Gesellschaft und Geschichte: Zur Kritik der kritischen Theorie [Reprint 2015 ed.] 9783111573984, 9783111201931

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Gesellschaft und Geschichte: Zur Kritik der kritischen Theorie [Reprint 2015 ed.]
 9783111573984, 9783111201931

Table of contents :
I. Material und Ziel der Untersuchung
II. Die richtige Intention des Programms
1. Unterschied von kritischer und klassischer Theorie
2. Einheit von kritischer und klassischer Theorie
III. Verfehlen der Intention
1. Überforderung des Subjekts und Apotheose der Natur
2. Der Bruch im Denken Horkheimers
3. Der Neuansatz von Habermas
4. Wiederkehr der subjektivierenden und naturalisierenden Tendenzen im Denken von Habermas
IV. Gründe des Scheiterns
1. Elimination der „absoluten Objektivität“ aus der Geschichte
2. Ungeklärte Probleme und mögliche Lösungen

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M. Theunissen Gesellschaft und Geschichte

Michael Theunissen

Gesellschaft und Geschichte Zur Kritik der kritischen Theorie

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969

Archiv-Nr. 30 18 691

© 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • K a r l J . Trübner • Veit fit Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 P r i n t e d in G e r m a n y Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44

Fur Helmut

Gollwitzer

Inhalt

Seite

I. Material und Ziel der Untersuchung

1

II. Die richtige Intention des Programms 1. Unterschied von kritischer und klassischer Theorie . .

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2. Einheit von kritischer und klassischer Theorie

8

III. Verfehlen der Intention 1. Uberforderung des Subjekts und Apotheose der Natur

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2. Der Bruch im Denken Horkheimers

14

3. Der Neuansatz von Habermas

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4. Wiederkehr der subjektivierenden und naturalisierenden Tendenzen im Denken von Habermas

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IV. Gründe des Scheiterns 1. Elimination der „absoluten Objektivität" aus der Geschichte

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2. Ungeklärte Probleme und mögliche Lösungen

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Zur Methode des Zitierens Die Titel der besonders häufig angeführten Werke von Horkheimer und Habermas werden wie folgt abgekürzt: M. Horkheimer, Kritische Theorie, Frankfurt am Main 1968, Bd. I = K r . Th., I. D a r i n : Geschichte und Psychologie (1932) = G P ; Materialismus und Metaphysik (1933) = MMph; Materialismus und Moral (1933) = M M o ; Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften (1933) = P V S ; Zum Problem der Wahrheit (1935) = P W . M. Horkheimer, Kritische Theorie, Frankfurt am Main 1968, Bd. I I = K r . Th., I I . D a r i n : Traditionelle und kritische Theorie = T k T ; Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie (1940) = F P h . M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft, Frankfurt am Main 1967 = Kr.i. V . J . Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied und Berlin 1963, 2 1967 = Th. P r . D a r i n : Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie (1961) = P S ; Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus — Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Sdiellings Idee einer Contraction Gottes (1961) = D I M ; Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als K r i t i k (1960) = P h W ; Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung — Zu Theorie und Praxis in der verwissenschaftlichten Zivilisation (1963) = D V E . J . Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967 (Beiheft 5 der Philosophischen Rundschau) = LS. J . Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968 = E . I. J . Habermas, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt am Main 1968 = T. W . I. D a r i n : Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des Geistes' (1967) = A I ; Technik und Wissenschaft als 'Ideologie' (1968) = T W I ; Erkenntnis und Interesse = E I . Die arabischen Ziffern beziehen sich durchweg auf die Seitenzahlen.

I.

Den gegenwärtigen Stand der kritischen Gesellschaftstheorie zeigt die als „Prolegomenon" zu einer solchen Theorie gedachte Untersuchung über „Erkenntnis und Interesse" von Jürgen Habermas an 1 . Die Untersuchung ist aus der Frankfurter Antrittsvorlesung ihres Verfassers hervorgegangen 2 . Das erklärte Ziel dieser Vorlesung war es, an M a x Horkheimers Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie" anzuknüpfen, der diese Theorie vor mehr als einem Menschenalter, im Jahre 1937, auf den Begriff gebracht hatte 3 . Die folgenden Reflexionen wollen die kritische Theorie der Gesellschaft im ganzen erfassen, indem sie sich im wesentlichen darauf beschränken, ihren relativen Anfang mit ihrem vorläufigen Ende zu verknüpfen, also die frühen Essays Horkheimers mit den bislang vorliegenden Arbeiten von Habermas 4 ; von Herbert Marcuse, der 1

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Ihn reflektiert mit Rücksicht auf die neuesten gesellschaftlichen Bewußtseinsveränderungen Albrecht Wellmer in seiner ausgezeichneten, freilich schulimmanenten Studie „Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus", Frankfurt am Main 1969 (edition suhrkamp 336). Diese Studie zielt, wie die vorliegende Untersuchung, wesentlich auf das Problem der von der kritischen Gesellschaftslehre angestrebten Einheit von Theorie und Praxis, und auch sie setzt mit einer Analyse der Frühschriften Horkheimers an, um von da aus den methodologisch ausgerichteten Neuentwurf, den Habermas versucht hat, in den Blick zu bringen. D e r erste im Band enthaltene Essay (S. 7 — 6 8 ) entspricht den Abschnitten I — V der Abhandlung „Kritische und analytische Theorie", die Wellmer in den „Marxismusstudien" veröffentlicht hat (6. Folge, Tübingen 1969, S. 187—239). E I , i n : T . W . I. 1 4 6 — 1 6 8 . Zeitschrift für Sozialforschung V I , S. 2 4 5 — 2 9 2 ; wieder abgedruckt in: M . Horkheimer, K r . T h . , I I 1 3 7 — 1 9 1 . Vgl. zum Ganzen: Gian Enrico Rusconi, L a teoria critica della società, Bologna 1968, bes. Teil I I I , S. 2 0 5 — 3 8 3 . Über die Stellung Horkheimers in

1

schon 1937 einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über „Traditionelle und kritische Theorie" geliefert hat 5 , und von Theodor W . Adorno, der um 1944 zusammen mit Horkheimer die „Dialektik der Aufklärung" geschrieben hat 6 , soll hingegen nur im Kontext der Sache die Rede sein, und auch die spätere Studie Horkheimers „Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft" wird nur insoweit zu berücksichtigen sein, als sie die These der vorliegenden Interpretation belegt. Die hier zu entfaltende These über die kritische Theorie ist, in Entsprechung zu ihrem Gegenstand, selber kritisch. Sinnvolle Kritik setzt aber nicht nur Distanz voraus. Man wird vielmehr nur das kritisieren können und wollen, was man grundsätzlich zu akzeptieren vermag. Das über die Distanz hinausreichende Einverständnis kommt im Aufbau der sich anschließenden Überlegungen zum Ausdruck. Ich werde zunächst das Programm umreißen, mit dessen grundsätzlicher Intention ich mich identifiziere (II). Sodann ist die Tendenz zu beschreiben, die von der Intention des Programms ab-

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der Gesamtentwicklung informiert Alfred Schmidt in seinem Nachwort zur Wiederveröffentlichung der Frühschriften (Kr. Th., I I 3 3 3 — 3 5 8 ) . Über H a bermas urteilt vom Standpunkt der analytischen Wissenschaftstheorie sehr scharfsinnig H a r a l d Pilot, Jürgen Habermas' empirisch falsifizierbare G e schichtsphilosophie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie X X (1968), S. 288—308 (wieder abgedruckt in: Adorno, Habermas, D a h rendorf, Popper, Albert, Pilot, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969, S. 307—334). Aus der bereits stark anschwellenden Literatur über Herbert Marcuse seien nur zwei Beiträge hervorgehoben: Hans Heinz Holz, Utopie und Anarchismus — Zur K r i t i k der kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln 1968; ferner: Antworten auf Herbert Marcuse, hrsg. v. J . Habermas, Frankfurt am Main 1968 (edition suhrkamp 263). Philosophie und kritische Theorie (mit einem ergänzenden Votum H o r k heimers), in: Zeitschrift für Sozialforschung V I , S. 6 2 5 — 6 4 7 . Marcuse hat seinen Beitrag aufgenommen in die Aufsatzsammlung „Kultur und Gesellschaft", Bd. I, Frankfurt am Main 1965. Das Votum Horkheimers ist als „Nachtrag" zur Abhandlung über „Traditionelle und kritische Theorie" neu erschienen in: K r . Th., I I 192—200. M a x Horkheimer und Theodor W . Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, Neupublikation Frankfurt am Main 1969. (Die unten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich durchweg auf die Erstauflage.)

zuführen scheint (III). Schließlich sind die mutmaßlichen Gründe solcher Abgleitungen aufzudecken, und im Zusammenhang damit sollen gewisse Korrekturvorschläge unterbreitet werden, welche darauf abzielen, die Kluft zwischen der Intention und den faktischen Realisationen der kritischen Theorie wenn nicht zu überbrücken, so doch zu verringern (IV).

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IL 1. Die programmatische Absicht Horkheimers und seiner Nachfolger tritt wohl am deutlichsten hervor, wenn wir den Begriff der kritischen Theorie mit dem der platonisch-aristotelischen {tewoia vergleichen. Was bei diesem Vergleich zunächst ins Auge fällt, ist ein schroffer Gegensatz, {tswoia versenkt sich in das Göttliche, als das auf Grund der Unwandelbarkeit seiner ewig wiederkehrenden Bewegungen das natürliche Universum, der Kosmos gilt; kritische Theorie hingegen beschäftigt sich mit der geschichtlich bewegten Menschenwelt, die wegen ihrer Wandelbarkeit für die Griechen gerade kein würdiger Gegenstand theoretischer Wissenschaft war 7 . Sie versteht sich als eine Geschichtsphilosophie, deren Zugriff sich nichts entzieht 9 . Während die klassische Theorie den ewigen Kreislauf des Naturkosmos als das Ganze erkennt, in weldiem die geschichtlich bewegte Menschenwelt verschwindet 9 , sieht die kritische umgekehrt 7

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Griechisch verstandene Theorie bezieht sich, wie Habermas diesen Sachverhalt formuliert, „auf das unveränderliche Wesen der Dinge jenseits des veränderlichen Bereichs menschlidier Angelegenheiten" (Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt, 1965, in: T . W. I . 109). Seine Hauptquelle ist Georg Picht, D e r Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der griechischen Philosophie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik V I I I (1964), S. 3 2 1 — 3 4 2 . Vgl. Joachim Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Abt. Geisteswissenschaften, Heft 1, Köln und Opladen 1953, S. 3 2 — 5 2 . Auf den von Ritter herausgearbeiteten Unterschied zwischen Theorie als Lebensform und Theorie als Wissenschaft kann hier nur hingewiesen werden. Horkheimer, G P , in: K r . Th., I 9, 2 9 ; ders., FPh, in: K r . Th., I I 303; Habermas, P h W , in: T h . Pr. 172, 1 7 9 ; ders., L S 180. Vgl. dazu die späten Arbeiten Karl Löwiths. Zu der für die These der vorliegenden Studie bedeutsamen Löwith-Rezeption der kritischen Theorie:

in der Geschichte den äußersten Horizont, in den auch Naturerkenntnis einzutreten hat. Die Kluft vertieft sich dadurch, daß sie Geschichte genau in der Hinsicht betrachtet, die sie in den Augen der Griechen entwürdigt: als das je gegenwärtige Geschehen, das einst noch nicht war und einst nicht mehr sein wird. Sie ist Geschichtsphilosophie im Sinne einer kritischen Diagnose der aktuellen Geschichtswirklichkeit, deren jeweilige Bestimmtheit vorschreibt, was sie selber als „bestimmte Negation" zu leisten hat. Nicht der Weltlauf überhaupt, sondern die geschichtliche Gegenwart ist das Ganze, das allem seinen Platz anweist. Das je gegenwärtige Zeitgeschehen aber strebt die kritische Theorie auch wirklich in seiner Totalität zu erfassen10, und es ist dieses Bestreben, das ihren Anspruch rechtfertigt, Philosophie und nicht bloß eine Fachwissenschaft zu sein11. Weil dieser Gegensatz so fundamental ist, scheint er auch so selbstverständlich zu sein, daß ihn die Vertreter der kritischen Theorie kaum reflektieren. Deren Reflexion beginnt erst da, wo auch die Kritik anfängt, die Kritik dessen, was Habermas den „ontologisdien Schein reiner Theorie" 12 nennt. Reine Theorie soll bloßer Schein sein, weil sich die ihr zugrunde liegende Naturontologie in Schein auflöst. Die Bedeutung der reinen Theorie für das Leben besteht nämlich darin, die Seele der Harmonie des Kosmos anzugleichen. Die Idee einer derart nachbildenden Bildung basiert aber, so argumentiert Habermas, auf der falschen Annahme, daß der nachzubildende Kosmos als ein in sich selbst strukturierter vorgegeben sei. Anders ausgedrückt: die Unwahrheit der reinen Theorie ist die Unwahrheit des Objektivismus der ihr zugeordneten Natur-

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11 12

J . Habermas, Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein (1963), in: Th. Pr. 352—370. Horkheimer, P W , in: Kr. Th., I 253, 258 f.; Habermas, PhW, in: Th. Pr. 172; ders., DVE, in: Th. P r . 2 3 9 : es ist der „Versuch der großen Theorien, den Lebenszusammenhang im ganzen zu reflektieren"; ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Zeugnisse. Festschrift für Theodor W . Adorno, Frankfurt am Main 1963, S. 4 7 3 — 5 0 1 , wieder abgedruckt in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln und Berlin, 3 1966, S. 2 9 1 — 3 1 1 , bes. S. 2 9 1 — 2 9 7 . Horkheimer, Nachtrag, in: K r . Th., II 195. EI, in: T. W. I. 154.

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ontologie13. Obwohl diese Kritik, wie sich leicht zeigen ließe14, höchst fragwürdig ist, beleuchtet sie doch gut die Intention der kritischen Theorie. Deren Subjekt weiß, daß es von seinem Objekt nicht abgelöst ist, und infolgedessen weiß es gleichfalls, daß es seinen Anspruch, das Ganze der aktuell geschehenden Geschichte zu begreifen, nicht erfüllen könnte, wenn es nicht sich selbst mitbedächte; es bezieht sich in den Gegenstand ein, den es erforscht15. Auch die allgemeinsten Begriife, mit denen es operiert, sind ihm als solche bewußt, die sich aus der geschichtlichen Wirklichkeit ergeben und nicht erst nachträglich an ein scheinbar abgesondertes Erfahrungsmaterial herangetragen werden16. Die „aufs Ganze zielende Intention", von der Horkheimer einmal spricht", schließt also das Bewußtsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit ein: das Ganze ist eben nicht das Ganze ohne das Subjekt, das sich ihm zuwendet. Namentlich der frühe Horkheimer nimmt die Gebundenheit seines Denkens an seine Zeit so ernst, daß er aus ihr dessen ständige Revisionsbedürftigkeit ableitet und den durch den Wandel der Zeiten bedingten Wandel der Theorie selber noch zu deren eigenem Lehrstück macht18. 13 14

15

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6

Habermas, EI, in: T. W. I. 150, 152 f., 154 f., 159, 165 ff. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich darauf, daß Habermas einen abstrakten Gegensatz zwischen der Objektanschauung der griediischen Theorie und der Selbstreflexion der kritischen Theorie nur deshalb konstruieren kann, weil er die theologische Seite abschattet. Sofern es ursprünglich der Gott ist, der in der Anschauung des Kosmos sich anschaut, hat Theorie auch im Sinne des Aristoteles den Charakter der Selbstreflexion. Abgesehen sei hier von dem hermeneutischen Problem, ob Begriffe wie „Objektivismus" und „objektivistisch" der griechischen Seinserfahrung überhaupt angemessen sind. Horkheimer, MMph, in: Kr. Th., I 49; ders., PVS, in: Kr. Th., I 111; Habermas, WPh, in: Th. Pr. 177; ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissensdiaften, a.a.O., S. 291, 293: „Theorien dieses beweglicheren Typs nehmen noch in die subjektive Veranstaltung der wissenschaftlichen Apparatur reflektierend auf, daß sie selbst Moment des objektiven Zusammenhangs bleiben, den sie ihrerseits der Analyse unterwerfen." Vgl. von Horkheimer außer „Traditionelle und kritische Theorie" auch: Zu Bergsons Metaphysik der Zeit (1934), in: Kr. Th., I 178, 186, und: Autorität und Familie (1936), in: Kr. Th., I 279. Nachtrag, in: Kr. Th., II 197. Vgl. bes. TkT, in: Kr. Th., II 182—187.

In dem angedeuteten Gegensatz wurzelt auch die Verschiedenheit der Beziehung zur Praxis, ftecogia ist weder selbst Praxis in dem engen und strengen Sinne, der mehr meint als bloß Tätigkeit (evEQyeia), noch drängt sie auf praktische Verwirklichung hin. Ihre doppelte Praxisferne hängt, wie immer es um den Vorwurf des Objektivismus bestellt sein mag, jedenfalls eng damit zusammen, daß an dem immer schon vollendeten Sein, dessen Selbstgenügsamkeit sie ihre eigene Autarkie verdankt, nichts mehr aussteht. Als Schau vollendeten Seins ist sie Rückschau, nicht Vorschau auf eine über das Leben des Schauenden hinausgehende Zukunft, die durch praktisches Engagement zu bewältigen wäre. Die auf der Gegenseite geforderte Einheit von Theorie und Praxis folgt umgekehrt aus der Einbezogenheit in eine geschichtlich fortschreitende Wirklichkeit. Eine Einheit mit Praxis bildet die kritische Theorie erstens insofern, als sie an dem von ihr vergegenständlichten Geschichtsprozeß zugleich teilnimmt; sie ist in sich Praxis als Moment der Geschichte, die sie durch ihre Erkenntnis forttreibt 19 . Und sie ist mit Praxis zweitens dadurch eins, daß sie an ihr als an einem zukünftigen Geschehen der Weltgeschichte interessiert ist. Der frühe Horkheimer definiert seine Geschichtsphilosophie in einer für die ganze Schule gültigen Weise als „die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft"20 und bezeichnet sein Vorhaben als das „einer gründlichen, vom Interesse an der Zukunft geleiteten Analyse des geschichtlichen Verlaufs" 21 ; im Gegensatz zu der retrospektiven Blickrichtung, die entsprechend der Abgeschlossenheit ihres Objekts die klassische Theorie kennzeichnet, richtet sich die kritische vermöge ihrer Interessiertheit wesentlich auf Zukunft22. 19

20 21 22

Darauf verweist am eindringlichsten Horkheimer in seinen frühen Arbeiten, u. a. MMo, in: Kr. Th., I 91; PW, in: Kr. Th., I 255; TkT, in: Kr. Th., II 160, 161, 164, 182. TkT, in: Kr. Th., II 147. TkT, in: Kr. Th., II 174. So hat Horkheimer 1933 auf dem XI. Internationalen Soziologenkongreß in Genf die Position der kritischen Theorie mit dem Hinweis darauf geltend gemacht, daß „das Ziel der Wissenschaft die Erkenntnis von Prozessen ist, zu

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2. Nach der inhaltlichen Bestimmung dieser Praxis werden wir die Vertreter der kritischen Theorie noch fragen müssen. Hier, wo wir erst nur deren formale Struktur herausarbeiten wollen, drängt sich eine andere Aufgabe auf, nämlich eine bedeutsame Einschränkung unserer Feststellungen über den Gegensatz zur klassischen Theorie. Der Gegensatz ist nämlich in einer gewissen Einheit aufgehoben. Daß diese Einheit bisher kaum die Beachtung gefunden hat, die man dem Gegensatz schenkt, verschulden nicht zuletzt Horkheimer und Habermas selber. Die gängige Meinung, zwischen den beiden TheoriebegrifFen bestehe ein abstrakter, unvermittelter Gegensatz, mag bereits dadurch in Umlauf gekommen sein, daß Horkheimer die kritische gegen eine „traditionelle" Theorie abgrenzt, die sich ihrem Namen nach als die der Tradition überhaupt präsentiert, obwohl sie nur die auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft gewachsene Fachwissenschaft ist, welche die cartesianisdie Philosophie formal reflektiert und die Erkenntnislehre des Neukantianismus verklärt hat. Wenn dann Habermas geradezu behauptet, Gegenstand der Untersuchung Horkheimers sei der Unterschied von kritischer Theorie und Theorie im Sinne der griechischen Tradition 23 , so konnte und mußte sich das außerordentlich störende Mißverständnis nur noch tiefer festsetzen. Gleichwohl läßt sich die Einheit von kritischer und griechischer Theorie in einer ihnen gemeinsamen Begrifflichkeit bestimmen, nämlich mit Hilfe des Selbstzweckbegriffs. Zwar bleibt der Selbstzweckcharakter der Theorie in deren kritischer Version nicht einfachhin, was er bei Aristoteles war; aber er wird in dem genauen Sinne aufgehoben, daß er sich unter den veränderten Bedingungen der Geschichtlichkeit erhält. Darauf verweist bereits die Dialektik, die nach Horkheimer zwischen der kritischen und der „traditionellen" Theorie waltet: die traditionelle des modernen Wissenschaftsbetriebs dünkt sich autonom, aber ist faktisch in den Funktionszusammenhang der bestehenden Gesellschaft eingespannt; demgegenüber bekennt sich die kritidenen die Dimension der Zukunft notwendig hinzugehört" ( P V S , in: K r . Th.,

I 111). ä ' EI, in: T. W. I. 147. 8

sehe Theorie zu ihrer Funktion, aber hat tatsächlich die „Unabhängigkeit" 24 der „Selbstbestimmung" 25 . Nach Horkheimer begründet die jeweilige Funktion sowohl die Scheinautonomie der traditionellen als auch die wirkliche Autonomie der kritischen Theorie. Der Schein von Autonomie, mit dem sich die Fachwissenschaft umgibt, ist nämlich nur das Produkt der Abstraktion von der beschränkten Stellung, die eine arbeitsteilige Gesellschaft eben nach dem Prinzip der Arbeitsteilung auch wissenschaftlicher Berufsarbeit einräumt26. Die Funktion der kritischen Theorie aber ist kein Dienst in und an einem vorgegebenen Ganzen, sondern die Umformung der Totalität selber, die „Transformation des gesellschaftlichen Ganzen" 27 . Die setzt voraus, daß das „kritische Verhalten" dem Ganzen gegenübersteht. Es kann also kein Teil des Bestehenden und so auch nicht in der Weise abhängig sein, in der ein Teil vom Ganzen abhängt. „Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere." 28 Es entbehrt somit „des pragmatischen Charakters, der sich aus dem traditionellen Denken als einer gesellschaftlich nützlichen Berufsarbeit ergibt" 29 . Was positiv bedeutet: es ist autonom eben dank seiner spezifischen Funktion. Horkheimer schreibt ihm denn auch dieselbe Nutzlosigkeit zu, als die Aristoteles den Selbstzweckcharakter theoretischer Wissenschaft negativ bezeichnet hat. Hiergegen wird man einwenden, daß kritische Theorie nutzlos höchstens hinsichtlich der bestehenden Gesellschaft sein könne, nicht aber in bezug auf die zukünftige. Soll sie doch an künftiger Praxis interessiert sein. Aber nutzlos sein bedeutet für Nachtrag in: Kr. Th., II 199. 25 TkT, i n : Kr. Th., II 191. Vgl. Bemerkungen über Wissenschaft und Krise (1932), in: Kr. Th., I 1—8. 26 TkT, in: Kr. Th., II 146. 27 TkT, in: Kr. Th., II 168. 2 8 TkT, in: Kr. Th., II 156. 29 TkT, in: Kr. Th., II 157; vgl. FPh, in: Kr. Th., II 300: „Sie (sc. die Philosophie) hat im Gegensatz zu anderen Disziplinen kein fest umrissenes Betätigungsfeld innerhalb der gegebenen Ordnung. Diese Lebensordnung mit ihrer Werthierarchie ist für die Philosophie selbst ein Problem." 24

9 2

Theunissen, Gesellschaft

Aristoteles des näheren: keinem fremden Nutzen dienen30, und einer solchen Dienstbarkeit ermangelt auf seine Art durchaus auch der Zukunftsbezug der kritischen Theorie. Das, worauf deren Interesse zielt, ist ihr nicht fremd, weil sie selber ja schon ein Moment der Praxis ist, die sie intendiert. Die Selbigkeit des geschichtlichen Prozesses, zu dem ihr Akt gehört und in den ihr Zweck fällt, macht diesen zum Selbstzweck. Auch und vor allem darauf bezieht sich die Versicherung, das Interesse komme zur aufklärenden Erkenntnis nicht äußerlich hinzu, sondern steige aus ihrem eigenen Grunde auf31. Allerdings dürfen wir über der Zugehörigkeit der kritischen Theorie zu der Praxis, an der sie interessiert ist, nicht den Abstand zwischen der Gegenwart ihres Aktvollzugs und der Zukunft ihres Ziels vergessen. Dieser zeitliche Unterschied in der Einheit des umgreifenden Geschichtsprozesses ist zugleich die aus der geschichtsphilosophischen Neufassung entspringende Differenz in der Identität von kritischer und griechischer Selbstzweckerkenntnis, •ftemgia dient keinem fremden Nutzen, sofern sie überhaupt nicht über sich in die Zukunft hinausweist. Die kritische Theorie aber dient keinem fremden Nutzen, weil die Praxis, auf die sie hinausweist, nur die Vollendung derjenigen Praxis ist, die mit ihr selbst geschieht. Die Würde des Selbstzwecks kommt aber nicht nur dem Akt, sondern auch dem Gegenstand kritischer Theorie zu. Diese hat sich seit je gegen das instrumentelle Denken abgegrenzt, das bloß Mittel für die Erreichung von vorgegebenen Zielen herausfindet32. Sie näm30 31

32

10

Met. 1,2. 982 b 24. Horkheimer, TkT, in: Kr. Th., II 162, 172, 190; Habermas, DVE, in: Th. Pr. 231. Vgl. die vierte These des Aufsatzes „Erkenntnis und Interesse", in: T. W. I. 164: „In der Kraft der Selbstreflexion sind Erkenntnis und Interesse eins", sowie die Ausarbeitung dieser These im gleichnamigen Buch, S. 348 ff. D a ß Habermas hier die idealistische Formel, wonach „das Interesse der Vernunft einwohnt", unter „materialistischen Voraussetzungen" in die Behauptung umkehrt, es sei „die Vernunft, die dem Interesse einwohnt", ist aus seinem unten darzulegenden Konzept zu verstehen. Die ganze Studie „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" von Horkheimer (in: Kr. i. V. 11—174; amerikanische Originalausgabe unter dem Titel „Eclipse of Reason", N e w York 1947) ist dem Gegensatz dieser beiden Denkweisen gewidmet.

lieh will das Ziel selber bestimmen, und zwar das im aristotelischen Sinne vollkommene, das nicht wiederum zum Mittel werden kann. Mit Aristoteles kennzeichnet sie es als das „gute Leben" (ei £fjv) s \ Die Definition des „guten Lebens" als des obersten Ziels soll die geschichtliche Gegenwart auf ihrem Weg in die Zukunft leiten. Das instrumenteile Denken, das bloß auf Mittel sinnt, macht sich selbst zum Mittel für die „Reproduktion" 34 , für die Erhaltung und Steigerung des Ganzen, in das es sich integriert. Hingegen versucht die kritische Theorie das gute Leben einer Gesellschaft je aufs neue dadurch zu bestimmen, daß sie auf die Form der Gesellschaft selber, auf das Gesellschaftssystem reflektiert. Demnach besteht die bewahrende Verwandlung aristotelischen Denkens in eine radikale und universale Geschichtsphilosophie nach der objektiven Seite der Selbstzweckidee letztlich bloß in einer Verschärfung des schon von Aristoteles ausgeführten Ansatzes. Versteht doch bereits Aristoteles das gute Leben nicht nur als das des Individuums, sondern auch und sogar vornehmlich als das der Polis, in deren Gemeinschaft das Individuum allein sein kann, was es ist. Art und Richtung der Radikalisierung lassen sich am deutlichsten von der wissenschaftstheoretischen Neuorientierung ablesen. Für Aristoteles war die Bestimmung des guten Lebens der Gesellschaft nicht 33

34

Habermas, PS, in: Th. Pr. 13 f.; ders., EI, in: T. W. I. 162; ders., E. I. 350. Vgl. Horkheimer, FPh, in: Kr. Th., II 306 f. — Aristoteles erwartet bekanntlich „Glück" (ei8ai|xovia) nur vom „guten Leben". Die Eudämonie hat aber ein Doppelantlitz: sie verwirklicht sich einerseits als jcg&lig im Rahmen der Polis, andererseits, nadi dem 10. Buch der Nikomachischen Ethik, als die in der politischen Gemeinschaft zwar wurzelnde, aber sich von ihr lösende ftecogia, in welcher die (ursprünglich göttliche) Vernunft, den vernünftig geordneten Kosmos anschauend, sich selber anschaut. Darum kann Horkheimer sagen: „Die Selbstanschauung der Vernunft, die für die alte Philosophie die höchste Stufe des Glücks bildete, ist im neueren Denken in den materialistischen Begriff der freien, sich selbst bestimmenden Gesellschaft umgeschlagen" (Nachtrag, in: Kr. Th., II 196). Horkheimer, Nachtrag, in: Kr. Th., II 192: „Theorie im traditionellen, von Descartes begründeten Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften überall lebendig ist, organisiert die Erfahrung auf Grund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben." 11

2*

Sache theoretischer Wissenschaft, eben weil diese sich allein mit Ubergeschichtlichem beschäftigt; sie fiel weniger strengen Disziplinen zu, welche sich nicht an •&EOjQia, sondern an der praktischen Klugheit der (pQovTiai? orientieren35. Habermas holt sie jedoch in den Aufgabenbereich theoretischer Wissenschaft hinein. Seinem noch zu erläuternden Gesamtkonzept gemäß, will er die moderne, nach ihrem Anspruch streng wissenschaftliche Sozialphilosophie, die sich ihre Wissenschaftlichkeit seitHobbes mittels einer Umdeutung wahrhaft politischer Praxis in technische Verfügung sichert, unter dem Gesichtspunkt revidieren, „unter dem sich einst die klassische Lehre von der Politik als kluge Anleitung der Praxis verstehen konnte"".

33 38

12

Habermas, PS, in: Th. Pr. 14, 31. PS, in: Th. Pr. 49.

in. 1. Zur leitenden Absicht des hiermit umrissenen Programms gehört es wesentlich, unter den veränderten Bedingungen einer universalen Angewiesenheit auf faktische Geschichte den alten Gedanken des Selbstzwecks der Erkenntnis zu retten. Der Intention zufolge kommt es nicht nur auf diese Rettung an, sondern mehr noch darauf, daß sie im allumfassenden Horizont der Geschichte erfolgt und nicht um den Preis erkauft wird, den Aristoteles für die reine Theorie gezahlt haben soll: um den Preis der Hypostasierung eines alles tragenden und alles umgreifenden Naturkosmos. Schauen wir uns nun aber an, wie die kritische Theorie sich faktisch verwirklicht, so entdecken wir die Tendenz, gleichwohl aus den Bahnen einer universalen und radikalen Geschichtsphilosophie auszubrechen. Im Verfehlen ihrer Intention droht sie auf die Stufe zurückzufallen, die zu überschreiten sie sich vorgenommen hat: auf die Ebene einer nun unzweifelhaft objektivistischen Naturontologie oder doch zumindest eines Denkens, das der Natur den Vorrang vor der Geschichte einräumt und sie in den Rang des absoluten Ursprungs erhebt. Die schlichte Diagnose des Tatbestands zeigt weiterhin, daß die Apotheose der Natur das Ende eines Denkweges ist, an dessen Anfang eine gewisse Uberstrapazierung des empirischen Subjekts — genauer: der Menschengattung als der Gesamtheit der empirischen Subjekte — steht. Es ist die Überforderung des Subjekts, die dialektisch in die Überhöhung einer nidit mehr subjektiv begründeten Naturfaktizität umschlägt. Diese Behauptung enthält einen Einwand, der zu schwer wiegt, als daß wir es uns mit ihrer Ausweisung am Material leicht machen dürften. Es soll versucht werden, sie auf zweifache Weise zu bele13

gen, und zwar zunächst an der Entwicklung Horkheimers und sodann durch eine Analyse des von Habermas versuchten Neubeginns. 2. Was die Oberstrapazierung des Subjekts genannt wurde, stellt sich ein, indem sämtliche Vertreter der kritischen Theorie, philosophiegeschichtlich gesehen, die nadihegelsche, vornehmlich von den Linkshegelianern versuchte Wiederholung Kants auf dem durch Hegel bereiteten Boden der Geschichte ihrerseits noch einmal wiederholen. Die Überstrapazierung der empirischen Subjekte ergibt sich somit, sachlich betrachtet, aus der Übertragung der Befugnisse, mit denen Kant das „Bewußtsein überhaupt" ausstattet, auf die als reale Einheit erst noch zu erwartende Menschengattung. Dem frühen Horkheimer zufolge hat Kant mit dem Begriff des Bewußtseins überhaupt, ohne es zu ahnen, eben das Bild der zukünftigen, wahrhaft produktiv gewordenen Gesellschaft entworfen37. Danach vermag die zukünftige Gesellschaft in aller Konkretheit, was das Bewußtsein überhaupt erst nur formal leistet: Chaos restlos in die spontan erzeugte Ordnung des Verstandes zu verwandeln. Die Programmschrift gibt dieser Erwartung den präziseren Ausdruck einer Utopie der totalen Zufallsverhütung* 8 . Der Entwurf einer Welt, in der es grundsätzlich keinen Zufall mehr gibt, kommt aber aus einer Uberbeanspruchung des Vermögens der Freiheit. Er geht darauf aus, die sich der Freiheit entziehende Natur auf ein Minimum zurückzudrängen. Der Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie" wagt die Prognose, daß auch die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung, wenn sie künftig unter die „Kontrolle" der Gesellschaft kämen, den „Charakter bloßer Tatsächlichkeit" verlieren würden". Was dergestalt den Spielraum unserer Verfügung über Natur erweitern soll, ist die Arbeit. Als Arbeit bestimmt Horkhei37 38

38

14

T k T , in: K r . Th., I I 148—153. T k T , in: K r . Th., I I 156, 158 £., 1 6 6 : „ A u s der rätselhaften Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, V e r s t a n d und Sinnlichkeit, menschlichen B e d ü r f nissen und ihrer Befriedigung in der heute chaotischen Wirtschaft, einer Ü b e r einstimmung, die in der bürgerlichen Epoche als Z u f a l l erscheint, soll in der zukünftigen das Verhältnis vernünftiger Arbeit und Verwirklichung w e r d e n " ; vgl. M M o , in: K r . Th., I 78. T k T , in: K r . Th., I I 158.

mer im ganzen die geschichtlich-gesellschaftliche Praxis, an der kritische Theorie teilnimmt; die kritische Theorie fungiert „als unselbständiges Moment des Arbeitsprozesses" 40 . Der Prozeß zielt ab auf eine Freiheit, die „identisch mit der Beherrschung der Natur in und außer uns durch vernünftigen Entschluß" ist41. Nur Herrschaft über die Natur, das ist die Meinung, garantiert, worum es letztlich geht: die „vernünftige Organisation" 42 , die vollkommen rationale Planung einer Welt, die als eine durchweg gesellschaftliche auch durchweg von der Gesellschaft gestaltet werden kann. Der frühe Horkheimer kritisiert das ökonomische Chaos eines von Wirtschaftskrisen heimgesuchten Spätkapitalismus, der sich einer solchen Planung widersetzt. Eben das empfohlene Heilmittel einer technologisch angeleiteten Naturbeherrschung wird nun aber in den späteren Schriften seinerseits zum Gegenstand der Kritik 43 . Auf den Totalitätsanspruch der technischen Verfügung bezieht sich die „Kritik der instrumentellen Vernunft" gleichermaßen wie die zusammen mit Adorno vorgetragene Kritik der planen, eindimensionalen Aufklärung. Um 1944 sind Horkheimer und Adorno sich darin einig, daß der auf Arbeit beruhende technisch-wissenschaftliche Fortschritt in einen katastrophalen Rückschritt umzuschlagen droht und in gewisser Weise immer schon einen Rückschritt bedeutet hat44. Naturbeherrschung enthüllt jetzt nämlich ihre Dialektik: der Versuch einer Liquidation der unberechenbaren Natur führt zur „Liquidation des Subjekts" 45 , die Herrschaft des Menschen über Natur zur Herrschaft der Natur über den Menschen. Denn um Natur beherrschen zu können, muß der Mensch sich ihr anpassen. Er verarmt zum Reflex genau der Wirklichkeit, über die er gebieten

40 41 42 43 44

46

TkT, in: Kr. Th., II 161. PVS, in: Kr. Th., I 117. Nachtrag, in: Kr. Th., II 193; FPh, in: Kr. Th., II 306. Z. B. Kr. i. V. 147. Kr. i.V. 63, 129, 238; Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 9 f., 50. Horkheimer, Kr. i. V. 94. 15

wollte. „Subjektivierung, die das Subjekt erhöht, verurteilt es zugleich" 46 . Sofern H o r k h e i m e r selber einst uneingeschränkt als Progreß gepriesen hat, w a s sich ihm nun auch in seinem regressiven Aspekt darbietet, verläuft sein D e n k w e g v o n einem anfangs tonangebenden und auch ausdrücklich versicherten Optimismus zu einem Pessimismus, der als Resignation gegenüber der Möglichkeit jeglichen Fortschritts 47 heute alles überschattet und im Mai 1967 die E r w ä gung motiviert hat, „ob nicht das Reich der Freiheit, einmal verwirklicht, sich notwendig als sein Gegenteil, die Automatisierung der Gesellschaft w i e des menschlichen Verhaltens, erweisen müßte" 48 . Indessen hat er dodbi recht, w e n n er rückblickend feststellt, ein gewisser Pessimismus, Erbteil Schopenhauers 49 , sei ihm seit je vertraut gewesen 5 0 ; tatsächlich hebt er schon in den dreißiger Jahren den „pessimistischen Zug" des Materialismus hervor 51 , dessen „Schwermut" 52 und „metaphysische Trauer" 53 er gegen die christliche Zuversicht und den „blöden Optimismus" nachchristlicher Ersatzreligio48 47

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Horkheimer, Kr. i. V. 94. Vgl. den Schluß des Briefes an den S. Fischer Verlag vom 3. Juni 1965, in dem Horkheimer seine damals geäußerte Bitte begründet, den Plan eines Neudrucks seiner frühen Aufsätze zurückzustellen: „Mein Zögern entspringt der Schwierigkeit, die alten Gedanken, die von jener Zeit nicht unabhängig waren, wieder auszusprechen, ohne dem, was heute mir als w a h r erscheint, Eintrag zu tun, dem Glauben an die nahe Verwirklichung der Ideen westlicher Zivilisation zu entsagen und f ü r die Ideen trotzdem einzustehen — ohne Vorsehung, ja, gegen den ihr zugeschriebenen Fortschritt" (Kr. Th., II, S. X I ) . Zum früheren Optimismus: TkT, in: Kr. Th., II 168; FPh, in: Kr. Th., I I 309. Kr. i. V. 9 (Vorwort); vgl. Brief an den Verlag: „Mein auf Analyse der Gesellschaft damals (sc. in den dreißiger Jahren) bauender Glaube an fortschrittliche Aktivität schlägt in Angst vor neuem Unheil, vor der Herrschaft allumfassender Verwaltung u m " (Kr. Th., II, S. I X ) . Vgl. Die Aktualität Schopenhauers (1961), in: Kr. i. V. 248—268. K r . Th., I, S. X I I I (Vorwort zur Neupublikation). M M p h , in: K r . Th., I 47. Zu Theodor Haeckers ,Der Christ und die Geschichte' (1936), in: Kr. Th., 1373. Zu Theodor Haeckers ,Der Christ und die Geschichte', i n : Kr. Th., I 372; vgl. Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935), in: K r . Th., I 205.

nen54 verteidigt. Die Wahrheit dieser Feststellung liegt darin, daß der allzu optimistische Appell an das Freiheitsvermögen, gesteht er sich seine Unerfüllbarkeit ein, latent bereits in den entgegengesetzten Glauben umschlagen muß, in den er dann auch explizit übergeht. Umgekehrt schwankt der Pessimismus im Stadium der Kritik instrumenteller Vernunft noch zwischen sich und seinem Gegenteil. Horkheimers Einstellung zur Verfallsgeschichte ist zwielichtig. Einerseits hält er für die einzig verbleibende Aufgabe der Philosophie, den rückschrittlichen Fortschritt der verwissenschaftlichten Welt zu beschreiben und seine Konsequenzen auszumalen 65 ; andererseits fordert er die Philosophie dazu auf, die Versöhnung der instrumenteilen mit derjenigen Vernunft vorzubereiten, die einst eine „absolute Objektivität" 58 vernahm. Diese Versöhnung verwandelt sich jedoch unter der Hand in eine „Versöhnung mit der Natur" 5 7 . Vernunft soll sich aus der schlechten Dialektik von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit lösen, indem sie sich der guten Dialektik überläßt, die ihr als Gegengabe für die Befreiung der Natur ihre eigene Befreiung gewährt. Dialektisch allerdings kann Natur nicht unmittelbar befreit werden, sondern nur vermittelt, durch das Bekenntnis der Vernunft zu ihrem Herrschaftsprinzip. Im Anschluß an den Satz „Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert" fahren Horkheimer und Adorno fort: „Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt" 58 . Immerhin soll der Geist im Eingeständnis seiner Herrschaft von ihr ablassen; die Verfasser der „Dialektik der Aufklärung" rufen ihn dazu auf, „der Macht endlich zu entraten" 59 . Die Meinung, dadurch komme Natur zu sich selbst, 54 55

58 57 68 M

Gedanke zur Religion (1935), in: K r . Th., I 376. K r . i. V. 155, 165; vgl. Religion und Philosophie (1966), in: Kr. i. V. 238: „Der Dienst, den Philosophie dem Vergehenden noch leisten kann, besteht darin, den Vorgang und die Konsequenzen auszudrücken." K r . i . V . 18. K r . i. V. 123. Dialektik der Aufklärung, S. 54. Dialektik der Aufklärung, S. 57.

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setzt aber eine im Sinne von Habermas objektivistische Ontologie voraus, die ein subjektunabhängiges Selbstsein der Natur lehrt. Unüberhörbar sind denn auch die Anklänge an das im Verständnis Adornos für „Ontologie" schlechthin einstehende60 Seinsdenken Heideggers. Nähert sich doch die Kritik des Wissens, dessen Wesen Technik ist' 1 , im selben Maße der Subjektivismuskritik Heideggers, in dem sie sich von der Kritik der spezifisch kapitalistischen Herrschaftsformen entfernt und in die Urgründe abendländischen Menschentums hinabsteigt62. Nur erscheint die von Heidegger empfohlene Seinshörigkeit hier eben als „Demut gegenüber der Natur" 6 3 . Was Adorno dem Seinsdenken Heideggers nachsagt: daß es sich einem factum brutum beuge, das hat viel glaubwürdiger er selber praktiziert, als er sein eigenes Denken auf das Ethos der Naturfrömmigkeit verpflichtete. Daß der Geist sich „in Natur zurücknimmt", läuft auf eine Entmächtigung der Geschichte hinaus. Die Geschichte muß ihre dominierende Rolle nicht nur an Natur abgeben, sondern auch das früher64 besetzte Reich der Werte und der Wahrheit räumen. Wie selbstverständlich orientiert sich die „Kritik der instrumentellen Vernunft" am Dualismus von Realem und Idealem 65 , von Wirklichkeit und Wahrheit 66 . Sie reißt damit die konkrete Einheit auseinander, in der nach dem ursprünglichen Entwurf eine bestimmte geschichtliche Wirklichkeit mit ihrer bestimmten geschichtlichen Wahrheit verTheodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, Erster Teil, S. 65—134. 6 1 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 14. 6 2 Vgl. dazu vor allem die Erläuterung der These, daß schon der Mythos Aufklärung sei (Dialektik der Aufklärung, S. 18 ff.), und die auch von H . Marcuse aufgestellte Behauptung, die aristotelische Logik sei eine Logik der Herrschaft (a. a. O., S. 33 ff.). 6 3 Horkheimer, K r . i. V. 120. 64 Horkheimer, MMo, in: Kr. Th., I 92 f.: „Es gibt kein ewiges Wertreich"; zur Geschichtlichkeit der Wahrheit bes.: PW, in: Kr. Th., I 228—276. Der frühe Horkheimer lobt denn auch die Hegeische Maxime, eine dialektische Theorie urteile „nicht nach dem, was über der Zeit, sondern nach dem, was an der Zeit ist" (Nachtrag, in: Kr. Th., II 198). 6 5 K r . i. V . 171. " K r . i. V . 120. ,0

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mittelt sein sollte67. Wenn Geschichtsphilosophie solchermaßen zusammenschrumpft, hat die kritische Theorie ausgespielt. Den Abschied von ihr demonstriert Horkheimer unfreiwillig, indem er den „grundlegenden Unterschied zwischen dem Idealen und dem Realen" mit dem von „Theorie und Praxis" gleichsetzt68 und schließlich gar verkündet, das Insistieren auf der „Einheit von Theorie und Praxis" sei der marxistischen Lehre mit der scholastischen gemeinsam69. An die Stelle der kritischen Theorie aber tritt, entsprechend der Rehabilitierung einer objektivistischen Naturontologie, {kcogta. Ohnehin versinkt Horkheimer ja in reine Kontemplation, soweit er nur einen unaufhaltsamen Verfall erinnert. Wo er sich aber die Aktivität zutraut, die Versöhnung mit der Natur vorzubereiten, da hat Oecogla zumindest noch im Gegenstand seiner Untersuchung einen Platz, und zwar den Platz neben der traditionellen Theorie, den ehemals die kritische einnahm. Allerdings spiegelt sich im Thema das Zwielicht der Methode. Die Beschränkung auf eine Rückschau beschränkt auch das Denken, „das Aristoteles als theoretische Kontemplation beschreibt"70, auf ein verlorenes Paradies. Hingegen erscheint dieses Denken in der Ausweitung des Vorhabens auf das Projekt einer Naturversöhnung wie die Verheißung jener — freilich auf die Erde heruntergeholten — Zukunft, in der sich nach alter theologischer Tradition die vita contemplativa vollenden sollte. Was den Bann der Resignation noch zu brechen vermag, ist 67

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Wie wenig v o n solcher Geschichtlichkeit noch die R e d e ist, zeigt beispielhaft der S a t z : „Ein Begriff kann nicht als das M a ß der Wahrheit akzeptiert werden, wenn das Wahrheitsideal, dem er dient, in sich gesellschaftliche Prozesse v o r aussetzt, die d a s Denken nicht als letzte Gegebenheiten gelten lassen k a n n " ( K r . i. V . 84). I m selben Sinne wendet Horkheimer gegen den positivistischen Pragmatismus ein: „Weil die Wissenschaft ein Element des sozialen Prozesses ist, würde ihre Einsetzung z u m arbiter veritatis die Wahrheit selbst wechselnden gesellschaftlichen Maßstäben unterwerfen" ( K r . i. V . 76). D i e Wahrheit, die „jeder genuinen Philosophie" z u g r u n d e liegt und die auch er beansprucht, definiert er g a n z traditionell, und z w a r im ausdrücklichen Anschluß an den „ P i a t o n i s m u s " als „Ubereinstimmung v o n N a m e und D i n g " , von „Sprache u n d Wirklichkeit" ( K r . i. V . 168). K r . i . V . 171. Theismus-Atheismus (1963), in: K r . i. V . 219. K r . i. V . 102.

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allein die schwache Hoffnung, daß „die Erde zu einem Ort der Kontemplation und der Freude werden könnte" 71 . 3. Diesen Rückfall glaubt Habermas wahrgenommen zu haben. Anläßlich seiner Kritik Herbert Marcuses macht er darauf aufmerksam, daß neben Marcuse, Benjamin und Bloch auch Horkheimer und Adorno, wie der junge Marx, dem mystischen Glauben an eine „Resurrektion der gefallenen N a t u r " nachhingen und insgeheim hofften, es werde sich die Natur, die der Idealismus nur als das Andere des Subjekts, nämlich des menschlichen, gedeutet hat, einmal als ein anderes Subjekt offenbaren 72 . Er selber aber, Habermas, schützt sich vor einer derartigen Abgleitung in einen neuen Naturobjektivismus durch zwei grundlegende Maßnahmen. Zum einen bricht er das Monopol der Arbeit, indem er die aristotelische Unterscheidung von Herstellen und Handeln, von itoirioig bzw. xe^vri und jtgä£ig aufnimmt. Den aristotelischen Begriff der jtoir|ffic; übersetzt er in den der Arbeit oder des instrumentalen Handelns, das an technischer Verfügung interessiert ist, und den aristotelischen Begriff der jtocx|ig übersetzt er in den der Interaktion oder des kommunikativen Handelns 73 . Wie er Marx vorwirft, Interaktion fälschlich auf Arbeit zurückgeführt zu haben74, so zielt seine eigene MarxismusVersion letztlich darauf ab, in der Korrektur dieser Reduktion den vagen, noch für Horkheimer uneingeschränkt verbindlichen Begriff der „gesellschaftlichen Praxis" nach dem Maßstab des Unterschieds von instrumentalem und kommunikativem Handeln zu differenzieren und den von Marx untersuchten Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als die abstraktere, aber zeitnähere Beziehung von Arbeit und Interaktion neu zu interpre71

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K r . i. V. 145; vgl. die Rede v o m „Glück der Einsicht" und v o m „Selbstvergessenen des G e d a n k e n s " , in: Horkheimer und A d o r n o , D i a l e k t i k der A u f klärung, S. 14 u n d 43. T W I , in: T . W . I. 54—57. Vgl. bes. P S , in: Th. Pr. 13—51. S p ä t e r hat H a b e r m a s die Unterscheidung von Arbeit und Interaktion beim Jenenser H e g e l wiedergefunden (AI, in: T. W. I. 9 — 4 7 ) . A I , in: T . W . I. 45 f.

tieren". All seine Bemühungen richten sich auf die Vergegenwärtigung dieses Unterschieds, der gerade mit dem Fortschritt der an technischer Verfügung interessierten Wissenschaften immer mehr aus dem Bewußtsein der Menschen zu verschwinden droht", und auf die Erweckung der Einsicht, daß der technisch-wissenschaftliche Fortschritt keineswegs schon eine progressive Entwicklung des kommunikativen Handelns mit sich bringe77. Vor dem Schicksal Horkheimers bewahrt ihn diese in jeder Hinsicht bedeutsame Abzweckung seines Denkens, weil derjenige, der die gesellschaftliche Praxis im vorhinein auf Arbeit nicht eingeengt hat, dann, wenn der auf Arbeit beruhende Fortschritt der technologisch verwertbaren Wissenschaften seine rückschrittliche Kehrseite zeigt, die durch die Teilnahme an der gesellschaftlichen Praxis definierte Theorie nicht preiszugeben braucht. Zum anderen sichert sich Habermas gegen die Gefahr eines Naturobjektivismus ab, indem er die Interessendimensionen, in denen sich Arbeit und Interaktion bewegen, kantisch als „Leistungen des transzendentalen Subjekts" deutet78. Eine objektivistische Naturontologie kann sich nicht einschleichen, wo ein transzendentales Subjekt alles Seiende in seinem Sein konstituiert. Nach Habermas ist der eschatologische, von Benjamin, Bloch, Marcuse, Adorno und Horkheimer aufgegriffene Naturbegriff, der die Forderung des jungen Marx nach einer Naturalisierung des Menschen und einer Humanisierung der Natur leitet79, mit einem theoretisch ausgebildeten Marxismus unverträglich80. Der reife Marx kennt, so führt er aus, Natur nur noch in einer dreifachen Bedeu75 76 77 78

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T W I , in: T . W . I . 92. D V E , i n : Th. Pr. 232 f. D V E , in: Th. Pr. 2 5 1 ; A I , in: T. W. I. 46 f. E I , in: T . W . I. 161. D i e Sprache K a n t s spricht H a b e r m a s auch, wenn er die erkenntnisleitenden Interessen gegen die partikularen und gruppenspezifischen, in jedem Fall realitätsverschleiernden Interessen dadurch abgrenzt, daß er sie als „die Bedingungen möglicher O b j e k t i v i t ä t " charakterisiert ( E I , in: T . W . I . 160); vgl. E . I. 351. Vgl. D I M , in: T h . Pr. 152; Ein marxistischer Schelling — Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus (1960), in: T h . Pr. 336—351, bes. 342. E . I. 4 5 ; vgl. A l f r e d Schmidt, Der Begriff der N a t u r in der Lehre von K a r l M a r x , F r a n k f u r t a m Main 1962, S. 136 ff.

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tung: als die objektive Natur, die allein innerhalb des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses auftaucht, als die subjektive des vergesellschafteten Individuums und als die Natur „an sich", welche die Basis der Menschheitsgeschichte bildet und dieser auf ähnliche Weise zugrunde gelegt werden muß wie das kantische „Ding an sich" den Erscheinungen91. Vermutlich weist Habermas der Naturverklärung, der Horkheimer und Adorno sich nicht zu entziehen vermochten, erst hiermit den rechten Ort an. Außer Zweifel steht, daß Benjamin, Bloch und Marcuse je auf ihre Weise an den eschatologischen Naturbegriff der Pariser Manuskripte anknüpfen. Hingegen scheint sich der neue Objektivismus Horkheimers und Adornos trotz der eschatologischen Komponenten, die auch er hat, im wesentlichen auf die objektive Natur zu beziehen, die bereits vorkommt und nicht erst noch ankommt. Während Marcuse den Boden Hegelscher Dialektik faktisch gänzlich verläßt82, die Marx'sche Konfrontation von bürgerlicher und klassenloser Gesellschaft zu einer platonischen Zweiweltenlehre idealisiert und mit dem Begriff der „anderen Dimension" oder der „qualitativen Differenz" gegen das Bestehende auf die gleiche Weise opponiert wie der ebenfalls schon platonisierende Kierkegaard gegen Hegel83, bleibt bei Horkheimer und Adorno Natur zumindest tendenziell einbehalten in der Dialektik der gleich81 82

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E. I. 37, 42, 45 ff., 57. Vgl. H e r b e r t Marcuse, Der eindimensionale Mensch, N e u w i e d u n d Berlin 1967, S. 104. Deutlicher als durch die R e d e v o n den „zweidimensionalen, dialektischen D e n k w e i s e n " könnte Marcuse nicht zu erkennen geben, d a ß er von D i a l e k t i k jedenfalls nicht mehr im Sinne Hegels spridit. D e r eindimensionale Mensch, a.a.O., u. a. S. 41, 84, 98, 107, 116. Kierkeg a a r d hat j a nicht nur mit d e m Terminus „qualitative D i f f e r e n z " operiert, sondern auch ausgiebig den des „Bestehenden" gebraucht, für dessen Inbegriff er H e g e l hielt. D i e theologischen M o t i v e seiner H e g e l k r i t i k finden sich bei Marcuse im Verborgenen wieder. Wie es nach K i e r k e g a a r d „christlich" darauf a n k o m m t , die Menschen aus dieser Welt herauszulocken und in ihnen das Sündenbewußtsein z u erwecken, ohne das sie die göttliche G n a d e n h i l f e nicht annehmen würden, so ist es die Absicht Marcuses, denjenigen, die auch nach ihren scheinbar intimsten Bedürfnissen ins herrschende Gesellschaftssystem total integriert sind und sich deshalb „kein qualitativ anderes U n i v e r s u m . . . vorstellen k ö n n e n " , die „Hölle der Gesellschaft" bewußt zu machen, in der sie gleichwohl leben (a.a.O., S . 44).

ursprünglichen Momente von Subjekt und Objekt; die „Kritik der instrumentellen Vernunft" trägt gerade in ihr Ideal einer „Versöhnung mit der Natur" den Hegeischen Begriff der Einheit von Einheit und Unterschied hinein: Geist und Natur sollen sich so gegenüberstehen, daß sie sich zugleich ineinander reflektieren84. Mit seiner Ausfächerung des Marx'schen Naturbegriffs, des spezifischen und des vermeintlich unspezifischen, stellt Habermas aber nicht nur das Koordinatensystem bereit, in das einerseits die bei Benjamin, Bloch und Marcuse begegnende und andererseits die von Horkheimer und Adorno angestrebte Naturalisierung eingetragen werden kann. Er deutet damit vielmehr zugleich auf die Stellen hin, an denen auch er selber der Natur eine die Geschichte verdrängende Übermacht einräumt. 4. Er selbst neigt nämlich dazu, sowohl die subjektive Natur wie auch die Natur an sich zu verabsolutieren. Die sich schon durch ihren Namen verratende Natur an sich verfestigt er zu einem subjektbegründenden Sein, indem er die These aufstellt: „Die Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung"85. Wohl wehrt er sich gegen das naturalistische „Mißverständnis" dieser These86. Doch klagt ihn gerade seine Verteidigung an. Zu ihrem Zwecke führt er nämlich ins Feld, daß Arbeit und Interaktion das natürliche Prinzip der Selbsterhaltung, in dem sie gegründet seien, auch transzendierten87. Das bloße Transzendieren ist aber zu ohnmächtig, als daß es den Menschen von seiner Umklammerung durch die Natur befreien könnte. Eben die Negativität des Begriffs, der das mehr als Natürliche kennzeichnen soll, bezeugt Natur als das schlechthin Positive. 84

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Horkheimer, Kr. i. V. 158, 160. Sogar Hegelscher Idealismus steckt in der kritischen Bemerkung, daß Vernunft „die Natur zum bloßen Objekt machte und daß es ihr mißlang, die Spur ihrer selbst in solcher Objektivierung zu entdecken" (Kr. i. V. 165 — Hervorhebung von mir). Später wendet sich Horkheimer sogar ausdrücklich dagegen, daß der „Naturfetischismus" die „große Einheit sprechen" läßt (Theismus-Atheismus, in: Kr. i. V. 223). EI, in: T . W . 1.161. EI, in: T . W . 1.161; E. I. 351. EI, in: T. W. I. 161 f.

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Zudem kriecht die Natur von der Basis aus in das Subjekt herauf, um es gleichsam von innen zu verobjektivieren. Sie durchdringt die Bewußtseinsleistungen selber. Sie versteinert die transzendentalen Horizonte der Weltkonstitution zu den von Habermas so oft erwähnten „Bezugsrahmen", die ihrem Begriff nach augenscheinlich etwas Statisches sind. Die Bezugsrahmen von Arbeit und Interaktion gleichen ein wenig den einst von Uexküll erforschten Umweltgehäusen, die der Mensch mit sich herumträgt wie die Schnecke ihr Haus, und nicht von ungefähr wird Marcuse vor den Richterstuhl Gehlens zitiert 88 . Die Autorität der biologischen Anthropologie stützt die Prämisse, auf die Habermas seine Kritik Marcuses aufbaut: Die Kritik richtet sich gegen den Gedanken, die Wissenschaft, die jetzt als Technik Natur bloß ausbeute, könne einmal zu einem anderen Entwurf gelangen, der die Natur hege und pflege. Nach der von Habermas vertretenen Gegenposition sind die verschiedenen Einstellungen, die Marcuse als geschichtliche Entwürfe auslegt, in Wirklichkeit eingehängt in die transzendentalen Bezugsrahmen von Arbeit und Interaktion; die vermeintliche Sukzessivität der Epochen enthüllt sich, als die Simultaneität invarianter Strukturen 89 . Angesichts anthropologisch festgelegter Strukturen kann also in seiner Sicht von einer Geschichtlichkeit, die in die kulturellen Bedingungen des Menschseins eingriffe, keine Rede sein. Kein geschichtliches Ereignis könnte je die Glasglocke durchschlagen, unter der sich der Verkehr des Menschen mit den Dingen abwickelt; keine Begegnung könnte je derart überwältigen, daß sie die Regeln verletzte, nach denen Menschen miteinander kommunizieren. Gleichwie Horkheimer gelangt auch Habermas zur Renaturalisierung aus einer Überforderung des empirischen Subjekts. Und wie dort, so beruht diese Überforderung auch hier auf der Gleichsetzung des transzendentalen Subjekts mit der Menschengattung90. 88 89 90

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T W I , in: T . W . I. 5 5 f. T W I , in: T . W . I. 5 5 — 5 8 . Objektive Erkenntnis ermöglichen die erkenntnisleitenden Interessen nach H a b e r m a s , weil sie die schlechte Subjektivität des Einzelnen und der Gruppe in die Intersubjektivität der Menschengattung aufheben. Sie sollen — und

Überdies begegnet uns bei Habermas noch eine Subjektivierung eigener Art. In sein anfängliches Konzept, das die gesellschaftliche Praxis in Arbeit und Interaktion aufgliedert, hat er später eine dritte Figur eingezeichnet: die der Selbstreflexion, von der er sagt, sie sei die in der Hegeischen Phänomenologie beschriebene Erfahrung 91 ; sie löst „das Subjekt aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten" 92 , und zwar dadurch, daß sie alle falschen Objektivationen auflöst und als die eigenen Produkte des Subjekts durchschaut. Nun ist es aber Habermas bisher nicht gelungen, das Verhältnis von Interaktion und Selbstreflexion zureichend deutlich zu bestimmen. Bisweilen subsumiert er die Selbstreflexion unter das kommunikative Handeln, dann wieder trennt er sie davon ab. Die Subsumtion beruht auf dem nodi zu beleuchtenden Vorurteil, Intersubjektivität verbürge die Wahrheit, die der Einzelne nicht finden kann. Auf Grund dieses Vorurteils kann Habermas apodiktisch feststellen, Selbstreflexion sei „keine einsame Bewegung, sondern an die Intersubjektivität einer sprachlichen Kommunikation mit einem Anderen gebunden" 93 . Warum trennt er sie dann aber doch vom kommunikativen Handeln? Eine Antwort auf diese Frage gibt seine Erklärung, das „Interesse an Sprache", dessen Sinn hier dahingestellt sei, erstrecke sich „auf die Erhaltung einer Intersubjektivität der Verständigung ebenso wie auf die Herstellung einer von Herrschaft freien Kommunikation" 94 . Auf die Erhaltung intersubjektiver Verständigung soll die gewöhnliche Interaktion abzielen, auf die Herstellung einer herrschaftsfreien Kommunikation hingegen die Handlung, die den Anderen zur Selbstreflexion bewegen soll. Offensicht-

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darin liegt die linkshegelianische K o r r e k t u r K a n t s — als transzendentale Leistungen auf G r u n d der K o n t i n g e n z des Menschengeschlechts zugleich empirischer H e r k u n f t sein (E. I. 240, 249). E. 1 . 2 7 , 8 1 . E I , in: T . W . I . 1 5 9 . E . I. 290 A n m . 56. D a ß er dabei bestimmte Voraussetzungen einführt, spricht er selber a u s : „ U n t e r materialistischen Voraussetzungen kann . . . das V e r nunftinteresse nicht länger auf dem Wege einer autarken Selbstexplikation der Vernunft begriffen w e r d e n " (E. I. 349). T W I , in: T . W . I . 91.

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Theunissen, Gesellschaft

lieh ist es der Unterschied dieser Interessenrichtungen, der die Verselbständigung der Selbstreflexion gegenüber dem kommunikativen Handeln motiviert hat. Selbstreflexion und Interaktion streben auseinander, weil die eine ein revolutionäres, die andere ein konservatives Interesse verfolgt. Zum Konservatismus der Interaktion, die sich nach obligatorisch geltenden, sanktionierten Normen richtet85, gehört auch die Reform, d. h. neben der Erhaltung die Erweiterung des Traditionsraumes, in welchem wir uns miteinander verständigen. Eine derartige Festlegung des kommunikativen Handelns mag darin begründet sein, daß Habermas dieses lebensweltliche Fundament der historisch-hermeneutischen Wissenschaften in einer die Kritik überholenden Abhängigkeit von der Hermeneutik Gadamers bestimmt96. Wie dem aber auch sei, logisch folgt aus ihr jedenfalls eine Einschränkung des revolutionären Interesses auf Selbstreflexion. Dergestalt subjektiviert Habermas die Revolution selber. Deren Subjektivierung beseitigt den Abstand zwischen der Praxis der kritischen Theorie und der Praxis, auf die sie abzweckt. Was damit letztlich verschwindet, ist der geschichtliche Prozeß. Nach Habermas ist Selbstreflexion „eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen" 97 . Die vom frühen Horkheimer unter geschichtsphilosophischen Bedingungen konzipierte Selbstzweckidee nähert sich so wieder der ungeschichtlichen Ebene des aristotelischen Theoriebegriffs. Die reine Theorie des Aristoteles kann sich sehr wohl als Selbstzweck in dem Sinne verstehen, daß sie eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen ist. Hingegen geschieht kritische Theorie, an ihren eigenen Maßstäben gemessen, umwillen einer ihr geschichtlich transzendenten Praxis, die nur insofern ihr Selbstzweck ist, als das kritische Verhalten bereits daran teilnimmt. Habermas schneidet die geschichtliche Transzendenz ab, indem er ausdrücklich beteuert, das 85 68

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T W I , in: T . W . I . 62 f. V g l . die Auseinandersetzung mit G a d a m e r in L S 149—180, aber auch den R e k u r s auf „Wahrheit und M e t h o d e " (Tübingen 2 1965) bei der Beschreibung der historisch-hermeneutischen Wissenschaften (EI, in: T . W. I. 157 f.). E I , in: T . W . I . 164: „In der Selbstreflexion gelangt eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur D e c k u n g " . H a b e r m a s hat diesen S a t z wörtlich in sein gleichnamiges Buch (S. 244) übernommen.

emanzipatorische Interesse ziele „auf den Vollzug der Reflexion als solchen"88 und „allein*"9 darauf. In eins mit der Verzehrung der Zukunft durch die Gegenwart des Aktvollzugs drängt sidi, der retrospektiven Blickrichtung aristotelischer Theorie gemäß, als Hauptthema die bildungsgeschichtliche Vergangenheit des Individuums und der Menschengattung auf. Das Subjekt emanzipiert sich nach Habermas „in dem Maße, als es sich in seiner Entstehungsgeschichte transparent wird"100, und der „Endzustand", den die Selbstreflexion des Subjekts anstrebt, soll erreicht sein, wenn dieses sich der reflexiv aufgelösten Objektivationen „als der Wege erinnert, auf denen es sich konstituiert hat"101. Die Macht der Tradition, unter deren Botmäßigkeit Habermas jioiT]