt in der Entwicklung dieses Begriffes tritt nun dadurch ein, daß außer befestigten Plätzen auch andere Ortschaften in Belagerungszustand kommen können und zugleich (denn an sich wäre das erste nur eine technische Erweiterung) an die Stelle des tatsächlichen Belagerungszustandes die „Erklärung" des Belagerungszustandes im Sinne der Begründung einer rechtlichen Fiktion tritt. Der Unterschied ist deutlich an den beiden Gesetzen, die vor und 24 Es ist bezeichnend, daß Bonald als Maire v o n M i l h a u (Rovergue) den K a m p f der Gemeinden gegen die A u f r ü h r e r organisierte u n d dafür v o n der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g belobigt w u r d e (21. A u g . 1789, A . P. V I I I 4 6 6 / 467). Robespierre war gegen die l o i martiale ( A . P. X I , S. 474). L o u i s Blanc sagt, n u r einer habe gegen das grausame Gesetz protestiert, Marat, der der M e i n u n g war, solange das V o l k n o c h damit beschäftigt sei, seine K e t t e n z u zerbrechen, sei ein solches Gesetz nicht am Platze. K r o p o t k i n , D i e französische R e v o l u t i o n v o n 1789-1793 (Deutsche Ausgabe v o n G. Landauer), I, Leipzig, S. 155, macht Robespierre z u m V o r w u r f , daß er nicht prinzipieller Gegner der l o i martiale war, sondern n u r einen Gerichtshof verlangte (vgl. o. S. 178). Dagegen r ü h m t P h i l i p p B o u n a r o t t i i n seinen Observations sur M a x i m i l i e n Robespierre (1842, abgedruckt Revue hist. d. l . R é v . fr. I I I , 1912, S. 478) Robespierre, w e i l er die brutale l o i martiale verworfen habe. Bei den Lebensmittelunruhen sagt Fabre de l ' H é rault am 30. O k t . 1792 (Ree. I 211), man müsse die Bevölkerung aufklären, aber nicht die l o i martiale proklamieren. 25 La C o n v e n t i o n nationale décrète que la loi martiale est abolie. D u v . V 435; Baud. X X X I 200. A m 24. Juli 1793 schrieb der Repräsentant des N a tionalkonvents, A l b i t t e , i n einem Bericht: der perfide Mirabeau schuf die l o i martiale i m Schöße eines freien Volkes; es ist jetzt an uns, das schändliche Gesetz zu vernichten, das unser Recht beschmutzt, die l o i martiale soll dem allgemeinen F l u c h anheimfallen, die rote Fahne zerrissen werden usw. Recueil V , 73, 74.

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nach dem Staatsstreich der radikalen Mitglieder des Direktoriums vom 18. fructidor V (4. September 1797) liegen. Es entsprach der Militarisierung des Staates — sowohl der 13. vendémiaire wie der 18. fructidor waren das Werk des Militärs 26 —, daß der militärische Begriff die Grundlage einer Regelung wurde. Das Gesetz vom 10. fruct. V (27. August 1797) dehnt die Anwendung des Kriegsund Belagerungszustandes auf die Gemeinden „im Innern des Landes" aus. Das Direktorium kann nach Ermächtigung durch die gesetzgebende Körperschaft den Kriegs- (nicht den Belagerungszustand erklären. Das bedeutet praktisch, daß der Militärbefehlshaber kommissarischer Chef der in Kriegszustand erklärten Gemeinde wird und nicht mehr, wie nach dem Gesetz über die loi martiale, der Leitung der Zivilbehörde untersteht. Der Belagerungszustand bleibt ein tatsächliches Faktum, die Gemeinden sind im Belagerungszustand, sobald sie durch Truppen oder Rebellen (hier taucht der „innere" Feind auf) abgeschnitten sind. Sofort nachdem der Staatsstreich vom 18. fruct. gelungen war, erhielt das Direktorium für sich, das heißt ohne die gesetzgebende Körperschaft, die Befugnis, de mettre une commune en état de siège. Dadurch hatte die Regierung die Möglichkeit, den Belagerungszustand herbeizuführen, wenn sie ihn für nötig hielt. Der formale A k t der Regierungserklärung tritt an die Stelle der wirklichen Notlage. Der Begriff erhält einen politischen Sinn, das militärtechnische Verfahren wird in den Dienst der innern Politik gestellt. Die Wirkung war noch dieselbe wie nach dem Gesetz von 1791: der Militärbefehlshaber ordnete an, was er im Interesse der Durchführung der militärischen Aktion für erforderlich hielt. Soweit es sich nicht um die militärische Aktion handelte, hatte er gegenüber den Bürgern keine andern Befugnisse als diejenigen, die auch den Zivilbehörden zustanden. Für die Erweiterung dieser Befugnisse wußte das Direktorialregime einen Begriff zu schaffen, dessen Name nicht denselben Erfolg gehabt hat wie der »Belagerungszustand", der aber eine der merkwürdigsten Erfindungen für den Kampf mit dem politischen Gegner ist. Neben den état de siège wird der état de troubles civils gesetzt. Wenn ein Departement oder ein Kanton oder eine Gemeinde notorisch im „Unruhezustand" war, so konnte nach dem Gesetz vom 24. messidor V I I (12. Juli 1799, Duv. X I , 297) das Direktorium der gesetzgebenden Versammlung die Erklärung des Unruhezustandes vorschlagen. Da26 D i e offiziellen D o k u m e n t i e r u n g e n dieses Faktums sind das Gesetz v o m 18. fruct. V , durch welches das D i r e k t o r i u m ermächtigt w i r d , die T r u p p e n i n den r a y o n constitutionnel eintreten zu lassen u n a das Gesetz v o m 19. Fruct. V , das dem General der A r m e e i m I n n e r n des Landes bestätigt, er habe sich u m das Vaterland verdient gemacht.

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durch wurden folgende Maßnahmen zulässig: die Angehörigen von Emigranten und frühern Adligen, Verwandte von „Räubern und Bandenführern" (Frauen wie Männer) wurden für alle Fälle von Mord und Plünderung verantwortlich gemacht und als Geiseln festgenommen. Bei jedem Mord eines Patrioten werden vier Geiseln deportiert, andern werden Bußen auferlegt usw. Notorische Bandenführer, über welche Listen angelegt werden sollen, kommen vor besondere Militärgerichte (commissions militaires) und können ohne weiteres zum Tode verurteilt werden (Art. 39). Dies Gesetz wurde am 22. brumaire V I I I , unmittelbar nach dem gelungenen Staatsstreich Napoleons, wieder aufgehoben (Duv. X I I 5). Dafür brachte die Verfassung vom 22. frimaire V I I I (13. Dez. 1799) ein neues Moment in die Entwicklung: die Suspension der Verfassung (la suspension de l'empire de la Constitution). Nach Art. 92 kann sie für alle Gegenden und für so lange erklärt werden, als Empörungen mit bewaffneter Hand und Unruhen die Sicherheit des Staates (la sûreté de l'Etat) bedrohen. Die Suspension geschieht durch Gesetz, in dringenden Fällen, wenn die gesetzgebende Körperschaft nicht versammelt ist, durch die Regierung, die dann aber gleichzeitig die gesetzgebende Versammlung berufen muß. Das organisatorische Senatus-Consult vom 16. therm. X (4. August 1802) erwähnt die Suspension der Verfassung unter den Befugnissen des Senats (Art. 55). Vom Belagerungszustand spricht weder die Verfassung des Jahres V I I I noch jenes S. C. Die Verbindung dieses Begriffes mit der Suspension der Verfassung war also noch nicht eingetreten. Die Befugnis, den Belagerungszustand zu erklären, wurde der Regierung zugeschrieben mit der Begründung, daß sie auch über die bewaffnete Macht verfüge und den Krieg erklären könne 27 . Es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen der Belagerungszustand verhängt wurde 28 . Dagegen wurde durch Beschluß vom 7. nivôse V I I I (Duv. V 56) und durch Gesetz vom 23. nivôse V I I I in der Vendée die Verfassung suspendiert. Der zur Unterdrückung des Aufruhrs dorthin entsandte Militärbefehlshaber wurde ermächtigt, aufrührerische Gemeinden als außerhalb der Verfassung (hors de la constitution) zu erklären, Anordnungen mit Androhung der Todesstrafe zu erlassen, außerordentliche Abgaben als Bußen zu erheben usw. Die Regierung setzte Ausnahmegerichte 27 M e r l i n , Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, 3. A u f l . (1808), I V , p. 777; Teyssier-Desfarges, Revue de d r o i t français et étranger, V (1848), p. 504. 28 D i e v o n Teyssier-Desfarges p. 501 genannten Beschlüsse über den Belagerungszustand i n den Gemeinden A l e n ç o n v o m 17. prair. V I I I u n d Sarlat, Bergerac u n d Ostende betreffen die Aufhebung des Belagerungszustandes.

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ein (vgl. Duv. V 66). Napoleon hat den Belagerungszustand nicht als Mittel für politische Kämpfe benutzt 29 . Dagegen hat er den Inhalt des Belagerungszustandes erweitert und dadurch seine politische Brauchbarkeit begründet durch das Dekret vom 24. Dezember 1811. Es war, politisch betrachtet, eine Vorbereitungsmaßnahme für den Feldzug gegen Rußland und hatte militärischen Charakter. Doch wurde bei seinem Erlaß schon damit gerechnet, daß Unruhen der deutschen Bevölkerung in den annektierten Gebieten möglich wären. Man hatte also schon an den inneren Feind gedacht. Die Regelung betrifft hauptsächlich die Organisation und den Dienst in befestigten Plätzen in derselben Weise wie bei dem Gesetz von 1791, von dem auch die Dreiteilung in Friedens-, Kriegs- und Belagerungszustand übernommen ist (Art. 50 ff.) Der Kriegszustand wird durch kaiserliches Dekret erklärt, wenn die Umstände es erfordern, daß die militärische Polizei größere Wirksamkeit und Tätigkeit erhält (Art. 52). Der Belagerungszustand dagegen wird bestimmt (déterminé) durch ein Dekret des Kaisers oder (!) eine Belagerung oder einen gewaltsamen Angriff oder einen Uberfall oder einen innern Aufruhr oder endlich durch unerlaubte Ansammlungen im Bereich des Festungsgebietes. Wichtig ist an dieser Regelung, daß die formale Erklärung durch Dekret als Entstehungsgrund neben die faktische Sachlage (Belagerung, Angriff) tritt. Die Wirkung des Äneg5zustandes ist nach Art. 92, daß die nationale und lokale Bürgerwehr unter das Kommando des Militärbefehlshabers (Gouverneur oder Kommandant) tritt, daß die Zivilbehörde keine Anordnung erlassen kann, ohne sich vorher mit dem Militärbefehlshaber verständigt zu haben, endlich daß die Zivilbehörde alle Polizeiverordnungen, die der Militärbefehlshaber im Interesse der Sicherheit des Platzes oder der öffentlichen Ruhe für erforderlich hält, erlassen muß. Dazu kommen aber weitgehende Befugnisse, die der Militärbefehlshaber ohne weiteres ausüben kann, Heranziehung zu Verteidigungsarbeiten, Ausweisung von Fremden, Verdächtigen und „bouches inutiles", schließlich die allgemeine Ermächtigung, alle Maßnahmen zu treffen, die im Interesse der Verteidigung liegen und alles, was die Truppenbewegungen und die Verteidigung behindert, zu beseitigen (Art. 93-95). Hier herrscht durchaus die Vorstellung, daß auch ohne Suspension von Verfassungsbestimmungen das Interesse der militärischen Operation jeden Eingriff in bürgerliche Freiheitsrechte 29

D i e polizeilichen Befugnisse, insbesondere der état de surveillance, die i h m z u r Verfügung standen, u n d die Sondergerichte waren ausreichende M i t t e l , die hier i m einzelnen nicht erörtert zu werden brauchen. M i l i t . Belagerungszustand i n den Plätzen A n t w e r p e n u n d Brest d u r c h kaiserliches Dekret v o m 26. M ä r z 1807, B u l l e t i n I V , N r . 2238/39.

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rechtfertigt. Der Belagerungszustand (Art. 101, 102) bewirkt, daß der Militärbefehlshaber Vorgesetzter aller Zivilbehörden wird, welche eine Tätigkeit ausüben, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Polizei in Betracht kommt, und daß er ferner die gesamte diesen Behörden zustehende Autorität für sich selbst erhält. Er kann sie selbst ausüben oder nach seinem Ermessen der Zivilbehörde „delegieren", die sie dann aber im Namen des Militärbefehlshabers und unter seiner Aufsicht (surveillance) im ganzen Umkreis der Festung oder der Blockade ausübt. Es wird also angenommen, daß ein eigenes, nicht etwa aus einer Übertragung ziviler Befugnisse abgeleitetes Recht des Militärbefehlshabers besteht, welches infolgedessen auch nicht etwa eine bloße Summierung der Zuständigkeiten der Zivilbehörden ist, die für Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zuständig sind. Ganz allgemein soll der Militärbefehlshaber den gesamten Dienst sowohl der militärischen wie der Zivilstellen regeln, wobei er keine anderen Rücksichten zu nehmen braucht als „seine geheimen Instruktionen, die Bewegungen des Feindes und die Tätigkeit des Belagerers" 30. Er wird kommissarischer Chef der gesamten Behörden, deren Zuständigkeit und Tätigkeit aber nur ein Mittel für seine von militärischen Zweckgesichtspunkten beherrschte und infolgedessen über die zivilen Zuständigkeiten weit hinausreichende Aktion ist. Der Übergang der vollziehenden Gewalt ist keine Grundlage für das dem Militärbefehlshaber im ganzen zustehende Recht, sondern nur ein verwaltungstechnisches Mittel, um den Behördenapparat in seine Hand zu geben. Daher gehen auch richterliche Befugnisse auf ihn über: er kann für alle Delikte, deren Aburteilung er nicht den ordentlichen Gerichten überlassen will, die police judiciaire (d. h. aller Angelegenheiten der Strafverfolgung einschließlich der Tätigkeit des Untersuchungsrichters) durch einen prévôt militaire ausüben lassen; an die Stelle der ordentlichen Gerichte treten Militärgerichte (Art. 103). Damals wurde nicht daran gedacht, wegen eines Belagerungszustandes eine Suspension der Verfassung auszusprechen, obwohl Art. 92 der Verfassung des Jahres V I I I eine solche Suspension vorsah. Die Militärgerichtsbarkeit war, wie die übrigen auf die Militärbehörde übergegangenen Befugnisse, ein Mittel zur Sicherung des militärischen Zweckes und damit ein Teil der Aktion des Militärbefehlshabers. Die Suspension der Verfassung nach Art. 92 bedeutet, daß ein verfassungsloser Zustand für ein bestimmtes Gebiet eintre30

A r t . 103: Dans l'état de siège, le gouverneur o u commandant détermine le service des troupes, de la garde nationale et celui des autorités civiles et militaires, sans autre regle, que ses instructions secrètes , les mouvements

de Vennemi et les travaux de l'assiégeant.

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ten soll, damit es dem Aktionskommissar ermöglicht ist, alle zur Erreichung seines Zweckes notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die Suspendierung schafft also einen Raum für diese Aktion durch die Beseitigung von rechtlichen Rücksichten, deren Beachtung in concreto ein sachwidriges Hindernis wäre. Aber während die hostis-Erklärung, die Achtung, die hors-la-loi-Erklärung, die Behandlung als felon, nur für das Objekt der Exekution selbst eine Aufhebung des Rechtszustandes bedeutet, werden durch solche territoriale Bestimmung Schuldige wie Unschuldige betroffen. Wie nach der Erklärung der loi martiale kann rücksichtslos vorgegangen werden. Daß dies der Sinn der Suspendierung der Verfassung nach Art. 92 ist, ergibt sich aus den gleichzeitigen Anordnungen. Bevor nach dem bereits erwähnten Gesetz vom 23. niv. V I I I (13. Januar 1800) die Verfassung in einzelnen Bezirken aufgehoben wurde, erging der Beschluß vom 7. niv. V I I I (28. Dez. 1799, Duv. X I I , 56, Bull. II, nr. 3518), der den Aufständischen Amnestie verspricht, gleichzeitig aber bestimmt, daß der Militärbefehlshaber der Regierungstruppen die Gemeinden, die im Aufstand verbleiben, hors de la Constitution erklären kann mit der Wirkung, daß sie behandelt werden „wie Feinde des französischen Volkes". In dieser Kollektivverantwortlichkeit lag eine rechtliche Schwierigkeit, die in der hostis-Erklärung bestimmter Personen nicht enthalten war. Wenn der Militärbefehlshaber dann durch das Gesetz vom 23. niv. V I I I ermächtigt wird, Todesstrafen anzudrohen, beliebige Bußen zu erheben und wenn gleichzeitig Militärgerichte eingesetzt werden, so zeigt sich, daß hier das aufständische Gebiet als Kriegsschauplatz behandelt wird, obwohl es nicht aufhört, Inland, und seine Bewohner nicht aufhören, Staatsbürger zu sein. Die Vorstellung, daß ein bestimmtes Gebiet hors de la Constitution ist (Art. 55 S. C. vom 16. therm. X: le Sénat . . . déclare, quand les circonstances l'exigent, des départements hors de la Constitution) und dadurch wie ein Kriegsschauplatz behandelt werden kann, wird zur Rechtsgrundlage der vom Militärbefehlshaber ausgeübten kommissarischen D i k tatur. Trotzdem nun beim Belagerungszustand ebenfalls aus militärischen Rücksichten Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger zugelassen sind, wird hier eine Suspension nicht für erforderlich gehalten, solange die Vorstellung überwiegt, daß der Belagerungszustand sich gegen den äußern Feind richtet. Das Dekret von 1811 mußte daher verfassungswidrig erscheinen, sobald es auf den Kampf gegen den innerpolitischen Gegner angewandt wurde. Der Belagerungszustand wird erst 1815 in der Verfassung erwähnt. Nach Art. 66 des Acte additionnel vom 22. April 1815 wird unter dem Titel Droits des citoyens das Recht der Erklärung des Belagerungszustandes bei innern Unruhen (troubles civils) einem Gesetz vorbehalten. Der Grund für diese Bestimmung lag in der

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Napoleonischen Regierungspraxis, deren Verfassungswidrigkeiten in dem Absetzungsdekret des Sénat conservateur vom 3. April 1814, durch welches Napoleon seines Thrones für verlustig erklärt wurde, aufgezählt sind 31 . Aber man kann nicht sagen, daß der Kaiser gerade den Belagerungszustand als innerpolitisches Kampfmittel benutzt hätte. Doch mußte nach den Erfahrungen während der Invasion 1814 eine konstitutionelle Verfassung, wie sie durch den Acte additionnel von 1815 versucht wurde, vor allem diese Frage regeln. Bei bürgerlichen Unruhen durfte der Belagerungszustand nur durch Gesetz, d. h. nur unter Mitwirkung der Volksvertretung erklärt werden. Die Entscheidung über die Verwendung der militärischen Macht zu einer militärischen Aktion gegen eigene Staatsbürger sollte nicht im Belieben des Kaisers, d. h. des obersten Kriegsherrn stehen. Die Suspendierung der Verfassung, wie sie in der Verfassung vom Jahre V I I I und dem S. C. vom Jahre X vorgesehen und noch in Geltung war, wird aber auch hier noch nicht im Zusammenhang mit dem Belagerungszustand erwähnt, obwohl gerade die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte (dabei war an die Militärgerichte gedacht) der wichtigste Vorwurf gegen die Regelung des Belagerungszustandes von 1811 war. Immer galt noch, wie bei der loi martiale, die Vorstellung, daß, wenn einmal die Voraussetzungen der militärischen Tätigkeit rechtlich gegeben sind, für das, was durch diese geschieht, „niemand verantwortlich" ist. Als verfassungswidrig empfand man nur die Militärgerichte, nicht allein, weil die Verfassung jedem Bürger den „juge naturel" garantierte, sondern vor allem deshalb, weil hier der Militärbefehlshaber statt als Soldat als Richter kraft Auftrags erscheint. Der Gegensatz von Gesetz und Auftrag, d. h. hier militärischem Befehl, von ordentlicher Zuständigkeit der Zivilbehörde und Militär war der eigentliche Streitpunkt der Napoleonischen Verfassungen. Nach der Niederlage von Waterloo regierte die Kammer selbständig und setzte am 28. Juni 1815 eine Regierungskommission ein, die ermächtigt wurde, auch über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus zur Sicherung der öffentlichen Ruhe verdächtige Personen, Verbreiter aufrührerischer Schriften usw. unter Überwachung zu stellen und festzuneh31 Dieser acte de déchéance spricht namentlich v o n der Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit u n d den verfassungswidrigen (gegen A r t . 50 der Verfassung des Jahres V I I I ) verstoßenden Kriegserklärungen des K a i sers ( M e r l i n hatte 1807 Répert, t. I I I , p. 327 v o n diesem A r t . 50 gesagt: ces dispositions ne subsistent plus, w e i l sie d u r c h die Sénatus Consulte v o n X , A r t . 58 u n d flor. X I I , A r t . 27 implicite aufgehoben seien). D e m Kaiser w i r d vorgeworfen, er habe „ c o n f o n d u les p o u v o i r s " die Volksvertretung vertagt u n d nicht wieder berufen usw. T h . Reinach, L'état de siège, Paris 1885, p. 102 sagt, das D e k r e t v o m 24. Dez. 1811 sei ein Absetzungsgrund gewesen, es ist aber i n dem offiziellen Text des Absetzungsaktes nicht erwähnt.

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men, ohne sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit dem Richter vorzuführen. Für Beschwerden wurde eine besondere Instanz bei der Kammer geschaffen. Durch Gesetz vom gleichen Tage spricht die Kammer aus, daß Paris im Belagerungszustand ist, was der militärischen Situation entsprach 32. In demselben Gesetz wird angeordnet, daß die bürgerlichen Behörden in Funktion bleiben und die Regierungskommission allein besondere Maßnahmen zum Schutz der Person und des Eigentums trifft. Die militärischen Befugnisse sollen also streng auf die militärische Operation im engsten Sinne beschränkt bleiben. Es wurde nicht erwogen, für die Ausnahmebefugnisse der Regierungskommission durch formelle Suspension der Verfassung eine besondere Rechtsgrundlage zu schaffen. — Die Regierung der Restauration fand mit ihren zahlreichen Gesetzen, die in die persönliche Freiheit und in die Preßfreiheit eingriffen, heftigen Widerstand bei den Kammern und beim Volk 3 3 . Der Belagerungszustand war für sie ein verwaltungstechnisches Mittel in dem Sinne eines Ausnahmezustandes, wobei jede Behörde tun konnte, was nach Lage der Sache erforderlich erschien. So wurde er für den Kampf gegen den innern Feind gebraucht. Bezeichnend ist die Formel, mit der im Mai 1816 durch telegraphische Anweisung vom Ministerrat an die Militärbefehlshaber der Belagerungszustand in Grenoble angeordnet wurde: le département de l'Isère doit être regardé en état de siège, les autorités civiles et militaires ont un pouvoir discrétionnaire^ . Aber daran knüpfte sich 32

La ville de Paris est en état de siège. B u l l V I , nr. 305, 304 (p. 2 9 1 / 93). D e r Verfassungsentwurf v o m 29. Juni 1815, A r t . 52 bis bestimmt, daß die Hauptstadt n u r d u r c h Gesetz i n Belagerungszustand erklärt werden kann; hier soll also auch bei feindlicher Invasion die V o l k s v e r t r e t u n g m i t w i r k e n ( M o n i t e u r v o m 1. Juli 1815). 33 V g l . meinen Aufsatz D i k t a t u r u n d Belagerungszustand, Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtsw., 38. Bd. (1916), S. 150 ff. 34 D i e Gleichstellung v o n Z i v i l - u n d M i l i t ä r b e h ö r d e n k ö n n t e die V e r m u t u n g nahelegen, es sei kein Übergang der vollziehenden Gewalt erfolgt. D o c h beweist der tatsächliche Verlauf der Sache das Gegenteil; vgl. de Viel-Castel, H i s t o i r e de la Restauration, t. V , Paris 1862, S. 91 ff.; Capefigue, H i s t o i r e de la Restauration, 3. éd. Paris 1841, t. I I , ch. X I , p. 119. I m M o n i t e u r ist v o n diesem Belagerungszustand nichts erwähnt, die U n r u h e n i n Grenoble werden erst am 10. M a i 1816 mitgeteilt, nachdem die Ruhe bereits wiederhergestellt war u n d die militärische Besetzung der Ortschaften n u r noch den Z w e c k hatte, „eine eklatante Bestrafung der Schuldigen z u sichern". W i e u n k l a r der Rechtszustand unter der Restauration war, ist daraus zu ersehen, daß die Frage, ob die l o i martiale v o n 1789 noch galt, damals erörtert w u r d e ; i n der D e p u t i e r t e n k a m m e r w u r d e ihre G e l t u n g i m Juni 1820 bejaht. Duvergier meint ( C o l l . I , p. 62, note), es wäre klug, sie wieder einzuführen, w e n n sie nicht mehr bestehen sollte.

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jetzt der Kampf um die verfassungsmäßigen Garantien, insbesondere der persönlichen Freiheit und der Preßfreiheit. Gegenüber dem auf den Notfall sich berufenden Ausnahmerecht werden diese Freiheiten in analoger Weise zum Problem der Souveränität wie die Frage der wohlerworbenen Rechte im ständischen Rechtsstaat. Daß die Ausübung der Souveränität an gesetzlich geordnete Kompetenzen gebunden ist, wird von allen Seiten ohne weiteres zugegeben. Aber die Frage der jura extraordinaria majestatis oder der jura dominationis (o. S. 15/16) kehrt in anderer Form wieder unter Verwendung der gleichen Unterscheidungen zwischen rechtlich geordneter, d. h. begrenzter Ausübung der Souveränität und der immer latent vorhanden bleibenden, prinzipiell unbegrenzten Substanz der staatlichen Allmacht, die auf Grund einer bestimmten Sachlage nach Gesichtspunkten sachtechnischer Zweckmäßigkeit das System der Kompetenzen durchbricht. Die rechtliche Grundlage für alle außerordentlichen Befugnisse sah die königliche Regierung in dem Art. 14 der Verfassung vom 14. Juni 1814. Dieser bestimmte unter der Uberschrift „Formes du gouvernement du Roi", daß der König das Haupt des Staates ist, die militärische Macht befehligt, Krieg erklärt und Frieden schließt, die Beamten ernennt und alle Verfügungen trifft, die für den Vollzug der Gesetze und die Sicherheit des Staates notwendig sind 35 . Darin erblickte die königliche Regierung nicht etwa eine kommissarische Ermächtigung für den Notfall, sondern einen Ausdruck ihrer Souveränität. Sie hielt es daher nicht für verfassungswidrig, auch solche Anordnungen zu treffen, die gegen die bestehenden Gesetze und gegen die Verfassung selbst verstießen, wenn sie nur nach dem Urteil des Königs für die Sicherheit der bestehenden Ordnung notwendig waren. Das wird in der politischen Sprache der damaligen Zeit als „dictature" bezeichnet. In Wahrheit ist es weder kommissarische noch souveräne Diktatur, sondern einfach die Prätention der Souveränität als der prinzipiell unbegrenzten Staatsgewalt, deren Selbstbindung durch die ordentliche Gesetzgebung eben nur für das gilt, was sie als normalen Zustand ansieht. Das monarchische Prinzip, das so viele verschiedenartige politische und staatstheoretische Inhalte annehmen konnte 36 , hat hier staatsrechtlich den Sinn 35

Le R o i est le chef suprême de l'état, i l commande les forces de terre et mer, déclare la guerre . . . et fait les règlements et ordonnances nécessaires p o u r l'exécution des lois et la sûreté de l'état. 36

A u s A n l a ß einer Besprechung v o n Η . Ο . Meisner, U b e r die Lehre v o m monarchischen Prinzip, Breslau 1913, u n d H . Maier, D i e geistesgeschichtlichen Grundlagen der k o n s t i t u t i o n e l l e n Theorie, T ü b i n g e n 1914, hat W o l z e n d o r f f sich über den systematischen u n d methodischen Gegensatz v o n staatstheoretischen K o n s t r u k t i o n e n u n d politischen Ideen geäußert ( A r c h . f. öff. Recht, Bd. 34, 1915, S. 477 ff.). Seine Äußerungen haben

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einer Unterscheidung von ordentlichen, d. h. durch eine rechtliche Regelung erfaßten und dadurch umschriebenen, und außerordentlichen, d. h. die unmittelbare Äußerung der unbegrenzbaren plenitudo potestatis betreffenden Souveränitätsbefugnissen. N u r eine Literatur, die jeden Sinn für das juristische Grundproblem der Staatslehre, den Gegensatz von Recht und Rechtsverwirklichung, verloren hat, kann hier in der Unterscheidung von Substanz und Ausübung der Souveränität eine unbeachtliche scholastische Spitzfindigkeit entdecken. Ist Souveränität wirklich staatliche Allgewalt, und das ist sie für jede, eine Teilung, d. h. Abgrenzung der Gewalten nicht restlos durchführende Verfassung, so ergreift die rechtliche Regelung immer nur den berechenbaren Inhalt der Ausübung, niemals die substantielle Fülle der Gewalt selbst. Die Frage, wer über sie, d. h. den rechtlich nicht geregelten Fall entscheidet, wird die Frage nach der Souveränität. Auf diese Souveränität als die prinzipiell unbegrenzbare Befugnis, das zu tun, was nach Lage der Sache im Interesse der staatlichen Sicherheit geboten ist, ohne Rücksicht auf die etwa entgegenstehende konstituierte Ordnung, berief sich das Königtum der Restauration. Es nahm also das pouvoir constituant für sich selbst in Anspruch und betrachtete sich nicht als dessen Beauftragten. Sein Vorgehen war daher kein Fall souveräner Diktatur. Bei der Beratung der Ordonnanzen vom Juli 1830, die auf Grund dieses Standpunktes ergingen und zum Ausbruch der Revolution und zum Sturz des souveränen Königtums führten, äußerte sich der Justizminister Chantelauze in seinem Gutachten, daß der Art. 14 dem König nicht die Befugnis gebe, die Verfassung zu ändern, wohl aber sie zu sichern und gegen Änderungen zu schützen und daß die gegenwärtige Sachlage die Äußerung eines solchen „pouvoir susprême" notwendig mache. Es versteht sich aber von selbst, daß der Inhaber einer Souveränität in dem angegebenen Sinne des Wortes kein anderes Interesse haben kann als die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. In dem Gutachten heißt es weiter, man dürfe über die legale Ordnung hinausgehen, um den Geist der Verfassung zu wahren. Gleichzeitig wurde auch von einem dem König im Gegensatz zum Volk zustehenden pouvoir constituant gesprochen 37. Die Ordonnanzen vom 26. Juli 1830, „der Staatsstreich", verfügten, soweit sie hier in Betracht kommen, Einschränkungen der Preßfreiheit, die Auflösung der Kammer der Abgeordneten und grundlegende Bedeutung, o b w o h l sie dem Anlaß entsprechend auf eine Skizze beschränkt geblieben sind. 37

Das Gutachten ist abgedruckt bei Capefigue, l ' E u r o p e depuis l'avènement d u R o i Louis Philippe I I , Brüssel 1845, t. I I , p. 64; der A u s d r u c k p o u v o i r constituant p. 72.

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Änderungen des Wahlrechts. A m 27. Juli entstanden die Unruhen in Paris und entschied sich die Nationalgarde gegen den König. Erst am 28. Juli 1830 wurde durch königliche Ordonnanz die Stadt Paris in Belagerungszustand erklärt „im Hinblick auf Artikel 53, 101, 102 und 103 des Dekrets vom 24. Dez. 1811", mit der Begründung, daß innere Unruhen im Lauf des 27. Juli die Ruhe von Paris gestört hätten. Auch in dieser Erklärung des Belagerungszustandes ist der militärische Charakter deutlich, die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten erblickte man zunächst nicht im Belagerungszustand, sondern in den auf Grund Art. 14 im Interesse der Sicherheit des Staates ergangenen königlichen Ordonnanzen. Das Ziel der Revolution von 1830 war eine nach englischem Vorbild verfassungsmäßige Regierung. Der Art. 14 der Charte von 1814 kehrt in der Verfassung vom 14. August 1830 als Art. 13 in der gleichen Weise wieder, nur daß der König ausschließlich die für den Vollzug der Gesetze erforderlichen Anordnungen treffen soll und ausdrücklich hinzugefügt ist, daß er niemals die Gesetze selbst suspendieren noch von ihrem Vollzug dispensieren kann. Der Belagerungszustand ist in dieser Verfassung nicht erwähnt. Bereits im Juni 1832 wurde er durch königliche Ordonnanz erklärt und richtete sich gegen zwei in ihrem politischen Charakter ganz verschiedene Bewegungen, die aber im liberalen Bürgertum ihren gemeinsamen Gegner hatten, den royalistischen Aufstand in der Vendée und den proletarischen Aufstand in Paris. Die bürgerlichen Parteien machten damals keine Einwendungen gegen den Belagerungszustand. 38 Eine königliche Ordonnanz vom l.Juni 1832 erklärt drei Arrondissements 39 in Belagerungszustand mit der allgemeinen Begründung, daß es notwendig sei, rasch und mit allen gesetzlichen Mitteln die aufrührerische Bewegung in diesen Gegenden zu unterdrücken; der Staatsminister des Innern und der Kriegsminister werden mit dem Vollzug der Anordnung betraut. Auf das Gesetz von 1811 ist nicht Bezug genommen. Die Ordonnanz vom 3. Juni 1832 erklärt ohne besondere Begründung kurz die Gemeinden mehrerer Departements in Belagerungszustand 40. 38 D i e E r w ä h n u n g der Vorgänge v o m J u n i 1832 i n der Thronrede bei der E r ö f f n u n g der K a m m e r n am 19. N o v e m b e r 1832 führte zu lauten Begeisterungsrufen (Arch. Pari., I I . série, t. 77, S. 667/68). D i e Royalisten bezeichneten den Belagerungszustand als D i k t a t u r der Regierung. I n seiner Rede v o m 4. Jan. 1849 sagte D o n o s o Cortés ( i m spanischen Abgeordnetenhaus), i n der Charte der Restauration habe die D i k t a t u r i n A r t i k e l 14 gesteckt, i n der v o n 1830 i n der Einleitung, u n d die R e p u b l i k v o n 1848 sei überhaupt nichts a l s ' D i k t a t u r unter republikanischem N a m e n . 39

Lavalle, Château-Gontier u n d Vitré: B u l l . I X , t. 4, nr. 4202, p. 661. M a i n e et Loire, la Vendée, L o i r e Inférieure u n d les Deux-Sèvres; Bull, eod. nr. 4203, p. 662. 40

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Eine dritte Ordonnanz vom 6. Juni 1832 erklärt Paris in Belagerungszustand 41 , aber mit dem in den andern Ordonnanzen nicht enthaltenen Zusatz, daß an dem Kommando und an dem Dienst der Nationalgarden nichts geändert werden sollte. Zur Begründung werden die Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum, Ermordung von Nationalgardisten, Linientruppen und öffentlichen Beamten und die Notwendigkeit angegeben, die öffentliche Sicherheit durch energische Maßnahmen zu erhalten. Sämtliche Zivilbehörden blieben damals in ihren Funktionen, aber nur tatsächlich, weil die Regierung es so anordnete. In der Instruktion, die der Kriegsminster dem Kommandanten von Paris gab, hieß es, der M i litärbefehlshaber könne infolge des Belagerungszustandes alle Befugnisse der Zivilbehörden, administrative wie richterliche, ausüben, jedoch gehe die Absicht der Regierung dahin, nur für besondere Fälle, die auf den Aufruhr Bezug hätten, darunter allerdings auch Preßdelikte, die Militärgerichtsbarkeit eintreten zu lassen. In den Geschäftsgang der ordentlichen Behörden sollte nicht eingegriffen werden. Die Regierung war bestrebt, „den Ausnahmezustand auf den Aufruhr zu beschränken" und alle unbeteiligten Bürger in ihren allgemeinen Rechten und Freiheiten nicht zu beeinträchtigen. Hier ist deutlich zu erkennen, daß aus dem Mittel unbedingter militärischer Aktion, aus der kommissarischen Diktatur, das Rechtsinstitut des Belagerungszustandes werden sollte. Entsprechend dem rechtsstaatlichen Charakter dieses Bürgerkönigtums wurde versucht, die Zuständigkeit des Militärbefehlshabers nicht nur nach ihren Voraussetzungen, sondern auch nach ihrem Inhalt rechtlich zu beschränken. Es sollte nicht mehr ein bestimmtes Gebiet außerhalb der Verfassung gestellt und die unbegrenzte staatliche Macht, wenn auch nur in einem begrenzten lokalen und zeitlichen Umfang, unmittelbar ausgeübt werden. Eine kommissarische Amtsausübung hat aber die typische Wirkung, daß die gesetzlich abgegrenzte Zuständigkeit beseitigt und zusammengefaßt und dadurch wenigstens teilweise die organisierte Abgrenzung der Zuständigkeiten und der darin liegende Rechtsschutz beeinträchtigt wird. N u n hat zwar nach der neuen Staatslehre weder der Beamte dem Staat gegenüber ein Recht auf die Ausübung der in seiner Zuständigkeit gelegenen Tätigkeit noch der Staatsbürger ohne weiteres einen publizistischen Rechtsanspruch darauf, daß die gesetzlich geregelte Zuständigkeit unverändert bleibt. Die Wirkung, daß für den Bürger der Rechtsschutz beeinträchtigt wird, wenn richterliche Zuständigkeiten kommissarisch und in summarischem Verfahren ausgeübt und Rechtsmittel aufgehoben werden, enthält aber die auffälligste Beseitigung eines verfassungsmäßigen Rechts. Nach 41

13

Bull. eod. nr. 4202, p. 662.

C. Schmitt, Die

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Art. 53 und 54 der Verfassung von 1830 war, wie auch schon nach früheren Verfassungen, garantiert, daß niemand seinem „natürlichen" Richter entzogen werden dürfe und außerordentliche Gerichte oder Kommissionen unzulässig sind. Dieses verfassungsmäßig anerkannte Recht auf den natürlichen, d. h. gesetzlichen Richter ließ sich nicht durch die auch damals schon ins Feld geführte formale Attrappe beschwichtigen, daß durch den Belagerungszustand eben die Militärkommission gesetzlicher Richter werde. Der Kassationshof vertrat damals die Auffassung, daß Art. 103 des Dekretes vom 24. Dez. 1811 gegen Art. 53 und 54 der Verfassung von 1830 verstoße 42. Ein verfassungsmäßig garantiertes Recht erscheint hier als unbedingtes Hindernis der militärischen Aktion. Die Konsequenz mußte dazu führen, ihr auch andere verfassungsmäßige Rechte entgegenzuhalten. Die Nationalgarde, deren Zuständigkeit bei der Erklärung des Belagerungszustandes in Paris 1832 ausdrücklich vorhalten war, kämpfte mit besonderer Erbitterung gegen die Aufrührer von 1832, das heißt gegen das revolutionäre Proletariat. Im Juni 1848 wiederholte sich der gleiche Vorgang: der Belagerungszustand, den die Nationalversammlung vom 24. Juni 1848 erklärte, bezweckte den Schutz des Privateigentums und der bürgerlichen Verfassung. Paris wurde in Belagerungszustand gesetzt (Paris est mis en état de siège). Außerdem wurden dem General Cavaignac alle Exekutivbeiugnisse übertragen. Der Antrag hatte gelautet, ihm alle Befugnisse (tous les pouvoirs) zu übertragen 43. Durch die Beschränkung auf die Exekutivbefugnisse wurde aber nicht ein Übergang der vollziehenden Gewalt in dem Sinne begründet, daß der Militärbefehlshaber nur die Summe der sonst den Zivilbehörden zustehenden Befugnisse hatte, sondern es wurde außer Zweifel gestellt, daß der General keinerlei gesetzgeberische Vollmachten hatte. Im Hinblick auf den Belagerungszustand und die ihm übertragene Gewalt als Höchstkommandierender der militärischen Streitkräfte der Hauptstadt erließ Cavaignac eine Anzahl von Anordnungen (arrêtés): Verbot von Plakaten, die nicht von der Regierung ausgingen, Entwaffnung der Nationalgarden, die dem Aufruf zur Verteidigung der Republik nicht folgten, „kriegsrechtliche" Erschießung eines jeden, der dabei betroffen wird, wie er an einer Barrikade arbeitet (er soll behandelt werden, als wäre er mit den Waffen in der Hand festgenommen), Vernehmung der wegen des Aufstandes vom 42

Entscheidung v o m 30. J u n i 1832 i n dem Fall G e o f f r o y (G. war d u r c h ein M i l i t ä r g e r i c h t z u m T o d e verurteilt w o r d e n u n d hatte Kassationsbeschwerde erhoben). Teyssier-Desfarges, I . e . p. 507, Reinach, 1. c p. 107, d o r t auch weitere ähnliche Entscheidungen. 43

Bull. V I I I 1, nr. 506, p. 571.

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23. Juni festgenommenen Personen durch Bericht erstattende Offiziere beim Kriegsgericht der ersten militärischen Division, Strafverfolgung sämtlicher im Gebiet der Stadt Paris begangenen Verbrechen und Vergehen unter Direktion der Militärbehörde 44 . A m 28. Juni übertrug die Nationalversammlung Cavaignac die Exekutive unter dem Titel eines Präsidenten des Ministerrats, er übernahm die Regierung und ernannte die Minister. Der Belagerungszustand wurde durch Beschluß der Nationalversammlung vom 19. Oktober 1848 aufgehoben 45. Die Ereignisse des Jahres 1848 führten zu einer rechtlichen Regelung des Belagerungszustandes, die einen Endpunkt in der Entwicklung bedeutet. Die Regelung betrifft nur den politischen, den sogenannten fiktiven Belagerungszustand und behandelt zwei Fragen, nämlich einmal die Zuständigkeit und die Voraussetzung seiner Erklärung und sodann den Inhalt der Befugnisse des Militärbefehlshabers. Daß die Frage der Regelung der Voraussetzung und der Zuständigkeit (Parlament oder Regierung) nicht den Kern dessen betrifft, was nach den bisherigen Darlegungen als Diktatur bezeichnet werden muß, ist ohne weiteres klar. U m so interessanter ist der Versuch, den Inhalt der Befugnisse des Militärbefehlshabers zu bestimmen. Das Gesetz vom 9. August 1849 über den Belagerungszustand läßt für den militärischen Belagerungszustand die bestehende Regelung in Kraft. Als die eigentliche Frage der Regelung des politischen Belagerungszustandes wurde die Aufhebung verfassungsmäßiger Freiheiten angesehen. Das Gesetz geht von dem Grundsatz aus, daß alle Bürger trotz des Belagerungszustandes ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte behalten, sofern sie nicht kraft besonderer Bestimmung des Gesetzes suspendiert werden können (Art. 11). Die Regelung soll also darin bestehen, daß gewisse Rechte aufgezählt werden, die mit der Erklärung des Belagerungszustandes suspendiert sind, das heißt für konkrete Maßnahmen des Militärbefehlshabers kein rechtliches Hindernis mehr bedeuten. Die rechtliche Regelung geht jedoch über die bloße Negation noch hinaus und umschreibt auch positiv die Befugnisse des Militärbefehlshabers. Die am meisten umstrittene Frage war bisher die Militärgerichtsbarkeit gewesen, sie wird dadurch geregelt, daß die verfassungsmäßige Garantie des natürlichen Richters suspendiert werden kann, aber gleichzeitig der durch die Suspension entstandene leere Raum ausgefüllt wird, indem nähere Bestimmungen über die Zusammensetzung der Ausnahmegerichte und ihre Zuständigkeit getroffen werden. Hier verbindet sich also mit der Suspension eines Rechts eine positive Regelung des Ausnahmezustan44 45

13·

eod. nr. 508, 509, 511 (p. 571-573). B u l l . X , t. I I 2, nr. 793, p. 539.

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des. Ebenso werden weitere Befugnisse des Militärbefehlshabers aufgezählt: Haussuchungen vorzunehmen, verdächtige Personen auszuweisen, Waffen und Munition zu beschlagnahmen, gefährliche Veröffentlichungen und Versammlungen zu verbieten. Die zulässigen Eingriffe in die persönliche Freiheit, die Preßfreiheit, die Versammlungsfreiheit, und, soweit es sich um Waffen und Munition handelt, auch das Privateigentum, sind also genau bestimmt. In andere, durch die Verfassung von 1848 gewährleistete Freiheitsrechte, Privateigentum, Gewissens- und Kulturfreiheit, Freiheit der Arbeit und Steuerbewilligungsrecht, dürfte der Militärbefehlshaber also nicht eingreifen. M i t diesem Gesetz ist die Entwicklung, soweit sie grundlegende Gesichtspunkte enthält, abgeschlossen. Die gesetzgeberischen Einzelheiten der spätem Regelung brauchen hier nicht mehr erörtert zu werden. Entscheidend ist, daß an die Stelle einer Ermächtigung zu der nach Lage der Sache erforderlichen Aktion eine Reihe von umschriebenen Befugnissen tritt und nicht mehr die Verfassung als Ganzes suspendiert wird, sondern eine Anzahl bestimmter verfassungsmäßiger Freiheitsrechte und auch diese nicht schlechthin, sondern unter Angabe der zulässigen Eingriffe. Aber schon die grundlegende Einteilung zwischen dem militärischen und dem politischen Belagerungszustand beweist, daß die Regelung in Wahrheit nur darin besteht, dem Militärbefehlshaber einige weitgehende sicherheitspolizeiliche Befugnisse zu geben, die im Übergang der vollziehenden Gewalt noch nicht enthalten waren. Die unmittelbare Aktion ist dagegen nicht erfaßt. Die Unterscheidung von militärischem und politischem Belagerungszustand mit der Bezeichnung des politischen als eines fiktiven Belagerungszustandes wurde zuerst 1829 erörtert 46 . Man hat den politischen Belagerungszustand als fiktiven bezeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, daß hier nicht wie bei der militärischen Operation unbedingte Aktionsfreiheit besteht. Daraus ergab sich die Konsequenz, daß man einzelne Rechte, zuerst das Recht auf den juge naturel, dann persönliche Freiheit und Preßfreiheit herausnahm, ohne zu beachten, daß die Tätigkeit des Militärbefehlshabers von dem Widerstand und der Kampfart des Gegners abhängig ist und in Leben und Eigentum der politischen Gegner eingreift, die doch nach der heutigen Rechtsauffassung mit der Erklärung des Belagerungszustandes nicht aufhören, Staatsbürger zu sein und verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte zu haben, daß er ferner auch unbeteiligte Bürger, deren Person oder Eigentum im Bereich der militärischen Aktion liegt, in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen muß. Während nun von diesen oft furchtbaren Eingriffen nicht die Rede ist, wird die 46

Reinach, I . e . p. 105.

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Befugnis, eine Zeitung zu unterdrücken, ausführlich erörtert und diskutiert, so daß der Gesichtspunkt der eigentlichen Aktion in den Hintergrund tritt vor sicherheitspolizeilichen Anordnungen. Und während eine Umgrenzung der Befugnisse des Militärbefehlshabers versucht wurde, verstand es sich von selbst, daß die Befugnisse der verfassunggebenden Versammlung, als des Trägers eines pouvoir constituant, grenzenlos und auch an verfassungsmäßig garantierte Freiheiten nicht gebunden waren. Ein Dekret vom 27. Juni 1848 beschloß die Deportation sämtlicher wegen Teilnahme am Aufstand festgenommener Personen par mesure de sûreté générale und ordnete an, daß die Untersuchung gegen die Führer des Aufstandes auch nach Aufhebung des Belagerungszustandes vor den Kriegsgerichten fortgesetzt werden sollte 47 . Demnach gab es eine Stelle, an der eine prinzipiell grenzenlose Gewalt auftreten konnte. Der pouvoir constituant war die Grundlage dafür. Seine Ausübung wurde aber nicht dem sachtechnischen Ermessen des Militärbefehlshabers überlassen, sondern stand der konstituierenden Versammlung zu und war dem Militärbefehlshaber nur durch einen Auftrag dieser Versammlung weiterübertragen. Die Diktatur, von der man so viel sprach, war keine Diktatur des Militärbefehlshabers, sondern ein Fall der souveränen Diktatur einer konstituierenden Versammlung. Der Militärbefehlshaber war ihr kommissarischer Beauftragter. Sowohl im römischen Recht als auch in der naturrechtlichen Literatur, insbesondere bei dem unbedingten Vertreter des Rechtsstaates, bei Locke, erscheint als die wichtigste Äußerung einer grenzenlosen Befugnis immer das Recht über Leben und Tod. Wenn aber im 19. Jahrhundert von Diktatur gesprochen wird, versteht man darunter den sogenannten fiktiven Belagerungszustand, und wenn die rechtliche Erfassung der Diktatur unternommen wird, so ist von Preßfreiheit und dergleichen die Rede, aber nicht von den Zahllosen, die in einem Bürgerkrieg auf beiden Seiten ihr Leben doch effektiv und nicht nur fiktiv verlieren. Der Grund hierfür liegt in der eigenartigen Unfähigkeit, den Inhalt einer A k tionskommission von einem rechtlich geregelten Verfahren zu unterscheiden. Im Interesse einer Verdeutlichung dieser Unterscheidung darf hier einer Auseinandersetzung an anderer Stelle vorgegriffen und der in Art. 48 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 geregelte Ausnahmezustand herangezogen werden, weil er ebenso auf die vorerwähnte Entwicklung ein Licht wirft, wie er selbst ohne diese Entwicklung unverständlich ist. Der Reichspräsi47

B u l l . X 1, nr. 513 (p. 574); vgl. auch nr. 510, p. 572. Darüber, daß der p o u v o i r constituant u n d damit eine grenzenlose Befugnis d u r c h die V e r sammlung ausgeübt werden konnte: Teyssier-Desfarges, I . e . p. 513; Reinach, p. 110/111.

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dent kann nach Abs. 2 dieses Artikels, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Darin liegt die Ermächtigung zu einer rechtlich nicht begrenzten Aktionskommission, über deren Voraussetzung der Präsident (allerdings unter der im Abs. 3 geregelten und in Art. 50 gelegenen Kontrolle des Reichstags) selbst entscheidet und deren tatsächliche Durchführung durch kommissarische Beauftragte geschehen muß. Diese Bestimmung enthält also den durchaus klaren Fall einer kommissarischen Diktatur, freilich, wenn man sie als ohne weiteres geltendes Recht ansieht, ohne das in Abs. 5 vorgesehene noch zu erlassende Gesetz über den Ausnahmezustand abzuwarten, eine nach der bisherigen rechtsstaatlichen Auffassung ungewöhnliche Ermächtigung zu unbedingter Aktion. Der Reichspräsident kann danach alle erforderlichen Maßnahmen treffen, wenn sie nur, seinem Ermessen gemäß, nach Lage der Sache erforderlich sind. Er kann daher auch, wie der Reichsjustizminister Schiffer in der Nationalversammlung zugab 48 , Städte mit giftigen Gasen belegen, wenn das eben im konkreten Fall zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung die erforderliche Maßnahme ist. Eine Begrenzung besteht hier ebensowenig wie in irgendeinem andern Hinweis auf das, was zur Erreichung eines Zweckes nach Lage der Sache erforderlich ist. N u r muß beachtet werden, daß diese Maßnahmen, wenn die grenzenlose Ermächtigung nicht eine Auflösung des gesamten bestehenden Rechtszustandes und die Übertragung der Souveränität an den Reichspräsidenten bedeuten soll, immer nur Maßnahmen tatsächlicher Art sind und als solche weder Akte der Gesetzgebung noch der Rechtspflege werden können. Der Reichsjustizminister Schiffer hat daraus, daß in Art. 48 keine besondere Einschränkung angegeben ist, den Schluß gezogen, daß die Ermächtigung grenzenlos ist. Der Schluß gilt aber an sich nur für tatsächliche Maßnahmen, für Gesetzgebung und Rechtspflege nur kraft positiver Bestimmung der Verfassung, wie sie der Minister unter Berufung auf die Äußerungen der Berichterstatter Delbrück und Graf zu Dohna in der Sitzung vom 5. Juli 1919 annahm. Der Eingriff in die verfassungsmäßig garantierte Freiheitssphäre ist immer tatsächlicher Art. Soll unter die allgemeine Ermächtigung des Art. 48 auch jeder beliebige A k t der Gesetzgebung fallen, dann bedeutet der Artikel eine grenzenlose Delegation, und es ist ein Widerspruch, noch zu behaupten, er hebe die Verfassung nicht ebenso auf, wie die Auslegung, die das Königtum der Restauration dem Art. 14 der französischen Verfassung von 1814 gab, diese Verfassung aufhob. Der Unter48

107. Sitzung v o m 3. M ä r z 1920.

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schied ist nur, daß damals der König die Souveränität im Sinne einer außerordentlichen, unbegrenzten Machtvollkommenheit in Anspruch nahm, während jetzt der Reichspräsident, oder wegen der über den Reichspräsidenten ausgeübten Kontrolle das Parlament, den grenzenlosen Ausnahmezustand beherrscht. Dadurch würde der Präsident oder der Reichstag zum Träger eines pouvoir constituant gemacht und die Verfassung als ein Teil der konstituierten Ordnung ein prekäres Provisorium bleiben. Der Reichspräsident könnte derartige Befugnisse auf Grund eines Auftrages der konstituierenden Nationalversammlung in Anspruch nehmen, wenn man diese als den Träger eines pouvoir constituant und den Präsidenten als ihren Kommissar auffaßt. Eine solche Konstruktion wäre nach dem Verfassungsrecht westeuropäischer Staaten denkbar. Die Folge wäre allerdings, daß mit der Nationalversammlung auch dieser Auftrag aufhört. Der Reichstag dagegen wäre selbstverständlich als pouvoir constitué niemals in der Lage, solche grenzenlosen Kommissionen zu erteilen. Der Widerspruch, der in jener positiven Regelung des Artikels 48 liegt, wird nun dadurch offenbar, daß Artikel 48 selbst wieder, unter dem Eindruck der geschichtlichen Entwicklung dieser Materie, im Anschluß an die allgemeine Ermächtigung zur Aktion, weiter bestimmt, daß der Reichspräsident zu diesem Zwecke, d. h. zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, vorübergehend (der Zeitraum wird nicht genauer begrenzt) die in Art. 114 (persönliche Freiheit), Art. 115 (Hausrecht), Art. 117 (Brief- und Postgeheimnis), Art. 118 (Preß- und Zensurfreiheit), Art. 123 (Versammlungsfreiheit), Art. 124 (Vereinsfreiheit) und Art. 153 (Privateigentum) festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil (!) außer Kraft setzen kann. Im Gegensatz zu der in dem Satz vorher erteilten grenzenlosen Befugnis wird hier die Befugnis dadurch begrenzt, daß die Grundrechte, welche dem Eingriff freigegeben werden, aufgezählt sind. Die Aufzählung bedeutet nach den bisherigen Darlegungen keineswegs eine Delegation zu gesetzgeberischer Gewalt, sondern nur eine Ermächtigung zu tatsächlichem Vorgehen, kraft deren im konkreten Fall entgegenstehende Rechte nicht berücksichtigt zu werden brauchen. Die aufgezählten Grundrechte sind allerdings zahlreich und ihr Inhalt so allgemein, daß die Ermächtigung kaum eine Umgrenzung enthält, doch fehlt z. B. Art. 159. Aber es bleibt trotzdem eine sonderbare Regelung, erst eine den gesamten bestehenden Rechtszustand, auch z. B. Art. 159, suspendierende Ermächtigung zu erteilen und dann eine beschränkte Zahl von Grundrechten aufzuzählen, die suspendiert werden dürfen. Es ist sinnlos, den Reichspräsidenten, der Städte mit giftigen Gasen belegen, Todesstrafen androhen und durch außerordentliche Kommissionen aussprechen lassen darf, außerdem noch eigens

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darüber zu vergewissern, daß er z. B. den Behörden Zeitungsverbote freigeben kann. Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Preßfreiheit explicite erteilt. Diese Widersprüche sind in der deutschen Verfassung von 1919 nicht auffällig, weil sie auf der Kombinierung einer souveränen mit einer kommissarischen Diktatur beruhen und dadurch der ganzen Entwicklung entsprechen, in der diese Verwirrung unausgetragen enthalten ist. Für die auffällige Erscheinung, daß die Entwicklung als Ganzes davon beherrscht ist, gibt es nur eine Erklärung. Beim Übergang vom fürstlichen Absolutismus zum bürgerlichen Rechtsstaat wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß nunmehr die solidarische Einheit des Staates endgültig gesichert sei. Tumulte und Aufruhr konnten die Sicherheit stören, aber die Homogenität war nicht durch soziale Gruppierungen innerhalb des Staates ernstlich bedroht. Wenn ein einzelner oder ein Haufen einzelner die Rechtsordnung stört, so ist das eine Aktion, für welche die Gegenaktion im voraus berechnet und geregelt werden kann, so, wie die zivil- und strafprozessuale Exekution den Kreis ihrer Machtmittel genau umschreibt und darin die rechtliche Regelung ihres Verfahrens liegt. Durch eine solche Beschränkung wird der zu erreichende Zweck vielleicht gefährdet. Wenn die zugelassenen Exekutionsmittel erschöpft sind, versagt der Zwang gegenüber dem Schuldigen, wie Binding, dessen starkes Rechtsempfinden darüber am meisten staunen mußte, es ausdrückt: „der Schuldige spottet des Rechts". Aber dieser Spott bedroht nicht die Einheit des Staates und den Bestand der Rechtsordnung. Die Exekution kann zu einem rechtlichen Verfahren geregelt werden, solange der Gegner keine Macht ist, die jene Einheit selbst in Frage stellt. Darin lag ja, wenigstens für den kontinentalen rechtsstaatlichen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, der geschichtliche Wert der absoluten Monarchie, daß sie die feudalen und ständischen Gewalten vernichtet und dadurch eine Souveränität in dem modernen Sinne von staatlicher Einheit geschaffen hat. Die so zustande gekommene Einheit ist die grundlegende Voraussetzung der revolutionären Literatur des 18. Jahrhunderts. Das Bestreben, den Einzelnen zu isolieren und jede soziale Gruppe innerhalb des Staates zu beseitigen, damit der Einzelne und der Staat unmittelbar einander gegenüberstehen, ist in der Darstellung der Theorie des legalen Despotismus und des Contrat social hervorgehoben worden. Condorcet, der auch hier den Typus der Zeit am reinsten vertritt, hat in seiner Rede über die Republik 49 den Grund angegeben, warum er aufge49

D e la République o u u n R o y est-il nécessaire à la conservation de la Liberté? (12. Juli 1791, Œuvres t. V I I , p. 18). Diese Rede erklärt die Praxis der gesetzgeberischen Behandlung des Koalitionsrechts ebenso wie die u n -

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hört hat, Monarchist zu sein und Republikaner geworden ist: wir leben heute nicht mehr in einer Zeit, in der es innerhalb des Staates mächtige Gruppen und Klassen gibt, die associations puissantes sind verschwunden. Solange sie bestanden, war ein bewaffneter Despotismus (un despotisme armé) nötig, um sie niederzuhalten, jetzt dagegen steht der Einzelne, isoliert durch die allgemeine Gleichheit, der einheitlichen Gesamtheit gegenüber, und man braucht sehr wenig Machtmittel, um ihn zum Gehorsam zu zwingen: il faut bien peu de force pour forcer les individus à l'obéissance. Ist das wirklich der Fall, so kann man auch den sogenannten politischen Belagerungszustand regeln wie eine zivil- und strafprozeßrechtliche Exekution. Man kann die Mittel der Exekution umschreiben und dadurch Garantien der bürgerlichen Freiheit schaffen. Der Belagerungszustand ist dann wirklich fiktiv. Ist das aber nicht der Fall, entstehen innerhalb des Staates wiederum mächtige Assoziationen, so entfällt das ganze System. In den Jahren 1832 und 1848, die für die Entwicklung des Belagerungszustandes zu einer rechtlichen Institution das wichtigste Datum sind, war gleichzeitig schon die Frage gegeben, ob die politische Organisation des Proletariats und ihre Gegenwirkung nicht einen ganz neuen politischen Zustand und damit neue staatsrechtliche Begriffe schafft. Der Begriff der Diktatur allerdings, wie er in der Forderung der Diktatur des Proletariats liegt, ist in seiner theoretischen Besonderheit bereits vorhanden. Die von Marx und Engels übernommene Vorstellung verwertete natürlich zunächst nur das damals allgemein gebrauchte politische Schlagwort, das seit 1830 auf die verschiedensten Personen und Abstraktionen angewandt wurde, indem man von der Diktatur Lafayettes, Cavaignacs, Napoleons III. ebenso sprach wie von der Diktatur der Regierung, der Straße, der Presse, des Kapitals, der Bureaukratie. Aber eine von Babeuf und Buonarotti zu Blanqui fortgehende Tradition hat auch eine deutliche Vorstellung von 1793 auf das Jahr 1848 übermittelt, und zwar nicht nur als Summe politischer Erfahrungen und Methoden. Wie der Begriff sich im systematischen Zusammenhang mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts und im politischen Zusammenhang mit den Erfahrungen des Weltkrieges entwickelt hat, muß einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben. Es darf jedoch hier schon bemerkt werden, daß, von einer allgemeinen Staatslehre aus betrachtet, die geheure Schätzung der Preßfreiheit als der Garantie einer ungestörten öffentlichen M e i n u n g , die ja die beste K o n t r o l l e der Regierung sein sollte. H ä t t e es i n L o n d o n 1649 eine einzige Z e i t u n g gegeben, so wäre, meint Condorcet, C r o m w e l l nicht P r o t e k t o r geworden. Daß K o n t r o l l e politische M a c h t bedeutet u n d sich hier sofort wieder das Problem der Organisation dieser M a c h t erhebt, liegt C o n d o r c e t noch vollständig fern.

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Diktatur des mit dem Volk identifizierten Proletariats als Übergang zu einem ökonomischen Zustand, in welchem der Staat „abstirbt", den Begriff einer souveränen Diktatur voraussetzt, wie er der Theorie und der Praxis des Nationalkonvents zugrunde liegt. Auch für die Staatstheorie dieses Übergangs zur Staatlosigkeit gilt das, was Engels in der Ansprache an den Bund der Kommunisten im März 1850 für seine Praxis verlangte: es ist dasselbe „wie in Frankreich 1793".

Namen- und Sachregister Abel, H. 136 Anm. 11 A c h t , als Voraussetzung der E x e k u t i o n 57, 59; A c h t e r k l ä r u n g 94, 187; A c h t ipso facto 173; hors la l o i E r k l ä r u n g 173, hostis-Erklärung 3 A n m . 2, 187 Acte additionnel v o n 1815 187 f. d ' A i l l y 43 A n m . 4 Althusius 123 f., 136 A n m . 12 A l d o b r a n d i n i 26 A n m . 42 Amtshandlung, zusammengesetzte A . 172 f. Andreae, F. 108 A n m . 34 Arcana-Literatur 13, monarchistische A . 93 Aristoteles 6, 19 A n m . 35, 105 A n m .

22 Arnisaeus 27 A n m . 45, 89 A n m . 80 A r n o l d , F. 75 A n m . 53 Artikelsbriefe 66 f., 173 A n m . 13 A r u m ä u s 1 A n m . 1, 27, 89 A n m . 80 Atger, F. 23 A n m . 38, 117 Augustinus 21 A u g u s t W i l h e l m v o n Preußen 53 A n m . 19, 74 A u l a r d 145, 151 A n m . 3 Ausnahmerechte (jura dominationis) 14 f., 191 Ausnahmezustand 14 f., 145, 190; bei M o n t e s q u i e u 104; nach A r t . 48 der deutschen Reichsverfassung v o n 1919 197 f. Babeuf 201 Bailli 48 A n m . 13 B a k u n i n 144 A n m . 22, 146 A n m . 24 Balance of powers 100 f. Balia 25 A n m . 42 Bändel, F. 2 A n m . 2 Bar ère 146 f. Barnave 153 de la Bassecourt-Caan 28 A n m . 47 Bathorius v o n Polen 49 A n m . 14

Baudeau 107 Beamter u n d Kommissar, bei B o d i n , 32 f.; siehe Komissar Becker 4 A n m . 4 Belagerungszustand 122, 168 f.; Gesetz v o n 1791: 179 f, v o n 1797: 182 f., v o n 1811: 185 f.; w ä h r e n d der Restauration 189 f.; E r w ä h n u n g i n der Verfassung 187 f.; 1832: 191 f.; 1848: 195; franz. Gesetz v o n 1849: 195 f.; sog. f i k t i v e r B. 196 f. Bellarmin 98 A n m . 11 B e r g b o h m 21 A n m . 37 Berner 131 Bernheim 42 A n m . 2 Besold 1 A n m . 1, 14 A n m . 23, 17 A n m . 31, 27 A n m . 46 Biener 17 A n m . 31 B i n d i n g 203 B i r k h e i m e r , W . E. 171 A n m . 8 Blackstone 138 A n m . 16, 146 A n m . 24 Blei, F. 6 A n m . 10 Boccalini 13 B o d i n 25 f., 45 A n m . 8, 47 f., 73, 78, 105 A n m . 22, 136 f. B o l i n g b r o k e 102, 105 A n m . 22 Bonald 97 A n m . 6, 99, 143 f. A n m . 22, 182 A n m . 24 Bonifaz I X . 50 f. Borgeaud 142 Bossuet 9, 136 Botero 13 Boulenger 1 A n m . 1 B o u t m y 136 A n m . 12 Breysig 68 A n m . 46 c Brissonius 1 A n m . 1 Brutus Junius, klassische T r a d i t i o n des Tyrannenmordes 19 A n m . 35; siehe Vindiciae Buchanan 19 A n m . 34, 135 A n m . 9

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N a m e n - u n d Sachregister

Büchner 171 A n m . 9 B u o n a r o t t i , Ph. 182 A n m . 24, 201 Caesar 2, 103; Caesarismus 4, 22, 31, 104, 131 f. Capefigue 189 A n m . 34,191 A n m . 37 Capitaneus 52 f., 79 f.; K a p i t e i n - G e neraal 28 A n m . 47; Captain-General 102 A n m . 18, 129 Cardauns, L . 19 A n m . 34 Carlyle 129 A n m . 4 C a r n o t 164 C a r p z o w 89 A n m . 80 Cato 4 A n m . 4, 10, Addisons C. 102 A n m . 18 Cavaignac 194 f., 201 C e r u t t i 110 Chantelauze (franz. Justizminister 1830) 191 C h e m n i t i u s 78 A n m . 56, A n m . 57 Cicero 1, 2 A n m . 2, 27 C l a p m a r 14 f., 103 Clode, C h . M . 169 A n m . 2,170 A n m . 4, A n m . 7 C o l b e r t 97 C o m i t é de salut p u b l i c (1793) 148 f., 156 f., 160 f.; C o m i t é de sûreté générale 148 C o m t e , Α . 143 A n m . 22 C o n d o r c e t 139, 143 A n m . 22, 146, 151 A n m . 2, 200 Condottierevertrag 53, 91 Cortés, D o n o s o 135 A n m . 11, 144 A n m . 22, 192 A n m . 38 C o u t h o n 146 A n m . 24 C r o m w e l l 30, 78, 101, 104, 127 f., 135, 201 A n m . 49 Cujacius 33 Cusanus Nicolaus 124 f. Custine 146 A n m . 24, 157 A n m . 23 Daire, G . 107 A n m . 28 D a n c k e l m a n n 68 A n m . 46 D a n t o n 146 A n m . 24 Deismus u n d Staatsauffassung i m 18. Jahrhundert 100 Delamare 47 D e l b r ü c k 198 D e l o l m e 146 A n m . 24 D e m o k r a t i e i n der englischen Revol u t i o n 128 f.

Depitre, E. 109 A n m . 35, 110 A n m . 36 Descartes 105 f., A n m . 23 Despotismus, D e f i n i t i o n i m 18. Jahrhundert 103, despotisme légal 109 f. 144 A n m . 22 Diktatur, Etymologie und Wortgeschichte 4 A n m . 5, 5, 10 A n m . 18; als Begriff des römischen Staatsrechts 1, 2 A n m . 2, 122 A n m . 45; D . bei Machiavelli 7, i n der ArcanaLiteratur 15 f., bei B o d i n 24 f., 32, H o b b e s 29 f., G r o t i u s 27 f., Pufend o r f 31, M a b l y 114, Rousseau 121 f., Wallenstein als D i k t a t o r 77 f.; kommissarische Diktatur, D e f i n i t i o n bei B o d i n 25 f., souveräne D i k t a t u r , D e f i n i t i o n 143; souveräne D . des N a t i o n a l k o n v e n t s 1793: 144 f., der franz. N a t i o n a l versammlung 1848: 197, der deutschen Nationalversammlung 1919: 199; Reformations- u n d Revolut i o n s d i k t a t u r 127; D . als A u f h e b u n g der T e i l u n g der Gewalten 145 f.; D . als Herrschaftsausübung ohne intermediäre Gewalten 43, 102 f., 131, 161 f., 182; D . u n d Rationalismus 9 f., 109 f., 144 f. A n m . 22; D . u n d Polizeistaat 132; M o n archie als erbliche D . 110; D . des Proletariats 144 A n m . 22, 201 f. D i l t h e y , W . 9 A n m . 16 D i o n y s i u s v o n Halicarnaß 1 D o h n a , Graf zu D . 198 Dolléans, Ed. 110 A n m . 38 D u b o i s , Α . 107 A n m . 30, 108 A n m . 31 D u d i k 67 A n m . 46, 77 A n m . 55 f. D u g u i t 137 A n m . 13, 148 D u m o u r i e z 149, 157 A n m . 23, 159 A n m . 33, 173 A n m . 12 D u n s Scotus 10 A n m . 18 D u p o n t de N e m o u r s 107, 150 A n m .

2 D u r a n d i Spec. jur. 32 A n m . 58, 44 f. Eichmann, Ed. 60 A n m . 35 Elkan, A l b . 19 A n m . 34 Ellinger 6 A n m . 10 Endres, F r i t z 78 A n m . 55

N a m e n - u n d Sachregister Engels 145 A n m . 22, 202 E p i k i e 40, 45 A n m . 7, 122 Esmein 48 A n m . 13, 95 A n m . 1, 129 A n m . 6, 135 A n m . 9 État de siège 179 f.; État de guerre 181 f.; État de troubles civils 183 f. Eugen I V . , Papst 53 E x e k u t i o n 45 f., 57 f., 174 Felon 173 A n m . 13, 187 Fénelon 98 Ferdinand I. 60 A n m . 36; Ferd. I I . 17, 63, 93 (princeps i n compendio); Ferd. I I I . 88, 93 Ferrari, G. 13 A n m . 19 Fichte 143 A n m . 22 Finke, H . 56 A n m . 24 F l a m m e r m o n t 99 A n m . 12 Fleiner 106 A n m . 24, 174 A n m . 16 Förster 58 A n m . 29 Fouché 159 A n m . 34 Franck, Seb. 5 Frantz, Konst. 101 A n m . 17 Freiheitsrechte u n d Belagerungszustand 196 f. Friedrich I I . , Kaiser 54; Friedrich I I . v o n Preußen 114 A n m . 43 F u n c k - B r e n t a n o 99 A n m . 13 Gardiner 128 A n m . 2, 129 A n m . 6, 130 f., 135 A n m . 9 Garner, T . W . 170 A n m . 5, 6 Gautherot 146 A n m . 24 Gentiiis 7 A n m . 11, 16 A n m . 29, 18 A n m . 32, 27 G e o f f r o y (Fall G . 1832) 194 Gerson 43 Gesetz, genereller Charakter 105 f., 118 f., 122 f., 147 A n m . 25, 150 A n m . 2. Geßler 174 A n m . 16 Gierke 24 A n m . 41, 98 A n m . 11, 114, 124 G i n d l e y , A . 77 A n m . 55 u. f. G i r a u l t , A . 95 A n m . 2 Gneist 48 A n m . 13, 128 A n m . 1 Goetz, W . 78 A n m . 55 G o o c h 129 A n m . 3 Görres 144 A n m . 22 Gracchus, T . 3 A n m . 2 G r o t i u s 10 A n m . 18, 27 f.

Grumbachische H ä n d e l 60 f., A n m . 51 G u i c c i a r d i n i 13, 26 A n m . 42

73

H a l l e r , J. 42 A n m . 1 H a l l w i c h 71 A n m . 47, 49, 77 A n m . 55 u. f. H a m i l t o n 146 A n m . 24, 101 A n m . 15 H a n o t a u x 34 A n m . 59, 48 A n m . 13, 95 A n m . 1 Hasbach 101 A n m . 15 Hatscheck 40 A n m . 64, 48 A n m . 13, 129 A n m . 6 H a u c k , A . 42 A n m . 2, 44 Haverfield 3 A n m . 3 Hegel 143 f. A n m . 22 H e i b i g 77 A n m . 55 H e y e r 8 A n m . 13 H i n t z e , O . 34 A n m . 59, 48 A n m . 13, 74 H i p p o l i t h u s a Lapide 17 A n m . 30, 94 A n m . 87 H o b b e s 9, 10 A n m . 18, 21 f., 29 f., 116 f. H o b o h m 8 A n m . 14 H o l b a c h 108 H o l t z m a n n , R. 48 A n m . 13, 95 A n m . 1 H o r n , J. F. 31 A n m . 54 H o t m a n 19 A n m . 34 H ü b n e r , R. 148 A n m . 28 H u r t e r 77 A n m . 55 I n n o z e n z I I I . 42 f. Intendanten des Königs v o n F r a n k reich 95 f. Intermediäre Gewalten 43, 97 f. Isaaksohn 68 A n m . 46 Jähns 8 A n m . 14 Jakob I. v o n England 98 A n m . 11 Jaucourt de 113 A n m . 43 Jay 101 A n m . 15, 146 A n m . 24 Jellinek, G . 101 A n m . 15, 128 A n m . 2, 129 A n m . 6, 138 f., 142 A n m . 21 Jesuitenstaat 110, 112 Jocher, W . 63 A n m . 40 Judex delegatus 45 K a n t 10 A n m . 18, 143 A n m . 22 K a r l V . 17, 56 A n m . 25

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N a m e n - u n d Sachregister

K a r l X . (1830) 191 Kaufmann, E r i c h 106 A n m . 23, A n m . 25, 143 A n m . 22 K a u t s k y 148 A n m . 27 Keckermann 1 A n m . 1 Kellermann 157 A n m . 23 Kelsen 145 A n m . 22 Keßler 99 A n m . 11 K i r c h n e r 131 A n m . 7 K l e i n s c h r o d 171 A n m . 10 K l o p p , O . 78 A n m . 55 K o m m a n d o , militärisches K . u n d Hoheitsrecht 52 f., 65 f. Kommissar, D e f i n i t i o n bei B o d i n 25, 31 f.; D i e n s t - , Geschäfts- u. A k tionskommissare 38; K . i n der monarchomachischen Literatur 20; päpstliche K . 42 f.; i m K i r c h e n staat 50 f.; kaiserliche K . i m Prozeßverfahren des 16. u n d 17. Jahrhunderts 58 f.; K . beim Heer der Oranier 28 A n m . 47; Exekutionskommissar 57 f.; Heereskommissar i n italienischen Staaten 53 f.; K . neben dem C o n d o t t i e r e 53 f.; K . beim Heer Wallensteins 67 A n m . 46 a; K . beim H e e r T i l l y s 67 A n m . 46 b, 70 f.; K . beim brandenburgisch-preußischen Heer 68 A n m . 46 c, 73; K . beim Reichsheer 70 A n m . 46 d; R e f o r m a t i o n s k o m m i s sar 74 f.; K . bei der Volksvertret u n g 73 A n m . 51, 136; K . i n den französischen K o l o n i e n 95, 151, 152 A n m . 4, 154; K . i n den eroberten Gebieten 151; Kommissare C r o m w e l l s 130 f.; K . der verfassunggebenden Versammlung 1789, 151 -154; K . der Legislative (1792) 154-156; K . des N a t i o n a l k o n v e n t s 155 f.; kaiserliche K . 1814: 154/ 155, 1815: 166 f.; königliche K . 1814 u n d 1815: 166/167; der M i l i tärbefehlshaber als K . w ä h r e n d des Ausnahmezustandes 187, 196 f.; kommissarischer Charakter aller staatlichen Organtätigkeit bei Rousseau 123 f., bei Sieyès 141; Ubergang v o m A k t i o n s zum Dienstkommissar 48,73,164; k o m missarischer A u f t r a g u n d k o m m i s -

sarische Ermächtigung 38, 53 f., 82 f., 159 K o n z i l i a r e Theorie 43, 98 Krabbe, O . 77 A n m . 55 K r o p o t k i n 144 A n m . 22, 146 A n m . 24, 182 A n m . 24 Lafayette 201 L a l l y - T o l l e n d a l 146 A n m . 24 Landauer, G. 182 A n m . 24 Langlois 48 A n m . 13 Languet, H . 13 A n m . 21, 49 A n m . 14, 61 A n m . 36 Lask, E. 106 A n m . 23, 143 A n m . 22 L a t o u r - M a u b o u r g 153 Lavisse 95 A n m . 1 Legaten des Papstes 46 f. L e i b n i z 106 A n m . 23 L e n i n 145 A n m . 22 Lentulus, C y r . 7 A n m . 11, 18 A n m . 32 L e u t w e i n , P. 3 A n m . 3 Levasseur 97 A n m . 5 Levellers 128 Lex regia 22, 110 Liebenam 4 A n m . 4 L i l b u r n e 129 Limnaeus 10 A n m . 18, 9 4 / 9 5 L i n c o l n 133, 170 Lipsius 1 A n m . 1, 14, 15 A n m . 25 L i s i o 8 A n m . 13, 19 A n m . 35 L i v i u s 5 A n m . 7, 6, 16 A n m . 28, 27 L o c k e 10 A n m . 18, 24, 40 f., 115 f.,

118, 122

L o i martiale v o n 1789: 177 f., 182 Lomas 129 A n m . 4 L o n d o r p ( L u n d o r p ) 57 A n m . 26, 61 A n m . 37 u. 38, 73 A n m . 51, 74 A n m . 53, 75 A n m . 54, 76 L ö t z , W . 49 A n m . 13 L ö w e , V . 67 A n m . 46 L u d o v i c i , J. F. 171 A n m . 9,173 A n m . 13 L u d w i g X I . 48; X I I I . u. X I V 104 L ü n i g 59 A n m . 33, 66 A n m . 44, 67 A n m . 46 b, 70 A n m . 46 d, 71 A n m . 48, 72 A n m . 50, 171 A n m . 9, 174 Luther 9 M a b l y 110 f. Macaulay 102 A n m . 18

N a m e n - u n d Sachregister Machiavelli 5 ff., 18 A n m . 32, 35, 105 A n m . 22 M a d i s o n 146 A n m . 24, 101 A n m . 15 de Maistre 9 Malatesta de Malatestis 51 M a l b o r o u g h 102 Malebranche 105 A n m . 22,106 A n m . 23 M a l o u e t 146 A n m . 24 Marat 146 A n m . 24, 148 M a r t i a l law 169 f. M a r x 112 A n m . 42, 145 A n m . 22, 201 Masilius v o n Padua 43, 124 M a x i m i l i a n I., Kaiser 66 ( A r t i k e l s brief); M . I I . (Reuterbestallung) 66 A n m . 45, 67 A n m . 46 a; M . , H e r zog v o n Bayern 58, 62 f., 88, 89 M a y e r , O t t o 106 A n m . 24 Mediäre Gewalten 43, 97 f. M e d i c i , L o r e n z i n o (Lorenzaccio) 19 A n m . 35 M e h r i n g 15 A n m . 25 Meisner, H . O . 99 A n m . 11, 190 A n m . 36 Menger, A . 14 A n m . 24 Menschenrechte 139 A n m . 18 Menzel, A . 6 A n m . 10, 7 A n m . 11, 8 A n m . 12 Le Mercier de la Rivière 109 f., I l l M e r l i n 184 A n m . 27, 188 A n m . 31 M e y e r , Ed. 4 A n m . 5 M e y e r - C o u r b i è r e 69 A n m . 46 c Michael 77 A n m . 55 f., 129 A n m . 5, 6, 135 A n m . 10 M i l t o n 40 A n m . 62, 135 A n m . 9 Mirabeau d. Ä . 108 A n m . 30; d . J . 110, 177 A n m . 18, 182 A n m . 25 M o h l 8 A n m . 13 M o m m s e n 3 A n m . 3, 4 A n m . 3, 4 Anm. 4 M o n a r c h i e u n d Ständekampf 110, 200; M . u n d intermediäre G e w a l ten 99; monarchisches P r i n z i p 99, 190 f. M o n a r c h o m a c h e n 19 f., 98 A n m . 11, 126 f., 135 A n m . 2, 136 A n m . 12 M o n t e s q u i e u 7 A n m . 11,10 A n m . 18, 99 f., 108 A n m . 34 M o r e l l y 110 f. Moser, J. J. 90 A n m . 80

M o u n i e r 146 A n m . 24 M u l t z 18 A n m . 31, 19 A n m . 33 N a p o l e o n 1.131 f., 143/144 A n m . 22, 165 f., 185 f. N a t i o n a l k o n v e n t 1793: 144 f. N a t u r r e c h t ; zwei A r t e n des N a t u r rechts 21 f., 116 f.; N a t u r z u s t a n d der N a t i o n 140; der Mensch v o n N a t u r böse ( A n t h r o p o l o g i e des Absolutismus) 9, 107, 145 A n m . 22; v o n N a t u r gut ( A n t h r o p o l o g i e d. R e v o l u t i o n ) 110 f., 120 f. N e u r a t h 8 A n m . 15 N e y , Jul. 75 A n m . 53 Nissen, A d . 3 A n m . 3 N o s k e 169 A n m . 3 N o t w e h r 133, 175 f. O n c k e n , G. 5 A n m . 8 O p e l , H . 78 A n m . 56 Oranien, W i l h e l m v o n O . 28 A n m . 47; M o r i t z v o n O . 28 A n m . 47, 78 O r t l o f f , Fr. 60 A n m . 36 Oslander, J. A . 28 A n m . 46, 98 A n m . 11 Paine (Payne), T h . I l l Papst als Kommissar C h r i s t i 46 f. Parlamente, französische P. als corps intermédiaire 107; das Lange Parlament 129 f. Paruta 13 Pereis 137 A n m . 13 Pertile 50 A n m . 15 Péthion 153 Petit, E. 95 A n m . 2 Petit-Dutaillis 48 A n m . 13 Platen (Heereskommissar) 69 A n m . 46 Piaton 9 Plaumann 3 A n m . 2 Plenitudo potestatis 16, 42 f., 94 A n m . 87, 98, 102, 124, 130, 190 f., 197 Plutarch 1, 4 A n m . 4 Poetsch, J. 57 A n m . 27 Polizeistaat 132 P o l l o c k , F. 5 A n m . 9 Polybius 4 A n m . 4, 6

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N a m e n - u n d Sachregister

P o u v o i r constituant des Volkes 134 f., des K ö n i g s 191 f. Prevotalgerichtsbarkeit 48 A n m . 13, 96, 168, 171 Privatrecht u n d öffentliches Recht 17 ff., 124 f. P r o k u r a t o r 56 P r o t e k t o r s. C r o m w e l l Protestantismus u. D e m o k r a t i e 127 f. P r o w e d i t o r i 49 Pufendorf 11 A n m . 18, 23 f., 31, 78, 115, 124 Puritanisches C h r i s t e n t u m 116, 128 Quesnay 107 Rageau-Lauriére 48 A n m . 13 Ranke 77 A n m . 55 f. Rationalismus u n d D i k t a t u r 9 ff., 108 f., 139 f. Redlich, O s w . 93 A n m . 86 Redslob, R. 146 A n m . 24 Rehm, G. 27 A n m . 44, 101 A n m . 15, 124 Reinach, T h . 188 A n m . 31, 194 A n m . 42 R e i n k i n g k 47 A n m . 12, 59, 89 A n m . 80, 94 A n m . 87 Renouvier 143 A n m . 22 Repräsentation, der Kommissar als persönlicher Repräsentant 42 ff., 73; R. des p o u v o i r constituant 140 f. Restauration 189 f. R e v o l u t i o n , puritanische R. 128 f.; v o n 1789: 144 f., 168 f.; v o n 1830: 192; v o n 1848: 194 f.; Revolutionst r i b u n a l 37 A n m . 61, 161 ff., 172 R i o t - A c t 176 f. Ritter, M . 9 A n m . 16, 77 A n m . 55 f. Robespierre 113,146 A n m . 24,147 f., 178 A n m . 19, 182 A n m . 25 R o m a n i n 50 A n m . 15 Rosenberg, A . 2 A n m . 2 Rotschild, W . 12$ A n m . 2 Rousseau 7 A n m . 11, 10 A n m . 17 u. 18, 24, 98 A n m . 9, 105, 114 f. Saint-Simon 98 Sarpi 13 Schaffgotsch 88 A n m . 77

Schebeck 77 A n m . 55 f. Scheffner 5 A n m . 7 Schiffer (Reichsjustizminister) 198 Schmoller 68 A n m . 46 c Scholz, R. 43 A n m . 3 Schwab, J. B. 43 A n m . 4 Schwengler 4 A n m . 4 Scioppius 13 Seeck, O . 4 A n m . 3 Senac de M e i l h a n 107 Seneca 10 Seydel 36 A n m . 61, 136 A n m . 13 Sidney, Α . 39 Sieyès 137 f., 176 Simonde de Sismondi 25 A n m . 42 Soltau, W . 2 A n m . 2, 4 A n m . 3 Sorel, G. 143/144 A n m . 22, 146 A n m . 24 Souveränität, D e f i n i t i o n bei B o d i n 27; i n der Arcana-Literatur 16; S. u n d Lehnsstaat 42; mittelbare u n d unmittelbare A u s ü b u n g 43 f., 99 f., 138, 191 Spattenbach, L . v. 31 A n m . 54 Spinoza 7 A n m . 11, 117, 139 Staatsraison 13 f. Stähelin 129 A n m . 4 Stahl, F. J. 9, 101 A n m . 16 Stamler, J. H . , 18 A n m . 31, 94 A n m . 87 Standrecht 169, 171 f. Steinlein, A . 175 A n m . 17 Suarez 10 A n m . 18 Sueton 1 Sulla 2 f., 3 A n m . 3,103,112 A n m . 42 Suspension der Verfassung 184 f., 198 f. Tacitus 1, 14 Tallien 163 A n m . 40 Target 177 A n m . 18 Tartallia (Condottiere) 53 A n m . 19 T e i l u n g der Gewalten 100 f., 111, 145 f. Teyssier-Desfarges 184 A n m . 27 u.

28 Theiner 50 f. Thomas, A q . 10 A n m . 17 u. 18, 45 Anm. 7 Thomasius 8 A n m . 1, 32, 98 A n m . 11

N a m e n - u n d Sachregister T i l l y 67 A n m . 46 b, 78 f. Tocqueville 96 A n m . 4, 108 A n m . 34 T o m m a s i n i 8 A n m . 13 Tönnies 30 ff. Troeltsch 9 A n m . 16 T r o t z k i 145 A n m . 22 v. T u h r 37 A n m . 61 T u r g o t 99, 108, 143 A n m . 22 T y r a n n i n der monarchomachischen Lehre 19 f. U n r u h e z u s t a n d 183 V e u i l l o t , L . 136 A n m . 11 Vian, L . 100 A n m . 14 V i c o 105 A n m . 22 de Viel-Castel 189 A n m . 34 Vindiciae 19 f., 135 A n m . 10 V i o l l e t , P. 48 A n m . 13 Voltaire 100, 107 f., 108 A n m . 34 W a h l , A d . 98 A n m . 8 W a h l k a p i t u l a t i o n v o n 1619: 63; v o n 1636: 93

14

C. Schmitt, Die

Diktatur

209

Wallenstein 58, 66, 67 A n m . 46, 71, 174; W . als D i k t a t o r 77 f.; sog. A n stellungsvertrag b e i m 2. Generalat 85 f. Wapler, R. 77 A n m . 55 f. W a r d , A . W . 102 A n m . 18 v. Wiese, H . 75 A n m . 53 W i l f l i n g 173 A n m . 14 Willems 3/4 A n m . 3 W i n c k l e r , L . 171 A n m . 9 W i n t h r o p , W . 171 A n m . 8 W o l f - B r e y e r 62 A n m . 39, 65 A n m . 43, 77 A n m . 55 W o l f f , C h r . 32, 132 A n m . 8 Wolters, Fr. 13 A n m . 20, 96 A n m . 3 W o l z e n d o r f , 19 A n m . 35, 24 A n m . 41, 132 A n m . 8, 139 A n m . 18, 190 A n m . 36 Zasius 1 A n m . 1 Zentralismus 131 Ziegler, C h r . 94 A n m . 87 Ziegler, H . 75 A n m . 53 Z w e i g , E. 128 A n m . 2, 129 A n m . 6, 139, 147 A n m . 25

A N H A N G

Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung

Inhaltsübersicht I Die heute übliche Auslegung des Art. 48 Abs. 2

211

Die praktische Durchführung des Ausnahmezustandes

212

Unzulänglichkeiten der üblichen Auslegung gegenüber der Praxis des Ausnahmezustandes

214

Regierungserklärungen zu Art. 48 Abs. 2

217

Notwendigkeit einer gründlichen Untersuchung des Art. 48 Abs. 2

218

Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2

220

Bedeutung des Wortes: Außer Kraft setzen

222

Entstehungsgeschichte des Art. 48 Abs. 2

225

II Die Regelung des Art. 48 Abs. 2 als ein Provisorium

229

Unterscheidung vom Staatsnotrecht

230

Unterscheidung von der Stellung des souveränen Fürsten

232

Unterscheidung von der souveränen Diktatur einer Nationalversammlung

233

Die typische rechtsstaatliche Regelung des Ausnahmezustandes

235

Die Eigenart der Regelung des Art. 48 Abs. 2

236

Folgen einer Hinauszögerung der in Abs. 5 vorgesehenen, näheren Regelung

237

III Allgemeine Grenzen der Befugnis aus Art. 48 Abs. 2

238

a) Die Verfassung als Voraussetzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung b) Das in Art. 48 enthaltene unantastbare organisatorische Minimum c) Beschränkung auf Maßnahmen und Begriff der Maßnahme

239 241 243

Prinzipieller Unterschied von normalen Rechtserscheinungen und solchen des Ausnahmezustands

248

Grenzen der Staatsrechtslehre gegenüber Art. 48 Abs. 2

249

IV Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 RV

251

Das allgemeine Schema der rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes

252

Geltendes Verfassungsrecht des Art. 48 und „nähere Regelung"

254

I Die heute übliche Auslegung des Art. 48 Abs. 2 Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung schafft nach der heute nicht mehr bestreitbaren allgemeinen Auffassung geltendes Recht. Die in ihm enthaltenen Befugnisse des Reichspräsidenten sind nicht abhängig von dem nach Abs. 5 zu erlassenden Reichsgesetz. Daher kann der Reichspräsident nach Abs. 2 alle zur Wiederherstellung der erheblich gefährdeten öffentlichen Sicherheit und Ordnung für nötig erachteten Maßnahmen treffen. Die heute übliche Auslegung des Abs. 2 versucht aber, die Befugnisse des Reichspräsidenten dadurch einzuschränken, daß sie die Reichsverfassung für „unantastbar" erklärt, soweit nicht Art. 48 Abs. 2 in seinem Satz 2 selbst einige Bestimmungen aufzählt, die außer Kraft gesetzt werden können 1 . Der Wortlaut des Satz 2: „Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen", scheint einen Beweis dafür zu liefern, daß in andere Artikel nicht eingegriffen werden kann. Denn jede Aufzählung wirkt mit logischer Notwendigkeit einschränkend, indem sie das nicht Aufgezählte ausschließt. Enumeratio ergo limitatio ist eine alte und richtige Schlußfolgerung. Die Frage wäre allerdings, nach welcher Richtung die Einschränkung erfolgt und ob die Aufzählung im zweiten wirklich zur Einschränkung des ersten Satzes gemeint ist. Diese Frage hatte die übliche Auslegung sich überhaupt nicht gestellt. Außer auf jenem plausiblen Argument beruht ihr theoretischer Erfolg aber noch auf einem anderen Grunde. Man kann glauben, in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 den Gesetzestext gefunden zu haben, 1

A m deutlichsten Richard Grau, D i e D i k t a t u r g e w a l t des Reichspräsidenten u n d der Landesregierungen auf G r u n d des A r t i k e l s 48 der Reichsverfassung, Berlin 1922, § 7 „ D i e Unantastbarkeit der Reichsverfassung", S. 50 f. „ D i e H i n z u f ü g u n g des Satzes (2) k a n n n u r bedeuten, daß dem Reichspräsidenten etwas erlaubt werden soll, was i n der Befugnis z u m Treffen der nötigen Maßnahmen n o c h nicht enthalten ist. Sie bedeutet also (!) eine Ausnahme v o n einer Beschränkung." Ferner Strupp, Das Ausnahmerecht der Länder nach A r t . 48 Abs. 4 der Reichsverfassung, A r c h . d. öff. Rechts, N . F. Bd. 5 (1923), S. 201; Preuß, Z . f. P o l i t i k , X I I I , S. 105; Maercker, V o m Kaiserheer zur Reichswehr, L e i p z i g 1921, S. 367; Staff, Das Ermächtigungsgesetz u n d A r t i k e l 48, D e r Tag, 27. O k t o b e r 1923 ( U n ter H i n w e i s auf Grau) usw.

Anhang

214

der einfach und klar den Reichspräsidenten in die Schranken der Verfassung weist. So hat die übliche Auffassung neben ihrer scheinbaren logischen Einfachheit auch noch einen weiteren Vorteil, weil sie einem rechtsstaatlichen Bedürfnis entspricht, das zweifellos dringend eine Abgrenzung der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten verlangt. Die praktische Durchführung des Ausnahmezustandes Die praktische Handhabung des Art. 48 Abs. 2 durch den Reichspräsidenten und die Reichsregierung 2 greift aber in Wirklichkeit auch in andere als die in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 aufgezählten Verfassungsartikel ein und hält sich keineswegs an die von der üblichen Auslegung vorgeschriebene Grenze. Sie kann sich auch gar nicht daran halten. Denn ein wirksamer Ausnahmezustand würde unmöglich, wenn außer den sieben Grundrechten des Satz 2 jeder andere Artikel der Verfassung dem Vorgehen des Reichspräsidenten eine unüberwindliche Schranke entgegensetzte. Zwar ist diese einfache Wahrheit bei manchen nicht aufgezählten Verfassungsartikeln, in welche trotzdem auf Grund von Art. 48 unter allgemeiner Billigung eingegriffen wird, durch höchst mannigfache Erwägungen verschleiert. Die erste Maßnahme z. B., welche im Hinblick auf jene Aufzählung besonders auffallen mußte, betraf die Einführung von außerordentlichen Gerichten; sie erging, obwohl Art. 105 der Verfassung („Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden") nicht zu den Grundrechten gehört, die außer Kraft gesetzt werden können. Das ist um so merkwürdiger, als sonst die typische Regelung des Kriegs- oder Belagerungszustandes, z. B. das preußische Gesetz vom 4. Juni 1851, die grundrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters für suspendierbar erklärt, um dadurch die Kriegsgerichte des Belagerungszustandes zu ermöglichen. Geschichtlich steht die Suspension gerade dieses Grundrechtes an dem entscheidenden Punkt der Entwicklung des Gedankens, Grundrechte außer Kraft zu setzen3. Das Reichsgericht hält die außerordentlichen Gerichte nach Art. 48 für zulässig und beruft sich darauf, daß Art. 105 Satz 3 die Bestimmungen über Kriegs- und Standgerichte, womit nach seiner Auffassung 2

I c h lasse die Frage, w i e sich politisch der Einfluß auf die Verhängung u n d die D u r c h f ü h r u n g des Ausnahmezustandes zwischen Reichspräsident u n d Reichsregierung verteilt, absichtlich beiseite. V g l . darüber die Bonner Dissertation v o n Joseph Engels, D i e Zuständigkeit des Reichspräsidenten z u r Verhängung u n d A u f h e b u n g des Ausnahmezustandes, 1923. 3

V g l . oben S. 194.

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215

alle außerordentlichen Strafgerichte des Ausnahmezustandes gemeint sind, ausdrücklich aufrechthalte, so daß ein Eingriff in Art. 105 überhaupt nicht vorliege. Mir scheint diese Begründung nicht richtig. Die Angelegenheit ist aber sehr unklar 4 . Hier kommt es darauf an, ein Beispiel dafür zu zeigen, wie die eigentliche Frage, ob der Reichspräsident auch in andere als die aufgezählten sieben Verfassungsartikel eingreifen darf, umgangen wird. Im Falle des Art. 105, wie auch in andern Fällen, z. B. bei Anordnungen, welche in die Freiheit von Handel und Gewerbe eingreifen, etwa die Schließung von Geschäften und Betrieben zum Gegenstand haben, also den Art. 151 betreffen, half man sich ferner damit, daß man die Anordnungen des Reichspräsidenten, weil sie den Charakter eines „Gesetzes" hätten, als eine reichsgesetzliche Regelung bezeichnete, die neben andern reichsgesetzlichen Bestimmungen den Grundrechten erst ihren positiven Inhalt gebe5. Aber warum gilt das nicht ebensogut für jene sieben suspendierbaren Grundrechte des Art. 48 Abs. 2 Satz 2, in denen doch auch die Gewährleistung im allgemeinen ebenfalls nur nach Maßgabe der Gesetze oder der Reichsgesetze ausgesprochen ist 6 ? Für den nicht aufgezählten Art. 151 entsteht infolge einer Anordnung des Reichspräsidenten im Ergebnis die gleiche Rechtslage wie z. B. für den aufgezählten Art. 115: beiden gibt der Reichspräsident auf Grund von Art. 48 ihren maßgebenden Inhalt, so daß sie für sein Vorgehen keine Schranken mehr enthalten. Warum erweist also der Satz 2 gerade jenen sieben Grundrechten die Ehre einer Aufzählung, und zwar 4 RGStr. 56 S. 151. M a n vergleiche z u r Frage der Auslegung des A r t . 105 unter dem Gesichtspunkt, ob die außerordentlichen Gerichte des Ausnahmezustandes zulässig sind: Graf z u D o h n a i n der 47. Sitzung der Nationalversammlung; A n s c h ü t z , K o m m e n t a r z u A r t . 48, A n m . 4; Grau, a. a. O . S. 129; H a r t m a n n , Pr. V e r w . Bl. 1922, S. 588; Pencker, Pr. V e r w . B l . 1921, S. 79; Felix Halle, Deutsche Sondergerichtsbarkeit 1918-1921, B e r l i n 1922, S. 37 f.; Ed. Kern, Ausnahmegerichte, T ü b i n g e n 1924. 5 Vgl. U r t e i l des Hanseatischen Oberlandesgerichts v o m 7. Sept. 1923 (R. I I 157/23) zu der V e r o r d n u n g des Reichspräsidenten v o m 12. O k t . 1922. 6 A r t . 114: eine Beeinträchtigung oder E n t z i e h u n g der persönlichen Freiheit ist n u r auf Grund von Gesetzen zulässig (die H i n z u f ü g u n g des Abs. 2 ist praktisch daneben v o n geringer Bedeutung); A r t . 115: D i e W o h nung jedes Deutschen ist für i h n eine Freistätte u n d unverletzlich, A u s nahmen sind n u r auf Grund von Gesetzen zulässig; A r t . 117: Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- u n d Fernsprechgeheimnis sind u n verletzlich, Ausnahmen k ö n n e n n u r durch Reichsgesetz zugelassen werden; A r t . 118: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine M e i n u n g frei zu äußern, usw. R i c h t i g v. Lilienthal, DStr. Ztg. 1921, Sp. 274 (zu der V e r o r d n u n g v o m 26. Sept. 1921): D i e Suspension w a r weder n o t w e n d i g n o c h nützlich.

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einer Aufzählung mit einer so folgenreichen limitierenden Wirkung? Unzulänglichkeit der üblichen Auslegung gegenüber der Praxis des Ausnahmezustandes Doch liegt die eigentliche Schwierigkeit der üblichen Auslegung noch tiefer. Woraus ergibt sich, daß der Reichspräsident nach Art. 48 Abs. 2 Anordnungen mit Gesetzeskraft erlassen kann? Man beruft sich hier meistens, und zwar mit Recht, auf bestimmte Äußerungen, die in der verfassunggebenden Nationalversammlung fielen, also auf die Entstehungsgeschichte. Die Äußerungen betreffen den Satz 1 und erwähnen Satz 2 nicht; darüber ist unten Näheres zu sagen. Was aber auch immer die Entstehungsgeschichte erkennen läßt, man müßte doch annehmen, daß, wenn außer jenen sieben Grundrechten kein Artikel der Verfassung angetastet werden kann, der Reichspräsident zu gesetzlichen Anordnungen überhaupt nicht befugt wäre. Denn die Verfassung regelt in Art. 68 ff. den Weg der Gesetzgebung, und es bedeutet einen wesentlichen Eingriff in diese Bestimmungen der Verfassung und tastet sie an, wenn neben dem einzigen Gesetzgeber, den die Verfassung nennt, noch ein zweiter, ihm gleichstehender, mit ihm auf der Grundlage der Gleichberechtigung konkurrierender, anderer Gesetzgeber treten soll. Man darf hier nicht erwidern, es handle sich um Rechtsverordnungen, für welche der formelle Weg der Gesetzgebung nicht gelte; denn Rechtsverordnungen bedürfen einer durch formelles Gesetz erteilten Ermächtigung. Wollte man nun replizieren, daß die Verfassung selbst in ihrem Art. 48 Abs. 2 die erforderliche Ermächtigung erteile, so wäre das ein erstaunlicher Zirkelschluß: es ist doch gerade die Frage, wie weit .die Ermächtigung des Art. 48 Abs. 2 reicht, und die übliche Auffassung schränkt den Satz 1, der die Ermächtigung erteilt, durch die Aufzählung des Satz 2 ein und erlaubt dem Reichspräsidenten keine Abweichung von irgendeiner nicht aufgezählten Verfassungsbestimmung. Hier zeigt sich schon, wie sehr die übliche Auslegung des Art. 48 vor jeder praktischen Durchführung des Ausnahmezustandes versagt. Die Ausnahmen, welche der Ausnahmezustand mit sich bringt, sollen nach ihr niemals Ausnahmen von Verfassungsbestimmungen sein dürfen, es sei denn, daß es sich um jene sieben Grundrechte handelt. A n die Eingriffe in den organisatorischen Aufbau der Verfassung, wie sie jeder Ausnahmezustand mit sich bringt, wird anscheinend überhaupt nicht gedacht. Solche Eingriffe treten aber notwendig ein, sobald von einem typischen Mittel des Ausnahmezustandes, dem Ubergang der vollziehenden Gewalt, Ge-

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brauch gemacht wird. Von Anfang an hat die Reichsregierung den Ubergang von Exekutivbefugnissen, teils mit Außerkraftsetzung von Verfassungsartikeln (zuerst Vo. vom 11. Januar 1920 und 13. Januar 1920), teils ohne sie (Vo. vom 22. März 1920), als Mittel des Ausnahmezustandes benutzt. Die im Übergang der vollziehenden Gewalt liegende Machtkonzentration, die Vereinigung von Zuständigkeiten in der Hand des Reichspräsidenten oder seiner zivilen oder militärischen Kommissare, verändert alle diejenigen Verfassungsbestimmungen, welche die Zuständigkeiten regeln, und durchbricht sogar das ganze, einer bundesstaatlichen Verfassung wesentliche System der Verteilung der Zuständigkeiten. Man kann vernünftigerweise nicht bestreiten, daß es in die Verfassung eingreift, wenn in einem Reich, das verfassungsmäßig Bundesstaat ist, die Landesbehörden einem Zivilkommissar des Reichs oder beim militärischen Ausnahmezustand einem Reichswehrkommandeur als dem Militärbefehlshaber unterstellt werden. Es entspricht doch nicht der Reichsverfassung, daß der Reichspräsident Chef der Landesbehörden ist oder daß Thüringen von Stuttgart und Hamburg von Stettin aus regiert wird. „Der militärische Ausnahmezustand, der alle Machtfaktoren in den Händen des Reichs konzentriert", ist, wie die Reichsregierung versichert 7, nicht zu entbehren. Wie sollte man, nachdem die Verfassung darin besteht, daß die staatliche Macht zwischen Reich und Ländern verteilt ist, eine solche Konzentration durchführen, ohne die Verfassung anzutasten? Das berührt doch nicht nur Art. 5, Art. 14, 15 usw., sondern die grundlegende Organisation des Reiches im ganzen. Beim Vorgehen des Reiches gegen Thüringen und Sachsen (Verordnung des Reichspräsidenten vom 26. September 1923 und vom 29. Oktober 1923) trat das handgreiflich in die Erscheinung: die normale Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern wird ganz beiseite gesetzt, in Hoheitsrechte der Länder eingegriffen, Landesbeamte haben dem Militärbefehlshaber Folge zu leisten, dieser behält sich sogar vor, bei Entlassung von Landes- und Gemeindebeamten einzugreifen, die Kriminalpolizei wird der Reichswehr unterstellt, in Thüringen wird Schulfreiheit am Bußtag verfügt und werden die Schulen weitgehend kontrolliert, durch Beschlagnahme wird in die freie Wirtschaft eingegriffen usw. 8 Die Verordnung von 29. Oktober 7 D e r Reichskanzler i n der Reichstagssitzung v o m 4. Dezember 1923, wiederholt v o m Reichsminister des I n n e r n am 5. M ä r z 1924 (405. Sitzung, Sten. Berichte S. 12595 f.). 8 Ü b e r das Vorgehen i m einzelnen vgl. die Denkschrift der t h ü r i n g i schen Regierung über den militärischen Ausnahmezustand i n T h ü r i n g e n , insbesondere die v o m 12. Dezember 1923, ferner die Rede des t h ü r i n g i schen Ministerpräsidenten F r ö l i c h i m Reichstag v o m 22. N o v e m b e r 1923 (392. Sitzung, Berichte, S. 13212), des sächsischen Ministerpräsidenten Fei-

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1923 (RGBL. 1 S. 955) besagt: Der Reichskanzler wird ermächtigt, für die Dauer der Geltung dieser Verordnung Minister der sächsischen Landesregierung und der sächsischen Landes- und Gemeindebehörden ihrer Stellung zu entheben und andere Personen mit der Führung der Dienstgeschäfte zu betrauen. Der Reichskommissar Heinze verordnete daraufhin: die sächsischen Minister sind hiermit ihrer Ämter enthoben. Beamte wurden mit der Fortführung der Geschäfte betraut. Der Wehrkreiskommandeur (Generalleutnant Müller) verordnete „in Ausübung der vollziehenden Gewalt": „Bis auf weiteres tritt der Landtag nicht zusammen." Die Absetzung einer Landesregierung durch einen Reichskommissar und die Suspendierung eines Landtags greifen prinzipiell in die bundesstaatliche Organisation des Reiches ein, außerdem nach Lage des Falles in Art. 17 der RV., die Festnahme von Landtagsabgeordneten kann den Art. 37 verletzen, Amtsenthebung von Beamten den Art. 129. Die übliche Auslegung muß dies ganze Verfahren für verfassungswidrig erklären 9. Auch hier könnte man allerdings wieder eine Verschleierung versuchen und das Vorgehen statt auf Art. 48 Abs. 2 auf den Abs. 1, die Reichsexekution, stützen. Dafür fehlen aber alle verfassungsmäßigen Voraussetzungen 10. Es wäre ein lisch i n der gleichen Sitzung (S. 12219) u n d des Reichswehrministers Geßler v o m 23. N o v e m b e r 1923 (393. Sitzung, S. 12255). 9 Daher müßte sie den A n t r a g Thüringens i m Reichsrat ( N r . 385 v o m 10. N o v e m b e r 1923): D e r Reichsrat w o l l e feststellen: „ D i e V e r o r d n u n g des Reichspräsidenten v o m 29. O k t o b e r 1923 R G B l . I, S. 995, ist m i t der Reichsverfassung nicht zu vereinbaren", für begründet halten. 10

D i e Reichsregierung hat sich t r o t z mancher U n k l a r h e i t e n der Rechtfertigung d o c h i n der Überschrift z u der V e r o r d n u n g ( R G B l . 1923, 1, S. 995) auf den A r t . 48 Abs. 2 berufen. Abs. 1 w ü r d e verlangen, daß ein L a n d seine dem Reich gegenüber bestehenden Pflichten nicht erfüllt hat. Eine bloße Gefährdung w ü r d e für die Reichsexekution nicht genügen. Vgl. H u g o Preuß, 8 - U h r - A b e n d b l a t t v o m 30. O k t o b e r 1923, ferner U m die Weimarer Verfassung, Berlin 1924, S. 40: darin, daß die sächsische Landesregierung die A u f f o r d e r u n g z u m freiwilligen R ü c k t r i t t , die der Reichskommissar H e i n z e erlassen hatte, nicht befolgte, kann eine Verletzung der Reichsverfassung nicht erblickt werden, denn zu solcher A u f f o r d e r u n g stand der Reichsregierung kein verfassungsmäßiges Recht zu; die A u f f o r derung kann erst eine Maßnahme der E x e k u t i o n selbst sein; die Berufung auf A r t . 17 ist sinnlos, die Reichsregierung kann nicht darüber bestimmen, ob eine Landesregierung das Vertrauen der Volksregierung hat; das V e r fahren k a n n also nur auf Abs. 2 gestützt werden; daher hat die Reichsregierung auch d u r c h V e r o r d n u n g des Reichspräsidenten dem Reichskanzler außerordentliche V o l l m a c h t e n übertragen lassen. V g l . ferner Voss. Ztg., 31. O k t o b e r 1923: D i e Berliner V o l k s z t g . ist v o m Reichswehrminister Geßler verboten w o r d e n , w e i l sie die Maßnahmen der Reichsregierung gegen Sachsen als Staatsstreich u n d Verfassungsbruch bezeichnete. D a z u die Voss. Ztg.: M i t dem W o r t u n d dem Sinn der Weimarer Verfassung ist

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Mißbrauch, die in Art. 15 RV. dem Reich gesetzten Schranken dadurch zu beseitigen, daß man ohne weiteres von Reichsexekution spricht. Zweifellos benutzt die Reichsregierung den militärischen Ausnahmezustand als Mittel, um „in Zeiten gespannter Lage eine Reichsexekution zu schaffen". Unter Juristen sollte das nicht zu einer Verwechslung mit der Reichsexekution führen. Wie man es andererseits bewirken will, eine solche Reichsexekutive zu schaffen, ohne andere als jene sieben Verfassungsartikel anzutasten, ist ein Rätsel. Unzulässig wäre es auch hier, die übliche Auslegung wieder mit einem Zirkelschluß zu retten: es liege kein Eingriff in eine Verfassungsbestimmung vor, weil die Verfassung selbst in ihrem Art. 48 die Befugnis erteile. Denn es soll ja gerade ermittelt werden, wie weit die in Art. 48 erteilte Befugnis geht, und eine Auslegung, die in der Aufzählung der sieben Grundrechte des Satzes 2 eine Handhabe findet, um die Befugnis zu beschränken, gibt ihr eigentliches Argument „enumeratio ergo limitatio" und damit sich selber auf, wenn sie aus irgendwelchen Erwägungen die Befugnis so ausdehnt, daß auch nichtaufgezählte Verfassungsbestimmungen durchbrochen werden dürfen.

Regierungserklärungen zu Art. 48 Abs. 2 Es würde die staatsrechtliche Behandlung des Art. 48 Abs. 2 erleichtern, wenn die Reichsregierung selbst ihr Vorgehen mit einer klaren Begründung versehen hätte. Leider ist das nicht der Fall. In offiziellen und offiziösen Erklärungen haben sich Reichsminister verschiedentlich geäußert, ohne daß ein präziser Standpunkt zu erkennen wäre. Vielleicht hat bei einer Frage wie der des Ausnahmezustandes keine Regierung ein großes Interesse an juristischer Präzision. Als charakteristisch sei folgendes hervorgehoben: Nach einer vom Reichskanzler Bauer unterzeichneten Erklärung vom 5. Oktober 1919 (RK. 9267 zu Nr. 1097 der verfassunggebenden Nationalversammlung) bedeutet die Aufzählung der Verfassungsartikel in Satz 2 anscheinend nur eine beispielsweise Erwähnung, die keine Einschränkung enthält. „Nach dieser Vorschrift (Art. 48) ist der Reichspräsident befugt, die nötigen Maßnahmen zu treffen; er kann insbesondere (sie) verfassungsmäßige Grundrechte vorübergehend außer Kraft setzen und erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten." Es wird hinzugefügt, daß die Bedas Vorgehen nicht i n allen P u n k t e n vereinbar (folgt H i n w e i s auf den A r t i k e l v o n Preuß); es kann n u r auf A r t . 48 Abs. 2 gestützt werden, der aber keine Ü b e r t r a g u n g der vollziehenden Gewalt an Militärbefehlshaber kennt.

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fugnisse des Reichspräsidenten, solange das künftige Reichsgesetz sie nicht begrenzt, im Rahmen des Art. 48 unbegrenzt sind. Viel zitiert wird die Äußerung des Reichsjustizministers Schiffer aus der 147. Sitzung der Nationalversammlung vom 3. März 1920 (Sten. Berichte Bd. 332, S. 4636), wonach der Reichspräsident auf Grund des Art. 48 alle Maßnahmen treffen kann, solche der Gesetzgebung wie der Verwaltung wie rein tatsächliche Maßnahmen, aber keine solchen, die die Verfassung außer Kraft setzen oder beseitigen, weil solche nur nach Satz 2 möglich sind; Satz 2 erweitere den Satz 1. Der Reichsminister des Innern Öser sagte in der 377. Reichstagssitzung vom 7. Juli 1923 (Sten. Berichte S. 11741), ohne prinzipielle Behandlung der Rechtsfrage, daß die Immunitätsrechte der Art. 36, 37 und 38 RV. selbstverständlich für alle Abgeordneten ausnahmslos gelten und auch durch „Notverordnungen" nicht eingeschränkt werden dürfen. Anläßlich des Vorgehens gegen Sachsen erschien in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 30. Oktober 1923 eine anscheinend offiziöse Erklärung über die staatsrechtlichen Erwägungen der Reichsregierung, in welcher es heißt: „ N u r einige von ihnen (den Grundrechten) dürfen außer Kraft gesetzt werden. Weitere Beschränkungen ergeben sich aus den grundsätzlichen Bestimmungen der Verfassung. Innerhalb dieser Grenze aber ist der Reichspräsident berechtigt, alle Anordnungen zu erlassen, die er zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung für nötig erachtet. Er kann Gesetze aufheben oder neue erlassen, die bewaffnete Macht einsetzen, wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen treffen usw. Keine Bestimmung der Reichsverfassung hindert ihn, im Falle der N o t Minister eines Landes vorübergehend ihrer Dienstgeschäfte zu entheben und andere damit zu betrauen. Durch die Verordnung vom 23. März 1923 ist gegenüber Thüringen bereits so verfahren worden. Der schwerste Fall unter den Maßnahmen, zu denen die Reichsregierung auf Grund des Art. 48 greifen kann, ist die der Reichs exekutive." Es sei schließlich noch erwähnt, daß der Reichskanzler Marx am 2. Januar 1924 im Reichstag (Drucksache Nr. 6412) über die Gewährleistung der Wahlfreiheit durch Art. 125 RV. sprach und betonte, daß diese Verfassungsbestimmung auch durch Art. 48 nicht außer Kraft gesetzt werde, ohne sich übrigens ausdrücklich auf die Aufzählung des Abs. 2 Satz 2 zu berufen.

Notwendigkeit einer gründlichen Untersuchung des Art. 48 Abs. 2 Solche Äußerungen der Reichsregierung scheinen wohl der üblichen Auslegung des Art. 48 Abs. 2 entgegenzukommen. Doch enthalten sie keine genaue rechtliche Stellungnahme und vermeiden es

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sorgfältig, ein anderes Wort zu gebrauchen als „außerkraftsetzen" oder die Verfassung „beseitigen". Die Äußerung des Reichsjustizministers Schiffer vom 3. März 1920 entspricht scheinbar der üblichen Auffassung am meisten, doch ist auch hier eine Erklärung dessen, was „außer Kraft setzen" bedeutet, nicht gegeben. Zudem hebt dieselbe Äußerung hervor, daß im Wege tatsächlicher Maßnahmen alles möglich ist, daß der Reichspräsident Städte mit giftigen Gasen belegen kann usw., so daß angesichts dieser tatsächlichen Grenzenlosigkeit die praktische Bedeutung der Verfassungsschranke unklar bleibt: wenn der Reichspräsident in solcher Weise nach Satz 1 über Tod und Leben verfügt, wird die aus Satz 2 gefolgerte Schranke eine leere Formalität und in der Sache bedeutungslos; wenn er vi armata alle Redakteure, Setzer und Drucker einer Zeitung erschießen und die Druckerei dem Erdboden gleichmachen kann, so brauchte man ihn eigentlich nicht darüber zu beruhigen, daß er die Zeitung verbieten darf. Es muß eine besondere Bedeutung haben, wenn das durch die Aufzählung der Preßfreiheit als eines suspendierbaren Rechts ausdrücklich geschieht. Eine Hauptschwierigkeit, nämlich die Frage, warum Eingriffe in die Organisation des Reiches, insbesondere der Ubergang der vollziehenden Gewalt, der doch offenbar für zulässig gehalten wird, trotz der unvermeidlichen Kollision mit Verfassungsbestimmungen zulässig sind, wird in keiner Regierungserklärung beantwortet. Bei dieser unbefriedigenden Problemlage — eine oberflächliche landläufige Behauptung, eine ihr widersprechende Praxis, Regierungserklärungen ohne präzise Stellungnahme zu der juristischen Schwierigkeit — wird man den Art. 48 Abs. 2 in seinem Wortlaut und seiner Entstehungsgeschichte näher untersuchen müssen, um seinen Inhalt zu erkennen. Auf die Entstehungsgeschichte muß dabei eingegangen werden. Daß sie herangezogen wird, soll nicht bedeuten, daß irgendwelche beliebigen Äußerungen irgendeines der zahlreichen Beteiligten für maßgebend erklärt werden. Gerade die Erörterungen über den Ausnahmezustand zeigen gelegentlich einen besonderen Mangel an verfassungsrechtlichem Uberblick und sind häufig nur von den allernächstliegenden politischen Erfahrungen und Absichten beherrscht. Wohl aber muß die Entstehung des Textes in seinem jetzigen Wortlaut und müssen die verfassungsgesetzgeberischen Motive aus der Zeit der Entstehung beachtet werden, damit nicht die Erklärung des Wortlauts sich in einer sophistischen Silbenstecherei verliert. Durchweg ist anerkannt, daß Art. 48 bereits geltendes Recht ist und der Reichspräsident die Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 schon vor Inkrafttreten des in Abs. 5 vorgesehenen Reichsgesetzes hat. Die Begründung hierfür ergibt sich aber auch nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut des Art. 48, sondern erst aus der Entstehungsgeschichte, aus den Erklärungen von Berichterstat-

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tern, denen die Auslegung mit Recht eine entscheidende Bedeutung beilegt. Insbesondere gilt das von den Äußerungen der Abgeordneten v. Delbrück und Graf zu Dohna in den Sitzungen der Nationalversammlung vom 4. und 5. Juli 1919. Hier wurde außer Zweifel gestellt, daß der Reichspräsident die außerordentlichen Befugnisse sofort mit dem Inkrafttreten der Verfassung erhalten solle. Wenn aber solche Äußerungen zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Abs. 2 zu Abs. 5 des Artikels maßgebend sind, so wird man sie für die Auslegung des Abs. 2, insbesondere für das Verhältnis von seinem Satz 1 zu Satz 2, nicht ignorieren dürfen, wie das bisher allgemein geschehen ist. Auch wäre es grundsätzlich falsch, eine Verfassungsbestimmung über den Ausnahmezustand, die absichtlich eine nähere Regelung vorbehält, ohne Rücksicht auf die abnorme Lage des Jahres 1919 untersuchen zu wollen und die Schlüsse, welche die Urheber der Verfassung aus einer solchen Lage gezogen haben, zu mißachten. So definitiv normal ist die heutige Situation nicht, als daß man dazu berechtigt wäre.

Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 Die beiden Sätze des Art. 48 Abs. 2 haben in der vorliegenden Fassung auf den ersten Blick etwas Verschobenes und Verrenktes, weil der Anfang des zweiten Satzes („Zu diesem Zweck") sich nicht glatt an den Schluß des ersten Satzes („mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten") anfügt. Die Entstehungsgeschichte klärt das mühelos auf. Der Entwurf Preuß vom 3. Januar 1919 gab in seinem § 63 dem Reichspräsidenten die Befugnis zu allen Anordnungen zwecks Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. „Der Reichspräsident kann . . . mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen treffen." Der zweite Satz, welcher besagt, daß bestimmte Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können, ist erst im Staatenausschuß hinzugekommen; er ist ohne weiteres mit den Worten „Zu diesem Zweck" an den ersten Satz angefügt worden und, abgesehen von der Bezifferung der suspendierbaren Grundrechte, immer unverändert geblieben. Der Reichspräsident kann also „zu diesem Zweck" gewisse Grundrechte außer Kraft setzen. Die Worte „ Z u diesem Zweck" schlossen sich ursprünglich an die Schlußworte des ersten Satzes „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen" an. Auf eine Anregung Beyerles hat man, und zwar erst in der Sitzung der Nationalversammlung vom 5. Juli 1919 (Sten. Ber. Bd. 327, S. 1328), in Satz 1 das militärische Einschreiten, das bisher an erster Stelle stand, an

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die zweite Stelle gesetzt, weil man das extremste Mittel nicht als erstes erwähnen wollte, also aus rein redaktionellen Gründen. Dadurch folgen die Worte „Zu diesem Zweck" auf das Einschreiten mit bewaffneter Macht und erscheinen etwas verschoben. Doch bleibt der Sinn klar. „Zu diesem Zweck" heißt also natürlich nicht: um mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten. Es bedeutet aber aus demselben Grunde (denn grammatisch, syntaktisch und logisch steht das Einschreiten mit bewaffneter Macht dem „Maßnahmen treffen" gleich) ebensowenig: um die nötigen Maßnahmen zu treffen. Sondern es heißt: zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Nach der Entstehungsgeschichte wie auch nach dem unbefangen aufgefaßten Wortlaut ist sprachlich wie gedanklich eine andere Bedeutung unmöglich. Der Zweck, der den ganzen Abs. 2 beherrscht, ist selbstverständlich die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. M i t bewaffneter Macht einzuschreiten oder Maßnahmen zu treffen ist kein Zweck, sondern gerade das Mittel zu diesem Zweck. Wollte man in dem „Maßnahmen treffen" den Zweck des Satzes 2 sehen, so müßte es heißen: um diese Maßnahmen treffen zu können, nicht: um diese Maßnahmen zu treffen. Die enge Verbindung, welche die übliche Auslegung stillschweigend zwischen Satz 1 und Satz 2 herstellt, damit eine einschränkende Auslegung möglich wird, läßt sich mit dem Wortlaut in keiner Weise rechtfertigen. Der Text besagt nur: Zum Zweck der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kann der Reichspräsident Maßnahmen treffen und darf er gewisse Grundrechte außer Kraft setzen. Man könnte vielleicht das sehr weite und allgemeine Wort „Maßnahmen" so auffassen, daß auch die Außerkraftsetzung von Grundrechten als Maßnahme bezeichnet wird. Dann spräche Satz 2 ebenfalls von einer Maßnahme. In diesem Falle wäre aber die Einschränkung, welche die übliche Auslegung auf den ganzen Satz 1 ausdehnen will, ebenfalls logisch unzulässig. Denn Satz 2 besagt dann wiederum nur: wenn die Maßnahme des Reichspräsidenten in der Außerkraftsetzung von Grundrechten besteht, so ist sie beschränkt auf gewisse aufgezählte Grundrechte. Die Einschränkung geht also auf keinen Fall über den Satz 2 hinaus und wirkt niemals so weit, daß sie überhaupt die Befugnisse des Reichspräsidenten allgemein beschränkte. Das plausible Argument von der Enumeration auf die Limitation gilt doch nur im Rahmen der Befugnis, welche von der Aufzählung betroffen wird, und das ist nur die Außerkraftsetzung von Grundrechten. Es gilt nicht weiter als bis zu dem Satz: wenn der Reichskanzler Grundrechte außer Kraft setzen will, so darf er nur die aufgezählten Grundrechte außer Kraft setzen. Was er ohne Außerkraftsetzung von Grundrechten tun kann, ob er sich zur Erreichung seines Zweckes im konkreten

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Fall über einzelne Verfassungsbestimmungen hinwegsetzen darf, ohne sie außer Kraft zu setzen, darüber ist durch die Aufzählung in Satz 2 nichts entschieden. Bedeutung des Wortes: Außer Kraft setzen Eine N o r m außer Kraft setzen bedeutet begrifflich: ihre Geltung durch eine ausdrückliche Erklärung für sich und jede zuständigerweise handelnde Behörde aufheben. In diesem Sinne von Aufheben kommt das Wort in Art. 48 Abs. 3 und Abs. 4 noch einmal vor: der Reichstag kann verlangen, daß die Maßnahmen des Reichspräsidenten außer Kraft gesetzt werden. Außer Kraft setzen heißt aufheben und beseitigen. Es ist aber möglich, im Wege tatsächlichen Vorgehens eine Norm (und darum handelt es sich bei Verfassungsbestimmungen) zu ignorieren, im konkreten Fall von ihr abzuweichen, ohne sie außer Kraft zu setzen. Der § 1 des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 (RGBl. I, S. 943) sagt z. B.: „Dabei kann von den Grundrechten der Verfassung abgewichen werden." Das bedeutet etwas anderes als eine Außerkraftsetzung der Grundrechte, weil nur das handelnde Organ selbst (beim Ermächtigungsgesetz die Regierung), nicht jede nach Lage der Sache in Betracht kommende Behörde, abweichen darf. Außerkraftsetzen hat also eine unzweideutige rechtliche Sonderbedeutung. Wer eine rechtliche Bestimmung verletzt, hebt sie nicht auf und setzt sie nicht außer Kraft. Der Delinquent verletzt die dem Strafrecht zugrunde liegende Norm, er weicht von ihr ab, er durchbricht sie, alles das, ohne sie außer Kraft zu setzen. Ebensowenig aber setzt derjenige eine Bestimmung außer Kraft, der befugterweise eine Ausnahme macht. In seiner rechtslogischen Eigenart wird das am besten deutlich an einem typischen Fall der Ausnahme, der Gnade: wer begnadigt, macht eine Ausnahme von strafrechtlichen und strafprozessualen Normen, ohne daran zu denken, sie außer Kraft zu setzen. Vielmehr soll die Ausnahme die Kraft der Regel bestätigen. Die Ausnahme setzt sogar die unveränderte Weitergeltung der N o r m voraus, von der sie abweicht. Es gehört zum Begriff der Ausnahme, daß sie eingreift, ohne aufzuheben und abweicht, ohne außer Kraft zu setzen. In Art. 48 Abs. 2 handelt es sich aber um Ausnahmen, Maßnahmen des Ausnahmezustandes, die in das geltende Recht eingreifen, erlaubterweise gemachte Ausnahmen. Die rechts- und verfassungsgeschichtliche Entwicklung, die zur Suspension von Grundrechten geführt hat, bestätigt diesen Begriff. Nach der geschichtlichen Entwicklung können nur Grundrechte, nicht beliebige Verfassungsartikel außer Kraft gesetzt werden. Das erklärt sich daraus, daß durch die Suspension von Grundrechten

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rechtliche Schranken, welche der handelnden staatlichen Behörde zugunsten des Staatsbürgers gesetzt sind, beseitigt werden. Die Suspension oder Außerkraftsetzung hebt diese Schranken für jedes zuständigerweise handelnde Organ auf. Beim sogenannten kleinen Belagerungszustand (§16 des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851) ist das ohne weiteres klar: hier hebt die Regierung gewisse Grundrechte auf, ohne daß ein Ubergang der vollziehenden Gewalt stattfindet, d. h. ohne daß an der formalen Zuständigkeit der staatlichen Behörden etwas geändert wird und ohne daß die im Übergang der vollziehenden Gewalt liegende Konzentration der Zuständigkeiten eintritt. Hier soll demnach für alle Behörden, die nach Lage der Sache zu einem Vorgehen zuständig sind, die grundrechtliche Schranke beseitigt werden. Die formale Zuständigkeit bleibt bestehen, der Inhalt der Zuständigkeit, das, was die zuständige Behörde nunmehr tun darf, wird erweitert. Es ist also durch die Außerkraftsetzung von Grundrechten eine rechtliche Schranke für alle zuständigen Behörden beseitigt 1 1 . Werden aber die Grundrechte aufgehoben unter Übergang der vollziehenden Gewalt, so bedeutet es, daß sowohl der Inhaber der vollziehenden Gewalt als auch alle ihm jetzt unterstellten zuständigen Verwaltungsbehörden von den grundrechtlichen Schranken frei werden. Es ist daher im wesentlichen durchaus zutreffend, wenn Delius (Pr. Verw.Bl. Bd. 36, 1915, S. 573) sagt: „Selbstverständlich ist durch den Wegfall der Verfassungsartikel auch die Gewalt der zivilen Verwaltungsbehörde erweitert." Der Inhaber der vollziehenden Gewalt kann aber als Vorgesetzter aller in Betracht kommenden Behörden ihnen Anweisungen geben, an jedem beliebigen Punkt eingreifen und vereinigt so die ganze Macht in seiner Hand. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß durch die Außerkraftsetzung die Grundrechte für ihn wie für alle Behörden, die es angeht, die in den Grundrechten liegende Rechtsschranke beseitigt ist. Begrifflich wie verfassungsgeschichtlich enthält daher die Befugnis, Grundrechte (mit oder ohne Übergang der vollziehenden Gewalt) außer Kraft zu setzen, eine eigenartige Einwirkung auf die rechtsstaatlich geordnete staatliche Verwaltung. Sie ist eine besondere Form, Rechtsschranken, welche der Verwaltung, d. h. dem aktiv vorgehenden Staat gesetzt sind und welche ihn hemmen, zu beseitigen, damit für das Vorgehen ein weiterer Betätigungsraum geschaffen wird. Diese Rechtsschranken im einzelnen Fall zu igno11 Sehr k o r r e k t ist die Ausdrucksweise der V e r o r d n u n g v o m 26. Sept. 1923, § 1: „ D i e A r t . 114 usw. werden bis auf weiteres außer K r a f t gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechtes auf freie Meinungsäußerung . . . auch außerhalb der sonst hierfür geltenden gesetzlichen Grenzen zulässig." 15

C. Schmitt, Die

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rieren ist etwas anderes, als sie für bestimmte Zeit ganz oder teilweise zu beseitigen und außer Kraft zu setzen. Die Befugnis, Grundrechte zu suspendieren, ist daher eine besondere, neben den sonstigen Wirkungen des Ausnahmezustandes auftretende Befugnis. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Inhaber der vollziehenden Gewalt selbst für sich und andere Behörden oder ob eine andere Stelle die Suspension ausspricht. Diese Befugnis tritt als weitere selbständige Befugnis zu der andern Befugnis, selber zu handeln, hinzu. Wenn man schon dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 genau beachten will, so darf man nicht übersehen — ohne daß damit ein entscheidendes Argument ausgesprochen sein sollte —, daß die Ausdrucksweise der Verfassung insofern juristisch korrekt ist, als der Reichspräsident nach Abs. 1 Maßnahmen treffen kann, während er nach Satz 2 Grundrechte außer Kraft setzen darf. In der Befugnis, alle nötigen Maßnahmen zu treffen, ist die zweite Befugnis, Grundrechte außer Kraft zu setzen, nicht ohne weiteres enthalten. Will man allerdings die Außerkraftsetzung als eine Maßnahme bezeichnen (darüber braucht hier nicht gestritten zu werden), so besagt Art. 48 Abs. 2, daß unter den zulässigen Maßnahmen diese Maßnahme auf die genannten sieben Grundrechte beschränkt ist. Eine Maßnahme, welche Außerkraftsetzung bedeutet, ist also natürlich beschränkt. Eine Verordnung z. B., welche allgemein im Interesse von Sparmaßnahmen den Abbau von Beamten ohne Rücksicht auf Art. 129 RV. für zulässig erklärt, ist verfassungswidrig, weil sie eine Außerkraftsetzung enthält und Art. 129 nicht zu den suspendierbaren Rechten gehört. Wohl aber kann der Reichspräsident nach Art. 48 Abs. 2 Satz 1 im konkreten Falle Reichs-, Landes- und Gemeindebeamten die Ausübung ihres Amtes untersagen und andere Personen mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte betrauen. Das ist ein Eingriff in den Art. 129, aber keine Außerkraftsetzung. Entsprechendes gilt für alle übrigen nicht aufgezählten grundrechtlichen Bestimmungen, z. B. auch den vielumstrittenen Art. 15912. 12 D i e Befugnis, durch eine allgemeine V e r o r d n u n g i n die Vertrags- u n d Wirtschaftsfreiheit (151, 152) einzugreifen, sollte nach der Entstehungsgeschichte dadurch erteilt werden, daß der A r t . 153 unter die suspendierbaren Rechte aufgenommen wurde. V g l . die Beratung der A u f n a h m e des A r t . 153 (damals 150) i n der 47. Sitzung der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o m 5. J u l i 1919. D e r preußische M i n i s t e r H e i n e h o b hervor, daß die Heranzieh u n g dieses A r t i k e l s dazu dienen sollte, Eingriffe i n Lebensmittelpreise u n d Verkäufe z u ermöglichen. Bezeichnend ist auch hier die A u s d r u c k s weise der maßgebenden Herren: der M i n i s t e r H e i n e spricht davon, daß der Inhaber der vollziehenden Gewalt diese M ö g l i c h k e i t erhalten soll; Preuß sagt „ d i e Behörde". V o m Reichspräsidenten w i r d nicht gesprochen. D i e Ursache dieser Ausdrucksweise ergibt sich aus der i m Text folgenden Darlegung der Entstehungsgeschichte.

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Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 ergibt also, daß der Reichspräsident eine allgemeine Befugnis hat, alle nötigen Maßnahmen zu treffen und eine besondere Befugnis, gewisse aufgezählte Grundrechte außer Kraft zu setzen. Die Einschränkung gilt nur für die besondere Befugnis: will der Reichspräsident Grundrechte außer Kraft setzen, so ist er durch die Aufzählung beschränkt. Darauf muß man die Einschränkung, welche die übliche Auffassung auf den ganzen Satz 1 ausdehnen will, einschränken. Jeder Versuch, nicht nur für die Außerkraftsetzung, sondern für jedes einen Verfassungsartikel berührende Vorgehen aus der Aufzählung eine Rechtsschranke zu konstruieren, ist angesichts des genauer betrachteten Wortlautes eine Erschleichung.

Entstehungsgeschichte des Art. 48 Abs. 2 Dieses Ergebnis einer gründlichen Untersuchung des Verfassungstextes wird durch die Entstehungsgeschichte höchst auffällig bestätigt. Daß der Satz 2 zuerst im Staatenausschuß erscheint und der allgemeinen, schrankenlosen Ermächtigung des Satz 1 angefügt wird, deutet auf ein besonderes Interesse, welches die Länder an dieser Bestimmung haben. Man darf nicht übersehen, daß die Landesregierungen damals in der Bestimmung über den Ausnahmezustand (§ 63 des Entwurfes Preuß; Art. 68 des ersten Regierungsentwurfes) überhaupt nicht erwähnt waren. Der berühmte Abs. 4 ist erst am 5. Juli 1919 in der Nationalversammlung auf einen Antrag Β eyerie aufgenommen worden. Dadurch, daß der Reichspräsident die Befugnis erhielt, bestimmte Grundrechte außer Kraft zu setzen, war nämlich die Möglichkeit gegeben, daß die an sich zuständigen Behörden, also normalerweise die Polizeibehörden, demnach Landesorgane, die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherstellen konnten, ohne daß der Reichspräsident selbst vorging. Er konnte durch die Außerkraftsetzung die aufgezählten Grundrechte und die in ihnen liegenden rechtsstaatlichen Schranken beseitigen und dadurch den Landesbehörden den Weg frei machen für ein wirksames Vorgehen. Es wäre demnach nicht erforderlich, daß der Reichspräsident bei jeder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbst vorgeht und in die Verwaltungszuständigkeit der Länder eingreift. In einfacheren Fällen würde es genügen, für die an sich zuständigen Behörden (mögen es nun Reichs- oder Landesbehörden sein) die Grundrechte außer Kraft zu setzen. Die Befugnis aus Satz 2 entspricht in der Sache wie in ihrem Wortlaut dem sogenannten kleinen Belagerungszustand des preußischen Belagerungszustandsgesetzes von 1851 (§ 16), wonach die Regierung auch ohne Übergang der vollziehenden Gewalt für die an sich zuständigen 15

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Behörden gewisse Grundrechte suspendieren konnte. Satz 2 hat also in seiner ursprünglichen und auch heute noch praktisch brauchbaren Bedeutung einen ganz verständigen Sinn: der Reichspräsident hat es in der Hand, den Landesbehörden ein wirksames Vorgehen zu ermöglichen, ohne selbst einzugreifen. Allerdings tritt dieser Gedanke in den gedruckten Materialien nicht weiter hervor. Man darf hier allerdings eine merkwürdige Äußerung des Abgeordneten Fischer (in der Sitzung des 8. Ausschusses vom 8. April 1919, Bd. 336, S. 275) nicht unbeachtet lassen, in der es heißt, daß der Reichspräsident, wenn in einem Gliedstaat die öffentliche Sicherheit gefährdet ist, Grundrechte aufheben darf. Im übrigen bezieht sich die Diskussion hauptsächlich auf die Mittel der Kontrolle, ferner auf die Frage, welche Grundrechte suspendierbar werden sollen, während man sich über die Bedeutung der Suspension wenig Gedanken macht. U m so bestimmter lassen alle beachtlichen Äußerungen erkennen, daß die Befugnis, welche der Reichspräsident nach Satz 2 erhält, von der Befugnis aus Satz 1 stets unterschieden wurde. Die Ansicht des Verfassungsausschusses ist absolut präzis formuliert in dem Bericht des Abgeordneten Dr. Ablaß (Bd. 336, S. 233), welcher sagt: In Art. 49 (damals entsprechend dem jetzigen Art. 48 Abs. 2) hat der Reichspräsident eine ganz neue Befugnis erhalten (damit ist der Gegensatz zu dem bisherigen Kriegs- und Belagerungszustandsrecht ausgesprochen); es ist einmal (sie) die Befugnis, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, nötigenfalls unter Zuhilfenahme der bewaffneten Macht, wiederherzustellen; „und dann die Befugnis" (sie), eventuell die Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft zu setzen. „Jene Befugnis geht sehr weit. Aber wenn wir die Geschehnisse unserer Tage überblicken, werden wir finden, daß sie aus der N o t der Zeit heraus geboren ist und dem Präsidenten ein starkes Mittel an die Hand gibt, auf das er unter keinen Umständen wird verzichten können. Diese Stärkung der Macht des Präsidenten begrüße ich aufs freudigste." Das ist die klarste Äußerung der ganzen Entstehungsgeschichte über das Verhältnis von Satz 2 zu Satz 1. Bestimmter kann man die gegenseitige Beziehung der beiden Sätze nicht ausdrücken. Dem Reichspräsidenten sollen zwei getrennte Befugnisse verliehen werden. Alle übrigen Äußerungen bestätigen diese Absicht. Der Mitberichterstatter Fischer kennzeichnet die Befugnis des Reichspräsidenten als etwas Doppeltes: er kann das Heer aufbieten und in der Verfassung festgelegte Grundrechte aufheben (a. a. O. S. 275). Preuß sagt (S. 288): „Der Reichspräsident kann . . . die nötigen Anordnungen und auch (sie) gewisse Bestimmungen treffen, die an das erinnern, was man bisher Belagerungszustand genannt hatte."

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Ebenso deutlich sind die Äußerungen der Abgeordneten v. Delbrück und Graf Dohna in der 46. und 47. Sitzung der Nationalversammlung vom 4. und 5. Juli 1919 (Bd. 327, S. 1304 ff., 1355 ff.). Sie sind tatsächlich die eigentliche Quelle für die Auslegung des Art. 48 geworden. Auf ihnen beruht, wie erwähnt, insbesondere die nicht mehr zu bestreitende Auffassung, daß Art. 48 trotz der in Abs. 5 vorbehaltenen näheren Regelung unmittelbar geltendes Recht schafft. Alle staatsrechtlichen Erörterungen über den Art. 48 Abs. 2, sowohl die des Reichskanzlers in der zitierten Äußerung vom 5. Oktober 1919 wie die des Reichsjustizministers Schiffer vom 3. März 1920, das Reichsgericht in seinen Entscheidungen wie alle Autoren des Schrifttums berufen sich als maßgebendes Argument auf jene Ausführungen vom 4. und 5. Juli. Was ergibt sich also aus ihnen für die Frage nach dem Verhältnis von Satz 2 zu Satz 1 in Art. 48 Abs. 2? Ohne die Trennung der beiden Befugnisse aus den beiden Sätzen sind sie überhaupt unverständlich. Der Abgeordnete v. Delbrück sagt am 4. Juli 1919, der Reichspräsident habe bis zur näheren reichsgesetzlichen Regelung eine unbeschränkte Befugnis; „er kann also alle erforderlichen Maßnahmen treffen, er ist auch in der Lage, Rechtsverordnungen zu erlassen, soweit sie notwendig sind, bis das Nähere durch Reichsgesetz bestimmt wird". Daß die Aufzählung der Grundrechte in Satz 2 eine allgemeine Einschränkung dieser in Satz 1 erteilten Befugnis enthält, wird nicht einmal angedeutet, obwohl es, wenn es gemeint gewesen wäre, von einem Juristen unmöglich stillschweigend übergangen werden durfte, denn es verstand sich bei der vorher immer betonten Unterscheidung der beiden Befugnisse keineswegs von selbst. Im Gegenteil: am 5. Juli wiederholt v. Delbrück die typische Aufzählung der doppelten Befugnis des Reichspräsidenten: dieser kann mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen, „er kann ferner (sie) eine Reihe von Grundrechten außer Kraft setzen". Maßnahmen nach Satz 1 kann der Reichspräsident bis zum Erlaß des Reichsgesetzes ohne jede Einschränkung treffen, und zwar alle Maßnahmen, Rechtsvorschriften, Strafbestimmungen, Einsetzung außerordentlicher Gerichte. „Ich möchte diese Interpretation noch einmal ausdrücklich feststellen. Sie ist bei dem Aufbau des Artikels nach meiner Ansicht gar nicht zu bezweifeln." Wiederum kein Wort von der allgemeinen Einschränkung durch jene sieben Verfassungsartikel. Ihre Erwähnung hätte dem Gedankengang die entgegengesetzte Richtung gegeben. Ebenso bezeichnend sind die Äußerungen des Grafen zu Dohna, der sich die Frage stellt, warum außerordentliche Gerichte eingeführt werden dürfen, obwohl Art. 105 der Verfassung nicht unter den Grundrechten ausgezählt ist, die außer Kraft

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gesetzt werden können. Ein Jurist, welcher damals die heute übliche Auffassung teilte, hätte doch wirklich hier von der einschränkenden Wirkung jener Aufzählung des Satz 2 ausgehen und dann irgendwelche Gründe, etwa die oben erwähnten der Entscheidung des Reichsgerichts (Strafs. Bd. 56, S. 161) angeben müssen, um es zu rechtfertigen, daß der Reichspräsident außerordentliche Gerichte einsetzen darf, obwohl Art. 105 in der Aufzählung der suspendierbaren Grundrechte fehlt. Statt dessen erklärt Graf Dohna folgendes: es müssen möglichst bald wieder gesetzliche Bestimmungen wie die des Belagerungszustandsgesetzes von 1851 über Kriegsund Standgerichte eingeführt werden; es ist Aufgabe der reichsgesetzlichen näheren Regelung, das zu tun; diese reichsgesetzliche Regelung ist um so notwendiger, „weil ja doch gerade die Frage, ob Standgerichte, außerordentliche Kriegsgerichte und derartiges auf Grund dieser Bestimmungen (Art. 48 Abs. 2) eingesetzt werden können, zweifelhaft ist". Bis zum Erlaß des Reichsgesetzes besteht also eine „Lücke". Aber „bis dahin bin auch ich der Meinung, daß der Reichspräsident das Recht hat, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, auch Bestimmungen über die Ordnung des Verfahrens vor außerordentlichen Kriegsgerichten erlassen kann". Das heißt: es kommt nicht darauf an, ob Art. 105 unter den suspendierbaren Grundrechten des Satz 2 aufgezählt ist; auch in nicht aufgezählte Grundrechte darf eingegriffen werden, weil die Befugnis, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, jedenfalls auch die Einsetzung von außerordentlichen Gerichten deckt, selbst wenn es nach Satz 2 zweifelhaft ist. Der Reichspräsident hat eben, wie Graf Dohna es formulierte, „plein pouvoir". Die limitierende Wirkung der in Satz 2 vorgenommenen Aufzählung wird hier nicht nur stillschweigend außer acht gelassen, sondern implicite abgelehnt. Sie konnte nicht ausdrücklich abgelehnt werden, weil allen Beteiligten, soweit sie ein distinktes juristisches Bewußtsein hatten, der eigentliche Sinn des Satz 2 viel zu selbstverständlich war, als daß sie einen erst nach dem Inkrafttreten der Verfassung auftauchenden Interpretationsversuch hätten erwähnen können. Zusammengefaßt folgt aus der Entstehungsgeschichte: keiner der Urheber des Art. 48 Abs. 2 ging davon aus, daß in Abs. 2 Satz 2 eine allgemeine Einschränkung der in Satz 1 erteilten allgemeinen Befugnis enthalten sei. Dem Reichspräsidenten wurde die Befugnis erteilt, alle nötigen Maßnahmen zu treffen. Davon, daß die Aufzählung in Satz 2 eine fundamentale Abgrenzung der in Satz 1 erteilten Befugnis enthielte, war nicht nur nicht die Rede, sondern Satz 2 wurde im Gegenteil aufgefaßt als eine zwar in sich durch die Aufzählung begrenzte, im übrigen aber zu der Befugnis aus Satz 1 hinzutretende eigenartige Befugnis. Auch eine Betrachtung der Entstehungsgeschichte führt zu dem gleichen Schluß, den eine gründli-

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chere Untersuchung des Wortlautes ergab. Weder die praktischen Notwendigkeiten einer Durchführung des Ausnahmezustandes, noch der Wortlaut des Verfassungstextes, noch die Entstehungsgeschichte und alle erkennbaren Vorstellungen der Gesetzesurheber lassen sich also mit jener plausiblen Auslegung des Abs. 2 vereinbaren. Was sie logisch Einleuchtendes hat, ihr Argument von der Aufzählung auf die Einschränkung, erweist sich als eine oberflächliche Ausdehnung von Satz 2 auf Satz 1. Ihr rechtsstaatliches Motiv bleibt indessen beachtlich. Denn es muß irgendeine Grenze der Befugnis des Reichspräsidenten gefunden werden. Die Frage ist nur, ob die Grenze mit Hilfe einer Scheinargumentation oder im vollen juristischen Bewußtsein der Besonderheit und Schwierigkeit des Art. 48 Abs. 2 gefunden werden soll. Vom Standpunkt der allgemeinen Staats- und Verfassungslehre aus bedeutet der Artikel allerdings eine Singularität. Es kommt darauf an, ihn in seiner Eigenart richtig zu erkennen. Man muß dabei die Meinungen von Gesetzesredaktoren beachten, nicht ihrer selbst wegen, sondern weil sie die allgemeine Basis einer ungewöhnlichen Bestimmung zeigen, nämlich das die Weimarer Nationalversammlung beherrschende Bewußtsein, in Deutschland vor einer abnormen Situation zu stehen, welche bis auf weiteres, d. h. bis zur näheren reichsgesetzlichen Regelung, neben der in Satz 2 erteilten Befugnis eine ganz ungewöhnliche, in Satz 1 gegebene, allgemeine Befugnis erfordere. Das ist die ratio der in Art. 48 getroffenen Regelung. Im folgenden soll versucht werden, sie verfassungsrechtlich genauer zu bestimmen und in die allgemeinen rechtsstaatlichen Gedanken einzufügen, welche die geschichtliche Entwicklung des Ausnahmezustandes als eines Rechtsinstituts beherrschen.

II Die Regelung des Art. 48 Abs. 2 als ein Provisorium In der verfassunggebenden Nationalversammlung war man sich bewußt, dem Reichspräsidenten durch Art. 48 Abs. 2 Satz 1 eine ungewöhnliche, „schrankenlose" Befugnis, „plein pouvoir" zu geben. Die Bedenken gegen eine solche Machtfülle hielt man einmal durch die in der ministeriellen Gegenzeichnung enthaltene Kontrolle für erledigt; ferner durch den Abs. 3 des Artikels, welcher bestimmt, daß die Maßnahmen dem Reichstag unverzüglich zur Kenntnis zu geben und auf sein Verlangen außer Kraft zu setzen sind. In der so begründeten Verantwortlichkeit vor dem Parlament erblickte man offenbar eine absolute Garantie gegen Mißbrauch. Preuß betonte im Verfassungsausschuß, es sei nicht möglich, daß

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sich die zivile Gewalt ihrer außerordentlichen Berechtigung und damit ihrer Verantwortlichkeit entkleide, immer bleibe die Reichsregierung dem Reichstag verantwortlich, auch wenn ein Militärbefehlshaber beauftragt sei, die Maßnahmen durchzuführen 13 . Davon, daß im Satz 2 des Art. 48 Abs. 2 eine einfache und wirksame Schranke der Befugnis des Reichspräsidenten enthalten wäre, ist auch in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Das wichtigste Mittel, durch welches man den Bedenken gegen die allzuweite Ermächtigung zu entgehen dachte, lag in etwas ganz anderem, nämlich dem baldigst zu erwartenden, das Nähere regelnden Reichsgesetz. Dies Gesetz hielt man anscheinend für so nahe bevorstehend, daß nicht einmal die Besonderheiten ernstlich berücksichtigt wurden, die sich bei einer Auflösung des Reichstags ergeben müßten. Das ganze Jahr 1919 hindurch haben Abgeordnete aller Parteien, v. Delbrück, Graf zu Dohna, Martin Spahn, Haas usw. 14 , auf das kommende Reichsgesetz verwiesen. Keiner von ihnen rechnete damit, daß dies Gesetz nach Jahren noch nicht ergangen sein könnte. Unterscheidung vom Staatsnotrecht Die vollständige, abgeschlossene Regelung liegt also in Art. 48 Abs. 2 noch nicht vor, obwohl er geltendes Recht ist. Die Verfassung ist an diesem Punkt noch offen. Einerseits hat der Reichspräsident mit dem Inkrafttreten der Verfassung die in Abs. 2 genannten außerordentlichen Befugnisse erhalten, andererseits hat die Verfassung hier, wie Graf Dohna es formuliert, eine „Lücke". Der Ausdruck ist überaus treffend. N u r insofern könnte er vielleicht mißverstanden werden, als er eine Verwechslung der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten mit einem Staatsnotrecht herbeizuführen geeignet ist. Das Staatsnotrecht beruht darauf, daß 13 Berichte, S. 288. I c h glaube nicht, daß diese Ä u ß e r u n g v o n Preuß eine Grundlage bietet für die Behauptung Rosenfelds (393. Sitzung des Reichstags v o m 23. N o v e m b e r 1923, Sten. Ber., S. 12264), daß ein militärischer Ausnahmezustand nach A r t . 48 überhaupt unzulässig ist. V g l . auch Voss. Z e i t u n g v o m 31. O k t . 1923, w o das Vorgehen gegen Sachsen für verfassungswidrig erklärt w i r d : i n einer bürgerlichen R e p u b l i k seien Befehle eines Generals an eine Landesregierung oder Landesvertretung ein U n d i n g . 14 v. D e l b r ü c k : 46. u n d 47. Sitzung (Berichte, Bd. 327, S. 1304, 1335); G r a f zu D o h n a , ebd. S. 1338; M a r t i n Spahn, 118. Sitzung v o m 25. N o v . 1919, Bd. 331, S. 3742 (hier n i m m t er an, daß die früheren Gesetze über den Belagerungszustand bis z u m Erlaß des Reichsgesetzes weitergelten: ausdrücklich verlangt er ein Reichsgesetz i n der Sitzung v o m 3. M ä r z 1920, Bd. 332, S. 4642); Haas, 112. Sitzung v o m 29. O k t o b e r 1919 (Bd. 330, S. 3563).

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außerhalb oder entgegen Verfassungsbestimmungen im extremen, unvorhergesehenen Fall irgendein staatliches Organ, welches die Kraft zum Handeln hat, vorgeht, um die Existenz des Staates zu retten und das nach Lage der Sache Erforderliche zu tun. Ein solches Staatsnotrecht, wie es die Regierungen wohl der meisten Staaten während des Krieges in Anspruch genommen haben, wird häufig damit begründet, daß eine „Lücke" in der Verfassung vorliegen müsse, weil es nur für den gänzlich unvorhergesehenen Fall gelten kann. Die Rechtfertigungen und Begründungen interessieren hier im einzelnen nicht 15 . Zur Unterscheidung eines Staatsnotrechts von der Regelung des Art. 48 Abs. 2 sei nur hervorgehoben, daß diese Bestimmung schon deshalb kein Staatsnotrecht enthält, weil sie verfassungsmäßig als Zuständigkeit vorgesehen ist. Es wäre denkbar, daß in einem extremen Fall selbständig neben der Befugnis aus Art. 48 ein Staatsnotrecht geltend gemacht würde und je nach Lage der Sache die Reichsregierung für sich allein und nicht der Reichspräsident als Träger dieses Notrechts aufstände, ja, daß es sogar, etwa bei feindlicher Besetzung des größten Teils des Reiches oder angesichts eines Staatsstreiches, um die Verfassung zu retten, gegen einen Reichspräsidenten ausgeübt würde, vielleicht weil dieser sich weigert, den Ausnahmezustand zu verhängen. Alles das sind unvorhergesehene Fälle, die sich einer rechtlichen Regelung entziehen. Art. 48 Abs. 2 dagegen regelt den Ausnahmezustand als ein verfassungsmäßiges Rechtsinstitut. Dadurch wird eine Verwechslung mit dem Staatsnotrecht ausgeschlossen. Die weitere Frage, ob es möglich werden könnte, unter Berufung auf das Staatsnotrecht die Verfassung selbst zu beseitigen und eine andere Verfassung einzuführen, also eine Art Recht auf den Staatsstreich, braucht hier nicht erörtert zu werden. Es ist in der Staatsrechtslehre gelegentlich proklamiert worden 16 . Aus Art. 48 ergibt sich ein solches Recht auf keinen Fall. 15

V g l . Z . Giacometti, Jahrb. d. öff. Rechts, 1922 ( X I ) , S. 340; M a n f r e d i Siotto P i n t o r , eod. S. 159; H a u r i o u , Précis de d r o i t constitutionnel, Paris 1923, p. 499 sqq.; R. H o e r n i , D e l'état de nécessité en d r o i t public fédéral suisse, Genf 1917, bestreitet, daß beim Staatsnotrecht eine L ü c k e vorliege; er gibt dafür folgende Begründung: „Pexercice d u d r o i t de nécessité n'a pas besoin d'être mentionné à l'avance par la c o n s t i t u t i o n p o u r être possible et légitime. I l est justifié par les circonstances ellesmêmes q u i donnent naissance à u n d r o i t nouveau d o n t la vigueur p r i m e celui d u d r o i t existant . . . L'absence de texte précis prévoyant dans la c o n s t i t u t i o n l'éventualité de l'état de nécessité n'offre pas d'inconvénients juridiques. Il n'y a pas de lacune dans la constutution en ce sens qu'une telle disposition ne ferait que confirmer u n d r o i t que l ' É t a t possède déjà par le simple fait q u ' i l existe." 16 E i n schönes Bespiel: K a l t e n b o r n , E i n l e i t u n g i n das konstitutionelle Verfassungsrecht, L e i p z i g 1863, I, S. 347: Das formelle Recht hat vernünf-

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Unterscheidung von der Stellung des souveränen Fürsten Ebensowenig erhält der Reichspräsident durch diesen Artikel eine Stellung, welche der des souveränen Fürsten nach dem monarchischen Prinzip ähnlich wäre. Für jedes auf diesem Prinzip beruhende Staatswesen ist es charakteristisch, daß immer, auch wenn eine Verfassung die staatlichen Funktionen und Kompetenzen abgrenzt, doch an einem Punkt wenigstens die Möglichkeit bestehenbleibt, die volle ungeteilte Staatsgewalt wieder auftreten zu lassen. Hier ist neben der ordentlichen, verfassungsmäßig geteilten Gewalt noch eine außerordentliche, durch die verfassungsmäßige Regelung niemals restlos zu erfassende staatliche Gewalt latent vorhanden. Nach dem Ermessen ihres Trägers, der sich dadurch als der Souverän erweist, kann sie zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Existenz des Staates unvermittelt in der ganzen Fülle ihrer Macht erscheinen und dadurch die ganze Verfassung, außer der Stellung des Monarchen selbst, zu einem Provisorium und Precarium machen17. Man mag dieses Auftreten noch so sehr auf den Notfall beschränken und diesen wieder als den alleräußersten N o t fall oder mit ähnlichen Beschwörungen zurückzudrängen suchen, solange die Entscheidung darüber, ob dieser Fall gegeben ist, in der Hand des Monarchen ruht, ist er wirklich Souverän 18 und beruht die Staatsgewalt wesentlich auf dem monarchischen Prinzip. Für das Staatsrecht der monarchischen preußischen Verfassung konnte immerhin die Meinung vertreten werden, die Verfassung tigerweise n u r dann A n s p r u c h auf G e l t u n g i m Leben, w e n n es auf dem gesamt-nationalen Geiste beruht; daraus folgt, daß der Landesherr, w e n n i h m i n Zeiten temporärer Volksleidenschaft eine Verfassung abgerungen ist, diese wieder aufheben kann, w e n n ihre weitere Existenz eine Gefahr für den Bestand des Staates bedeutet; die Staatsregierung, als die Trägerin des kontinuierlichen Wesens des Staates, soll sich lieber eines formellen Rechtsbruchs schuldig machen, als aus bloßem Respekt v o r dem formellen Recht V o l k u n d Staat sich auflösen u n d zugrunde gehen lassen. „Es liegt dann ein A k t der N o t w e h r u n d Selbstverteidigung für den Staat u n d dessen persönlichen Repräsentanten v o r u n d man darf hier v o n dem sogenannten Staatsnotrecnte sprechen." D o c h muß die Regierung auch w i r k lich die M a c h t zu diesem Staatsstreich haben, sonst führt er das Gegenteil v o n dem herbei, was man beabsichtigte. 17 I n typischer D e u t l i c h k e i t zeigte sich das bei den Kämpfen u m den A r t . 14 der charte constitutionnelle v o m 4. Juni 1814 ( „ l e r o i est le chef suprême de l'Était, il . . . fait les règlements et ordonnances nécessaires p o u r l'exécution des lois et la sûreté de l ' É t a t " ) , vgl. oben S. 190 ff. 18

Ü b e r den Zusammenhang der Entscheidung über die Frage, ob der extreme, die Existenz des Staates v o n seiner rechtlichen O r d n u n g trennende N o t f a l l gegeben ist, m i t dem Begriff der Souveränität vgl. meine P o l i t i sche Theologie, M ü n c h e n u n d L e i p z i g 1922, S. 11.

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lasse, wegen des in Art. 63 vorbehaltenen Notverordnungsrechts, die Möglichkeit offen, daß der König im Wege der Verordnung jedes Gesetz, ja die Verfassung selbst ändere, wozu er nur der Gegenzeichnung bedürfe 19 . Daß der Präsident einer Republik niemals in diesem Sinne Souverän sein kann, versteht sich von selbst. Daher kann man auch nicht von einer aus Art. 48 entspringenden außerordentlichen, neben der ordentlichen einherlaufenden Staatsorganisation sprechen 20. Das wäre in einer Republik eine hybride Verdoppelung der Staatsgewalt. In der souveränen Monarchie ist es das nicht, weil hier der Monarch die plenitudo potestatis trotz der Verfassung wahrt und gerade dadurch die konstituierte Einheit des Staates repräsentiert. Unterscheidung von der souveränen Diktatur einer Nationalversammlung Dem Gefühl für diesen Unterschied eines Monarchen von einem republikanischen Staatshaupt entspringt wohl auch eine Äußerung in dem Buch des Generals Maercker „Vom Kaiserheer zur Reichswehr" (S. 376): „Aus dem Gesetz (d. h. Art. 48) läßt es sich nicht begründen, daß die Verfassung eines freien Staates dem obersten Beamten des Reiches Rechte einräumen wollte, die in diesem Umfang nicht einmal der Kaiser und König besaß." Auch der Abgeordnete Dr. Cohn hatte in der Nationalversammlung bemerkt, daß die Regelung des Art. 48 Abs. 2 noch vor das preußische Gesetz von 1851 zurückgehe, weil dieses Gesetz mehr Rechtsgarantien biete als Art. 48 Abs. 2 in der vorgeschlagenen (und angenommenen) Form. Derartige Vergleichungen übersehen, daß auch in einer Demokratie, und besonders in ihr, außerordentliche Vollmachten möglich sind. Gerade Demokraten haben die weitgehenden Befugnisse des Art. 48 als etwas Demokratisches aufgefaßt. In der Nationalversammlung vertraten die Abgeordneten Preuß und Haas diesen Standpunkt. Ausdrücklich nahm ihn der Reichsjustizminister Schiffer ein in der mehrfach erwähnten Rede vom 3. März 1920, und zwar mit der Begründung, daß in der Demokratie grundsätzlich Übereinstimmung zwischen der leitenden Mehrheit des Parlaments und der Regierung herrsche und diese alle Machtmittel in die Hände bekommen müsse, welche sie für nötig halte. Der Demokrat Petersen sagte in derselben Sitzung: „Es gibt keine Staats19

D e r allgemeine juristische Charakter der preußischen Verfassung, i n Aegidis Zeitschrift f. deutsches Strafrecht u n d deutsche Verfassungsgeschichte, Berlin 1867, S. 192. 20 W i e das die K o n s t r u k t i o n v o n R. Grau, a. a. O . S. 105 versucht.

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form, der Machtmittel zu gewähren so unbedenklich ist, wie die der Demokratie, weil sie auf dem gleichen Recht aller Staatsbürger beruht." Aus demokratischem Denken entstand auch die Vorstellung einer dem Volk zustehenden konstituierenden Gewalt, eines pouvoir constituant, der die Quelle aller verfassungsmäßig konstituierten und damit umgrenzten Gewalten und doch von ihr verschieden, unbeschränkt und unbeschränkbar ist. Auf solchen, wesentlich demokratischen Gedankengängen beruht die Möglichkeit einer rechtlich schrankenlosen Macht, wie sie nach einer Revolution einer verfassunggebenden Versammlung zustehen kann. Solange eine solche Versammlung ihr Werk, die Verfassung, noch nicht vollendet hat, besitzt sie jede denkbare Befugnis. In ihrer Hand ist die ganze Staatsgewalt vereinigt und kann unmittelbar in jeder beliebigen Form auftreten. Eine erschöpfende Normierung und Aufteilung der staatlichen Zuständigkeiten und Funktionen ist noch nicht vorhanden; die konstituierende Gewalt des Volkes hat sich noch nicht an konstituierte Schranken gebunden, und die verfassunggebende Versammlung kann daher die plenitudo potestatis nach ihrem Ermessen geltend machen. Ich habe hierfür die Bezeichnung souveräne Diktatur vorgeschlagen 21, weil hier einerseits eine schrankenlose, ganz im Ermessen der ermächtigten Stelle liegende rechtliche Macht vorliegt, insofern also das Wort „souverän" gebraucht werden kann, andererseits aber die verfassunggebende Versammlung nur beauftragt ist, wie ein Diktator. Sie ist nicht Souverän wie der Monarch in einer absoluten oder in einer auf dem monarchischen Prinzip beruhenden Monarchie. Hier kommt der Gegensatz von konstituierender Gewalt und konstituierten Gewalten höchstens insofern in Betracht, als der Monarch, in bewußtem Gegensatz zum demokratischem Prinzip, für sich die konstituierende Gewalt in Anspruch nimmt, wie das z. B. in Frankreich unter Karl X. geschah. Der Monarch ist dann Souverän, nicht Diktator. Die rechtliche Machtfülle einer verfassunggebenden Versammlung beruht darauf, daß sie den pouvoir constituant ausübt, und die Allmacht dauert infolgedessen nur so lange, als nicht durch Inkrafttreten der Verfassung die Konstituierung der Gewalten erfolgt ist. In dem Augenblick, in welchem die Versammlung ihr Werk vollendet hat und die Verfassung geltendes Recht wird, endet jene souveräne Diktatur, hört überhaupt rechtsstaatlich die Möglichkeit einer souveränen Diktatur auf. M i t einer rechtsstaatlichen Verfassung ist eine souveräne Diktatur eben unvereinbar. Eine republikanische Verfassung, welche sie vorbehalten wollte, wäre als 21

Erich 1920.

V g l . oben S. 127 ff.; vgl. ferner die ausgezeichneten Ausführungen bei Kaufmann, Staatsgerichtshof u n d Untersuchungsausschuß, Berlin

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Ganzes ein Provisorium und Precarium in der Hand des souveränen Diktators, der kraft seiner außerordentlichen Staatsgewalt neben den verfassungsmäßigen immer neue Organisationen improvisieren könnte. Trotz aller Wendungen wie „schrankenlose Gewalt" oder „plein pouvoir", die für die Befugnisse des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2 gebraucht worden sind, wäre es doch unmöglich, daß er auf Grund dieser Verfassungsbestimmung, wenn auch nur in Verbindung mit der gegenzeichnenden Reichsregierung, eine souveräne Diktatur ausübt. Entweder souveräne Diktatur oder Verfassung; das eine schließt das andere aus. Die typische rechtsstaatliche Regelung des Ausnahmezustandes Die rechtsstaatliche Entwicklung erfaßt nun die kommissarische (im Gegensatz zur souveränen) Diktatur in der Weise, daß sowohl Voraussetzung wie Inhalt der diktatorischen Befugnisse tatbestandsmäßig umschrieben und aufgezählt werden. Es ist ein Kriterium des Rechtsstaates, alle staatlichen Funktionen in Zuständigkeiten abzugrenzen und die staatliche Allmacht in einem System von Kompetenzen zu regulieren, so daß niemals an irgendeinem Punkt die Fülle der Staatsgewalt hemmungslos in unvermittelter Konzentration auftreten kann. Grundlage dieser Abgrenzung aller staatlichen Funktionen und Zuständigkeiten ist die Verfassung. Nach der alten Definition liegt ihr Wesen in der Teilung der Gewalten 22 . Das entspricht dem Gedanken des Rechtsstaates. Für den Ausnahmefall müssen allerdings immer Vorbehalte gemacht werden. Die Diktatur ist immer etwas Abnormes, weil bei ihr die rechtsstaatliche Umgrenzung der Befugnisse abhängig bleibt von der Lage der Sache, d. h. vom Ermessen des Ermächtigten, und zwar in unberechenbarem Umfang, weil sich hier nicht, wie sonst aus der normalen Situation, von selbst eine vernünftige Abgrenzung im Lauf der Zeit ergibt. Eine Kompetenz in dem Sinne, daß tatbestandsmäßig genau durch ein vorhergehendes Gesetz die Befugnis umschrieben wäre, liegt daher nicht vor. Aber es gehört zum konsequent rechtsstaatlichen Denken und wird durch die geschichtliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts bestätigt, daß für diesen Fall eben besondere Arten von Abgrenzungen gesucht und gefunden werden. So bildet sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine typische Gestaltung des Kriegs-, Belagerungs- oder Ausnahmezustandes, der den Charakter eines wirklichen Rechtsinstituts gewann. A n die Stelle einer allgemeinen grenzenlosen Ermächtigung zu allen nach Lage der Sache für nötig erachteten Maßnahmen trat eine Aufzählung: Ubergang 2

o n

S. 10

.

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der vollziehenden Gewalt (d. h. Konzentration der bestehenden Zuständigkeiten, ohne daß diese selbst erweitert wurden), Möglichkeit der Suspension gewisser Verfassungsbestimmungen (d. h* inhaltliche Erweiterung der Zuständigkeiten), Rechtsverordnungsrecht, Strafschärfungen und Zulässigkeit außerordentlicher Gerichte (Stand- und Kriegsgerichte). Seit der Französischen Revolution entsteht auf solche Weise der Belagerungszustand als rechtlich organisierte Einrichtung, und die kommissarische Diktatur wird in die rechtsstaatliche Entwicklung einbezogen23. Die Eigenart der Regelung des Art. 48 Abs. 2 Sich dieser Entwicklung anzupassen, und zwar durch eine Umschreibung der zulässigen Befugnisse, der Voraussetzungen wie der Wirkungen des Ausnahmezustandes, war die Absicht, die man mit dem Hinweis auf das nach Abs. 5 zu erlassende Reichsgesetz verfolgte. Darum sprach Graf Dohna von der bis zum Erlaß dieses Gesetzes bestehenden „Lücke" und verlangte, daß in dem Gesetz insbesondere die Zulässigkeit von außerordentlichen Gerichten in ähnlicher Weise geregelt werde wie im früheren Kriegs- und Belagerungszustandsgesetz. Die in Abs. 5 vorgesehene nähere Regelung soll also nicht Nebensächlichkeiten und Beiläufigkeiten betreffen, sondern muß notwendig die bis dahin bestehende allgemeine Befugnis aus Abs. 2 Satz 1 einschränken. Die nähere Regelung wird, rechtsstaatlich gesprochen, die eigentliche Regelung sein. Bis dahin allerdings besteht ein Provisorium. Die mehrfach mitgeteilten Äußerungen aus der Entstehungsgeschichte, namentlich v. Delbrücks und des Grafen Dohna, heben das auch hervor und unterscheiden den „bis dahin", d. h. vom Inkrafttreten der Verfassung bis zur näheren Regelung, bestehenden von dem durch diese Regelung zu schaffenden Rechtszustand. Dies „bis dahin" ist der Kern der Erklärungen 24 . Die Eigenart der zwischenzeitlich geltenden Befugnis 23

Ü b e r die Einzelheiten dieser E n t w i c k l u n g vgl. oben S. 175 ff. V g l . ferner n o c h als besonders deutlich die Äußerungen des A b g e o r d neten Haas i n der 112. Sitzung der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o m 29. O k t o b e r 1919 (Sten. Ber., Bd. 330, S. 3563). Treffend RGStr. 57, S. 190: „ D a . . . die Bestimmungen des A r t . 48 Abs. 2 - 5 n i c h t etwa n u r einen Programmsatz enthalten, sondern u n m i t t e l b a r Recht schaffen u n d selbst dem Reichspräsidenten sowie den Landesregierungen die umfassendsten Befugnisse verleihen, so besteht die Aufgabe des vorbehaltenen Reichsgesetzes nicht darin, die i m A r t . 48 erwähnten Befugnisse erst z u begründen, oder neben ihnen neue z u schaffen, sondern die verliehene, bis z u m Erlaß des Reichsgesetzes nahezu unbeschränkte diktatorische G e w a l t zu beschränken u n d z u u m grenzen." R i c h t i g auch F. H a l l e , a. a. O . S. 3 8 / 3 9 ; u n r i c h t i g Grau, a. a. O . S. 110. 24

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aus Art. 48 Abs. 2 Satz 1 liegt darin, daß einerseits die souveräne Diktatur der verfassunggebenden Versammlung mit dem Inkrafttreten der Verfassung aufhört, andererseits eine der typischen rechtsstaatlichen Entwicklung entsprechende Umgrenzung der kommissarischen Diktatur noch nicht erfolgte, weil man sich, angesichts der abnormen Lage des Deutschen Reiches, einen weiteren Spielraum sichern wollte. Es wäre unrichtig, aus dem Vorbehalt der näheren Regelung in Abs. 5 zu schließen, daß Art. 48 Abs. 2 überhaupt noch nicht geltendes Recht geworden sei; ebenso unrichtig wäre es, diesen Vorbehalt zu ignorieren und den Abs. 2 zu behandeln wie eine abgeschlossene und definitive Regelung. Bis zu dieser Regelung besteht eine besondere Rechtslage, die Graf Dohna in der Sitzung vom 5. Juli 1919 trotz der durch Reichsregierung und Reichstag ausgeübten Kontrolle auf die Dauer „doch bedenklich" fand, die aber jedenfalls zunächst einmal besteht. Die Diktatur des Reichspräsidenten — man darf seine außerordentlichen Befugnisse so nennen — ist infolge des bloßen Umstandes, daß die Verfassung in Kraft trat, notwendig eine kommissarische. Aber sie ist absichtlich weit gelassen, und in der Sache, nicht in ihrer rechtlichen Begründung, wirkt sie wie das Residuum einer souveränen Diktatur der Nationalversammlung. Folgen einer Hinauszögerung der in Abs. 5 vorgesehenen, näheren Regelung Man kann sagen, daß erst die reichsgesetzliche Regelung des Abs. 5 die Verfassung organisatorisch abschließt. Eine weitere Frage wäre, ob eine staatsrechtliche Verpflichtung zum Erlaß dieses Gesetzes besteht. Ähnlich wie im Völkerrecht eine Regierung zur Einbringung einer Gesetzesvorlage und zur Herbeiführung eines Gesetzes verpflichtet sein kann, wäre auch innerstaatlich eine entsprechende öffentlich-rechtliche Pflicht denkbar. Das bewußte Verschleppen eines Gesetzes kann verfassungswidrig sein und könnte eine Anklage vor dem Staatsgerichtshof nach Art. 59 RV. zur Folge haben. Doch wird die Reichsregierung sich stets darauf berufen können, daß der Reichstag entweder eine ernstliche Aufforderung zur Einbringung einer solchen Gesetzesvorlage ergehen lassen oder von seinem Initiativrecht Gebrauch machen soll. Unterläßt er beides, so liegt einer der vielen Fälle vor, die sich in der Praxis des heutigen Parlamentarismus öfters ergeben, wenn das nicht aktionsbereite Parlament ein bestimmtes Vorgehen der Regierung stillschweigend ermöglicht, um nicht selbst zu einer Entscheidung gezwungen zu sein. In der Sache handelt es sich dabei um Ermächtigungen. Der Zustand der heutigen Parlamente entwickelt neben den zahlreichen offenen Ermächtigungen ein ganzes System ver-

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schleierter Delegationen. Wenn etwa der preußische Landtag sich vertagt, damit die Regierung während der Vertagung die Möglichkeit wahrnimmt, eine Notverordnung nach Art. 55 PrV. zu erlassen, so ist das ein besonders deutliches Beispiel für den Wandel, der in der ratio staatsrechtlicher Formen und Einrichtungen eintreten kann. Ähnlich wirkt es, wenn die Herbeiführung des in Art. 48 Abs. 5 vorgesehenen Reichsgesetzes vom Reichstag absichtlich unterlassen wird, damit Reichspräsident und Reichsregierung ungehindert Verordnungen erlassen und Maßnahmen treffen können, die der Reichstag selbst weder erlassen noch nach Art. 48 Abs. 3 außer Kraft setzen möchte. Es besteht die Gefahr, daß alle verfassungsmäßigen Einrichtungen und Kontrollen ihrem Sinn verlieren und die Verfassung sich bei solcher Praxis auflöst. Darauf näher einzugehen würde den Rahmen dieses Referates überschreiten. Hier genügt die Feststellung: bei unabsehbarer Hinauszögerung des in Abs. 5 vorgesehenen Reichsgesetzes könnte die Regelung des Art. 48 Abs. 2 ihren Charakter ändern, weil eine rechtsstaatliche, republikanische Verfassung nicht an einem wesentlichen Punkte ein Provisorium für unabsehbare Zeit offenlassen kann. Doch reicht die bis jetzt abgelaufene Zeit wohl noch nicht aus, um diese Mutation eintreten zu lassen. Vorläufig wird man noch nicht sagen können, daß die in Abs. 5 vorgesehene nähere Regelung dauernd auf unabsehbare Zeit verschoben ist.

III Allgemeine Grenzen der Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 Es war notwendig, das eigenartige Provisorium des Art. 48 Abs. 2 verfassungsrechtlich von anderen weitgehenden Befugnissen und staatsrechtlichen Möglichkeiten zu unterscheiden. Dadurch wurde klar, daß hier im Rahmen einer rechtsstaatlichen, republikanisch-demokratischen Verfassung eine außerordentlich weitgehende Befugnis offengelassen ist, die aber trotzdem auf dieser Verfassung selbst beruht und sie voraussetzt. Es mag politisch möglich sein, den Art. 48 zur Beseitigung der Weimarer Verfassung zu benutzen, so wie 1851 in Frankreich die Stellung des Staatspräsidenten benutzt wurde, um durch einen Staatsstreich eine andere Verfassung einzuführen. Aber auf verfassungsmäßigem Wege nach Art. 48 das Deutsche Reich aus einer Republik in eine Monarchie zu verwandeln ist unmöglich. Die Befugnis des Reichspräsidenten beruht auf einer Verfassungsbestimmung. M i t Hilfe einer solchen Befugnis auf einem anderen als dem in der Verfassung geregelten Weg der Verfassungsänderung, also anders als nach Art. 76, die Verfassung zu

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ändern wäre verfassungswidrig. Damit sind keineswegs Maßnahmen des Reichspräsidenten ausgeschlossen, welche in einzelne Verfassungsbestimmungen eingreifen und dadurch Ausnahmen schaffen, ohne die Verfassung aufzuheben. Solche (von E. Jacobi so bezeichneten25) Durchbrechungen einzelner Verfassungsartikel sind keine Änderungen der Verfassung, setzen sie nicht außer Kraft und heben sie nicht auf. Sie sind das typische Mittel der Diktatur: durch eine Ausnahme von Verfassungsbestimmungen die Verfassung selbst als Ganzes zu retten. a) Die Verfassung als Voraussetzung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung Cf Die Verfassung bleibt als Ganzes nicht nur der Zweck aller Maßnahmen des Art. 48. Sie ist auch als Grundlage seiner Voraussetzungen maßgebend. Sie bestimmt die fundamentale Organisation eines Staates und entscheidet darüber, was Ordnung ist. Nicht jede Verfassungsbestimmung hat dabei die gleiche faktische Bedeutung, und es war, politisch gesprochen, ein gefährlicher Mißbrauch, die Verfassung zu benutzen, um alle möglichen Herzensangelegenheiten als Grundrechte und Quasi-Grundrechte in sie hineinzuschreiben. Wesentlich ist jeder Verfassung die Organisation. Dadurch wird die Einheit des Staates als einer Ordnung geschaffen. Die Verfassung besagt, was normale Ordnung im Staate ist. Ihre Aufgabe und ihr Wert besteht darin, den Streit über das, was öffentliches Interesse, öffentliche Sicherheit und Ordnung ist (welche Frage von den verschiedenen Interessen und Parteien sehr verschieden beantwortet wird, so daß es den Staat auflösen müßte, wenn jeder selbst darüber entscheidet), grundlegend zu entscheiden. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist nicht nur polizeirechtlich von Interesse, er ist auch eine Kategorie des Verfassungsrechts. Es wäre politisch naiv und juristisch falsch, hier einen idyllischen und vormärzlichen Begriff von Ruhe und Sicherheit zu gebrauchen und zu versuchen, mit verwaltungsrechtlichen Vorstellungen, wie sie das Polizeirecht im Interesse einer rechtsstaatlichen Beschränkung der Polizei herausgebildet hat, eine den ganzen Staat umfassende Diktatur zu meistern 26 . Was der Staat als Ganzes ist, 25

D i e D i k t a t u r des Reichspräsidenten, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H e f t 1, Berlin u n d L e i p z i g 1924, S. 109. 26 N u r m i t einem W o r t sei darauf hingewiesen, daß die v o n der V e r w a l tungsrechtslehre u n d -praxis entwickelten Grundsätze polizeilichen V o r g e hens für die D i k t a t u r nicht maßgebend sind. Das gilt z. B. namentlich für den Grundsatz, daß die A k t i o n sich zunächst n u r gegen den Störer richten 1

C. Schmitt, Die

Diktatur

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entscheidet eben die Verfassung im Hinblick auf eine als normal vorausgesetzte Sachlage. In Art. 48 Abs. 2 ist eine abnorme Situation vorausgesetzt und daher eine außergewöhnliche Befugnis erteilt, um die Herstellung der normalen Situation zu ermöglichen. Aber Art. 48 ist nur Bestandteil einer in Kraft getretenen Verfassung. Was normal ist, ebenso die Entscheidung darüber, was öffentliche Sicherheit und Ordnung ist, kann daher nach Art. 48 nicht unter Ignorierung der Verfassung getroffen werden. Ebensowenig kann eine verfassungsmäßige Einrichtung als solche die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden und mit der Begründung, daß dies zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötig sei, nach Art. 48 beseitigt werden. In der Form, wie die Zeitungsberichte eine Äußerung von Kahrs aus seiner Vernehmung vor dem Münchener Volksgericht vom 11. März 1924 brachten: nach Art. 48 könne ein Direktorium gebildet werden und es sei „wohl möglich", auf Grund dieses Artikels die ganze Reichsverfassung außer Kraft zu setzen („das wird wohl möglich sein, das ist eine reine Rechtsfrage"), ist die Auffassung rechtsirrig. N u r die aufgezählten sieben Grundrechte des Satz 2 können außer Kraft gesetzt werden. Weder andere Verfassungsbestimmungen noch die Verfassung als Ganzes lassen sich verfassungsmäßig mit Hilfe dieses Artikels beseitigen27. Neben andern, im folgenden zu entwickelnden Gründen namentlich deshalb nicht, weil der fundarf, oder für die Gesichtspunkte des polizei-rechtlichen Notstandes, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ( w e n n er mehr sein soll als eine Banalität), die Unterscheidung v o n individueller u n d genereller Gefahr usw. Es ist ein Unterschied, ob es sich u m die Voraussetzung für ein übersehbares Verfahren handelt (wie i m Falle polizeilichen Vorgehens nach § 10 I I 17 A L R . ) oder u m die Voraussetzungen eines Verfahrens, bei welchem alles geschehen kann, was nach Lage der Sache erforderlich ist. Daß dieser prinzipielle Unterschied polizeilicher u n d diktatorischer Befugnisse verkannt ist, gibt den A u s f ü h r u n g e n des Buches v o n G r a u ihre eigenartige Enge. — N u r als K u r i o s u m mag ein Aufsatz aus der K ö l n . Ztg. v o m 23. Februar 1924 erwähnt werden, w o ein Jurist die V e r o r d n u n g v o m 8. Dez. 1923 z u r A b ä n d e r u n g des Okkupationsleistungsgesetzes für nichtig erklärt, w e i l die Betroffenen nicht die Störer seien. Bei „weitestgehender, höchst bedenklicher Auslegung des A r t . 48 der R V . , die allerdings weder i m W o r t l a u t n o c h i n der Geschichte eine Stütze f i n d e t " , dürfe der Reichspräsident vielleicht auch „die Pflichten der Staatsbürger, die nicht stören", erhöhen, aber auch das gelte hier nicht usw. 27

Beyerle i n der 407. Reichstagssitzung v o m 7. M ä r z 1924 (Berichte, S. 12676): „ V o r einigen M o n a t e n , als alles auf die D i k t a t u r losging, hat man sich einige Zeit ernsthaft m i t der Idee getragen, daß der Reichspräsident einfach als Maßregel des Ausnahmezustandes über A r t . 48 der R V . eine ganz neue Verfassung geben könne. Das w i r d v o n staatsrechtlicher Seite m i t Recht zurückgewiesen."

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damentale Begriff des Art. 48, öffentliche Sicherheit und Ordnung, sich immer nur im Hinblick auf die Verfassung selbst bestimmen läßt. Daß das Deutsche Reich eine Republik ist, kann also im Sinne von Art. 48 niemals eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bedeuten. Etwas anderes ist es, ob zur Beseitigung einer der Verfassung drohenden Gefahr ein Verfassungsartikel durchbrochen oder ob ein verfassungswidriger Mißbrauch verfassungsmäßiger Institutionen verhindert werden kann. Hier läßt der Artikel allerdings einen außerordentlich weiten Spielraum für selbständige Entscheidungen über das, was wirklich verfassungsmäßig ist. Zunächst aber kommt es hier darauf an, die erste allgemeine Schranke der Befugnis aus Art. 48 festzustellen. Sie beruht darauf, daß verfassungsmäßige Einrichtungen als solche und die Verfassung als Ganzes niemals eine Gefährdung im Sinne einer Verfassungsbestimmung bedeuten können.

b) Das in Art. 48 enthaltene unantastbare organisatorische Minimum Für alle nach Art. 48 Abs. 2 Satz 1 zu treffenden Maßnahmen, auch solche tatsächlicher Art, besteht eine weitere absolute Grenze, welche dadurch bestimmt wird, daß Art. 48 in sich ein Minimum von Organisation enthält, welches infolgedessen in seinem Bestand und seinem Funktionieren nicht behindert werden darf. Der Artikel begründet zunächst eine Zuständigkeit, und zwar die des Reichspräsidenten. Was das Wort Reichspräsident bedeutet, ergibt sich wiederum nur aus der Verfassung selbst. Zuständig für die nach Art. 48 möglichen Maßnahmen ist rechtmäßigerweise nur der verfassungsmäßige Reichspräsident, nicht etwa eine durch Art. 48 selbst zu einer der Präsidentenstellung entsprechenden Position gelangte Persönlichkeit. Der Reichspräsident könnte auch nicht auf Grund dieses Artikels seine eigene Amtsdauer verlängern oder sonstwie einen tatsächlichen Zustand zu schaffen versuchen, der das verfassungsmäßige Institut des Reichspräsidenten tatsächlich ändert. Darin liegt der erste grundlegende und unaufhebbare Zusammenhang mit der geltenden Verfassung. — Die Maßnahmen aus Art. 48 bedürfen ferner nach Art. 50 RV. der Gegenzeichnung eines Reichsministers. Ein von dieser Gegenzeichnung und damit der Kontrolle der Reichsregierung unabhängiger Präsident wäre nicht mehr Reichspräsident im Sinne der Verfassung. Auch die Reichsregierung muß also unter allen Umständen bestehenbleiben und zwar in ihrer verfassungsmäßigen Gestalt, d. h. als eine Regierung, welche nach Art. 54 RV. zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedarf. Maßnahmen des Reichspräsidenten, die nach 1

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Art. 48 Abs. 2 eine Landesregierung suspendieren, Landesministern die Ausübung ihrer Amtstätigkeit verbieten und andere Personen mit der Geschäftsführung betrauen, also Maßnahmen, wie sie gegen Thüringen (Verordnung vom 22. März 1920 und vom 10. April 1922) und gegen Sachsen (Verordnung vom 29. Oktober 1923) getroffen wurden, sind nach Art. 48 Abs. 2 zulässig. Die gleichen Maßnahmen wären gegenüber der Reichsregierung unzulässig, weil die Reichsregierung ein Bestandteil jenes in der Regelung des Ausnahmezustandes durch Art. 48 selbst vorausgesetzten organisatorischen Minimums ist, das auch im Wege tatsächlicher Maßnahmen nicht beseitigt oder behindert werden darf. Daß Reichskanzler und Minister nach Art. 53 RV. vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen werden, kann den politischen Einfluß des Reichspräsidenten in Verbindung mit Art. 48 ins Ungemessene steigern, wenn der Reichstag nicht versammelt ist oder wenn ausdrückliche Mißtrauensbeschlüsse infolge wechselnder Koalitionen erschwert sind. Indessen ändert dies nichts daran, daß verfassungsmäßig die Kontrolle einer vom Vertrauen des Reichstags getragenen Regierung bestehenbleiben muß. — Zu dem unantastbaren Organisationsminimum des Art. 48 gehört endlich neben Reichspräsident und Reichsregierung der Reichstag und zwar ebenfalls so, wie er als verfassungsmäßiges Institut nach der Verfassung von 1919 besteht. Auch hier kann die politische Macht des Reichspräsidenten sehr groß werden, wenn sich die politischen Möglichkeiten des Art. 48 mit anderen verfassungsmäßigen Möglichkeiten verbinden. Das ist in einer für einen republikanischen Staatspräsidenten ganz ungewöhnlichen Weise der Fall, sobald der Reichstag nach Art. 25 RV. aufgelöst ist. (Denn der nach Art. 35 Abs. 2 zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung bestellte sogenannte Uberwachungsausschuß kann weder ein Mißtrauensvotum nach Art. 54 beschließen noch Außerkraftsetzung von Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 3 verlangen.) Aber der Reichspräsident dürfte nicht unter Berufung auf Art. 48 verhindern, daß der neue Reichstag in der verfassungsmäßigen Frist gewählt wird und sich versammelt. Er darf die in Art. 25 Abs. 2 für Neuwahlen festgesetzte Frist von 60 Tagen nicht aufheben oder verlängern, er darf nicht im Verordnungswege in das verfassungsmäßige Wahlrecht eingreifen und seine Ausübung nicht durch Maßnahmen verhindern oder die in Art. 125 RV. garantierte Wahlfreiheit beseitigen. Wohl aber darf er Maßnahmen treffen, welche nach seinem Ermessen die Wahlfreiheit sichern, und er entscheidet nötigenfalls darüber, worin im konkreten Fall die Wahlfreiheit besteht. Er darf nicht (vielleicht unter Berufung auf die Erfordernisse einer Stabilhaltung der Währung als Sparmaßnahme) die Zahl der Abgeordneten auf Grund Art. 48 Abs. 2 herabsetzen, und es wäre nicht einmal zulässig, mit Hilfe dieses beliebten Arguments den

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Reichstagsabgeordneten das verfassungsmäßige Recht der freien Fahrt auf allen deutschen Eisenbahnen und auf Entschädigung zu nehmen. Auch die Immunitäten der Reichstagsabgeordneten (nicht der Landtagsabgeordneten) sind vor Maßnahmen aus Art. 48 geschützt. Allerdings nur in dem engsten Rahmen der Art. 36-38 RV. Versammlungen zur Berichterstattung vor den Wählern würden nicht darunterfallen 28 , erst recht nicht Parteiorganisationen und Parteiversammlungen im allgemeinen. Sollte sich der äußerste Fall ereignen, daß Wahlen überhaupt unmöglich sind oder der Reichstag tatsächlich nicht mehr zusammentreten könnte, etwa weil der größte Teil des deutschen Gebietes vom Feinde besetzt wäre oder aus ähnlichen extremen Gründen, so würde Staatsnotrecht in Frage kommen, nicht aber die verfassungsmäßige Befugnis aus Art. 48. c) Beschränkung auf Maßnahmen und Begriff

der Maßnahme

Eine letzte Schranke läßt sich für die Befugnis des Reichspräsidenten dadurch aus dem Art. 48 selbst entnehmen, daß der Reichspräsident nur Maßnahmen treffen kann. Das Wort Maßnahmen ist vielleicht nicht unabsichtlich gewählt, nachdem der Entwurf Preuß (§ 63) und der erste Regierungsentwurf noch von „Anordnungen" gesprochen hatten. In der 147. Sitzung der Nationalversammlung vom 3. März 1920 (Bd. 332, S. 4642) hatte der Abgeordnete Dr. Cohn erklärt: „Zunächst — und ich rufe hier das Zeugnis aller Mitglieder des Verfassungsausschusses an — hat, als wir die Verfassung berieten, niemand von uns auch nur entfernt mit der Möglichkeit gerechnet, daß die Maßnahmen im Sinne des Art. 48, die der Reichspräsident zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treffen dürfte, etwas anderes seien als äußerliche Anordnungen zur Wiederherstellung eines gestörten Sicherheitsund Ruhestandes. Ganz klar tritt das hervor, wenn man bedenkt, daß, lediglich durch einen Nebensatz, durch ein Komma, von dem Hauptsatz getrennt, die Bestimmung eingeführt wird: erforderli28 V g l . den auf G r u n d des Antrags Koenen gefaßten Beschluß des Reichstags v o m 7. Juli 1923 (Drucksache N r . 6100): V o n den Ländern getroffene Verfügungen auf G r u n d v o n Ausnahmeverordnungen finden auf Abgeordente keine A n w e n d u n g . W ä h r e n d der Vertagung des Reichstags sollen Abgeordnete d u r c h keine Polizeimaßnahmen i n der A u s ü b u n g ihres Mandats gehindert werden, w o b e i Berichterstattung v o r den W ä h l e r n z u r A u s ü b u n g des Mandats gehören soll. I m übrigen bittet der Reichstag unter H i n w e i s auf das Wesen eines parlamentarischen Staates, die Abgeordneten i n der A u s ü b u n g ihres Mandates (einschließlich der A b h a l t u n g v o n W a h l versammlungen für Berichterstattung) nicht d u r c h Polizeimaßnahmen zu behindern.

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chenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten. Es stand uns allen — und das ist auch in aller Geschichte des Belagerungszustandes niemals anders gewesen — lediglich der Fall vor Augen, daß die jeweiligen Sicherheitsorgane des Staates nicht ausreichen könnten, die Ordnung wiederherzustellen und dazu besondere Maßnahmen, insbesondere die Aufbietung der Reichswehrtruppen nach Meinung des Reichspräsidenten nötig werden könnten." Dieser für die Entstehungsgeschichte des Art. 48 Abs. 2 sehr wichtigen Äußerung liegt eine alte rechtsstaatliche Vorstellung zugrunde, daß nämlich die unmittelbare Aktion, das vi armata procedre und jedes bloß faktische Vorgehen, getrennt werden muß von einem normalen, formalisierten Rechtsverfahren. In derselben Sitzung der Nationalversammlung hat der Reichsjustizminister Schiffer dem Abgeordneten Dr. Cohn erwidert, daß eine Einschränkung hinsichtlich der Maßnahmen nicht vorgesehen sei und infolgedessen Maßnahmen aller Art, der Gesetzgebung, der Verwaltung wie auch rein tatsächliche Maßnahmen und Vorkehrungen zulässig wären und daß der Abgeordnete Dr. Cohn selbst zugestanden habe, der Reichspräsident könne gegen bestehende Gesetze Maßnahmen treffen. Doch hatte Dr. Cohn immer nur von Maßnahmen gesprochen, und die hierfür gebrauchten Beispiele — Beschießung von Städten, Belegung mit giftigen Gasen usw. — sind besonders typische und krasse Fälle des vi armata procedere im Gegensatz zu rechtsförmigen Handlungen. Leider hält sich die Replik, die der Abgeordnete dem Reichsjustizminister in jener Sitzung gab, nicht bei der eigentlichen Frage und betont nur, daß er die weitgehenden Befugnisse des Reichspräsidenten nicht für nötig erachte, was hier nicht weiter interessiert. Für das rechtliche Denken bleibt aber bestehen, daß nicht jeder rechtlich bedeutsame A k t eine Maßnahme ist. Bezeichnenderweise spricht der Reichsjustizminister in seiner Darlegung wohl von Maßnahmen der Gesetzgebung und der Verwaltung, nicht aber von der Justiz. Hier, auf dem Gebiet der Rechtspflege, tritt nämlich der begriffliche Unterschied, den alles rechtsstaatliche Denken machen muß, klar hervor. Ein in geregeltem Verfahren entstandenes, formgerechtes richterliches Urteil wird kein Jurist eine Maßnahme nennen. Es steht wesentlich in einem Gegensatz zur Maßnahme. Zu dieser gehört, daß das Vorgehen in seinem Inhalt durch eine konkret gegebene Sachlage bestimmt und ganz von einem sachlichen Zweck beherrscht ist, so daß es nach Lage der Sache von Fall zu Fall verschiedenen Inhalt und keine eigentliche Rechtsform hat. Sein Maß ist nicht eine im voraus bestimmte generelle Entscheidungsnorm, wie das beim richterlichen Urteil der Fall ist und wie es überhaupt die Gerechtigkeit des Urteils ausmacht. Auch die Unabhängigkeit des Richters beruht darauf, daß er an der Hand einer

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richtigen Norm, nicht nach einem konkreten Befehl oder im Dienst eines politischen Zweckes urteilt. Unabhängigkeit von solchen konkreten Befehlen und Abhängigkeit von vorausbestimmten Normen sind Korrelate. Dieser Grundgedanke richterlicher Tätigkeit wird getrübt, wenn der Richter als ein Mittel konkreter, praktisch-politischer Zwecke benutzt wird, wenn ein Tribunal nicht nach gerechten, im voraus gegebenen Normen, sondern so entscheiden soll, wie es zur Erreichung des politischen Zweckes im gegebenen Fall das wirksamste Mittel ist. Das richterliche Urteil soll eben gerecht, von der Rechtsidee beherrscht sein. Die Eigenart der Maßnahme aber besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. Die Maßnahme ist also ihrem Begriffe nach durchaus beherrscht von der clausula rebus sie stantibus 29 . Ihr Maß, d. h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall nach Lage der Sache. Ebensowenig wie das richterliche Urteil kann eine Rechtsnorm Maßnahme sein, wenn sie wesentlich ein Rechtsprinzip zum Ausdruck bringen, d. h. vor allem gerecht, von der Rechtsidee beherrscht sein will. Sie ist dann mehr und etwas anderes als eine bloß sachgemäße, nach Lage des Falles getroffene Vorkehrung. Die Orientierung auf ein rechtliches Prinzip, statt auf eine von Fall zu Fall zu bemessende konkrete Zweckmäßigkeit, gibt einer solchen N o r m ihre besondere Würde und unterscheidet sie von der Maßnahme. Das bürgerliche Gesetzbuch ist keine Maßnahme. Seine Prinzipien wollen mehr sein als eine nach Lage der Sache bestimmte Zweckmäßigkeit. Bei den Grundsätzen des Familien- und Erbrechts ist das besonders deutlich. Ebensowenig kann man eine Verfassung Maßnahme nennen, weil sie prinzipiell als die Grundlage des Staates gelten will. Eine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinne des Wortes ist infolgedessen niemals eine Maßnahme. Es führt zu einer ungeheuerlichen Verwirrung, die den Rechtsstaat ebenso auflösen muß, wie ein Mißbrauch des Art. 48, wenn der in Art. 76 RV. vorgesehene Weg einer Verfassungsänderung für Maßnahmen benutzt wird, welche die Verfassung durchbrechen, ohne sie zu ändern. Ich würde es z. B. für verfassungswidrig halten, wenn der Reichstag, ohne den Verfassungstext zu ändern, für einen einzelnen Fall, statt nach Art. 25 auf Anordnung des Reichspräsidenten, durch eigenen Beschluß sich selber auflösen wollte oder 29

N a c h d e m die letzten Jahre der Rechtspraxis u n d der Rechtsliteratur angefüllt sind v o n zahllosen Gelegenheitsäufeerungen über die clausula rebus sie stantibus, m u ß hier wenigstens hingewiesen werden auf eine w a h r haft systematische Behandlung der Frage, das B u c h v o n E r i c h Kaufmann: „ D i e clausula rebus sie stantibus u n d das Wesen des V ö l k e r r e c h t s " , T ü b i n gen 1911.

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wenn er den Reichspräsidenten unter Umgehung des in Art. 43 geregelten Verfahrens durch einen nach Art. 76 erfolgenden Beschluß absetzte. Hier wäre die Form der Verfassungsänderung für bloße Maßnahmen mißbraucht. Umgekehrt sind Verfassungsänderungen keine Maßnahmen und abgesehen von allen andern Gründen auch deshalb nach Art. 48 nicht zulässig30. Der Unterschied wird nicht dadurch aufgehoben oder gegenstandslos, daß das Wort Maßnahme nicht auf äußerliche Vorkehrungen im engsten Sinne beschränkt ist. Auch generelle Anordnungen können als Maßnahmen getroffen werden und sind nach Art. 48 zulässig. Der Reichspräsident kann eine Maßnahme treffen, indem er eine Verordnung erläßt. Solche Verordnungen wirken wie Gesetze, insofern sie für Behörden wie für Staatsbürger bindende Befehle sind. Sie können auch für den Richter die Entscheidungsnorm werden, auf deren Grundlage ein richterliches Urteil ergeht, wenn sie nur äußerlich den Charakter genereller, im voraus bestimmter Anordnungen tragen. Eine Maßnahme kann die Grundlage eines Rechtsaktes sein, der keine Maßnahme mehr ist, weil er durch ein rechtsförmiges Verfahren hindurchgegangen und dadurch aus der unmittelbaren Abhängigkeit von der gegebenen Sachlage befreit ist. Generelle Anordnungen sind demnach in ihrer Wirkung auf Behörden und Staatsbürger praktisch nicht mehr zu unterscheiden. Es wäre aber unrichtig, wegen dieser einen Wirkung die rechtswissenschaftliche Unterscheidung überhaupt aufzugeben. In andern Fällen tritt nämlich die praktische Bedeutung wieder auf (vgl. unten S. 247/48), bei Maßnahmen, welche generelle Anordnungen sind, zeigt sie sich besonders darin, daß das Recht, solche Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 2 zu treffen, kein allgemeines Notverordnungsrecht, d. h. kein provisorisches Gesetzgebungsrecht ist. Dieses ermöglicht in eiligen Fällen Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft, die von den normalen Gesetzgebungsorganen bestätigt werden müssen. Dabei kann es sich, trotz der Eile, um eine durchaus von der Rechtsidee beherrschte, prinzipielle Normierung handeln, die mit dem Anspruch auftritt, nicht nur eine Vorkehrung, sondern eine in der Sache definitiv richtige, rechtliche Normierung zu sein. Die Notverordnung ist, wenn auch nur provisorisch, Gesetz im eigentlichen Sinne. Es ist nicht der Zweck des Abs. 2, dem Reichspräsidenten ein solches allgemeines Notverordnungsrecht zu geben. Soweit die Notverordnung allerdings nichts ist als eine Maßnahme, und das wird in den meisten Fällen so sein, 30

Es kann also auch nicht, w e n n das aus G r ü n d e n der auswärtigen P o l i t i k n o t w e n d i g erscheint, etwa A r t . 83, 88 oder 89 R V . auf G r u n d v o n A r t . 48 aufgehoben werden, u m einen Reparationsplan durchzuführen, für den sich keine verfassungsändernde M e h r h e i t findet.

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kann auch der Reichspräsident sie — inhaltlich gleich — erlassen. N u r ist das keine provisorische Gesetzgebung, sondern die davon zu trennende Befugnis, alle nötigen Maßnahmen, darunter auch allgemeine Befehle an Behörden und Staatsbürger, zu treffen. Der Reichspräsident kann nach Art. 48 Abs. 2 kein richterliches Urteil sprechen, weil ein solches keine Maßnahme ist. Er könnte keine neuen Familien- und erbrechtlichen Prinzipien einführen, weil das über eine Maßnahme hinausgeht. Es wäre auch unrichtig, einen doppelten verfassungsmäßigen Gesetzgeber anzunehmen, den ordentlichen des Art. 68 und einen außerordentlichen des Art. 48. Der Reichspräsident ist kein Gesetzgeber. Er kann alle die Akte nicht vornehmen, welche durch verfassungsmäßige Bindung an ein bestimmtes Verfahren eine solche Rechtsförmigkeit erhalten haben, daß sie aufhören, ausschließlich durch die Lage der Verhältnisse bestimmt zu werden, also Maßnahmen zu sein. Er kann nicht ein formelles Gesetz nach Art. 68 der Verfassung erlassen. Es ist ihm ferner nicht möglich, auf Grund von Art. 48 gemäß Art. 45 RV. den Krieg zu erklären, gemäß Art. 85 den Haushaltsplan festzustellen oder das in Art. 18 vorgesehene Reichsgesetz als Maßnahme zu treffen. Die Verfassung selbst hat durch eine Formalisierung solche Akte aus der Reihe der Maßnahmen herausgenommen. Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden, kommen vielleicht im praktischen Resultat und in ihren Folgewirkungen derartigen Akten nahe, niemals aber rechtlich an Bedeutung und Wirkung gleich. Eine auf Grund von Art. 48 Abs. 2 ausgesprochene Kriegserklärung wäre völkerrechtlich keine Kriegserklärung. Der Reichspräsident könnte natürlich tatsächlich so vorgehen, daß im Ergebnis ein Krieg entsteht. Das kann man aber der hier vorgeschlagenen Unterscheidung keineswegs entgegenhalten, wenigstens nicht als juristisches Argument, denn die Möglichkeit, ohne formelles Gesetz einen Krieg herbeizuführen, hat auch die Reichsregierung, und zwar auch ohne Art. 48. Dieselbe tatsächliche Möglichkeit hat vielleicht, bei gespannter politischer Lage, irgendein Unteroffizier, der seinen Leuten befiehlt, die Grenze zu überschreiten und zu schießen. Solche Einwendungen haben mit Jurisprudenz nichts mehr zu schaffen. Aus der politischen Ausnützung rechtlicher Möglichkeiten entstehen unter Umständen bei jeder Verfassungsbestimmung, nicht nur bei Art. 48, unberechenbare Folgen. Dadurch ist die juristische Brauchbarkeit der Unterscheidung nicht widerlegt. Niemals wird die Rechtswissenschaft das, was in einem geregelten ordentlichen Verfahren formgerecht geschieht, mit dem Resultat einer bloßen Maßnahme gleichsetzen, mag der tatsächliche Erfolg noch so sehr übereinstimmen. Die rechtspraktische Bedeutung des Unterschiedes soll an folgendem Beispiel dargelegt werden: Der Reichspräsident

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kann trotz des Art. 129 RV. auf Grund von Art. 48 Beamten die Ausübung ihres Amtes untersagen und andere Personen mit der Führung der Geschäfte betrauen. Er kann, wie man mit einem ungenauen Ausdruck sagt, Beamte suspendieren oder ihres Amtes entheben. Indessen sind das nur Maßnahmen, sie haben tatsächliche und als befugte Maßnahmen auch rechtlich beachtliche Wirkung und haben selbstverständlich eine rechtliche „Kraft", aber nicht die spezifische Rechtskraftwirkung eines im Disziplinarverfahren ergangenen Urteils. Der durch eine Maßnahme des Reichspräsidenten oder seines Beauftragten des Amtes enthobene Beamte bleibt staatsrechtlich in einer beamtenrechtlichen Beziehung zu dem Staat oder der Gemeinde, welche ihn angestellt hat, seine rechtliche Stellung ist keineswegs identisch mit der eines im gesetzlich vorgesehenen Verfahren seiner Stellung enthobenen Beamten. Umgekehrt: wenn auf Grund von Art. 48 Personen mit der Führung von Amtsgeschäften betraut werden, so entsteht keine beamtenrechtliche Position, es entsteht auch nicht die Rechtslage eines Beamten im Sinne von Art. 129 und kein wohlerworbenes Recht. Die Stellung beruht auf einer Maßnahme und bleibt abhängig von dem, was jeweils nach Lage der Sache für zweckmäßig erachtet wird. Der besonderen Rechtskraft, wie sie einem richterlichen Urteil oder einem dem richterlichen Verfahren nachgebildeten verwaltungsgerichtlichen oder disziplinarrichterlichen Urteil, oder einem streng formalisierten A k t zukommt, ist weder jene Amtsenthebung, noch jene Amtsübertragung, noch irgendeine andere Maßnahme fähig.

Prinzipieller Unterschied von normalen Rechtserscheinungen und solchen des Ausnahmezustands Die strenge theoretische Trennung zwischen Maßnahme und anderen, von Rechtsidee und Rechtsförmigkeit beherrschten Akten oder Normen widerspricht wohl einer bestimmten Denkgewohnheit, die sich nicht gern von dem abbringen läßt, was sie der Einfachheit halber Positivismus nennt. Aber jede rechtswissenschaftliche Betrachtung einer Diktatur führt dazu, die alte Unterscheidung zu wiederholen, die für das rechtsstaatliche Denken grundlegend ist und überdies nach allen rechtsgeschichtlichen Erfahrungen jedesmal auftritt, wenn Juristen gezwungen sind, auf Prinzipien zurückzugehen, weil Ausnahmefälle und Ausnahmezustände nicht mit der Routine des Alltags erledigt werden können. Es handelt sich um das Prinzip des Rechtsstaats und des Rechtes überhaupt. Auch in der absoluten Monarchie, in der doch alles unterschiedslos auf dem einen Willen des souveränen Fürsten beruhen soll, war die Rechtspraxis gezwungen, um Recbtspraxis zu sein, zwischen bloßen

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Maßnahmen und Befehlen auf der einen und den in einem spezifischen Sinne rechtlichen Normen und Akten auf der andern Seite zu unterscheiden. Insbesondere wird diese Unterscheidung notwendig, wo unter Berufung auf den Ausnahmefall eine abnorme Situation durch Maßnahmen beseitigt werden soll. Hier kommt man rechtswissenschaftlich nicht damit aus, daß man den zweifellos richtigen Satz wiederholt, außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Mittel und dergleichen. „ I m Charakter des Ausnahmezustandes liegt es, daß er begrenzt ist; er ist eigentlich dazu da, um aufgehoben zu werden und Ausnahme zu bleiben 31 ." Das gilt nicht nur als äußerliche Redensart. In jedem rechtlichen Atom, wenn ich so sprechen darf, bleibt eine Anordnung, welche eine abnorme Situation voraussetzt, verschieden von dem Recht, das für die normale Sachlage gelten soll. Das Bewußtsein dieses Unterschiedes sollte wenigstens die Rechtswissenschaft nicht verlieren. Grenzen der Staatsrechtslehre gegenüber Art. 48 Abs. 2 Abgesehen davon, daß die Befugnis des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2 Satz 2 in sich beschränkt ist, weil selbstverständlich nur die aufgezählten Grundrechte außer Kraft gesetzt werden dürfen; abgesehen ferner davon, daß insoweit eine Einschränkung der Befugnis aus Satz 1 eintritt, als Maßnahmen, welche eine Außerkraftsetzung in dem entwickelten Sinn des Wortes enthalten, nur für die aufgezählten Grundrechte zulässig sind (vgl. oben S. 74), ergeben sich also drei Arten von Schranken für die Befugnisse des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2. Sie lassen sich aus der staatsrechtlich und verfassungsgeschichtlich eigenartigen Regelung des Art. 48 Abs. 2 und aus rechtsstaatlichen Prinzipien entwickeln. Die Sicherheit einer Abgrenzung, wie sie durch ein Gesetz erfolgt, welches die Befugnisse tatbestandsmäßig aufzählt, darf man von einem Provisorium, wie es die hier in Frage stehende Regelung bedeutet, nicht erwarten. Man ist als Jurist nicht berechtigt, die absichtliche Besonderheit dieser Regelung und den nachweisbaren Sinn einer Verfassungsbestimmung zu mißachten, um zu scheinbar bestimmteren Grenzen zu kommen. Das Unbefriedigende liegt nicht in der 31 D e r Reichskanzler i n der 392. Sitzung des Reichstags am 22. N o v e m ber 1923 (Berichte, S. 12191); ebenso der Reichsminister des I n n e r n am 5. M ä r z 1924 (405. Sitzung, Berichte, S. 12595): „Selbstverständlich ist, daß der Ausnahmezustand seinem N a m e n entsprechend eine Ausnahme bleiben u n d abgebaut werden muß, sobald es i m m e r die Verhältnisse erlauben". — D i e Frage ist selbstverständlich auch hier, w e r darüber entscheidet, was die Verhältnisse erlauben.

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rechtlichen Konstruktion, sondern in der Natur eines absichtlich offengelassenen Provisoriums. Daß politische Motive und Zwecke die Auslegung nur verwirren können, braucht nicht betont zu werden. Politisch gesprochen ändert sich die Bedeutung des Art. 48 fundamental, je nachdem man ihn als ein Mittel demokratischer oder monarchischer, unitarischer oder föderalistischer Tendenzen benutzen möchte und je nachdem, ob man hofft, seine weitgehenden Machtbefugnisse für die eigene Politik verwerten zu können, oder ob man fürchtet, der politische Gegner könnte sie mißbrauchen. Sobald die Auslegung sich in diese Sphäre begibt, hört jede Möglichkeit einer Verständigung auf. Etwas anderes ist es, wenn streng juristisch der rechtsstaatliche Gesichtspunkt festgehalten wird, daß gewisse Grenzen bestehen müssen. Darin liegt das berechtigte Motiv einer Auslegung, die aus der Aufzählung im Satz 2 einen Schluß auf eine allgemeine Beschränkung ziehen möchte. Nach allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien würde die richtige Abgrenzung erst durch die gesetzliche Aufzählung aller zulässigen Befugnisse geschaffen. Der Irrtum jener Auslegung besteht darin, daß sie, in ihrem Bedürfnis nach einer Abgrenzung, voreilig in irgendeiner Aufzählung des Gesetzestextes das Schriftwort entdeckt und den Ersatz für eine der rechtsstaatlichen Regelung entsprechende Aufzählung gefunden zu haben glaubt. Eine wirkliche rechtsstaatliche Schranke vermag sie auf solche Weise nicht herbeizuführen, und ihr eigentliches Ziel, die Verfassung vor einer schrankenlosen Diktatur zu retten, kann sie weder theoretisch noch praktisch erreichen, weil die verfassungsrechtliche und geschichtliche Besonderheit der in Art. 48 Abs. 2 geschaffenen Regelung nicht durch Konstruktionen aus der Welt geschafft werden kann. Es lassen sich brauchbare Grenzen entwickeln, ohne diese Eigenart zu ignorieren. Insbesondere ist keine Frage, daß die Verfassung selbst durch Art. 48 rechtmäßig nicht aufgehoben werden kann: eine Aufhebung der Verfassung oder auch nur eine Änderung des Verfassungstextes ist begrifflich kein Mittel zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und auch keine Maßnahme in dem hier entwickelten Sinne. Im übrigen kommt es nicht darauf an, für jede Einzelheit eine automatische Antwort zu haben. Die Verfassung selbst hat auf diese Art Präzision verzichtet und statt dessen Kontrollmittel geschaffen: ministerielle Gegenzeichnung und parlamentarisches Aufhebungsrecht. Gegen einen Mißbrauch des Abs. 4 durch die Landesregierungen ist ebenfalls eine Kontrolle vorgesehen in dem doppelten Anspruch auf Außerkraftsetzung, wie er dem Reichspräsidenten und dem Reichstag zusteht. Wenn die als Kontrolle gedachten Stellen sowohl gegenüber Abs. 2 wie Abs. 4 versagen, wenn insbesondere das Parlament in einem System ausdrücklicher oder stillschweigender Delegationen sich selbst aufhebt,

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so ist es wohl Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft, die rechtlichen Folgen dieser Praxis zum Bewußtsein zu bringen und Mißbräuche und Versäumnisse als solche zu kennzeichnen, nicht aber ist es Sache der staatsrechtlichen Konstruktion, daraufhin die Verfassung anders zu interpretieren, um womöglich mit den Mitteln juristischer Auslegungskunst neue Garantien zu schaffen. Was die zuständigen, höchsten staatlichen Organe unterlassen, kann die Staatsrechtslehre nicht nachholen, und noch weit mehr als im privaten gilt im öffentlichen Recht der Satz: Vigilantibus jura sunt scripta.

IV Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 RV. Der oft wiederholte Satz, daß eine außerordentliche Sachlage außerordentliche Mittel zu ihrer Beseitigung verlangt, wird sehr verschieden ausgelegt, je nachdem man gefährliche Unruhen befürchtet oder im großen und ganzen ruhige Zeiten gekommen glaubt. Es entspricht aber jedenfalls den rechtsstaatlichen Gedankengängen des letzten Jahrhunderts, die außerordentlichen Befugnisse so genau wie möglich zu umgrenzen und unter Namen wie Kriegszustand, Belagerungszustand, Ausnahmezustand eine Reihe typischer Einrichtungen zu treffen, die einerseits besondere Befugnisse begründen, andererseits eine schrankenlose Diktatur verhindern. Die Weimarer Verfassung konnte an der schwierigen Frage nicht vorbeigehen; die Praxis des „Kriegszustandes" (nach dem preußischen Belagerungszustandsgesetz von 1815 und dem bayerischen Kriegszustandsgesetz von 1912) war 1919 noch in frischer Erinnerung; gleichzeitig war die Lage Deutschlands damals so gefährdet, daß man vernünftigerweise weitgehende Ausnahmebefugnisse erteilen mußte, um dieser Lage Herr zu werden. In Art. 48 wurden dem Reichspräsidenten diktatorische Befugnisse verliehen, im übrigen aber traf man keine endgültige abgeschlossene Regelung, sondern schuf den (oben unter III) dargelegten eigenartigen Zwischenzustand, ein Provisorium, und sah im letzten Abschnitt des Artikels ein Reichsgesetz vor, durch welches „das Nähere" bestimmt werden sollte. Sieben Jahre hat dieses Provisorium bisher (1927) gedauert und sich namentlich in den schweren Jahren 1920-1923 als unentbehrlich erwiesen. Wenn jetzt die „nähere" Regelung, das sogenannte Ausführungsgesetz zu Art. 48, ergehen soll, so entstehen für die Regelung des Ausnahmezustandes im Deutschen Reich zwei verschiedene Rechtsfragen: einmal die allgemeine Frage der rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes, außerdem aber die besondere Frage nach dem Verhältnis des sogenannten Ausfüh-

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rungsgesetzes zu den bereits geltenden Bestimmungen des Art. 48. Das Eigenartige der staatsrechtlichen Lage liegt nämlich darin, daß ein Teil des Ausnahmezustandsrechts durch Verfassungsgesetz festgelegt ist. Es läßt sich aber nicht vermeiden, daß eine „nähere" Regelung Einschränkungen und Änderungen mit sich bringt, sobald derartig allgemeine Befugnisse, wie sie dem Reichspräsidenten nach Art. 48 zustehen, „näher" geregelt werden sollen. Was als geltendes Recht verfassungsgesetzlich schon festgelegt ist, kann nicht mehr durch ein einfaches Reichsgesetz, durch das „Ausführungsgesetz", geändert werden; es bedürfte vielmehr eines verfassungsändernden Gesetzes, für welches bei den heutigen Parteiverhältnissen die erforderlichen Zweidrittelmehrheiten des Art. 76 RV. kaum aufzubringen wären. Die schwierige Frage ist also, wie weit die durch einfaches Reichsgesetz zu bewirkende nähere Regelung geht und wo die Verfassungsänderung beginnt. Das allgemeine Schema der rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes Das typische Bild einer rechtsstaatlichen Regelung des Ausnahmezustandes ergibt sich nach den obigen Darlegungen (unter II) daraus, daß sowohl die Voraussetzungen der außerordentlichen Befugnisse wie auch der Inhalt dieser Befugnisse umschrieben und umgrenzt und außerdem eine besondere Kontrolle eingerichtet wird. Dabei muß allerdings ein gewisser Spielraum bleiben, weil sonst der Zweck der Einrichtung, ein energisches Eingreifen zu ermöglichen, entfiele und Staat und Verfassung in „Legalität" zugrunde gehen könnten. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Befugnisse können in der Weise umgrenzt werden, daß nähere Tatbestände wie Krieg und Aufruhr angegeben werden 32 . Während nach Art. 48 schon bei jeder erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die diktatorischen Befugnisse eintreten, würde eine Beschränkung auf Krieg und Aufruhr oder wenigstens die Gefahr eines solchen die Voraussetzungen wesentlich einengen. Ein großer Teil der seit 1919 auf Grund des Art. 48 angeordneten Maßnahmen wäre rechtlich nicht möglich gewesen, wenn eine ähnliche Einengung bereits bisher bestanden hätte. Neben dieser Einschränkung der sachlichen Voraussetzungen kommen noch weitere formelle Schranken vor: z. B. ausdrückliche, an bestimmte Formen gebundene „Erklärung" des Ausnahmezu32

Französisches Gesetz v o m 3. A p r i l 1878, A r t . 1 Abs. 1: L'état de siège ne peut être déclaré qu'en cas de péril i m m i n e n t , résultant d'une guerre étrangère o u d'une insurrection à main armée.

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standes (die nach Art. 48 bisher nicht vorgesehen ist). In einigen Ländern ist sogar die Entscheidung über die Voraussetzungen und die Erklärung des Ausnahmezustandes dem Diktator selbst grundsätzlich entzogen und durch die Form des Gesetzes dem Parlament in die Hand gegeben33. Zu der Einschränkung der Voraussetzungen kommt als weitere rechtsstaatliche Begrenzung eine genaue Angabe des Inhalts der außerordentlichen Befugnisse. Dem Diktator wird so genau wie möglich aufgezählt, welches die außerordentlichen Mittel sind, die er anwenden darf, sei es, daß ihm Verhaftungen, Haussuchungen, Beschlagnahme von Zeitungen usw. ausdrücklich erlaubt werden, sei es, daß er bestimmte Grundrechte wie Preß- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzen darf. Er kann ferner die Befugnis erhalten, Verordnungen zu erlassen, außerordentliche Gerichte einzusetzen, die in einem abgekürzten Verfahren entscheiden; es können an die Erklärung des Ausnahmezustandes Strafschärfungen für bestimmte Straftaten geknüpft werden usw. M i t allen diesen Aufzählungen ist gesagt, daß der Diktator über die aufgezählten Befugnisse hinaus keine Handlungsfreiheit hat, also keineswegs, wie heute der Reichspräsident nach Art. 48, von Fall zu Fall alle ihm nötig erscheinenden Maßnahmen treffen darf. Die dritte Art der rechtsstaatlichen Garantien liegt in der Kontrolle des Diktators und seiner Anordnungen. So kann die Dauer des Ausnahmezustandes und der getroffenen Maßnahmen an einen bestimmten Zeitraum gebunden werden, nach dessen Ablauf sie von selbst außer Kraft treten 34 . Es ist ferner möglich, daß das Parlament als Kontrollinstanz tätig wird, wie schon nach Art. 48 Abs. 3 dem Reichstag von allen Maßnahmen Kenntnis zu geben ist und die Maßnahmen auf sein Verlangen außer Kraft gesetzt werden. Endlich kann auch gegen einzelne Anordnungen des Diktators oder der von ihm beauftragten Behörden, z. B. gegen ein einzelnes Zeitungsverbot oder gegen eine Schutzhaft ein Rechtsmittel, etwa eine Beschwerde bei einer verwaltungsgerichtlichen Instanz oder bei einem Staatsgerichtshof eröffnet werden.

33 Französisches Gesetz v o m 3. A p r i l 1878, A r t . 1 Abs. 2: U n e l o i peut seule déclarer l'état de siège (nach Reinach, a. a. O . gehört das zu einem freiheitlichen Staate); vgl. schon A r t . 106 der Verfassung v o m 4. N o v . 1848. 34

Französisches Gesetz v o m 3. A p r i l 1878, A r t . 1 Abs. 2: Elle (la loi) fixe le temps de sa durée. A l'expiration de ce temps, l'état de siège cesse de plein d r o i t à moins qu'une l o i nouvelle n'en prolonge les effets.

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Geltendes Verfassungsrecht des Art. 48 und „nähere Regelung" D i e Frage nach d e m V e r h ä l t n i s der vorgesehenen „ n ä h e r e n " Reg e l u n g z u d e m b e r e i t s b e s t e h e n d e n R e c h t des A r t . 48 w i r d f ü r das Z u s t a n d e k o m m e n des b e a b s i c h t i g t e n A u s f ü h r u n g s g e s e t z e s v i e l l e i c h t entscheidend werden. Bei den großen Meinungsverschiedenheiten, z u w e l c h e n d i e A u s l e g u n g des A r t . 48 b i s h e r s c h o n g e f ü h r t h a t , k a n n es sehr z w e i f e l h a f t sein, w i e w e i t e i n v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e s G e s e t z n a c h A r t . 76 R V . e r f o r d e r l i c h ist o d e r eine einfaches R e i c h s g e s e t z g e n ü g t . M a n w i r d d a v o n a u s g e h e n k ö n n e n , daß eine v e r f a s s u n g s g e s e t z l i c h e F e s t l e g u n g j e d e n f a l l s i n s o w e i t v o r l i e g t , als d i e i n B e t r a c h t k o m m e n d e n z u s t ä n d i g e n O r g a n e d u r c h A r t . 48 b e s t i m m t s i n d . D a r a u s f o l g t , daß n u r d e r R e i c h s p r ä s i d e n t ( u n t e r G e g e n z e i c h n u n g d e r M i n i s t e r ) f ü r d i e b e s o n d e r e n B e f u g n i s s e des A u s nahmezustandes i n Betracht k o m m t . M a n kann i h m ausdrücklich d i e B e f u g n i s e r t e i l e n , seine B e f u g n i s d u r c h B e a u f t r a g t e a u s ü b e n z u lassen, es w ä r e aber eine V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g , w e n n i r g e n d e i n e andere Instanz, etwa die Reichsregierung oder der Reichstag, u n t e r i r g e n d e i n e m V o r w a n d eine s e l b s t ä n d i g e B e f u g n i s e r h i e l t e n , o d e r w e n n d i e d e n L a n d e s r e g i e r u n g e n n a c h A r t . 48 A b s . 4 z u s t e h e n d e B e f u g n i s a n eine Z u s t i m m u n g des R e i c h s r a t e s g e k n ü p f t w ü r d e , o d e r d i e i n A b s . 3 v o r g e s e h e n e K o n t r o l l e des Reichstages u n d (geg e n ü b e r d e n L a n d e s r e g i e r u n g e n ) des R e i c h s p r ä s i d e n t e n b e s c h r ä n k t w e r d e n s o l l t e . D i e O r g a n i s a t i o n des A u s n a h m e z u s t a n d e s , w i e sie h i n s i c h t l i c h d e r z u s t ä n d i g e n O r g a n e i m A r t . 48 v o r l i e g t , k a n n n u r d u r c h e i n v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e s G e s e t z , n i c h t d u r c h e i n einfaches Ausführungsgesetz geändert werden. W e i t s c h w i e r i g e r ist d i e F r a g e , w i e w e i t V o r a u s s e t z u n g e n u n d I n h a l t der außerordentlichen Befugnisse gegenüber der w e i t g e h e n d e n E r m ä c h t i g u n g des A r t . 48 i n d e m A u s f ü h r u n g s g e s e t z e i n g e s c h r ä n k t w e r d e n k ö n n e n . H i e r h e r g e h ö r t z. B . d i e F r a g e , o b d u r c h einfaches G e s e t z a n d i e Stelle d e r g a n z a l l g e m e i n e n „ e r h e b l i c h e n G e f ä h r d u n g der öffentlichen Sicherheit u n d O r d n u n g " bestimmtere T a t b e s t ä n d e w i e K r i e g s g e f a h r o d e r A u f r u h r gesetzt w e r d e n ; o b d e r Reichspräsident verpflichtet werden kann, den Ausnahmezustand f o r m e l l z u e r k l ä r e n , b e v o r er M a ß n a h m e n a u f G r u n d des A r t . 48 t r i f f t ; o b d i e a l l g e m e i n e B e f u g n i s des R e i c h s p r ä s i d e n t e n , alle z u r Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit u n d O r d n u n g nötigen M a ß n a h m e n z u treffen, d u r c h einen K a t a l o g genau b e s t i m m t e r u n d aufgezählter Befugnisse beschränkt w e r d e n kann. D i e B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e n h ä n g t d a v o n ab, w i e m a n d i e b e r e i t s g e l t e n d e n B e s t i m m u n g e n des A r t . 48 ü b e r d e n A u s n a h m e z u s t a n d a u f f a ß t . D i e o b e n ( u n t e r I ) d a r g e l e g t e A u f f a s s u n g s u c h t aus e i n e m m i ß v e r s t a n d e n e n r e c h t s s t a a t l i c h e n B e d ü r f n i s heraus d e n A r t . 48 d a h i n a u s z u l e g e n , daß d e r R e i c h s p r ä s i d e n t k e i n e s w e g s alle M a ß -

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n a h m e n treffen darf, sondern jede einzelne Verfassungsbestimmung f ü r i h n eine u n ü b e r w i n d l i c h e S c h r a n k e ist, s o f e r n es s i c h n i c h t u m eines d e r s i e b e n i n A r t . 48 A b s . 2 a u f g e z ä h l t e n G r u n d r e c h t e h a n d e l t , d i e a u ß e r K r a f t gesetzt w e r d e n k ö n n e n . D a s M i ß v e r s t ä n d n i s b e r u h t l e t z t e n E n d e s d a r a u f , daß m a n d e n p r o v i s o r i s c h e n C h a r a k t e r des A r t . 48 A b s . 2 v e r k e n n t u n d g l a u b t , d i e r e c h t s s t a a t l i c h e n F o r d e r u n g e n , d i e z w e i f e l l o s z u e r h e b e n s i n d , b e r e i t s a n d e n A r t . 48 selbst s t e l l e n z u m ü s s e n , w ä h r e n d es i n W a h r h e i t i m J a h r e 1919 d e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g d a r a u f a n k a m , angesichts d e r u n e r h ö r t schwierigen Lage zunächst einmal möglichst weitgehende Befugnisse z u g e b e n u n d d i e E r f ü l l u n g d e r r e c h t s s t a a t l i c h e n F o r d e r u n g e n d e r s p ä t e r e n „ n ä h e r e n " R e g e l u n g z u ü b e r l a s s e n . W e r m i t aller G e w a l t d i e t y p i s c h r e c h t s s t a a t l i c h e n F o r d e r u n g e n b e r e i t s i n das P r o v i s o r i u m des A r t . 48 u n d d a m i t i n d i e V e r f a s s u n g selber h i n e i n b r i n gen w i l l , n i m m t der „ n ä h e r e n R e g e l u n g " j e d e n n e n n e n s w e r t e n I n halt u n d verbaut den W e g z u einer e n d g ü l t i g e n Regelung. R i c h t i g e r A u f f a s s u n g n a c h s o l l das i n A b s . 5 v o r g e s e h e n e R e i c h s gesetz das b i s h e r o f f e n g e h a l t e n e P r o v i s o r i u m des A r t . 48 b e e n d e n u n d eine d e n r e c h t s s t a a t l i c h e n B e g r i f f e n e n t s p r e c h e n d e G e s t a l t u n g des A u s n a h m e z u s t a n d e s h e r b e i f ü h r e n . D e r G e s e t z g e b e r ist d a b e i n i c h t a n das S c h e m a d e r b i s h e r i g e n B e l a g e r u n g s z u s t a n d s g e s e t z e geb u n d e n , w o h l aber h a t er d e r e n g r u n d s ä t z l i c h e T e n d e n z z u e i n e r n ä h e r f o r m u l i e r t e n U m s c h r e i b u n g d e r V o r a u s s e t z u n g e n u n d des I n h a l t e s a l l e r d i k t a t o r i s c h e n B e f u g n i s s e z u ü b e r n e h m e n u n d aus d e r a l l g e m e i n e n E r m ä c h t i g u n g des A r t . 48 A b s . 2 e i n A u s n a h m e z u standsgesetz i m S i n n e jenes T y p u s v o n G e s e t z e n z u schaffen. H i e r f ü r b e d a r f es k e i n e s v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e n Gesetzes, a u c h w e n n d a d u r c h V o r a u s s e t z u n g e n u n d B e f u g n i s s e des R e i c h s p r ä s i d e n t e n e r h e b l i c h e i n g e s c h r ä n k t u n d n e u e K o n t r o l l e n geschaffen w e r d e n . I m S o m m e r 1919, als A r t . 48 z u s t a n d e k a m , w a r m a n s i c h d a r ü b e r k l a r , daß D e u t s c h l a n d s i c h i n e i n e r g a n z a b n o r m e n L a g e b e f a n d u n d deshalb zunächst einmal Befugnisse n o t w e n d i g waren, die ein entschiedenes Handeln ermöglichten. Wer glaubt, die Lage D e u t s c h l a n d s sei h e u t e so w e i t n o r m a l , d a ß eine, w e n n i c h so sagen d a r f , n o r m a l e (das h e i ß t d e m t y p i s c h e n r e c h t s s t a a t l i c h e n S c h e m a e n t s p r e c h e n d e ) R e g e l u n g d e r A u s n a h m e b e f u g n i s s e a n d e r Z e i t ist, d a r f s i c h also n i c h t m i t E i n z e l h e i t e n b e g n ü g e n , s o n d e r n m u ß f ü r das A u s f ü h r u n g s g e s e t z eine d e t a i l l i e r t e A u f z ä h l u n g d e r V o r a u s s e t z u n g e n w i e des I n h a l t e s a l l e r d i k t a t o r i s c h e n B e f u g n i s s e v e r l a n g e n . Das wäre keine Verfassungsänderung.

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C. Schmitt, Die

Diktatur